Farkas sagte: »Ich glaube, wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben.«
Er war allein in seinem Hotelzimmer und sprach über ein Scramblerhandy mit Colonel Emilio Olmo, dem dritthöchsten Offizier der Guardia Civil von Valparaiso Nuevo. Oberst Olmo stand sehr hoch in der Gunst und genoss das Vertrauen von Don Eduardo Callaghan, des Generalissimo undsoweiter Maximo Leaders. Von signifikanterer Bedeutung für das Vorhaben von Farkas war es, dass Olmo auch der wichtigste Kontaktmann von Kyocera-Merck in Valparaiso Nuevo war. Soweit Farkas wusste, verfolgte die Firma den Langzeitplan, Olmo als den Nachfolger aufzubauen, für den Zeitpunkt, zu dem es als angebracht erscheinen würde, der langen Regierungszeit Don Eduardos ein Ende zu setzen. Olmo war in einer hübschen Lage, er verdiente von beiden Seiten, und so war es vielleicht unklug, ihm zu weit zu trauen, doch seine Zukunftsinteressen hingen unverkennbar mit K-M zusammen, und deshalb schätzte Farkas, es sei sicher, mit ihm Geschäfte zu machen.
»Wer ist dein Kurier?«, fragte Olmo.
»Juanito Holt.«
»Ekelhafte kleine Latinorotznase. Ich kenn ihn. Aber ein schlaues Bürschchen, das muss ich sagen. Wie hast du ihn gefunden?«
»Also, eigentlich hat er mich gefunden. Fünf Minuten war ich aus dem Shuttle, und da stand er bereits. Er ist sehr schnell.«
»Sehr. Manchmal zu schnell. Sein Vater war in die Sache mit dem Central American Empire verwickelt – erinnerst du dich? Die Dreiecksrevolution? Spielte beide Seiten gegen die Mitte aus. Ein sehr schlauer hombre. War entweder Sozialist oder Faschist, keiner war sich je sicher, was wirklich, und am Ende, als alles auseinanderbrach, verduftete er und setzte seine umstürzlerische Arbeit von hier aus fort. Dann fiel er ärgerlich auf, und nach einiger Zeit kamen die Rechten und die Linken zu dem Schluss, dass es für sie am besten wäre, wenn sie sich zusammentun, und sie schickten eine Delegation hier herauf, um ihn loszuwerden. Sein Kleiner ist genauso raffiniert. Sei vorsichtig mit dem, Victor.«
»Ich bin in allem vorsichtig«, sagte Farkas. »Das weißt du doch.«
»Ja. Ja, vorsichtig, das bist du bestimmt.«
Im Augenblick beobachtete Farkas argwöhnisch den Visor des Telefons, der plan in die Wand eingelassen war, und für Farkas sah das aus wie ein gelblich irisierendes isoskeles Dreieck, dessen lange schmale Obere Spitze sich nach hinten in die Wand zurückkrümmte, als wollte sie in eine andere Dimension hineingleiten. Das Kopf-Brustbild Olmos, zentral auf der Mittelachse nahe der Dreiecksbasis, prägte sich in Farkas' Sensorium als zwei abgeschrägte kobaltblaue Würfel aus, die beiläufig durch ein Zickzackband grellweißen diamantenen Lichts verbunden waren.
Die Luft im Raum war entnervend kühl und rein. Es war, als atmete man Parfüm ein. Die Luft war genauso künstlich, wie man sie in irgendwelchen geschlossenen Räumen auf der Erde zu atmen bekam, nein, eigentlich war sie das in noch stärkerem Maße, aber dennoch war es eine irgendwie andersartige Kunstluft. Farkas vermutete, dass man auf der Erde, anders als hier, allen möglichen Dreck aus der Luft herausfiltern musste, bevor sie in ein Gebäude gelangen durfte, Methan, das überschüssige CO2, und das ganze andere Treibhauszeug, so dass auf der Erde die Luft immer irgendwie steril und leblos wirkte, wenn sie durch die Filtersysteme geschleust worden war. Man wusste, es war Luft, die bearbeitet werden musste, damit man sie atmen konnte, und man atmete sie mit Argwohn. Man fragte sich, was die da – neben den Giftstoffen – sonst noch herausgenommen haben könnten. Aber in einem L-5-Satelliten dagegen bauten sie sich die Atmosphäre ganz neu auf, quirlten sich eine gesunde Mischung zusammen aus Sauerstoff, Stickstoff und Kohlendioxid und so weiter, und zwar in den Mengenverhältnissen, wie sie ursprünglich von ›Gott‹ beabsichtigt gewesen waren; nein, eigentlich sogar noch besser, als ›Gott‹ die Angelegenheit geregelt hatte, denn hier befand sich weniger relativ nutzloser Stickstoff in der Luft als auf der Erde, aber ein höherer Sauerstoffanteil, und es war nicht erforderlich, etwas aus der Luft herauszufiltern, da sie von Anfang an nichts enthielt, was nicht hineingehörte.
Und so war die synthetische Luft in den Habitaten voller und roch kräftiger als die denaturierte ›echte‹ Luft in abgeschotteten Häusern auf der Erde. Sie stieg einem richtig zu Kopf. Zu prickelnd, fand Farkas. Er wusste, es war eine sauberere Luft als die in irgendwelchen Innenräumen auf der Erde, aber so richtig an sie zu gewöhnen, hatte er bisher noch nie zustande gebracht. Er erwartete einfach, dass Luft schal und tot rieche, außer wenn man sich ohne Maske im Freien aufhielt und sich die Lungen mit all den wundervollen Wasserstoffen vollpumpte. Aber diese spritzige frühlingshafte Luft war ihm denn doch zu rein und gesund für seine Bedürfnisse.
Aber wenn ich ein bisschen länger Zeit habe, dachte er, werde ich das vielleicht mögen.
Zu Olmo sagte er: »Die Ware soll an einem Ort namens El Mirador gelagert sein. Mein Kurier bringt mich dann heute später dort hin, damit ich mir das Lagerhaus mal anschauen kann.«
»Bueno! Und du bist sicher, dass alles nach Plan gehen wird?«
»Bin ich. Sehr.«
»Hast du einen handfesten Grund für diese Überzeugung?«
»Reine Intuition«, sagte Farkas. »Aber ich habe ein Gefühl, dass es richtig ist.«
»Verstehe. Du verfügst über Sinne, die anders sind als bei uns. Du bist ein sehr außergewöhnlicher Mensch, Victor.«
Farkas gab darauf keine Antwort.
Olmo sagte: »Wenn die Ware deinen Wünschen entspricht, wann beabsichtigst du die Verschiffung vorzunehmen?«
»Schon sehr bald, glaube ich.«
»In die Heimatzentrale?«
»Nein«, sagte Farkas. »Der Plan wurde geändert. Die Zentrale verlangt, dass die Ware direkt in die Fabrik geliefert wird.«
»Ah. Verstehe.«
»Wenn du liebenswürdigerweise dafür sorgen könntest, dass die Verschiffungspapiere exakt in Ordnung sind, lasse ich es dich wissen, sobald wir die Ware auf den Weg bringen können.«
»Und die Zollgebühren …?«
»Werden auf die gewohnte Art geregelt. Ich glaube nicht, dass Don Eduardo Grund zur Klage haben wird.«
»Es wäre sehr peinlich, wenn es der Fall sein würde.«
»Es wird keinerlei Schwierigkeiten geben.«
»Bueno«, sagte Olmo. »Don Eduardo ist immer unglücklich, wenn wertvolle Güter aus Valparaiso Nuevo entfernt werden. Und man muss immer mit seinem Missfallen rechnen.«
»Ich sagte bereits, es gibt Entschädigung, oder?«
In Farkas' Stimme war auf einmal eine ganz neue Stärke, und Olmos Bild reagierte darauf mit einer leichten Farbänderung von Kobaltblau zu einem Fastschwarz, als wollte er Farkas zu verstehen geben, dass der Gedanke, die notwendigen Bestechungsgelder könnten irgendwie ausbleiben, ihn beunruhigte und dass er die unausgesprochene Zurechtweisung von Seiten des Blinden als beleidigend empfinde. Doch Farkas erkannte, dass die ursprüngliche Farbe nach einem Moment in Olmos Gesicht zurückkehrte; die kleine Krise war überstanden.
»Bueno!«, sagte Olmo wieder einmal. Und jetzt schien er das wirklich zu meinen.
El Mirador lag in seiner Speiche auf halber Strecke zwischen Nabe und Rand. In seine Schutzwand waren breite verglaste Fensternischen eingelassen, durch die man eine überwältigende Aussicht genießen konnte – auf das restliche Valparaiso Nuevo und auf die Sterne und die Sonne und den Mond und die Erde und all das. Als Juanito mit Farkas eintraf, lief gerade eine Sonnenfinsternis ab, keine große Seltenheit in Satellitenwelten, doch auch nicht eben gewöhnlich: die Erde war direkt vor die Sonne gepflastert, und es blitzte nur ein grellheißer Lichtschein drunten herauf, wie das Funkeln eines Diamanten aus einer goldenen Ringfassung. Das Dorf war von bläulich-roten Schatten erfüllt, tiefen, dichten Schatten, ein schwerer Samtvorhang, der sich über alles herabsenkte.
Juanito mühte sich zu beschreiben, was er sah. Farkas reagierte mit einer ungeduldigen fahrigen Armbewegung.
»Ich weiß, ich weiß. Ich fühle es in meinen Zähnen.« Sie standen auf einer breiten Personentransporttreppe und fuhren in den Ort hinab auf die Plaza. »Die Sonne ist im Moment lang und dünn, wie die Schneide einer Axt. Die Erde hat sechs Ecken, und jede glüht in einer anderen Farbe.«
Juanito starrte den Blinden erstaunt an.
»Wu ist hier«, fuhr Farkas fort. »Da drunten auf der Plaza. Ich fühle seine Gegenwart.«
»Aus einer Entfernung von hundert Metern?«
»Komm mit!«
»Was tun wir, falls er tatsächlich dort ist?«
»Bist du bewaffnet?«, fragte Farkas.
»Ich hab meinen Spike, ja.« Juanito klopfte sich auf den Schenkel.
»Gut. Stell ihn auf Schockstärke, aber benutze ihn möglichst überhaupt nicht, wenn's geht. Ich will nicht, dass du ihn irgendwie verletzt.«
»Verstanden. Du willst ihn selber umbringen, wenn du dazu Lust und Laune hast. Ganz gemütlich langsam, um das Vergnügen möglichst lang zu genießen.«
»Pass du nur einfach auf, dass ihm nichts geschieht, das ist alles«, sagte Farkas. »Und jetzt komm!«
Der Ort hatte ein altertümliches Aussehen, das klassische Bild einer lateinamerikanischen Kleinstadt; niedrige pastellfarbene Häuser mit massenhaft schmiedeeisernen Verzierungen an den Fassaden, die Plaza mit Pflastersteinen bedeckt, in der Mitte eine komplizierte Brunnenkonstruktion, an den Seiten malerische kleine Caférestaurants. In dem Ort lebten schätzungsweise zehntausend Personen, und es hatte den Anschein, als hätten sie sich allesamt in diesem Moment auf der Plaza versammelt, wo sie etwas tranken und sich die Sonnenfinsternis anschauten. Juanito war froh darüber. Die Verfinsterung war das Tagesereignis. Niemand schenkte ihnen Beachtung, als sie auf dem Personentransporter abwärts schwebten und auf die Plaza traten. Verdammt dickes Ding, dachte Juanito. Da kommst du an einen Ort, und ein Mann ohne Augen geht direkt hinter dir her, und keiner beachtet euch im geringsten. Aber wenn die Sonne wieder herauskommt, wird sich das vielleicht ändern.
»Dort ist er«, flüsterte Farkas. »Links, etwa fünfzig Meter entfernt, sechzig.«
Er gab die Richtung mit einer kaum merklichen Kopfdrehung an. Juanito spähte durch das trübe Purpurlicht nach vorn und konzentrierte sich auf das Café an der Plaza, das direkt neben dem vor ihnen lag. Etwa ein Dutzend Personen saßen dort in Grüppchen unter schillernden Fiberglasmarkisen bei ihren Drinks, plauderten und genossen den Tag. Eben einen angenehmen beiläufigen Nachmittag im guten alten gemütlichen El Mirador im verschlafenen alten Valparaiso Nuevo.
Farkas hatte sich zur Seite gedreht, zweifellos damit sein seltsames Gesicht teilweise verdeckt bliebe. Aus dem Mundwinkel sagte er: »Wu sitzt allein am vordersten Tisch.«
Juanito schüttelte den Kopf. »Die einzige allein sitzende Person ist eine Frau, etwa fünfzig, fünfundfünfzig Jahre, mit langem rötlichem Haar, großer Nase, unauffällige, fast schäbige Kleidung, seit zehn Jahren aus der Mode.«
»Das ist Wu.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«
»Die äußere Gestalt deines Körpers kannst du durch Retrofitting völlig anders aussehen lassen. Die nicht-visuellen Informationsdaten nicht, wie ich sie durch meine Blindsichtigkeit aufnehme. Als ich Dr. Wu zuletzt sah, war er für mich ein schwarzer spiegelblank polierter Metallkubus auf der Spitze über einem pyramidenförmigen kupferroten Piedestal. Ich war damals neun Jahre alt, aber ich schwor mir, dass ich nie vergessen würde, wie er aussah, und ich habe es nicht vergessen. Und diese Frauensperson, die da drüben ganz allein sitzt, sieht exakt so aus.«
Juanito starrte angestrengt hin. Aber er sah noch immer nur eine unscheinbare ältere Frau in unmoderner Kleidung. Juanito wusste, man konnte heutzutage per Retrofitting Wunder bewirken; sie konnten einem fast jeden Körper wachsen lassen, als handelte es sich um Kleidung von der Stange, indem man in die DNS einer Person hineinstocherte. Trotzdem fiel es Juanito schwer, sich die Frau dort drüben als einen verkleideten chinesischen Genspalter vorzustellen, und er hatte sogar noch größere Schwierigkeiten damit, in ihr einen glattpolierten Kubus an der Spitze einer kupferfarbigen Pyramide zu sehen.
Doch er vermochte beinahe den Schwall von heftigem Hass zu spüren, der von Farkas ausstrahlte. Deshalb wusste er, dass das Objekt tatsächlich die richtige Person war. Der Mann ohne Augen wollte eine entsetzliche Rache nehmen für das, was ihm bei der Geburt angetan worden war und das ihn so von allen anderen Menschen abgesondert hatte.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Juanito.
»Wir gehen rüber und setzen uns neben sie. Halte deinen Spike bereit. Aber ich hoffe, du wirst ihn nicht benutzen müssen.«
»Wenn wir sie festnehmen und sie ist nicht Wu«, sagte Juanito beklommen, »dann krieg ich verdammt viel Ärger, besonders wenn sie unseren El Supremo für das Asylrecht bezahlt. Asylprivilegierte Leute werden recht eklig, wenn ihre Privatsphäre verletzt wird. Sie könnte einen richtigen Stunk veranstalten, und bevor sie mit uns fertig ist, bist du ausgewiesen, und ich bezahle als Strafe ein Vermögen und ein halbes und werde möglicherweise ebenfalls ausgewiesen, und was ist dann? Wo soll ich leben, wenn ich von hier fort muss? Hast du daran gedacht?«
»Mach dir nicht soviel Sorgen«, sagte Farkas. »Das ist Dr. Wu, ganz bestimmt. Achte darauf, wie er reagiert, wenn er mich sieht, dann wirst du mir glauben.«
»Trotzdem verstoßen wir gegen das Asylgesetz. Er braucht bloß nach der Guardia Civil um Hilfe zu rufen.«
»Wir müssen ihm eben sofort klarmachen«, sagte Farkas, »dass das sehr töricht wäre. Kannst du mir folgen?«
»Aber ich soll ihn nicht verletzen«, sagte Juanito.
»Nein, auf gar keinen Fall greifst du ihn an. Du demonstrierst nur, dass du zur Gewaltanwendung bereit bist, sollte es sich als nötig erweisen.« Farkas wies fast unmerklich mit dem Kopf zu der Frau am vordersten Tischchen des Cafés hin. »Also, gehen wir jetzt! Du gehst zuerst und fragst höflich, ob du dich mit an den Tisch setzen kannst, und machst ein paar belanglose Bemerkungen über die Sonnenfinsternis. Ich komme so etwa dreißig Sekunden später nach. Alles klar? Guter Junge. Und jetzt, los!«
»Ihr müsst verrückt sein!«, sagte die rothaarige Frau, und sie klang wirklich ärgerlich und gereizt. Dabei schwitzte sie bemerkenswert heftig, und ihre Finger schlangen sich ineinander wie verschreckte Vipern. »Ich bin weder irgendein Doktor, und mein Name ist auch nicht Wu oder Fu, oder was ihr gesagt habt, und ich gebe euch genau zwei Sekunden Zeit zu verschwinden und mich in Ruhe zu lassen.« Aber die Frau schien nicht fähig, die Augen von der glatten leeren oberen Gesichtspartie von Farkas abzuwenden. Juanito begriff, dass er sich mittlerweile ganz gut an dieses seltsame Gesicht gewöhnt hatte, dass aber Farkas auf andere Leute wie eine Monstrosität wirken musste.
Farkas bewegte sich überhaupt nicht. Dann sagte die Frau mit ganz anderer Stimme ruhiger, als wäre sie jetzt nur neugierig geworden: »Was für ein Ding bist du überhaupt?«
Sie ist nicht Wu, entschied Juanito.
Der echte Wu hätte eine solche Frage nie stellen können. Der wirkliche Wu hätte Bescheid gewusst. Und er wäre geflohen. Und außerdem, das da war eindeutig eine Frau. Absolut überzeugend die Wangen, der Haaransatz, das weiche Fleischpolster unter dem Kinn. Frauen unterschieden sich an allen diesen Stellen von Männern. Auch ihre Handgelenke. Und wie sie saß. Und viele andere Anzeichen. Es gab einfach keine Genchirurgen in der Welt, die geschickt genug gewesen wären, ein derart überzeugendes Retrofitting durchzuführen. Juanito besah sich verstohlen die Augen, um zu entdecken, ob da noch eine Spur der ›Mongolenfalte‹ sichtbar sei, doch da war nichts. Die Augen waren graublau. Und die Chinesen hatten doch alle braune, dunkle Augen, oder? Aber so etwas ließ sich ja schließlich leicht ändern, dachte Juanito.
Farkas beugte sich dicht und bedrohlich zu der Person und sagte mit gedämpfter erregter Stimme: »Du weißt ganz genau, was ich bin, Doktor. Mein Name ist Victor Farkas. Ich kam während des Zweiten Aufbruchs in Taschkent zur Welt. Meine Mutter war die Frau des ungarischen Konsuls, und du hast an dem Fötus in ihrem Leib eine Genspleißung vorgenommen. Das war damals dein Spezialgebiet, die gentechnische Umgestaltung. Du erinnerst dich nicht mehr daran? Du hast meine Augen zerstört, Doktor, und mir an ihre Stelle die Blindsicht gegeben.«
Die Frau senkte den Kopf und blickte dann weg. Farbe stieg in ihre Wangen. Eine heftige innere Erregung schien sie ergriffen zu haben. Juanito wurde in seiner Überzeugung erneut unsicher. Vielleicht gab es tatsächlich Genchirurgen, die einen dermaßen perfekten Retrofit durchführen können, dachte er.
»Kein Wort davon ist wahr«, sagte die Frau. »Ich habe noch nie etwas von dir gehört, und ich war auch niemals an einem Ort, wie du ihn genannt hast. Du bist weiter nichts als ein geistig Verwirrter. Ich kann dir beweisen, wer ich bin. Ich habe Papiere. Du hast kein Recht, mich derart zu bedrängen!«
»Ich beabsichtige nicht, dir irgendwie Schaden zuzufügen, Doktor.«
»Ich bin kein Doktor.«
»Könntest du wieder einer werden? Für einen Preis?«
Juanito drehte sich herum und sah Farkas an. Mit einer solchen Wendung hatte er nicht gerechnet.
Der große Mann lächelte freundlich, saß vorgebeugt da und wartete auf eine Antwort.
»Ich werde mir das nicht weiter anhören«, sagte die Frau. »Du lässt mich jetzt sofort in Ruhe, oder ich rufe die Streife.«
Farkas sagte: »Hör mir jetzt ganz genau zu, Dr. Wu. Wir haben da ein Projekt, das für dich von großem Interesse sein könnte. Ich vertrete eine Technikergruppe, die ein Tochterunternehmen einer Gesellschaft ist, deren Namen du sicher kennst. Bei diesen Arbeiten geht es um Raumfahrtexperimente, um den ersten Interstellarflug mit Überlichtgeschwindigkeit. Den Schätzungen nach könnte das Programm in drei Jahren einen Flug starten. Vielleicht in vier.«
Die Frau stand auf. »So ein irrsinniges Zeug – es geht mich überhaupt nichts an.«
»Das Überlichtgeschwindigkeit-Feld verzerrt das Sehvermögen«, sprach Farkas weiter. Er schien nicht zu bemerken, dass die Frau aufgestanden war und sich nach einem Fluchtweg umsah. »Tatsächlich wird dabei das Sehvermögen überhaupt völlig gestört. Die Wahrnehmung wird total abnorm. Und eine Schiffsbesatzung mit normalem Sehvermögen würde einfach völlig außerstande sein, normal zu funktionieren. Aber es zeigt sich, dass jemand mit Blindsichtvermögen sich relativ problemlos an die eigentümlichen Veränderungen adaptieren kann, die das Feld auslöst. Wie du siehst, wäre ich geradezu ideal ausgerüstet für den Flug in solch einem Raumfahrzeug, und man hat mich auch tatsächlich bereits aufgefordert, am ersten Experimentalflug teilzunehmen.«
»Ich habe keinerlei Interesse daran, mir das anzuhören …«
»Der Spacedrive wurde aber bereits tatsächlich in Tests erprobt. In Bodentests, strikte Vorläufe, ohne Weitstreckentests, aber die theoretischen Ergebnisse sind höchst ermutigend. Ich war die Testperson. Deshalb sind wir recht zuversichtlich, dass das Projekt erfolgreich sein wird. Aber ich kann nicht allein fliegen. Wir haben ein Team von fünf Leuten gefunden, und die sind alle bereit, sich tektogenetischen Retrofits zu unterziehen, um ihnen das zu geben, was ich bereits habe. Und wir wissen von keinem anderen Menschen, der über eine so große Erfahrung auf diesem Sektor verfügt wie du. Wir möchten, dass du aus dem Ruhestand zurückkehrst und wieder aktiv wirst, Dr. Wu.«
Das war ganz und gar nicht so, wie Juanito sich den Verlauf des Treffs vorgestellt hatte. Er war völlig durcheinander.
Farkas sprach weiter: »Wir haben in einem Habitat in der Nähe ein Laboratorium für dich eingerichtet, mit allem, was du an Einrichtungen benötigen könntest, aber du brauchtest es nur zu sagen, wenn du etwas anderes oder mehr brauchst. Natürlich werden wir deine Mitarbeit sehr gut honorieren. Und auch für deine persönliche Sicherheit sorgen, solange du außerhalb von Valparaiso Nuevo bist. Also, was sagst du dazu? Kommen wir ins Geschäft?«
Die rothaarige Frauensperson bebte am ganzen Leib und wich langsam zurück. Farkas schien ihre Bewegungen nicht zu bemerken.
»Nein«, sagte die Frau. »Es ist so unendlich lange her. Und was ich einmal gekonnt habe, habe ich vergessen und begraben.«
Also hatte Farkas die ganze Zeit recht gehabt, dachte Juanito. Es gab keinen Zweifel mehr: Die Frau war sein Dr. Wu.
»Du könntest einen Auffrischungskurs machen«, sagte Farkas. »Ich glaube einfach nicht, dass man eine große Begabung, wie es die deine war, wirklich verlieren kann, was meinst du?«
»Nein … Bitte! Lasst mich in Ruhe!«
Juanito war bestürzt, wie schief er die ganze Sache von Anfang an gesehen hatte. Er hatte alles falsch interpretiert: diesen angeblichen Racheplan. Selten in seinem Leben hatte er sich bisher dermaßen geirrt. Farkas war nicht hergekommen, um seine Rechnung mit Wu zu begleichen. Das begriff er nun. Sondern nur wegen eines Geschäfts, anscheinend im Auftrag von Kyocera-Merck. Farkas scherte sich einen Furz um seine Rache. Und er war auch überhaupt nicht mehr böse auf den Genchirurgen wegen dem, was dieser ihm vor langer Zeit angetan hatte. Nein.
Der Mann war sonderbarer, als Juanito bisher geglaubt hatte.
»Was sagst du dazu?«, wiederholte Farkas.
Statt zu antworten, machte die Frau – Dr. Wu – noch ein paar Schritte rückwärts. Sie/er schien in der nächsten Sekunde fluchtartig davonstürzen zu wollen.
»Wohin geht er?«, fragte Farkas hastig. »Lass ihn nicht entkommen, Juanito!«
Wu wich immer noch zurück, rascher jetzt, ohne direkt zu laufen, aber zielsicher dem geschlossenen Teil des Cafés zustrebend. Farkas machte eine scharfe Handbewegung, und Juanito nahm die Verfolgung auf. Mit dem Spike konnte er auf fünfzehn Schritt einen Betäubungsschlag verabreichen. Doch in diesem Menschengedränge konnte er Wu nicht einfach umlegen, jedenfalls nicht wenn sie Asylschutz hatte, und schon gar nicht an einem Ort wie El Mirador. Eine Minute später würden sich fünfzig Sanctuarios auf ihn stürzen. Die Asylanten würden sich ihn packen und ihn zusammenschlagen und seine Vorhaut für zweieinhalb Callies an die Leute des Generalissimo verkaufen.
Es war dunkel in dem Café und sehr voll. Juanito erspähte die Frau im hinteren Teil, in der Nähe der Toiletten. Na, geh schon, dachte er. Geh schon ins Damenklo. Aber ich komme dir direkt nach. Es ist mir verdammt egal.
Doch Wu ging an den Toiletten vorbei und glitt in eine Nische neben der Küche. Zwei mit vollen Tabletts beladene Kellner kamen heran, funkelten Juanito böse an und fauchten, er solle nicht im Weg herumstehen. Es dauerte ein bisschen, bis er sich an ihnen vorbeigedrückt hatte, und danach konnte er die rothaarige Frau nirgends mehr sehen. Ihm war klar, dass er mit Farkas schweren Zoff kriegen würde, wenn er seine Beute hier drinnen verlor. Farkas würde toben. Farkas würde ihm die Wochengage vorenthalten wollen, höchstwahrscheinlich. Zweitausend Callies den Bach runter, von den Sonderspesen ganz zu schweigen.
Und dann griff eine Hand aus der Nische und packte ihn mit erstaunlicher Heftigkeit am Unterarm. Er wurde ein Stück weit in einen beklemmenden Raum gezerrt, ein Spielzimmer, das von einem knisternden grünen Dunst erfüllt war, der von einer seltsamen Maschine an der gegenüberliegenden Wand ausging. Die rothaarige Frau starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
»Er will mich umbringen, nicht wahr? Das Gerede, dass ich Retrofit-Operationen machen soll, das ist doch Quatsch, oder?«
»Ich glaube, er meint es ernst«, sagte Juanito.
»Kein Mensch würde sich freiwillig bereit erklären, seine Augen für Blindsichtigkeit aufzugeben.«
»Woher soll ich das wissen? Die Leute machen alle möglichen verrückten Sachen. Aber ich glaube, wenn er vorhätte, dich zu töten, dann hätte er anders operiert, als wir dich aufgespürt hatten.«
»Er wird mich von Valparaiso fortbringen und anderswo umbringen.«
»Das weiß ich nicht«, sagte Juanito. »Er hat mir seine Pläne nicht mitgeteilt. Ich erledige nur eine Arbeit.«
»Wie viel hat er dir bezahlt, mich aufzufinden?« Es klang heftig. »Wie viel?« Dann ein hastiger Blick nach unten. »Ich weiß, du hast einen Spike in der Tasche. Lass den dort und gib mir Antwort. Wie viel?«
»Dreitausend Callies pro Woche«, stammelte Juanito und stapelte ein bisschen hoch dabei.
»Ich zahle dir fünf, wenn du mir hilfst, ihn loszuwerden.«
Also, das war ehrlich eine echte Wendung. Doch Juanito zögerte. Farkas verraten und verkaufen? Er war sich nicht sicher, ob er so schnell die Seiten würde wechseln können. Vertrug es sich mit der Berufsehre, wenn man auf ein höheres Gebot einging?
»Acht«, sagte er nach einer Weile.
Und warum nicht, verdammt? Er schuldete Farkas keine Loyalität. Das hier war eine asylantenfreundliche Welt; hier genoss Wu, dank der mitleidvollen Güte von El Supremo, das Recht auf Schutz. Und es war die Pflicht eines jeden Bürgers, seine Mitbürger vor jedem Schaden zu schützen. Und achttausend Callies ein ganz hübscher Packen Geld.
»Sechs-fünf«, sagte Wu.
»Acht, oder es gibt keinen Deal. Handschlag jetzt sofort. Du hast deinen Handschuh mit?«
Die Frau, die einmal Dr. Wu Fang-shui gewesen war, gab ein verärgertes Brummen von sich, dann zog sie ihr Flexterminal heraus. »Konto 1133«, sagte Juanito, und sie machten den Transfer. »Und wie willst du jetzt weiter verfahren?«, fragte Juanito.
»Direkt hinter dem Café hier gibt es einen Durchgang in die äußere Hülle. Du siehst, wie ich da hinüberschlüpfe, und ihr folgt mir beide. Sobald wir alle drin sind und er auf mich zukommt, gleitest du hinter ihn und legst ihn mit dem Spike um. Und dort lassen wir ihn begraben sein.«
In Wus Augen lag ein bedrohliches Glitzern. Es war beinahe, als würde der so geschickt konstruierte Retrofit-Körper von Sekunde zu Sekunde dahinschmelzen und der echte Wu darunter immer mehr auftauchen. »Hast du mich verstanden?«, fragte Wu. Ein scharfer durchdringender Blick. Und das Gesicht eines verwirrten alten Weibes, aber die Augen waren die eines Teufels. »Ich habe dich gekauft, mein Junge. Und ich erwarte, dass du dich an deinen Vertrag hältst, auch wenn wir in der Außenschale sind. Du verstehst mich doch? Verstehst du, ja? Gut!«