Der Kapitän der >Polestar< (The Captain of the Polestar)

11. SEPTEMBER - 81° 40' N. 2° O. Wir liegen immer noch zwischen endlosen Eisfeldern fest. Das eine im Norden, an dem wir ankern, ist bestimmt nicht kleiner als Yorkshire. Rechts und links weißes Eis, so weit das Auge reicht. Heute morgen meldete der Maat, daß sich von Süden her Packeis ankündigte. Sollte das dick genug werden und uns den Rückweg abschneiden, dann wird unsere Lage gefährlich, denn wie ich gehört habe, wird die Nahrung schon knapp. Es ist spät im Jahr, und es wird auch wieder dunkel. Heute morgen sah ich über dem Vorschiff einen Stern funkeln, den ersten seit Anfang Mai. Die Mannschaft ist ziemlich unruhig, viele müssen pünktlich zur Heringzeit wieder zu Hause an der schottischen Küste sein, wo netzeweise Arbeit auf sie wartet. Bis jetzt äußert sich ihr Unbehagen nur in sauren Gesichtern und finsteren Blicken, doch der zweite Steuermann hat mir erzählt, daß sie den Gedanken wälzten, eine Abordnung zum Kapitän zu schicken, die ihm ihre Sorgen darlegen soll. Ich weiß nicht, wie er das aufnehmen wird, denn er kann ganz schön wild werden, besonders wenn jemand seine Rechte antasten will. Nach dem Abendessen werde ich versuchen, ihn darauf anzusprechen. Ich weiß, daß ich mir bei ihm Dinge erlauben kann, die kein anderer aus der Mannschaft wagen würde. Steuerbord sehe ich Amsterdam Island, das NordwestEnde Spitzbergens - eine zackige Linie aus Vulkangestein, die von vielen Gletschern durchbrochen ist. Seltsam, vor den dänischen Siedlungen im Süden Grönlands würde man wahrscheinlich keinen Menschen treffen - gut neunhundert Meilen den Möwen nach. Ein Kapitän nimmt eine große Verantwortung auf sich, wenn er in einer solchen Situation sein Schiff riskiert. Kein Walfänger ist je so spät in diesen Breiten geblieben.

21 Uhr - Ich habe mit Kapitän Craigie gesprochen, und obwohl ich mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein kann, muß ich sagen, daß er mir wenigstens ruhig und aufmerksam zugehört hat. Als ich fertig war, nahm er den Ausdruck eiserner Entschlossenheit an, den ich schon so oft in seinem Gesicht beobachtet habe, und rannte in der engen Kabine minutenlang auf und ab. Zuerst fürchtete ich, ihn ernstlich gekränkt zu haben, doch dann setzte er sich wieder und legte fast liebevoll eine Hand auf meine Schulter. Er schaute auch so sanft aus seinen müden dunklen Augen, daß ich ganz überrascht war. »Schauen Sie, Doktor«, sagte er, »ich bedaure es, Sie jemals an Bord genommen zu haben, wirklich, ich würde sofort fünfzig Pfund geben, wenn ich Sie dafür sicher auf dem Kai von Dundee sehen könnte. Im Norden sind Wale - wie können Sie den Kopf schütteln, mein Herr, wenn ich Ihnen sage, daß ich die Fontänen vom Mastkorb aus gesehen habe?« - Plötzlich war er wütend, obwohl ich mir, jedenfalls bewußt, keinen Zweifel anmerken ließ. »Zweiundzwanzig Tiere auf einmal, und keiner unter zehn Fuß[1]. Glauben Sie denn, Herr Doktor, daß ich hier weg kann, wenn nur ein lächerliches Eisband zwischen mir und meinem Glück liegt? Wenn der Wind morgen von Norden kommt, können wir die Bunker füllen und vor dem Frost hier weg sein. Kommt er von Süden, kann ich das auch nicht ändern - die Männer werden schließlich dafür bezahlt, ihr Leben zu riskieren, und was mich betrifft: Ich habe keine Angst, mich bindet mehr an die andere Welt als an diese. Nur um Sie mache ich mir Sorgen. Ich wünschte, ich hätte wieder den alten Angus Tait mitgenommen, den würde bestimmt keiner vermissen, aber Sie - sagten Sie nicht einmal, Sie seien verlobt?«

»Ja«, antwortete ich, ließ den Deckel meiner Taschenuhr aufschnappen und hielt ihm das kleine Portrait von Flora unter die Nase.

Seine Barthaare sträubten sich vor Wut. »Verdammt!« schrie er und sprang von seinem Stuhl auf. »Was habe ich mit Ihrem Glück zu schaffen. Wie kommen Sie dazu, mir ihr Photo vors Gesicht zu halten?« Ich dachte schon, er wolle mich schlagen, doch er fuhr nur fort, mich zu verfluchen, stieß die Kabinentür auf und stürzte auf Deck. Ziemlich erschrocken von seiner unvermittelten Aggressivität blieb ich in der Kabine zurück. Zum erstenmal hat er sich mir gegenüber anders als freundlich und entgegenkommend benommen. Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich ihn über mir ruhelos auf und ab rasen.

Ich sollte den Charakter dieses Mannes vielleicht näher beschreiben, doch solange ich selbst nur eine bestenfalls vage und unsichere Vorstellung davon habe, scheint es mir voreilig zu sein, darüber zu schreiben. Manchmal dachte ich schon, den Schlüssel zu seinem Geheimnis gefunden zu haben, doch stets zeigte er sich mir wieder in einem anderen Licht, so daß ich all meine Überlegungen verwerfen mußte. Vielleicht wird kein Mensch außer mir diese Zeilen lesen. Trotzdem will ich aber meine Aufzeichnungen über Kapitän Nicholas Craigie gleichsam als psychologische Studie fortsetzen.

Das Äußere liefert im allgemeinen Anhaltspunkte über die Seele eines Menschen. Der Kapitän ist groß und stark gewachsen, die Augen in seinem dunklen, hübschen Gesicht zwinkern ständig, vielleicht aus Nervosität, vielleicht auch nur als Ausdruck seiner überschüssigen Energie. Seine Bewegungen, sein ganzes Benehmen bedeutet Männlichkeit und Tatkraft, doch die Augen sind das Auffallendste in seinem Gesicht. In ihrem strahlenden Dunkelbraun spiegelt sich eine einzigartige Mischung aus Tollkühnheit und etwas anderem, Grauenhaften, so glaube ich manchmal. Meistens dominiert die Tollkühnheit, nur gelegentlich, besonders wenn er in Gedanken versunken ist, schreit eine tiefe Angst aus seinen Augen und scheint sein ganzes Verhalten zu prägen. Gerade in solchen Phasen ist er am empfindlichsten für Anfälle von Raserei, und das weiß er auch, denn ich habe schon gesehen, daß er sich dann einschließt, damit ihm keiner zu nahe kommen kann, bis die Laune verflogen ist. Er schläft schlecht und schreit im Traum, doch seine Kabine ist weit genug von meiner entfernt, daß ich bisher noch kein Wort verstehen konnte.

Dies ist die unangenehmste Seite seines Charakters, die ich nur kennengelernt habe, weil ich jeden Tag mit ihm Zusammensein muß. Ansonsten ist er ein belesener und unterhaltsamer Gesprächspartner und vielleicht der tapferste Seemann, der je die Weltmeere befahren hat. Ich werde nicht so schnell vergessen, wie er das Schiff im Sturm Anfang April durch das Treibeis geführt hat. Ich habe ihn nie so gutgelaunt, geradezu heiter gesehen wie in jener Nacht, als er in Donner, Blitz und Sturmgeheul von der Brücke aus das Schiff beherrschte. Mehrmals schon hat er mir erzählt, daß der Tod für ihn keinen Schrecken bedeutet. Keine gesunde Einstellung für einen jungen Mann, würde ich sagen, denn viel älter als dreißig kann er kaum sein, obwohl sein Haar und sein Schnäuzer schon gräulich schimmern. Irgendein Ereignis, ein großer Schmerz scheint sein ganzes Leben vergiftet zu haben. Vielleicht würde ich genauso werden, wenn Flora mich verließe - weiß der Himmel! Ich glaube, wenn es sie nicht gäbe, wäre es mir ganz egal, ob der Wind morgen von Norden oder von Süden kommt. Da, er steigt die Kajütentreppe herunter und schließt sich ein, ein sicheres Zeichen, daß er immer noch in gefährlicher Stimmung ist. Und nun ins Bett, wie Old Pepys sagen würde, denn die Kerze ist niedergebrannt und der Steward schlafengegangen, ohne den ich keine neue bekommen kann.

12. SEPTEMBER - Ein klarer, ruhiger Tag, wir liegen noch an derselben Stelle. Das bißchen Wind, das wir haben, weht schwächlich von Südosten. Der Kapitän hat jetzt bessere Laune, und sich beim Frühstück bei mir wegen seiner Grobheit entschuldigt. Trotzdem sieht er immer noch etwas verstört aus. Der wilde Blick ist geblieben. Ein Hochländer würde sagen, er sieht »fey« aus, wie ein dem Tod Geweihter. Jedenfalls sagte das unser Chefingenieur zu mir, der beim keltischen Teil der Mannschaft ein hohes Ansehen als Seher und Deuter von Vorzeichen genießt.

Seltsam, daß gerade über dieses eigensinnige und praktische Volk der Aberglaube eine solche Macht haben kann. Ich hätte nicht geglaubt, wie weit sie geht, wenn ich nicht selbst dabeigewesen wäre. Auf dieser Fahrt ist der Aberglaube zu einer regelrechten Seuche ausgewachsen, so daß ich mit dem Samstagsquantum Rum schon Baldriantinktur und Beruhigungstabletten ausgeben mußte. Das erste Symptom war, daß kurz nach der Abfahrt von Shetland die Steuerleute ständig behaupteten, während der Wachen klagendes Stöhnen und Schreie zu hören, als ob irgend etwas hinter dem Schiff her wäre und es nicht einholen könnte. Das Gerede hatte nicht aufgehört, und in dunklen Nächten zu Beginn der RobbenSaison ließen sich die Männer nur sehr widerwillig zur Arbeit bewegen. Was sie gehört hatten, konnte zweifellos nur das Krachen der Ruderketten oder der Schrei eines Seevogels sein. Mehrmals hat man mich aus dem Bett geholt, um mir den Spuk vorzuführen, doch ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich nie etwas Unnatürliches feststellen konnte. Die Männer glauben dagegen so fest daran, daß man nicht mehr vernünftig mit ihnen reden kann. Als ich die Angelegenheit einmal dem Kapitän gegenüber erwähnte, nahm er sie zu meiner Überraschung sehr ernst. Mein Bericht schien ihn tatsächlich zu beunruhigen. Ich hatte gedacht, wenigstens er sei über solch läppische Sinnestäuschungen erhaben.

Wie dem auch sei: Letzte Nacht hat Mr. Manson, unser zweiter Steuermann, einen Geist gesehen - sagt er wenigstens, und dann stimmt es natürlich auch. Ein neues Gesprächsthema finde ich ganz erfrischend nach all den endlosen Wal- und Bärengeschichten der vergangenen Monate: Manson schwört, daß es auf dem Schiff spukt und daß er noch heute von hier verschwinden würde, wenn er könnte. Bestimmt ist der Gute ehrlich erschrocken. Heute morgen mußte ich ihn mit einigen Pillen beruhigen. Meine Frage, ob er vielleicht am Abend zuvor ein Glas zuviel getrunken hatte, nahm er ziemlich pikiert auf, so daß ich bei seiner Erzählung so ernst wie möglich bleiben mußte, um ihn nicht aufzuregen. Wie er so redete, klang seine Geschichte wirklich wie ein Tatsachenbericht.

»Ich war auf der Brücke«, begann er. »Es hatte gerade vier Glasen geschlagen, die dunkelste Stunde der Nacht. Die Wolken pfiffen vor dem dünnen Mond vorbei, man konnte nicht weit sehen. John M'Leod, der Harpunier, kam aus der Bugkajüte und meldete ein seltsames Geräusch hinter der Steuerbordwand. Ich ging mit nach vorne und hörte es auch. Manchmal klang es wie das Brüllen einer Kuh, manchmal wie ein schreiendes Mädchen. Ich kenne die Gegend seit siebzehn Jahren und habe noch nie eine Robbe, alt oder jung, so brüllen gehört. Wir standen auf dem Vordeck, und als der Mond hinter den Wolken hervorschaute, sahen wir beide in derselben Richtung, aus der wir die Schreie gehört hatten, eine weiße Gestalt über das Eis huschen. Wir schickten einen Matrosen, Flinten zu besorgen. M'Leod und ich dachten, es könnte vielleicht ein Bär sein, und gingen aufs Eis. Dort verlor ich M'Leod aus den Augen und lief allein weiter in Richtung der Schreie, die gar nicht aufhören wollten. Plötzlich stand es vor mir, wie aus dem Eis gewachsen. Ich weiß nicht, was es war, jedenfalls kein Bär. Es war groß und weiß, weder Mann noch Frau, beim Beelzebub, es war kein Mensch, etwas viel Schlimmeres. Ich rannte so schnell ich konnte zum Schiff zurück und war heilfroh, als ich ankam. Ich habe einen Vertrag unterschrieben, meine Pflicht auf dem Schiff zu tun, doch nach Sonnenuntergang kriegt ihr mich nicht mehr aufs Eis, so wahr ich hier stehe.«

Das ist seine Geschichte, soweit ich sie in seinen eigenen Worten wiedergeben kann. Wie dem auch sei, ich glaube, es war nur ein junger Bär, der sich auf die Hinterbeine gestellt hatte, wie sie es oft tun, wenn sie Gefahr wittern. Die Dunkelheit läßt einen ängstlichen Mann, dessen Nerven ohnehin schon zerrüttet sind, leicht in einem solchen Geschöpf ein Monstrum sehen. Jedenfalls war das Ereignis, was immer es auch war, nicht gut für die Crew. Die Stimmung ist noch düsterer als vorher. Sie fürchten nicht nur, die Heringsaison zu verpassen, sie fühlen sich auch auf einem Spukschiff gefangen. Hoffentlich tun sie nichts Unüberlegtes. Sogar die ältesten und abgebrühtesten Harpuniere können sich nicht mehr der allgemeinen Unruhe entziehen.

Abgesehen von den Geistern gibt es aber für die Leute keinen Grund zur Panik. Das Packeis im Süden hat sich teilweise aufgelöst, und das Wasser ist so warm, wie es nur in einem der Seitenarme des Golfstroms sein kann, auf die man zwischen Grönland und Spitzbergen trifft. Um das Schiff tummeln sich kleine Medusen, Quallen und Krabben im Überfluß, so daß auch jeden Augenblick damit gerechnet werden kann, daß »Fisch« auftaucht. Um die Mittagszeit wurde tatsächlich schon einer gesichtet, doch er war so weit weg, daß es unmöglich war, ihn in den Booten zu verfolgen.

13. SEPTEMBER - Vom ersten Steuermann, Mr. Milne, habe ich ein paar interessante Dinge erfahren. Anscheinend gibt unser Kapitän den Seeleuten, ja sogar den Schiffseignern, ebenso Rätsel auf wie mir. Mr. Milne sagt, daß Craigie nach jeder Fahrt spurlos verschwindet und erst zu Beginn der nächsten Saison wieder auftaucht, um der Gesellschaft ruhig und bescheiden seine Dienste anzubieten. In Pundee hat er keine Freunde, es weiß dort auch kein Mensch, wo er herkommt und was er früher gemacht hat. Sein Ansehen beruht allein auf seinen Fähigkeiten als Seemann. Bevor er sein erstes eigenes Kommando bekam, hatte er sich als Steuermann auf verschiedenen Schiffen den Ruf eines mutigen und kaltblütigen Mannes erworben. Die Leute scheinen sich einig zu sein, daß er kein Schotte ist und daß, er einen falschen Namen benutzt. Mr. Milne glaubt, Craigie hätte sich nur der Walfängerei verschrieben, weil sie die gefährlichste Beschäftigung war, die er finden konnte, weil er dem Tod ins Auge sehen wollte, wann immer es möglich war. Er erzählte mir mehrere Geschichten, um seine Ansicht zu belegen. Zum Beispiel erschien er vor einigen Jahren einmal nicht bei den Reedern, so daß sie einen Ersatzmann anheuern mußten. Auf der Krim tobte gerade der letzte russisch-türkische Krieg. Als er im nächsten Frühjahr wieder auftauchte, hatte er eine frische Narbe am Hals, die er unter einem Schal zu verstecken versuchte. Ob der Schluß des Steuermanns, Craigie habe im Krieg gekämpft, richtig ist, weiß ich nicht zu sagen. Auszuschließen ist es jedenfalls nicht.

Der Wind dreht jetzt um östliche Richtungen, ist aber immer noch sehr schwach. Das Eis scheint mir wieder dichter zu sein als gestern. So weit das Auge reicht, sind wir von makellosem Weiß umgeben, auf das nur selten Schatten von einzelnen Eisblöcken fallen. Unser einziger Fluchtweg, die tiefblaue Wasserstraße nach Süden, wird von Tag zu Tag schmaler. Der Kapitän nimmt eine schwere Verantwortung auf sich. Ich habe gehört, daß die Kartoffelkiste schon leer ist, sogar die Kekse werden schon knapp, doch er läßt sich keine Beunruhigung anmerken und verbringt die meiste Zeit des Tages im Mastkorb, von wo er mit seinem Fernrohr ununterbrochen den Horizont entlangfährt. Seine Stimmung ist sehr schwankend. Seit jenem Abend scheint er mir aus dem Weg zu gehen, vielleicht würde er mich sonst wieder angreifen.

19.30 h - Jetzt glaube ich endgültig, daß wir von einem Verrückten kommandiert werden. Anders kann ich mir die unglaublichen Launen Kapitän Craigies nicht mehr erklären. Zum Glück habe ich dieses Tagebuch geführt, das vielleicht zu unserer Rechtfertigung dienen kann, falls wir ernsthafte Maßnahmen gegen ihn ergreifen müssen, wo Gott vor sei. Eigenartig jedenfalls, daß er selbst zuerst von Wahnsinn als Erklärung für sein exzentrisches Benehmen sprach. Vor etwa einer Stunde, ich lief auf dem Hauptdeck auf und ab, stand er auf der Brücke und schaute wie gewöhnlich durch sein Fernrohr. Die meisten Männer saßen unter Deck beim Tee, da noch keine regulären Spätwachen aufgestellt worden waren. Des Umherlaufens müde, lehnte ich mich gegen die Brüstung und bewunderte das herrliche, sanfte Licht, das die untergehende Sonne auf die gigantischen Eisfelder warf, die uns umgaben. Plötzlich riß mich eine rauhe Stimme aus meinen Träumereien: Der Kapitän war heruntergekommen und stand neben mir. In seinem Gesicht rangen Schrecken, Verwunderung und so etwas wie Freude miteinander, während er ins Nichts starrte. Trotz der Kälte standen dicke Schweißperlen auf seiner Stirn; offenbar war er in einem Zustand grauenhafter Erregung. Er zitterte am ganzen Körper wie auf dem Höhepunkt eines epileptischen Anfalls, sein Gesicht war von tiefen Falten zerschnitten.

»Da...!« stöhnte er und packte mich am Handgelenk, sein Blick immer noch in die eisige Ferne gerichtet, sein Kopf drehte sich langsam mit einem Objekt, dessen Bewegung auf dem Eis er zu verfolgen schien. »Schau, da, Mann, da! Jetzt kommt sie hinter dem Eisblock ganz hinten hervor! Siehst du sie? - Du mußt sie sehen! Mein Gott, sie flieht vor mir - sie verschwindet!«

Die letzten Worte flüsterte er in höchster Qual, Worte, die ich nie mehr vergessen kann. Er klammerte sich an Leinen und versuchte verzweifelt, die Brüstung zu erklimmen, wie um der schwindenden Erscheinung nachzueilen. Doch seine Kräfte schwanden, er taumelte zurück und fiel gegen eine Lukentür, wo er um Atem ringend liegen blieb. Sein Gesicht war so fahl, das jeden Augenblick damit gerechnet werden mußte, daß er in Ohnmacht, fiel. Ich verlor also keine Zeit und führte ihn die Kajütentreppe hinunter. Schließlich legte ich ihn auf eine der Liegen in der Kabine. Der Brandy, den ich ihm vor die Lippen hielt, hatte die wunderbare Wirkung, daß er wieder etwas Farbe bekam und das Zittern aufhörte. Er stützte sich auf seine Ellbogen und sah sich um, ob wir allein waren. Dann bat er mich, neben ihm Platz zu nehmen.

»Du hast sie gesehen, nicht wahr?« fragte er mich. Das unterdrückte Grauen, das so gar nicht zu diesem Mann paßte, war noch nicht aus seiner Stimme verschwunden.

»Nein, ich habe nichts gesehen.«

Sein Kopf sank zurück auf das Kissen. »Wie sollte er auch etwas sehen können. ohne Fernglas. Das Glas hat sie mir gezeigt, und das Auge der Liebe - das Auge der Liebe. Bitte, Doc, laß den Steward nicht herein! Er wird denken, ich sei verrückt. Verriegele die Tür, ja, tu das!«

Ich tat, wie mir geheißen.

Offenbar gedankenverloren lag er einen Moment ruhig, dann richtete er sich wieder auf und bat um mehr Brandy.

»Glauben Sie, daß ich verrückt bin, Doktor?« Er schien jetzt wieder ganz klar zu sehen. »Sagen Sie, von Mann zu Mann, glauben Sie, ich bin wahnsinnig?«

»Ich denke, Sie haben ein großes Problem, das Sie sehr aufregt und Sie ganz schön mitnimmt«, antwortete ich.

»Genau richtig, mein Junge!« schrie er, seine Augen glänzten vom Brandy. »Das ist es - fürwahr, ein Problem! Doch Längen- und Breitengrade kann ich noch berechnen, ich kann den Sextanten bedienen und mit meinen Logarithmen umgehen. Vor keinem Gericht könnten Sie beweisen, daß ich wahnsinnig bin, oder?« Es war eigenartig, mitzuerleben, wie der Mann auf dem Sofa lag und freimütig über seinen eigenen Geisteszustand diskutierte.

»Vielleicht könnte ich das nicht«, sagte ich; »doch trotzdem meine ich, daß es das beste für Sie wäre, so schnell wie irgend möglich Richtung Heimat zu fahren und sich für eine Weile an einen ruhigen Platz zurückziehen.«

»Nach Hause, hä?« Er zog eine Grimasse. »Das ist eine Sache für mich und eine andere für dich, Kleiner. Nach Hause fahren und mich zurückziehen mit Flora - die liebe kleine Flora. Sind schlechte Träume ein Zeichen von Wahnsinn?«

»Manchmal«, antwortete ich.

»Was gibt es noch für Symptome? Was ist das erste?«

»Kopfschmerzen, Ohrensausen, Dunkelheit und Blitze vor den Augen, Halluzinationen.«

»Aha, weiter!« unterbrach er. »Was würdest du eine Halluzination nennen?«

»Dinge sehen, die nicht da sind, das ist eine Halluzination.«

»Aber sie war da!« brummte er und erhob sich. Mit langsamen, unsicheren Schritten ging er hinüber zu seiner eigenen Kabine, die er sicherlich vor morgen früh nicht mehr verlassen wird. Was immer es war, was er zu sehen geglaubt hatte, es hat ihn schwer erschüttert. Jeden Tag wird mir das Geheimnis um diesen Mann unheimlicher, obwohl ich fürchte, daß seine eigene Erklärung richtig und sein Verstand angeschlagen ist. Ich glaube nicht, daß ein schlechtes Gewissen der Grund für sein Verhalten ist. Die Idee ist zwar populär unter den Offizieren, und soweit ich beurteilen kann, auch bei der Mannschaft, doch ich sehe keinen Anhaltspunkt dafür. Er macht nicht den Eindruck eines Mannes, der Schuld auf sich geladen hat. Ich kann mir eher vorstellen, daß das Schicksal ihm übel mitgespielt hat und daß er nicht als Täter, sondern als Opfer betrachtet werden muß.

Der Wind dreht nach Süden. Gott steh uns bei, wenn er uns den einzigen schmalen Pfad in die Sicherheit versperrt! In unserer Lage am Rande des arktischen Hauptmassivs treibt Wind aus nördlichen Richtungen das Eis um uns auseinander und macht uns den Rückweg frei, während uns südliche Winde zwischen zwei Eisfeldern einschließen können. Dann, wie gesagt, gnade uns Gott!

14. SEPTEMBER - Sonntag, Ruhetag. Meine Befürchtungen haben sich bestätigt, die schmale Wassergasse nach Süden ist verschwunden. Nichts mehr um uns als die riesigen Eisfelder mit ihren bizarren Kristallbergen und Eisspitzen. Die Stille scheint tödlich und erfüllt mich mit Schrecken. Keine Welle klatscht mehr gegen den Schiffsrumpf, keine Möwe, kein Lebewesen begleitet uns mehr, nur noch diese allumfassende Stille, in der die Stimmen der Matrosen und ihre Schritte auf dem strahlend weißen Deck wie Fremdkörper wirken. Unser einziger Besucher war ein Polarfuchs, ein Tier, das sich recht selten vom Festland aufs Packeis wagt. Er beobachtete uns aus sicherer Entfernung und machte sich dann schnell aus dem Staub. Ein ungewöhnliches Verhalten für einen Polarfuchs, denn normalerweise hat er keine Scheu vor Menschen, da er sie nicht kennt, und läßt sich leicht fangen. Es klingt unglaublich, doch sogar dieser unbedeutende Vorfall wurde von der Crew als schlechtes Zeichen gewertet. »Jaujau, du und ich, mein Tierchen, riechen, wo es stinkt - nach Tod!« war der Kommentar eines der ältesten Harpuniere, und die anderen nickten nur. Jeder Versuch, gegen solchen Aberglauben anzureden, muß vergeblich sein. Sie haben sich einmal entschieden, daß ein Fluch auf dem Schiff liegt, und nichts wird sie jemals mehr vom Gegenteil überzeugen.

Bis auf eine halbe Stunde am Nachmittag, als er kurz aufs Hauptdeck kam, blieb der Kapitän den ganzen Tag in seiner Kabine. Ich sah, daß er die ganze Zeit auf den Punkt starrte, wo er gestern die Erscheinung erblickt hatte, und war darauf vorbereitet, daß er jeden Moment einen neuen Anfall bekommen würde. Doch nichts passierte. Anscheinend sah er mich gar nicht, obwohl ich dicht neben ihm stand. Der Gottesdienst wurde für gewöhnlich vom Chefingenieur abgehalten. Fürwahr eine seltsame Sitte, daß auf Walfangschiffen stets das Gebetbuch der Anglikaner benutzt wird, obwohl diese Konfession weder bei Offizieren noch in der Mannschaft vertreten ist. Unsere Männer sind alle entweder römisch-katholisch oder Presbyterianer, wobei erstere in der Mehrheit sind. Da die englische Zeremonie beiden Gruppen fremd ist, kann sich keine zurückgesetzt fühlen; alle hören aufmerksam und voller Andacht zu, was eindeutig für dieses System spricht.

Ein herrlicher Sonnenuntergang ließ die Eisfelder wie ein Meer von Blut aussehen. Ich kann mich an keinen Anblick erinnern, der so schön und gleichzeitig so irrsinnig wirkt. Der Wind dreht wieder. Wenn er jetzt vierundzwanzig Stunden von Norden bläst, wird am Ende alles noch gut.

15. SEPTEMBER - Floras Geburtstag. Mein Mädchen! Leider ist ihr Schatz, wie sie mich immer nannte, jetzt nicht bei ihr, weil er mit einem verrückten Kapitän und Proviant für ein paar Wochen im Packeis festsitzt. Bestimmt liest sie jeden Morgen im »Scotsman« die Schiffslisten, ob endlich unsere Ankunft bei Shetland gemeldet wird. Ich muß den Männern ein gutes Beispiel sein und froh und unbesorgt aussehen, doch Gott allein weiß, wie es manchmal in meinem Herzen aussieht.

Das Thermometer zeigt neunzehn Grad Fahrenheit. Es gibt nur schwachen Wind aus ungünstiger Richtung. Der Kapitän ist bester Laune. Wahrscheinlich hat er diese Nacht wieder jemanden übers Eis huschen sehen, der arme Mann, denn heute morgen früh kam er an meine Koje und flüsterte mir etwas zu: »Es war keine Täuschung, Doc, es ist alles in Ordnung!« Nach dem Frühstück bat er mich, zu prüfen, wieviel Proviant noch da ist. Der zweite Steuermann und ich gingen sofort an die Arbeit. Es sieht noch schlimmer aus, als wir erwartet hatten. Vorne stehen noch ein Kanister Kekse, drei Fässer Pökelfleisch und ganz wenig Kaffee und Zucker. Im Achterbunker und in den Boxen gibt es noch eine Menge Luxusgüter wie Lachs in Dosen, diverse Suppen, Hammelragout und ähnliches, doch das Zeug wird bei einer Mannschaft von fünfzig Köpfen nicht lange vorhalten. In der Speisekammer stehen noch zwei Fässer Mehl und unbegrenzte Vorräte an Tabak. Alles zusammen kann sich die Mannschaft, auf halbe Ration gesetzt, noch achtzehn oder zwanzig Tage ernähren, länger bestimmt nicht. Als wir dem Kapitän den Stand der Dinge gemeldet hatten, befahl er sofort alle Mann an Deck. Noch nie sah er in meinen Augen überzeugender aus. Mit seiner hohen, edlen Figur und dem finster entschlossenen Ausdruck in seinem Gesicht sah er wie ein Mann aus, der zum Befehlen geboren war. Auf abgeklärte, seemännische Art, die andeutete, daß er zwar die Gefahr suchte, aber auch ein Auge für jede kleinste Chance hatte, ihr zu entkommen, begann er seine Ansprache.

»Jungs, ihr denkt bestimmt, ich habe euch in diese Klemme gebracht, wenn es denn eine Klemme ist, und vielleicht sind einige von euch deswegen böse auf mich. Aber ihr müßt auch daran denken, daß all die Jahre kein Schiff mehr Öl-Schillinge eingefahren hat als die alte Polestar; und jeder von euch hat immer seinen Anteil kassiert. Eure Frauen waren immer bestens versorgt, und ihr konntet sie beruhigt zurücklassen, während andere arme Kerle ihre Weiber auf dem Friedhof suchen mußten, wenn sie zurückkamen. Wenn ihr das eine haben wollt, müßt ihr auch mit dem anderen zufrieden sein, dann sind wir quitt. Wir haben schon früher waghalsige Touren unternommen und hatten immer Erfolg, beklagt euch also nicht, wenn es jetzt einmal nicht klappt. Wenn es zum Schlimmsten kommt, gehen wir übers Eis zum Festland und bringen uns mit Robbenfleisch über den Winter. Doch dazu wird es nicht kommen, denn bevor drei Wochen vergangen sind, werdet ihr die schottische Küste wiedersehen. Vorerst müßt ihr aber auf halbe Ration gehen, ihr müßt alles teilen, keiner darf bevorteilt werden. Haltet die Ohren steif, und ihr werdet diese Sache genauso durchstehen wie die Gefahren der letzten Jahre.« Diese wenigen, einfachen Worte hatten eine wunderbare Wirkung auf die Mannschaft. Die Unbeliebtheit Craigies war vergessen. Der alte Harpunier, dessen Aberglauben ich schon erwähnt habe, rief dreimal hoch, und alle fielen in den Jubel ein.

16. SEPTEMBER - Über Nacht hat der Wind nach Norden gedreht, das Eis scheint sich allmählich aufzulösen. Trotz der knappen Rationen ist die Stimmung in der Mannschaft gut. Die Maschine steht unter Dampf, so daß wir uns bei der ersten Gelegenheit unverzüglich davonmachen können. Der Kapitän ist nur noch bester Laune, obwohl in seinen Augen immer noch das Jenseitige, »fey«, schimmert, von dem ich früher sprach. Der derzeitige Ausbruch von Frohsinn verwirrt mich noch mehr als seine frühere Schwermut. Ich verstehe es einfach nicht. Ich glaube, ich habe schon in einem früheren Kapitel dieser Aufzeichnungen erwähnt, daß es einer seiner Ticks war, keinen Menschen in seine Kabine zu lassen, auch keinen Steward, daß er sogar sein Bett selbst herzurichten pflegte. Zu meiner Überraschung übergab er mir nun heute den Kabinenschlüssel und trug mir auf, an seinem Chronometer die Zeit abzulesen, während er die Höhe des Sonnenzenits messen wollte. In dem kleinen, kahlen Raum befindet sich neben einer Waschschüssel und einigen Büchern kaum etwas, das zur Wohnlichkeit beitragen könnte. Nur an den Wänden hängen eine Anzahl Bilder, die meisten davon billige Öldrucke, doch auch eine Aquarellzeichnung, die den Kopf einer jungen Dame darstellt. Offensichtlich handelt es sich um ein Originalportrait, nicht eine der Standard-Schönheiten, die sich Seeleute gern über die Koje hängen. Kein Maler könnte aus seiner Phantasie eine solch eigenartige Mischung aus Stärke und Zartheit entworfen haben. Die schläfrigen Traumaugen mit ihren schweren Lidern, und die tiefe, breite Stirn, die von keinem Gedanken oder Kummer getrübt zu sein schien, standen in scharfem Kontrast zu dem klar gezeichneten, energischen Kinn und dem eindeutigen, entschlossenen Mund. Rechts unten war die Zeichnung signiert: »M. B. 19«. Daß jemand von dieser Jugend eine solche Willenskraft entwickelt haben kann, wie sie sich in diesem Portrait ausdrückt, halte ich für schlechterdings unglaublich. Sie muß eine außergewöhnliche Frau gewesen sein. Ihre Züge haben sich meinem Gedächtnis so eingebrannt - obwohl ich nur einen ganz kurzen Blick auf das Bild werfen konnte -, daß ich sie Strich für Strich in diesem Heft nachzeichnen könnte, wenn ich ein Künstler wäre. Ich frage mich, welche Rolle sie wohl in Craigies Leben gespielt hat. Ihr Bild hängt so, daß er es ununterbrochen anschauen muß, wenn er auf seinem Lager ruht. Wüßte ich nicht genau, daß es ihn wütend machte, bestimmt würde ich ihn fragen, welche Bewandtnis es mit der Frau hat. Die anderen Dinge in seiner Kabine sind kaum der Erwähnung wert - Uniformröcke, ein einfacher Hocker, ein Vergrößerungsglas, eine Tabakdose und unzählige Pfeifen, darunter auch eine orientalische Wasserpfeife, vielleicht ein Hinweis darauf, daß er wirklich an dem Krieg teilgenommen hat, wie Mr. Milne erzählte, man weiß ja nie.

23.20 h - Nach einem langen und interessanten Gespräch über allgemeine Themen ist der Kapitän eben zu Bett gegangen. Wenn er will, kann er wirklich ein faszinierender, und charmanter Mann sein. Seine Belesenheit ist bemerkenswert, und die Art, wie er eine Meinung vertritt, ist stark, ohne überheblich zu sein. Ich hasse es nämlich, wenn mir jemand intellektuell auf die Füße tritt. Wir sprachen über die Natur der Seele, und er entwarf ein meisterliches Bild der Ansichten, die Aristoteles und Plato darüber hatten. Er scheint gleichermaßen der Theorie der Seelenwanderung wie der Denkweise des Pythagoras anzuhängen. Schließlich kamen wir zum modernen Spiritismus, ich macht einige scherzhafte Bemerkungen über Slade, worauf er mich eindringlich warnte, Propheten und Betrüger in einen Topf zu werfen. Er argumentierte, daß man das Christentum auch nicht als einen Irrweg brandmarken kann, nur weil Judas als Anhänger Christi ein Verräter wurde. Kurz darauf wünschte er mir eine gute Nacht und zog sich zurück.

Der Wind frischt auf und weht beständig von Norden. Die Nächte sind jetzt so dunkel wie in England. Ich hoffe, der morgige Tag wird uns von unseren eisigen Fesseln befreien.

17. SEPTEMBER - Schon wieder das Gespenst. Gott sei Dank habe ich starke Nerven! Der Aberglaube dieser armen Irren und die Geschichten, die sie voller Ernst und Überzeugung erzählen, würden jeden, der sie nicht kennt, in den Wahnsinn treiben. Es gibt viele Versionen der Geschehnisse der letzten Nacht, doch die Essenz von alldem ist, daß sich bis in den Morgen etwas Unsägliches beim Schiff herumgetrieben hat und daß nicht nur Sandy McDonald aus Peterhead und »der Lange« Peter Williamson es gesehen haben, sondern auch Mr. Milne von der Brücke aus. Das heißt, es gibt drei Zeugen, und die geben der Sache für die Mannschaft mehr Gewicht als vor ein paar Tagen der zweite Steuermann. Nach dem Frühstück habe ich mit Milne gesprochen und ihm gesagt, daß er eigentlich über diesem Unsinn stehen sollte und er als Offizier der Mannschaft ein Vorbild sein müsse. Er aber schüttelte nur seinen verwitterten Kopf und antwortete in seiner gewohnten bedächtigen Art.

»Vielleicht, Doktor, vielleicht auch nicht. Ich hab' nicht gesagt, daß es ein Geist war. Vielleicht würde ich keinen Schilling darauf verwetten, daß es Seeungeheuer und so was gibt, aber viele schwören Stein und Bein darauf. Ich bin nicht leicht zu erschrecken, obwohl Ihnen wahrscheinlich das Blut in den Adern gefroren wäre, hätten Sie letzte Nacht neben mir gestanden, Mann, und das Monstrum, weiß und riesengroß, husch-husch, mal hier, mal dort, wie ein verirrtes Kalb nach seiner Mutter schreien gehört. Jetzt, wo es hell ist, haben Sie leicht reden und können sagen: Altweiber-Gewäsch. So ist das.« Ich sah, daß es hoffnungslos war, mit ihm zu streiten, also hielt ich mich zurück und bat ihn lediglich, mich das nächste Mal zu wecken, wenn ein Gespenst erscheint, worauf er mich mit den inbrünstigsten Beschwörungen überschüttete, daß dieser Fall niemals eintreten möge.

Wie ich gehofft hatte, ist die weiße Wüste hinter uns aufgebrochen. Überall erscheinen jetzt dünne Wasseradern, die sie kreuz und quer zerschneiden. Unsere Position ist jetzt 80° 52' N. was zeigt, daß das Packeis schnell nach Süden driftet. Sollte der Wind günstig bleiben, so wird es sich so schnell auflösen, wie es entstanden ist. Im Augenblick können wir nur rauchen und warten und das Beste hoffen. Ich werde hier zum Fatalisten. Es bleibt mir sowieso nichts anderes übrig, wenn alles von so unsicheren Faktoren abhängt wie Wind und Eis. Vielleicht waren es der Wind und der Sand der arabischen Wüsten, die die ersten Jünger Mohammeds dazu trieben, sich dem Kismet zu ergeben.

Diese Geistererscheinungen haben eine sehr negative Wirkung auf den Kapitän. Ich fürchtete, sie könnten seine empfindlichen Nerven erschüttern und versuchte, die ganze Angelegenheit vor ihm zu verheimlichen, doch unglücklicherweise hörte er zufällig, wie die Leute davon sprachen und bestand darauf, informiert zu werden. Wie ich erwartet hatte, brachte es seine latente Geistesstörung wieder in einen akuten Zustand. Ich kann kaum fassen, daß dies derselbe Mann ist, mit dem ich gestern vollkommen rational über Philosophie diskutiert habe. Er läuft auf Deck herum wie ein Tiger im Käfig, ab und zu bleibt er stehen und schlägt stöhnend die Hände über dem Kopf zusammen, um dann unruhig aufs Eis hinaus zu starren. Er spricht ständig leise zu sich selbst, und einmal rief er aus, »noch ein bißchen Zeit, Liebe - gib mir noch ein bißchen Zeit!« Armer Kerl, es ist traurig, mitanzusehen, wie ein Mann von Welt, ein vollendeter Gentleman zu solch einem Wrack verkommt, traurig der Gedanke, daß Phantasie und Phantasterei einen Kopf zermürben können, für den früher die Gefahr nur das Salz des Lebens war. War je einer in meiner Lage, zwischen einem verwirrten Kapitän und einem ersten Offizier, der Gespenster sieht? Manchmal denke ich, ich bin der einzige Normale auf dem ganzen Schiff - ausgenommen vielleicht den zweiten Ingenieur, eine Art Wiederkäuer, den alle Teufel des Roten Meeres nicht schrecken könnten, solange sie seine Geräte in Ruhe lassen.

Immer noch löst sich das Eis, und aller Wahrscheinlichkeit nach können wir morgen früh versuchen, abzupfen. Zu Hause werden sie wohl denken, ich hätte all die Solchen erfunden, die mir passiert sind.

MITTERNACHT - Ich habe ganz schön gezittert, doch dank des Brandys fühle ich mich jetzt schon ruhiger. Trotzdem bin ich kaum mehr ich selbst, meine Handschrift wird es beweisen. Ich hatte ein eigenartiges Erlebnis, und ich beginne zu zweifeln, ob ich das Recht hatte, jeden an Bord als verrückt zu bezeichnen, nur weil er Behauptungen aufstellte, die ich nicht verstehen konnte. Ach, ich bin ein Narr, daß mich solch eine Lappalie aus der Fassung bringt, und dennoch, nach all den Geschichten von Mr. Manson und dem Steuermann, über die ich vorher noch gelacht habe, hat mein eigenes Erlebnis doch eine besondere Bedeutung. Die Geschichten waren wahr.

Eigentlich war es nichts - nur ein Geräusch, das war alles. Ich erwarte nicht, daß irgendjemand, der dies liest, wenn es ihn gibt, mit mir fühlen kann oder zu begreifen vermag, welche Wirkung, dieser Laut auf mich hatte. Nach dem Vesper war ich auf Deck gegangen, um vor dem Schlafengehen noch in Ruhe eine Pfeife zu rauchen. Die Nacht war sehr dunkel - so dunkel, daß ich vom Hauptdeck aus nicht den Mann auf der Brücke sehen konnte. Die außerordentliche Stille, die über dem Eismeer herrscht, habe ich sicher schon erwähnt.

In anderen Gegenden der Welt, mögen sie noch so öd und leer sein, liegt immer eine leichte Schwingung in der Luft - ein fernes Wispern, sei es vom Getriebe der Menschen, vom Laub, das leise raschelt, vom Flügelschlag ferner Vögel oder nur das Rauschen des Grases, das die Erde bedeckt. Wenn man die Geräusche auch nicht aktiv wahrnimmt, so wird man sie doch vermissen, wenn sie plötzlich verschwunden wären. Nur hier in den arktischen Gewässern umschließt dich diese dichte, undurchdringliche Stille mit all ihrer Grausamkeit. Die Trommelfelle beginnen nach dem leisesten Ton zu lechzen, der Sinn stürzt sich gierig auf jedes zufällige Geräusch an Bord. In dieser Situation stand ich über die Brüstung gebeugt, als direkt unter mir vom Eis ein scharfer, schriller Schrei ertönte, mitten in die stille Nachtluft, am Anfang so hoch, wie ihn keine Primadonna singen könnte, dann immer schriller, ein Schrei der Qual, vielleicht die letzte Klage einer verlorenen Seele. Das gräßliche Heulen klingt noch in meinen Ohren. Schmerz, unerträglicher Schmerz schien sich in ihm auszudrücken, großes Verlangen auch, und immer wieder ein Anflug von Frohlocken, wildem Jubel. Es schien von direkt neben mir zu kommen, und doch konnte ich nichts erkennen, als ich in die Dunkelheit starrte. Ich wartete einen Moment, ohne daß noch etwas passierte, und schließlich, tiefer erschüttert als je zuvor in meinem Leben, ging ich nach unten. Dort traf ich Mr. Milne, der auf dem Weg zur Wachablösung war. »Hallo, Doktor«, sagte er, »Altweibermärchen, nicht wahr? Haben Sie es kreischen gehört? Ist doch alles nur Aberglaube, oder? Was meinen Sie?« Ich fühlte mich verpflichtet, mich bei dem guten Mann zu entschuldigen und zuzugeben, daß ich genauso erschrocken war wie er. Vielleicht sehen die Dinge morgen schon anders aus, im Moment kann ich aber kaum zu Papier bringen, was mir alles durch den Kopf geht. Wahrscheinlich werde ich mich selbst für meine Schwäche verachten, wenn alles vorbei ist und ich diese Zeilen lese.

18. SEPTEMBER - Ich habe eine schlimme, ruhelose Nacht hinter mir, in der mich das unheimliche Geräusch ständig verfolgte. Der Kapitän scheint auch nicht viel Schlaf bekommen zu haben, denn sein Gesicht ist eingefallen und seine Augen blutunterlaufen. Ich habe ihm nichts von meinem nächtlichen Abenteuer erzählt, habe auch nicht die Absicht, dies zu tun. Er ist ohnehin ruhelos und verstört, er kann einfach nicht mehr stillsitzen.

Wie ich erwartet hatte, erschien heute morgen eine schmale Gasse im Packeis, und wir konnten den Eisanker lichten. Wir waren schon zwölf Meilen Richtung Süd-Südwest gefahren, als wir von einem Eisfeld aufgehalten wurden, das mindestens so massiv war wie das, dem wir eben entkommen waren. Wir liegen wieder fest, und es bleibt uns nichts übrig, als zu ankern und zu warten, bis wir wieder freikommen, was wahrscheinlich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden geschehen wird, wenn der Wind sich hält. Zahlreiche plattnasige Robben schwimmen um uns herum; diese grimmigen, kampflustigen Tiere können sogar einem Bären große Schwierigkeiten bereiten, doch zum Glück sind sie auf dem Eis langsam und schwerfällig, so daß man sie dort gefahrlos angreifen kann.

Der Kapitän ist offensichtlich nicht der Meinung, daß wir schon alle Schwierigkeiten überwunden haben, obwohl ich nicht begreifen kann, warum er unsere Situation noch so kritisch sieht, denn jeder andere an Bord glaubt, wir seien schon auf wunderbare Weise gerettet, und ist sicher, daß wir bald die offene See erreichen werden.

»Ich nehme an, Sie denken, jetzt ist alles in Ordnung, Doktor?« sagte er nach dem Essen zu mir.

»Ich hoffe es«, antwortete ich.

»Wir dürfen nicht zu sicher sein - trotzdem, Sie haben bestimmt recht. Nicht mehr lange, und wir alle werden unsere Lieben in die Arme schließen können, nicht wahr, mein Junge?

Aber wir dürfen uns nicht zu sicher fühlen - das dürfen wir nicht.«

Ex hielt eine Weile inne und rückte seinen Stuhl zurecht. »Schauen Sie«, fuhr er fort, »dies ist ein gefährlicher Ort, wenn der Wind auch noch so günstig ist - ein hinterhältiger, gefährlicher Ort. Ich habe Männer gekannt, die in einer Gegend wie dieser plötzlich verschwanden. Ein Ausrutscher kann schon reichen - Sie rutschen nur einmal aus und verschwinden zwischen den Eisschollen. Das einzige, was von ihnen übrigbleibt, sind ein paar Luftblasen dort, wo Sie versunken sind.«

»Seltsam«, er lachte nervös auf, »aber solange ich mich hier herumtreibe, habe ich nie daran gedacht, mein Testament zu machen - nicht, daß ich irgend etwas Besonderes zu hinterlassen hatte, aber wenn ein Mann sich in Gefahr begibt, sollte er zu Hause alles geregelt haben, meinen Sie nicht auch?«

Ich fragte mich, worauf er hinauswollte. »Richtig«, antwortete ich.

»Man fühlt sich besser, wenn man weiß, daß alles geregelt ist«, fuhr er fort. »Ich hoffe, daß Sie sich für mich darum kümmern, wenn mir etwas passieren sollte. Die wenigen Dinge aus meiner Kabine sollen Sie verkaufen und den Erlös wie das Ölgeld unter der Mannschaft aufteilen. Den Chronometer sollen Sie als kleine Erinnerung an Ihre Reise behalten. Natürlich meine ich das alles nur als Vorsichtsmaßnahme, doch ich dachte, ich nehme die Gelegenheit wahr und spreche mit Ihnen darüber. Kann ich mich auf Sie verlassen?«

»Ich verspreche es Ihnen hoch und heilig«, antwortete ich; »und wenn Sie schon daran denken, sollte ich vielleicht auch.«

»Sie - Sie!« unterbrach er mich. »Mit Ihnen ist alles in Ordnung. Was zum Teufel soll Ihnen schon passieren?

Entschuldigen Sie, ich wollte nicht schreien, aber ich mag es nicht, wenn ein junger Mann, dessen Leben kaum begonnen hat, mit dem Tod spekuliert. Gehen Sie lieber auf Deck, und schnappen Sie ein wenig frische Luft, als hier unten Unsinn zu reden und mich auch noch dazu zu verleiten.«

Je länger ich über dieses Gespräch nachdenke, desto unwohler fühle ich mich dabei. Warum sollte ein Mann gerade dann seine Hinterlassenschaft regeln, wenn seine Rettung unmittelbar bevorsteht? Der Wahnsinn muß Methode haben. Kann es sein, daß er an Selbstmord denkt? Dabei erinnere ich mich, wie er einmal mit tiefstem Ekel von der Verwerflichkeit des Verbrechens Selbstvernichtung sprach. Ich werde ihn jedenfalls im Auge behalten. In die intime Sphäre seiner Kabine kann ich nicht eindringen, doch ich habe mir vorgenommen, wenigstens so lange in seiner Nähe zu bleiben, wie er sich außerhalb seiner Kammer aufhält.

Mr. Milne focht meine Ängste noch an; er sagt: »Das ist ganz allein Sache des Skippers.« Unsere eigene Zukunft sieht er rosig. Wenn es nach ihm geht, werden wir übermorgen aus dem Eis heraus sein, zwei Tage später Jan Meyen passieren und nach kaum einer Woche Shetland sichten. Hoffentlich ist er nicht zu optimistisch. Seine Meinung muß sorgfältig gegen die düsteren Vorahnungen des Kapitäns abgewägt werden, denn der ist auch ein alter, erfahrener Seemann, der seine Worte wohl überlegt, bevor er spricht.

Schließlich kam es doch zu der drohenden Katastrophe. Ich weiß gar nicht, was ich darüber schreiben soll. Der Kapitän ist fort. Vielleicht sehen wir ihn noch lebendig wieder, doch ich weiß nicht - ich habe ein schlechtes Gefühl. Jetzt ist es sieben Uhr morgens am 19. September. Die ganze Nacht bin ich mit einer Gruppe von Matrosen auf dem Eisfeld vor uns umhergestreift. Wir hofften, eine Spur von ihm zu finden, doch vergeblich. Ich will versuchen, die Umstände seines Verschwindens zu schildern. Sollte irgendjemand diese Worte lesen, so vertraue ich auf sein Bewußtsein, daß ich mir nichts aus den Fingern gesaugt oder vom Hörensagen schreibe, sondern daß ich, ein gesunder und gebildeter Mann, das niederschreibe, was ich wirklich mit eigenen Augen gesehen habe. Ich ziehe zwar meine eigenen Schlüsse, doch für die Fakten stehe ich ein.

Nach dem Gespräch, das ich beschrieben habe, blieb der Kapitän bei bester Laune. Er schien jedoch nervös und ungeduldig zu sein. Er ist ruhelos und läuft ziellos mit zitternden Gliedern auf dem Schiff umher. Innerhalb einer Viertelstunde kam er siebenmal auf Deck, nur um hastig wieder hinunterzusteigen. Jedesmal folgte ich ihm, denn in seinem Gesicht war etwas, das mich in meinem Entschluß bekräftigte, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Anscheinend bemerkte er die Aufmerksamkeit, mit der ich ihn beobachtete; durch übertriebene Heiterkeit und lautes Lachen über die dümmsten Scherze versuchte er mich zu beruhigen.

Nach dem Abendessen ging er noch einmal auf die Achterhütte, und ich folgte ihm. Die Nacht war sehr dunkel und ruhig, nur das melancholische Seufzen des Windes zwischen den Spieren war zu hören. Eine große Wolke näherte sich von Nordwesten, Fetzen, die ihr voranflogen, trieben schon über die Mondscheibe. Der Kapitän raste auf und ab, und als er sah, daß ich wie ein treuer Hund hinter ihm herlief, kam er zu mir und bedeutete mir, ich sollte besser nach unten gehen - ich brauche kaum zu sagen, daß ich dadurch nur noch in meiner Entschlossenheit bestärkt wurde, auf Deck zu bleiben.

Ich glaube, danach vergaß er meine Anwesenheit, denn er stand ruhig an der Heckreling gelehnt und schaute auf die unendliche Schneewüste, die zum Teil im Schatten lag und an anderen Stellen silbrig im Mondlicht schimmerte. Ich konnte beobachten, wie er mehrmals auf die Uhr schaute, und einmal murmelte er einen kurzen Satz, von dem ich nur das eine Wort »fertig« verstand. Ich gestehe, es lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als ich die mächtigen Umrisse dieses Mannes in der Dunkelheit betrachtete, und mir fiel auf, daß er haargenau wie jemand aussah, der ein Rendezvous mit seiner Geliebten hat. Seine Geliebte? Stück für Stück formte sich eine Idee in mir, ich reihte eine Beobachtung an die andere, und die Lösung des Rätsels begann mir zu dämmern, doch auf das, was nun passieren sollte, war ich noch gänzlich unvorbereitet.

An einer plötzlichen Bewegung Craigies merkte ich, daß er etwas gesehen haben mußte. Ich kletterte auf die Hütte, und stellte mich hinter ihn. Sein starrer, fragender Blick war auf etwas gerichtet, das wie ein Nebelschwaden aussah, der am Schiff entlangtrieb. Ein unbestimmter, formloser Dunstkörper, manchmal mehr, dann wieder weniger gut zu erkennen, je nachdem, wie das Licht auf ihn fiel. Das Mondlicht war gedämpft durch eine Wolke, dünn wie ein Seidenschleier.

»Ich komme, Kleines, ich komme«, rief der Skipper, seine Stimme war so süß und voller Leidenschaft, als wolle er einem geliebten Menschen endlich und mit Freuden einen langgehegten Wunsch erfüllen.

Dann ging alles sehr schnell. Ich hatte keine Chance, einzugreifen. Mit einem Satz sprang er auf die Brüstung und schwang sich aufs Eis fast direkt zu Füßen der fahlen Nebelgestalt. Er streckte ihr die Arme entgegen, als wolle er sie fassen, um dann in dieser Haltung, mit ausgestreckten Armen und liebevollen Worten auf den Lippen, hinaus in die Finsternis zu laufen. Ich blieb wir gelähmt zurück und versuchte, den Unglücklichen in der Dunkelheit auszumachen, bis seine Stimme in der Ferne erstarb. Ich glaubte nicht, ihn noch einmal sehen zu können, doch im gleichen Augenblick schien der Mond hell durch eine Lücke in der Wolkendecke und tauchte das Eis in sattes Licht. Ich sah, daß er schon sehr weit weg war, in erstaunlichem Tempo rannte er über die starre Einöde. Dann verschwand er am Horizont - vielleicht für immer. Es wurde ein Suchtrupp aufgestellt, dem ich mich anschloß, doch im Herzen glaubten die Männer nicht an einen Erfolg. Wir fanden keine Spur. In ein paar Stunden wollen wir noch einmal losgehen. Wenn ich diese Zeilen niederschreibe, kann ich kaum glauben, was ich mit eigenen Augen gesehen habe; vielleicht habe ich doch nur geträumt oder bin einer Sinnestäuschung erlegen.

19.30 h - Soeben sind wir mutlos und erschlagen vom zweiten erfolglosen Versuch zurückgekehrt, den Kapitän zu finden. Das Eisfeld muß eine enorme Ausdehnung haben, denn obwohl wir uns bestimmt zwanzig Meilen vom Schiff entfernt haben, sind wir nicht an sein Ende gestoßen. Am späten Nachmittag wurde der Frost so streng, daß die Schneedecke hart wie Granit gefroren ist. Die Crew dringt darauf, sofort den Anker zu lichten und um das Eisfeld herum Richtung Süden zu dampfen, denn dort ist das kühle Leichentuch zerrissen. Am Horizont kann man das offene Meer erkennen. Sie sagen, der Kapitän sei sicher schon tot, es hätte keinen Zweck, sinnlos unser Leben zu riskieren, wenn wir jetzt die Chance hätten, zu entkommen. Mr. Milne und ich hatten größte Schwierigkeiten, sie zu überreden, bis morgen abend zu warten. Wir mußten uns verpflichten, den Termin auf keinen Fall noch einmal aufzuschieben. Deshalb haben wir beschlossen, jetzt ein wenig zu schlafen und dann zu einer letzten Suchexpedition aufzubrechen.

20. SEPTEMBER, abends - Heute morgen bin ich mit einer kleinen Gruppe Richtung Süden und Mr. Milne nach Norden gegangen. Wir kämpften uns zehn oder zwölf Meilen vor, ohne auch nur die Spur eines Lebewesens zu entdecken, abgesehen von einem einzigen Vogel, der einige Zeit über unseren Köpfen kreiste, nach seiner Flugweise zu urteilen wahrscheinlich ein Falke. Im Süden lief das Eisfeld in eine lange Spitze aus, die im Meer verschwand. Als wir die Basis dieses äußersten schmalen Dreiecks erreichten, blieben die Männer stehen, doch ich flehte sie an, bis ans Ende weiterzugehen, um wenigstens ganz sicher zu sein, daß wir alles versucht haben.

Nach kaum hundert Metern rief McDonald, da wäre etwas und begann zu laufen. Jetzt sahen wir es alle und folgten ihm. Zuerst war es nur ein dunkler Fleck auf dem Eis, doch als wir näher kamen, erkannten wir die Umrisse eines Körpers, vielleicht des Mannes, den wir suchten. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf einer Eisscholle. Viele kleine Eiskristalle und Schneeflocken bedeckten seine dunkle Seemannsjacke. Als wir direkt neben ihm standen, kam ein kleiner, wandernder Luftwirbel, erfaßte diese Flocken und schleuderte sie hoch, hielt noch kurz inne, um dann Richtung offene See zu entschweben. In meinen Augen nichts anderes als eine gewöhnliche Schneeverwehung, doch viele meiner Kameraden waren sicher, daß sie die Form einer Frau hatte, die den Leichnam küßte und dann über das Eis verschwand. Ich habe gelernt, mich über niemanden mehr lustig zu machen, mag er auch noch so seltsame Dinge erzählen. Fest steht, daß Kapitän Craigie einen leichten Tod gestorben ist, denn auf seinem blau gefrorenen Gesicht stand ein strahlendes Lächeln, und seine Hände streckten sich immer noch dem unbekannten Boten entgegen, der ihn in die dämmrige Welt abberufen hat, die hinter dem Tode liegt.

Wir bestatteten ihn noch am selben Nachmittag in der Flagge des Schiffes und feuerten einen Dreißigpfünder zu seinen Ehren ab. Ich hielt die Grabrede, während die wilden Seemänner wie Kinder weinten, denn viele von ihnen hatten seiner Güte einiges zu verdanken und konnten ihm jetzt erst ihre Zuneigung zeigen, wovor sie sich zu seinen Lebzeiten wegen seiner eigensinnigen Art immer gescheut hatten. Mit einem dumpfen Klatschen ging er schließlich von uns, und als ich ins grüne Wasser schaute, sah ich ihn versinken, tiefer und immer tiefer, bis er nur noch ein weiß flackernder Fleck in ewiger Finsternis war. Dann war gar nichts mehr zu sehen, er war verschwunden. Dort liegt er jetzt, sein Geheimnis und all sein Schmerz sind immer noch in seiner Brust begraben, bis er eines Tages vielleicht aus dem Eis wieder auftaucht mit seinem Lächeln und seinen steifen, zur Begrüßung ausgestreckten Armen. Ich bete für ihn, er möge in jenem Leben glücklicher sein, als er es in diesem war.

Ich werde hiermit mein Tagebuch abschließen. Der Heimweg liegt klar und offen vor uns, und das große Eisfeld wird bald nicht mehr sein als eine zwielichtige Erinnerung an vergangene Abenteuer. Ich werde einige Zeit brauchen, bis ich den Schock überwunden haben werde, den mir die vergangenen Ereignisse zugefügt haben. Als ich anfing, dieses Reisetagebuch zu führen, ahnte ich nicht, daß es so enden würde. Diese letzten Worte schreibe ich in der einsamen Kajüte, manchmal schrecke ich noch auf und meine, die schnellen, hastigen Schritte des Kapitäns auf Deck über mir zu hören. Heute abend bin ich in seiner Kabine gewesen, wie es meine Pflicht war, um für das offizielle Logbuch eine Liste seiner Habseligkeiten aufzustellen. Alles war noch, wie ich es vorher schon gesehen hatte, nur das Bild, das ich beschrieben habe, welches am Fußende seines Bettes hing, war wie mit einem Messer aus dem Rahmen geschnitten und verschwunden. Mit diesem letzten Glied in einer Kette der Beweise für das Unfaßbare schließe ich das Tagebuch der Fahrt der Polestar.

(ANMERKUNG von Dr. John M'Alister Ray Senior - Ich habe die Aufzeichnungen meines Sohnes über die seltsamen Umstände des Todes des Kapitäns der Polestar durchgelesen und bin der festen Überzeugung, daß sich alles genau so zugetragen hat, wie er es darstellt, ja, ich bin mir dessen sogar absolut sicher, denn ich kenne meinen Sohn als einen konsequenten Rationalisten mit starken Nerven, der absolut nicht zur Aufschneiderei neigt. Dennoch war ich lange gegen die Veröffentlichung dieser Geschichte, da sie auf den ersten Blick absolut unwahrscheinlich und unglaublich wirkt. Seit einigen Tagen verfüge ich jedoch über eine Aussage von unabhängiger Seite, die ein neues Licht auf die Angelegenheit wirft. Als ich in Edinburgh weilte, um an der Tagung des britischen Ärzteverbandes teilzunehmen, traf ich zufällig Dr. E... einen alten Studienkollegen, der jetzt in Saltash, Devonshire, praktiziert. Nachdem ich ihm von den Erlebnissen meines Sohnes erzählt hatte, erklärte er mir, daß er den Mann, um den es geht, gut kannte; zu meiner größten Überraschung beschrieb er ihn mir genau so, wie ich ihn aus dem Tagebuch meines Sohnes kenne, nur das Alter war ein anderes. Nach seiner Schilderung war er mit einer jungen Lady von außergewöhnlicher Schönheit verlobt, die an der Küste von Cornwall lebte. Während Craigies Abwesenheit auf See kam sie unter besonders schrecklichen Umständen zu Tode.)

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