»Lot No. 249« (Lot No. 249)

Mit letzter Sicherheit wird man wohl nie erfahren, was zwischen Edward Bellingham und William Monkhouse Lee geschah und was das Grauen ausgelöst hat, das Abercrombie Smith widerfuhr. Wir können uns nur auf seinen eigenen, ausführlichen Bericht stützen und auf die Aussagen des Dieners Thomas Styles und des Pastors Plumptree Peterson und eben solcher Leute, die zufällig einen kleinen Teil dieser unglaublichen Kette von Ereignissen bezeugen können. Im wesentlichen müssen wir uns allein auf Smith verlassen, und die meisten von Ihnen halten es sicherlich für wahrscheinlicher, daß auch ein noch so klares Gehirn einmal seinen kleinen Fehlem und Schwächen unterliegen kann, als daß an einem Ort der Wissenschaft, wie ihn die Universität von Oxford zweifellos darstellt, in so flagranter Weise grundlegende Naturgesetze verletzt werden konnten. Wenn wir jedoch bedenken, wie schwach das Licht ist, mit dem unsere Wissenschaft den unüberschaubaren Raum dieser Gesetze beleuchten kann, wie in allen Winkeln Irrtümer wie Irrlichter aufblitzen und uns für lange Zeit erblinden lassen können, so hieße es, die Augen freiwillig zu verschließen, wenn wir jedes unerwartete Ereignis kurzerhand und nur scheinbar skeptisch als Halluzination abtäten.

An einem Flügel der Universitätsgebäude gibt es ein Ecktürmchen, das besonders alt sein soll. Der schwere Steinbogen, der seinen offenen Eingang überspannt, scheint nur noch von dem Netz aus Flechten und Efeuranken, die ihn überwuchern, vor dem Zusammenstürzen bewahrt zu werden. Von der Tür windet sich über zwei Absätze eine grobe Steintreppe nach oben, deren Stufen von Generationen wissensdurstiger Studenten ganz rund und formlos getreten sind, wie Steine in einem Flußbett, die die Zeit rundgeschliffen hat. Was mag heute noch übrig sein von all dem jungen, englischen Leben, all den Hoffnungen und Anstrengungen, die dieser Turm seit den Tagen der Plantagenets gesehen haben mag? Ein paar unleserliche Kerben auf irgendwelchen verwitterten Grabsteinen, vielleicht noch eine Handvoll Staub unter modrigen Sargresten, und eben auch diese abgetretenen Stufen, diese grauen Mauern, die in ihrer eigenen Sprache von vergangenen Zeiten künden.

Im Monat Mai des Jahres 1884 bewohnten drei junge Männer die kleinen Zimmer, jeweils ein Schlafraum und ein Wohnraum, die in dem Turm für Studenten zur Verfügung standen. Zu ebener Erde wohnte der Diener oder Bursche, Thomas Styles, der für die drei jungen Herren über ihm zu sorgen hatte. Unter den fleißigeren Kandidaten erfreuten sich diese Räume einer gewissen Beliebtheit, da man sich dort, umgeben von Hörsälen und Bibliotheken, gut zur Klausur zurückziehen konnte. Zu diesen Kandidaten zählten auch die drei, die nun dort wohnten - in der Turmspitze Abercrombie Smith, eine Treppe tiefer Edward Bellingham, und im ersten Stock William Monkhouse Lee.

Es war zehn Uhr, ein strahlender, blauer Frühlingsabend war zu Ende gegangen. Abercrombie Smith saß in seinem Lehnstuhl vor dem Kamin und rauchte schweigend seine Bruyerepfeife. Ihm gegenüber saß genauso entspannt in einem ganz ähnlichen Sessel sein alter Schulfreund Jefferson Hastie. Beide trugen noch Wolljacken, denn sie hatten den Abend am Fluß verbracht, zwei Naturburschen mit frischen, klaren Gesichtern, denen man ansah, daß sie stets für das Männliche und Starke waren. Hastie war denn auch Schlagmann seines College-Bootes, und Smith war ein ebenso starker Ruderer, doch ein bevorstehendes Examen warf schon seinen Schatten voraus und fesselte ihn an seine Bücher, bis auf die wenigen Stunden in der Woche, die er seiner Gesundheit schuldig zu sein glaubte. Die medizinischen Bücher auf seinem Tisch sowie verstreute Knochen und Gipsmodelle und anatomische Tafeln wiesen auf Art und Umfang seiner Studien hin, während die Ruder und ein Paar Boxhandschuhe an der Wand jedem, der das Zimmer betrat, zeigten, womit er sich in Form hielt: stark und männlich. Und Hastie half ihm dabei. Sie kannten sich sehr gut - so gut, daß sie oft, wie auch an diesem Abend, schweigend zusammensitzen konnten. Weiter kann sich eine Freundschaft nicht entwickeln.

»Ich habe noch Whisky«, sagte Abercrombie Smith zwischen zwei Rauchwolken. »Scotch in dem Krug und Irischen in der Flasche.«

»Nein danke. Wir haben bald ein Rennen. Kein Schnaps während des Trainings! Wie steht es mit dir?«

»Ich muß noch sehr viel lesen. Ich glaube, ich trinke besser auch nichts.«

Hastie nickte, die beiden fielen wieder in ihr zufriedenes Schweigen.

»Übrigens«, fragte Hastie plötzlich, »,hast du inzwischen einen der Jungs, die unter dir wohnen, kennengelernt?«

»Mehr als ein >Guten Tag< war bisher noch nicht drin.«

»Hm! Vielleicht ist es am besten so. Ich kenne die beiden zwar nicht gut, aber mir reicht es. An deiner Stelle würde ich sie nicht gerade an meine Brust drücken. Nichts gegen Monkhouse Lee, aber.«

»Du meinst den Schmächtigen?«

»Genau; er ist ein feiner kleiner Kerl, ich glaube schon, er ist in Ordnung. Doch er ist ständig mit Bellingham zusammen.«

»Das ist also der Dicke.«

»Genau, und den möchte ich lieber nicht kennen.«

Abercrombie Smith sah seinen Kameraden neugierig an.

»Was ist denn mit ihm los?« fragte er. »Trinkt er? Oder ist er ein Spieler, ein Schuft? Du bist doch sonst nicht so kritisch.«

»Ach, du kennst ihn eben nicht, sonst würdest du nicht so fragen. Er hat etwas an sich - wie eine Kröte. Mein Ekel vor ihm wird immer größer. Für mich ist er ein richtig ekelhafter kleiner Verklemmter, obwohl er kein Idiot zu sein scheint. In seinen Fächern soll er sogar einer der besten sein, die das College jemals hatte.«

»Medizin oder Philologie?«

»Orientalische Sprachen. Er ist ein wahrer Teufel auf dem Gebiet. Chillingworth traf ihn in den letzten Ferien irgendwo am Nil, wie er mit den Arabern sprach, als sei er einer von ihnen oder zumindest unter ihnen aufgewachsen. Er sprach koptisch mit den Kopten, hebräisch mit den Juden und arabisch zu den Beduinen, und alle hätten ihm am liebsten den Rocksaum geküßt, sogar die Typen, die sonst nur auf Steinen hocken und jeden Fremden, der vorbeikommt, mit den Blicken töten wollen und vor ihm ausspucken. Doch als sie diesen Bellingham sahen, wälzten sie sich vor ihm im Staub, bevor er fünf Worte ausgesprochen hatte. Chillingworth erzählte, daß er so etwas noch nie erlebt hätte. Und für Bellingham schien es ganz selbstverständlich zu sein, zwischen ihnen herumzustolzieren und sie zu behandeln, als seien sie seine Sklaven. Ganz gut für einen Studenten, nicht wahr?«

»Du sagtest, man könne an Lee nicht herankommen, ohne auch mit Bellingham zu tun zu bekommen; wieso?«

»Weil Bellingham mit Lees Schwester Evelyn verlobt ist. Sie ist ein so hübsches, fröhliches Mädchen! Ich kenne die ganze Familie sehr gut, und ich finde es furchtbar, mitansehen zu müssenA wie sie sich mit dieser Kröte abgibt. Die Kröte und die Taube, daran erinnern mich die beiden immer.«

Smith grinste und klopfte seine Pfeife am Kaminsims aus.

»Ich habe dich durchschaut, Alter«, sagte er, »das Ganze liegt einfach zu klar auf der Hand, Bellingham würde dich gar nicht stören, wenn er nicht zufällig mit Evelyn verlobt wäre.« .

»Naja, ich kenne sie von klein auf, und ich will nicht, daß sie ein Risiko eingeht; das tut sie bestimmt. Er sieht einfach unheimlich aus. Und er hat unheimliche, gefährliche Launen. Erinnerst du dich an seinen Streit mit dem langen Norton?«

»Nein; du vergißt immer, daß ich noch nicht solange hier bin.«

»Ach ja, es war im letzten Winter. Aber du kennst sicher den schmalen Pfad unten am Fluß. Ein paar Studenten, Bellingham vorne weg, gingen in die eine Richtung, aus der anderen kam ihnen eine alte Marktfrau entgegen. Es hatte geregnet, du weißt, was das dort unten heißt, der Weg ist sehr schmal und ringsherum nichts als Schlamm und Pfützen. Doch was tut dieses Schwein Bellingham? Er bleibt auf dem Weg und stößt die Alte mit all ihrem Plunder in den Schmutz. Es war eine wirklich gemeine Szene, und Norton wurde so wütend, daß er Bellingham ins Gesicht sagte, was er davon hielt. Ein Wort gab das andere, und die beiden hätten sich fast geprügelt, es war ein Riesenärger. Du mußt mal sehen, wie Bellingham Norton anschaut, wenn er ihm heute einmal über den Weg läuft, es ist wirklich furchterregend. Himmel, es ist ja schon elf Uhr!«

»Keine Eile! Zünde dir deine Pfeife ruhig wieder an.«

»Das geht nicht, ich bin doch im Training und sollte eigentlich schon längst im Bett sein. Und was tu ich statt dessen? Ich sitze hier und schwätze. Ich nehme deinen Schädel mit, wenn du ihn im Moment nicht brauchst. Meiner liegt schon seit einem Monat bei Williams. Du könntest mir auch die Ohrknöchelchen borgen, aber nur, wenn du sie wirklich nicht brauchst. Vielen Dank. Eine Tasche brauche ich nicht, ich nehme das Zeug unter den Arm. Gute Nacht, mein Sohn, und denke daran, was ich dir über deinen Nachbarn erzählt habe.«

Als Hastie mit seinem Anatomiekram verschwunden war, leerte Abercrombie Smith seine Pfeife in den Papierkorb, schob seinen Sessel näher zur Lampe und griff nach einem prächtigen, grün eingebundenen Wälzer, der all die großen, bunten anatomischen Karten enthielt, Karten eines Landes, dessen macht- und hilflose Könige wir sind. Wenn er auch in Oxford erst angefangen hatte, als Mediziner war er schon fortgeschritten, denn er hatte vier Jahre in Glasgow und Berlin gearbeitet, und nach seiner nächsten Prüfung würde er als fertiger Arzt dastehen. Der entschlossene Mund, die breite Stirn und das klar geschnittene, etwas harte Gesicht ließen sofort vermuten, daß er zäh und geduldig genug war, auch ohne brillantes Talent manchen glänzenden Kopf am Ende in den Schatten stellen zu können. Ein Mann, der sich unter Schotten und Preußen behaupten kann, läßt sich nicht so leicht in die Ecke stellen. Smith hatte sich in Glasgow und Berlin einen guten Namen geschaffen, und jetzt wollte er in Oxford soviel erreichen, wie mit Fleiß und Engagement möglich war.

Er hatte etwa eine Stunde gelesen, die Zeiger seines geräuschvollen Reiseweckers würden sich bald auf der Zwölf treffen, als ein seltsames Geräusch ihn aufschreckte - ein lautes, fast schrilles Geräusch, wie ein gequältes, schmerzvolles Stöhnen. Smith ließ das Buch sinken und spitzte die Ohren. Links und rechts nebenan war nichts, das Geräusch konnte nur von seinem Nachbarn unter ihm kommen -demselben Bellingham, von dem sein Freund ein so ungünstiges Bild gezeichnet hatte. Smith kannte ihn nur als einen schwabbeligen, blassen Kerl, der ganz in seinen Studien aufzugehen schien; oft brannte bei ihm sogar noch Licht, wenn ringsherum schon längst alle schlafen gegangen waren. Dadurch fühlte sich Smith ihm irgendwie verbunden, denn auch er studierte oft bis tief in die Nacht. Es beruhigte ihn, zu wissen, daß ganz in der Nähe noch jemand war, dem seine Arbeit so wichtig war, daß er den Schlaf darüber vergaß. Sogar jetzt waren seine Gedanken an ihn noch freundlich. Hastie war ein guter Kumpel, doch er war auch ziemlich grobgestrickt und hatte wenig Phantasie. Abweichungen von seinem Idealbild reiner Männlichkeit konnte er nicht ertragen. Fiel einmal ein Student ein wenig aus der Reihe seiner frisch gewaschenen, sportlichen Kommilitonen, so war er Hastie gleich suspekt. Wie viele Sportler neigte er dazu, die körperliche Erscheinung eines Menschen mit seinem Charakter zu verwechseln. Smith kannte diesen Fehler seines Freundes sehr wohl und war sich dessen bewußt, als er jetzt an seinen Nachbarn dachte.

Smith wollte sich gerade wieder an die Arbeit machen, als ein Schrei die Stille der Nacht durchbrach - eindeutig der Schrei eines verzweifelten Menschen, der alle Selbstkontrolle aufgegeben hatte. Smith war mit einem Sprung aus seinem Sessel und legte sein Buch beiseite. Er hatte starke Nerven, doch in diesem ungehemmten Schreckensschrei war etwas, das das Blut in seinen Adern erstarren und seine Haare zu Berge stehen ließ. Zu dieser Stunde, an diesem Ort kamen ihm sofort tausend unglaubliche Ideen in den Kopf. Sollte er schnell hinunterlaufen und nachsehen, oder sollte er lieber abwarten? Wie alle Engländer haßte er jede Art unnötigen Aufsehens, er kannte seinen Nachbarn kaum und scheute davor zurück, sich in dessen Angelegenheiten zu mischen. Er schwankte immer noch zwischen Hilfsbereitschaft und Zurückhaltung, als der junge Monkhouse Lee, halb angezogen und aschfahl im Gesicht, die Treppe heraufgestürzt kam und seine Tür aufriß.

»Kommen Sie herunter!« keuchte er. »Bellingham ist krank.«

Sie gingen zusammen ein Stockwerk tiefer, wo Bellingham seine zwei Zimmer hatte, und als sie über dessen Schwelle traten, blieb Abercrombie Smith nichts anderes übrig, als seinen Blick durch die fremde Behausung schweifen zu lassen. Ein solches Zimmer hatte er noch nie gesehen - es war eher ein Museum als eine Studierstube. Wände und Decke waren über und über bedeckt mit Erinnerungsstücken aus dem Orient, aus Ägypten. Auf einem Fries marschierten hohe, kantige, schwer bewaffnete Gestalten in einem wunderlichen Reigen um das Zimmer herum, das mit storchen-, stier-, katzen- oder eulenköpfigen Statuetten, mit käferhaften ägyptischen Lapislazuli-Gottheiten bis an die Decke gefüllt war. Aus jeder Nische, von jedem Regal starrten ihn Horus und Isis und Osiris an, und mitten im Raum hing ein wahrer Sohn des Nils, ein riesiges Krokodil, in zwei Schlingen von der Decke.

In der Mitte der Kammer stand ein quadratischer Tisch, der mit Papieren, Flaschen und getrockneten Blättern einer palmähnlichen, zierlichen Pflanze beladen war. Alles war zu einem großen Haufen zusammengeschoben worden, um Platz zu schaffen für einen Mumiensarg, der vorher offensichtlich seinen Platz an einer Wand hatte und jetzt quer über dem Tisch lag. Die Mumie, ein abstoßendes, schwarz verschrumpeltes Etwas, das seinen Kopf vielleicht in einen brennenden Busch gehalten hatte, hing halb aus ihrer Kiste heraus, ihre krallige Hand und der knochige Unterarm ruhten auf der Tischplatte. Daneben lag eine alte, vergilbte Papyrusrolle, und davor saß auf einem kleinen Holzthron der Inhaber des Zimmers; sein Kopf hing nach hinten über die Lehne, die weit aufgerissenen Augen waren erschrocken auf das Krokodil fixiert, und durch die dicken blauen Lippen kamen vereinzelte, röchelnde Atemstöße.

»Mein Gott, er stirbt!« schrie Monkhouse Lee.

Er war ein schlanker, hübscher Junge mit olivfarbener Haut und dunklen Augen, eher ein spanischer als ein englischer Typ. Seine keltische Impulsivität stand in scharfem Kontrast zum echt sächsischen Phlegma des Abercrombie Smith.

»Es ist nur ein Schock, glaube ich«, sagte der Medizinstudent.

»Auf das Sofa mit ihm. Packen Sie seine Füße. Können Sie vielleicht die kleinen Holzteufel dort beiseite schaffen? Welche Unordnung! Es wird ihm sofort bessergehen, wenn wir seinen Kragen öffnen und ihm etwas Wasser geben. Was ist eigentlich passiert?«

»Ich weiß nicht. Ich hörte ihn schreien. Ich lief hinauf. Ich kenne ihn sehr gut, wissen Sie. Es war sehr nett von Ihnen, herunterzukommen.«

»Sein Herz hört sich an wie eine Kinderrassel.« Smith hatte sein Ohr an die Brust des bewußtlosen Bellingham gelegt.

»Ich glaube, irgend etwas hat ihn fast zu Tode erschreckt. Spritzen Sie ihm etwas Wasser ins Gesicht. Oh, dieses Gesicht überhaupt!«

Es war ein seltsames, ein wirklich abstoßendes Gesicht, unnatürlich sowohl in Farbe als auch in den Konturen. Es war weiß, nicht einfach vor Angst erblaßt, sondern blutleer weiß wie weißes Wachs. Er war sehr fett, doch er schien früher noch fetter gewesen zu sein, denn seine Haut hing in Säcken und Falten an ihm herab. Seinen mit struppigem, braunem Kurzhaar geschmückten Schädel zierten seitlich zwei kleine, fette Schweineohren. Seine hellgrauen Augen waren immer noch offen, krampfhaft unbeweglich mit erweiterten Pupillen. Smith schien es, als wolle die Natur mit dem Zustand dieses Mannes ein Warnzeichen setzen: Bis hierher und nicht weiter. Und ihm begann zu dämmern, wie ernst es Hastie vor einer Stunde mit seinen Worten gewesen war.

»Was zum Henker kann ihn so erschreckt haben?« fragte er.

»Die Mumie.«

»Die Mumie? - Wieso?«

»Ich weiß nicht. Sie ist unheimlich und böse. Ich wünschte, er würde sie zerstören. Dies ist schon das zweite Mal, daß er mich so erschreckt. Letzten Winter war es dasselbe. Ich fand ihn in genau demselben Zustand, und er war mit derselben schrecklichen Sache beschäftigt.«

»Was hat er mit der Mumie vor?«

»Oh, er ist ein Fanatiker in diesen Sachen. Er weiß mehr darüber als irgendwer sonst in England. Doch ich wollte, es wäre nicht so! Ah, er kommt zu sich!«

Blasses Rosa hatte sich auf Bellinghams speckige Wangen zurückgeschlichen, seine Augenlider flatterten wie Segel im Wind. Mit einem langen, pfeifenden Atemzug füllte er seine Lungen, dann hob er ruckartig den Kopf und warf einen ersten, prüfenden Blick in die Runde. Als sein Auge auf die Mumie fiel, sprang er auf, raffte die Papyrusrolle zusammen, stopfte sie in eine Schublade, drehte den Schlüssel und stolperte zurück auf das Sofa.

»Was gibt's?« fragte er. »Was wollt ihr, Jungs?«

»Du hast geschrien und dich angestellt wie eine Leiche«, sagte Monkhouse Lee. »Wenn unser Nachbar nicht so freundlich gewesen wäre, herunterzukommen, hätte ich gar nicht gewußt, was ich mit dir machen sollte.«

»Aha, Sie sind also Abercrombie Smith.« Bellingham sah ihn an. »Sehr gut, daß Sie gekommen sind. Was bin ich doch für ein Narr! Mein Gott, ich bin ein Idiot!«

Er schlug die Hände vors Gesicht und verfiel in stoßartiges, hysterisches Gelächter.

Smith schrie ihn an und schüttelte ihn. - »Wachen Sie auf! Sie müssen aufhören! Ihre Nerven hängen in Fetzen. Sie müssen Schluß machen mit Ihren mitternächtlichen Mumienspielchen, oder Sie werden noch total verrückt. Sie sind auf dem besten Weg dahin!«

Bellingham hörte auf zu lachen. »Ich glaube nicht, daß Sie noch so ruhig wären wie ich, wenn Sie gesehen hätten, was.«

»Was denn?«

»Ach, nichts. Ich wollte sagen, daß Sie wahrscheinlich auch nicht nachts mit einer Mumie zusammenhocken könnten, ohne nervös zu werden. Aber Sie haben recht. Ich habe es bestimmt zu weit getrieben, doch es geht mir schon wieder besser. Bitte gehen Sie jetzt nicht. Bleiben Sie noch ein paar Minuten, bis ich wieder ganz ich selbst bin.«

»Die Luft ist sehr stickig hier«, bemerkte Lee und riß das Fenster auf, um die kühle Nachtluft herein zu lassen.

»Das Harz der heiligen Pflanze«, sagte Bellingham. Er nahm eines der getrockneten Blätter vom Tisch und hielt es in die Gluthitze über der Petroleumlampe. Es verpuffte zu schweren Rauchwolken, ein scharfer, beißender Geruch erfüllte die Kammer. »Die Pflanze der Priester. Kennen Sie sich in den orientalischen Sprachen ein wenig aus, Smith?«

»Nein. Ich kenne kein einziges Wort.«

Dem Ägyptologen schien ein Stein vom Herzen zu fallen.

»Wie lang hat es überhaupt gedauert, bis ich zu mir kam, nachdem Sie heruntergekommen waren?« fragte er weiter.

»Nicht lange. Vielleicht vier oder fünf Minuten.«

Bellingham seufzte erleichtert. »Was für eine seltsame Sache die Bewußtlosigkeit doch ist. Ich könnte selbst wirklich nicht sagen, ob sie Sekunden oder Wochen gedauert hat. Den hohen Herrn auf dem Tisch dort hat man jedenfalls zur Zeit der elften Dynastie zu Grabe getragen, was gut viertausend Jahre her ist. Doch wenn er noch sprechen könnte, würde er uns bestimmt erzählen, daß ihm diese Zeit nicht mehr war als ein kurzer Schlaf. Er ist eine außerordentlich schöne Mumie, Smith.«

Smith ging zum Tisch hinüber und betrachtete die schwarze, faltige Gestalt mit dem geschulten Auge eines Mediziners. Wenn auch alles schwarz wie verkohlt war, so war das Gesicht noch deutlich zu erkennen, sogar zwei kleine Äuglein schimmerten noch schwach tief in ihren schwarzen Höhlen. Die getrocknete Haut spannte sich straff von Knochen zu Knochen, und ein Gestrüpp schwarzer, buschiger Haare fiel über ihre Ohren. Zwei kleine Rattenzähne preßten sich in die Unterlippe. Von dem schrecklichen Leichnam mit eingeknickten Gliedmaßen und verdrehtem Kopf schien eine Energie auszugehen, vor der Smith instinktiv Ekel empfand. Unter der ledrigen Haut zeichneten sich die Rippen klar ab, und auf dem eingesunkenen Leib war noch der Schnitt des Präparators zu erkennen; der Unterleib war mit gelben, vermoderten Bandagen umwickelt. Kleine Stückchen Myrrhe und Kassia waren über die Mumie und in der Kiste verstreut.

»Ich kenne seinen Namen nicht«, sagte Bellingham, während er mit einer Hand den schrumpligen Schädel streichelte. »Der Außensarg mit den Inschriften fehlt leider. Objekt Nr. 249 ist jetzt seine Bezeichnung. Sie sehen die Zahl auf seiner Kiste. Das ist die Nummer, unter der er bei der Auktion geführt wurde, wo ich ihn erworben habe.«

»Für seine Zeit war er bestimmt ganz gut dabei«, bemerkte Abercrombie Smith.

»Er war ein Riese. Die Mumie ist über zwei Meter groß, und die Ägypter hätten einen Mann dieser Größe sicherlich als Riesen bezeichnet, da sie im allgemeinen nicht gerade großwüchsig waren. Schauen Sie sich die stabilen, schweren Knochen an; er war sicher einmal ein furchterregender Kämpfer.«

»Vielleicht haben diese Hände mitgeholfen, Stein auf Stein zu Pyramiden aufzutürmen«, sinnierte Monkhouse Lee, während er voller Abscheu die langen schmutzigen Fingernägel der Mumie betrachtete.

»Keine Angst. Unser Freund ist vollkommen steril. Er war in Natron eingelegt, auch sonst ist er aufs sorgfältigste behandelt worden. Die Einbalsamierer waren damals wirkliche Spezialisten. Man hat ausgerechnet, daß eine ähnlich gute Arbeit heutzutage etwa siebenhundert Pfund kosten würde. Dieser Kerl muß jedenfalls ein Adliger gewesen sein. Wofür würden Sie die kleine Inschrift dort an seinem Fuß halten, Smith?«

»Ich sagte Ihnen schon, daß ich kein einziges ägyptisches Wort kenne.«

»Ach ja. Ich meine, es ist der Name des Präparators. Er muß ein sehr gewissenhafter Arbeiter gewesen sein. Glauben Sie, von unserer heutigen Welt wird in viertausend Jahren noch etwas übrig sein?«

So plapperte er immer weiter, doch Abercrombie Smith merkte natürlich, daß der dicke Mann immer noch ganz außer sich vor Angst war. Seine Hände zitterten, und immer wieder verfing sich sein gehetzter Blick an seinem düsteren Zimmergenossen. Bei aller Angst war aber in seiner Stimme ein triumphierender Unterton nicht zu überhören. Seine Augen glänzten, und wie er in der Kammer hin und her hetzte, waren seine Schritte groß und entschlossen. Er machte den Eindruck eines Mannes, der durch eine Folter gegangen war, deren Narben er zu tragen hatte, die ihn aber seinem Ziel einen Schritt näher gebracht hatte.

»Sie gehen doch noch nicht?« schrie er, als Smith von dem Sofa aufstehen wollte.

Bei dem Gedanken, bald wieder allein zu sein, schienen all seine Ängste wieder auf ihn zurückzufallen. Er lief auf ihn zu, um ihn festzuhalten.

»Ich muß jetzt gehen. Ich habe noch zu arbeiten, und Ihnen geht es anscheinend besser. Ich gebe Ihnen den Rat, schonen Sie Ihre Nerven ein wenig, diese Art Studien macht Sie krank.«

»Oh, normalerweise sind meine Nerven ganz in Ordnung; dies ist auch nicht die erste Mumie, die ich ausgepackt habe.«

»Das letzte Mal bist du in Ohnmacht gefallen«, bemerkte Monkhouse Lee.

»Ja, das stimmt. Ich brauche wohl Tabletten oder Stromstöße. Du gehst doch nicht, Lee?«

»Ich werde tun, was du willst, Ned.«

»Dann schlafe ich bei dir auf dem Sofa. Gute Nacht, Smith. Es tut mir wirklich leid, Sie mit meiner Dummheit belästigt zu haben.«

Sie gaben sich die Hand, dann stolperte der Medizinstudent die krumme Wendeltreppe hinauf. Unten verhallten die Schritte seiner beiden neuen Bekannten auf dem Weg zum ersten Stockwerk. Auf diese seltsame Weise begann die Bekanntschaft zwischen Edward Bellingham und Abercrombie Smith, eine Bekanntschaft, die zumindest der letztere nicht zu vertiefen beabsichtigte. Nur Bellingham schien Gefallen gefunden zu haben an seinem wortkargen Nachbarn. Seine Annäherungen waren derart, daß man sie nicht abwehren konnte, ohne unfreundlich zu werden. Zweimal kam er herauf, um Smith für seine Hilfe zu danken, und danach stand er oft mit Büchern, Papieren und anderen Sachen vor der Tür, die man unter Nachbarn austauschen kann. Wie Smith bald herausfand, war er ein außerordentlich belesener Mann mit weitläufigen Interessen und einem erstaunlichen Gedächtnis. Sein Benehmen war so taktvoll und angenehm, daß man nach einer gewissen Zeit sein abstoßendes Äußeres einfach übersah. Für einen müden und abgespannten Mann war er eine angenehme Gesellschaft, und bald schon war Smith soweit, daß er sich auf die Besuche freute und sie sogar erwiderte.

Doch der Medizinstudent war nicht so dumm, den Abgrund des Wahnsinns nicht zu bemerken, an dem Bellinghams Geist sich zu bewegen schien. Der Kontrast zwischen den abgehobenen, aufgeblasenen Reden, die er manchmal führte, und seinem einfachen Leben war einfach zu groß.

»Es ist wundervoll«, rief er einmal, »zu fühlen, daß man die Kräfte des Guten und des Bösen beherrschen kann - man kann Engel sein oder Teufel.« Und über Monkhouse Lee sagte er einmal: »Lee ist ein guter Freund, ein treuer Kamerad, doch er hat keine Kraft, keinen Ehrgeiz. Er paßt nicht zu einem Mann, der etwas Großes vor hat. Er paßt nicht zu mir.«

Bei solchen Anfällen von Größenwahn pflegte Smith verträumt an seiner Pfeife zu ziehen und mit gerunzelter Stirn den Kopf zu schütteln. Manchmal riet er ihm auch, früher schlafen zu gehen und sich mehr frische Luft zu gönnen.

Seit kurzem hatte sich Bellingham angewöhnt, ständig zu sich selbst zu sprechen. Spät nachts, wenn Bellingham bestimmt allein war, hörte er von unten leise, zuweilen nur geflüsterte endlos eintönige Monologe, für Smith ein bekanntes Symptom einer akuten Geistesstörung. Das nächtliche Gemurmel beunruhigte ihn so sehr, daß er seinen Nachbarn des öfteren darauf ansprach. Bellingham wurde jedesmal rot dabei und bestritt barsch, auch nur einen Ton von sich gegeben zu haben. Er regte sich jedenfalls mehr über die Sache auf, als man für normal halten würde.

Hätte Abercrombie Smith irgendeinen Zweifel an seinen Wahrnehmungen gehegt, so hätte er auch ohne Mühe einen Zeugen finden können. Tom Styles, der kleine, krumme Diener, der schon länger für die wechselnden Bewohner des Turmes sorgte, als irgend jemand sich erinnern konnte, hatte auch seinen Kummer mit Bellingham.

Eines Morgens beim Saubermachen fragte er Smith: »Verzeihen Sie, Sir, glauben Sie, daß es Mr. Bellingham gutgeht?«

»Was meinen Sie damit, Styles?«

»Ich meine, ob er ganz richtig im Kopf ist, Sir.«

»Warum bezweifeln Sie das?«

»Naja, ich weiß nicht. Sein Benehmen ist in letzter Zeit so seltsam. Er ist nicht mehr der alte, wenn er auch nie so war wie meine anderen jungen Herren, um die ich mich gekümmert habe, wie Mr. Hastie oder Sie, Sir. In letzter Zeit hat er aber angefangen, irgendwelche schlimmen Selbstgespräche zu führen. Stört Sie das eigentlich nicht? Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll, Sir.«

»Was geht Sie das überhaupt an, Styles?«

»Es interessiert mich einfach, Mr. Smith. Vielleicht ist es aufdringlich von mir, doch ich kann es nicht ändern. Manchmal meine ich, ich müsse meinen jungen Herren Vater und Mutter gleichzeitig sein. Wenn irgend etwas passiert, bin ich für die Verwandten an allem schuld. Was ist nur mit Mr. Bellingham, Sir? Wer läuft in seinem Zimmer herum, wenn er ausgegangen ist und die Tür von außen abgeschlossen?«

»Was? Sie phantasieren wohl, Styles.«

»Vielleicht, Sir; doch meinen Ohren kann ich noch trauen, und die Schritte habe ich mehr als einmal gehört.«

»Unsinn, Styles!«

»Sehr wohl, Sir. Sie läuten, wenn Sie mich brauchen.«

Smith gab nicht viel um das Geschwätz des greisen Hausdieners, doch ein Vorfall, der sich einige Tage später zutrug und ihm äußerst unangenehm war, ließ ihn unwillkürlich wieder an Styles' Worte denken. An einem späten Abend saß Bellingham bei ihm und erzählte interessante Geschichten über die Felsengräber von Beni Hassan in Oberägypten. Plötzlich hörte Smith ganz deutlich, wie sich im unteren Stockwerk eine Tür öffnete. Auf sein Gehör konnte er sich Verlassen, so daß kein Zweifel möglich war.

»Da hat jemand Ihre Tür geöffnet. Haben Sie noch Besuch?«

Bellingham sprang auf und wußte einen Moment lang, halb ungläubig, halb ängstlich, nicht, was er machen sollte.

»Ich habe die Tür doch abgeschlossen. Ich bin ganz sicher, daß ich sie abgeschlossen habe«, stammelte er. »Kein Mensch könnte die Tür öffnen.«

»Jedenfalls höre ich jemand die Treppe heraufkommen«, sagte Smith.

Bellingham stürzte hinaus, schlug die Tür hinter sich zu und jagte die Treppe hinunter. Ungefähr auf halbem Weg hörte Smith ihn stehenbleiben und sich im Flüsterton mit jemandem unterhalten. Im nächsten Augenblick fiel die Tür unten krachend ins Schloß, und Bellingham kam mit dicken Schweißperlen auf dem Gesicht zurück.

»Alles in Ordnung«, sagte er und fiel erschöpft in einen Sessel. »Es war nur der blöde Hund. Er hat die Tür aufgestoßen, ich hatte vergessen, sie abzuschließen.«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie einen Hund halten«, sagte Smith langsam und sah seinem Gegenüber skeptisch in das verstörte Gesicht.

»Ich habe ihn noch nicht lange, und ich muß ihn bald wieder loswerden. Er ist eine richtige Plage.«

»Das glaube ich gern, wenn er schon so geschickt im Öffnen von Türen ist. Eigentlich sollte es doch nicht nötig sein, die Tür zu verriegeln, um einen Hund daran zu hindern, frei herumzulaufen.«

»Ich wollte verhindern, daß der alte Styles ihn herausläßt. Das Tier ist ziemlich wertvoll, und es wäre sehr ärgerlich, wenn es davonliefe.«

»Ich habe Hunde auch ganz gern«, sagte Smith, während er seinen Nachbarn aus dem Augenwinkel beobachtete. »Darf ich ihn mir einmal ansehen?«

»Natürlich, doch heute abend geht es leider nicht. Ich habe noch eine Verabredung. Geht diese Uhr richtig? Dann bin ich schon eine Viertelstunde zu spät. Sie entschuldigen mich bitte.«

Er nahm seinen Hut und eilte aus dem Zimmer. Trotz der Verabredung hörte Smith, wie er in sein eigenes Zimmer zurückging und die Tür hinter sich verriegelte.

Nach diesem Vorfall wußte Smith sicher, daß er mit seiner neuen Bekanntschaft äußerst vorsichtig sein mußte. Bellingham hatte ihn angelogen, und das hatte er in einer so plumpen Art getan, daß er triftige Gründe haben mußte, sich so bloßzustellen. Smith wußte, daß sein Nachbar keinen Hund hatte. Er war sich auch ganz sicher, daß die Schritte auf der Treppe nicht von einem Tier stammten. Doch was konnte es dann gewesen sein? Da war die Aussage des alten Styles, der jemand im Zimmer auf und ab laufen gehört hatte, als eigentlich niemand zu Hause war. Vielleicht eine Frau? Der Gedanke gefiel Smith. Wenn es so wäre, würde das für Bellingham Schande und Verbannung bedeuten, sobald die Verwaltung dahinterkäme. Das könnte auch der Grund für seine Nervosität und seine dummen Ausflüchte sein. Doch schließlich erschien es ihm mehr als unwahrscheinlich, daß ein Student eine Frau in seinem Zimmer verbergen konnte, ohne daß das sofort auffiel. Wie dem auch sei, die ganze Geschichte war ihm so zuwider, daß er beschloß, jede weitere Vertraulichkeit seines schwammigen, am Ende bestimmt für sich und andere ungesunden Nachbarn unerbittlich abzublocken.

Doch in dieser Nacht sollte er nicht mehr zum Arbeiten kommen. Kaum hatte er wieder ein Buch in der Hand, als er schnelle Schritte, immer drei Stufen auf einmal, die Treppe hinaufstürmen hörte: Sportsmann Hastie stattete ihm noch einen Besuch ab.

»Immer noch an der Arbeit!« sagte er und plumpste in seinen Lieblingssessel. »Was bist du nur für ein Kerl, daß du gar nicht aufhören kannst, zu pauken! Ein Erdbeben könnte dich wohl nicht von deinen Büchern aufschrecken, du würdest zwischen den Trümmern von Oxford hocken bleiben und weiterbüffeln. Ich will dich aber nicht lange stören. Ein Pfeifchen, dann bin ich wieder weg.«

»Was gibt's also Neues?« fragte Smith, während er mit dem Zeigefinger seine Pfeife stopfte.

»Nichts Besonderes. Wilson hat siebzig Punkte für die Erstsemester gegen die Elfer gemacht. Er soll jetzt wohl für Buddicomb in die Mannschaft, denn der ist total außer Form. Früher war er mal ein ganz guter Werfer, doch heute bringt er absolut nichts mehr.«

»Ein absolut schwacher Patzer, das sieht man doch sofort.« Smith war wie die meisten seiner Kommilitonen ein eingefleischter Kricketfan.

»Naja«, erwiderte Hastie, »auf nassem Boden war er früher ein echt gefährlicher Mann. Übrigens, hast du davon gehört, was dem langen Norton passiert ist?«

»Was denn?«

»Er ist überfallen worden.«

»Überfallen?«

»Ja, direkt an der Ecke High Street, hundert Meter vor dem Tor der alten Uni.«

»Und? Wer war es?«

»Tja, das ist der Punkt. Du hättest besser gefragt, was war es! Norton schwört, daß es kein Mensch war, und als ich die Abdrücke an seinem Hals sah, war ich sehr geneigt, ihm zu glauben.«

»Was soll denn das jetzt? Glaubt ihr jetzt schon an Gespenster?«

Abercrombie Smith paffte verächtlich seinen Knaster.

»Nein, natürlich nicht. Ich glaube eher, daß es ein Menschenaffe gewesen sein könnte, der irgendeinem Zirkus stiften gegangen ist. Norton geht diesen Weg jeden Abend ungefähr zur selben Zeit. Über dem Weg hängt ein Ast der großen Ulme aus Rainys Garten. Norton glaubt, daß die Kreatur auf diesem Ast auf ihn gewartet hat, um sich auf ihn zu stürzen. Jedenfalls hätten ihn fast zwei Arme umgebracht, von denen er sagt, sie seien so stark und so dünn wie Stahlseile gewesen. Sehen konnte er nichts, nur diese beiden unheimlichen Arme, die versuchten, ihm das Genick zu brechen. Er schrie, was er konnte, ein paar Jungs kamen schließlich zu Hilfe, und die Gestalt sprang wie eine Katze über die Gartenmauer, ohne daß Norton sie nur einen Augenblick lang in voller Größe sehen konnte. Ich kann dir sagen, er war zu Tode erschrocken. Er sah aus, als sei ihm der Teufel persönlich begegnet.«

»Wahrscheinlich war es nur ein ganz gewöhnlicher Würger«, sagte Smith.

»Höchstwahrscheinlich. Nur Norton sagt nein, doch was der sagt, ist ja egal. Jedenfalls hatte der Würger lange Fingernägel und war ein ziemlich geschickter Turner. Da fällt mir ein, dein hübscher Nachbar wird seinen Spaß haben, wenn er die Geschichte hört. Er hatte mit Norton ja noch eine Rechnung zu begleichen, und soweit ich ihn kenne, ist er nicht der Typ, der so etwas auf sich beruhen läßt. - Hallo, Alter, was geht dir jetzt im Kopf herum?«

»Nichts«, antwortete Smith knapp.

Er saß steif in seinem Sessel und sah wirklich aus wie ein Mann, dem gerade eine furchtbare Idee durch den Kopf ging.

»Habe ich irgend etwas Falsches gesagt? Übrigens, wie ich gehört habe, hast du nach meinem letzten Besuch die Bekanntschaft des guten Herrn B. gemacht, nicht wahr? Monkhouse Lee hat mir so etwas erzählt.«

»Ja; ich kenne ihn flüchtig. Er war ein- oder zweimal bei mir.«

»Immerhin bist du groß und gehässig genug, auf dich selbst aufzupassen. Ich würde ihn nicht gerade zu den angenehmsten Zeitgenossen zählen, obwohl er bestimmt sehr klug und ein interessanter Gesprächspartner ist. Doch du wirst ihn schon noch selbst kennenlernen. Lee ist in Ordnung, ein sehr netter kleiner Kerl. So, ich gehe jetzt. Wir treffen uns nächsten Mittwoch, wenn ich gegen Mullins um den Kanzlerpokal rudere. Komm doch vorbei, wenn du Zeit hast. Bis dann.«

Smith legte die Pfeife weg und stürzte sich wie ein Ochse wieder auf die Bücher. Doch so sehr er sich auch mühte, war es ihm doch unmöglich, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu dem Mann, der unter ihm wohnte und zu dem Geheimnis, das ihn umgab. Dann dachte er an den unglaublichen Überfall, von dem Hastie erzählt hatte, und an den Groll, den Bellingham auf Norton gehabt hatte. Je länger er daran dachte, desto klarer wurde ihm, daß ein Zusammenhang bestehen mußte, und gleichzeitig sträubte sich sein Verstand gegen den wahnsinnigen Verdacht, der in ihm aufstieg.

»Zum Teufel mit dem Kerl!« schrie Smith und warf sein Pathologiebuch gegen die Wand. »Er hält mich von der Arbeit ab, und das allein wäre schon Grund genug, ihn in Zukunft zu schneiden, wenn es nicht noch andere gäbe.«

Zehn Tage lang schloß er sich nun mit seinen Büchern ein, ohne sich von einem seiner Hausgenossen stören zu lassen. Zu Zeiten, wenn Bellingham ihn gelegentlich besucht hatte, verzog er sich in die hinterste Ecke seiner Behausung, an der Außentür konnte dann klopfen, wer wollte, er reagierte nicht. Doch manchmal mußte er doch hinaus, und so geschah es, daß Bellinghams Tür aufflog, gerade, als er die Treppe hinunterging. Monkhouse Lee kam herausgestürzt, seine Augen funkelten, seine Wangen waren zorngerötet. Auf den Fersen folgte ihm Bellingham mit vor schwitzender Leidenschaft glänzendem Gesicht.

»Du Narr«, zischte er. »Das wird dir noch leid tun.«

»Mag sein«, schrie der andere. »Paß auf, was ich sage. Es ist vorbei! Ich will nichts mehr davon hören!«

»Du hast es mir versprochen.«

»Ja, keine Angst! Ich werde nicht reden. Aber ich werde auch nicht zulassen, daß du Evi ins Grab bringst. Ein für allemal, es ist aus. Sie wird tun, was ich sage. Wir wollen dich nicht mehr sehen.«

Soviel bekam Smith von der Unterhaltung mit, ob er wollte oder nicht, und er beeilte sich, weiterzukommen, um nicht in den Streit verwickelt zu werden, denn daß sie ernsthaften Streit hatten, war schon nach diesen wenigen Worten klar.

Lee würde alles tun, um die Verlobung zwischen seiner Schwester und Bellingham zu lösen. Smith dachte an Hasties Vergleich von der Taube und der Kröte, und er war froh, daß diese Verbindung nun zu Ende sein würde. Wenn Bellingham wütend war, sah er noch widerwärtiger aus als sonst, so einem sollte man auf keinen Fall das Leben eines unschuldigen Mädchens in die Hand geben. Er hätte gern gewußt, was den Streit ausgelöst hatte. Was war das für ein Versprechen, das Monkhouse Lee unbedingt halten sollte?

An jenem Tag sollte das Rennen zischen Hastie und Mullins stattfinden, die Studenten strömten zum Ufer der Isis hinunter. Die Maisonne glänzte am Himmel und warf lange Ulmenschatten auf den sandigen Weg. Hinter den Bäumen standen die grauen Gebäude der ehrwürdigen Alma Mater wie Felsen in der Brandung des jungen Lebens, das sie fröhlich umströmte. Tutoren in Schwarz, magere Büroleute, bläßliche Jünglinge, die noch beim Gehen in ein Buch vertieft waren, und braungebrannte junge Sportler mit Strohhüten, in weißen Pullovern oder bunten Blazern, jeder ging in seinem Tempo hinunter zu den Wiesen, die den Flußbogen bei Oxford säumten.

Smith als alter Ruderer eilte natürlich schnurstracks auf die Stelle am Fluß zu, wo es, wenn überhaupt, spannend werden könnte. In der Ferne hörte er den Startschuß, die Massen kamen am Ufer entlang auf ihn zugelaufen, auf dem Fluß schaukelten einige Boote in Erwartung der Wettkämpfer, die jetzt, begleitet von einer Gruppe halbnackter, schnaufender Läufer, vor ihm auftauchten. Hastie zog in einem kraftvollen Sechsunddreißiger-Takt an ihm vorbei, während sein Gegner mit einem angestrengten Vierziger-Schlag eine gute Bootslänge hinter ihm lag. Das Rennen war gelaufen, Smith schaute auf seine Uhr und wollte sich auf den Rückweg zu seiner Klause machen, als ihn jemand an die Schulter tippte. Es war der junge Monkhouse Lee, der plötzlich neben ihm stand.

»Ich habe Sie zufällig hier stehen sehen«, fing er ängstlich und unsicher zu reden an. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen, wenn Sie eine halbe Stunde für mich übrig hätten. Die Hütte dort gehört mir zusammen mit Harrington vom King's College. Kommen Sie auf eine Tasse Tee mit hinein?«

»Eigentlich muß ich sofort wieder zurück«, sagte Smith. »Ich habe noch ein Riesenpensum vor mir. Doch ein paar Minuten Pause sollten noch drin sein. Wäre Hastie nicht mein Freund, wäre ich gar nicht hergekommen.«

»Ich kenne ihn auch ganz gut. Ist sein Stil nicht wundervoll? Mullins hatte keine Chance. Doch kommen Sie bitte herein. Es ist etwas primitiv, doch während der Sommermonate kann man dort angenehm arbeiten.«

Die weiße, rechteckige Hütte mit ihren grünen Türen und Fensterläden und einer kleinen Veranda stand nur etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt. Der einzige größere Raum darin war als Studierzimmer eingerichtet, mit einem Schreibtisch, einem rohen Bücherregal und einigen billigen Öldrucken an den Wänden. Über einer Spiritusflamme kochte das Teewasser, und auf dem Tisch stand alles bereit, was man für den Nachmittagstee benötigt.

»Setzen Sie sich doch und rauchen Sie eine Zigarette«, bat Lee. »Nehmen Sie Zucker zum Tee? Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie meiner Einladung gefolgt sind, ich weiß, daß Sie im Moment sehr wenig Zeit haben. Was ich Ihnen sagen wollte, ist, daß Sie sich am besten sofort um eine neue Wohnung kümmern sollten.«

»Was?«

Smith war konsterniert, in seiner einen Hand brannte ein Streichholz, in der anderen hielt er die kalte Zigarette.

»Ja; sicher, es muß für Sie seltsam klingen, zumal ich Ihnen nicht den Grund für meinen Ratschlag sagen kann, ein feierliches Gelübde verbietet mir das - ein Versprechen, das ich unter keinen Umständen brechen darf. Ich kann Ihnen nur soviel verraten, daß es nicht ungefährlich ist, in der Nähe von Bellingham zu wohnen. Ich werde jedenfalls für eine Zeit aus Oxford verschwinden, sobald es möglich ist.«

»Nicht ungefährlich! Was meinen Sie damit?«

»Das darf ich eben nicht sagen. Doch nehmen Sie meinen Rat ernst, ziehen Sie um. Ich hatte heute Streit mit Bellingham, Sie haben uns bestimmt gehört, als Sie die Treppe hinuntergingen.«

»Ja, ich sah Sie aus seinem Zimmer kommen.«

»Er ist ein furchtbarer Mensch, Smith, ja furchtbar, anders kann man ihn nicht beschreiben. Seit jener Nacht, Sie erinnern sich, als Sie herunterkommen mußten, war er mir nicht mehr geheuer. Heute war ich noch einmal bei ihm, und er erzählte mir Dinge, daß mir die Haare zu Berge standen; er wollte, daß ich bei ihm bleibe. Ich bin bestimmt kein Sonntagsschüler, aber ich bin, wie Sie wissen, der Sohn eines Priesters, und ich glaube, daß es eine Grenze gibt zwischen gut und böse, die man nicht überschreiten darf. Ich kann nur Gott danken, daß ich ihn noch früh genug durchschaut habe, denn fast wäre er mein Schwager geworden.«

»Das ist ja alles schön und gut, Lee«, sagte Smith. »Doch ich finde, Sie reden entweder viel zu viel oder viel zu wenig.«

»Ich will Sie nur warnen.«

»Gäbe es wirklich einen Grund dafür, brauchten Sie sich an kein Versprechen gebunden zu fühlen. Mich jedenfalls könnte kein noch so heiliges Gelübde dazu zwingen, einen Verbrecher zu decken.«

»Gut, aber ich kann nichts gegen ihn ausrichten, ich kann Sie nur warnen.«

»Sie müßten mir schon sagen, wovor.«

»Vor Bellingham.«

»Das ist doch kindisch. Warum sollte ich mich vor ihm oder vor irgend jemand anderem fürchten?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich kann Sie nur inständig bitten, sich ein anderes Zimmer zu suchen. Sie sind in Gefahr. Ich will noch nicht einmal sagen, daß Bellingham es darauf anlegt, Ihnen zu schaden. Doch ob er will oder nicht, er ist ein gefährlicher Mann für jeden, der in seiner Nähe ist.«

»Vielleicht weiß ich mehr, als Sie glauben«, sagte Smith und sah gerade in Lees besorgtes Jungengesicht.

»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, daß Bellingham nicht allein in seinem Zimmer ist?«

Monkhouse Lee sprang erschrocken von seinem Stuhl auf.

»Was? Sie wissen es?« hauchte er.

»Eine Frau.«

Lee ließ sich seufzend auf seinen Stuhl zurückfallen. »Meine Lippen sind versiegelt«, sagte er. »Ich darf nicht reden.«

»Wie dem auch sei«, sagte Smith und erhob sich, »ich kann es mir nicht erlauben, vor Angst aus einer Wohnung zu fliehen, die ansonsten optimal für mich ist. Ich würde mir zu komisch dabei vorkommen, mit meinen ganzen Büchern und Gerümpel umzuziehen, nur weil Sie mir erzählen, daß Bellingham irgendwie, wie, wollen sie ja nicht sagen, gefährlich ist. Ich werde einfach mein Glück versuchen und bleiben, wo ich bin, außerdem ist es schon fast fünf, ich muß Sie bitten, mich zu entschuldigen.«

Er verabschiedete sich kurz und machte sich in der milden Frühlingsluft auf den Heimweg. Wie jeder andere kräftige Mann, der, ganz der Realität verhaftet, in seiner Situation wäre, bedroht von einer unwirklichen, unfaßbaren Gefahr, fühlte er sich halb beunruhigt und halb belustigt.

Einen kleinen Luxus mochte sich Abercrombie Smith nicht verwehren, steckte er auch noch so tief in der Arbeit. Zweimal die Woche, dienstags und freitags, spazierte er hinaus nach Farlingford, anderthalb Meilen außerhalb von Oxford, um Doktor Plumptree Peterson zu besuchen. Peterson war ein alter Freund seines älteren Bruders Francis, und er war ein glücklicher Junggeselle mit allem, was dazugehört, einem guten Weinkeller und einer noch besseren Bibliothek, was ihn zum geeigneten Mann machte, einen überarbeiteten Studenten aufzumuntern. Zweimal die Woche ging Smith also auf die schattige Landstraße, um eine entspannende Stunde bei einem Glas Portwein in Petersons Studierzimmer zu verbringen, wo man den neuesten Universitätsklatsch und die aktuellen Entwicklungen in, der Medizin besprach.

Am Tage nach seinem Gespräch mit Monkhouse Lee schloß Smith seine Bücher um Viertel nach acht, um sich auf den Weg zu seinem Freund Peterson zu machen. Zufällig fiel sein Blick aber auf die Bücher, die Bellingham ihm geliehen hatte, und das Gewissen plagte ihn, weil er sie noch nicht zurückgegeben hatte. Mochte der Mann auch ein Ekel sein, die Gebote des Anstands mußte er auch ihm gegenüber einhalten. Er ging also hinunter und klopfte an seine Tür. Keine Antwort; doch die Tür war nicht abgeschlossen. Smith war erleichtert, sich nicht mit seinem Nachbarn unterhalten zu müssen. So ging er hinein und legte die Bücher mit seiner Visitenkarte auf Bellinghams Schreibtisch.

Obwohl das Licht nur schwach brannte, konnte er alle Einzelheiten im Zimmer erkennen. Alles war, wie er es kannte - der Fries, die Götterstatuen, das Krokodil an der Decke und die Papiere und getrockneten Blätter, die auf dem Tisch verstreut lagen. Der Mumiensarg stand aufrecht an der Wand, nur die Mumie selbst war nirgendwo zu entdecken. Nichts deutete darauf hin, daß außer Bellingham noch jemand in dem Zimmer wohnte, und als er den Raum verließ, hatte er das Gefühl, daß er ihm vielleicht Unrecht getan hatte. Wenn Bellingham irgend etwas zu verbergen hätte, würde er sich bestimmt hüten, seine Tür offen zu lassen, so daß jeder ein-und ausgehen konnte, wie er wollte.

Im Treppenhaus war es stockfinster, Smith ging vorsichtig die ausgetretenen Stufen hinunter. Plötzlich merkte er, wie irgend etwas in der Dunkelheit an ihm vorbei huschte. Es war kaum wahrnehmbar, nur ein Luftzug, der ihn streifte. Er blieb stehen und lauschte; draußen spielte der Wind im Laub, sonst konnte er nichts hören.

»Sind Sie es, Styles?« rief er.

Keine Antwort. Vielleicht war es nur eine Windböe, die das alte Gebälk ächzen und krachen ließ. Und doch hätte er schwören können, daß soeben jemand direkt an ihm vorbei die Treppe hinaufgelaufen war und ihn am Ellbogen gestreift hatte. Er war immer noch ganz benommen, als er ins Freie trat und den Eingang des Turmes hinter sich schloß.

»Bist du es, Smith?« Ein Mann kam über die sanft gewehte Wiese auf ihn zugelaufen.

»Hastie, Hallo!«

»Um Gottes willen, Smith, komm sofort mit! Man hat Lee aus dem Fluß gefischt! Der Arzt ist nicht zu erreichen. Du mußt unbedingt helfen, vielleicht lebt er noch.«

»Habt ihr Brandy?«

»Nein.«

»Wir müssen welchen mitnehmen. Auf meinem Tisch steht noch eine Flasche.«

Smith hetzte die Treppe hinauf, nahm immer drei Stufen auf einmal, ergriff die Schnapsflasche und wollte schnellstens wieder unten sein, doch als er an Bellinghams Zimmer vorbei wollte, bot sich ihm ein Anblick, der ihn auf dem Treppenabsatz erstarren ließ.

Die Tür, die er vorher hinter sich geschlossen hatte, stand jetzt weit offen, das spärliche Licht fiel direkt auf den Mumiensarg. Vor drei Minuten war er noch leer gewesen, das konnte er schwören. Nun aber starrte er dem grausigen Leichnam, der aufrecht in seiner Kiste stand, ins grimmige, schwarze Gesicht. Der Körper war vollkommen steif und leblos, doch diese Augen - war da nicht noch ein Funken Leben, ein Schimmer von Bewußtsein in diesen bösen kleinen Augen, die tief in ihren schwarzen Höhlen steckten? - Smith war so erschrocken und verwirrt, daß er alles vergaß und erst wieder zu sich kam, als er die Stimme seines Freundes hörte.

»Wo bleibst du, Smith!« rief er. »Es geht um Leben und Tod. Beeil dich!« Als der Medizinstudent endlich unten war, redete er aufgeregt weiter. »Wir müssen einen Sprint einlegen. Es ist keine Meile, in fünf Minuten sollten wir da sein. Jetzt geht es um mehr als einen Pokal.« Nebeneinander schossen sie durch die Dunkelheit und ließen nicht nach, bis sie dampfend und erschöpft die kleine Hütte am Fluß erreicht hatten. Lee lag schlaff und durchnäßt wie eine angespülte Wasserpflanze auf dem Sofa, sein schwarzes Haar war bedeckt mit Wasserklee, und auf seinen stahlblauen Lippen lag feiner, weißer Schaum. Neben ihm kniete sein Studienfreund Harrington und versuchte, die durchgefrorenen Glieder warmzureiben.

»Ich glaube, er lebt noch«, sagte Smith, während seine Hand auf Lees Brust lag. »Halte dein Uhrglas vor seine Lippen. Da, es beschlägt. Nimm du den anderen Arm, Hastie, und mache es wie ich, dann werden wir ihn bald zurückgeholt haben.«

So füllten und leerten sie die Lungen des Bewußtlosen zehn Minuten lang. Dann lief ein Zittern durch den schlaffen Körper, seine Lippen zuckten, und er öffnete schließlich die Augen. Die drei Studenten ließen einen Freudenschrei los.

»Wach auf, Alter. Du hast uns schon genug erschreckt.«

»Nimm einen Schluck aus der Flasche, das wird dir guttun.«

»Ein Glück, er lebt«, sagte sein Hausgenosse Harrington. »Mein Gott, was für ein Schreck! Ich saß hier und habe gelesen, er wollte sich am Fluß etwas die Füße vertreten. Plötzlich ein Schrei und Platsch! Ich rannte sofort hinunter, doch als ich ihn schließlich fand, schien er schon alles Leben ausgehaucht zu haben. Zu allem Unglück konnte ich Simpson nicht nach einem Doktor schicken, da er sich den Knöchel verstaucht hat, so mußte ich selbst los. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ihr nicht zu Hilfe gekommen wärt. So ist es richtig, mein Freund, komm hoch.«

Monkhouse Lee hatte sich aufgerappelt. Auf allen vieren gestützt hockte er auf dem Sofa und schaute wild um sich.

»Was ist passiert?« fragte er. »Ach ja, ich war im Wasser, ich erinnere mich.«

Furchtbares Grauen schien auf ihn zurückzufallen, wie man in seinen Augen lesen konnte, und er verbarg sein Gesicht mit den Händen.

»Wie konntest du ins Wasser fallen?«

»Ich bin nicht gefallen.«

»Wie ist es denn sonst passiert?«

»Ich bin hineingeworfen worden. Ich stand am Ufer, da packte mich etwas von hinten, hob mich auf wie eine Feder und warf mich im hohen Bogen in den Fluß. Ich konnte weder etwas sehen, noch hören. Aber trotzdem, ich weiß, was es war.«

»Ich weiß es auch«, flüsterte Smith. Lee sah ihn überrascht an.

»Sie wissen jetzt, worum es geht? Erinnern Sie sich an den Rat, den ich Ihnen gegeben habe?«

»Ja, und ich glaube, ich werde ihn in Zukunft befolgen.«

»Zum Teufel, wovon redet ihr eigentlich?« fragte Hastie. »Lee gehört jetzt ins Bett. Ihr habt noch Zeit genug, über das Warum und Wieso zu reden, wenn er wieder etwas bei Kräften ist. Smith und ich lassen euch jetzt besser allein. Ich gehe zurück zum College; wenn du in dieselbe Richtung mußt, können wir ja noch etwas schwatzen.«

Doch daraus wurde nichts. Smith war einfach zu beschäftigt mit den Ereignissen dieses Abends. Alles paßte zu gut zusammen - zuerst der leere Sarg, dann die schemenhafte Begegnung auf der Treppe, das Wiederauftauchen der Mumie, all diese unglaublichen Vorgänge - und schließlich der Mordanschlag auf Lee, dem ein Überfall auf einen anderen Mann vorausgegangen war, mit dem Bellingham im Streit lag. All das, zusammen mit den Beobachtungen, die er schon vorher im Turm gemacht hatte, die Schritte, die Geräusche, die Umstände, unter denen er Bellingham kennengelernt hatte, wurde in seinen Gedanken zum schlüssigen Bild einer unglaublichen Wirklichkeit. Was vorher ein vager Verdacht, nichts als eine düstere, unheimliche Vermutung war, stand jetzt vor ihm als grausige Tatsache, an der er nicht mehr vorbei konnte. Doch wie unerhört diese Wirklichkeit war, wie weit jenseits aller menschlichen Vorstellung. Jeder unvoreingenommene Richter, ja sogar der Freund, der neben ihm ging, würde ihm schlicht erklären, daß er sich getäuscht haben muß, daß die Mumie ihren Sarg nie verlassen hat, daß Lee ganz einfach in den Fluß gefallen ist, wie es jedem passieren kann, und daß er, Smith, besser nicht soviel arbeiten sollte. Er wußte, daß dies genau seine Worte wären, wenn Hastie an seiner Stelle wäre und ihm diese Geschichte auftischte. Und trotzdem war er jetzt ganz sicher, daß Bellingham im Grunde seines Herzens ein Mörder war, ein Mörder, der sich einer Waffe zu bedienen wußte, die die lange und grausige Geschichte des Verbrechens bisher noch nicht kannte.

Hastie machte ein paar neckische Bemerkungen über die Unleidlichkeit seines Freundes und bog zu seiner Wohnung ab, während Abercrombie Smith mit einem starken Gefühl des Widerwillens gegen seine Behausung und alles, womit er dort zu tun hatte, den Platz vor seinem Turm überquerte. So bald wie möglich wollte er Lees Rat befolgen und sich eine andere Bleibe suchen, denn wie sollte ein Mensch studieren, wenn er unwillkürlich jedem Geräusch im Zimmer unter ihm lauschen mußte. Von der Wiese aus sah er, daß in Bellinghams Zimmer noch Licht brannte, und als er die Treppe hinaufschlich, öffnete sich die Tür im zweiten Stock. Der dicke Mann grinste ihn an. Mit seinem fetten, bösen Gesicht sah er aus wie eine Giftspinne, die gerade ein Opfer verspeist hatte.

»Guten Abend«, sprach er, »wollen Sie nicht hereinkommen?«

»Nein!« schrie ihn Smith an.

»Warum nicht? Sind Sie immer noch so fleißig wie stets? Ich wollte Sie fragen, wie es Lee geht. Ich habe so ein Gerücht gehört, daß etwas mit ihm nicht in Ordnung ist. Das tut mir sehr leid.«

Der Ernst in seiner Stimme wirkte aufgesetzt, denn seine Augen lachten verstohlen. Smith bemerkte das sofort, und er hätte ihn dafür niederschlagen können.

»Es wird Ihnen noch mehr leid tun, daß es Monkhouse Lee ganz gutgeht, er ist außer Gefahr«, antwortete er. »Ihre teuflischen Tricks haben diesmal nicht funktioniert. Sie brauchen gar nicht versuchen, sich herauszureden. Ich weiß alles.«

Bellingham wich vor dem wütenden Mann einen Schritt zurück und versteckte sich halb hinter seiner Tür. Er schien wohl zu spüren, daß ihm Prügel drohten.

»Sie sind ja verrückt«, sagte er. »Was wollen Sie überhaupt? Glauben Sie etwa, ich hätte irgend etwas zu tun mit Lees Unfall?«

»Ja!« donnerte Smith, »Sie und dieser Knochenhaufen hinter Ihnen, den Sie für Ihre schmutzigen Mordanschläge benutzen. Ich will Ihnen etwas sagen, Sie Stinktier: Man hat zwar hierzulande aufgehört, solche wie Sie auf dem Scheiterhaufen zu schmoren, aber einen Henker haben wir immer noch. Und bei Gott, wenn irgend jemand in diesem College umkommt, solange Sie hier sind, werden Sie dafür hängen, so wahr ich hier stehe. Sie werden schon noch merken, daß Ihre schmutzigen ägyptischen Tricks in England nicht ziehen.«

»Sie sind ja wahnsinnig«, sagte Bellingham. »Wie Sie wollen. Sie werden schon an meine Worte denken, wenn Sie auf der Falltür stehen.«

Die Tür knallte ihm ins Gesicht, und er ging wutschnaubend hinauf in seine Kammer. Er verriegelte die Tür und verbrachte die halbe Nacht damit, an seiner Pfeife zu paffen und über die seltsamen Ereignisse des Abends nachzudenken.

Am nächsten Morgen sah und hörte er nichts von seinem Nachbarn, statt dessen kam Harrington vorbei, um ihm zu sagen, daß Lee schon fast wieder der Alte war. Den ganzen Tag über blieb er in seine Studien vertieft, doch am Abend beschloß er, den Besuch bei seinem Freund Peterson nachzuholen, zu dem er am Tag zuvor schon unterwegs gewesen war. Ein strammer Fußmarsch und eine nette Unterhaltung würden seinen strapazierten Nerven wohltun.

Bellinghams Tür war geschlossen, als er vorbeiging, doch als er aus einiger Entfernung zurückblickte, sah er den Rundschädel seines Nachbarn am Fenster, der sich anscheinend die Nase an der Scheibe plattdrückte. Es war eine Wohltat, aus seinem Dunstkreis zu entkommen, wenn auch nur für wenige Stunden. Smith ging schnell weiter und genoß die frische Frühlingsluft. Im Westen, zwischen zwei gotischen Türmen, stand die Mondsichel und tauchte die Landstraße in silbernes Licht, durchbrochen von zackigen Kernschatten der Bäume und Häuser. Es wehte eine frische Brise, und hoch unter dem Himmel trieben langsam wattige Eiswolken. Das Collage steht am Stadtrand, so daß er schon nach fünf Minuten inmitten der Maidüfte einer mittelenglischen Landstraße wandelte.

Die Straße, die zum Haus seines Freundes führte, war einsam und kaum benutzt. Obwohl es noch nicht spät war, traf Smith keine Menschenseele. Er ging zügig weiter, bis er zum Tor des Parkweges kam, der in Farlingford endete. Von ferne schimmerte das trauliche, rote Licht der Wohnstuben durchs Geäst. Einen Moment lehnte er an dem Eisentor und schaute zurück auf die Straße, über die er gekommen war. Nun sah er es: Er wurde verfolgt.

Eine dunkle, gebückte Gestalt bewegte sich lautlos im Schatten der Hecke, kaum wahrnehmbar vor dem dunklen Hintergrund. Innerhalb eines Augenblicks kam es zwanzig Schritt näher, schon war es ganz dicht hinter ihm. In der Finsternis erspähte er einen dünnen Hals und zwei Augen, Augen, die ihn ewig im Schlaf verfolgen sollten. Langsam drehte er sich um, von blankem Entsetzen gepackt, begann er zu laufen, er lief um sein Leben, denn dort, kaum mehr als einen Steinwurf entfernt, war die Rettung: Häuser, Menschen. Er war als ausgezeichneter Läufer bekannt, doch so schnell wie an diesem Abend war er noch nie gelaufen.

Das schwere Tor fiel hinter ihm zu, doch er hörte bald, wie sein Verfolger es wieder aufstieß. Er rannte wie von Sinnen, denn hinter sich hörte er immer die federleichten, schnellen Schritte des Monstrums, und als er einen schnellen Blick zurückwarf, sah er, daß das Ungeheuer wie ein Tiger an seinen Fersen klebte, ein Schlag seines sehnigen Armes hätte genügt, den verzweifelten Mann zu Fall zu bringen. Gott sei Dank, die Tür war nur angelehnt, im Flur brannte Licht. Direkt an seinem Ohr hörte er ein kehliges Gurgeln. Mit letzter Anstrengung stürzte er durch die Tür, knallte sie ins Schloß und versiegelte sie hastig: Gerettet. Halb betäubt fiel er in den nächsten Sessel.

»Mein Gott, Smith, was ist passiert?« Peterson erschien in der Tür seiner Bibliothek und lief auf ihn zu.

»Ich brauche einen Brandy, bitte.«

Peterson verschwand für einen Augenblick und kam mit einer Karaffe und einem Glas zurück. Smith trank eine anständige Füllung in einem Zug leer.

»Anscheinend hast du wirklich einen gebraucht. Mann, du bist ja weiß wie die Wand, was ist denn los?«

Smith stellte sein Glas ab, stand auf und holte tief Luft. »Jetzt geht es mir schon besser«, sagte er. »So bin ich noch nie vor etwas weggelaufen. Wenn Sie erlauben, möchte ich heute nacht hier schlafen. Ich glaube nicht, daß ich mich jemals wieder auf diese Straße trauen werde, höchstens bei Tageslicht. Ich weiß, es hört sich feige an, aber ich kann einfach nicht mehr.«

Peterson blickte seinem Gast fragend in die Augen.

»Natürlich kannst du hier schlafen, wenn du es wünschst. Ich werde Mrs. Burney Bescheid sagen, sie wird das Gästebett fertigmachen. Doch sag mir endlich, was ist passiert?«

»Kommen Sie nur mit zum Fenster, von dem man den Eingang sehen kann. Ich möchte, daß Sie es sehen.«

Sie gingen ins Obergeschoß, von wo sie den Zugang zum Haus überblicken konnten. Der Weg und die Felder ringsum lagen friedlich im Mondlicht.

»Wirklich, Smith, ich weiß genau, daß du kein Trinker bist, sonst würde ich denken, die Weingeister sind hinter dir her. Was in aller Welt kann dich nur so erschrecken?«

»Ich erzähle es Ihnen sofort. Doch wo kann es nur sein? Ah, da, sehen Sie, in der Kurve direkt hinter dem Tor!«

»Ja, ja, ich sehe ja; du brauchst mir nicht gleich den Arm auszureißen. Da geht ein Mann entlang; er ist offenbar sehr dünn und groß, sehr sehr groß. Doch was soll mit ihm sein? Was ist mit dir? Du zitterst ja immer noch wie Espenlaub.«

»Um ein Haar hätte mich der Teufel erwischt, das ist alles. Aber gehen wir doch besser in die Bibliothek, dort kann ich Ihnen alles von Anfang an erzählen.«

In dem warmen Zimmer saß er also bei einem Glas Wein seinem vertrauten Freund gegenüber und beruhigte sich allmählich. Alles, was er seit dem Abend, als er Bellingham bewußtlos vor dem Mumiensarg fand, bis zu dem Schrecken, der ihn vor wenigen Minuten ereilt hatte, die ganze Kette der mehr oder weniger bedeutenden Ereignisse, die ihn seiner Sache so sicher machten, trug er dem geduldigen Zuhörer nach und nach vor.

»Das ist die ganze, schreckliche Wahrheit«, schloß er nach einer Stunde, »so ungeheuerlich und unglaublich sie auch klingen mag, es ist die Wahrheit.«

Für einen langen Augenblick verharrte Dr. Plumptree Peterson in Schweigen. Sein Gesicht drückte ungläubige Verwirrung aus.

»So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört!« sagte er schließlich. »Du hast mir die Fakten vorgetragen, nun sag mir, welche Schlüsse du aus dem Ganzen ziehst.«

»Sie können Ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.«

»Ich möchte aber gern hören, was du davon hältst. Du hast sicher schon viel darüber nachgedacht, ich aber nicht.«

»Gut, für mich ist die Sache in den wichtigsten Punkten, wenn auch nicht in allen Details, sonnenklar. Dieser Bellingham ist im Laufe seiner orientalistischen Studien in den Besitz eines teuflischen Geheimnisses gelangt, das ihm erlaubt, Mumien - vielleicht auch nur eine bestimmte Mumie -zeitweise zum Leben zu erwecken. An dem Abend, als er in Ohnmacht fiel, hat er die Methode ausprobiert. Als es funktionierte und die widerliche Gestalt sich bewegte, muß er selbst so schockiert gewesen sein, daß seine Nerven versagten, obwohl er darauf vorbereitet war. Das erklärt seine ersten Worte, als er sich, kaum war er aufgewacht, einen Idioten nannte. Nun gut, das passierte ihm kein zweites Mal, danach konnte er die schauerliche Prozedur ausführen, ohne in Ohnmacht zu fallen. Das Leben, das er der Kreatur einhauchen konnte, war offensichtlich nicht von Dauer, denn die meiste Zeit war die Mumie so tot wie dieser Tisch und stand regungslos in ihrer Kiste. Wie ich vermute, kann er sie aber jederzeit wieder aufwecken, und von dort bis zu der Idee, sie als sein Werkzeug zu benutzen, war es nicht mehr weit, denn das Ungeheuer ist intelligent und stark wie ein Bär. Aus irgendeinem Grund zog er Lee ins Vertrauen, doch der wollte als rechtschaffener Christ nichts mit dieser Sache zu tun haben. Schließlich bekamen sie Streit, und Lee drohte, seine Schwester über Bellinghams wahren Charakter aufzuklären. Das wollte Bellingham unter allen Umständen verhindern, und fast hätte er es auch geschafft, indem er sein Monstrum auf Lee hetzte. Er wußte, daß es ihm gehorchte, denn vorher hatte er es schon auf Norton losgelassen, mit dem er noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Hätte das Ungeheuer nicht letztlich versagt, so hätte er schon zwei Morde auf dem Gewissen. Als ich ihn schließlich zur Rede gestellt hatte, war es natürlich sein dringendstes Anliegen, mich aus dem Weg zu räumen, bevor ich etwas von dem ausplaudern konnte, was ich wußte. Als ich heute abend ausging, bekam er auch seine Chance, denn er kennt meine Gewohnheiten und wußte, wohin ich wollte. Ich bin dem Verhängnis nur haarscharf entgangen, hätte ich nicht solch ein unglaubliches Glück gehabt, dann hätten Sie mich morgen früh tot vor Ihrer Tür gefunden. Sie wissen, ich bin für gewöhnlich kein Angsthase, nie hätte ich gedacht, daß man mich so zu Tode erschrecken kann wie heute abend.«

»Mein lieber Junge, du nimmst die Sache zu ernst«, sagte sein väterlicher Freund. »Offenbar hast du soviel gearbeitet, daß deine Nerven dir einen Streich spielen. Es ist doch unmöglich; wie könnte diese Satansgestalt selbst nachts mitten durch Oxford spazieren, ohne gesehen zu werden?«

»Man hat sie gesehen. Die ganze Stadt redet von einem ausgebrochenen Affen, für den man die Mumie wohl hält.«

»Gut, mein Junge, die Kette von Ereignissen ist wirklich frappierend, doch trotzdem mußt du zugeben, daß es für jedes einzelne Glied auch eine natürliche Erklärung geben kann.«

»Ach was, ich weiß doch, was ich heute abend erlebt habe!«

»Wirklich? - Deine Nerven hängen doch in Fetzen, in deinem Kopf dreht sich alles nur noch um deine absonderliche Theorie. War es nicht nur ein dürrer, halb verhungerter Landstreicher, der hinter dir her war und der sich ermutigt fühlte, dich zu verfolgen, als er sah, daß du vor ihm davonliefst? - Und den Rest, die glühenden Augen und den Tigergang, wird deine Angst und deine Phantasie dazugetan haben.«

»Nein und nochmals nein; Sie kennen mich doch, Peterson.«

»Und weiter, die Sache mit dem leeren Mumiensarg, dessen Bewohner nach wenigen Minuten plötzlich wieder da war. Du sagtest, die Lampe in dem Zimmer sei halb abgedreht gewesen, und du hattest keinen Grund, genau hinzusehen. Es wäre also ohne weiteres möglich, daß du die Mumie beim ersten Mal einfach im Halbdunkel nicht gesehen hast.«

»Nein, nein, nein; das ist ausgeschlossen.«

»Und außerdem: Lee kann gestürzt sein, Norton das Opfer eines ganz gewöhnlichen Halsabschneiders gewesen sein. Die Anschuldigungen, die du gegen Bellingham vorbringst, sind einfach zu phantastisch; jeder Polizist, dem du diese Geschichte auftischen würdest, würde dich auslachen.«

»Das weiß ich. Deswegen werde ich die Sache auch selbst in die Hand nehmen.«

»Wie bitte?«

»Ja; ich weiß genau, es ist meine Pflicht, die Allgemeinheit von dieser unglaublichen Gefahr zu befreien, und außerdem muß ich auch an meine eigene Sicherheit denken. Ich kann mich doch nicht von dieser Bestie vom College vertreiben lassen. Ich weiß schon, was ich machen werde. Zunächst, können Sie mir für eine Stunde Feder und Papier zur Verfügung stellen?«

»Natürlich; auf dem Tisch dort findest du alles, was du brauchst.«

Eine Stunde lang saß Smith vor dem leeren Blatt, dann jagte die Feder nur so über das Papier. Er füllte Seite um Seite, während sein Freund in seinem Lehnstuhl saß und ihm geduldig dabei zusah. Am Ende sprang Smith mit einem Seufzer der Erleichterung auf, sortierte seine Papiere und legte die letzte Seite vor Peterson auf den Tisch.

»Würden Sie bitte hier als Zeuge unterschreiben?« sagte er.

»Als Zeuge? Wofür?«

»Ich möchte nur, daß Sie meine Unterschrift und das Datum beglaubigen. Das Datum ist das Wichtigste. Vielleicht hängt mein Leben davon ab.«

»Mein lieber Smith, was redest du da. Bitte, geh doch zu Bett und schlafe dich einmal richtig aus!«

»Ich verspreche, daß ich sofort schlafen gehen werde, wenn Sie unterschrieben haben. Ich bin mir meiner Sache wirklich sicher.«

»Was hast du da überhaupt geschrieben?«

»Auf diesen Seiten habe ich noch einmal alles festgehalten, was ich Ihnen heute abend erzählt habe. Ich möchte nur noch, daß Sie meine Unterschrift beglaubigen und gegebenenfalls bezeugen, daß ich Ihnen alles heute so erzählt habe, wie es hier steht.«

»In Ordnung«, sagte Peterson und setzte seinen Namen unter den seines jungen Freundes. »So, das war's. Doch sag mir: Was führst du im Schilde?«

»Nehmen Sie die Aufzeichnungen nur in Verwahrung, und gehen Sie damit zur Polizei, falls ich verhaftet werde.«

»Weswegen sollte man dich verhaften?«

»Vielleicht wegen Mord. Es ist alles möglich, ich möchte auf alles vorbereitet sein. Es bleibt mir keine andere Wahl, ich muß etwas unternehmen.«

»Um Himmels willen, tue bitte nichts Unüberlegtes!«

»Unüberlegt wäre, jetzt noch stillzuhalten, glauben Sie mir. Ich hoffe, es wird nicht nötig sein, doch es beruhigt mich, zu wissen, daß Sie über meine Motive Bescheid wissen und notfalls diese Aufzeichnungen vorlegen können. Und jetzt werde ich Ihren Rat befolgen und schlafen gehen; morgen früh muß ich ausgeruht sein. Gute Nacht, mein Freund.«

Abercrombie Smith war nicht gerade der Mann, den man sich als Feind gewünscht hätte. Er war gewöhnlich kaum aus der Ruhe zu bringen, doch wenn er einmal gezwungen war, zu handeln, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Alles, was er unternahm, tat er mit derselben geradlinigen Entschlossenheit, die ihn auch als Student auszeichnete. Für einen Tag ließ er seine Arbeit ruhen, und diesen Tag wollte er auf keinen Fall verschwenden. So war er am nächsten Morgen schon um neun Uhr unterwegs nach Oxford, nachdem er sich von Peterson verabschiedet hatte, ohne ihm aber von seinen weiteren Plänen zu erzählen.

In der High Street ging er in Cliffords Waffenladen und kaufte einen schweren Revolver und eine Schachtel Patronen. Sechs davon schob er in die Trommel, dann spannte er den Hahn und steckte die Waffe in seine Manteltasche. Er mußte noch bei Hastie vorbei, den er beim Frühstück antraf, zwischen Kaffee und »Spotting Times«.

»Hallo! Was gibt's? Kaffee gefällig?«

»Nein danke. Ich möchte, daß du mitkommst, du kannst mir helfen.«

»Aber sicher, mein Junge.«

»Nimm am besten einen schweren Knüppel mit.«

»Heihei!« Hastie sah ihn verdutzt an. »Ich habe noch einen Totschläger, mit dem ich einen Ochsen umhauen könnte.«

»Noch etwas. Du hast doch einen Satz Amputiermesser. Ich hätte gern das längste davon.«

»Mann, o Mann, du scheinst wohl auf dem Kriegspfad zu sein. Aber bitteschön. Brauchst du noch etwas?«

»Nein; das sollte reichen.« Er schob das Messer unter seinen Mantel und ging voraus Richtung Turm. Als sie davor angekommen waren, sagte er zu Hastie: »Ich glaube zwar, daß ich allein fertig werde, doch zur Sicherheit ist es besser, wenn du hier unten wartest. Ich habe ein paar Worte mit Bellingham zu reden. Bekomme ich es nur mit ihm zu tun, werde ich dich natürlich nicht brauchen. Andernfalls komm herauf, wenn ich schreie, du wirst dann schon sehen, was los ist, und schlage mit deiner Keule zu, so fest du kannst. Hast du verstanden?«

»In Ordnung. Ich komme, sobald ich dich brüllen höre.«

»Gut, warte jetzt hier. Es kann etwas dauern, aber gehe nicht, bevor ich wieder herunterkomme.«

»Du kannst dich auf mich verlassen.«

Smith ging die Treppe hinauf riß Bellinghams Tür auf und ging hinein. Bellingham saß an seinem Tisch und schrieb. Neben ihm, inmitten seines fremdartigen Gerumpels, stand der Mumiensarg. Die Versteigerungsnummer 249 klebte immer noch auf dem Deckel. Ohne sich um Bellingham zu kümmern, schloß er die Tür hinter sich, ging quer durch das Zimmer und machte ein Feuer im Kamin. Bellingham starrte ihn aus seinen Schweineäuglein wütend an.

»Fühlen Sie sich nur wie zu Hause, Sie Schwachkopf«, zischte er.

Smith setzte sich unbeeindruckt an den Tisch, legte seine Uhr vor sich hin, zog die Pistole, spannte sie und hielt sie locker in der rechten Hand. Dann zog er das lange Amputiermesser unter seinem Mantel hervor und knallte es vor Bellingham auf den Tisch.

»Los jetzt«, sagte er, »an die Arbeit. Mit dem Messer können Sie Ihre stinkende Mumie leicht in handliche Teile zerlegen.«

»Oh, das ist es, was Sie wollen.« Bellingham grinste verächtlich.

»Ja, das ist es. Ich habe gehört, daß das Gesetz Ihnen nichts anhaben kann. Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten. Zum Beispiel kann ich Ihnen versprechen, daß Sie in fünf Minuten eine Kugel in Ihrem schmierigen Kopf haben werden, wenn Sie bis dahin noch nicht gespurt haben.«

»Sie würden mich umbringen?«

Bellingham lehnte verkrampft über dem Tisch. Sein Kopf war puterrot.

»Ja, das würde ich«, sagte Smith ruhig.

»Und wozu?«

»Um Ihr Treiben zu beenden. Eine Minute ist schon vorbei.«

»Was habe ich denn getan?«

»Ich weiß es, und Sie wissen es auch.«

»Sie können mich nicht einschüchtern.«

»Aufgepaßt, gleich sind schon zwei Minuten vorbei.«

»Aber warum? - Sie sind ein Irrer - ein gefährlicher Irrer. Warum sollte ich mein Eigentum zerstören? Die Mumie ist sehr wertvoll.«

»Sie werden sie zerschneiden und verbrennen.«

»Nichts werde ich tun!«

»Vier Minuten.«

Sein Gesicht war unerbittlich, sein Griff um die Pistole wurde fester, langsam hob er den Arm, sein Finger lag auf dem Abzug.

»Nein, bitte nicht!« schrie Bellingham; er schaute jetzt genau in die Mündung des schweren Revolvers. - »Ich mache es, ich mache es ja schon!«

In panischer Hast griff er das Messer und hackte damit auf die Mumie ein, wobei er sich immer wieder ängstlich zu seinem Nachbarn umsah, der immer noch gnadenlos die Waffe auf ihn gerichtet hatte. Unter den Hieben der scharfen Klinge krachte und knirschte der verschrumpelte Körper, der durch die Kunst des Präparators die Jahrtausende überdauert hatte, dicker, gelber Staub wirbelte auf, getrocknete Kräuter und Essenzen fielen zu Boden, und plötzlich gab mit einem Krachen das Rückgrat nach, die Figur stürzte in sich zusammen, übrig blieb nur ein bräunlicher Haufen spröder Knochen und ledriger Hautfetzen auf dem Fußboden.

»Nun ins Feuer damit!« sagte Smith.

Die getrockneten Leichenreste brannten wie Zunder, und sofort pufften dicke, schwere Rauchwolken in das kleine Zimmer, der Geruch verbrannten Harzes und versengter Haare verpestete die Luft. Und immer noch arbeitete der dicke Mann wie ein Besessener, um alle Überreste der Mumie ins Feuer zu bringen, während der andere ruhig hinter ihm saß und ihn beobachtete. Nach einer Viertelstunde schließlich zog der Rauch ab; übrig blieb nicht mehr als ein Häufchen schwarzer Asche.

»Sind Sie jetzt zufrieden?« schnappte Bellingham. Sein Gesicht war nur noch Haß und Furcht vor seinem Peiniger.

»Nein; ich muß endgültig aufräumen in Ihrer verfluchten Zauberküche. Die Schwarze Magie muß ein Ende haben. Weg mit diesen getrockneten Blättern, wer weiß, wozu die gut sein können.«

Bellingham ließ auch sie in Rauch aufgehen. - »Und was noch?«

»Jetzt die Papyrusrolle, die damals auf Ihrem Tisch lag. Sie ist in der Schublade dort, nicht wahr?«

»Nein, nein!« schrie Bellingham, »das dürfen wir nicht! Sie wissen ja nicht, was Sie tun; die Rolle ist unwiederbringlich, einmalig; sie enthält ein Wissen, das man sonst nirgendwo finden kann.«

»Her damit!«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Smith. Ich werde das Wissen mit Ihnen teilen, ich werde Sie alles lehren, was darin verborgen ist. Oder warten Sie, lassen Sie mich nur schnell eine Kopie machen, bevor Sie sie verbrennen!«

Doch Smith ließ sich nicht beirren. Er ging zu der Konsole, holte die zerknitterte Papierrolle heraus und stieß sie mit dem Fuß ins Feuer. Bellingham schrie auf und versuchte sie noch zu retten, doch Smith stieß ihn zurück und blieb vor dem Kamin stehen, bis nur noch ein graues Aschenhäufchen übrig war.

»So, Mr. Bellingham, den Zahn habe ich Ihnen gezogen.

Sollten Sie noch andere Tricks auf Lager haben, werden Sie wieder von mir hören. Und nun guten Morgen, ich muß zurück zu meinen Büchern.«

Soweit die unglaublichen Ereignisse, die sich im Frühjahr '84 nach dem Bericht des Abercrombie Smith im alten College zu Oxford zugetragen haben sollen. Da Bellingham sofort danach die Universität verlassen hat - zuletzt wurde er im Sudan gesehen -, gibt es niemand, der dieser Version widersprechen könnte. Der Mensch ist klein, und die Natur ist unergründlich, und niemand kann sagen, was man auf ihren dunklen Wegen noch alles finden wird, wenn man nur danach sucht.

Загрузка...