Der Ring des Thoth (The Ring of Thoth)

Mit seiner Energie, seiner Ausdauer und der ihm eigenen Klarheit der Gedanken hätte sich Mr. John Vansittart Smith wahrscheinlich unter die führenden Wissenschaftler seiner Generation einreihen können, wäre er nicht Opfer eines universellen Wissensdurstes gewesen, der ihn zwang, sich auf so vielen Gebieten zu betätigen, daß er es in keinem Fach zu wirklicher Erstklassigkeit brachte. In seiner Jugend richtete sich sein Interesse auf Zoologie und Botanik, so daß seine Freunde ihn schon für einen zweiten Darwin hielten, doch als ein Ruf auf eine Professur in greifbarer Nähe war, brach er plötzlich seine Studien ab und widmete seine ganze Aufmerksamkeit der Chemie. Seine spektroskopischen Studien an Metallen brachten ihm die Mitgliedschaft in der Royal Society ein; doch wieder spielte er der Wissenschaft einen Streich. Er kehrte dem Labor den Rücken zu, und ein Jahr später trat er der Gesellschaft für Orientalistik bei. Er veröffentlichte einen Artikel über die hieroglyphischen und demotischen Inschriften von El Kab und setzte damit seinem Ruf als unbeständiges, aber auch vielseitiges Talent die Krone auf. Sie werden sagen, daß auch der vielfältigste Geist, gerade wenn er so genialisch ist, irgendwann seine wirkliche Berufung findet, so wie auch der sprunghafteste Liebhaber irgendwann »seiner« Frau ins Netz geht, und John Vansittart Smith machte da tatsächlich keine Ausnahme. Je tiefer er in die Ägyptologie einstieg, desto stärker war er beeindruckt von dem riesigen Gebiet, das sich dem Wissenschaftler hier eröffnete, und von der großen Wichtigkeit einer Forschung, deren Ziel es war, Licht in die Keimzelle unserer Zivilisation, in den Ursprung des größten Teils unserer Künste und Wissenschaften zu bringen. Smith war so fasziniert, daß er nicht zögerte, eine junge Ägyptologin zu heiraten, die über die sechste Dynastie promoviert hatte und somit versprach, ihm eine wichtige Hilfe bei der Fertigstellung seines Werkes zu sein, in dem er die Exaktheit eines Lepsius und die Genialität Champollions vereinigen wollte. Die Vorbereitung seines »Magnum Opus« machte viele kurze Aufenthalte in der großartigen ägyptischen Sammlung des Louvre nötig. Während der letzten dieser Visiten, die erst im Oktober vorigen Jahres stattfand, wurde er in höchst seltsame, bemerkenswerte Ereignisse verwickelt, von denen hier die Rede sein soll.

Die Züge waren kalt und langsam gewesen, und er hatte eine rauhe Überfahrt über den Kanal hinter sich, als er müde und leicht erkältet in Paris ankam. Als er in seinem Zimmer im Hotel de France an der Rue Laffitte war, warf er sich sofort aufs Sofa, um ein paar Stunden zu ruhen, doch er konnte einfach nicht schlafen, und so beschloß er, doch noch in den Louvre zu gehen, dort alles zu erledigen, was er sich vorgenommen hatte, und den Abendzug zurück nach Dieppe zu nehmen. Als er diesen Entschluß gefaßt hatte, schlüpfte er in seinen Mantel, denn draußen herrschte ein ungemütliches, regnerisches Wetter, und machte sich auf den Weg über den Boulevard des Italiens, die Avenue de l'Opera hinunter. Im Louvre angekommen, befand er sich auf vertrautem Gelände und ging eilig in die Sammlung der Papyrusrollen, wo er etwas nachzulesen hatte.

Selbst seine größten Bewunderer mußten zugeben, daß John Vansittart Smith nicht gerade ein hübscher Mann war. Sein Gesicht mit der dünnen Hakennase und dem vorspringenden Kinn hatte etwas von der Schärfe und Genauigkeit, die auch seinen Verstand auszeichneten. Er trug seinen Kopf hoch wie ein Vogel; dieser Eindruck wurde noch unterstrichen von den pickenden Bewegungen, mit denen er in Diskussionen seine Einwände und Gegenthesen vorzubringen pflegte. Wenn er sich in seinem Regenmantel mit hochgeschlagenem Kragen in dem Schaufenster vor ihm betrachtete, so konnte er jedenfalls sagen, daß er nicht aussah wie ein x-beliebiger Zeitgenosse. Und gerade als er mit diesem Gedanken sein Spiegelbild betrachtete, hörte er hinter sich eine unüberhörbare Stimme auf Englisch sagen: »Schau dir nur diese Figur dort an. Sieht er nicht komisch aus?«

Smith kannte seine Qualitäten, was natürlich ein gehöriges Maß an Eitelkeit mit sich brachte. So schaute er unentwegt auf die Papyrusrolle in der Vitrine vor ihm, doch sein Gesicht verfinsterte sich, und in seinem Herzen stieg Haß auf gegen dieses ganze Geschmeiß, diese Engländer auf Reisen.

»Ja«, sagte eine andere Stimme, »so etwas habe ich auch noch nicht gesehen, wirklich ein seltsames Kerlchen.«

»Man könnte fast meinen«, sagte die erste Stimme, »daß er durch ständiges Nachgrübeln über Mumien selbst fast zur Mumie geworden ist.«

»Der ägyptische Einschlag ist jedenfalls unverkennbar«, sagte der andere.

John Vansittart Smith drehte sich auf dem Absatz um und wollte seine beiden Landsleute mit ein oder zwei ätzenden Bemerkungen abfertigen, doch zu seiner Überraschung und Erleichterung sah er, daß die beiden jungen Burschen ihm den Rücken zuwendeten und sich offensichtlich über einen Museumswärter unterhielten, der am anderen Ende des Raumes damit beschäftigt war, Messingrahmen zu polieren.

»Carter wird schon auf uns warten«, sagte der eine Tourist zu seinem Begleiter, während er auf seine Uhr sah, dann schlenderten sie davon und ließen den Forscher mit seiner Arbeit allein.

»Ich möchte gern wissen, was diese Schwätzer einen ägyptischen Einschlag nennen«, dachte Smith und versuchte, einen Blick auf das Gesicht des Wärters zu werfen. Doch siehe da, es war tatsächlich genau so ein Gesicht, wie es ihm durch seine Arbeiten vertraut war. Die gleichmäßigen, statuesken Züge, die breite Stirn, das runde Kinn und der schwärzliche Teint waren das genaue Ebenbild der unzähligen Statuen, Mumienköpfe und Bilder, die die Wände der Halle schmückten. Es gab keinen Zweifel, der Mann mußte ein Ägypter sein. Allein die geraden, breiten Schultern und die schmalen Hüften hätten ausgereicht, ihn als solchen zu identifizieren.

Mit der Absicht, ihn irgendwie anzusprechen, schlich er sich an den Wärter heran. Die Kunst, ein Gespräch zu beginnen, lag ihm nicht besonders, er hatte stets Schwierigkeiten, den goldenen Mittelweg zwischen Überheblichkeit und Unterwürfigkeit im Ton zu finden. Jetzt konnte er das Profil des Mannes sehen, der immer noch in seine Arbeit vertieft war und ihn nicht bemerkte. Sofort hatte Vansittart Smith den Eindruck, daß etwas Unmenschliches an diesem Mann war, seine Haut erschien ihm ganz und gar unnatürlich, wie sie sich straff und glänzend wie gegerbtes Leder über Stirn und Wangenknochen spannte, ohne daß er Poren oder den geringsten Schweißtropfen darauf erkennen konnte. Statt dessen war das Gesicht vom Haaransatz bis zum Kinn von Millionen winziger Fältchen zerfurcht, ganz anders als die Spuren des Alters, die man an jedem Menschen feststellen kann.

»Ou est la collection de Memphis?« fragte der Forscher, und man konnte ihm anmerken, daß er lediglich peinlich darum bemüht war, ein Gespräch anzufangen.

»C'est la«, antwortete der Mann abweisend und deutete zum anderen Ende der Halle.

»Vous etes un Egyptien, n'est-ce pas?« fragte der Engländer.

Der Wärter schaute auf und wandte ihm seine seltsamen, dunklen Augen zu. Es waren glasige, verschleiert schimmernde Augen, wie Smith sie noch nie an einem Menschen gesehen hatte. In ihrer unergründlichen Tiefe schien sich etwas zu sammeln, ein starkes Gefühl, das sich immer mehr verschärfte und konzentrierte, bis es sich in einem offenen Blick voller Angst und Haß entlud.

»Non, monsieur; je suis fran9ais.« Abrupt drehte sich der Mann um und beugte sich wieder über seine Putzarbeit. Einen Moment lang blieb der Forscher verdutzt stehen, dann begab er sich zu einem Stuhl in einer versteckten Ecke hinter einer der Türen und fuhr fort, Notizen über seine Erkenntnisse aus den Papyrusschriften in sein Tagebuch einzutragen. Doch es gelang ihm einfach nicht, seine Gedanken zusammenzuhalten, immer wieder schweiften sie ab zu jenem rätselhaften Museumsdiener mit dem Sphinxgesicht und der Pergamenthaut.

»Wo habe ich schon einmal solche Augen gesehen?« murmelte Vansittart Smith in sich hinein. »Sie haben etwas Saurierhaftes, etwas Reptilisches an sich. Sie scheinen wie Schlangen eine Membrane nictitans zu haben, das würde das seltsame Schimmern erklären. Doch da war noch mehr, war es nicht Kraft, Weisheit und ja, Müdigkeit, bleierne Müdigkeit und unendliche Verzweiflung, die aus ihnen sprach? -Vielleicht ist alles nur Einbildung, doch so etwas habe ich noch nie gesehen, noch nie so deutlich. Bei Gott, ich muß ihn mir noch einmal ansehen!« Er sprang auf und jagte durch die ägyptische Sammlung, doch der Mann, den er suchte, war verschwunden.

Er setzte sich wieder in seine Ecke und arbeitete an seinen Notizen weiter. Er hatte in den Papyri gefunden, was er gesucht hatte, und mußte es nur noch aufschreiben, solange es noch frisch in seinem Gedächtnis war. Eine Zeitlang jagte sein Stift nur so über die Seiten, doch bald wurde seine Schrift immer größer und unleserlicher, schließlich fiel der Stift zu Boden, der Kopf des Forschers wurde schwerer und schwerer, bis er ihn nicht mehr aufrechthalten konnte. Erschöpft von der Reise schlief er so fest auf seinem Stuhl hinter der Tür, daß weder das Schlüsselrasseln der Wärter, noch das Fußgetrappel der Touristen, noch nicht einmal die laute Schelle, die die Schließzeit ankündigte, ihn wecken konnte.

Aus Dämmerung wurde Finsternis, das Gewimmel der Rue de Rivoli erstarb, die fernen Glocken von Notre Dame schlugen Mitternacht, und immer noch saß die einsame Figur schlafend zwischen den Schätzen des alten Ägypten. Erst kurz vor ein Uhr morgens kam Vansittart Smith schnaufend und nach Luft schnappend zu sich. Zuerst dachte er, er sei zu Hause an seinem Schreibtisch eingenickt, doch als er den Mond durch die hohen Fenster scheinen sah und sein Blick auf die langen Reihen von Mumien und auf Hochglanz polierten Vitrinen fiel, wußte er genau, wo er war und wie er dorthin gekommen war. Er war nicht ängstlich, im Gegenteil, er liebte geradezu solche Situationen, die sonst nur in phantastischen Erzählungen vorkommen. Er reckte seine steifen Glieder und kicherte amüsiert, als er auf seiner Uhr sah, wie spät es war. Dieses Erlebnis würde eine treffliche Anekdote abgeben, die er als kleine Auflockerung in seinen nächsten wissenschaftlichen Artikel einbringen konnte. Er fror ein wenig, doch ansonsten fühlte er sich wach und ausgeruht. Kein Wunder, daß die Wachen ihn übersehen hatten, denn er saß direkt im Schatten einer großen Flügeltür. Die Stille war eindrucksvoll, kein Laut war zu hören, weder draußen noch drinnen. Er war allein mit den toten Überresten einer vergangenen Zivilisation, und all das in der lärmenden Betriebsamkeit des neunzehnten Jahrhunderts. Alles Strandgut, was der Zeitenstrom von versunkenen Imperien angespült hatte, Relikte vom mächtigen Theben, vom königlichen Luxor, aus den berühmten Tempeln von Heliopolis und aus Hunderten versteckter Grüfte kündeten von ehemaliger Pracht und Weisheit und versetzten den jungen Forscher in eine andächtige, nachdenkliche Stimmung. Er fühlte sich klein und unbedeutend wie noch nie zuvor, als er durch die vom Mond silbern beleuchteten Zimmerfluchten des Museums spähte. Doch er war nicht mehr allein. In einer entfernten Ecke schimmerte gelbes Lampenlicht.

Das Licht näherte sich langsam, verharrte von Zeit zu Zeit und kam dann schnell auf ihn zu. Kein Laut war zu hören von dem, der die Lampe trug, kein Schritt, kein Atmen. Der Engländer dachte sofort an Einbrecher und zog sich tiefer in seine Ecke zurück. Bald war das Licht in der übernächsten Kammer, jetzt im Nachbarraum, und immer noch war kein Laut zu vernehmen. Nun sah er das Gesicht, das hinter der Lampe frei im Raum zu schweben schien, und sein Herz krampfte sich zusammen. Es gab keinen Zweifel, die metallisch funkelnden Augen, die pergamentene Haut: Es war der Wärter, mit dem er am Nachmittag gesprochen hatte.

Vansittart Smith' erster Gedanke war, sich zu zeigen und ihn anzusprechen. Nach einer kurzen Erklärung würde der Wärter ihn ohne Zweifel zu einem Seitenausgang führen und ihn hinauslassen. Doch als der Mann die Halle betrat, war in seinen Bewegungen etwas so Geheimnisvolles, Verstohlenes, daß er sich eines anderen besann. Es war ganz offensichtlich, daß dies kein normaler, dienstlicher Rundgang war. Der Bursche schlich auf Kreppsohlen herum und blickte ständig hektisch nach links und rechts, während sein keuchender Atem die Lampe flackern ließ. Vansittart Smith zog sich lautlos in seine Ecke zurück, um ihn heimlich zu beobachten, denn er war sicher, daß der Kerl irgend etwas vorhatte, bei dem er bestimmt nicht gesehen werden wollte.

Der Wärter wußte anscheinend genau, was er wollte. Er ging zielstrebig auf eine der großen Vitrinen zu, zog einen Schlüssel aus seiner Tasche und schloß sie auf. Vom obersten Regal holte er eine der Mumien und legte sie vorsichtig, geradezu liebevoll auf den Boden; die Lampe stellte er daneben, dann setzte er sich in orientalischer Weise auf den Boden und begann mit langen, zitternden Fingern, die Leichentücher und Bandagen aufzuwickeln, in denen die Mumie verpackt war. Eine Lage Leintücher nach der anderen sowie getrocknete Rinden und Blätter fielen auf den Marmorboden, und ein scharfer, aromatischer Duft erfüllte den Raum.

John Vansittart Smith wußte, daß diese Mumie noch nie enthüllt worden war. Die Prozedur faszinierte ihn, er schwitzte vor Neugier, und sein Vogelkopf schob sich immer weiter hinter der Tür hervor. Als es schließlich soweit war und der viertausend Jahre alte Schädel offenlag, konnte er nicht mehr an sich halten, ein verzückter Schrei entrang sich seiner Kehle. Er sah, wie sich zuerst ein dichter Strom glänzender, schwarzer Haare über die Arme des geheimnisvollen Wärters ergoß, dann die zierliche, weiße Stirn mit wunderbar geschwungenen Augenbrauen, schließlich zwei große, dunkel umrandete Augen, die fein geschnittene Nase und ein süßer, voller, sinnlicher Mund über einem lieblich gerundeten Kinn. Das Gesicht war von außerordentlicher Schönheit; das einzige Makel war nur ein formloser, kaffeebrauner Fleck auf der Mitte ihrer Stirn. Jedenfalls hatte der Einbalsamierer hier ein Kunststück vollbracht. Smith' Augen wurden immer größer, und seine Kehle wollte sich vor Entzücken zusammenschnüren.

Die Reaktion des Ägyptologen war jedoch nichts gegen das, was der seltsame Museumsdiener jetzt aufführte. Er warf seine Arme in die Höhe und ließ einen wirren Wortschwall los, er wälzte sich vor ihr im Staub, umarmte sie und küßte sie ununterbrochen auf Lippen und Stirn. »Ma petite!« stöhnte er auf französisch, »Ma pauvre petite!« Die Stimme zitterte vor Rührung, nur seine Augen sahen, trocken und tränenlos, immer noch aus wie zwei blanke Stahlkugeln, wie der Engländer im Licht der Lampe erkennen konnte. Minutenlang lag er mit zuckendem Gesicht heulend und stöhnend über dem Kopf der ägyptischen Schönheit. Plötzlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht; er sagte einige Worte in einer unbekannten Sprache, dann sprang er auf wie jemand, der Kraft gesammelt hatte für ein weiteres, großes Vorhaben.

In der Mitte des Raumes war ein großes, rundes Kästchen ausgestellt, in dem sich eine großartige Sammlung altägyptischer Ringe und Schmucksteine befand, die der Forscher schon oft bewundert hatte. Der Wärter schlich hinüber und öffnete sie, nachdem er seine Lampe und ein kleines Tonfläschchen, das er aus seiner Tasche geholt hatte, auf dem Sims daneben abgestellt hätte. Nun nahm er eine Handvoll Ringe aus der Schatulle und beträufelte einen nach dem anderen mit einer Flüssigkeit aus dem Fläschchen, wobei er ein höchst ernsthaftes und angespanntes Gesicht machte. Er ließ die Flüssigkeit einen Moment auf jeden der Ringe einwirken und hielt ihn dann gegen das Licht. Offensichtlich war er bei dem ersten Dutzend mit dem Ergebnis nicht zufrieden, denn er warf die Ringe ärgerlich zurück in den Kasten und; nahm eine weitere Handvoll heraus. Nachdem er einen davon, einen schweren Ring mit einem großen Stein, auf diese Weise getestet hatte, sprang er jubelnd in die Höhe, und dabei stieß er das Tonfläschchen um, worauf die Flüssigkeit über den Boden direkt vor die Füße des Engländers floß. Der Wärter wollte wohl keine Spuren hinterlassen; er zog daher ein rotes Taschentuch aus seiner Jackentasche und begann, die Flüssigkeit aufzuwischen. So folgte er dem dünnen Bächlein auf Händen und Knien bis in jene dunkle Ecke hinter der Tür, wo er unvermeidlich an die Füße seines heimlichen Zuschauers stoßen mußte.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte John Vansittart Smith mit der seinem Volk eigenen Höflichkeit; »ich war leider so ungeschickt, hinter dieser Tür einzuschlafen.«

»Haben Sie mich beobachtet?« fragte der andere, der offensichtlich auch das Englische beherrschte; sein maskenhaftes Gesicht sah dabei höchst feindselig aus.

Smith scheute sich nicht, die Wahrheit zu sagen. »Ich muß gestehen«, sagte er, »daß ich all ihre Bewegungen verfolgt habe und daß Sie in allerhöchstem Maße meine Neugier und mein Interesse geweckt haben.«

Der Mann zeigte ihm ein langes, altertümliches Messer, dessen Klinge wie ein Flammenschwert geschmiedet war. »Sie sind nur haarscharf dem Tod entronnen«, sagte er; »hätte ich Sie vor zehn Minuten entdeckt, dann hätte diese Klinge Ihr Herz durchbohrt. Und Sie können ganz sicher sein, wenn Sie mich anfassen, sind Sie ein toter Mann.«

»Ich will nicht mit Ihnen streiten«, antwortete der Ägyptologe. »Ich bin nur rein zufällig Zeuge Ihrer erstaunlichen Aktivitäten geworden. Alles, worum ich Sie bitten möchte, ist, daß Sie vielleicht die Freundlichkeit haben, mir den Weg nach draußen zu weisen.« Er sprach sehr ruhig, denn der Mann drückte die Spitze des Dolches immer noch gegen seinen linken Handballen, wie um sich von seiner Schärfe zu überzeugen, und sein Gesicht war auch noch nicht freundlicher geworden.

»Meinen Sie. - ach nein. Wie war doch Ihr Name?«

»Vansittart Smith«, antwortete der Brite.

»Sind Sie derselbe Vansittart Smith, der in London den Artikel über El Kab veröffentlicht hat? Ich habe ihn überflogen. Sie scheinen sich ja ganz gut auszukennen auf dem Gebiet.«

»Sir!« Der Ägyptologe wußte nicht, was er sagen sollte.

»Ja, Sie scheinen jedenfalls mehr zu wissen als manch anderer, der sich für einen großen Kenner hält. Der Schlüssel unseres Lebens im alten Ägypten war nämlich tatsächlich nicht unsere Kunst oder irgendwelche Schriften, die jeder lesen konnte, nein, das überschätzen auch Sie gewaltig. Viel wichtiger waren die hermetischen Wissenschaften, unsere Mystik, von der Sie kaum oder gar nicht sprechen.«

»Unser Leben im alten Ägypten!« wiederholte der Forscher mit großen Augen. Und dann plötzlich: »Mein Gott, schauen Sie sich die Mumie nur an!«

Der Mann drehte sich um und hielt seine Lampe an das Gesicht der toten Schönheit, doch die frische Luft hatte schon das Ihrige getan, um alle Kunst des Balsamierers zunichte zu machen. Die Haut war zerfallen, die Augen waren in den Schädel gesunken, und keine Lippen bedeckten mehr die gelben Zähne. Nur der braune Fleck auf der Stirn zeigte noch, daß dies dasselbe Gesicht war, das noch vor wenigen Minuten in so strahlender Jugend und Schönheit erschienen war.

Der seltsame Museumswärter schlug seine Hände über dem Kopf zusammen, sein langer schmerzvoller Schrei schallte durch die Hallen, Mit größter Anstrengung gelang es ihm, sich wieder zu fassen, dann wandte er seine kalten Augen wieder dem Engländer zu.

»Es ist nicht so schlimm«, sagte er mit zitternder Stimme, »es macht eigentlich nichts aus. Ich hatte diese Nacht etwas zu erledigen, und das habe ich getan. Ich habe gefunden, was ich suchte, der Bann ist gebrochen. Ich kann wieder bei ihr sein. Was kümmert mich ihre sterbliche Hülle, solange ich weiß, daß ihre Seele jenseits des Vorhangs auf mich wartet.«

»Das sind starke Worte«, sagte Vansittart Smith. Er wurde immer sicherer, daß er es mit einem Verrückten zu tun hatte.

»Die Zeit drängt«, fuhr der Mann fort. »Der Augenblick ist nah, auf den ich die ganze furchtbare Zeit warten mußte. Doch zuerst will ich Sie hinausbegleiten. Kommen Sie.«

Er nahm die Lampe und führte den Forscher eilig durch lange Gänge und Hallen mit ägyptischen, assyrischen und persischen Stücken. Am Ende stieß er eine schmale Tür auf und führte ihn eine gewundene Steintreppe hinab. Er fühlte schon die kühle, frische Nachtluft, und bald standen sie vor einer Tür, die auf die Straße zu führen schien. Daneben gab es noch eine andere Tür, die nur angelehnt war. Der Wärter zögerte kurz, dann sagte er: »Kommen Sie mit, hier entlang.«

Vansittart Smith schwankte zwischen Neugier und Überdruß. Er hatte gehofft, bald endlich in sein Hotel zu kommen. Doch andererseits wollte er zu gern wissen, wie die Sache weiterging. Schließlich folgte er seinem eigenartigen Begleiter in eine kleine, beleuchtete Kammer.

Das Zimmer erinnerte an eine Portiersloge. Auf einem Rost brannte ein Holzfeuer. An Möbeln gab es ein einfaches Bett, einen Holzstuhl und in der Mitte einen runden Tisch, auf dem die Reste einer Mahlzeit standen. Doch als der Besucher sich umsah, konnte er sich des absonderlichen Eindrucks nicht erwehren, daß er sich in der Werkstatt eines antiken Handwerkers befand. Alles stimmte, jedes Detail war vorhanden; die Kerzenhalter, die Vasen auf dem Kaminsims, die Ornamente an den Wänden, alles schien in eine ferne Vergangenheit zu gehören. Der vertrocknete Mann setzte sich auf die Bettkante und bat seinen Gast, auf dem Stuhl Platz zu nehmen.

»Vielleicht ist es Vorsehung«, sagte er, immer noch in exzellentem Englisch. »Vielleicht ist es so beschlossen, daß ich etwas hinterlassen soll, daß jemand von meinem Schicksal erfahren soll, das allen Sterblichen eine Warnung sein wird, sich nur nicht gegen die Kräfte der Natur aufzulehnen. Ich überlasse es Ihnen; Sie können mit Ihrem Wissen anfangen, was Sie wollen. Jetzt, wo ich zu Ihnen spreche, stehe ich auf der Schwelle zu der anderen Welt.

Sie haben richtig vermutet, ich bin Ägypter - nicht einer von diesem heruntergekommenen Sklavenvolk, das heute das Nildelta bewohnt, sondern ein Überlebender der starken, überlegenen Rasse, die die Juden gebändigt, die Äthiopier in die Wüste geschickt und die mächtigen Bauwerke erschaffen hat, die von allen Generationen nach uns bestaunt und bewundert wurden. Es war die Zeit des Tuthmosis, sechzehnhundert Jahre vor Christi Geburt, daß ich das Licht der Welt erblickte. Ich sehe, Sie erschrecken, doch warten Sie. Sie werden merken, daß ich eher zu bemitleiden als zu fürchten bin. Man nannte mich Sosra. Mein Vater war der Oberpriester des Osiris im großen Tempel von Abaris. Ich wurde im Tempel großgezogen und erlernte all die mystischen Künste, von denen in Ihrer Bibel die Rede ist. Ich war ein besessener Schüler. Mit sechzehn konnte ich schon alles, was der weiseste Priester mir beibringen konnte. Von der Zeit an studierte ich die Geheimnisse der Natur für mich allein, ohne Anleitung, und ich teilte mein Wissen mit keinem anderen Menschen.

Von allen Dingen, mit denen ich mich damals beschäftigte, war ich am brennendsten interessiert an der Frage nach dem Leben selbst. Ich drang tief ein in das Geheimnis, das Prinzip des Lebens. Die Medizin hatte zum Ziel, Krankheiten zu heilen, wenn sie schon in Erscheinung getreten waren. Ich aber wollte einen Weg finden, den Körper zu stärken, daß weder Krankheit noch Tod je von ihm Besitz ergreifen konnten. Es wäre zwecklos, Ihnen von meinen Experimenten zu erzählen. Sie würden sie doch nicht verstehen; ich selbst habe sie kaum verstanden. Ich habe sie zum Teil an Tieren, an Sklaven, aber auch an mir selbst ausgeführt. Ich kann Ihnen sagen, daß ich schließlich eine Substanz gewann, die, in die Blutbahn gebracht, den Körper unempfindlich machte für die Zeit, für Krankheiten und Verletzungen. Sie schenkte letztlich keine Unsterblichkeit, doch ihre Wirkung sollte reichen für viele Jahrtausende. Ich spritzte die Mixtur einer Katze, und danach gab ich ihr das tödlichste Gift, das es gab. Und diese Katze lebt noch heute irgendwo in Unterägypten. Es war nichts Geheimnisvolles oder Magisches an der Sache, es war einfach eine chemische Entwicklung, eine Formel, die vielleicht irgendwann neu entdeckt wird.

Wenn man jung ist, liebt man das Leben. So dachte ich auch, ich wäre von allen menschlichen Sorgen befreit, nun, wo ich den Schmerz besiegt und den Tod in so weite Ferne gerückt hatte. Frohen Mutes spritzte ich den verfluchten Stoff in meine Vene. Dann sah ich mich nach jemand um, den ich noch beglücken konnte. Ich kannte einen jungen Priester des Thoth-Kultes, den ich sehr schätzte wegen seiner Ernsthaftigkeit und Hingabe für seine Studien. Sein Name war Parmes.

Ihm verriet ich mein Geheimnis, und auf seinen Wunsch gab ich ihm mein Wunderelixier. Ich dachte, so würde er für immer mein Freund und mit mir zusammenbleiben.

Nach dieser großartigen Entdeckung ließ ich meine Studien eine Zeitlang etwas schleifen, doch Parmes forschte mit doppelter Energie weiter. Jeden Tag arbeitete er unermüdlich in seinem Labor im Tempel des Thoth, doch er erzählte mir nur wenig über seine Ergebnisse. Ich für meinen Teil spazierte nur noch durch die Stadt und war ganz berauscht von dem Gedanken, daß alles vergehen würde, nur ich nicht. Die Leute verbeugten sich vor mir, ich war bekannt als großer Wissenschaftler.

Zu jener Zeit wütete ein Krieg an der Ostgrenze des Landes. Der große König schickte einen Statthalter nach Abaris, um es zu verteidigen, und mit diesem Soldaten kam auch seine Tochter, von deren Schönheit ich schon viel gehört hatte. Eines Tages, als ich mit Parmes durch die Straßen flanierte, sah ich sie dann und war sofort in Liebe entflammt. Mein Herz wollte zerspringen, ich hätte mich vor den Sklaven, die sie auf ihren Schultern trugen, in den Staub werfen können. Das war sie, das war meine Frau, ohne sie konnte ich nicht weiterleben. Ich schwor beim Kopf des Horus, daß sie mein werden würde. Ich schwor es dem Priester des Thoth, der sich mit finsterem Gesicht von mir abwandte.

Meine Bemühungen um sie führten schließlich dazu, daß sie mich liebte, so wie ich sie liebte. Ich erfuhr auch irgendwann, daß Parmes schon vor mir bei ihr gewesen war und ihr seine Liebe gestanden hatte, doch das machte mir keine Sorgen, denn ich wußte, daß ich ihr Herz gewonnen hatte. Die weiße Pest war über die Stadt gekommen, und ich konnte die Kranken pflegen, ohne Angst oder Ekel empfinden zu müssen. Schließlich erzählte ich der Angebeteten von meinem Geheimnis und bat sie, sie möge sich meiner Behandlung unterziehen.

>Deine Schönheit wird dann nie verblühen, Atmac, so sprach ich zu ihr. >Alles wird vergehen, doch du und ich und unsere große Liebe werden - sogar das Grab des König Chefru überdauern.<

Doch sie war voller Zweifel und Angst. Wäre es denn recht?« fragte sie, >wäre es nicht ein Frevel am Willen der Götter? Wenn der große Osiris wollte, daß wir so lang leben, würde er nicht selbst dafür sorgen?<

Mit sanften, liebenden Worten konnte ich ihre Zweifel zerstreuen, und trotzdem zögerte sie noch. Es sei eine schwere Entscheidung, sagte sie. Sie wollte noch eine Nacht darüber nachdenken. Am nächsten Morgen wollte sie sagen, wie sie entschieden hätte. Nur eine Nacht, bat sie. Sie wollte zu Isis beten, ihr zu einem Entschluß zu helfen.

Schweren Herzens und mit düsteren Vorahnungen im Sinn ließ ich sie allein. Am nächsten Morgen eilte ich sofort nach dem Gebet zu ihr. Auf der Treppe kam mir ein verstörter Sklave entgegen. Die Herrin sei krank, sagte er, sehr krank. Wilde Panik ergriff mich, vorbei an den Wachen bahnte ich mir den Weg durch schier endlose Gänge und Hallen, bis ich in ihrem Zimmer war.

Dort lag sie auf dem Bett, ihr Gesicht war wachsbleich, ihr Auge matt, und auf ihrer Stirn brannte wütend das schreckliche, purpurne Mal, das ich nur zu gut kannte. Es war das Zeichen der Pest, das Siegel des Todes.

Was soll ich von dieser furchtbaren Zeit erzählen? Monatelang trieb es mich umher, ich war wahnsinnig, ich fieberte, phantasierte, nur ich konnte nicht sterben! Noch nie hat sich ein Verdurstender so nach Wasser gesehnt, wie ich mir damals den Tod wünschte. Hätte Stahl oder Gift den Schrecken meiner Existenz beenden können, so wäre ich meiner Liebe sofort gefolgt in das Land, dessen Eingang so schmal ist. Ich versuchte alles, doch ich war unverwundbar. Meine verfluchte Droge war einfach zu stark. Eines Abends, als ich mutlos und müde auf meiner Couch lag, kam Parmes, der Priester des Thoth, zu mir. Er stand vor mir im Lichtschein der Lampe, in seinen Augen funkelte das Feuer des Wahnsinns.

>Warum hast du das Mädchen denn sterben lassen?< fragte er grinsend. >Warum hast du ihr nicht gegeben, was du mir gegeben hast?< >Es war zu spät<, antwortete ich. >Doch du hast sie ja auch geliebt, du teilst mit mir das Unglück. Ist der Gedanke nicht furchtbar, all die Jahrhunderte, die wir warten müssen, bevor wir sie wiedersehen können? Oh, was waren wir für Narren, uns den Tod zum Feind zu machen!<

>Das gilt vielleicht für dich!< rief er mit einem wilden Lachen. >Es freut mich, diese Worte von dir zu hören. Für mich haben sie keine Bedeutung mehr.<

>Was meinst du damit?< Ich stützte mich auf meine Ellbogen und schrie ihn an. >Die Trauer muß deinen Geist umnachtet haben!< Er brannte vor Freude. Er zitterte und sprang umher wie vom Teufel besessen.

>Weißt du, wohin ich jetzt gehe?< fragte er.

>Nein!< antwortete ich.

>Ich gehe zu ihr<, geiferte er. >Sie liegt einbalsamiert in einer Gruft bei den zwei Palmen hinter der Stadtmauer.<

>Was willst du dort?< fragte ich.

>Sterben!< schrie er, >sterben! Ich habe die irdischen Fesseln abgestreift.<

>Aber du hast doch das Elixier in deinem Blut<, rief ich.

>Ich kann es brechen<, sagte er; >ich habe ein mächtigeres Prinzip gefunden, ich kann es brechen. Jetzt, in diesem Augenblick, arbeitet es in meinen Venen, und in einer Stunde werde ich tot sein, tot! Ich werde bei ihr sein, und du mußt hierbleiben.<

Das Feuer in seinen Augen sagte mir, daß er die Wahrheit sprach. Mein Elixier hatte seine Kraft in ihm verloren.

>Gib es mir, sag mir die Formel!< schrie ich.

>Niemals!< antwortete er.

>Ich flehe dich an, bei der Weisheit des Thoth, bei Anubis!< Ich war verzweifelt.

>Es ist zwecklos<, sagte er kalt.

>Dann werde ich es selbst herausfindend schrie ich.

>Das kannst du nicht<, antwortete er, >ich habe es nur durch Zufall entdecken können. Niemand wird jemals diesen Stoff herstellen können, alles, was es davon gibt, ist im Ring des Thoth.<

>Im Ring des Thoth! Sag mir, wo finde ich diesen Ring?<

>Auch das wirst du niemals erfahren<, erwiderte er hämisch. >Du hast ihre Liebe gewonnen, doch was hast du jetzt davon? Ich lasse dich jetzt mit deinem jämmerlichen Erdenleben allein. Ich bin frei. Ich muß jetzt gehen.< Er drehte sich um und rannte weg. Am nächsten Morgen hörte ich, daß der Priester des Thoth gestorben war.

Die Tage danach verbrachte ich in meinem Labor. Ich mußte dieses Gift finden, das stärker sein sollte als mein Lebenselixier. Von früh bis Mitternacht saß ich über meinen Reagenzgläsern. Ich raffte alle Papiere zusammen, alles, was der Priester des Thoth besessen hatte, doch ich fand nichts. Hier und da weckte ein Hinweis oder eine vage Andeutung Hoffnung in mir, doch es führte zu nichts. Ich arbeitete weiter, Monat für Monat verstrich, und wenn ich ganz mutlos war, ging ich zu der Gruft bei den Palmbäumen. Dort fühlte ich mich ihr nah, und ich versprach ihr, daß ich alles tun würde, was Menschenkraft vermag, um das Rätsel zu lösen.

Parmes hatte gesagt, daß seine Entdeckung mit dem Ring des Thoth zusammenhing. Ich kannte das Schmuckstück. Es war ein großer, schwerer Reif, nicht aus Gold, sondern aus einem selteneren und schwereren Metall, das aus den Minen am Berg Harbal stammte. Sie nennen es Platin. Ich erinnerte, daß in den Ring ein Hohlkristall gefaßt war, in dem einige Tropfen Flüssigkeit Platz haben könnten. Ohnehin konnte das Geheimnis nicht allein in dem Metall ruhen, denn im Tempel befanden sich mehrere Ringe aus Platin. War es nicht viel wahrscheinlicher, daß er sein wertvolles Gift in der Höhlung des Steines untergebracht hatte? Kaum war ich auf diese Idee gekommen, da fand ich in seinen Papieren auch schon die Bestätigung, daß es wirklich so war und daß noch etwas von der Flüssigkeit übrig sein mußte.

Nur, wie konnte ich den Ring finden? Er trug ihn jedenfalls nicht am Finger, als er einbalsamiert wurde, dessen vergewisserte ich mich. Er war auch nicht unter seinen privaten Habseligkeiten zu finden. Vergeblich durchsuchte ich jeden Raum, den er je betreten hatte, jede Schachtel und Vase, die er besessen hatte. Ich siebte den Wüstensand längs der Wege, die er zu nehmen pflegte; doch ich konnte machen, was ich wollte, vom Ring des Thoth fand ich keine Spur. Und trotzdem wäre ich vielleicht zum Ziel gekommen, hätten sich mir nicht unerwartete, ungünstige Umstände in den Weg gestellt.

Der Krieg, von dem ich gesprochen habe, weitete sich aus, unsere Truppen mit allen Reitern und Bogenschützen waren in der Wüste abgeschnitten. Die Nomaden waren hinter uns her wie die Heuschrecken in einem trockenen Jahr. Von der Wildnis von Shur bis zu dem großen Salzmeer gab es nichts als Feinde. Abaris war das Bollwerk Ägyptens, doch wir konnten die Wilden nicht länger aufhalten. Die Stadt fiel. Der Statthalter und die Soldaten wurden getötet, und ich wurde wie viele andere in die Sklaverei verschleppt.

Jahrelang hütete ich das Vieh auf den riesigen Weiden im Euphratgebiet. Mein Herr starb, und sein Sohn wurde alt, doch ich war dem Tod so fern wie je. Schließlich floh ich auf einem Kamel zurück nach Ägypten. Die Barbaren hatten sich am Nil niedergelassen, nachdem sie das ganze Land unterworfen hatten, Abaris war niedergebrannt worden, und vom großen Tempel war nichts mehr übrig als ein Schutthaufen. Die Grabstätten waren geplündert, kein Stein lag mehr auf dem anderen. Auch Atmas Grab war spurlos verschwunden. Die Schriften des Parmes und die Überreste des Thoth-Tempels waren entweder zerstört oder weit über die Wüsten Syriens verstreut. Alle Suche war umsonst.

Damals gab ich alle Hoffnung auf, jemals den Ring zu finden oder das Geheimnis des Gegengifts zu lüften. Ich fand mich damit ab, weiterzuleben und geduldig auf den Tag zu warten, wo die Wirkung des Elixiers endlich nachließe. Wie können Sie ermessen, welch schreckliches Phänomen die Zeit sein kann, Sie, der Sie doch nur die kurze Spanne zwischen Wiege und Grab kennen! Ich jedenfalls weiß, wovon ich rede, ich, der den Lauf der Weltgeschichte von den Anfängen bis heute miterlebt hat. Ich war alt, als Ilium zugrunde ging. Ich war sehr alt, als Herodot nach Memphis kam. Ich war ein Greis, als der neue Messias auf die Erde kam. Und noch heute sehe ich wie ein Mensch aus, noch immer fließt das süße Elixier mit meinem Blut, das mich vor dem beschützt, nach dem ich mich so sehr sehne. Heute nun, endlich, ist das Ende meines qualvollen Weges in Sicht!

Ich war in allen Ländern, habe mit allen Völkern zusammengelebt. Alle Sprachen sind mir einerlei, ich habe sie alle gelernt, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich brauche nicht zu sagen, wie träge der Fluß der Zeiten war, die nicht enden wollende Dämmerung der modernen Zivilisation, das finstere Mittelalter, die freudlosen Zeiten der Barbarei. Ich habe alles hinter mir, und nie habe ich eine andere Frau angeschaut. Atma weiß, daß ich ihr immer treu geblieben bin.

Ich hatte mir zur Angewohnheit gemacht, alles zu lesen, was die Wissenschaftler über das alte Ägypten verbreiten. Ob ich arm war oder reich, immer hatte ich genug, um mir die einschlägigen Zeitschriften kaufen zu können. Vor ungefähr neun Monaten, ich war in San Franzisko, las ich einen Bericht über neue Entdeckungen, die man bei Abaris gemacht hatte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich es las. Einige Archäologen hatten sich mit dem Inhalt von Grabstätten beschäftigt, die kürzlich freigelegt worden waren. In einer hatte man eine unversehrte Mumie gefunden, die nach der Inschrift auf dem Schrein die Tochter eines Statthalters von Abaris zu Zeiten von Tuthmosis gewesen sein sollte. Als man den äußeren Schrein entfernte, fand man auf der Brust der einbalsamierten Frau einen großen Platinring mit einem Kristall. Dort also hatte Parmes den Ring des Thoth versteckt, und er hatte sich nicht getäuscht, dort war der Ring sicher, denn kein Ägypter hätte es jemals gewagt, auch nur den äußeren Sarg eines einbalsamierten Freundes zu öffnen.

Am selben Abend verließ ich San Franzisko, und wenige Wochen später war ich wieder in Abaris, wenn man den Namen noch benutzen will für die Sandhaufen und Viehzäune, die man heute dort vorfindet. Ich lief zu den Franzosen, die dort gruben, und fragte nach dem Ring. Sie antworteten mir, daß man sowohl die Mumie als auch den Ring ins Boulak Museum nach Kairo gebracht hätte. Ich machte mich sofort auf den Weg, nur um dort zu erfahren, daß das Museum die Funde an Mariette Bey abgeben mußte, die damit auf dem Weg zum Louvre war. Ich folgte ihnen, und schließlich fand ich hier nach fast viertausendjähriger Suche in der ägyptischen Sammlung des Louvre die Überreste meiner geliebten Atma und den Ring, den ich so dringend brauche.

Doch wie konnte ich die Dinge in meinen Besitz bringen? Diesmal hatte ich Glück. Zufällig war der Posten eines Wärters frei geworden. Ich ging also zum Direktor und überzeugte ihn davon, daß ich viel über Ägypten weiß. In meiner Aufregung redete ich viel zuviel, so daß der Direktor bemerkte, ein Lehrstuhl würde mir besser anstehen als der Posten eines Museumsdieners. Er sagte, ich wüßte mehr als er. Ich mußte dann noch viel Unsinn erzählen, um ihn glauben zu machen, er hätte mein Wissen überschätzt. Doch am Ende konnte ich mit meinen Habseligkeiten in diese Kammer einziehen. Es wird meine erste und letzte Nacht hier sein.

Das ist meine Geschichte, Mr. Vansittart Smith. Einem Mann Ihrer Intelligenz brauche ich nicht mehr zu erzählen. Durch einen seltsamen Zufall haben Sie heute nacht das Antlitz der Frau gesehen, die ich in jenen fernen Tagen einmal geliebt habe. In der Schatulle waren viele Ringe mit Steinen, deshalb mußte ich erst den Platintest machen, um den richtigen zu finden. Ein Blick auf den Kristall genügt dann, um zu sehen, daß er tatsächlich die Flüssigkeit enthält, die mir helfen kann, meine verfluchte Gesundheit zu zerstören, die für mich schlimmer war als die grausamste Krankheit. Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen. Sie können meine Geschichte weitererzählen, Sie können sie auch für sich behalten, wenn Sie wollen. Sie haben die Wahl. Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, denn Sie sind heute nacht nur haarscharf dem Tod entgangen. Ich war verzweifelt und hätte Sie bestimmt umbringen müssen, wenn Sie irgendwie versucht hätten, mich an meinem Vorhaben zu hindern. Dort ist die Tür. Sie führt auf die Rue de Rivoli. Gute Nacht.«

Der Engländer schaute noch einmal zurück auf die gebeugte Gestalt des alten Ägypters Sosra, der noch einen Augenblick in der Tür verharrte, bevor er sie krachend zufallen ließ und den Schlüssel umdrehte.

Zwei Tage, nachdem er nach London zurückgekommen war, blätterte Mr. John Vansittart Smith in der Times und stieß auf folgenden knappen Bericht des Pariser Korrespondenten:

»Seltsame Geschehnisse im Louvre. - Gestern morgen machte man eine seltsame Entdeckung in der Haupthalle der Mittelost-Sammlung. Angestellte, die vor Öffnungszeit die Räume des Museums zu reinigen hatten, fanden einen der Wärter in inniger Umarmung mit einer Mumie tot auf dem Boden vor. Die Umklammerung war so fest, daß sie nur unter äußersten Schwierigkeiten getrennt werden konnten. Eine Schatulle, die wertvolle Ringe enthält, war geöffnet worden. Einer der Ringe fehlt. Die Polizei ist der Meinung, daß der Wärter die Mumie entwenden und an einen privaten Sammler verkaufen wollte, im Zuge der Tat aber einem Herzschlag erlag. Es soll sich um einen Mann unbestimmten Alters gehandelt haben, der durch sein exzentrisches Benehmen auffiel. Nach Angaben der Behörden hinterläßt er keine lebenden Verwandten, die sein dramatisches und unzeitiges Ende beweinen könnten.«

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