Debüt in Echo

Man weiß nie, wohin es einen verschlägt. Was das angeht, bin ich Spezialist. Die ersten neunundzwanzig Jahre meines Lebens war ich ein klassischer Versager. Der Mensch hat die Neigung, die verschiedensten Gründe für seinen Misserfolg zu suchen und zu finden. Mit so etwas habe ich mich nie beschäftigt, denn bei mir war die Ursache stets klar.

Schon als Kind hatte ich Probleme, nachts durchzuschlafen. Morgens hingegen schlief ich angenehm tief, besonders in den Stunden, da man das Glück verteilt. Am Osthimmel der ungerechtesten aller Welten stand in Flammenschrift der Spruch Morgenstund hat Gold im Mund. Ist es tatsächlich so?

Der wahre Alptraum meiner Kindheit war das tägliche Warten auf den schrecklichen Moment, da es hieß: »Gute Nacht, mein Schatz, gib Mami ein Küsschen und ab ins Bett.« Die Zeit unter der Bettdecke war vergeudet, denn sie bestand allein aus hoffnungslosen Einschlafversuchen. Natürlich habe ich auch angenehme Erinnerungen an die unvergleichliche Freiheit, die man - wie ich schnell begriff - hat, wenn alle anderen schlafen. Man muss allerdings lernen, keine Geräusche zu machen und die Spuren seines geheimen Tuns zu verbergen.

Doch das Schlimmste war das mühsame Aufstehen morgens, nachdem es mit dem Einschlafen endlich geklappt hatte. Natürlich hasste ich meine Schule, verspottete mich darüber aber selbst. Die ersten zwei Jahre fand der Unterricht nur nachmittags statt, und ich gehörte prompt zu den besten Schülern. Das war ich danach nicht mehr - bis zum Treffen mit Sir Juffin Halli.

Wie zu erwarten, vergrößerten sich meine Schlafprobleme im Laufe der Zeit ständig, was mein gedeihliches Hineinwachsen in die Gesellschaft verhinderte. Als ich mich gerade endgültig davon überzeugt hatte, dass eine Nachteule wie ich in einer Welt, in der die Frühaufsteher regieren, nichts zu suchen hat, traf ich Sir Juffin Halli.

Seiner Initiative verdankte ich die Bereitschaft, mich von meinem Elternhaus zu entfernen, und einen Job, der meinen Neigungen und meinem Ehrgeiz voll entspricht: Ich bin das Nachtantlitz des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps der Stadt Echo.

Die Geschichte meines Eintritts in diesen Dienst ist so ungewöhnlich, dass ich sie später gesondert erzählen werde. Vorerst beschränke ich mich darauf, die weiter zurückliegenden Ereignisse zu skizzieren.

Ich sollte wohl damit anfangen, dass Träume für mich seit eh und je ein wesentlicher Teil des Lebens sind. Wenn ich aus einem Alptraum erwachte, war ich zutiefst überzeugt, mir drohe tatsächlich Gefahr. Nachdem ich mich in eine Schönheit aus einem Traum verliebt hatte, konnte ich mich gleich von meiner Freundin trennen. In meiner Jugend hatte ohnehin jeweils nur eine Leidenschaft in meinem Herzen Platz. Wenn ich im Schlaf ein Buch gelesen hatte, zitierte ich meinen Freunden am nächsten Tag munter daraus. Als ich im Traum eine Reise nach Paris machte, behauptete ich danach dreist, die Stadt schon besucht zu haben. Dabei war ich kein Angeber, oh nein, doch ich spürte, sah und begriff tatsächlich keinen Unterschied zwischen Traum und Realität.

Ab und an träumte ich auch von Sir Juffin Halli. Langsam freundeten wir uns an, wenn man das so sagen kann.

Sir Juffin ist ein extravaganter Typ, den man leicht für den älteren Bruder des Schauspielers Rutger Hauer halten könnte. Sollten Sie genug Fantasie haben, so ergänzen Sie seine imposante Gestalt um sehr helle, schmale und starr blickende Augen. Dieser lebensfrohe Mann, dessen Allüren so ganz anders waren als die eines östlichen Kaisers oder eines Zirkusdirektors, eroberte das Herz des früheren Max, an den ich mich noch recht gut erinnere, wie im Flug.

In einem meiner Träume grüßten wir uns plötzlich und redeten bald darauf über Kleinigkeiten, wie Stammgäste eines Cafes es so tun. Diese Art der Traumbegegnungen dauerte ein paar Jahre, und dann bot Juffin mir seine Hilfe an. Er sagte mir mit ganz normaler Stimme, ich würde über außergewöhnliche magische Kräfte verfügen, die es zu entwickeln gelte, wenn ich nicht den Herbst meines Lebens in einer psychiatrischen Klinik begrüßen wolle. Und er schlug vor, mein Trainer, Arbeitgeber und guter Onkel zugleich zu werden. Dieser absurde Antrag erschien mir damals gefährlich verführerisch. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich bei mir keine besondere Begabung bemerkt, und mir wurde langsam klar, dass es mit meiner Karriere - gelinde gesagt - nicht recht bergauf ging. Sir Juffin, der sich so sehr für meine hypothetischen Fähigkeiten begeisterte, schöpfte mich aus der Realität wie ein Klößchen aus der Suppe. Bis zum letzten Moment glaubte ich fest daran, Opfer meiner Einbildungskraft zu sein. Fürwahr - der Mensch ist ein seltsames Wesen!

Den Bericht über meine erste Reise zwischen den Welten verschiebe ich auf später. An die ersten Tage meines Lebens in Echo erinnere ich mich fast gar nicht, begriff davon noch weniger und betrachtete - ehrlich gesagt - alles, was ringsum geschah, teils als langen Traum, teils als Kette komplizierter Halluzinationen. Ich versuchte nicht, die Situation zu durchschauen, sondern war ganz darauf konzentriert, die auftauchenden Probleme zu lösen. Damit hatte ich genug zu tun. Zuerst nahm ich an einem Intensivkurs zur Integration in mein neues Leben teil. Es erwies sich, dass ich unbedarfter als ein Neugeborenes war. Das brüllt vor sich hin und macht in die Windeln, verletzt dabei aber keine lokalen Sitten und Gebräuche. Ich hingegen machte am Anfang alles falsch und musste ordentlich schwitzen, damit man mich nicht weiter für einen Dorftrottel hielt.

Als ich mich zum ersten Mal im Haus von Sir Juffin Halli einfand, war er noch nicht da. Als Ehrwürdiger Leiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs war Halli ein vielbeschäftigter Mann und musste irgendwo stecken geblieben sein.

Der alte Haushofmeister Kimpa, der von seinem Herrn erfahren hatte, dass ich zu den Gästen der Kategorie de luxe gehörte, war ausgesprochen verblüfft, denn bisher hatten nur anständige Leute das Haus besucht.

Ich begann mein neues Leben mit der Frage nach dem Klo. Auch das erwies sich als Fauxpas, denn alle Bürger des Vereinigten Königreichs, die älter als zwei Jahre sind, wissen, dass sich Bad und Toilette im Keller eines jeden Hauses befinden und man sie über eine separate Treppe erreicht.

Und dann mein Aussehen! Meine Jeans und mein Pulli, meine Weste aus ungefärbtem Leder und meine schweren, stumpfnasigen Schuhe eigneten sich sehr gut, den Alten zu schockieren, der gewöhnlich gleichmütig wie der Monsunregen war. Zehn Sekunden lang musterte er mich von Kopf bis Fuß. Sir Juffin schwor später übrigens, so viel Aufmerksamkeit habe Kimpa zuletzt der ruhigen Mrs Kimpa am Hochzeitstag geschenkt. Das allerdings war vor ungefähr zweihundert Jahren gewesen. Kaum hatte der Alte mich lange genug angestarrt, befahl er mir, mich umzuziehen. Ich widersetzte mich nicht, um die Erwartungen des irritierten Greises nicht zu enttäuschen.

Damit begann etwas Schreckliches. Ich stand vor einem Haufen bunt gemusterter Kleidungsstücke, den ich mit vor Erregung schwitzenden Händen durchwühlte und dabei entnervt die Augen rollte. Zum Glück hatte Kimpa ein erfülltes Leben hinter sich und bestimmt viel Außergewöhnliches gesehen, darunter auch Dummköpfe wie mich, denen die elementarsten Dinge fremd sind. Um dem guten Namen seines vergötterten Chefs keine Schande zu machen, half er mir. Zehn Minuten später sah ich einem eingeborenen Bewohner von Echo ziemlich ähnlich, kam mir aber völlig albern vor. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass meine Kostümierung unauffällig war und nicht nach ein paar Schritten auseinanderfiel, fand ich mich mit ihr ab.

Dann begann die nächste Nervenprobe: das Mittagessen. Kimpa, die gute Seele, leistete mir Gesellschaft, damit ich die Zeit sinnvoll nutzte. Bei jedem Gang des Menüs studierte ich die Handbewegungen meines Lehrers und versuchte, das abgeguckte Wissen anzuwenden, indem ich mein Essen mit dem passenden Besteck zum Mund führte. Und immer achtete ich darauf, seinen Gesichtsausdruck nachzuahmen - das konnte ja nicht schaden!

Später ließ Kimpa mich in Ruhe und forderte mich auf, mir Haus und Garten anzuschauen. Das machte mir viel Spaß. Chuf - ein kleines, bezauberndes Wesen, das einer Bulldogge ähnelte - leistete mir Gesellschaft. Er war im Grunde genommen mein Cicerone. Ohne ihn hätte ich mich in dem riesigen, halb leeren Haus sicher verirrt und kaum die Tür ins dicke Gestrüpp des Gartens gefunden. Dort legte ich mich ins Gras und konnte mich endlich erholen.

Bei Sonnenuntergang ging der alte Haushofmeister feierlich in seinen kleinen Schuppen in einem Winkel des Gartens und fuhr kurz darauf mit einem Technikwunder vor, einem Fahrzeug, das aussah, als ließe es sich nur mit einem Zugtier fortbewegen, aber von alleine fuhr. Mit Hilfe eines Aggregats rollte es so schnell davon, wie seine Größe erwarten ließ. Später erfuhr ich übrigens, dass Kimpa in seinem langen Leben auch mal Läufer gewesen war. Seine Geschwindigkeit ließ sich freilich nicht mit der von A-Mobilen - wie man diese merkwürdigen Fortbewegungsmittel nannte - vergleichen.

Kimpa kam nicht allein zurück: Sir Juffin Halli persönlich - mein alter Bekannter und Bewohner meiner fabelhaften Träume - thronte auf den weichen Kissen der Benzinkutsche.

Endlich begriff ich: Alles, was passiert war, war tatsächlich geschehen! Ich erhob mich ein wenig, um ihn zu begrüßen, fiel aber gleich wieder ins Gras, schaute ihn finster an und machte ein dummes Gesicht. Gleich darauf sah ich zwei lächelnde Sir Juffins auf mich zukommen. Mühsam wählte ich einen aus, rappelte mich auf und wäre fast wieder umgekippt. Ich fühlte mich ungeheuer tapfer.

»Macht nichts, Max«, meinte Sir Juffin Halli und lächelte mich verständnisvoll an. »Auch mir geht es oft schlecht, und ich habe dabei die gleichen Erfahrungen gemacht. Ich bin froh, dich endlich in natura kennenzulernen!« Dann legte er die linke Hand an die Brauen und rief triumphierend: »Du bist es wirklich!« Er nahm die Hand runter und zwinkerte mir zu: »So begrüßt man sich hier, Max! Wiederhole!«

Auch ich legte die Hand an die Brauen und rief: »Ihr seid es wirklich!«

»Für den Anfang nicht schlecht«, meinte Halli. Dann machte ich es noch siebzehn Mal und fühlte mich wie ein geistesschwacher Kronprinz, der einen Benimmlehrer bekommen hat.

Leider beschränkten sich die Erlebnisse dieses Tages nicht nur auf das Erlernen der Echo-Etikette. Das Hauptproblem ist, dass hier seit Ewigkeit mächtige Magier wohnen. Meiner Ansicht nach gehören alle Eingeborenen bis zu einem gewissen Grade dazu. Glücklicherweise hatte man die uralte Rivalität der magischen Orden durch den Frieden zwischen König Gurig VII. und dem Orden des Siebenzackigen Blattes beendet. Das war hundertzwölf Jahre vor meiner Ankunft in Echo gewesen. Seither dürfen sich die Bürger nur einfachster Magie bedienen - vor allem auf kulinarischem und medizinischem Gebiet. Magie braucht man hier beispielsweise zur Vorbereitung der Kamra, die man in Echo statt Tee und Kaffee trinkt. Dieses Getränk schmeckt ohne magische Formel zu bitter. Mit einem anderen Zauberspruch bleibt die Butterdose sauber - eine epochale Errungenschaft, wie ich finde!

Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich dem Orden des Siebenzackigen Blattes bin, dessen Umtriebe und Intrigen den Lauf der Geschichte verändert haben. Beispielsweise brauche ich den 234. Grad der Weißen Magie nicht zu erlernen, von dem Kenner behaupten, er sei der Gipfel der menschlichen Möglichkeiten. Ich habe mich entschieden, in den offiziell erlaubten Zaubertricks die Grenze meiner bescheidenen Möglichkeiten zu sehen. Ich bin gewissermaßen ein invalider Virtuose - wie Douglas Bader, das britische Flieger-Ass ohne Beine. Sir Juffin Halli behauptet dagegen, meine größte Stärke sei, der Wunderwelt anzugehören, was aber nicht die Fähigkeit einschließt, mit ihr zurechtzukommen.

Am Abend des ersten Tages meines neuen Lebens stand ich in dem mir zugeteilten Schlafzimmer vor dem Spiegel und begutachtete mich. In den schmalen Falten der Skaba (einer langen, einfachen Tunika) und den breiten Falten des Lochimantels - des hiesigen Kompromisses zwischen langem Gewand und Poncho - kam ich mir wie eine Schaufensterpuppe vor. Der ausgefallene Turban stand mir sehr gut dazu. In diesem Aufzug fiel es mir leichter, das seelische Gleichgewicht zu bewahren. Ich brauchte mir keine Gedanken zu machen und versuchte nicht mehr zu begreifen, was eigentlich mit mir passiert war. Der Junge dort im Spiegel konnte jeder beliebige Mensch sein, auf keinen Fall aber mein guter alter Bekannter Max.

Chuf tauchte auf, kläffte freundlich und stupste die Nase gegen mein Knie. »Wie groß und hübsch du bist!«, vernahm ich plötzlich und begriff dann, dass ich seine Gedankenstimme gehört hatte. Der kluge kleine Hund war der Erste, der mir die Stumme Rede dieser Welt beibrachte. Wenn ich irgendwann den vierten Grad der Weißen Magie verstehen sollte, gebührt diesem seltsamen Tier ein großes Kompliment.

Die Zeit verging schnell. Ich schlief bis weit in den Tag hinein und stand erst abends auf, zog mich an und las mir mancherlei vor. Zum Glück gab es nie Verständigungsprobleme zwischen mir und den Bewohnern des Vereinigten Königreichs. Warum das so war, weiß ich bis heute nicht. Ich musste mich nur an die hiesige Aussprache gewöhnen und ein paar neue Ausdrücke lernen. Das war zu schaffen!

Kimpa beobachtete meine Studien unaufdringlich, aber scharf. Er bekam den Auftrag, mich, den Barbaren, in einen echten Gentleman zu verwandeln, der irgendwo an der Grenze zwischen der Grafschaft Wuk und den Leeren Ländern geboren war. So lautete mein offizieller Lebenslauf für Kimpa und alle anderen.

Eine gute Geschichte, wie ich jetzt weiß. Im Genre der improvisierten Fälschung ist sie ein echtes Meisterwerk von Sir Juffin. Von Echo aus gesehen ist die Grafschaft Wuk der am weitesten entfernte Teil des Vereinigten Königreichs. Die dünn besiedelten Ebenen an Wuks Grenzen gehen allmählich in die riesigen unbewohnten Gebiete der Leeren Länder über, die längst nicht mehr zum Vereinigten Königreich gehören. Wozu braucht man schon Leere Länder? Nur wenige Hauptstadtbewohner waren je dort gewesen, und man hielt jede Reise dorthin für ein leichtsinniges und riskantes Unternehmen. Nach Auffassung von Sir Juffin sind mehr als die Hälfte der Bewohner der Leeren Länder ungebildete Nomaden, während der Rest aus den vor hundertzwölf Jahren geflohenen rebellischen Magiern besteht, die man in der Hauptstadt auch nicht gerade mit Aufmerksamkeit verwöhnt.

»Egal was du unternimmst«, erklärte Sir Juffin, während er genüsslich in seinem Lieblingssessel schaukelte, »du brauchst dich für nichts zu entschuldigen. Deine Herkunft bleibt für die snobistischen Blicke der Hauptstadt die beste Erklärung all deiner Verfehlungen. Das kannst du mir glauben. Ich bin selbst aus Kettari gekommen, einem kleinen Städtchen in der Grafschaft Schimar. Das ist Jahre her, doch man erwartet von mir bis heute stets exzentrische Dinge. Die Leute sind sogar beleidigt, wenn ich mich normal benehme.«

»Prima! Dann fange ich gleich damit an!«, rief ich und tat, worauf ich schon lange Lust gehabt hatte: Ich nahm eine kleine warme Pirogge vom Teller, ohne das dafür vorgesehene Häkchen zu benutzen, das eher einer Zahnarztwaffe als einer Gabel glich.

Sir Juffin grinste gönnerhaft. »Aus dir wird noch ein ausgezeichneter Barbar, Max. Da mach ich mir keine Sorgen!«

»Ich mir auch nicht!«, antwortete ich mit vollem Mund. »Wissen Sie, Juffin - seit meiner Geburt bin ich davon überzeugt, dass ich am besten selbst auf mich aufpassen kann. Das Urteil anderer interessiert mich keinen Pfifferling! Ich liebe mich viel zu sehr, um mich mit Selbstrechtfertigungen zu quälen, wenn Sie wissen, was ich meine.

»Du bist ein Philosoph«, meinte Sir Juffin Halli und schien ganz zufrieden mit mir zu sein.

Doch zurück zu meinem Unterricht. Noch nie hatte sich meine Leidenschaft für das Gedruckte als so nützlich erwiesen wie in diesen ersten Tagen. Nachts verschlang ich Bücher aus Sir Juffins Bibliothek, lernte dadurch die neue Umgebung kennen, erforschte einige Besonderheiten der hiesigen Mentalität und büffelte eine ganze Reihe hübscher Wendungen und Ausdrücke. Chuf folgte mir auf Schritt und Tritt und übte mit mir ständig Stumme Rede. Am Abend, der inzwischen in der Mitte meines Tages lag, erschien Sir Juffin, und wir aßen zusammen. Unauffällig prüfte er dabei meine Fortschritte in allen Bereichen. Nachdem wir ein, zwei Stunden miteinander verbracht hatten, verschwand er gewöhnlich im Schlafzimmer, und ich ging wieder in die Bibliothek.

Zwei Wochen nach meiner Ankunft stellte Sir Juffin eines Abends fest, dass ich schon beinahe einem Menschen ähneln und als solcher eine Belohnung verdienen würde.

»Heute essen wir im Fressfass, Max! Auf diesen Tag habe ich lange gewartet!«

»Wo essen wir?«

»In Bunbas Fressfass, dem angesagtesten Wirtshaus von Echo: heiße Pasteten, die beste Kamra, die fantastische Madame Zizinda und um diese Zeit keine Gegnerfratzen.«

»Also nur Freundesfratzen?«

»Überhaupt keine Fratzen. Das Lokal ist übrigens hübscher als die meisten Bewohner von Echo.«

»Wieso das denn?«

»Das wirst du schon sehen. Na los, zieh dich an. Ich hab einen Bärenhunger.«

Ich tauschte meine Hauspantoffeln gegen hohe Mokassins, die wie echte Stiefel aussahen. Dadurch wirkte ich so elegant, als wollte ich gleich die Führerscheinprüfung machen, die übrigens kein Grund zur Panik gewesen wäre, da das Führen von A-Mobilen kein Problem für mich war. Ich hatte nämlich einschlägige Erfahrungen, weil ich in der alten Welt die rote Rostmühle meines Cousins übernommen hatte, als der sich einen teuren Schlitten leisten konnte. Hier in Echo hatte Kimpa mir vor ein paar Tagen einige Tricks gezeigt, die sich allesamt mit einem Handgriff bewerkstelligen ließen. Anschließend hatte er sich fünf Minuten von mir chauffieren lassen und gemeint: »Du kannst es.« Danach hatte er mir zugewinkt und war weggegangen. Jetzt beurteilte auch Juffin meine Professionalität und sagte: »Junge, das Leben ist gar nicht so schwer!« Fünf Minuten später fügte er hinzu: »Schade, dass ich keinen Chauffeur brauche, sonst würde ich dich einstellen.« Fast wäre ich vor Freude geplatzt!

Das A-Mobil ließ sich so leicht steuern, dass mich das Chauffieren nicht von der ersten Kontaktaufnahme mit der Stadt Echo ablenkte. Zuerst fuhren wir durch enge Gassen, die sich zwischen den städtischen Obstgärten am Linken Flussufer entlangschlängelten. Die hiesigen Grundstücke waren ganz nach dem Geschmack ihrer Besitzer beleuchtet. Also fuhren wir durch bunte Lichtquadrate, die mal gelb oder rosa, mal blau oder lila waren. Ich hatte mich schon früher für die Obstgärten am Linken Flussufer begeistert, die ich nachts von Juffins Haus aus hatte sehen können. Von einem blass beleuchteten Lichtsee in den anderen zu wechseln, hat etwas - das sage ich Ihnen!

Plötzlich erreichten wir eine breite Allee oder doch etwas, das ich anfangs für eine Allee hielt. Links und rechts strahlten aus teils schon geschlossenen, teils noch geöffneten Geschäften zahlreiche Lichter in allen Farben. Ich merkte schnell, dass ich mich in der Stadtlandschaft noch nicht richtig auskannte. Wir waren hier am Kamm von Echo, an einer der Brücken also, die die Ufer des Flusses miteinander verbinden. Zwischen den Häusern glänzte manchmal das Wasser des Churon, des eindeutig hübschesten Flusses des Vereinigten Königreichs. Ich blieb einfach stehen, und die ganze Pracht stürzte von allen Seiten auf uns ein. Burg Rulch - die königliche Residenz auf einer großen Insel im Fluss - leuchtete rechts in allen Farben des Regenbogens. Links schimmerte eine andere Insel in gleichmäßigem Blau.

»Das ist der Turm Cholomi, Max. Er steht auf der gleichnamigen Insel. Ein toller Ort!«

»Toll?«

»Na ja, der Leiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps hält ihn für das bezauberndste Fleckchen von Echo. Und du weißt ja, dass ich diese Funktion ausübe«, sagte Sir Juffin lächelnd.

»Und ich vergaß, mit wem ich mich eingelassen habe.«

Ich warf Juffin einen Blick zu, der ihn eine Fratze schneiden und abwinken ließ. Wir lachten beide.

Weiter ging's. Das Linke Flussufer! Juffin fing an, mich zu dirigieren. »Rechts, wieder rechts, dann links!« Ich war gehorsam wie ein Armeefahrer. Warum, weiß ich nicht. Nach einer Weile landeten wir in der Straße der Kupferkessel.

»Irgendwo da steht unser Haus an der Brücke«, meinte Juffin und zeigte in die orangefarbene Dämmerung der Straßenlaternen. »Aber die Zeit für deinen Besuch dort wird erst noch kommen. Und jetzt - stopp! Wir sind da!«

Wir hielten an, und zum ersten Mal trat ich auf den mit Mosaiken geschmückten Gehsteig des Rechten Flussufers. Ich unterdrückte ein gefährliches Kopfschütteln und ging ins Fressfass - das Lieblingswirtshaus meiner Träume und der Ort, an dem ich mich immer mit Sir Juffin getroffen und wo ich sein merkwürdiges Jobangebot so leichtsinnig angenommen hatte.

Ohne nachzudenken, steuerte ich meinen Lieblingsplatz zwischen Theke und Fenster an. Eine appetitliche Brünette lächelte mir wie einem alten Kunden zu. Es war Madame Zizinda, die Enkelin des im Namen des Lokals verewigten Vielfraßes Bunba.

»Hier gefällt es mir am besten«, stellte Juffin fest. »Die wichtigste Regel bei der Auswahl deiner künftigen Kollegen lautet: Wenn ihnen die gleiche Küche und der gleiche Tisch wie dir gefällt, ist eine psychische Bindung gewährleistet.«

In diesem Augenblick stellte Madame Zizinda eine Schüssel heiße Pasteten auf den Tisch. Die übrigen Ereignisse des Abends verschweige ich, bis ich einen Touristenführer mit dem Titel »Die besten Wirtshäuser der Stadt Echo« verfasse.

Zwei Tage später kam es zu meinem nächsten Auftritt in der großen Welt. Kurz vor Einbruch der Dämmerung, als ich gerade frühstücken wollte, kehrte Sir Juffin nach Hause zurück.

»Heute ist dein Jubiläum«, erklärte er und nahm mir mein Schälchen mit Kamra weg. Er hielt es wohl nicht aus, bis Kimpa ihm eine Portion zubereitet hatte. »Also testen wir deine Fortschritte heute an meinem Lieblingsnachbarn. Wenn der alte Makluk mich danach noch grüßt, werte ich das als Zeichen dafür, dass du reif genug bist, selbständig zu leben. Meiner Ansicht nach findest du dich ungemein rasch zurecht - so rasch, dass ich den Eindruck habe, kein objektiver Beobachter mehr zu sein. Vielleicht ist es ja so, dass ich dich zu schnell in meine Arbeitsgruppe integrieren will.«

»Denken Sie daran, Juffin: Er ist Ihr Nachbar, und Sie werden weiter mit ihm leben müssen.«

»Makluk ist nett und harmlos. Außerdem ist er beinahe ein Einsiedler. Der Alte hatte Menschen schon satt, als er noch am Königshof arbeitete und Rechte Hand des Klärers bedauerlicher Missverständnisse war. Jetzt kann er nur noch mich und zwei weitere Witwer ertragen, die genauso betagt sind wie er - und auch das nur selten.«

»Sie sind verwitwet?«

»Ja, schon über dreißig Jahre. Das ist kein Tabu mehr. Nur die ersten zwanzig Jahre mochte ich nicht darüber sprechen. Hier heiratet man spät und hofft, lange zusammenzuleben. Wir glauben auch, das Schicksal sei klüger als das Herz - nimm also nicht alles so ernst!«

Damit ich das schon mal trainieren konnte, schnappte er mir schnell die zweite Portion Kamra weg, auf die ich mich schon gefreut hatte.

Kurz darauf putzten wir uns festlich heraus und traten unseren Besuch an. Der hiesige Sonntagsstaat unterscheidet sich nur durch die Pracht der Muster und Farben von der Alltagskleidung, nicht durch den Schnitt, an den ich mich langsam gewöhnte. Erneut kam ich mir vor, als ginge ich zu einer Prüfung. Mein Herz tobte, als suchte es den kürzesten Weg in die Fersen.

»Max, seit wann bist du so ernst?« Der schlaue Fuchs Juffin hatte sofort gemerkt, was mit mir los war. Mein Seelenleben stand ihm wie eine Schlagzeile vor Augen.

»Ich versetze mich allmählich in meine Rolle«, brachte ich heraus. »Darf ein Barbar aus der Provinz etwa nicht aufgeregt sein, wenn er einen Menschen trifft, der das ganze Leben lang von Seiner Majestät Schläge ins Genick bekommen hat?«

»Schlagfertigkeit: gut. Gelehrigkeit: gut bis sehr gut. Die Provinzbarbaren, wie du sie nennst, sind arrogant, hochmütig und ungebildet und pfeifen auf unsere hauptstädtischen Taten! Intuition: ausgezeichnet! Wie hättest du sonst wissen sollen, dass Sir Makluk vom damaligen König Gurig mit der Höchsten Backpfeife ausgezeichnet wurde, nachdem er eines Tages auf seinem königlichen Schoß gelandet war?!«

»Ehrlich gesagt, habe ich nur so dahingeredet.«

»Das meine ich mit Intuition: einfach so zu faseln und doch ins Schwarze zu treffen!«

»Einverstanden, ich bin ein Genie. Und obendrein - laut der Biografie, die Sie sich für mich ausgedacht haben - ein Barbar, der ernsthaft vorhat, in Echo rasch Karriere zu machen, und sich deswegen von seinen hochmütigen, aber ungebildeten Landsleuten unterscheiden muss. Wenn die gespielte Arroganz zerbricht, erscheint darunter gewöhnlich Schüchternheit. Das weiß ich, weil ich auch so bin. Nehmen Sie Ihr »gut bis sehr gut< vielleicht zurück?«

»Einverstanden. Das »gut« nehme ich zurück, aber das »sehr gut« lasse ich dir. Und ich verkneife mir Empfehlungen - du weißt selbst, was du zu tun hast. Schließlich bist du kein Kind mehr.«

Wir gingen durch unsere Obstwiese und gelangten durch eine Seitenpforte in den Nachbargarten. An der prächtig verzierten Eingangstür vermeldete ein Schild: »Hier wohnt Sir Makluk. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht verlaufen haben?« Ich kicherte verlegen, weil ich davon keineswegs überzeugt war. Aber der Glaube von Sir Juffin reichte locker für zwei.

Die Tür öffnete sich geräuschlos. Vier gleichermaßen grau gekleidete Diener grüßten uns im Chor. Ein professionelles Quartett, kann ich nur sagen!

Dann begann, wozu ich mich noch nicht bereit fühlte. Juffin meinte übrigens, niemand sei je so weit, einen Empfang bei Makluk zu überstehen - außer routinierten Salonlöwen, den wichtigsten und dabei nutzlosesten Wesen dieser Welt.

Ein paar robuste Jungs mit zwei Sänften kamen bedrohlich nah an uns heran. Gleichzeitig überreichten uns die Diener einige bunte Fetzen. Ich wusste mir keinen anderen Rat, als Juffin anzuschauen und ihm alles nachzumachen.

Zuerst nahm ich meinen dicken Mantel ab, ohne den ich mich nackt fühlte, weil mir das dünne Unterkleid, das meinem Körper eng anlag, für Treffen mit anderen Leuten damals noch nicht recht geeignet schien. Dann schaute ich mir genau an, was ich da bekommen hatte. Wieder hatte ich mich getäuscht: Es handelte sich bei den farbenfrohen Stoffstücken nicht um Lumpen, sondern um einen großen Halbmond mit riesigen aufgesetzten Taschen, dessen innerer Rand mit einer langen Kette kleiner Ringe bestückt war. Wieder musste ich Sir Juffin anstarren. Lässig nahm mein sonderbarer Cicerone durchs Labyrinth der Höflichkeit seinen Halbmond und streifte ihn über. Innerlich zitternd tat ich es ihm nach. Die Dienerbande blieb gelassen.

Kaum standen wir so herausgeputzt da, beugten sich die trampeligen Sänftenträger vor uns nieder. Sir Juffin stieg geradezu graziös in seine Sänfte. Nachdem ich mich innerlich bekreuzigt hatte, tat ich es ihm einmal mehr nach. Eine Weile ging es durch leere Korridore, die breit wie Straßen waren. Sir Makluks Haus beeindruckte mich sehr. Von außen wirkte es wie ein ganz normales Häuschen, aber von innen ...

Endlich erreichten wir einen großen Saal, der ebenso karg möbliert war wie das einzige mir bekannte Haus in Echo. Damit allerdings endete die Ähnlichkeit mit der Wohnung von Sir Juffin. Hier sah ich etwas anderes als den mir vertrauten Esstisch mit seinen gemütlichen Stühlen.

Ein schmaler Tisch mit einem Springbrunnen in der Mitte zog sich durch das ganze Zimmer. Rund um den Tisch befand sich ein Kranz niedriger Podien. Auf einem davon stand eine den unseren ähnliche Sänfte, aus der ein munterer, grauhaariger Alter schaute, der gar nicht wie ein Adliger aussah: unser Gastgeber Sir Makluk. Als er mich erblickte, legte er die Hand an die Brauen und rief: »Du bist es wirklich!«

Ich erwiderte seinen Gruß auf gleiche Weise. Das hatte ich schließlich lange genug geübt. Der Alte streckte Sir Juffin die Hand entgegen. Seine Bewegungen waren so energisch, dass er beinahe aus der Sänfte gestürzt wäre.

»Tragt auf, der strenge Sir Juffin ist da!«, rief er fröhlich.

Schnell stufte ich das Ganze als hiesige Begrüßungsformel ein. Doch das war falsch, denn der Hausherr hatte sich einen Scherz erlaubt. Ich wollte mich schon darüber ärgern, dachte mir dann aber: Egal, was kommt - meine Gesundheit geht vor. Wollen Sie ein Wochenende in Gesellschaft des wilden Max verbringen, lieber Juffin? Ihr Wunsch wird sofort erfüllt! Ich muss nur tief einatmen und mich ein wenig entspannen, aber dann ...

Das gelang mir leider nicht, und ich geriet wieder in Verlegenheit. Ein minderjähriges, geschlechtsloses Wesen kam auf mich zu. In Echo braucht man ein geübtes Auge, um Jungen und Mädchen zu unterscheiden. Alle tragen die gleiche Kleidung und binden das Haar zum Pferdeschwanz zusammen, damit es nicht stört. Das Kind trug einen Korb voll kleiner, leckerer Brötchen, die ich sehr mochte und die Kimpa mir immer zum Frühstück servierte. Es wandte sich mit seinem Gebäck zuerst an mich, und ich stand völlig allein und hilflos da. Juffin war in einer anderen Zimmerecke abgesetzt worden und befand sich gerade neben einem gastfreundlichen Nikolaus aus der Zeit des Römischen Imperiums. Schweigend nahm ich ein Brötchen. Das Kind streifte mich mit einem erstaunten Blick, zeigte ansonsten aber keine Reaktion. Als es auf die anderen Herren zuging, die mehr Erfahrung mit solchen Situationen hatten, verstand ich: Ich war zu bescheiden gewesen! Juffin und Sir Makluk hingegen nahmen mehrere Gebäckstücke und schoben sie in die geräumigen Taschen ihres Halbmonds. Wie es aussah, würde ich hungrig bleiben!

Inzwischen wechselten meine Träger von einem Fuß auf den anderen - offenbar weil sie nicht wussten, wohin sie mich bringen sollten. Ihren Gesichtern nach zu schließen, war das meine Entscheidung.

»Heb den Daumen, und sie gehen«, hörte ich plötzlich einen fremden Gedanken. »Wenn du bleiben willst, zeig ihnen die Faust.«

»Danke, Juffin«, antwortete ich stumm und hoffte, mich an die richtige Person gewandt zu haben. »Sie retten mir gerade das Leben. Nur weiter so, bitte!«

»Prima, du kennst dich mit Stummer Rede ja schon gut aus«, sagte er erfreut.

Ich befolgte den ersten Teil seiner Anweisung, und die Diener trugen mich zu den anderen Gästen hinüber. Als ich nah genug war, um ihr Tun beobachten zu können, drohte ich den Trägern mit der Faust. Daraufhin stellten sie mich auf einem kleinen Podium ab, und ich konnte mich beruhigen.

Vor jedem Podium stand ein Gericht. Man kostete und wischte sich den Mund dann mit einem der grellen Fetzen ab, die am Halbmond hingen. Danach hob man den Daumen, und die Reise ging langsam weiter. Bei Gerichten, die besonders gut schmeckten, konnte man Nachschlag nehmen.

Die erste halbe Stunde hielt ich mich zurück. Das Essen verdiente nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Doch dann streifte ich meine Hemmungen ab, sagte mir »Was soll's!«, und kostete alles - auch den Dschubatinischen Säufer, ein hiesiges Feuerwasser, dessen Name nicht hübsch ist, aber passend. Ich traute mich sogar, mich ins Gespräch der beiden alten Freunde zu mischen, was Sir Makluk sichtlich belustigte.

Im Großen und Ganzen lief alles problemlos.

Kaum hatten wir das Haus unseres Nachbarn verlassen, konnte ich nicht mehr an mich halten und fragte: »Na, wie war ich? Sie hatten Zeit genug, meinen Auftritt mit Sir Makluk zu besprechen, oder? Die Stumme Rede erlaubt das ja auch, wenn das Opfer in der Nähe ist.«

»Die Herkunftsgeschichte, die ich mir für dich ausgedacht habe, hat sich als totaler Reinfall erwiesen«, sagte Sir Juffin und lächelte schadenfroh. Eine Weile hielt ich heroisch aus und fühlte mich wie ein Tollpatsch. Dann erklärte er: »Der Alte hat mich immer wieder mit der Frage gelöchert, woher ich so einen intelligenten Barbaren habe. Wären wir länger geblieben, hätte er dir eine Führungsposition angeboten.«

»Das ist ja schrecklich! Und was passiert jetzt?«

»Nichts Besonderes. In den nächsten Tagen suchen wir dir eine Wohnung, in der du so leben kannst, wie du magst. Dann hab ich dich vom Hals, und du fängst an zu arbeiten. Bis dahin hast du noch ein paar Stunden Unterricht bei mir.«

»Unterricht worin?«

»In interessanten Dingen. Nimm bloß nicht alles so ernst! Die Tischregeln haben wir schon hinter uns. Immerhin habe auch ich mein auskömmliches Leben als Hilfskraft mit starker Neigung zu Reiner Magie begonnen. Du wirst noch staunen, wenn du erst merkst, wie leicht dir der Unterricht fällt.«

»Und woher wollen Sie wissen, dass ich ...?«

»Seit wann glaubst du mir nicht mehr?«

»Seit unserem Besuch bei Ihrem Nachbarn Makluk. Sie hatten mich nicht vorgewarnt, dass es dort Sänften und solchen Mist gibt. Ich wäre fast an Ort und Stelle gestorben!«

»Aber du hast alles richtig gemacht.« Sir Juffin Halli zuckte gleichgültig die Achseln. »Wer hätte das gedacht!«

An diesem Abend ging ich sehr früh zu Bett und schlief die ganze Nacht wie ein Stein. Der kleine Hund Chuf staunte, weil er daran gewöhnt war, dass nach Mitternacht das interessante Leben losging.

Die nächsten zwei Tage verbrachte ich im Zeichen angenehmerer Aufgaben. Tagsüber las ich in alten Ausgaben der Zeitungen Königliche Stimme und Trubel von Echo. Ungeniert markierte Sir Juffin alle Beiträge, in denen die Arbeit seines Büros gelobt wurde. Diese Lektüre war fesselnder als das spannendste Buch. Die knappen Notizen über die Anwendung verbotener Magie waren nicht immer nach meinem Geschmack. Ab und zu geriet ich an die lokale Kriminalchronik und begriff: Auch in Echo passierten so spannende Dinge wie lebensgefährliche Attacken, Schlägereien und Erpressungen.

Rasch lernte ich die Namen meiner künftigen Arbeitskollegen: Sir Melifaro (der - warum auch immer - auf seinen Vornamen verzichtet hatte), Sir Kofa Joch, Sir Schürf Lonely-Lokley, Lady Melamori Blimm und Sir Lukfi Penz. Das waren schon alle Mitglieder des Kleinen Geheimen Suchtrupps! Groß war diese Einheit wirklich nicht.

Hier in Echo hat man die Fotografie noch nicht erfunden, und die Porträtmaler sind sich zu fein, um für Zeitungen zu arbeiten. Also musste ich auf eigene Faust herausfinden, wie meine Kollegen aussehen. Und wieder traf zu, was Sir Juffin über meine Intuition gesagt hatte: Ich riet alles richtig!

Gegen Sonnenuntergang nahm ich das A-Mobil und fuhr ans Rechte Flussufer. Ich lief über die Mosaikgehsteige, schaute mich ein wenig um und sah in einige gemütliche Wirtshäuser, kurzum: Ich machte mich mit der Umgebung vertraut. Was würde ich als Nachtantlitz des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps taugen, wenn ich nicht einmal die Straße finden konnte, in der sich meine Abteilung befand? Schwierig war das nicht. Ich hatte noch nie von einem Wolf gehört, der sich im Wald verlaufen hatte - auch wenn es nicht sein Geburtswald war. Bestimmt gibt es einen Instinkt des Stadtmenschen, auch wenn er bisher unerforscht sein mag: Wer sich in einer großen Stadt erst auskennt, wird mit anderen Metropolen keine echten Probleme mehr haben.

Dann kehrte ich nach Hause zurück. Wie immer erwies sich die Nacht für mich als die reizendste und seltsamste Tageszeit. Sir Juffin hatte sich - wie er zu sagen pflegte - mit seiner Bettdecke zerstritten und ging nach dem Abendbrot nicht schlafen, sondern entführte mich in sein Arbeitszimmer, wo er mir etwas Neues beibrachte: Ich lernte, das Gedächtnis der Dinge zu betrachten. Diese Fähigkeit gehört zu den einfachen, aber unerlässlichen Elementen der Reinen Magie, dieser verschwommenen und abstrakten Lehre, deren Beherrschung für meinen zukünftigen Beruf notwendig war.

Nur wenige wissen überhaupt von der Existenz dieses Zaubers. Ich glaube, Reine Magie ausüben zu können, hat nichts mit den erstaunlichen Eigenschaften des Weltherzens zu tun, denn auch ich - ein Fremder immerhin - verfüge ja über diese Fähigkeit. Und Sir Juffin, der zweifellos ebenfalls ein bedeutender Spezialist auf diesem Gebiet ist, stammt aus Kettari, einem kleinen Städtchen in der Grafschaft Schimar. In der Kunst, durch magische Tricks ein wenig Abwechslung ins Leben zu bringen, lag die dortige Bevölkerung deutlich hinter den Hauptstädtern.

Aber zurück zu meinem Unterricht. Ich lernte rasch, dass ein unbelebter Gegenstand - sofern man ihn nur mit dem »gewissen Blick« anschaut - imstande ist, dem Betrachter Ereignisse zu zeigen, die in seiner Anwesenheit passiert sind. Das gilt - wie ich nach dem Treffen mit einer Stecknadel begriffen hatte - sogar für grausamste Geschehnisse. Früher hatte diese Nadel einem Mitglied des Ordens der Eisenhand gehört, einem der unheimlichsten magischen Orden aller Zeiten. Die Stecknadel zeigte uns die Initiation ihres ehemaligen Besitzers. Dieser exaltierte Mann - inzwischen ein betagter Schönling mit strahlendem Turban, der ihn (wie mir Sir Juffin zuflüsterte) als Großer Magister des Ordens auswies - hackte sich damals freiwillig die Linke ab und fing an, mit der amputierten Hand unglaubliche Tricks zu vollführen. Am Ende erschien seine ehemalige Linke inmitten eines leuchtenden Eiskristalls, was mich zusammenzucken ließ.

Juffin erklärte mir, so habe der frischgebackene Invalide Zugang zu unerschöpflichen Quellen wundersamer Energie erlangt; das eiskalte Gliedmaß funktioniere seither wie eine einzigartige Pumpe, die ihrem ehemaligen Besitzer ständig seltsame Kräfte liefere, die in seinem Beruf wohl notwendig seien.

»Hat er das gebraucht?«, wunderte ich mich naiv.

»Aus Gier nach Kraft und Macht sind viele Menschen bereit, alles zu tun!«, erklärte Juffin und zuckte gleichgültig die Achseln. »Wir beide haben mehr Glück, denn wir leben in einer vernünftigeren Zeit. Die Opposition beklagt sich zwar ständig über die Tyrannei des Königs und der Siebenblätter, hat anscheinend aber vergessen, was die Tyrannei einiger Dutzend mächtiger magischer Orden bedeutet - auch wenn keiner dieser Orden Reisende bespitzelt oder Bedürftigen lasterhafte Ambitionen verwehrt.«

»Wieso haben die Orden die Welt damals eigentlich nicht in Fetzen gerissen?«

»Sie waren nah dran, Max, ganz nah dran. Wir werden darüber noch ausführlich reden. Heute Nacht soll es aber allein darum gehen, dir zu zeigen, wie du arbeiten sollst. Also nimm die Tasse weg ...«

Alles lief zu gut, um von Dauer zu sein. Die Idylle endete am dritten Tag, als Kimpa meldete, Sir Makluk sei gekommen.

»Merkwürdig«, meinte Juffin. »Seit zehn Jahren sind wir Nachbarn, aber erst jetzt würdigt er mich eines Besuchs. Mein Gefühl sagt mir, dass Arbeit auf mich zukommt.«

Damit hatte er richtig gelegen.

»Ich wollte nicht per Stummer Rede mit Ihnen in Kontakt treten, denn ich bin in Bedrängnis und möchte Sie um einen großen Gefallen bitten«, rief Makluk schon am Eingang. Die eine Hand hielt er vor die Brust, mit der anderen gestikulierte er wild umher. »Ich bitte um Verzeihung, Sir Juffin, aber ich brauche dringend Ihre Hilfe.«

Die beiden schauten sich lange an. Offenbar benutzte der Alte jetzt Stumme Rede. Nach einiger Zeit wurde die Miene von Sir Juffin traurig. Makluk zuckte schuldbewusst die Achseln.

»Gehen wir«, sagte Juffin und stand auf. »Max, du kommst mit. Du brauchst dich nicht herauszuputzen - es ist dienstlich.«

Zum ersten Mal sah ich Sir Juffin im Einsatz. Das Tempo, in dem er die Wiese querte, lag über der Höchstgeschwindigkeit seines A-Mobils. Ich kümmerte mich derweil um Sir Makluk, der sich ohne seine Sänftenträger offenbar unwohl fühlte. Wir legten den Weg in normalem Tempo zurück, und das war für seine schwachen Knie genau das Richtige. Makluk ließ sich dazu herab, mir - dem intelligenten Barbaren - unterwegs eine Kurzfassung des Geschehenen zu geben. Wie mir schien, wollte er sich dadurch vor allem ablenken.

»Ich habe einen Diener, vielmehr: Ich hatte ihn. Sein Name war Krops Kulli. Ein guter Junge, den ich demnächst - also in fünfzehn bis zwanzig Jahren - bei Hof unterbringen wollte, nachdem er bei mir ein wenig Schliff und Erfahrung erworben hätte, weil man ja ohne ... Aber zur Sache: Vor ein paar Tagen ist er einfach verschwunden. Er hat eine Freundin am Rechten Flussufer. Man ist nur einmal jung, dachten seine Kollegen natürlich und alarmierten mich nicht. Wissen Sie - auch das einfache Volk ist imstande, edel zu handeln und gewisse Geheimnisse zu bewahren. Erst heute habe ich von dem Vorfall erfahren, weil Linus, seine Freundin, meinen Koch auf dem Markt getroffen und mit Fragen gelöchert hat, warum Krops sich bei ihr so lange nicht habe blicken lassen. Er habe doch sicher manchmal einen freien Tag? Gleich gerieten alle in heftige Erregung. Wo und warum mochte Krops Kulli verschwunden sein? Vor einer halben Stunde dann begannen Maddi und Schuwisch, das Zimmer von Sir Makluk-Olli, meinem verstorbenen Cousin, aufzuräumen. Ja, Sir Max, ich hatte einen Cousin, eine echte Nervensäge, unter uns gesagt. Zehn Jahre lang hatte er vor zu sterben, und vorletztes Jahr hat er es endlich getan, übrigens gleich nach dem Tag der Fremden Götter. Ach, ja. Und dort im Zimmer fanden sie den armen Herrn Kulli. In einem Zustand ...« Sir Makluk zuckte so gereizt die Achseln, als wollte er zum Ausdruck bringen, ein solches Versagen habe er vom armen Krops Kulli nie erwartet, nicht einmal im Tod.

In diesem Augenblick gelangten wir an eine kleine Tür, die der normale Eingang in Makluks luxuriöses Haus war. Nachdem er mir alles erzählt hatte, beruhigte er sich sichtbar. Die Stumme Rede! Nicht umsonst empfehlen Psychotherapeuten ihren Patienten, laut zu erzählen! Wir warteten nicht auf die Sänften, sondern gingen gleich ins Schlafzimmer des verstorbenen Sir Olli.

Der ungemein weiche Teppich - wohl Standard in Echo - bedeckte fast die Hälfte des Bodens. Ein paar mit Intarsien geschmückte kleine Tische standen ungeordnet um das riesige Bett herum. Eine Wand bestand nur aus einem großen Fenster mit Blick auf den Obstgarten. An der gegenüberliegenden Wand hing ein alter Spiegel, neben dem ein kleiner Frisiertisch stand.

Schade, dass dies nicht der gesamte Inhalt des Zimmers war. Leider gehörte noch etwas dazu: Zwischen Spiegel und Fenster lag eine Leiche, die eher einem schmutzigen und durchgekauten Gummiband als einem Menschen ähnelte. Seltsamerweise sah sie überhaupt nicht schrecklich aus, eher sinnlos oder absurd. Das entsprach nicht meiner Vorstellung von einem unglücklichen Mordopfer. Statt Blutflecken, zerplatztem Hirn und starr blickenden Augen fand ich nur ein jämmerliches Stück Kautabak vor.

Ich bemerkte Sir Juffin nicht gleich. Er stand in der hintersten Ecke, und seine schmalen Augen leuchteten im Halbdunkel. Schließlich verließ er seinen Wachtposten und kam mit besorgtem Gesicht zu uns.

»Bis jetzt habe ich zwei schlechte Nachrichten, aber ich fürchte, es werden noch mehr. Die erste: Hier handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Mord, denn mit bloßen Händen kann man niemanden so zurichten. Die zweite: Ich habe keine Spur von verbotener Magie entdeckt. Ich hatte erst den Spiegel im Verdacht, weil er der Leiche so nah hängt. Aber bei seiner Herstellung wurde Schwarze Magie zweiten, höchstens dritten Grades verwendet. Und das ist lange her ... « Nachdenklich drehte Juffin eine kleine Tabakspfeife in Händen, die einen Zeiger besaß, der Aufschluss über die Magie lieferte, mit der sie konfrontiert worden war.

Der Zeiger war auf Zwei hängen geblieben. Zwar zuckte er etwas und wollte auf Drei springen, doch die im Spiegel eingeschlossene Magie reichte für den höheren Grad nicht aus.

»Ich gebe Ihnen einen guten Rat, lieber Nachbar: Gehen Sie sich erholen. Aber sagen Sie Ihren Dienern vorher bitte, dass Max und ich uns hier noch etwas umschauen werden und sie unsere Ermittlungen unterstützen sollen.«

»Sind Sie wirklich sicher, dass ich Ihnen nicht behilflich sein kann?«

»Ja«, seufzte Juffin. »Vielleicht können Ihre Diener uns helfen - Sie bestimmt nicht. Egal was passiert ist - es gibt keinen Grund, Ihre Gesundheit zu gefährden.«

»Vielen Dank«, sagte der Alte, »mir reicht es für heute wirklich.«

Makluk wandte sich erleichtert zur Tür, wo inzwischen ein sehr bunt gekleideter Mann aufgetaucht war, der sein Altersgenosse zu sein schien. Das Gesicht des Fremden hätte zu einem Großinquisitor gepasst. Den Neuankömmling als Diener einzustufen, schien mir unsinnig, aber ich habe die Welt nicht erschaffen und kann keine Plätze anweisen.

»Lieber Gowins«, wandte sich Sir Makluk an den Großinquisitor, der sich damit als sein Haushofmeister erwies. »Seien Sie so nett und unterstützen Sie die beiden Herren in allem. Das ist Sir Juffin Halli, unser Nachbar, und er ...«

»Wie könnte ich den Ehrwürdigen Leiter nicht kennen? Als treuer Leser unserer Zeitungen?«, sagte Gowins und strahlte über das ganze Gesicht.

»Großartig«, meinte Sir Makluk beinahe flüsternd.

»Gowins bringt alles in Ordnung. Er ist in viel besserer Verfassung als ich, obwohl wir im gleichen Jahr zur Welt gekommen sind, damals, in der alten, gesegneten Zeit ...«

Mitten in dieser sentimentalen Erinnerung packten die Träger, die anscheinend einen starken Drang nach Betätigung spürten, Sir Makluk bei den Armen, steckten ihn in die Sänfte und trugen ihn in sein Schlafzimmer.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, unterhalte ich mich später ein paar Minuten mit Ihnen«, sagte Sir Juffin zu Gowins. »Ich hoffe, Sie wissen selbst, dass wir unser Gespräch eigentlich ... in einer Besenkammer führen sollten.« Er schenkte Gowins sein unwiderstehliches Lächeln.

»Ihr treuer Diener erwartet Sie jederzeit im kleinen Wohnzimmer - mit der besten Kamra der Hauptstadt.« Damit verschwand der Alte im Halbdunkel des Korridors.

Wir blieben allein - von dem Toten abgesehen, der uns nichts mehr erzählen konnte.

»Max«, begann Juffin mit deutlich gedämpfter Lebenslust. »Ich habe noch eine schlechte Nachricht: Kein einziger Gegenstand hier will seine Vergangenheit preisgeben. Sie alle sind ... wie soll ich sagen ... Ach, probieren wir es lieber noch mal zusammen! Dann wirst du es besser verstehen.«

Gemeinsam versuchten wir, das Gedächtnis der Dinge anzuzapfen, und konzentrierten uns dabei auf eine kleine, runde Dose mit Handcreme, die wir willkürlich vom Frisiertisch genommen hatten. Nichts! Schlimmer noch: Mir wurde plötzlich unheimlich wie in einem Alptraum, in dem man sich nicht rühren kann, weil SIE sich aus dem Dunkel nähern. Ich war mit den Nerven am Ende, und die Dose glitt mir aus der Hand. Im gleichen Moment ließen auch Juffins Finger locker, und die Handcreme fiel auf den Boden, prallte kurz hoch, rollte dann aber zu unserer Überraschung nicht Richtung Fenster, sondern zum Korridor. An der Türschwelle blieb sie mit einem kläglichen Klirren stehen und sprang noch mal schwach in die Höhe. Wie verzaubert hatten wir uns das Ganze angesehen.

»Sie haben recht, Sir«, brachte ich flüsternd hervor. »Die Dinge schweigen und haben Angst.«

»Ich wüsste nur gern, wovor. Es gibt zwar ähnliche Fälle, doch für die braucht man mindestens Magie hundertsten Grades. Aber hier ...«

»Welchen Grades?«

»Das hast du doch gerade gehört! Gehen wir. Wir müssen noch mit dem Haushofmeister und seinen Dienstboten reden. Hier können wir ohnehin nichts mehr ausrichten.«

Herr Gowins erwartete uns im kleinen Wohnzimmer, das für hiesige Verhältnisse wirklich bescheiden, nämlich etwas kleiner als eine Turnhalle war. Auf einem Tischlein dampften Becher mit Kamra. Juffin taute etwas auf.

»Gowins, ich muss alles über das Haus wissen, wirklich alles. Fakten - Klatsch und Tratsch - Gerüchte. Am besten aus erster Hand.«

»Ich bin hier der älteste Bewohner«, begann der Alte und lächelte schwach. »Was auch immer passiert ist - ich war dabei. Ich kann Ihnen, Ehrwürdiger Leiter, versichern, dass das Zimmer, in dem der Tote liegt, ein ganz gewöhnlicher Raum ist. Dort sind nie Wunder geschehen - weder erlaubte noch unerlaubte. Soweit ich mich erinnern kann, ist es immer ein Schlafzimmer gewesen, das mal bewohnt, mal unbewohnt war. Niemand hat sich je über Gespenster beklagt, und bis auf Sir Makluk-Olli ist dort niemand gestorben. Und Sir Olli hat fünf Jahre länger gelebt, als ihm prophezeit war.«

»Woran ist er eigentlich gestorben?«

»Da hat vieles zusammengewirkt. Schon als Kind hatte er ständig gesundheitliche Probleme - ein schwaches Herz, einen empfindlichen Magen, zerrüttete Nerven. Und vor zehn Jahren hat er seinen Funken verloren.«

»Sündige Magister! Im Ernst?«

»Absolut. Er hat trotzdem eine erstaunliche Seelenkraft besessen. Sie wissen vermutlich, dass Leute, die den Funken verloren haben, danach selten länger als noch ein Jahr leben. Man sagte Sir Olli, wenn er das Haus nicht verlasse und faste, habe er noch fünf Jahre vor sich - vorausgesetzt, er finde eine gute Heilerin. Er ist zehn Jahre in seinem Schlafzimmer geblieben und hat gefastet. Außerdem hat er zwölf dumme, aber erfahrene alte Gesundbeterinnen engagiert, die seinen Schatten die ganze Zeit abwechselnd bewacht haben. Damit hat Sir Olli einen Familienrekord aufgestellt. Weil die alten Frauen nur bei sich zu Hause gezaubert haben, ist in seinem Schlafzimmer in all den Jahren nie etwas Besonderes passiert.«

Sir Juffin vergaß nicht, mir per Stummer Rede eine Erklärung zu schicken: »Den Funken zu verlieren bedeutet, sich nicht mehr vor dem Bösen schützen zu können. Ein ganz normales Essen kann für so einen unglücklichen Menschen Gift sein, und ein Schnupfen kann ihn innerhalb weniger Stunden umbringen. Was es damit auf sich hat, dass die heilkundigen Frauen seinen Schatten bewachten, erkläre ich dir später - das ist nämlich etwas komplizierter.«

»Der arme Sir Makluk-Olli hat ein sehr ruhiges Leben geführt«, fuhr Gowins fort. »Nur einmal - vor gut zwei Jahren - ist er unvermittelt aus der Haut gefahren und hat mit der Waschschüssel nach seinem Diener Maddi geworfen, weil das Wasser an jenem Tag etwas heißer war als üblich. Wegen dieses Vorfalls habe ich Maddi eine Prämie gezahlt. Aber auch ohne Geld hätte der Diener keinen Krach geschlagen. Allen hat es wirklich leidgetan, den armen Sir Olli so zu erleben. Andere Diener haben solche Fehler übrigens nicht begangen, und Sir Olli hat danach nie wieder randaliert. Mehr fällt mir dazu eigentlich nicht ein.«

Juffin schaute ihn finster an. »Vor mir brauchst du nichts zu verbergen, mein Alter. Deine Loyalität zu diesem Haus schätze ich sehr. Nur habe ausgerechnet ich Sir Makluk vor anderthalb Jahren geholfen, einen unangenehmen Fall zu klären. Damals hat sich ein junger Mann aus Gazin in diesem Haus die Kehle durchgeschnitten. Also gieß Balsam auf mein müdes Herz und verrate mir, was im Schlafzimmer passiert ist.«

Der alte Diener nickte.

»Wenn du glaubst, Gowins' Aussage werde die Lage klären, irrst du dich«, sagte mir Juffin in Stummer Rede und zwinkerte mir zu. »Er will nur den Anschein erwecken, bei der Aufklärung des Falls mitzuhelfen, versucht in Wirklichkeit aber, uns auf eine falsche Spur zu führen. Das riecht nach Magie aus der Epoche der Alten Orden - egal was der Pfeifenzeiger dazu sagt. Na ja, umso besser, wenn im Leben nicht alles den Erwartungen entspricht.«

Juffin wandte sich an Gowins. »Ich will den Diener sprechen, der den Toten heute gefunden hat. Und ich möchte mit dem reden, der den Mann mit der durchgeschnittenen Kehle entdeckt hat. Außerdem will ich die heilkundigen Frauen sehen, die bei Sir Makluk-Olli Wache gehalten haben. Und lass bitte für alle Anwesenden einen Becher von dieser vortrefflichen Kamra bringen. Und - na ja, auf jeden Fall soll das unglückliche Opfer häuslicher Gewalt erscheinen. Du weißt schon: der, den die Waschschüssel getroffen hat.«

Gowins nickte noch, da tauchte in der Tür schon ein grau gekleideter Mann mittleren Alters auf, der ein Tablett voller Kamra-Becher trug. Das war Herr Maddi - das Opfer des Schüsselwurfs und obendrein der Hauptzeuge des heutigen Verbrechens. Triumph der Ökonomie! Davon können Sie noch was lernen, meine Herrschaften! Eine Person kommt rein, und gleich sind drei von fünf Wünschen erfüllt!

Maddi wurde rot vor Verlegenheit, bewahrte aber Haltung, verneigte sich und meldete kurz und bündig, heute Abend als Erster ins ehemalige Schlafzimmer von Sir Makluk-Olli gekommen zu sein. Zunächst habe er aus dem Fenster geschaut, weil die Sonne gerade glühend untergegangen sei. Dann habe er die Augen gesenkt und entdeckt, was nicht zu übersehen gewesen sei. Er habe sich sofort entschieden, nichts zu berühren. Stattdessen habe er Herrn Gowins gerufen.

»Meinem Kollegen Schuwisch habe ich befohlen, im Korridor zu bleiben. Er ist zu jung, um so etwas zu sehen**, sagte Maddi und zuckte schuldbewusst die Achseln, als fürchtete er, seine Kompetenzen überschritten zu haben.

»Du hast also keinen Lärm gehört?«

»Lärm, Sir? Das Schlafzimmer ist schallisoliert. Sir Olli hatte das so gewollt. Man kann schreien, so laut man will, und stört doch niemanden. Natürlich wird man auch von niemandem gestört.«

»Das ist mir schon klar. Und was für einen Streit hattest du damals mit Sir Olli? Du sollst dabei ja reichlich nass geworden sein.«

»Einen Streit, Ehrwürdiger Leiter? Er war ein kranker Mann, und man konnte ihm nichts recht machen. Er hat mir immer wieder ausführlich erklärt, wie warm sein Wasser sein soll, hatte es sich aber bis zum nächsten Tag anders überlegt. Jedes Mal habe ich getan, wie mir befohlen, doch eines Tages ist er zornig geworden und hat mit der Waschschüssel nach mir geworfen. So kräftig, dass er fast daran gestorben wäre. *< Begeistert schüttelte Maddi den Kopf.

Falls er Basketballtrainer gewesen wäre, dachte ich, hätte er sicher versucht, Sir Olli in seine Mannschaft zu bekommen.

»Die Waschschüssel ist mir mitten im Gesicht gelandet und hat mir die Braue auf geschlitzt. Das hat ziemlich geblutet. Und ich Trottel hab noch versucht, ihr auszuweichen! Mit voller Wucht bin ich mit dem Kopf gegen den Spiegel geschlagen. Zum Glück ist das Ding nicht kaputtgegangen. Gute, alte Wertarbeit! Ich war nass und mein Gesicht blutverschmiert. Auch auf dem Spiegel war Blut. Sir Olli hat im ersten Moment befürchtet, er habe mich umgebracht. Ich habe mir das Blut abgewischt und mich im Spiegel betrachtet. Es war nichts Ernstes - ich hatte nur einen daumendicken Kratzer. Nicht mal eine Narbe ist davon geblieben! Über den Alten wollte ich mich nicht beschweren. Es wäre doch eine Sünde gewesen, ihm all das übelzunehmen. Er hatte keinen Funken mehr und war fast tot. Und ich bin gesund und kann ein wenig leiden.«

»Na gut, mein Freund. Nimm's nicht so schwer - du hast alles richtig gemacht!«

Maddi war entlassen und ging Träume beobachten. Einfache, unschuldige Träume - davon war ich überzeugt. Sir Juffin schaute Gowins fragend an.

»Ich denke, die Frauen tauchen gleich auf«, sagte der Haushofmeister. »Und zwar vollzählig, wie ich hoffe ... Manche von ihnen haben allerdings einen genauso unruhigen Beruf wie wir. Vielleicht möchten Sie bis dahin mit mir vorliebnehmen, da der arme Nattis vor meinen Augen gestorben ist.«

»Das ist ja eine Neuigkeit! Wie ist das passiert?«

»Ich erzähle Ihnen alles der Reihe nach. Der Junge ist mein Schützling gewesen. Wissen Sie, Nattis hat hier nicht als Hausdiener gearbeitet. Ich meine - nicht als üblicher Diener. Vor zwei Jahren hat er seine Heimatstadt Gazin verlassen und ist mit einem Brief seines Großvaters, eines alten Freundes von mir, hierhergekommen. Der Alte hat mir geschrieben, sein Enkel habe keine Eltern mehr und nichts Besonderes gelernt, sondern könne nur, was man in Gazin so könne. Aber er war gescheit - dessen habe ich mich vergewissert. Mein Freund hat mich gebeten, seinen Enkel irgendwo unterzubringen. Sir Makluk hat ihm versprochen, ihm die besten Referenzen zu geben, und versucht, ihm eine gute Stelle bei jemandem zu vermitteln, der am Königshof tätig ist. Das nämlich hätte seine Chancen verbessert, selbst irgendwann an den Hof zu gehen ... Bis dahin habe ich ihm alles Mögliche beigebracht und ihn mehrmals gelobt - glauben Sie mir. Irgendwann haben wir ihm einen Sorgenfreien Tag gegeben. An diesem Tag ist er nicht - wie an seinen übrigen freien Tagen - spazieren gegangen, sondern zu Hause geblieben und hat gar nichts getan, den Tag also wie ein echter Gentleman verbracht.«

Hier konnte ich ein neidisches Seufzen nicht unterdrücken. Gowins deutete es auf seine Art, nickte traurig und fuhr fort: »Wenn jemand es wirklich nach oben schaffen will, muss er nicht nur arbeiten, sondern auch befehlen können. An solchen Tagen ist Nattis aufgestanden, hat nach einem Diener gerufen und sich gewaschen und hergerichtet. Dann hat er sich wie ein Gentleman angezogen, wie ein Gentleman gespeist und Zeitung gelesen. Danach ist er am Rechten Flussufer spazieren gefahren und hat sich auch dort bemüht, wie ein junger Gentleman aus der Hauptstadt zu wirken, nicht wie ein Provinzler aus Gazin. An solchen Tagen durfte er das leere Schlafzimmer von Sir Olli benutzen (der Arme war gerade gestorben, als Nattis seine Lehre bei uns begann). Abends schlief der Junge dann im Sterbezimmer von Sir Olli ein, und wenn er morgens erwachte, rief er nach einem Diener - also nach mir! Dieses ganze Theater war nötig, um mögliche Verstöße gegen seine Gentleman-Rolle zu erkennen und zu vermeiden. An solchen Tagen waren wir unzertrennlich, und das war so notwendig wie angenehm. An seinem Todestag bin ich - wie üblich - gekommen, kaum dass er mich gerufen hat, und habe ihm Wasser zum Waschen gebracht, natürlich nur pro forma, denn das Bad befindet sich neben dem Schlafzimmer. Aber ein zukünftiger Gentleman beginnt seinen Tag stets, indem er sich Gesicht und Hände in einer Schüssel mit warmem Wasser wäscht.«

An dieser Stelle der Erzählung wurde ich traurig. Ein Gentleman würde ich, wie zu vermuten stand, nie werden. Und auch Sir Juffin würde das wohl nicht schaffen. Unterdessen setzte der penible Herr Gowins seine Geschichte fort.

»Nattis hat sich gewaschen und ist dann ins Bad gegangen, um sich zu rasieren. Aber sofort ist dem Armen klar geworden, dass er mal wieder einen Fauxpas begangen hatte. Ich habe ihn wegen dieser Gewohnheit immer heruntergeputzt und gesagt: «Wenn du niemand bist, rasier dich, wo du willst. Wenn du aber ein Gentleman bist, tu es gefälligst vor dem schönsten Spiegel.« Meine Bemerkung ist nicht umsonst gewesen: Der Bursche ist wieder ins Schlafzimmer gekommen und hat nach dem Rasierzeug gefragt. Sehr, sehr leise. So leise, dass ich getan habe, als hätte ich es nicht gehört. Dann hat er die richtige Körperhaltung angenommen und mit den Augen geblitzt, und ich bin schnell mit Rasierzeug und Handtuch zu ihm gekommen. Und dann ... Wie es hat passieren können, weiß ich nicht. Dass ein junger, gesunder Mann sich die Kehle einfach mit dem Rasiermesser durchtrennt! Ich war ein paar Schritte entfernt stehen geblieben, wie es sich gehört, und alles ging so schnell, dass ich nichts unternehmen konnte. Ich habe wohl nicht gleich begriffen, was da geschah ... Was dann passiert ist, wissen Sie so gut wie ich, wenn Sie sich schon mit diesem Fall beschäftigt haben.«

»Du bist ein hervorragender Erzähler, Gowins«, nickte Juffin zustimmend. »Ich habe deine Geschichte mit größtem Vergnügen gehört. Damals hatte ich leider viel zu tun, und meine Zeit reichte nur dafür, die Akten über Nattis' Selbstmord aus der Behörde des Generals Bubuta Boch zu holen, dessen Mitarbeiter durch ihre Ermittlungen hier so gestört haben. Besonders dich, wie ich gerade merke. Leider hatte ich bisher keine Zeit, all das zu untersuchen ...«

Die Tür öffnete sich, und eine frische Portion Kamra wurde gebracht. Gowins räusperte sich und ergriff wieder das Wort.

»Mehr kann ich dazu nicht sagen. Natürlich hat Sir Makluk über die hiesigen Ereignisse im Polizeirevier an der Brücke Auskunft gegeben. Der Fall war unproblematisch. Darum hat man alles an die Ordnungshüter von General Boch weitergeleitet, die das ganze Haus auf den Kopf gestellt haben.«

»Weißt du vielleicht, Gowins, ob die Polizisten das Zimmer auf den Grad der vorhandenen Magie untersucht haben?«

»Daran haben sie nicht gedacht. Sie haben den Fall schnell für gelöst erklärt: Der Bursche soll betrunken gewesen sein. Als sich aber herausstellte, dass Nattis in seinem kurzen Leben nie betrunken war, haben die Ermittler rasch eine zweite Erklärung aus dem Hut gezaubert: Ich sollte den Jungen umgebracht haben! Dann sind sie einfach verschwunden. Wie ich inzwischen begreife, Ehrwürdiger Leiter, habe ich das Ihnen zu verdanken.«

»Das ist typisch für General Bubutas Leute«, meinte Juffin und fasste sich an den Kopf. »Sündige Magister!«

Dazu schwieg unser Gesprächspartner diskret.

In diesem Moment trafen drei der Heilerinnen ein. Wie wir erfuhren, hatten sechs weitere Bereitschaftsdienst. Zwei Heilerinnen waren nicht aufzutreiben gewesen, und die letzte weigerte sich partout, wie der Bote erzählte, ins »schwarze Haus« zu kommen.

Die Arme hat einen Vogel, dachte ich ein wenig herablassend.

Juffin überlegte kurz, befahl dann alle drei Frauen auf einmal herein und gab mir per Stummer Rede dafür eine Erklärung. »Wenn man Frauen vernehmen muss, lässt man sie am besten zusammen. Jede versucht dann, die anderen zu überbieten, und sagt sicher mehr, als sie eigentlich wollte. Das einzige Problem ist, bei dem Lärm nicht verrückt zu werden.«

Also kamen die Ladys herein und nahmen Platz. Die Älteste hieß Mallis, die zwei anderen, die auch nicht viel jünger waren, Tisa und Retani. Dazu kam noch ich gerannt. Ich war zum ersten Mal in Gesellschaft hiesiger Frauen, wobei die Jüngste nach meinem Eindruck gerade den 300. Geburtstag hinter sich hatte.

Juffins Verhalten verdient eine kurze Beschreibung.

Zuerst setzte er seine finsterste Miene auf, griff sich dann pathetisch an die Braue und übersteigerte die in Echo übliche Begrüßungsformel ins Exaltierte. Danach aber bekam seine Stimme eine Innigkeit, die eher für eine Dichterlesung als für ein Verhör taugte. Auch änderte er die Wortfolge seiner Sätze ins Bizarre, als wollte er in freien Rhythmen sprechen. Natürlich soll man mit Heilerinnen förmlich und aufmerksam umgehen, wie man das in meinem Herkunftsland im Gespräch mit Professoren tut. Aber für mein Empfinden übertrieb der Ehrwürdige Leiter sein Pathos ein wenig und schoss reichlich übers Ziel hinaus. Allerdings schien meine Meinung keine der anwesenden Personen zu interessieren. Also schwieg ich und senkte bescheiden die Augen. Beinahe wären sie in meine Tasse Kamra gefallen - in das Gesöff also, mit dem ich mich an diesem Abend fast vergiftet hätte. Aber auch hier gilt das Sprichwort: Umsonst schmeckt sogar Essig süß!

»Werteste Ladys, verzeihen Sie mir - einem unruhigen Geist - die Störung«, begann Juffin orgelnd. »Aber ohne Ihre klugen Worte bleibt mein Leben sinnlos. Ich habe gehört, dass ein Bewohner dieses Hauses, der seinen Funken ein für alle Mal verloren hatte, dank Ihrer wundersamen Kräfte sein Leben um einige Zeit hat verlängern können.«

»Sie meinen bestimmt Olli von den jüngeren Makluks«, meldete sich Lady Tisa verständnisvoll zu Wort.

Von den jüngeren Makluks?! Ich dachte, die alte Dame habe etwas durcheinandergebracht, aber Juffin nickte zustimmend. Gewiss hatte sie sogar noch den Urgroßvater von Sir Olli gekannt. Später erfuhr ich, dass die Frauen bei weitem älter waren, als ich es mir vorgestellt hatte. Doch nach dem Ruhestand sehnten sie sich nicht. Hier in Echo, wo ein durchschnittliches Leben dreihundert Jahre dauert, ist eine deutlich längere Existenz Ausdruck starker persönlicher Macht. Und für Heilerinnen - für sehr mächtige Frauen mithin! - sind fünfhundert Jahre kein hohes Alter.

»Olli ist sehr stark gewesen«, meldete sich Lady Mallis zu Wort. »Und wenn Sie bedenken, dass die zwölf ältesten Ladys von Echo seinen Schatten bewacht haben, könnten Sie sich darüber wundern, dass er nur noch so kurz gelebt hat, nur noch so sehr kurz. Wir hatten schon gedacht, sein Funken kehre zurück. Früher waren solche Fälle keine Seltenheit, obwohl die Jugend nicht mehr daran glaubt. Er hatte die Chance, seinen Funken zurückzuergattern!«

»Von so einem Fall habe ich noch nie gehört, Lady«, meinte Juffin sichtlich interessiert. Später gab er mir gegenüber zu, gelogen zu haben, um das Gespräch zu beleben. »Ich dachte immer, der Arme habe erstaunlich lange gelebt. Wie sich nun herausstellt, ist er viel zu früh gestorben!«

»Niemand stirbt zu früh. Jemand wie du, Ankömmling aus Kettari, sollte das wissen, denn du schaust ja manchmal in die Dunkelheit. Am Tod des jüngeren Olli tragen wir keine Schuld.«

»Das behaupte ich doch auch nicht, Lady!«

»Das machst du doch, Schlaukopf, und verkehrt ist das nicht. Aber eins sag ich dir: Wir wissen nicht, warum der jüngere Makluk-Olli gestorben ist. Obwohl wir es wissen sollten ...«

»Braba weiß es, will aber nicht darüber reden«, unterbrach Lady Tisa ihre Kollegin. »Deshalb ist sie nicht gekommen. Und sie wird auch nicht kommen. Aber das ist auch nicht notwendig. Retani hat sie einen Tag nach dem Tod des jüngeren Makluk-Olli besucht. Erzähl doch mal davon, Retani. Wir haben dich ja nie danach gefragt, weil wir eigene Probleme haben. Aber diesen Mann aus Kettari interessiert offenbar nur eins: Er will wissen, warum Braba Angst hat zu kommen. Und solange er das nicht erfährt, lässt er uns nicht in Ruhe.«

Es wurde still. Galant verbeugte sich Juffin Halli vor Lady Tisa. »Sie haben meine Gedanken gelesen, Gnädigste!«

Die alte Frau lächelte ihn kokett an und zwinkerte ihm zu. Nach dieser galanten Episode richteten sich aller Augen auf Lady Retani.

»Braba weiß es zwar nicht, doch sie fürchtet sich sehr«, begann sie. »Seit dem Tod von Sir Olli kann sie nicht mehr arbeiten und ist ängstlich wie ein kleines Mädchen. Sie sagt immer wieder, jemand habe den Schatten des jüngeren Makluk-Olli und fast auch ihren eigenen Schatten entführt. Wir alle sind überzeugt, dass Ollis Schatten von allein gegangen ist. Keine Ahnung, warum. Er ist so rasch verschwunden wie eine Frau, die nicht mehr liebt. Aber Braba beharrt darauf, sein Schatten sei entführt worden. Von jemandem, den sie nicht habe erkennen können. Sie war so verängstigt, dass wir beschlossen haben, sie nicht mehr danach zu fragen. Warum auch? Den Schatten kann man ohnehin nicht zurückholen. Warum sollen wir uns obendrein vor fremder Angst ängstigen?« Plötzlich schwieg Lady Retani, und wie es aussah, würde sich daran bis zum nächsten Jahr nichts ändern.

Die Heilerinnen tranken in aller Stille Kamra und knabberten leise an ihrem Gebäck. Sir Juffin versank in Gedanken. Der Diener Gowins schwieg bedeutsam. Ich genoss den Anblick der Gruppe. Plötzlich wurde die Luft im Zimmer so dick, dass ich kaum mehr atmen konnte. Etwas Widerliches war unversehens hereingekommen, hatte aber nur mich gestreift. Ein kleines Klümpchen Angst war mir beim Einatmen in die Lunge geraten, rückte mir mit dem Schatten einer Vermutung zu Leibe und verschwand gleich wieder, wie ich erleichtert bemerkte. Bestimmt war das die fremde Angst gewesen, von der die alte Lady gesprochen hatte. Dieses merkwürdige Ereignis wirkte auf mich - wie so oft - als ungreifbarer Stimmungsdämpfer. Und ich kam nicht auf die Idee, Sir Juffin davon zu erzählen.

Später begriff ich, dass man solche Ereignisse nicht verheimlichen sollte. Seltsame seelische Erlebnisse machten einen wichtigen Teil meines künftigen Berufs aus. Die Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps sind verpflichtet, ihrem Chef jede beunruhigende Vorahnung, jeden nächtlichen Alptraum, jedes überraschende Herzklopfen und jede andere ungewöhnliche seelische Schwäche ausführlich zu berichten. Seine Situation analysiert und deutet dann jeder Mitarbeiter für sich. Ich hingegen versuchte, das Klümpchen fremder Angst zu vergessen. Und meine Bemühungen waren schnell erfolgreich.

»Ich weiß, wie die Schatten Weggehen«, meldete sich Sir Juffin endlich zu Wort. »Kluge Ladys, erklären Sie mir bitte, warum nur Braba gespürt hat, dass etwas nicht in Ordnung war.«

»Gespürt haben wir es alle«, lächelte Lady Mallis. »Aber mehr auch nicht. Keine von uns wusste, worum es sich handelte. Das war für uns zu schwierig. Für dich ja auch, obwohl du öfter als wir in die Finsternis schaust. Und dein Laufjunge kann dir auch nicht helfen!« Ich merkte entsetzt, dass mich alle Frauen aufmerksam ansahen.

»Dieses Geheimnis, Sir, sollte man auf sich beruhen lassen«, sagte Lady Tisa. »Es ist sinnlos, über etwas zu sprechen, das man nicht kennt. Nur weil wir in Gesellschaft zweier Gentlemen sind, die oft in die Finsternis schauen, haben wir uns entschieden, alles zu sagen, obwohl das nichts bringt. Und jetzt gehen wir.«

Graziös wie junge Kätzchen verschwanden die drei alten Damen durch die Tür.

»Juffin?«, fragte ich beunruhigt, bediente mich dabei aber Stummer Rede. »Wen meinen die drei mit den Gentlemen, die in die Finsternis schauen? Worum geht es da?«

»Lass diesen Unsinn auf sich beruhen. So denken die Ladys nun mal über uns. Von Unsichtbarer Magie wissen sie nur wenig. Darum bezeichnen sie alles als Finsternis. Das ist einfacher für sie. Was sie gesagt haben, hat kaum Bedeutung. Diese Damen sind gut in der Praxis und schlecht in der Theorie.«

Sir Juffin stand auf. »Gowins, wir gehen, denn wir müssen uns einiges durch den Kopf gehen lassen. Sag deinem Herrn, er braucht niemanden zum Haus an der Brücke zu schicken. Ich kümmere mich um alles. Morgen sende ich dir die Erlaubnis, deinen Herrn zu beschützen. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich die Ordnung rasch wiederherstellen kann. Schließlich handelt es sich nicht um ein einfaches bürokratisches Problem. Hier braucht man Geduld. Außerdem habe ich in den nächsten Tagen viel zu tun. Achte darauf, dass niemand das verdammte Schlafzimmer betritt. Niemand! Wenn ich längere Zeit nicht vorbeisehe, soll Sir Makluk sich nicht aufregen. Ich vergesse den Fall schon nicht, auch wenn ich es liebend gern täte. Aber falls...

»Ja, Sir? Falls wieder etwas passiert ...?«

»Solange sich niemand im Schlafzimmer aufhält, kann nichts mehr passieren. Achte streng darauf, lieber Gowins!«

»Sie können sich auf mich verlassen, Ehrwürdiger Leiter.«

»Gut. Max, lebst du noch? Oder hast du dich in einen Krug Kamra verwandelt? Dieses Getränk hat ja, wie du inzwischen weißt, spezielle Eigenschaften.«

»Sir Juffin, darf ich noch mal kurz ins Schlafzimmer?«

Halli hob erstaunt die Brauen. »Natürlich. Am besten, wir gehen zusammen.«

Wir traten in das halbdunkle Zimmer. Es war ganz still. Der Zeiger an Juffins Pfeife zuckte wild zwischen Zwei und Drei. Aber darum wollte ich nicht hierher. Kaum hatte ich begonnen, mich umzusehen, hatte ich die kleine Dose Handcreme schon gefunden, die wir zu Beginn des Abends erfolglos bearbeitet hatten. Sie hatte die ganze Zeit an der Türschwelle gelegen. Ich nahm sie und schob sie in die - gelobt sei die hiesige Mode! - geräumige Tasche meines Lochimantels. Schuldbewusst sah ich Juffin an, doch der kicherte nur. Na schön - mir macht das nichts aus, und er hat ein wenig Unterhaltung verdient.

»Wozu brauchst du das Ding, Max?*«, fragte Juffin, als wir durch den Garten zu seinem Haus zurückgingen. »Sammelst du Hausrat, weil du demnächst umziehst? Oder warum hast du unseren Nachbarn bestohlen?«

»Sie haben doch auch gesehen, wie verängstigt die Dose ist. Ich kann sie dort nicht allein lassen.«

»Die kleine Dose?! Einen simplen Gegenstand?«

»Ja. Ich hab ihre Angst gespürt und gesehen, wie sie wegrollen wollte. Wenn Dinge sich an ihre Vergangenheit erinnern können, bedeutet das doch, dass sie wissen, was ihnen widerfahren ist. Die Dinge führen also ein unbegreifliches Eigenleben, stimmt's? Was macht es dann für einen Unterschied, wen man retten soll: eine Dose oder eine hübsche Frau?«

»Das ist natürlich Geschmackssache«, lachte Juffin. »Du hast wirklich eine lebhafte Einbildungskraft, Junge. Wahnsinn! Ich lebe schon so lange und habe noch nie an der Rettung einer Dose teilgenommen.«

Bis zur Haustür verspottete er mich und wurde dann ernst.

»Aber an sich, Max, bist du ein Genie. Wirklich! Was das unbegreifliche Leben von Dosen angeht, habe ich keine Ahnung, aber einen Gegenstand aus der Angstzone zu entfernen und mitzunehmen - sündige Magister! Du hast recht, Max, bei uns zu Hause kann sie sehr gut reden. Nicht gleich natürlich, aber irgendwann. Deine kleine Dose erinnert sich an etwas, du Schlawiner. Die alte Heilerin wird deinen Mantel fressen, wenn wir das Geheimnis knacken. Und das schaffen wir. Schließlich habe ich schon ganz andere Nüsse geknackt!«

Die Gunst des Moments nutzend, fragte ich: »Was meinten die Frauen eigentlich mit der Finsternis, in die ich angeblich schaue? Mir ist nicht recht wohl nach alledem.«

»Das ist normal«, sagte Juffin schroff. »Erinnerst du dich, wie du hierhergekommen bist?«

»Ja. Aber ich versuche, nicht darüber nachzudenken.«

»Richtig so. Für so einfache Dinge hast du immer noch Zeit. Es kann jedem passieren, aus einer Welt in eine andere zu gehen, und zwar lebendig und bei vollem Verstand. Wir zwei gehören zu denen, die sogar noch mehr erleben können. Und die alten Frauen beschäftigen sich mit Magie - aber nicht wie die hiesige Bevölkerung (nämlich einmal im Jahr in der Küche), sondern ernsthaft und seit langer Zeit. Man kann sogar sagen, sie tun nichts anderes. Und die Erfahrung zeigt ihnen, dass mit uns beiden etwas nicht stimmt. Dieses Etwas nennen sie Finsternis. Kapiert?«

»Nicht ganz«, gab ich ehrlich zu.

»Also gut - versuchen wir's anders. Vorhin hast du gesagt, du erlebst oft grundlose Stimmungswechsel. Du gehst auf die Straße, bist in Eile und bekommst plötzlich keine Luft mehr, weil dich ein grenzenloses Glücksgefühl überkommt ... Oder es läuft alles prima: Du bist jung; neben dir liegt eine wunderbare Frau,- du bist geradezu kindisch glücklich - und plötzlich wird dir bewusst, dass du im Leeren hängst; eisige Wehmut beklemmt dein Herz, als seist du gestorben. Dabei hast du nie gelebt ... Oder du betrachtest dich eines Tages im Spiegel, erkennst dein Gegenüber nicht mehr und weißt nicht, warum es da ist; dann schwillt dein Spiegelbild immer weiter an, bis es platzt, und du schaust ratlos in den leeren Rahmen ... Du brauchst mir nichts zu erzählen - ich weiß, dass dir so was ab und an passiert. Genau wie mir, Max. Ich hatte nur Zeit, mich daran zu gewöhnen. Solche Dinge geschehen, weil sich uns etwas Unbegreifliches nähert. Niemand weiß, woher es kommt, und niemand weiß, was geschieht, wenn es einen am Ärmel berührt. Im Allgemeinen haben wir beide Talent für unser merkwürdiges Handwerk, das außer uns niemand versteht. Und ehrlich gesagt, kann ich dir jetzt nicht mehr erklären. Weißt du, über solche Sachen darf man nicht laut reden. Weil sie gefährlich sind, müssen sie geheim bleiben. Es gibt in Echo einen Menschen, der mehr darüber weiß als wir zwei. Irgendwann wirst du ihn kennenlernen, aber bis dahin schweige. In Ordnung?«

»Mit wem kann ich mich hier - abgesehen von Ihnen - überhaupt noch unterhalten? Mit Chuf?«

»Mit Chuf! Und dein Abenteuerleben beginnt ja bald.«

»Damit drohen Sie mir ständig.«

»Hast du heute Abend etwa zu wenig erlebt? Ich würde dich gern schneller bei mir im Haus an der Brücke einsetzen, aber in Echo braucht alles seine Zeit. Einen Tag nach unserem Ausflug ins Fressfass hab ich dein Ernennungsgesuch an den Hof weitergeleitet. In meiner Behörde wird alles schnellstens erledigt - in einem Monat dürfte alles geregelt sein.«

»Das soll schnell sein?«

»Ja. Und gewöhne dich daran.«

Wir waren in Juffins Haus getreten. Er verschwand in sein Schlafzimmer, und ich blieb allein. Höchste Zeit, über die Finsternis nachzudenken, in die ich angeblich schaute. Die alten Damen hatten mir wirklich einen Schreck eingejagt! Und dann noch Juffin mit seinem Vortrag über die geheime Ursache meiner Stimmungswechsel. Brrr!

In meinem Zimmer nahm ich die von mir gerettete Dose aus der Manteltasche. Meine Süße, bleib einige Zeit liegen und beruhige dich etwas. Opa Max ist ein guter Mensch, obwohl er fast nichts besitzt. Er schützt dich vor jedem Überfall, aber jetzt schaut er noch ein bisschen in die Finsternis ...

In die Blüte meiner neuen Phobie kam ein flauschiges Kügelchen aus der Finsternis gesprungen: »Max, lass das!«

Mein kleiner Freund Chuf wedelte mit dem Schwänzchen und brachte damit die teuflische Dunkelheit zum Verschwinden. Ich beruhigte mich, löschte das paranoide Murmeln der betagten Grazien aus dem Gedächtnis und ging mit Chuf ins Wohnzimmer, um zu Abend zu essen und die Tageszeitungen zu lesen.

Bis zum Morgen konnte ich nicht einschlafen, sondern wartete auf Juffin, um die Ereignisse des Abends bei einem Becher Kamra zu besprechen. Ich hatte die Vorstellung, Sir Juffin zerbräche sich von morgens bis abends über den geheimnisvollen Mord den Kopf. Wie der gute alte Sherlock Holmes oder der kaum weniger alte und ebenso gute Kommissar Maigret würde Juffin - dachte ich - stundenlang Pfeife schmauchen und dann zum Tatort schlendern, um nach einer schlaflosen Nacht das Geheimnis der entlaufenen Leiche - nicht ohne meine bescheidene Hilfe - zu lüften. Und danach würden alle vor Freude tanzen.

Doch mich erwartete eine große Enttäuschung. Das morgendliche Treffen mit ihm dauerte nur zwölf Minuten, und die ganze Zeit verschwendete Sir Juffin mit Spekulationen darüber, ob und wie ich die nächsten drei Tage ohne ihn auskommen könnte. Wie sich herausstellte, stand sein jährlicher Besuch bei Hofe an, und der König ließ seinen charmanten Vasallen in aller Regel nicht so schnell wieder laufen. Nach Sir Juffins Erfahrungswerten würde seine Quasi-Gefangenschaft drei bis vier Tage dauern. Danach würde sich im Volk Unmut rühren, der den Monarchen zwänge, seine Beute widerwillig in die Welt zurückkehren zu lassen.

Ich verstehe Seine Majestät: Detektivgeschichten gibt es im Vereinigten Königreich ja nicht, und die trockenen Berichte der Höflinge können das farbenprächtige Schwadronieren von Sir Juffin Halli nicht ersetzen.

Meine Einsamkeit nutzte ich nicht übel. Ich ging oft und lange spazieren, beobachtete Passanten und prägte mir Straßennamen ein. Und ich erkundigte mich nach dem Mietpreis leer stehender Gebäude. Äußerst kritisch wählte ich mein zukünftiges Zuhause aus, das in der Nähe der Straße der Kupferkessel sein sollte, an deren Ende das Haus an der Brücke steht, in dem sich das Polizeirevier und die Dienststelle von Sir Juffin befinden. Nachts machte ich meine Hausaufgaben und befragte etliche Gegenstände nach ihrer Vergangenheit. Es war angenehm zu merken, dass ich all das auch ohne Hilfe von Sir Juffin konnte. Die Dinge teilten mir ihre Erinnerungen gern mit. Nur die kleine Cremedose aus dem Schlafzimmer von Sir Makluk-Olli schwieg beharrlich wie ein Partisan. Anfälle unkontrollierter Angst waren bei ihr aber inzwischen nicht mehr zu beobachten. Immerhin etwas!

Am späten Abend des vierten Tages kehrte Sir Juffin Halli mit königlichen Geschenken und brandneuen Nachrichten zurück, die mir anfangs sehr abstrakt schienen. Er schob alle dienstlichen Angelegenheiten, die in seiner Abwesenheit aufgelaufen waren, beiseite. Mit dem geheimnisvollen Mord im leeren Schlafzimmer beschäftigten wir uns weder am ersten noch am zweiten Abend.

Mein Leben verlief endlich wieder in seiner alten, angenehmen Bahn. Juffin kam früh nach Hause, und wir nahmen unsere langen Gespräche und Nachtseminare wieder auf. Seit dem ungeklärten Mord im Haus von Sir Makluk waren schon zwei Wochen vergangen (jedenfalls nach meiner Rechnung; in Echo teilt man das Jahr nicht in Wochen und Monate, sondern in Tagesdutzende ein).

Nach hiesiger Zeitrechnung war seit unserem nächtlichen Besuch im Nachbarhaus schon über ein Dutzend Tage vergangen. Das ist eine lange Zeit, um meine Neugier aufrechtzuerhalten. Sie entzündet sich schnell und erlischt genauso rasch, wenn sie nicht gefüttert wird.

Hätte die von mir gerettete Dose doch früher gesprochen - ehe ich mich redseligeren Dingen zugewandt und sie darüber vergessen hatte! Obendrein hatte Sir Juffin begonnen, mir Tricks beizubringen. Wer weiß, wie alltäglich, akademisch und langweilig diese ganze Sache ohne meinen Leichtsinn geendet hätte.

Wie dem auch sei: Der erste Vorbote des sich zügig nähernden Unheils überraschte mich am frühen Abend eines wunderschönen Tages. Gerade riskierte ich zum zweiten Mal einen Blick in die Meisterwerke der alten Dichtung Ugulands, einen schweren Band, den ich aus der düsteren Bibliothek in den Garten mitgenommen hatte. Mühsam kletterte ich mit dem Folianten auf einen Ast des weit verzweigten Wachari, einer Baumsorte, die sich besonders für Männer mittleren Alters, die unter Anwandlungen von Kindlichkeit leiden, zum Klettern eignet.

Von meinem Beobachtungspunkt sah ich einen grau gekleideten Mann, der von Sir Makluks Residenz langsam zu uns kam. Ich erinnerte mich der Ereignisse beim letzten Besuch dort und hielt es für besser, ins Haus zu gehen. Sir Juffin war noch nicht da, und ich beschloss, mir die Nachrichten des Boten anzuhören. Für meinen Geschmack kletterte ich zu langsam runter, erreichte die Haustür aber, ehe Sir Makluks Diener den mit bunten, durchsichtigen Kieseln ausgelegten Pfad betreten hatte, der zum Haus führte.

In der Diele stieß ich auf Kimpa. Er wollte zur Tür eilen, doch ich kam ihm zuvor, öffnete dem Boten und sagte: »Sir Juffin ist nicht da. Sprich also mit mir!«

Sir Makluks Bote geriet in Verlegenheit. Ob es daran lag, dass ich meinen für hauptstädtische Ohren unangenehmen Akzent noch immer nicht losgeworden war?

Mein stutzerhaftes Aussehen und mein entschiedener Ton jedenfalls - vielleicht auch das Eingreifen Kimpas, den ich nicht bemerkt hatte - taten die erwünschte Wirkung.

»Sir Makluk bittet, dem Ehrwürdigen Leiter das Verschwinden des alten Dieners Gowins mitzuteilen. Seit heute Morgen hat ihn niemand gesehen. Das ist seit neunzehn Jahren nicht mehr vorgekommen! Außerdem lässt Sir Makluk ausrichten, dass ihn merkwürdige Vorahnungen plagen.«

Mit wichtigtuerischem Kopfnicken entließ ich den Boten. Zweifellos sollte ich Juffin per Stummer Rede rufen. Dafür aber fehlte mir die Erfahrung. Es ist leicht, dieses Kommunikationsmittel anzuwenden, wenn der Gesprächspartner einem gegenübersitzt. Jetzt aber sollte ich ihn Gott weiß wo ausfindig machen und eine telepathische Verbindung hersteilen. Sir Juffin hatte mir mehrmals einzureden versucht, es gebe da eigentlich keinen Unterschied - wenn es einmal geklappt habe, klappe es beim zweiten Mal wie am Schnürchen. Was das betraf, hatte ich allerdings meine eigene Meinung. Vielleicht mangelte es mir ja an Fantasie oder Erfahrung.

Ich hätte Kimpa natürlich um Hilfe bitten können. Dem stand nichts entgegen, weder eine besondere Geheimhaltung noch mein übersteigerter Ehrgeiz (welcher Ehrgeiz denn?). Erneut muss ich gestehen, einfach nicht auf die Idee gekommen zu sein, mich an ihn zu wenden. Und Kimpa - stets korrektester Diener - traute sich nicht zu intervenieren.

Also begann ich auf eigene Faust, Kontakt mit Juffin zu suchen. Nach drei Minuten war ich verschwitzt, fahrig und der Verzweiflung nahe. Nichts klappte! Ich stand mit dem Rücken zur Wand und war sicher, zu nichts zu taugen!

Ich ließ alle Hoffnung fahren und probierte es ein letztes Mal ... und plötzlich funktionierte es! Ich erreichte Juffin mit meinem »Stummen Schrei«, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie.

»Was gibt's, Max?«, fragte er, und ich erzählte ihm alles.

»In Ordnung. Ich komme. Warte auf mich«, antwortete er knapp. Er wollte eindeutig meine Kräfte schonen.

Ich atmete tief ein und ging mich umziehen. Schon lange hatte ich nicht mehr so geschwitzt! Kimpa betrachtete mich mit herablassender Neugier und enthielt sich taktvoll jeglichen Kommentars. Ein Heiliger.

Ehe Juffin kam, war ich hergerichtet, doch unseren Hauptzeugen - die kleine Cremedose - erwähnte ich nicht. Ich hätte das Gespräch später bestimmt darauf gebracht, aber Juffin kam nicht allein, sondern in Begleitung von Sir Melifaro, seinem Stellvertreter. Glauben Sie mir: Ihn kennen zu lernen, gleicht dem Erleben eines Erdbebens der Stärke fünf bis sechs. Sir Melifaro ist nicht nur das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps, sondern eine wahre Wanderausstellung. Den Burschen sollte man für Geld vorführen. Alle zwölf Tage würde auch ich eine Eintrittskarte kaufen, wenn ich das Vergnügen nicht täglich gratis bekäme - als Bonus für geleistete Dienste.

An diesem Tag wusste ich noch nicht, was mich erwartete.

Ins Wohnzimmer fiel ein dunkelhaariger Schönling ein, der auf den ersten Blick mein Altersgenosse war. Solche Typen hat man im Hollywood der Nachkriegszeit geschätzt und für die Rolle des ehrlichen Boxers oder des Privatdetektivs gebucht. Die Kleidung des Unbekannten wirkte auf mich stärker als sein Gesicht. Unterm bunten Mantel sah eine smaragdgrüne Skaba hervor, und auf dem Kopf trug er einen orangefarbenen Turban. Dazu hatte er grellgelbe Stiefel an. Dürfte dieser Modenarr sich täglich hundert Kleidungsstücke aussuchen, würde er - da bin ich mir sicher - stets nur zu den grellsten Farben und Nuancen greifen.

Der Angekommene funkelte mich aus dunklen Augen an und zog die Brauen so hoch, dass sie unter seinem Turban verschwanden. Theatralisch bedeckte er das Gesicht mit den Händen und rief: »Du bist es wirklich, mein prächtiger Barbar, und ich fürchte, dein Blick wird mich von nun an in Alpträumen verfolgen!« Danach drehte er sich auf dem flauschigen Teppich wie auf einer Eisfläche um die eigene Achse und plumpste in einen Sessel, der bei dieser Behandlung aufstöhnte und erstarrte, als würde er sterben. Es schien, als hörte der Ankömmling auf zu atmen. Jedenfalls heftete er seinen durchdringend prüfenden Blick, der plötzlich ernst und seltsam leer wurde, auf mich, was zu der gerade abgezogenen Nummer gar nicht passte.

Ich begriff, dass ich ihn jetzt begrüßen sollte, und bedeckte die Augen - wie es sich eigentlich gehörte - mit der Hand, konnte aber nur ein »Na!« herausbringen.

Melifaro lächelte und zwinkerte mir unerwartet zu. Er tat übrigens alles unerwartet.

»Aber Max! Zukünftige Nachtseite unseres Ehrwürdigen Leiters! Nimm das nicht so ernst - schließlich arbeite ich schon seit sechzehn Jahren als seine Tagseite. Der Mensch gewöhnt sich an alles, weißt du.«

»Es fehlt nur noch wenig, dann hat unsere Abteilung bei Max jedes Ansehen verloren!«, mischte sich Juffin ein. »Meine Bemühungen laufen ins Leere! Er wird denken, ich sei nur der Leiter eines Asyls für Verrückte, und zurück in seine Leeren Länder fliehen, weil er die Vorzüge eines Lebens in sauberer Luft zu schätzen weißlich winkte beschwichtigend ab.

»Was gibt es eigentlich für Neuigkeiten?«, fragte Juffin nun gespannt.

»Haben Sie zu wenig Informationen, Sir?«, rief Melifaro. »Soll Ihnen etwa jemand sagen, wo der Verschwundene sich aufhält, was mit ihm passieren wird und wer an allem schuld ist? Im Haus von Sir Makluk hat sich keiner bemüht, den Täter zu fassen, und wir müssen nun die Kastanien aus dem Feuer...

»Melifaro!«, unterbrach Juffin. »Sir Max weiß noch nicht, dass du der Klügste, Unwiderstehlichste und Herrlichste von allen bist. Er kann sein Glück kaum fassen, an der Quelle der Macht des Vereinigten Königreichs zu sein.« Nach diesen Worten machte er eine kurze Pause und setzte seltsam sanft hinzu: »Und jetzt wird gearbeitet.«

Schnaubend nahm Melifaro das zur Kenntnis.

»Max, du kommst mit, damit unser Grüppchen nach was aussieht. Gestern habe ich Sir Lonely-Lokley und seine großen Hände für fünf Sorgenfreie Tage beurlaubt. Klugerweise hat er sich gleich heute Morgen davongemacht. Lady Melamori hat ebenfalls dienstfrei, weil ihr einflussreicher Vater sich nach ihr gesehnt hat. Und Sir Kofa Joch bewacht unsere nette Anstalt an der Brücke, statt in irgendeinem Betrunkenen Skelett zu tafeln, der Arme. Wir aber sollten etwas essen, damit uns Sir Melifaro nicht vom Fleisch fällt. Wie ich dich kenne, Max, hast du bestimmt auch Appetit.«

Wir aßen reichlich, aber in Eile. Es schien, als wäre Sir Melifaro auf einen Eintrag ins Buch der Rekorde scharf und hoffte, seinen Namen unter denen zu sehen, die riesige Mengen an Lebensmitteln vertilgten. Dabei schaffte er es obendrein, mich zu fragen, ob es nicht schwierig sei, ohne gedörrtes Pferdefleisch auszukommen, und erkundigte sich bei Sir Juffin, ob er ein mit dem marinierten Fleisch eines rebellischen Magisters belegtes Brot bekommen könne. Diesen Witz verstand ich erst später, als Sir Kofa Joch mir einen Überblick über die zählebigsten Legenden der Stadt gegeben hatte.

Schweigend gingen wir zu Sir Makluks Haus hinüber. Sir Juffin war in Gedanken vertieft, Melifaro pfiff ein Lied, und ich erwartete mein erstes Abenteuer. Ich sage gleich vorweg, dass es aufregender wurde, als ich es mir erhofft hatte.

Ein in tadelloses Grau gekleideter Mann ließ uns durch die kleine Seitentür ein. Ich fühlte mich plötzlich unwohl - mir war nicht übel, doch ich war traurig, und die ganze Situation erschien mir widerlich. Etwas Ähnliches hatte ich schon früher gespürt, in den seltenen Fällen nämlich, da ich meine Großmutter hatte besuchen müssen. Im Krankenhaus hatte es eine eigene Abteilung für Sterbende gegeben - ein wirklich nettes Plätzchen ...

Juffin warf mir einen interessierten Blick zu. »Max, spürst du das auch?«

Ich war so verwirrt, dass ich laut fragte: »Was ist das?«

Melifaro drehte sich erstaunt um, sagte aber nichts.

Juffin bevorzugte Stumme Rede. »Der Duft des Schlechten Todes. Er ist mir schon früher begegnet. Das alles ist sehr unerfreulich«, meinte er, zuckte die Achseln und setzte laut hinzu: »Gehen wir ins Schlafzimmer. Mein Herz spürt, dass der alte Gowins ungeduldig geworden ist und es am Morgen betreten hat, um Ordnung zu machen. Melifaro, du übernimmst die Rolle von Lonely-Lokley.«

»Mit mir ist heute nicht viel los. Ich kann mich nicht so anstrengen.«

»Das brauchst du auch nicht. Du sollst nur als Erster in die Hölle des Schlafzimmers gehen. Gemäß den Vorschriften darf ich euch nicht der Gefahr aussetzen, meine Gesellschaft zu verlieren, und Sir Max weiß nicht, was man zu tun hat, wenn man als Erster eintritt.«

»Dafür bin ich Ihnen nicht zu schade, stimmt's! Ich weiß - Sie haben mich schon lange satt. Kann es sein, dass Sie mich aus dem Dienst jagen wollen und Ihr Gewissen dabei sauber bleiben soll? Kommen Sie zur Besinnung, ehe es zu spät ist!«, rief Sir Melifaro im Scherz.

Ich erklärte ihm augenzwinkernd, was Juffin und ich im Schilde führten: »Wie Sie sehen, strebe ich auf Ihren Posten. Und für Ihren Boss ist es leichter, jemanden zu töten, als ihn ohne Grund zu beleidigen. Jetzt verstehen Sie sicher ...«

»Tja«, seufzte Melifaro theatralisch. »Sonst würde er mich bestimmt schon lange nicht mehr durchfüttern.«

»Herrschaften, könnt ihr mal die Klappe halten?«, fragte Juffin höflich.

Das taten wir ungesäumt und folgten unserem strengen Cicerone. Vor dem Schlafzimmer blieb Juffin stehen.

»Wir sind da. Herzlich willkommen!«

Melifaro hielt sich nicht mit den Tricks tapferer Filmsoldaten auf, sondern öffnete umstandslos die Tür und trat ungeduldig ein. Wenn man mich fragt, befand sich das Duftzentrum des Schlechten Todes genau dort. Aber Befehl ist Befehl. Also folgte ich ihm.

Eine Sekunde war mir, als sei ich vor Jahren gestorben. Todessehnsucht begann in mir zu brennen, eine besondere Art Heimweh. Doch ein letzter Rest des alten, distanzierten und vernünftigen Max hauste noch in mir. Also nahm ich mich zusammen, besser gesagt: Das bisschen Restvernunft legte meine übrigen Facetten, die der Todessehnsucht zuarbeiteten, an die Kandare.

Sir Melifaro, der sich im seligen Stand der Unwissenheit befand, spitzte die Ohren und brummte düster: »Chef, das ist kein sehr angenehmer Ort. Wohin haben Sie mich geschleppt? Wo sind hier Mädchen? Wo ist Musik?«

Sir Juffin antwortete mit merkwürdig fremder Stimme: »Zurück, Kinder. Diesmal bekommt meine Pfeife einen Hustenanfall.«

Es war schon seltsam: Der Pfeifenzeiger konnte angewandte Magie bis zum hundertsten Grad nachweisen. In romantischer Vorzeit hatten solche Pfeifen noch viel höhere Grade von Magie angezeigt, doch für die Gegenwart reichten hundert Grade völlig. Wenn diese Pfeife nun hustete, konnte das nur bedeuten, dass sich im Zimmer eine viel höhere Magie befand, vielleicht eine des 173. oder 212. Grades. Mir war das völlig egal.

»Wie ich höre ... «, begann Melifaro, doch Juffin schrie: »Hau ab, schnell!«, griff dabei nach meinem Unterschenkel und riss mich zu Boden. Ich sah Melifaros Beine nur noch in einem sonderbaren Salto aufs Fenster zurasen. Glassplitter regneten auf ihn nieder. Wie ein smaragdgrüner Vogel stürzte er in den Garten und wäre beinahe dort aufgeschlagen, schnellte aber zurück, als hinge er an einem Gummiband.

»Was machst du denn schon wieder hier, du Idiot? Hau ab!«, brüllte Juffin ohne viel Überzeugungskraft. Selbst ich merkte, dass Melifaro nicht freiwillig zurückgekehrt war, und glaubte sogar, ein Spinnennetz zu sehen, das wie ein Kristall glitzerte und in dem er sich verfangen hatte. Er schaute uns seltsam entrückt an. Aus berauschend weiter Ferne. Dazu lächelte er so glückselig wie idiotisch. Langsam arbeitete er sich zum Zentrum des Spinnennetzes vor - auf das zu, was früher der große, alte Spiegel gewesen war.

Juffin hob die Hände über den Kopf und schien von innen warm und gelb aufzuleuchten wie eine Kerosinlampe. Erst funkelte das Spinnennetz, dann Sir Melifaro. Er blieb stehen und drehte sich zu uns um. Mit ihm schien alles in Ordnung zu sein, doch dann erlosch sein Funkeln. Er lächelte noch immer und machte wieder einen Schritt auf ein dunkles Geschöpf im Spiegel zu.

Juffin krümmte sich und zischte einige Worte. Das Spinnennetz zitterte, und ein paar Fäden rissen mit einem merkwürdigen Geräusch, das mir im Magen wehtat. In der Finsternis dessen, was wir für den Spiegel gehalten hatten, rührte sich etwas. Leere Augen schauten uns an, die dem Spinnennetz ähnlich schienen und kalt wie Kristalle funkelten. Das Licht dieser Augen ließ uns ein Maul erkennen, das dem eines Affen ähnlich war, sich bei näherem Hinsehen aber als dunkler, feuchter, abstoßender Fleck erwies, den ich zunächst für einen Bart hielt. Er hatte keine klare Kontur. Dann begriff ich entsetzt, dass der »Bart« lebte. Rund um die ekelhafte Öffnung bewegte sich ein Gestrüpp dünner Beinchen, die ein Eigenleben führten. Das Wesen schaute Sir Melifaro mit kühler Neugier an, bemerkte uns dagegen nicht. Melifaro lächelte, sagte leise: »Du siehst doch, ich komme«, und machte wieder einen Schritt voran.

Juffin tobte, rief mit rauer, fremder Stimme unverständliche Worte, trommelte rhythmisch mit den Beinen und lief im Zimmer auf und ab. Der Takt seiner Schritte und Schreie wirkte seltsam beruhigend auf mich. Wie verzaubert erlebte ich seinen schwindelerregenden, schamanistisch wirkenden Auftritt. Das Spinnennetz zitterte und erlosch, und der Spiegelbewohner musterte Juffins Bewegungen mit sterbendem Blick.

»Das Wesen stirbt«, dachte ich kühn. »Es war immer tot, und jetzt stirbt es. Merkwürdig!«

Juffin beschleunigte seinen Rhythmus. Seine Schritte wurden lauter, und sein Schreien verwandelte sich in Geheul, das meine Gedanken übertönte. Sein Körper schien mir seltsam groß und dunkel wie ein Schatten. Die Wände des Zimmers begannen hellblau zu leuchten. Ein kleiner Tisch hob sich in die Luft und flog Richtung Spiegel, stürzte aber auf halbem Wege ab, und seine Trümmer mischten sich mit den Spiegelsplittern.

Dann spürte ich, dass ich einschlief - oder starb. Eigentlich hatte ich nie vorgehabt, in Gegenwart einer kränklichen, behaarten Affenfratze zu sterben. Aus einer Zimmerecke kam ein Kerzenleuchter geflogen und schien auf meinen Kopf zu zielen. Da wurde ich wütend und bewegte mich, und der Kerzenleuchter blieb ein paar Zentimeter vor meinem Kopf in der Luft stehen. In diesem Moment begriff ich, dass es zu Ende war.

Na ja, »zu Ende« ist leicht gesagt. Es gab kein Licht und kein Spinnennetzgefunkel mehr, und auch der fatale Geruch nach Schlechtem Tod war verschwunden. Der Spiegel sah wieder nach Spiegel aus, warf aber natürlich kein Bild mehr zurück. Sir Melifaro stand bewegungslos inmitten der Trümmer. Sein Gesicht war eine erschreckend leblose Maske. Das Spinnennetz hing ihm nun in glanzlosen, aber echten Fasern am Leib. Sir Juffin hockte sich neben mich und musterte neugierig mein Gesicht.

»Wie fühlst du dich, Max?«

»Ich weiß nicht. Wenigstens geht es mir besser als ihm«, meinte ich und wies mit dem Kopf auf Sir Melifaro. »Was war das gerade?«

»Magie des 212. Grades, mein Freund. Was hältst du davon?«

»Was halten Sie davon?«

»Das alles war sehr seltsam. Rein theoretisch solltest du in seinem Zustand sein«, antwortete Juffin. Wir wandten synchron die Köpfe und betrachteten erneut den erstarrten Melifaro.

»Sag mal, bist du eingeschlafen? Was war mit dir los?«

»Offen gesagt wusste ich selbst nicht, ob ich sterbe oder einschlafe. Aber ich dachte, dass ich in Anwesenheit dieses Affen nicht sterben will. Komisch, was? Als mir der Kerzenhalter entgegenflog, war ich endgültig sauer, und zwar auf alles: auf den dummen Leuchter, auf die Missgeburt im Spiegel und auf Sie. Und ich nahm mir vor: Euch zeig ich's! Ich sterbe nicht! Das war eigentlich alles.«

»Donnerwetter, Junge! Bisher galt so was als unmöglich. Du warst also plötzlich beleidigt und hast dich entschieden, nicht zu sterben? Um deinen Feinden Paroli zu bieten? Lustig. Aber trotzdem: Wie fühlst du dich jetzt?«

Unvermittelt überkam mich strahlende Laune. Als ich in mich hineinlauschte, merkte ich, dass ich mich tatsächlich nicht normal fühlte. Zum Beispiel verstand ich durchaus, was gerade passiert war. Ich hatte Juffin nicht danach fragen müssen. Mir war klar, dass er zweimal erfolglos versucht hatte, die fremde Kraft aus dem Spiegel zu besiegen. Beim dritten Mal hatte er alles im Zimmer erstarren lassen. Ich stellte mir plastisch vor, wie er es gemacht hatte, hätte das Ganze aber nicht wiederholen wollen. Ich wusste auch, dass es unmöglich war, den Spiegelbewohner zu vernichten, ohne Sir Melifaro dabei Schaden zuzufügen. Das Spinnennetz verband die beiden nämlich wie siamesische Zwillinge.

Doch im Moment quälten mich andere Fragen. So überlegte ich, wie Sir Juffin aussehen mochte, wenn man einen Glassplitter nahm und ihm damit die Wange ritzte. Und wie sein Blut wohl schmecken mochte.

Ich fuhr mir mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen.

»Max«, sagte Juffin streng. »Reiß dich zusammen. Das bringt dich aus der Fassung. Ich kann dir helfen, wenn wir das Zimmer erst verlassen haben, aber es wäre besser, wenn du es allein schaffst. Im Vergleich zu dem, was du schon geleistet hast, ist das eine Kleinigkeit.«

Ich durchstöberte alle Ecken meiner Seele nach dem kleinen, vernünftigen Jungen, der mir in heiklen Lagen hilft. Offenbar war er gerade nicht zu Hause.

Plötzlich erinnerte ich mich an einen billigen Vampirfilm. Die Helden waren bleich geschminkt und hatten ziemlich scheußliche Blutergüsse - wie Kinder, die unter den Launen überforderter Hausmädchen leiden müssen. Ich verglich das mit meiner Situation: der nette Max, der anerkannte Liebling der Mädchen und Haustiere ... Zuerst schämte ich mich, doch dann brach ich in Gelächter aus.

Sir Juffin wandte sich zu mir um: »Du hast aber Fantasie!«

»Das ist keine Fantasie - das ist mein gutes Gedächtnis. Wenn Sie den Film gesehen hätten ...«, begann ich, stockte dann und fragte vorsichtig: »Moment mal, lesen Sie meine Gedanken?«

»Manchmal. Wenn die Arbeit es verlangt«, bestätigte Juffin gelassen.

Doch das hörte ich schon nicht mehr. Wieder quälte mich der Wunsch, Juffins Blut zu kosten. Einen kleinen Schluck nur. Mein Magen knurrte. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an sein Blut!

»Bin ich etwa verrückt?«

»So was in der Richtung, Max. Aber das ist gut für dich. Ich glaube, nachdem du meinen Zauber ausgehalten hast, kannst du deine Verrücktheit locker bewältigen! Ich kann dich heilen, wenn es sein muss. Sag einfach Bescheid. Aber du verstehst schon ...«

Ich verstand: Mit der Verrücktheit würde auch das geheime Wissen verschwinden, in dessen Besitz ich so unerwartet gekommen war. Und nach Lage der Dinge erschien Sir Juffin die fachliche Hilfe eines psychisch unausgeglichenen Vampirs nützlicher als das Blöken des normalerweise unbewanderten Max. Aber wenn er sich versehentlich in die Hand schneiden würde, könnte ich ... Wieder leckte ich mir die Lippen und schluckte die bittere Spucke vernehmlich herunter. Dann nahm ich einen Glassplitter und ritzte mir die Hand, was mir arge Schmerzen und salzigen Blutgeschmack eintrug, mir aber auch unglaubliche Erleichterung brachte!

»Helfen Sie mir bitte auf, Juffin. Mir ist ganz blümerant.

Er nickte lächelnd und reichte mir die Hand. Ich stand auf und wunderte mich, wie ich mein Leben in so schwindelerregender Höhe verbringen sollte. Der Boden befand sich am anderen Ende des Weltalls - falls er sich überhaupt irgendwo befand! Ich stützte mich auf Juffin, bewegte behutsam die eingeschlafenen Beine und ging in den Flur.

Ich wusste, was nun kommen würde. Die Kräfte, die mein Gönner gerufen hatte, störten das Gleichgewicht der Welt. Das ist nichts Besonderes, auch nicht nach den Maßstäben des Linken Flussufers. Die häuslichen Maßstäbe aber sind andere. Ein Zimmer ist in kürzester Zeit restlos mit Magie gefüllt, und diese Magie zerstört die Harmonie. Man sollte das Leben gleich anhalten, wenn Konturen verschwinden, und es in Ordnung bringen. So etwas darf man nicht auf später verschieben. Damals stand mir alles, was geschehen war, lange lebhaft vor Augen, doch jetzt erinnere ich mich nur noch dunkel daran.

Zuerst streiften wir ziellos durch das riesige Haus. Grau gekleidete Männer versuchten, uns zu entkommen, obwohl manche bedrohlich die Zähne zeigten.

Andere verhielten sich seltsam. Im großen Wohnzimmer mit Springbrunnen, in dem Sir Makluk uns empfangen hatte, führten zwei junge Männer einen lautlosen rituellen Tanz auf. Graziös umwickelten sie sich mit etwas, das wie fluoreszierende Papierschlangen aussah. Als wir näher kamen, merkte ich entsetzt, dass es sich um Gedärm handelte, das die Burschen einander mit nachdenklichem Gesicht aus dem Bauch zogen. Es gab kein Blut, und sie hatten - wie ich annahm - auch keine Schmerzen. Die Innereien funkelten im Halbdunkel des großen Saals und spiegelten sich im Strahl des Springbrunnens.

»Denen ist nicht zu helfen«, flüsterte Juffin und hielt die Szene mit behutsamer Geste per Zauberspruch an. Nachdem er das einmal getan hatte, war es nicht nötig, die Prozedur jedes Mal zu wiederholen, denn der Zauber folgte ihm wie die Schleppe eines Kleides, und ich ... nun ja ... ich half ihm, sich mit dieser Schleppe fortzubewegen. Kaum war auf die übrigen Zimmer auch nur der Schatten des Zaubers gefallen, verhielten die Diener sich auch dort wieder normal.

Ein Ende unseres Streifzugs durchs Haus war nicht abzusehen. Manchmal spürte ich ein Verlangen nach Blut, war aber zu sehr mit der Abwehr wütender Alltagsgegenstände beschäftigt, die eine echte Vorliebe für uns entdeckt hatten. Vor allem erzürnte mich die Attacke eines dicken Buchs namens Chroniken von Uguland.

»Dich hab ich schon gelesen, hau ab«, rief ich und wehrte die wütende Wissensquelle mit einem massiven Spazierstock ab, den ich mir klugerweise am Anfang des Rundgangs besorgt hatte.

In einem der Zimmer sah ich mein Bild im Spiegel und erschrak. Woher kamen diese glühenden Augen, diese hektischen Bewegungen des Kiefers? Wann hatte ich es geschafft, so abzumagern? Ich hatte doch vor kurzem Mittag gegessen, nach Ansicht von Graf Dracula aber wohl nichts Richtiges zu mir genommen. Was für eine dumme Ansicht! Aber es war gar nicht schwer, mich zusammenzunehmen - der Mensch gewöhnt sich an alles.

Wir streiften weiter durchs Haus. Langsam fragte ich mich, ob es dabei für immer bleiben würde. Waren die Uhren etwa stehen geblieben, während wir - in einer Art Fegefeuer zu Lebzeiten - in einem aus dem Zeitkontinuum gefallenen Haus alterten?

In einem Zimmer trafen wir Sir Makluk, der damit beschäftigt war, einen großen Bücherschrank wie einen Bogen Pergament zusammenzurollen, und dem dies - gegen alle Wahrscheinlichkeit - schon fast gelungen war. Der alte Mann drehte sich zu uns um und erkundigte sich freundlich, wie es uns gehe.

»Bald ist alles in Ordnung«, versprach Juffin, und Sir Makluk erstarrte mitten in seinem seltsamen Tun: eine weitere Statue im neuen Wachsfigurenkabinett. Ein grau gekleideter Junge trat im Türrahmen von einem Fuß auf den anderen, knurrte leise und klatschte rhythmisch in die Hände. Eine Sekunde später erstarrte auch er.

Dann gingen wir durch einen leeren Flur. Plötzlich hatte ich den Eindruck, mich und Juffin von hinten zu sehen. Kurze Zeit waren da zwei Nacken - einer gehörte Juffin, der andere mir.

»Max, bist du müde?«, fragte er mich lächelnd.

»Verschwinden wir von hier!«, sagte ich, ohne zu überlegen.

»Natürlich. Was sollen wir auch sonst tun? Bald ist alles in Ordnung.«

»Bei mir ist jetzt schon alles in Ordnung. Mir ist nur übel.«

»Das ist der Hunger. Sauf einfach ein paar Liter von meinem Blut, und alles ist wie weggewischt!«

»Sie haben Humor!«

»Wenn ich den nicht hätte, würde ich bei deinem Anblick loslachen. Hast du dich mal im Spiegel betrachtet?«

»Als Sie dieses Scheusal im Schlafzimmer anfauchten, hätte ich Sie beinahe für einen netten Menschen gehalten.«

»Das kann ich mir vorstellen! Aber los jetzt, Max - wir haben uns eine Pause verdient!«

Wir gingen in den Garten. Es war schon dunkel. Der Vollmond beleuchtete Juffins müdes Gesicht und färbte seine klaren Augen gelb. Auch mich umflutete Mondlicht. Wozu braucht der Mensch noch Augen? Reichen Straßenlaternen nicht? Das war mein letzter Gedanke. Ehrlich gesagt hätten wir auch ohne ihn auskommen können.

Dann schaute ich meine verletzte Hand an, und was danach passiert ist, weiß ich nicht.

Denken Sie, ich wäre eine Woche später wieder zu mir gekommen, und eine hübsche Krankenschwester hätte mir die Hand gehalten? Dann ist Ihnen noch nicht klar, was es heißt, für Sir Juffin zu arbeiten. Er würde mir nie erlauben, im Bett zu bleiben!

Ich wurde gleich wieder zu Bewusstsein gebracht, allerdings auf sehr angenehme Weise. Als ich zu mir kam, fand ich mich an einen Baum gelehnt und hatte ein ausgezeichnetes Getränk im Mund. Neben mir kniete Kimpa mit einer Tasse. Und neben ihm warteten weitere Leckerbissen.

»Schmeckt gut«, sagte ich und befahl: »Mehr!«

»Das reicht!«, erklärte Juffin. »Ich bin nicht knauserig, aber Kachar-Balsam ist das stärkste Schmerzmittel, das unsere Wissenschaft kennt. Schwarze Magie achten Grades! Doch davon hast du noch nichts gehört.«

»Und wem kann ich nun schaden? Ihnen vielleicht?«

»Keine blutigen Gelüste mehr?«

Aufmerksam horchte ich in mich hinein und verspürte nichts mehr davon. Dann erforschte ich weitere Elemente meiner Persönlichkeit. Schade - die Klugheit, die ich noch vor kurzem besessen hatte, war mir auch abhandengekommen. Obwohl ...

»Etwas von vorhin jedenfalls scheint übrig geblieben zu sein. Ich meine nicht das Verlangen nach Blut, sondern ...«

Juffin nickte. »Dieses Treffen war für dich nützlich, Max. Man weiß eigentlich nie, wo man etwas findet und wo man etwas verliert. Was für ein Tag! Aber Spaß beiseite: Melifaro sitzt in der Klemme.«

»Ich finde, die beiden Tänzer im Springbrunnensaal - die mit den pathologischen Neigungen - sind noch schlechter dran.«

Juffin winkte ungerührt ab. »Denen ist nicht mehr zu helfen. Den Übrigen dagegen schon. Der arme Melifaro allerdings hat leider kaum Chancen. Komm nach Hause, Max. Dort werden wir essen, trauern und uns Gedanken machen.«

Zu Hause verputzten wir zunächst alles, was die Küche hergab. Und das war nötig. Konzentriertes Kauen regt das Denken an, jedenfalls bei mir. Kurz vor dem Dessert kam mir endlich eine verspätete Erleuchtung. Ich zuckte im Sessel auf, verschluckte dabei ein Häppchen, hustete und schaute mich nach Wasser um. Zu guter Letzt verwechselte ich die Krüge und trank statt Kamra eine Tasse starken Dschubatinischen Säufer. Juffin sah mich mit interessiertem Forscherblick an.

»Seit wann neigst du zum Alkohol? Was ist los?«

»Ich bin ein Dummkopf«, gab ich niedergeschlagen zu.

»Sicher, aber warum so theatralisch? Außerdem besitzt du andere Werte«, tröstete mich Juffin. »Wieso bist du eigentlich gerade jetzt zu dieser Selbsterkenntnis gekommen?«

»Weil ich unseren Augenzeugen vergessen habe, die kleine Dose! Ich wollte mit ihr in einer freien Minute plaudern, aber Juffin errötete vor Aufregung. »Ich habe auch viele Vorzüge. Höchste Zeit, sie zu erwähnen! Aber ein Fehler hätte mir nicht passieren dürfen! Du durftest die Dose vergessen, ich nicht! Ich hatte immer vermutet, die Geistesschwäche von General Bubuta Boch sei ansteckend. Alle Symptome sind vorhanden, ich bin richtig krank! Hol deinen Schatz her, Max. Schauen wir mal, was uns die Dose sagt.«

Ich ging in mein Schlafzimmer. Neben dem Bett lagen meine Hausschuhe. Chuf schnarchte leise. Vorsichtig kraulte ich sein flauschiges Genick. Der Hund murmelte etwas, schlief aber weiter. Richtig, das war nicht seine Zeit.

Die Dose fand sich ganz unten in einer Schublade. Kaum hatte ich sie in der Hand, begannen meine Finger, nervös auf ihr herumzutrommeln, und ich zitterte grundlos. Ein schweres Gewicht schien sich auf meine Brust zu legen. Was wäre, wenn die Dose keine Lust hätte, sich mitzuteilen? Keine Panik - dann denkt Juffin sich was aus. Er wird sie dazu bringen, ihre Seele auszuschütten. Wie mag die Seele einer Dose aussehen? Ich kicherte, und das Gewicht auf der Brust wurde leichter.

Der Nachtisch, mit dem Kimpa uns erschöpfte Helden verwöhnte, übertraf meine kühnsten Träume von einem guten Dessert. Also wurde die Sache mit der Dose um eine weitere Viertelstunde verschoben.

Dann begab Sir Juffin sich in sein Arbeitszimmer. Ich folgte ihm mit unserem einzigartigen Augenzeugen, den ich in nassen, kalten Händen trug. Ich war nervös, denn mir war klar, dass die Dose reden wollte. Und noch etwas ließ mich aus dem Tritt geraten, doch ich wusste nicht, was. Auf der Erde hatte ich Horrorfilme gemocht, aber jetzt hätte ich lieber die Muppet Show gesehen. Zur Abwechslung.

Die Vorbereitungen für das Dosengespräch waren sorgfältiger als sonst. Sir Juffin wühlte lange in der mit Intarsien geschmückten Schatulle, in der er seine Kerzen aufbewahrte. Schließlich entschied er sich für eine bläulich - weiße Kerze, die mit winzigen dunkelroten Wachsspritzern gemustert war. Fünf Minuten bemühte er sich, mit einem ungeeigneten Stein Feuer zu machen. Ich konnte sein Tun nicht begreifen, doch letztlich war sein Bemühen von Erfolg gekrönt. Juffin stellte die Kerze an die Wand, legte sich in der gegenüberliegenden Ecke auf den Bauch und befahl mir mit einer Handbewegung, es ihm gleichzutun. Der Boden im Arbeitszimmer war kahl und kalt, denn es gab keinen Teppich. Ich fragte mich kurz, ob all diese Mühen nötig und sinnvoll waren.

Alles war vorbereitet. Die Dose rollte von allein zwischen uns und die Kerze. Ich hatte mich kaum anstrengen müssen, ihr Gedächtnis zu durchschauen. Sie hatte offenbar schon lange Lust, sich mitzuteilen. Die Vorstellung fing unverzüglich an. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns alles anzuschauen.

Von Zeit zu Zeit ließ meine Aufmerksamkeit erschreckend nach, denn früher hatte ich mich mit diesen Dingen nie länger als eine Stunde beschäftigt. In solchen Fällen hatte mir Juffin schweigend einen Becher Kachar-Balsam gegeben und manchmal selbst davon getrunken - sei es aus Erschöpfung, sei es aus Lust und Laune.

Die kluge Dose zeigte nur, was uns wirklich interessierte. Sir Juffin hatte mir eingeschärft, dass Gegenstände sich vor allem an Ereignisse erinnern, bei denen Magie im Spiel gewesen ist. Bestimmt hatte er recht, doch ich mag den Gedanken, dass die Dose genau gewusst hat, was wir brauchten. Man sagt, aufrichtige Leute seien denen besonders verpflichtet, die ihnen einen uneigennützigen Dienst erwiesen haben. Wenn man an meine unfreiwillige Sympathie für die aus dem Schlafzimmer von Sir Makluk gestohlene Dose denkt, stimmt das.

Die Dose berichtete uns Folgendes: Alles hatte mit einem Kampf begonnen. Mit einem Beteiligten dieses Kampfs hatten wir kurz zuvor geredet. Wir sahen einen gebrechlichen alten Mann mit erschöpftem, asketischem Gesicht und der kapriziösen Miene des verwöhnten Einzelkinds. Die teure Waschschüssel befand sich in den Händen unseres Bekannten Maddi. Sir Makluk-Olli tunkte den kleinen Finger ins Wasser und verzog unwillig die dünnen Lippen. Der kniende Diener erhob sich und ging zur Tür. Plötzlich bekam das zornige Gesicht des alten Mannes einen teuflischen Ausdruck. Dann warf er und traf! Die Waschschüssel - aus dünnstem Porzellan, wie zu vermuten stand - brach in tausend Stücke und ritzte dabei die Kopfhaut des Pechvogels.

Der erschrockene, von Wasser und einem Rinnsal Blut geblendete Maddi sprang zur Seite. Dieser Sprung hätte ihm eine Medaille eintragen können, wenn das Internationale Olympische Komitee das Zurseitespringen als olympische Disziplin anerkannt hätte. Dem Sprung des Dieners stand der verhängnisvolle Spiegel im Weg. Im Übrigen war alles in Ordnung: Es gab keine gebrochene Nase, keine eingeschlagenen Zähne. Nichts Schreckliches war passiert. Maddi hatte nur mit dem Gesicht den Spiegel berührt und ihn mit seinem Blut beschmiert, das mit Wasser vermischt war. Mehr nicht.

Der erstaunte Diener wandte sich an Sir Olli. Als der Alte sein blutverschmiertes Gesicht sah, verwandelte sich seine Wut in Angst, und aus der kapriziösen Miene wurde eine schuldbeladene Grimasse. Die beiden versöhnten sich sofort.

Keiner von ihnen bemerkte, was wir sahen: Die Oberfläche des alten Spiegels beschlug, als habe ihn jemand angehaucht. Wo die Blutstropfen des armen Dieners den Holzrahmen berührt hatten, war eine pulsierende Bewegung zu sehen. Einen Moment später war alles vorbei. Nur der Spiegel war ein wenig dunkler und tiefer geworden. Aber wer hätte das bemerken sollen? Sir Ollis Lippen bewegten sich, und in Maddis blutverschmierte Züge trat ein zaghaftes Lächeln der Erleichterung. Durch die einen Spalt geöffnete Tür blickte ein neugieriges Gesicht. Damit war die Geschichte zu Ende, und es wurde finster.

Ein paar Sekunden später verwandelte sich die Szenerie in das angenehme Dunkel des unbeleuchteten Schlafzimmers. Das schwache Licht des abnehmenden Monds umspielte die hohen Wangen von Sir Olli. Etwas weckte den alten Mann. Ich merkte, dass er erschrocken war, und spürte seine Angst, Hilflosigkeit und Verzweiflung am eigenen Leib. Ich hörte ihn die Diener rufen und sah seine Reaktion, als erstmals in seinem Leben nichts geschah. Das Gleiche war mir passiert, als ich Juffin nicht per Stummer Rede hatte erreichen können.

Aber mir hatte es nur an Erfahrung gemangelt - Kraft genug hatte ich, und schließlich hatte es geklappt. Sir Olli hingegen besaß zu wenig Kraft, um zur Stummen Rede zu greifen. Blankes Entsetzen packte ihn. Dass sich kein Diener meldete, entzog sich seiner Kontrolle wie seinem Verständnis. Das Unbegreifliche war in unmittelbarer Nähe und lastete auf seiner Bettdecke. Einen Moment sah ich etwas Winziges am Hals des alten Mannes hochkriechen, und mich überlief ein Schauer.

»Max, siehst du das kleine Scheusal?-, fragte mich Juffin flüsternd.

»Ich glaube ja.«

»Schau es dir nicht zu genau an, am besten gar nicht. Ein Teufelszeug! Der Herr des Spiegels kann deinen Schatten selbst dann rauben, wenn er dir in der Verdünnung des vermittelnden Gedächtnisses der Dinge entgegentritt. Jetzt verstehe ich besser, warum die alte Lady Braba so erschrocken war. Sie ist eben doch die talentierteste Heilerin in Echo. Das zu sehen, verkraftet nicht jeder. Nimm ein wenig Balsam, Max, dieser Schutz kann nicht schaden. Ja, das Scheusal ist im Spiegel verschwunden. Wo das Blut des Dieners das Glas berührt hat, da ist jetzt seine Tür. Geh doch mal gucken. Hast du den Schatten schon Weggehen sehen? Schau nach!«

Mein Zittern und meine Angst schwanden. Obwohl ich mich konzentrierte, hätte ich das Schlafzimmer beinahe nicht erkannt. Ein halb durchsichtiger und tödlich erschrockener Sir Makluk-Olli stand neben dem Spiegel und betrachtete einen Sir Makluk-Olli, der reglos im Bett lag. Die Spiegeloberfläche zitterte. Ein Schatten - vermutlich der Schatten des Toten - schluchzte hilflos, wandte sich dem Spiegel zu, sträubte sich und ... nein, er schmolz nicht, sondern zerstob in tausend kleine Feuer. Sie erloschen rasch, doch ein paar verschwanden hinter der glatten Spiegeloberfläche. Fünf kleine Feuer, genauer gesagt, und fünf Blutstropfen waren es gewesen, mit denen der arme Maddi den Spiegel beschmutzt hatte.

Plötzlich war meine Angst wie weggeblasen. Die Dunkelheit im Schlafzimmer wirkte wieder angenehm und beruhigend, obwohl dort eine Leiche lag. Der Tod ist wenigstens ein gesetzmäßiges Ereignis - anders als Magie des 212. Grades, anders als Schwarze oder Weiße oder von mir aus auch graubraunhimbeerrote Magie.

Ich merkte, dass die Konturen dessen, was ich gesehen hatte, verschwunden waren. Sir Juffin stieß mir den Ellbogen in die Seite. Die Vorstellung ging weiter.

Wieder war es im Schlafzimmer dunkel. Ich sah einen sympathischen jungen Mann in festlicher, grellorangefarbener Skaba. Das war natürlich der arme Nattis, der ungelernte Höfling, der keine Lust gehabt hatte, in der berühmten Stadt Gazin zu bleiben. Er lächelte traurig und zeigte dabei bezaubernde Grübchen. Dann konzentrierte er sich, und sein Gesicht bekam einen merkwürdig grausamen Ausdruck. In diesem Moment erschien Herr Gowins, an dessen traurigem Schicksal ich keinen Zweifel mehr hegte. Benimmlehrer Gowins legte seinem Schüler das Rasierzeug hin. Der reich verzierte Griff des Rasiermessers konnte bei jedem Sammler ein nervöses Zucken hervorrufen.

Ich ließ mich ablenken und schaute mich nach dem wunderbaren Kachar-Balsam um. Sir Juffin sah mich etwas argwöhnisch an.

»Nur ein Tröpfchen«, flüsterte ich schuldbewusst.

»Schau mich nicht so an, Junge! Ich bin nur ein wenig neidisch. Gib mir auch ein Schlückchen.«

Als ich die Vision wieder vor Augen hatte, hatte Nattis schon mit dem Rasieren begonnen, fuhr sich mit dem Messer über die Wangen und lächelte sanft in sich hinein. Das Messer kam einer pulsierenden Ader seines knabenhaften Halses immer näher. Bis dahin war alles völlig normal gelaufen. Eine ganz gewöhnliche Rasur.

Aber der Spiegel schlief nicht. Ein paar Pünktchen auf seiner Oberfläche zitterten im richtigen Moment, und die eisige Angst tastete wieder nach meinem Herzen, dem all das gefiel, wie einem alten Schürzenjäger ein appetitliches Mädchen gefällt.

Sir Juffin nahm mich beim Kinn. »Schau bitte weg. Das ist schon wieder ein abstoßendes Bild. Ich jedenfalls will mir diesen Mist nicht ansehen. Weißt du, man hat mir bereits von solchen Sachen erzählt und mir am Ende immer zu verstehen gegeben, es sei besser, sich mit diesen Wesen zu versöhnen, statt gegen sie anzukämpfen. Mein Nachbar hat übrigens hübsche Möbel - das muss ich ihm lassen!

Er ist anscheinend ein wirklich anständiger Mensch. Nattis allerdings hat sich vom Flüstern des Spiegelwesens beeinflussen lassen. Ach, Max, schau dir seine Augen an! So was hab ich noch nie gesehen! Werde nur nicht übermütig!«

Das Erste, was ich sah, war das hilflose Lächeln des Jungen, das dem absurden Lächeln unseres glücklichen Melifaro sehr ähnlich war. Rührende Grübchen zierten die schon glatte rechte und die noch unrasierte linke Wange. Und Blut, viel Blut. Es überflutete den Spiegel und ließ das darin wohnende Wesen vor Begeisterung zittern und so gierig atmen wie einen unerfahrenen Taucher, der mit knapper Not die Wasseroberfläche erreicht hat. Zweifellos hauchte das Blut dem Spiegel wieder Leben ein - nein, nicht dem Spiegel, sondern einem Gegenstand, der nur wie ein Spiegel aussah, tatsächlich aber ein lange unbenutzter Zugang zu einem widerlichen Ort war. Mir stockte der Atem. Nattis lag schon am Boden. Wie verzaubert starrte Gowins ihn an. So entging ihm, dass der blutverschmierte Spiegel vor Zufriedenheit bebte, sich dann ein wenig verdunkelte und schließlich reglos wurde. Natürlich nur für kurze Zeit. Leute kamen ins Zimmer, und das Bild taute auf.

»Juffin«, sagte ich leise. »Sie wissen also, was das ist?«

»Wissen tue ich es schon, wenn man das so sagen kann. Weißt du, Max, das ist eine Legende, und ich muss gestehen, dass ich bisher nicht daran geglaubt habe. Doch es spielt keine Rolle, ob ich daran glaube oder nicht. Wir schaffen das schon. Egal was passiert. Schau! Jetzt kommt das Interessanteste!«

»Das alles ist mir zu langweilig, Juffin. Und widerlich ist es auch.«

»Natürlich ist es widerlich. Was hast du denn gedacht? Macht nichts - nach einem solchen Anfang wird die Arbeit für dich das reinste Vergnügen sein. So etwas geschieht nicht jeden Tag. Eigentlich passiert es nie.«

»Das will ich hoffen. Offen gesagt ziehe ich das Vergnügen der Arbeit vor - so einer Arbeit jedenfalls.«

Schon zeigte uns die kleine Cremedose das nächste Ereignis. Wir sahen Krops Kulli, einen weiteren netten Jungen, ins Schlafzimmer kommen. Er war rot wie ein Apfel, was in Echo als Zeichen männlicher Kraft und Schönheit gilt. In seinem Fall war das wirklich so. Hier gibt es viele hübsche Menschen, kam mir plötzlich in den Sinn. Mehr als dort, wo ich herkomme. Die Leute hier sehen das anders, weil sie andere ästhetische Maßstäbe haben. Ob ich nach hiesiger Betrachtung wohl eher ein Schönling oder eine Vogelscheuche bin?

Ich zuckte die Achseln. Was für eine brennende Frage!

Der Rötling tat eifrig, als würde er aufräumen. Was kann man in einem seit langem leeren Zimmer, das ohnehin jeden Tag sauber gemacht wird, noch putzen und ordnen? Diszipliniert besuchte er alle Ecken und wedelte mit seinem Utensil, einem kleinen Besen. Nach ein paar Minuten gab es endgültig keine Hausarbeit mehr zu simulieren - das Zimmer befand sich im Idealzustand. Also beschloss der junge Krops, er habe eine Pause verdient. Er stand vor dem Spiegel und untersuchte aufmerksam sein Gesicht. Mit zwei Fingern zog er die Augenwinkel hoch. Dann ließ er sie los und seufzte bedauernd. Wahrscheinlich probierte er diese Miene nicht zum ersten Mal aus und fand immer größeren Gefallen daran. Dann erforschte er missmutig seine Nase. Man zeige mir einen jungen Menschen, der mit seiner Nase zufrieden ist!

Ich fürchte, diese kleinliche Unzufriedenheit war seine letzte Empfindung. Das funkelnde Spinnennetz erschien auf seinem Ärmel, und Sekunden darauf befand sich der arme Junge im Zentrum des beinahe unsichtbaren Kokons. Ich spürte die Erleichterung, die ihn erfüllte. Plötzlich wurde ihm alles klar: DU MUSST DORTHIN GEHEN! Und schon machte der rothaarige Krops ein paar Schritte auf den Spiegel zu. Sein hilfloses Lächeln ähnelte der Miene des erstarrten Sir Melifaro.

Als ich - wie Krops und wohl auch seine unglücklichen Vorgänger - den Befehl DU MUSST DORTHIN GEHEN! auf mich wirken spürte, wandte ich mich ab. Mir war klar: All das könnte sich bei mir wiederholen. Und das Ekelhafteste daran war, dass es mir sogar gefallen würde! Vor meinen Augen flackerte ein kleines, widerliches Affengesicht. Und der Abgrund seines Mauls - umrahmt von quicklebendigen Spinnenbeinen - erschien mir als ersehnter Ruheplatz.

Ich nahm einen guten Schluck Kachar-Balsam. Ja, Magie achten Grades hat schon was! Dieses Getränk schmeckt teuflisch gut, und alle Versuchungen sind wie weggeblasen. Von Kindheit an hatte man mir eingeredet: Nur was bitter schmeckt, kann helfen. Das war gelogen, wie mir jetzt klar wurde. Gute Nachricht!

Ich vergewisserte mich, dass der Spiegel keinen Einfluss mehr auf mich ausübte, und wandte mich wieder den Erinnerungen der Dose zu, die erneut ein leeres, aufgeräumtes und hübsches Schlafzimmer zeigte.

»Siehst du das, Max?«, fragte Juffin und stieß seinen Ellbogen in meine leidgeprüfte Seite. »Siehst du's?«

»Was?«

»Na, nichts! Bisher hatten wir stets abrupte Szenenwechsel. Jetzt versteh ich endlich, warum mein Zeiger immer zwischen Zwei und Drei gesprungen ist!«

Plötzlich kam mir ein Gedanke. Anscheinend wollte ein lustiges Abenteuer des Grafen Dracula meinen ärmlichen IQ ein wenig beleben.

»Wenn das Spiegelmonster gegessen hat, schläft es, oder? Und weil der Spiegel und sein Bewohner schlafen, produzieren sie keine magische Aktivität, stimmt's?«

»Stimmt. Das Monster hat uns überlistet. Die Pfeife hat meinen Verdacht auf den Spiegel fallen lassen, obwohl nicht er es ist, der Magie ausübt, sondern sein Bewohner. Üblicherweise bleibt die Magie dort, wo sie deponiert wird. Aber dieses Monster lebt. Und ein lebendiges Wesen kann von Zeit zu Zeit in die Traumwelt fliehen. Wenn ein Magier schläft, schweigen alle Zeiger ... natürlich in dieser Welt. Bestimmt toben sie sich dann in anderen Welten aus - falls es dort Zeiger gibt, und daran habe ich große Zweifel. So sieht die Sache aus. Und jetzt zurück ins Wohnzimmer, Max.«

»Sie kennen mich doch - dazu bin ich immer bereit.«

Sir Juffin stand auf, knackte mit den Gelenken und streckte sich lässig. Vorsichtig nahm ich die Cremedose vom Fußboden und schob sie in die Tasche. Noch nie hatte ich einen Talisman gehabt. Jetzt aber besaß ich einen, und das war gut so.

In diesem Augenblick erlosch die Kerze. Unwillkürlich beugte ich mich zu Boden, um den Stummel aufzuheben, fand ihn aber nicht. Nirgendwo! Ich wunderte mich nicht mehr darüber, sondern registrierte es bloß.

Wir kehrten ins Wohnzimmer zurück. Der Morgen graute. »Na, das hat gedauert«, bemerkte ich ungerührt. Der Bote von Sir Makluk war vor ungefähr zwölf Stunden gekommen.

Die Kamra schmeckte fantastisch. Als zweiten Gang brachte uns der unerschütterliche Kimpa winzige Kekse, die uns im Munde zergingen. Der verschlafene Hund Chuf kam zu uns und wedelte mitfühlend mit dem Schwänzchen. Schweigend wetteiferte ich mit Sir Juffin, wer mehr Kekse an das Tier verfütterte. Chuf wollte uns beide zufriedenstellen und tollte wie ein kleiner flauschiger Torpedo durchs Zimmer. Als er satt war, legte er sich unterm Tisch zwischen uns, damit keiner beleidigt war.

»Max«, begann Juffin betrübt. »Ich glaube inzwischen, dass Melifaro eine kleine Chance hat. Es reicht nicht, ihn bloß aus dem Zimmer zu tragen und wieder zu Bewusstsein zu bringen. Er gehört schon zum Spiegel, und diese Verbindung darf nicht unterbrochen werden, solange sein Leben angehalten ist. Wenn das Spiegelmonster erwacht, nimmt es seine Kost von überall, notfalls aus der anderen Welt. Natürlich kann man das Geschöpf vernichten. Schürf Lonely-Lokley beispielsweise kann das. Aber ich glaube, niemand ist imstande, das Ungeheuer so schnell zu töten, dass Melifaro am Leben bleibt. Sollen wir also alles lassen, wie es ist? Aber es kann doch nicht immer so bleiben! Ich muss das Rätsel des Spiegels und seines hungrigen Bewohners lösen! Doch das geht nicht, solange wir das Monster in Ruhe lassen. Damit ich die Bestie vernichten kann, muss ich sie wecken. Dann aber verspeist sie zuletzt noch Sir Melifaro, und zu diesem Opfer bin ich nicht bereit - das versteht sich wohl von selbst. Daran will ich nicht einmal denken. Ein Teufelskreis, Max, ein echter Teufelskreis!«

Zerstreut nahm ich noch einen Keks. Ich hätte nie gedacht, dass Sir Juffin - ein Mensch immerhin, der mich ganz nebenbei von einer Welt in die andere versetzt hatte - so müde und verloren sein konnte. Ich begriff, dass selbst seine Macht Grenzen hatte, und fühlte mich plötzlich einsam und unwohl. In der leblosen Stille des Wohnzimmers klang mein Keksknabbern ausgesprochen laut. Der Teufelskreis ... der Spiegel... der Teufelskreis ... Mir stockte der Atem. Konnte es wirklich so einfach sein? Warum war Sir Juffin nicht auf diese Lösung gekommen?

»Juffin«, rief ich heiser, räusperte mich und begann erneut. »Es klingt vielleicht dumm, aber Sie haben doch von einem Teufelskreis gesprochen. Wenn man dem Spiegel nun einen zweiten gegenüberstellt, ist das doch auch ein Teufelskreis! Und wenn die Bestie ihr eigenes Bild sieht - könnte es dann nicht sein, dass sie eine Vorliebe für sich selbst entdeckt?« Nach diesen Worten nahm ich meinen Mut zusammen und sah Sir Juffin in die Augen. Er schaute mich mit offenem Mund an.

»Sündige Magister! Begreifst du eigentlich, was du da gesagt hast, Junge? Wozu hab ich dich überhaupt am Hals? Weißt du, was für ein Wesen das ist? Sag mal ehrlich!«

Diese Reaktion hatte ich - offen gesagt - nicht erwartet. Zuerst genoss ich die Wirkung meiner Worte, dann aber war sie mir peinlich. Ich hatte anscheinend nichts Besonderes vorgeschlagen. Es war nicht einmal klar, ob es funktionieren würde. Immerhin allerdings flüsterte mir etwas zu, es würde klappen. Auch in Juffin schien die gleiche Ahnung zu jubeln. »Das wird funktionieren«, rief er. »Und ob!«

Ich stand vom Tisch auf, streckte mich und ging zum Fenster. Die herrliche Morgendämmerung hätte für jede schlaflose Nacht entschädigen können. Wer sich an die Gegenwart hält und nicht in der Vergangenheit stochert, den begeistert das Morgenrot. »Geh endlich schlafen, Max«, riet mir Juffin. »Ich habe Lonely-Lokley gerufen. In vier Stunden ist er da. Sir Schürf und seine Zauberhände. Das wird dir gefallen. Bis dahin kannst du dich erholen. Ich rate dir, diese Gelegenheit nicht zu versäumen.«

»Was für Zauberhände?«

»Das wirst du schon sehen, Max. Sir Lonely-Lokley ist unser ganzer Stolz. Achte nur darauf, die Bestandteile seines Namens nicht durcheinanderzubringen. Da ist er nämlich sehr empfindlich - und nicht nur, was das anlangt. Ich kann gar nicht beschreiben, was für ein Vergnügen dich erwartet. Und jetzt ab in die Heia.«

Mir war nicht nach Widerspruch. Stattdessen ging ich ins Schlafzimmer, legte mich ins weiche Bett, kuschelte mich in meine flauschige Decke und konnte mein Glück kaum fassen: endlich Ruhe! Ich war unbeschreiblich müde, doch etwas störte mein Behagen. Mühsam hob ich den Kopf und musste die Lider beinahe mit den Fingern auseinanderziehen. Kein Wunder, dass ich nicht hatte einschlafen können: Auf dem Kissen lagen meine Hausschuhe, die ein kleiner Fetischist namens Chuf dort deponiert hatte. Leise Pfotengeräusche zeigten mir, dass der Urheber der Unordnung wie gerufen kam. Ich stellte meine Schuhe an ihren Platz. Chuf entschied, auf dem Kissen sei jetzt Raum genug für zwei, und ich hatte keine Einwände.

»Weckst du mich, wenn Lonely-Lokley mit seinen berühmten Händen kommt?“, fragte ich und drehte mich von seiner viel zu feuchten Schnauze weg. Chuf schnaufte friedlich. »Max schläft, morgen Gäste ... ich muss ihn auf wecken ...«, hörte ich den klugen Hund noch räsonnieren. Dann schlief ich ein.

Seltsamerweise war ich eine Stunde früher wach als nötig. Ich fühlte mich ausgezeichnet. Das war sicher die beruhigende Wirkung des Kachar-Balsams. Ein großartiges Mittel!

Chuf lag nicht mehr neben mir. Bestimmt stromerte er durchs Foyer, um die Ankunft von Sir Lonely-Lokley nicht zu verpassen und meinen Auftrag zu erfüllen. Ich wälzte mich noch zehn Minuten im Bett herum, streckte mich und gähnte ausgiebig - tat also all das, was nur den vollauf befriedigt, der sowieso gut geschlafen hat. Dann stand ich auf, wusch mich mit Behagen und wollte mich rasieren. Ach, rasieren - die tägliche Qual des Mannes! Nur Männer mit Bart sind glücklich und frei! Übrigens weckte der Spiegel im Bad bei mir keine unangenehmen Erinnerungen. Nicht dass ich plötzlich ein dickes Fell bekommen hätte. Ich wusste bloß, dass es sich hier um einen ganz normalen Spiegel handelte. Überhaupt erfuhr ich seit meiner kurzzeitigen Metamorphose in einen Vampir allmählich mehr über die Dinge um mich herum - sie musste also ein wichtiges Ereignis in meinem Leben gewesen sein. Damit könnte ich Mädchen imponieren. Falls es hier Mädchen gab, hing mein Erfolg aber nicht unbedingt von solchen Geschichten ab.

Ich ging ins Wohnzimmer. Ehrfürchtig materialisierte sich Kimpa mit einem Tablett am Tisch. Dann erschien Chuf und war fest überzeugt, ihm stünde mehr als die Hälfte des Frühstücks zu. Ich nahm ihn in den Arm, setzte ihn mir auf den Schoß, trank die erste Tasse Kamra, blätterte die Zeitung vom Vortag durch und zog noch aus meinem irdischen Vorrat stammende Zigaretten aus der Tasche. Ich hatte Probleme, am hiesigen Tabak Gefallen zu finden, dessen Geschmack mein Leben verpestete. Was das angeht, bin ich sehr konservativ. Es fällt mir leichter, den Wohnort, die Beschäftigung und selbst die Wirklichkeitswahrnehmung zu wechseln, als mich an eine neue Sorte Tabak zu gewöhnen.

»Gut, dass du kein Vampir geblieben bist«, begrüßte Juffin mich. »Ich wüsste sonst nicht, wie ich dich füttern sollte. Müsste ich Kimpa morgens sagen: -Mein Guter, bringen Sie mir bitte Kamra und belegtes Brot, Sir Max aber einen Krug Blut?« Müsste ich die Nachbarn umbringen und alle dienstlichen Möglichkeiten nutzen, die Spuren der Tat zu beseitigen? Aber Spaß beiseite. Einen vernünftigen Jungen wie dich sollte man nicht wegen jeder Kleinigkeit verspotten. Das ist übrigens ein Lob, wie du vielleicht bemerkt hast.«

»Sie streuen nur Salz in meine Wunde«, lächelte ich und musterte meine am Vortag verletzte Hand, die ich zwischendurch ganz vergessen hatte. Zu meiner Überraschung war sie wieder völlig in Ordnung. Nur eine dünne Narbe, die man eher für die Lebenslinie hätte halten können, war zurückgeblieben, als wäre die Verletzung schon Jahre her.

Juffin bemerkte mein Staunen.

»Das ist nur Schwarze Magie zweiten Grades - in Form einer guten Creme. Kimpa hat dich gestern behandelt, als du noch überlegt hast, ob es sich lohnt, wieder zu Bewusstsein zu kommen. Was wundert dich denn so?«

»Alles.«

»Das ist dein gutes Recht. Ah, nun sind wir alle beisammen!«

Sir Schürf Lonely-Lokley, dessen Abwesenheit die Kollegen mehrmals bedauert hatten, wurde seiner sprichwörtlichen Frohnatur gerecht, indem er mich grundlos durchschüttelte. Ausgerechnet mich! Den Bewohnern von Echo waren die Doppelgängerqualitäten von Lonely-Lokley nicht bekannt, weil die Rolling Stones in dieser Welt noch nicht gastiert hatten. Nur ich konnte die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Sir Schürf und dem Glückspilz Charlie Watts bewundern.

Diese Ähnlichkeit erstreckte sich auch auf die versteinerte Miene, die enorme Körpergröße und die überraschende Magerkeit. Andererseits war die Gestalt in einen hellen Lochimantel gehüllt, trug einen schneeweißen, bläulich schimmernden Turban und hatte obendrein riesige Handschuhe aus grobem Leder an, auf denen Buchstaben des Runenalphabets prangten ... Mein Kulturschock dürfte also nur zu verständlich sein!

Die Begrüßung des neuen Kollegen verlief indessen ohne Überraschungen. Wir beendeten die Formalitäten rasch und setzten uns zu Tisch. Lonely-Lokley nippte feierlich an seiner Kamra. Ich erwartete noch immer, er werde Trommelstöckchen aus der Brusttasche ziehen, und saß wie auf Kohlen da.

»Ich habe viel von Ihnen gehört, Sir Max!«, wandte sich mein neuer Kollege höflich an mich. »In der Freizeit blättere ich häufig in Büchern. Darum wundert mich Ihre Ernennung nicht. Viele bekannte Forscher weisen auf beachtliche Traditionen hin, die bei den Bewohnern der Leeren Länder die Entwicklung magischer Praktiken begünstigt haben, Praktiken, die wir übernommen haben. Selbst Sir Manga Melifaro erwähnt im dritten Band seiner Enzyklopädie der Welt Ihre Landsleute.«

»Melifaro?«, staunte ich. »Wollen Sie damit sagen, dass dieser Bursche nicht nur das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters ist, sondern obendrein die Enzyklopädie der Welt geschrieben hat? Das hätte ich nicht gedacht.«

»Wenn Sie meinen Arbeitskollegen im Sinn haben, kann ich mich Ihnen nur anschließen. Sir Melifaro ist kaum zu systematischer wissenschaftlicher Arbeit geeignet«, nickte Lonely-Lokley.

»Manga Melifaro, der Verfasser der Enzyklopädie der Welt, die ich immer wieder für meine Bibliothek zu kaufen vergesse, ist der Vater des armen Tropfs, der am Spiegel hängt«, erklärte Juffin. »Wenn dieses Abenteuer glücklich überstanden ist, werde ich Sir Melifaro verdonnern, uns beiden eine komplette Ausgabe der Werke seines Vaters zu schenken. Der Arme wird sich bestimmt darüber freuen, weil sein ganzes Haus von Vaters Geschreibsel überquillt. Man kann sich bei ihm kaum noch bewegen.«

Sir Lonely-Lokley wartete geduldig, bis wir fertig waren, und fuhr dann fort: »Sie sind mir ins Wort gefallen, mein Herr. Ich wollte noch sagen, dass Sir Manga Melifaro im dritten Band seines Werks schreibt: >An den Grenzen der Leeren Länder wohnen die unterschiedlichsten Leute, die mitunter über erstaunliche Fähigkeiten verfügen - nicht nur wilde Barbaren, wie bisher angenommen.« Darum freue ich mich sehr, Sie kennenzulernen, Sir Max.«

Im Namen aller Bewohner der Grenzgebiete sprach ich dem Großherzigen Meister, den man auch Schnitter des Lebensfadens nennt, meine Dankbarkeit aus.

»Also, Leute, gehen wir!«, rief Juffin schließlich und stand auf. »Übrigens, Sir Schürf - wir brauchen noch einen Spiegel. Der größte hängt im Flur. Den hab ich auf dem Flohmarkt gekauft, zu Beginn der Epoche des Gesetzbuchs. Damals gab es hier noch keine Antiquitätenläden, obwohl die Nachfrage nach Luxuswaren gerade angezogen hatte. Nicht die günstigste Zeit für Neuanschaffungen also. Ich fürchte, das war der teuerste Spiegel des Linken Flussufers - runde fünf Kronen hat er mich gekostet. Was man nicht alles opfern muss!«

Wir gingen in den Flur. Der Spiegel war wirklich riesig und zweifellos seine fünf Kronen wert - auch wenn ich mich damals in den ökonomischen Verhältnissen von Echo noch nicht so gut auskannte.

Wie sollen wir das bloß schaffen?, dachte ich erschrocken. Aber zu dritt geht es vielleicht.

Juffin regelte das anders. »Schürf, nimm ihn! Wir gehen!«

Ich hatte mir schon gedacht, dass der stets so förmliche Sir Schürf über legendäre Körperkräfte verfügte.

Darum war er für die ganze Sache ja auch so wertvoll. Aber er trug den schweren Spiegel gar nicht, sondern fuhr mit behandschuhter Pranke lässig von oben nach unten übers Glas ... und ließ ihn dabei in der Hand verschwinden. Mir klappte die Kinnlade runter.

»Juffin, können Sie mir das auch beibringen?«

Meine Selbstbeherrschung reichte gerade noch dazu, nicht zu schreien, sondern Stumme Rede zu benutzen. Vielleicht konnte hier ja jeder so etwas problemlos schaffen?

»Na klar«, antwortete Juffin ungerührt. »Oder Sir Schürf übernimmt das. Erinnere uns daran, wenn wir mehr Zeit haben.«

Das Haus von Sir Makluk ähnelte einer verwahrlosten Gruft. Sir Lonely-Lokley, der stets nach Vorschrift vorging, öffnete die Tür und betrat als Erster das Schlafzimmer. Wir folgten ihm. Seit unserem letzten Besuch hatte sich nichts geändert.

Als ich den armen, reglosen Melifaro sah, verließ mich der Mut. Wie hatte ich glauben können, es ließe sich noch was machen? Und wenn unser Rettungsversuch scheiterte? Was waren wir dann? Mörder? Oder nur ganz normale Dummköpfe? Gute Frage! Ein praktisches und zugleich moralisches Problem, über das ich mir vermutlich demnächst den Kopf würde zerbrechen können.

Sir Lonely-Lokley sah die Lage pragmatischer. »Gut, dass er schweigt«, sagte der freundliche Mann und wies mit dem Kopf auf Melifaro. »Das sollte immer so bleiben!«

In seiner Stimme lag keine Schadenfreude. Der stille Melifaro gefiel ihm einfach besser als der gesprächige. Ein überaus geschmackssicheres Urteil.

Kaum hatte er es ausgesprochen, schüttelte Lonely- Lokley die Faust und öffnete sie. Juffins Riesenspiegel landete zwischen dem denkmalgleich erstarrten Melifaro und dem geheimen Spiegeleingang in eine andere, feindselige Dimension.

»Er steht etwas schief«, kommentierte Juffin. »Wir müssen ihn ein wenig nach rechts verschieben.«

»Wir, Sir?«, meinte der herrliche Lonely-Lokley kühl. »Das schaffe ich auch allein.« Bewundernswert lässig hob er den Glaskoloss mit der linken Hand. Seine legendären Körperkräfte hatten ihn also auch hier nicht verlassen. Als ich das sah, stockte mir der Atem wie einem jungen Kraftsportler, dem Arnold Schwarzenegger leibhaftig begegnet!

Juffin schaute sich das Ganze missmutig an. Alles war bestens: Der hiesige und der mitgebrachte Spiegel reflektierten einander nach Kräften. Und wichtiger noch: Sir Juffins Spiegel schirmte Melifaro von dem blutrünstigen Monster ab.

Der Leiter des Geheimen Suchtrupps warf einen Abschiedsblick auf sein kostbares Stück und befahl: »Sir Schürf, bereiten Sie sich vor! Max, hinter meinen Rücken! Oder besser: auf die Türschwelle! Du hast getan, was du konntest. Jetzt hast du nur noch eine Aufgabe: am Leben zu bleiben. Das ist mein Ernst!«

Ich gehorchte und bezog an der Tür Posten. An Juffins Befehl gab es - das muss ich gestehen - nicht viel zu meckern.

Sir Lonely-Lokley zog die Handschuhe aus. Jetzt verstand ich das Gerede über seine außerordentlich geschickten Hände. Seine Gelenke waren halb durchsichtig und funkelten in der Nachmittagssonne. Er ließ die langen Krallen durch die Luft fahren und schob sie dann unter seinen weißen Mantel. Ich verdrehte wie verrückt die Augen, da ich meine Begeisterung nicht anders äußern konnte. Plötzlich wusste ich, dass ich vor kurzem etwas Ähnliches gesehen hatte. Aber wo? In einem Alptraum vielleicht? Sir Juffin erbarmte sich meines armen Kopfs und erklärte mir flüsternd: »Erinnerst du dich daran, wie wir das Gedächtnis der Stecknadel untersucht haben? Der Orden der Eisenhand! Weißt du, wovon ich rede?«

Ich begriff und wollte fragen, ob die abgehackten Hände zu Gliedern unseres erstaunlichen Freunds geworden seien, doch Juffin kam mir zuvor: »Das sind Handschuhe. Später erkläre ich dir das. Jetzt müssen wir uns mit dieser Sache beschäftigen!«

Damit ging er zum reglosen Melifaro hinüber und stellte sich auf Zehenspitzen, um zu sehen, was in den Spiegeln passierte. Ich wartete atemlos.

Diesmal gab es keinen Tanz. Nur Juffins Körpersprache und Miene drückten eine ungeheure Anspannung aus. Dann entkrampfte er sich plötzlich und machte eine sanfte Bewegung, als zöge er ein Tuch von einer teuren Vase. Fast im gleichen Moment stieß er Melifaro mit ganzer Kraft. Der eben noch Erstarrte krümmte sich zusammen, flog in die gegenüberliegende Zimmerecke und stürzte zu Boden. Sir Lonely-Lokley, der die linke Hand noch immer unterm Mantel versteckt hielt, sprang zu ihm und wühlte mit der Rechten durch seine Kleider. Ich verstand sofort, warum: Lonely-Lokley zerstörte die dünnen, schillernden Fäden, die das Opfer umgaben. Das war eine schier unlösbare Aufgabe. Genauso gut hätte er versuchen können, einen Dorfköter von Flöhen zu befreien. Sir Juffin hielt sich abseits und ließ die Spiegel nicht aus dem Blick.

»Max«, rief er mir zu, »wir schaffen das! Du kannst zuschauen, aber vorsichtig. Vorsichtiger als gestern, klar?«

Von meinem Standort aus konnte ich zwar nicht alles sehen, war aber klug genug, nicht näher zu kommen.

Der Spiegel geriet in Bewegung. Sein Bewohner war auf gewacht und schien hungrig und verärgert. Im zweiten Spiegel rührte sich schon sein Doppelgänger. Die Ungeheuer musterten einander interessiert.

Ich sah den plumpen, schwach konturierten Körper des Monsters, das einem fettsüchtigen Frosch ähnelte. Dem Dickwanst wuchsen - wie seinem Doppelgänger - Haarbüschel um das dunkle, feuchte, seltsam anziehende Maul, das ...

Ich schlug die Augen nieder, doch der Anblick hatte sich mir schon eingeprägt. Dann nahm ich einen ernüchternden Schluck Kachar-Balsam, der mir aber nur kurz half. Hätte ich doch meine Feldflasche mit Balsam dabeigehabt!

Um ein für alle Mal mit dem Bösen fertig zu werden, kniff ich mir ins Ohr und schärfte mir leise ein: »Stark bleiben!« Nach ein paar Sekunden war ich wieder völlig in Ordnung, gewann meine Neugier zurück und wandte mich den Spiegeln zu.

Das Erste, was ich sah, war die Silhouette von Sir Lonely-Lokley. Er ragte hinter zwei schleimigen Klumpen auf, die in erbittertem Kampf ineinander verkeilt waren. Der Doppelgänger - das musste man ihm lassen - war nicht schlechter als das Original. Das Ekel erregende Knäuel rollte über den Boden. Die Vorstellung, das Doppelmonster könnte sich zwischen meine Beine werfen, ließ mir beinahe schwarz vor Augen werden. So groß war mein Abscheu, dass ich über die Gefahr, die eine solche Attacke bedeutet hätte, kaum nachdachte.

Die linke Hand von Sir Lonely-Lokley stieg mit einer erstaunlich hübschen, lakonischen und doch mächtigen Geste langsam nach oben. Seine Fingerkuppen blitzten wie Funken beim Schweißen. Ein unhörbares, aber durch Mark und Bein fahrendes Kreischen zwang mich in die Knie. Die beiden Wesen spuckten weißes Feuer. Ich vermutete, dieses Feuerwerk leite beider Ende ein, aber dann geschah etwas Unerwartetes. Die Spiegel fingen an, sich aufs Neue zu bewegen. Ihre wechselseitige Reflexion ließ den Raum zwischen ihnen wie durch magnetische Anziehung schwinden. Sollten sie einander berühren, hätte das für uns sicher unvorhersehbare Folgen.

» Max! Runter! «, rief Juffin.

Ich gehorchte, ohne zu zögern. Er selbst hastete zum seit dem Vortag kaputten Fenster und blieb dort vorsichtig stehen. Mit fließender Bewegung zog Sir Lonely- Lokley Melifaros Körper zurück, hockte sich hin und verschränkte die Arme vor der Brust.

Inzwischen hatten die Spiegel einander berührt, ließen ein leises, aber deutliches Krachen hören und krümmten sich wie Segel im Wind.

Wir befanden uns offenbar in relativer Sicherheit. Mit uns hatten die Spiegel keinen Kontakt. Eine ins Unendliche der eigenen Spiegeltiefe sich erstreckende Abscheulichkeit traf auf ihr Doppel und verflocht sich mit ihm zu einem Möbius'schen Band einander zu verschlingen trachtender Spiegelelemente, bis nur noch ein dunkles Knäuel sumpfiger Schmiere übrig war.

»Na also, Sir Schürf. Ich vermute, jetzt sind Sie dran«, stellte Juffin sichtlich begeistert fest.

»Das denke ich auch.«

Einen Moment später war von der Ausstattung des Zimmers nichts mehr übrig.

Juffin sprang auf und musterte Melifaro, der zusammengekrümmt am Boden lag.

»Ein normaler Ohnmachtsanfall«, bemerkte er frohgemut. »Nichts weiter. Dafür sollte er sich schämen! Gehen wir. Max, hilfst du mir bitte, das Haus in Ordnung zu bringen? Und Sie, Sir Schürf, liefern dieses kostbare Stück Fleisch bei Kimpa ab. Er soll ihn aufpäppeln, ihn also mit viel Kamra und belegten Brötchen versorgen. Essen Sie mit ihm, was auf den Tisch kommt. Wir stoßen bald zu euch. Komm, Max, gehen wir! Hast du schon durchschaut, was passiert ist? Sündige Magisterwir haben's geschafft! Wir haben ihn gerettet!«

Sir Schürf zog sich mit feierlicher Langsamkeit die fettigen Handschuhe an, deren Notwendigkeit mir inzwischen klar war, hob Melifaro hoch und nahm ihn wie einen zusammengerollten Teppich unter den Arm.

Juffin und ich machten unterdessen einen weiteren Gang durchs Haus, das sich langsam vom Fluch des Spiegelmonsters befreite. Die magische Erstarrung der Bewohner verwandelte sich in Tiefschlaf. Das war auch besser, denn dieser Schlaf tilgte die Erinnerung an die widernatürlichen Geschehnisse aus der anderen Welt und ließ alles vergessen. Keinen der Bewohner würde die Beschwörung der vorigen Nacht fürs Leben zeichnen. Am nächsten Tag würde alles wieder in Ordnung sein. Man musste nur noch die beiden bedauernswerten Diener schützen, die am Springbrunnen getollt hatten, gründlich aufräumen und putzen und eine gute Heilerin rufen, die den Hausgenossen für die nächsten zwei Dutzend Tage beruhigende Kräuter verordnete.

Alles hätte viel schlimmer enden können.

Wir gingen in den Obstgarten.

»Wie schön es hier ist!«, seufzte ich begeistert.

Sir Juffin Halli klopfte mir zwischen die Schulterblätter, was im Vereinigten Königreich nur unter guten Freunden geschieht.

»Du hast dich als Böiger Wind erwiesen, Max. Noch böiger, als ich dachte. Und ich hatte keine schlechte Meinung von dir - das kannst du mir glauben!«

»Als Böiger Wind? Was soll das heißen, Juffin?«

»So nennt man hier Leute, die sich jeder Voraussage entziehen. Leute, von denen man nie weiß, ob sie die nächste Sekunde noch erleben, wie sie sich bei einem Streit verhalten und welche Auswirkung Magie oder der Dschubatinische Säufer auf sie hat. Man weiß auch nie, wie viel so eine Person mittags isst. Heute macht sie alle Töpfe leer, morgen predigt sie Enthaltsamkeit. So einen Böigen Wind habe ich gebraucht, einen frischen Wind aus einer anderen Welt. Du bist ein echter Hurrikan, Max! Ich kann nur sagen: Schwein gehabt!«

Zuerst war ich verlegen, doch dann dachte ich mir:

Ach was! Ich bin wirklich ein guter Kerl. Wenigstens in der Geschichte mit dem Spiegel des alten Sir Makluk. Meine Bescheidenheit verschiebe ich auf später, wenn die Zahl meiner Heldentaten das zehnte Dutzend übersteigt.

Zu Hause erwartete uns nicht nur der Kamra schlürfende Sir Lonely-Lokley, sondern auch der zwar blasse, aber muntere Melifaro. Er griff beherzt nach belegten Brötchen, und ein Tablett lag auf seinem Schoß. Chuf verfolgte sein Tun sehr interessiert. Die Krümel um seine Schnauze ließen vermuten, dass auch Melifaro eine Schwäche für das Tier hatte.

»Es war sehr leichtfertig von Ihnen, mich zu retten«, meinte er und strahlte übers ganze Gesicht. »Schließlich plündere ich jetzt Ihre Speisekammer!«

»Die hätte schon lange mal geplündert werden müssen«, sagte Juffin. »Bedank dich lieber bei Max. Er ist dein eigentlicher Retter.«

»Du also hast das Fröschlein gefressen, Freundchen?«, meinte Melifaro mit vollem Mund. »Ich dachte, unsere großen Zauberer hätten ihn fertiggemacht.«

»Schürf und ich haben ordentliche Handarbeit geleistet«, gab Juffin bescheiden zu. »Aber davor hat Max Kopfarbeit leisten müssen. Wenn er nicht die tolle Idee mit dem zweiten Spiegel gehabt hätte, wärst du jetzt selbst ein belegtes Brötchen. Kannst du dich eigentlich an etwas erinnern, du Glückspilz?«

»An gar nichts. Lokley-Lonely hat mir alles auf die Schnelle erzählt, aber seine Version war nicht plastisch genug. Ich brauche eine literarische Darstellung!«

»Du brauchst keine plastische Schilderung. Kau lieber richtig, sonst erstickst du uns noch!«

Sir Schürf nickte grimmig. »Melifaro, mein Name ist Lonely-Lokley, und es würde mich sehr freuen, wenn Sie sich das endlich merken könnten. Nur zwölf Buchstaben in der richtigen Reihenfolge - das ist doch nicht allzu kompliziert, oder?«

»Ich habe doch Loneky-Lonkey gesagt«, rief Melifaro und wandte sich stürmisch an mich. »Bist du wirklich mein eigentlicher Retter? Nicht schlecht, Sir Nachtalptraum! Ich bin dir etwas schuldig.«

Damit kam der Augenblick meines Triumphs. Eine würdige Antwort hatte ich schon unterwegs vorbereitet: »Unsinn! Bei uns in den Leeren Ländern hat jeder Nomade so ein Spieglein im Zelt. Ich verstehe nicht, warum man in der Hauptstadt wegen einer solchen Kleinigkeit so viel Aufhebens macht.«

Schürf Lonely-Lokley war höflich erstaunt. »Tatsächlich, Sir Max? Merkwürdig, dass kein Forscher je davon berichtet hat.«

»Merkwürdig ist das nicht«, gab ich mit diebischer Freude zurück. »Die, die davon hätten erzählen können, sind für immer verstummt: Wir haben sie an unsere Haustiere im Spiegel verfüttert!«

Sir Juffin Halli brach in kurzes Gelächter aus. Melifaro hob verblüfft die Brauen, begriff dann aber, dass ich einen Scherz gemacht hatte, und lachte ebenfalls. Lonely- Lokley zuckte wohlwollend die Achseln und wandte sich seinem Krug zu.

»Ihr solltet eure Kräfte schonen, Leute!«, warnte Juffin. »Heute gibt's im Fressfass ein Fest: Melifaros Auferstehung! Sollen andere machen, was sie wollen - wir feiern mit Max! Das haben wir uns verdient. Sir Schürf, Sie kommen mit uns. Das ist ein Befehl! Melifaro, du auch - es sei denn, du bist zu schwach und willst dich untersuchen lassen. Wir können uns auch stellvertretend für dich austoben!«

»Ich und schwach? Kein Gedanke! Sie müssen mich nur zum Fressfass fahren.«

»Dann ist ja alles klar. Wir fahren dich bis vor die Tür und werfen dich über die Schwelle. Du weißt noch gar nicht, wie großartig Sir Max A-Mobil fährt. Da kommt was auf dich zu! Diese Fahrt wird dich erschüttern.«

»Dann muss ich mir das noch überlegen. Max, bist du wirklich ein Rennfahrertyp?«

Ich zuckte stolz die Achseln.

»Das glaube ich nicht, aber Sir Juffin war unzufrieden. Er hat mich immer wieder gebeten, langsamer zu fahren, obwohl ich fast wie eine Schnecke gekrochen bin. Es wäre interessant zu wissen, warum er das getan hat.«

Melifaro sprang auf.

»Wenn das stimmt, seid ihr in euren Leeren Ländern wirklich vollkommen. Warum habt ihr uns eigentlich noch nicht erobert?«

»Die Kriegsbereitschaft in Grenzgebieten ist normalerweise eher gering«, bemerkte Lonely-Lokley dozierend. »Dafür sind die intellektuellen Möglichkeiten der Bewohner dort zweifellos größer als die unseren. Im Gegensatz zu Ihnen hat Sir Max meinen Namen von Anfang an richtig auszusprechen gewusst. Ein beeindruckendes Ergebnis, fürwahr!«



Загрузка...