Kapitel 7

Die Außenhülle des Segments El Mirador war doppelwandig und bildete eine gewaltige hohle Kriechzone um die ganze Kugel El Mirador. An der raumwärts gelegenen Außenhülle war eine dicke Schicht Mondschotter, durch Zentrifugalkraft festgehalten, Abfall, der nach dem Entzug der für den Bau der Satellitenwelt nötigen Gase und Mineralien übrig geblieben war. Darüber lag ein niedriger freier Bereich, Zugang für Wartungsarbeiten, beleuchtet von dem schwachen Glimmen einer Kette von Glühbirnen; darüber lag die Innenhaut von El Mirador selbst, durch den Schotter gegen alle eventuellen Überraschungen gepanzert, die aus der Leere angerast kommen mochten. Juanito, mit seinem untersetzten Körperbau, konnte in dem Schacht fast aufrecht gehen, doch der langbeinige Farkas, der hinter ihm ging, musste sich tief bücken und stolperte unsicher dahin wie eine Krabbe.

»Siehst du ihn schon?«, fragte Farkas.

»Ich glaube, er ist irgendwo da vorn. Es ist ziemlich duster hier drin.«

»Wirklich?«

Juanito sah Wu flüchtig rechts, wie er sich seitwärts schob und langsam hinter Farkas schlich. In der trüben Beleuchtung war der Doktor nur wie der Schatten von einem Schatten wahrnehmbar. Wu hatte zwei Händevoll Mondschotter aufgehoben. Allem Anschein nach wollte er nach Farkas werfen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und dann, wenn Farkas sich zu Wu wandte, war der Augenblick, in dem Juanito ihn mit dem Spike nageln sollte.

Juanito wich etwas zurück und platzierte sich neben Farkas' linkem Ellbogen. Er schob die Hand in die Tasche und legte die Fingerspitzen auf den Griff der kleinen kühl-glatten Waffe. Der Intensitätsknopf war ans untere Ende, auf Schockstärke, geschoben, und ohne die Waffe aus der Tasche zu ziehen, stellte er sie auf Tötungsstärke. Wu nickte ihm von der anderen Seite her zu.

Zeit, in Aktion zu gehen.

Juanito packte die Waffe und …

Und im selben Moment, noch ehe Juanito die Waffe hatte ziehen können, noch bevor Wu den Kies hatte werfen können, stieß Farkas ein Gebrüll aus wie eine rasende wilde Bestie. Juanito keuchte überrascht, weil das Brüllen so wütend war. Die Sache läuft schief, erkannte er. Und in dem Moment fuhr Farkas herum, packte ihn heftig um die Hüfte, hob ihn mühelos hoch und schleuderte ihn leicht, als wäre er ein Hammer, in hohem Bogen mit schrecklicher Wucht gegen Wus Bauch.

Wu brach keuchend und ächzend zusammen, und Juanito lag wie betäubt breit über ihm.

Dann erloschen die Lampen – Farkas hatte wohl oben die Leitung abgerissen –, und dann kam Juanito zu sich und lag mit dem Gesicht auf dem groben Schotterboden. Er konnte sich nicht bewegen. Farkas hatte ihn im Nacken gepackt und ihm das Knie in den Rücken gepresst. Und Wu lag neben ihm, auf die gleiche Weise festgehalten.

»Hast du wirklich gedacht, ich hätte nicht gesehen, wie er sich an mich ranschlich?«, fragte Farkas. »Oder wie du nach deinem Spike gegriffen hast? Blindsehen funktioniert in einem Feld von 360 Grad. Dr. Wu muss das wohl vergessen haben. Diese ganzen Jahre auf der Flucht, ich denke mir, da fängt einer schon an, was zu vergessen.«

Santa Maria, madre de Jesú, dachte Juanito.

Ich krieg's nicht mal hin, einen Blinden von hinten umzulegen. Und jetzt wird er mich umbringen. Was für eine saublöde Art zu sterben.

Er stellte sich vor, was Kluge dazu sagen würde, wenn er es wüsste. Oder Delilah. Nathaniel. Ausgetrickst von einem blinden Mann. Jesus! Saudumm. Saudumm. Saudumm! Aber er ist ja gar nicht blind, dachte Juanito dann. Nicht echt blind, überhaupt gar nicht blind.

Farkas sagte leise mit rauer, zornerfüllter Stimme: »Für wie viel hast du mich an ihn verkauft, Juanito?«

Aber Juanito brachte nur ein ersticktes Stöhnen zustande, denn sein Mund war voll scharfer Steinsplitter.

Farkas stieß mit dem Knie zu. »Wie viel? Fünftausend? Sechs?«

»Es waren acht«, sagte Wu leise von unten.

»Na, wenigstens sollte ich nicht zu billig weggehen«, murmelte Farkas. Er griff Juanito in die Tasche und zog den Spike hervor. »Hoch!«, befahl er. »Alle beide. Und bleibt dicht nebeneinander. Falls einer von euch 'ne komische Bewegung macht, töte ich euch alle beide. Vergesst nicht, dass ich euch sehr deutlich sehen kann. Und ich sehe auch genau die Tür, durch die wir hergekommen sind. Dieses seesternförmige Ding dort drüben, von dem purpurblaue Lichtbänder ausgehen. Wir gehen jetzt nach El Mirador zurück, und zwar ohne irgendwelche Überraschungen, oder? Oder? Wenn einer von euch abzuhauen versucht, verpasse ich euch eine Lethaldosis und kläre das dann hinterher mit der Guardia Civil.«

Juanito spuckte mürrisch eine Ladung Mondstaub aus, sagte aber nichts.

»Dr. Wu, das Angebot besteht noch«, fuhr Farkas fort. »Du kommst mit mir zurück, erledigst die Aufgabe, für die wir dich brauchen. Kein gar so schlechtes Geschäft, wenn man bedenkt, was ich mit dir machen könnte für das, was du mit mir gemacht hast. Aber ich will weiter nichts von dir als dein Können, und das ist die reine Wahrheit. Allerdings, diesen Auffrischungskurs wirst du wohl nötig haben, stimmt's?«

Wu brummte undeutlich etwas.

Farkas sagte: »Du kannst mit dem Jungen da experimentieren, wenn du magst. Versuche an ihm ein Retrofitting für Blindsehen, und wenn es funktioniert, kannst du dir unsere Crew vornehmen, einverstanden? Er interessiert sich sowieso ungeheuer dafür, wie ich die Welt sehe. Er hätte bestimmt nichts dagegen. Nicht wahr, Juanito, wie? Also geben wir ihm die Chance, es ganz persönlich zu erleben.« Farkas lachte. Und zu Juanito sagte er: »Wenn alles richtig läuft, lassen wir dich vielleicht mitfliegen, Junge.« Juanito fühlte den kalten Druck seines eigenen Spikes im Rücken. »Das würde dir doch Spaß machen? Der erste Flug zu den Sternen? Du würdest in die Geschichte eingehen. Was sagst du dazu, Juanito? Du würdest berühmt.«

Juanito antwortete nicht. Seine Zunge war von dem Mondsplit wund, und er war dermaßen benommen und hilflos vor Angst und Verärgerung, dass er nicht einmal den Versuch unternahm, etwas zu sagen. Mit Farkas und dem Spike im Rücken stolperte er neben Dr. Wu langsam auf das Schott zu, das Farkas als ›seesternförmig‹ beschrieben hatte. Aber für seine Augen sah es keineswegs maritim aus und auch nicht wie ein Stern, sondern eben wie eine Tür, soweit er dies im trüben Schein der fernen Lampen erkennen konnte. Genau, es sah aus wie eine Tür, die wie eine Tür aussah. Nicht wie ein Stern. Nicht wie ein Seetier. Aber es war dumm, über so etwas nachzudenken – oder über sonst etwas – gerade jetzt, wo Farkas ihm die Waffe zwischen die Schulterblätter drückte. Seinen eigenen Spike! Er schaltete sein bewusstes Denken völlig aus und stolperte weiter.


Als sie aus der Hülle wieder auf die Plaza von El Mirador kamen, erkundete Farkas rasch sein gesamtes Umfeld: den Kreis der netten kleinen Cafeterias, den sprudelnden Brunnen in der Platzmitte, die Statue des Don Eduardo Callaghan, des El Supremo, der gütig blickend rechts stand. Natürlich alles in seiner augenlosen Blindvision: die Cafés als zitternde punktuelle wechselnde grüne Lichtquellen, die Fontäne als einen Feuerspeer, das El-Supremo-Denkmal als aufragenden dreikantigen Keil mit den unverkennbaren massiven Zügen des Generalissimo.

Und natürlich waren da noch seine beiden Gefangenen, Wu und Juanito, direkt vor ihm. Wu – der hochglanzpolierte Kubus an der Spitze einer kupferschimmernden Pyramide – wirkte gelassen. Er hatte sich mit den jetzigen Umständen anscheinend abgefunden. Juanito – ein Halbdutzend blauer, durch ein orangefarbenes Kabel verbundener Kugeln – wirkte aufgeregter. Farkas nahm diese Erregung als eine Spektralverschiebung nach oben in der, wie Farkas es nannte, ›Grenzzone‹ wahr, die das Juanito-Objekt von der Umgebung abhob.

»Ich muss einen Anruf machen«, erklärte er den beiden. »Ihr setzt euch jetzt ganz still hier mit mir an den Tisch dort. Der Spike ist eingestellt und wird benutzt, wenn ihr mich dazu zwingt. Juanito?«

»Ich hab kein Wort gesagt.«

»Das ist mir bewusst. Ich möchte nur, dass du mir sagst, wie weit du zur Kooperation bereit bist. Ich möchte dich nur ungern töten müssen. Aber falls du was Verrücktes versuchen solltest, werde ich das tun. Ich bin dir weit überlegen an Schnelligkeit, bei jeder Bewegung. Das weißt du doch?«

»Ja.«

»Also, dann sei ein lieber Junge und bleibe brav da sitzen, und wenn du irgendeinen deiner kleinen Freunde über die Plaza kommen siehst, versuche nicht, ihnen irgendwas zu signalisieren. Weil ich nämlich merken würde, was du tust, und das wäre dann das letzte Mal gewesen, dass du was tust. Ist das klar?«

»Hör zu«, sagte Juanito kläglich, »du könntest mich doch einfach hier fortlassen, und wir brauchten nie wieder was miteinander zu tun haben. Ich will dir ehrlich keinen Ärger machen.«

»Nein«, antwortete Farkas. »Du hast versucht, mich reinzulegen, Junge. Du hast für mich gearbeitet und mich dann verkauft. Bei mir ist es ein Grundsatz, so etwas nicht leicht und ungestraft durchgehen zu lassen. Im Gegenteil, du kommst hier nicht heil davon.« Er sah Dr. Wu an. »Und du, Doktor? Ich bin gewillt, für dich eine Ausnahme von meiner Regel zu machen, dass ich grundsätzlich zurückzahle, falls du zur Kooperation bereit bist. Selbstverständlich überlasse ich dir die Wahl selbst, aber ich glaube, ich weiß, was dir am angenehmsten als Fortsetzung dieser Sache erscheinen würde. Du würdest doch lieber für eine kurze Zeit für ein hübsches Honorar in einem gutausgestatteten Laboratorium für Kyocera-Merck arbeiten, nicht wahr, als dass ich dir ziemlich ausführlich und im einzelnen demonstrieren müsste, wie ärgerlich ich darüber bin, was du mit meinen Augen gemacht hast, als ich noch ein Fötus im Mutterleib war, und wie höchst rachsüchtig ich werden kann. Nicht wahr, Doktor?«

»Ich sagte es dir doch schon«, stammelte Wu, »wir sind im Geschäft.«

»Gut. Sehr gut.«

An der Tischkante war ein Public Communicator in einem Clip befestigt. Ohne Wu und Juanito aus seiner Aufmerksamkeit zu entlassen, nahm Farkas den Knüppel mit der linken Hand auf, da er in der rechten Hand immer noch den Spike hielt, und gab die Nummer von Oberst Emilio Olmo von der Guardia Civil ein. Dabei ergab sich ein längeres Suchspiel, bis der Zentralcomputer ihn ausfindig machen konnte; und dann verlangte er eine Code-Identifikation des Anrufers. Farkas gab sie und setzte hinzu: »Das ist ein Kanal-17-Gespräch.« Dies bedeutete, dass die Verbindung per Scrambler geschützt werden solle. Danach trat wieder eine kurze Stille ein, nur gelegentlich unterbrochen von elektronischen Krächzgeräuschen.

Dann: »Victor?«

»Ich wollte dich nur wissen lassen, Emilio, dass die Ware zur Lieferung bereitsteht.«

»Von wo aus sprichst du?«, fragte Olmo.

»Von der Plaza in El Mirador.«

»Bleib da. Ich komme so rasch wie möglich. Ich muss mit dir sprechen, Victor.«

»Du sprichst gerade mit mir«, sagte Farkas. »Ich brauche weiter nichts als ein paar Leute von der Guardia, um die Ware sofort abzuholen. Ich sitze hier, direkt an der Plaza, und ich möchte nicht in aller Öffentlichkeit die Rolle des Verschiffungsagenten spielen.«

»Wo bist du? Genau? Exakte Ortsangabe.«

Farkas sagte zu Juanito: »Wie heißt das Café hier?« Mit Blindsicht zu lesen, fiel ihm schwer; es war nicht der exakt gleiche Prozess wie beim normalen Sehen, und Farkas wurde zu seinem Verdruss tausendmal jeden Tag daran erinnert.

»Café La Paloma«, antwortete Juanito.

»La Paloma«, wiederholte Farkas für Olmo.

»Bueno. Die Plaza-Streife holt euch in zwei Minuten ab. Wir transferieren die Fracht dann ins Depot, wie abgemacht.«

»Noch was solltest du wissen. Es gibt ein zusätzliches Frachtstück«, sagte Farkas.

»Oh?«

»Ich schicke den Kurierjungen mit ins Depot. Keine Sorge, ich liefere dir die Frachtpapiere wie gewohnt.«

»Wie du wünschst, mi amigo«, sagte Olmo mit leiser Verwunderung in der Stimme. »Er gehört dir, was immer du mit ihm vorhast, und ich bin froh, den los zu sein. Ich gebe ihn dir freimütig, wenn auch nicht kostenfrei, wenn du verstehst. Es dürften extra Frachtkosten entstehen, ja?«

»Das macht mir keine Sorgen.«

»Bueno. Die Übernahme wird sehr rasch erfolgen. Bleib an Ort und Stelle. Ich komme gleich zu dir, damit wir das bereden können. Es hat sich etwas ergeben, etwas Ernstes, und wir müssen darüber sprechen.«

»Ein Scrambler reicht da nicht aus?«, fragte Farkas verwirrt und ein wenig erschrocken.

»Bei weitem nicht, Victor. Es muss persönlich geschehen. Eine sehr delikate Angelegenheit. Sehr! Und du bleibst dort? Im Café La Paloma?«

»Unbedingt«, sagte Farkas. »Du erkennst mich an der roten Nelke im Knopfloch.«

»Was?«

»Nur ein Scherz. Kümmere dich jetzt um die verdammte Übernahme, Emilio, wenn es dir recht ist.«

»Sofort!«

»Bueno«, sagte Farkas.

Juanito fragte: »War das Colonel Olmo, mit dem du da gesprochen hast?« Es klang furchtsam.

»Wie kommst du auf die Idee?«

»Du hast ihn ›Emilio‹ genannt und verlangt, dass er die Guardia schickt. Wer sonst hätte es sein sollen?«

Farkas sagte achselzuckend: »Schön, also es war Colonel Olmo. Wir haben ab und zu geschäftlich miteinander zu tun. Wir sind Freunde, sozusagen.«

»Heilige Gottesmutter Maria!«, krächzte Juanito und machte eine Geste, die Farkas als Bekreuzigung erkannte: ein laterales und vertikales Hüpfen der mittleren Paare der sechs blauen Kugeln, die für ihn Juanitos sichtbaren Körper ausmachten. »Du und Olmo, ihr seid amigos? Und du kannst ihn einfach so anrufen und mit ihm reden. Dann bin ich echt im Arsch.«

»Ja, das bist du wirklich«, sagte Farkas. »Todo jodido, heißt das nicht so bei euch?«

»Si«, sagte Juanito kläglich. »Estoy jodido, völlig und ganz im Arsch!« Er wandte sich ab und blickte ins Leere. Wu gab ein dünnes Kichern von sich. Wie hübsch für ihn, dachte Farkas. Er kann sich über Juanitos Bedrücktheit amüsieren. Das bedeutet, er hat aufgehört, sich um seine eigene Sicherheit Gedanken zu machen. Die Vorstellung gefiel Farkas, dass die Person, die ihm sein eigenes Leben so beiläufig und leichthin irreparabel verändert hatte, vor vielen Jahren, immer noch grundsätzlich indifferent gegenüber den Umständen geblieben war, ein gefühlloser Techniker, emotionslos wie eine Naturgewalt.

Sekunden später sah Farkas aus der Richtung, in die Juanito starrte, zwei Schatten zielstrebig auf sich zukommen: ein rotes Tetraeder auf Spillerbeinchen und ein senkrechtes smaragdgrünes Säulenpaar, das durch drei parallele goldene Streifen verbunden war. Das musste die örtliche Guardia-Streife sein, erkannte er. Olmo arbeitete rasch. Aber, natürlich honorierten K-M ihn sehr großzügig für seine Kooperation. Und Valparaiso Nuevo war ein sehr gut funktionierender Polizeistaat, und die Guardia verfügte wahrscheinlich über hervorragende Kommunikationstechniken.

»Mister – Farkas?« Das war das Tetrahedron, das ihn ansprach. Ein leises Zögern in der Stimme, ein unmerkliches Verzögern der Aussprache der Wörter. Farkas wusste, was das bedeutete: Beim ersten Anblick seines augenlosen blanken Gesichts reagierten die Leute oft so. »Colonel Olmo hat uns herbefohlen. Zwei Männer, sagte er, die wir mitnehmen sollen.« Es klang recht unsicher.

»So genau habe ich mich ihm gegenüber nicht geäußert. Ich sagte, zwei Personen, mehr habe ich nicht gesagt. Ein Junge und eine alte Frau, das nur nebenbei«, sagte Farkas. »Die zwei da.«

»Jawohl, Sir. Freut mich, zu deinen Diensten zu sein, Sir.«

»Olmo hat euch doch klargemacht, dass den beiden nichts geschehen darf? Ist das klar? Ich wünsche nicht, dass ihr sie verletzt. Setzt sie einfach in Gewahrsam, bis die Deportationsformalitäten abgeschlossen sind. Habt ihr mich verstanden?«

»Jawohl, Sir. Selbstverständlich, Sir.«

Farkas sah zu, wie sie Juanito und Wu wegführten.

Jetzt, da er nicht mehr zwei Gefangene zugleich zu bewachen hatte, erlaubte er es sich, sich zu entspannen. Er lehnte sich zurück und betrachtete die Szenerie der gepflasterten Plaza.

Eine seltsame Leere kam über ihn.

Seine Aufgabe hatte er erfüllt, ja, und bemerkenswert leicht. Dennoch war es schon seltsam, Wu nach all diesen Jahren, in denen er sich ausgemalt hatte, was er mit dem Mann machen würde, falls er ihn jemals ausfindig machen sollte, einfach so davonkommen zu lassen, ohne irgend etwas gegen ihn zu tun.

Verkleidet als eine ältliche zimperliche Frauensperson. Schön, schön, schön!

Es wäre verdammt leicht gewesen, dort hinten in der düsteren Mondsplit-Abgeschiedenheit der Hülle, Wu die Daumen auf die Augäpfel zu legen und zuzudrücken. Aber damit hätte er selber ja nicht das normale Sehvermögen gewonnen, das man ihm vor seiner Geburt fortgenommen hatte. Und er war sich nicht einmal sicher, ob er sich das normale Sehvermögen zurückwünschte, jetzt noch … aber es Wu heimzuzahlen, das hätte ihm schon eine gewisse Befriedigung verschafft.

Doch es war auch wichtig, dass er sich mit diesem einen kleinen Augenblick selbstsüchtiger Rache seine Karriere zerstört hätte, und die verlief bisher recht befriedigend, ja höchst erfolgreich in vielerlei Hinsicht. Es hätte sich also für ihn nicht gelohnt.

Und dieser Junge …

Farkas fühlte dabei keine Gewissensbisse. Der Junge würde leiden – na schön! Er war ein betrügerischer kleiner Köter, der sich exakt so verhalten hatte, wie Farkas es erwartet hatte. Er hatte sich an den Höchstbietenden verkauft, genau wie sein Vater das vorher anscheinend getan hatte. Der Kleine hatte eine Lektion nötig. Und die würde er bekommen, und eine saftige dazu. Farkas verscheuchte den Gedanken an ihn aus seinem Kopf und winkte dem Kellner zu.

Er bat um eine Demikaraffe Rotwein, und dann saß er da und trank genüsslich und wartete geduldig auf Olmo.

Der ließ nicht lange auf sich warten.

»Victor?«

Olmo schwebte an seiner Seite in Schulterhöhe. Nach der Strahlungsfarbe wirkte er sehr angespannt.

»Ich sehe dich, Emilio. Setz dich doch. Möchtest du ein Glas Wein?«

»Ich trinke niemals.« Olmo ließ sich wuchtig am Tisch nieder, allerdings in einem Winkel von neunzig Grad zu Farkas. Es war das erste Mal, dass sie sich persönlich begegneten, denn alle früheren Transaktionen waren über die codierte Scramblerverbindung gelaufen. Olmo war weniger groß, als Farkas erwartet hätte, aber sehr kompakt. Der obere Kubus der zwei, aus denen für ihn sein Körper bestand, war breiter als der untere, was auf breite Schultern und massige Arme schließen ließ. Als Olmo sich setzte, wirkte er recht groß, wie eine gewichtige Erscheinung.

Farkas stellte sich vor, wie der Mann in einem früheren Stadium seiner Karriere schweißtriefend in einem Keller mit einem schmiegsamen Stück Hanf die Feinde des Generalissimo bearbeitet hatte – und wie er von den bescheidenen Anfängen als offizieller Folterknecht zu seinem derzeitigen Rang in dieser Welt aufgestiegen war. Ließ El Supremo seine Feinde foltern?, fragte sich Farkas. Aber sicher doch. Das tat doch jeder Minityrann. Er würde Olmo mal danach fragen, irgendwann, aber nicht jetzt.

Farkas trank langsam einen großen Schluck von seinem Wein. Ein Ortsgewächs, nahm er an, aber gar nicht schlecht.

In das verlegene Schweigen hinein, das Olmos Unbehagen über Farkas körperliche Erscheinung verriet, dessen war er sich sicher, sagte er: »Du hast mich neugierig gemacht, Emilio. Etwas so Delikates, dass du es nicht einmal riskieren willst, es mir über einen Scrambler mitzuteilen?«

»Ja, tatsächlich. Ich glaube, ich nehme ein Glas Wasser. Es sieht natürlicher aus für die Leute, die uns beobachten, und ich bin sicher, wir werden beobachtet, wenn auch ich etwas trinke.«

»Was du haben möchtest.« Farkas winkte die Bedienung heran.

Olmo schloss die Hand um sein Glas und beugte sich nach vorn. Mit sehr leiser Stimme, nicht gerade flüsternd, aber auch nicht in normalem Plauderton, sagte er: »Es ist bisher bloßes Hörensagen. Die Zuverlässigkeit der Quelle ist zweifelhaft, und das Gerücht selbst ist so überraschend, dass ich extrem skeptisch dazu stehe. Trotzdem wünsche ich es mit dir zu besprechen. Diese Unterhaltung hat natürlich nie stattgefunden, falls jemand dich fragt.«

»Selbstverständlich«, sagte Farkas ungeduldig.

»Bueno. Also, dies sind die Neuigkeiten. Die eventuellen Neuigkeiten. Wie ich schon sagte, erreichte mich eine Information, über höchst irreguläre und nicht übermäßig vertrauenswürdige Kanäle, dass eine Gruppe von in South California ansässigen Kriminellen einen Aufstand gegen die in Valparaiso Nuevo herrschende Regierung vorbereitet.«

»Southern California«, sagte Farkas.

»Wie?«

»Southern California. So heißt das. Du sagtest South California.«

»Ah.«

»Einen Aufstand?«

»Sie beabsichtigen, diese Welt hier zu besetzen und den Generalissimo mit Gewalt zu entmachten. Dann wollen sie hier ihr eigenes Regime errichten und sämtliche Flüchtlinge zusammentreiben, die hier Asyl gefunden haben. Und dann wollen sie diese für viele Milliarden Capbloc-Dollar an die verschiedenen Agenturen und mächtigen Gruppen verkaufen, die sie auf der Erde zurückhaben möchten.«

»Wirklich?« Farkas fand die Idee faszinierend. Irre, aber faszinierend. »Jemand plant wirklich sowas?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber es könnte tatsächlich durchführbar sein. Vielleicht. Und wenn es auf die richtige Weise gesteuert würde, könnte es sehr lukrativ werden.«

»Ja, das könnte es zweifellos.« Valparaiso Nuevo war eine richtige Schatzkammer, eine Goldmine voller Flüchtiger mit hohen Kopfprämien. Doch Callaghan musste gute Maßnahmen aufgebaut haben, um sie zu schützen, und sich selbst ebenfalls. Besonders sich selber! Eines seiner Honorifica lautete nicht umsonst ›Der Beschützer‹. Die einzige Möglichkeit, ihn zu entmachten, wäre gewesen, dass man das Ganze zur Explosion brachte. »Ich begreife, warum du sagtest, es handle sich um etwas Delikates«, murmelte Farkas. »Aber weshalb erzählst du das mir, Emilio?«

»Zum einen, weil es in meinen Verantwortungsbereich fällt, rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, wenn eine Bedrohung für das Leben des Generalissimo besteht.«

»Das ist mir bewusst. Aber was habe ich damit zu tun? Glaubst du, ich könnte dich zu den Verschwörern führen?«

»Möglich.«

»Um Gottes willen, Emilio. Ich hatte dich für intelligent gehalten!«

»Klug genug, glaube ich.«

»Wenn ich mit der Sache etwas zu tun hätte, hältst du es dann für wahrscheinlich, dass ich dir auch nur ein Wort darüber sagen würde?«

»Das hinge davon ab«, entgegnete Olmo. »Betrachten wir mal ein paar andere Faktoren. Ich muss nicht nur an die Sicherheit des Generalissimo denken, sondern auch an meine persönliche eigene.«

»Selbstverständlich.«

»Ich bin dir nützlich – oder doch jedenfalls deinen Auftraggebern. Und die sind Kyocera-Merck, Victor. Daraus machst du ja kein Geheimnis. Und warum solltest du? Aber ich arbeite ebenfalls für K-M, versteht sich, wenn auch nicht ganz so – sichtbar. Ja, eigentlich überhaupt nicht sichtbar.«

»So ist es.«

»Der Generalissimo regiert seit siebenunddreißig Jahren in Valparaiso Nuevo, Victor. Er war kein Jüngling mehr, als er hier die Macht ergriff, und jetzt ist er ziemlich alt. Wenn er abtritt, hält die Firma es für angebracht, dass ich in ihrem Interesse seine Nachfolge antrete. Das wusstest du doch, nicht wahr?«

»So ungefähr.« Olmos umständliche Art ging Farkas allmählich auf die Nerven. Der fracas in der Außenhülle hatte ihn ermüdet, und er wollte nur noch in sein Hotel zurück. »Würde es dir was ausmachen, Emilio, wenn du endlich zur Sache kommen würdest?«

»Ich habe dich nach Kräften bei der Aufgabe unterstützt, deretwegen die Firma dich hergeschickt hat. Und jetzt wirst du mir helfen. Das ist nur logisch, dass ein K-M-Mann dem anderen hilft. Sag mir die Wahrheit! Weißt du auch nur irgendwas über diese Verschwörung, diesen Umsturzversuch?«

Farkas konnte es kaum glauben. Für dermaßen dumm hätte er Olmo nie gehalten.

»Ganz und gar nichts«, sagte er. »Ich höre zum allerersten Mal von so etwas.«

»Du schwörst es?«

»Sei nicht blöd, Emilio. Ich könnte dir alles beschwören, was du nur willst, und was würde das schon bedeuten?«

»Ich vertraue dir.«

»Wirklich? Ja, doch, ja, ich glaube, das tust du. Du solltest keinem vertrauen, aber schön. Wenn du dich besser fühlst, hier ist die heilige Wahrheit: Ich weiß wirklich und wahrhaftig nichts von solchen Sachen. Mein heiliger Eid drauf, bei Gott. Bei allen Erzengeln und Aposteln, es ist wirklich absolut das erste Mal, dass ich was davon höre. Und ich vermute mal, dass hinter diesen Gerüchten gar nichts Greifbares steckt.«

»Nein. Ich denke, du hast ehrlich zu mir gesprochen. Aber ich fürchte«, sprach Olmo weiter, »dass es eine solche Verschwörung tatsächlich gibt und – dass Kyocera-Merck dahintersteckt. Vielleicht werden diese Leute aus Kalifornien ja nur als Strohmänner vorgeschoben. Und wenn Don Eduardo verschwindet, verschwinde ich mit ihm. Dass ich dann für die Firma unwichtig geworden bin und dass die Firma beschlossen hat, mich als entbehrlich zu betrachten.«

»Das klingt ziemlich verrückt für meine Ohren. Soweit ich weiß, bist du für die Firma noch immer so wertvoll wie eh und je. Und die Rolle, die du spielst, um diese Wu-Sache zu erleichtern, wird deine Stellung hoch oben nur weiter festigen helfen.«

»Und dieser Staatsstreich? Nehmen wir an, die Gerüchte, die ich gehört habe, besitzen eine reale Grundlage? Diese südkalifornische Gruppe? Nehmen wir an, es gibt sie, nehmen wir an, es gibt so einen Plan. Glaubst du ehrlich, dass die nicht irgendwie mit K-M zusammenhängen?«

»Woher sollte ich das wissen? Bin ich Japaner? Benutze doch dein Gehirn, Emilio! Ich bin nur ein Firmenexpediteur, Stufe Neun. Das ist zwar ziemlich hoch in der Hierarchie, aber doch keinesfalls auch nur annähernd auf dem Niveau, auf dem Firmenpolitik gemacht wird. Die Leute in New Kyoto holen mich nicht zu ihren Konferenzen, um ihre Geheimplanung mit mir zu besprechen.«

»Du denkst also, die Leute, die diesen Staatsstreich planen, sind weiter nichts als eine Bande von kriminellen Freelancern, die in South California völlig auf eigene Faust arbeiten? In Southern California?«

»Gott-im-Himmel!« Farkas war inzwischen an seiner Toleranzgrenze angelangt. »Habe ich denn nicht ausreichend klargemacht, dass alles, was ich über diesen idiotischen Staatsstreich weiß, das ist, was du mir soeben darüber gesagt hast? Ich habe keinerlei Anlass oder Beweis, dass es sowas überhaupt gibt, und anscheinend hast du selbst auch nicht viel mehr in der Hand. Aber, okay. Okay! Lass mich zu deiner Beruhigung sagen, Emilio, dass meiner Einschätzung nach diese Staatsumstürzler, falls es sie überhaupt gibt und wer immer sie sein mögen, weit eher geneigt sein würden, mit dir zu kooperieren, als dich auszubooten, wenn sie nämlich über ein Minimum an politischem Verstand verfügen, und wenn und falls sie kurz vor einer Invasion hier stehen sollten, dann könnten sie kaum was Gescheiteres tun, als sich mit dir in Verbindung zu setzen und sich deiner Hilfe beim Sturz des Generalissimo zu versichern. Außerdem wirst du auch weiterhin Rückendeckung von Kyocera-Merck haben, was immer geschieht, weil K-M – aus weißgottwelchen Gründen – ein Interesse daran hat, diesen beschissenen kleinen Orbitalsatelliten hier seiner Einflusssphäre einzugliedern, und außerdem hat man dich bereits als den nächsten Generalissimo vorgesehen, also wird man kaum tatenlos zusehen, wenn eine Gang unorganisierter Krimineller aus Kalifornien den eigenen Erwählten aus dem Fenster stürzen will. Okay, Emilio? Geht's dir jetzt besser?«

Olmo sagte eine ganze Weile lang nichts.

Dann: »Danke. Wenn du irgendwie mehr über diese Sache hörst, Victor, sagst du mir dann Bescheid?«

»Selbstverständlich.«

»Bueno«, sagte Olmo, den Bruchteil einer Sekunde früher, ehe Farkas es sagen konnte. »Ich vertraue dir, mein Freund. Soweit ich irgendeinem traue.«

»Also, ganz und gar nicht, stimmt's?«

Olmo lachte herzhaft. Auf einmal wirkte er viel gelöster nach diesem langen ärgerlichen Ausbruch von Farkas. »Ich weiß, du wirst nichts zu meinem Schaden tun, außer du findest es absolut unvermeidlich, zu deinem eigenen Nutzen, dich gegen mich zu stellen.«

»Das klingt ziemlich korrekt für mich.«

»Ja. Ja.«

»Und du wirst mir also Nachricht zukommen lassen, wenn du von irgendeiner Seite etwas über diesen Verschwörungsplan erfährst?«

»Himmel! Ich hab dir doch bereits versprochen, dass ich das tun werde. Zu den Bedingungen, die du soeben formuliert hast. Stellt dich das zufrieden?«

»Ja.«

»Dann können wir uns also wieder den laufenden Geschäften zuwenden? Du hast dich bereiterklärt, dafür zu sorgen, dass Wu und Juanito prompt auf den K-M-Laborsatelliten expediert werden, wie die Firma dies von uns verlangt. Ja?«

»Absolut.«

»Bueno«, sagte Farkas. Und beide lachten.

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