Zelle Nummer Fünf
Jeder großen Sache im Haus an der Brücke geht die Ruhe vor dem Sturm voraus. Wenn ich ein paar Nächte nacheinander ungestört in meinem Sessel dösen und die Füße auf den Schreibtisch legen kann, weiß ich: Demnächst bricht bestimmt das Chaos aus.
Ansonsten kann ich nicht klagen. Meine Arbeit für den Geheimdienst ist nicht zur Routine geworden, und es ist auch kaum anzunehmen, dass sie je Routine wird.
Wenn die Zahl der ungeklärten Fälle dramatisch zunimmt, beginnen alle zu rotieren. Dann ist es bei uns ungemein hektisch, und es geht zu wie in einem Taubenschlag. Auch mein Tagesablauf weicht dann vom normalen Gang der Dinge ab. In so einer Phase lässt sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden mehr erleben als manchmal in einem Jahr.
Das gefällt mir, und das wird mir bis ans Lebensende gefallen. Selbst die paar hundert Jahre, die fast jedem Bewohner Echos gegönnt sind, erscheinen mir inzwischen als relativ kurze Zeitspanne. Offen gestanden möchte ich ewig leben - vorausgesetzt, mir bleiben die Gebrechen des Alters erspart. Vor dem Älterwerden selbst jedenfalls habe ich keine Angst. Ich brauche nur Sir Juffin oder Sir Kofa anzuschauen, um zu begreifen, dass fortgeschrittenes Alter eher ein Vorteil als ein Problem ist.
An diesem Morgen erschien Sir Kofa Joch genau zehn Sekunden vor Sir Juffin. In dieser kurzen Zeit schaffte er es, sich in den Sessel zu setzen, die dienstliche Miene zu verbannen - er hat eine flache Stirn, eine lange Knubbelnase und hohe Wangenknochen, sinnliche Lippen und ein Doppelkinn - und sich zu strecken, dass die Gelenke knackten.
Sir Juffin gähnte ansteckend von der Türschwelle zu seinem Kollegen hinüber, streckte sich dann, ging zum eigenen Schreibtisch und gähnte erneut und diesmal stärker. Sogar ich fing an zu gähnen und mich zu strecken, obwohl ich in der Nacht ganz gut an meinem Schreibtisch geschlafen hatte. Auch im Sitzen kann ich nämlich prima pennen.
Normalerweise hätte ich jetzt nach Hause gehen können, doch ich entschied mich, noch eine Tasse Kamra mit meinen älteren Kollegen zu trinken. Ich weiß ja, wie sie sind: Kaum bin ich gegangen, unterhalten sie sich über die interessantesten Dinge. Das kann ich nicht hinnehmen! Darum bin ich zu Beginn der Tagschicht nur mit Gewalt aus dem Büro zu kriegen.
»So schlecht, wie ich heute Nacht geschlafen habe, könnten wir die gesamte Bevölkerung von Echo wegen Anwendung unerlaubter Magie verhaften«, verkündete Juffin und trank seine Tasse Kamra schlürfend auf einen Zug halb leer. »Aber wo sollten wir all die Leute gefangen setzen? Im Cholomi-Gefängnis gibt es nicht genug Zellen.«
»Ist es so schlimm?«, fragte Sir Kofa misstrauisch und kniff die Augen zusammen.
»Noch schlimmer. Kaum war ich eingeschlafen, weckte mich schon das Signal, das den Einsatz unerlaubter Magie anzeigt, und ließ mich beinahe an die Decke gehen. Ich habe nun mal das Pech, von Natur aus sehr empfindlich zu sein. Was ist heute bloß los, Kofa? Hast du eine Ahnung? Gibt es ein Festival Komm, lass uns zaubern, zu dem die Vertreter aller wichtigen alten Orden gekommen sind?«, fragte unser Ehrwürdiger Leiter, trank seine Kamra mit einem weiteren Zug leer und fuhr launig fort: »Oder hab ich etwa einen Staatsstreich verschlafen?«
Aus seinem tiefen Sessel heraus betrachtete Kofa Sir Juffins müdes Gesicht mit väterlicher Sorge. Als es endlich still war, erlaubte er sich eine Erklärung.
»Leider, Juffin, ist die Lage längst nicht so aufregend, sondern eher traurig.«
»Auch das noch! Na, spann mich nicht länger auf die Folter!«
»Nichts liegt mir ferner als das! Sie wissen doch, dass es dem alten Sir Frachra schlecht geht. Die Kurpfuscher sind ratlos. Er ist mindestens tausend Jahre alt. Nicht jeder Zauberer lebt so lange. Frachra ist mal Novize eines längst vergessenen Ordens gewesen. Irgendwann haben sie ihn rausgeworfen, und er hat eine Stelle bei Hof bekommen. Damit ist seine Geschichte schon beinahe erzählt.«
»Das weiß ich doch alles. Vielleicht wollte der Alte einfach sein Leben verlängern. Doch das klingt recht merkwürdig, denn an sich pflegen alte Männer die Grenzen ihrer Möglichkeiten sehr gut zu kennen.«
»Sir Frachra ist zweifelsohne ein kluger Mann. Klug genug jedenfalls, um zu wissen, wovon man in dieser Welt Abschied nehmen soll. Seine Hausangestellten und Diener vergöttern ihn, unter anderem sein Koch.«
Juffins Gesicht hellte sich auf: »Den kenn ich. Das ist doch dieser Schutta Bach, der jüngere Sohn von Bagatta Bach, dem Chefkoch am Hofe von König Gurig VII., der nach Verabschiedung des Chrember-Gesetzbuchs in den Ruhestand gegangen ist.«
»Und das war schlau von ihm, denn die alte Kochkunst bleibt unerreicht. Was hat ein Virtuose wie Bagatta Bach in einer Küche ohne Magie zwanzigsten oder dreißigsten Grades schon verloren? Soll er etwa Küchenhilfen herumkommandieren?«
»Soweit ich weiß, hat Schutta von seinem Vater einiges gelernt«, fügte Juffin gedankenverloren hinzu.
»Selbstverständlich. Wie Sie wissen, wäre Schutta Bach für seinen alten Herrn durchs Feuer gegangen. Und ein wenig gegen die Gesetze zu verstoßen, um den alten, todkranken Sir Frachra mit seinem Leibgericht zu verwöhnen, war das Geringste, was er tun konnte. Kurz gesagt: Letzte Nacht wurde die Pirogge Tschakkatta gemacht. Alle nächtlichen Spaziergänger in Echo haben bis in die frühen Morgenstunden ihre Nase in den Wind gehalten, ohne zu wissen, warum.«
»Ich verzeihe es Schutta, dass er mich so schlecht hat schlafen lassen«, seufzte Juffin. »Bestimmt hat er sich an uns gewandt und uns gebeten, ein gutes Wort für seine sündige Seele einzulegen, oder?«
»Schutta Bach hat sich tatsächlich an mich gewandt und mir mitgeteilt, er werde gegen das Gesetz verstoßen«, sagte Kofa. »Eine solche Mitteilung ist seine Pflicht dem König gegenüber und eine Frage der Ehrlichkeit, nicht der Gesinnung. Der Junge wollte uns vor Scherereien bewahren und hat gesagt, wenn wir ihn ins Gefängnis stecken wollen, sei das kein Problem. Er hat nur gebeten, damit bis heute Morgen zu warten, denn er hat dem Alten unbedingt seine Lieblingspirogge kochen wollen. Dafür ist er sogar bereit, aufs Schafott zu steigen.«
»Dieser geriebene Kerl weiß, dass Sir Juffin Halli die Hand niemals gegen einen Küchenzauberer heben wird. Na ja, auf alle Fälle hoffe ich, dass Sir Frachra glücklich stirbt. Wie gern wäre ich an seiner Stelle!«
»Schutta hofft tatsächlich auf Ihre Loyalität, Sir. Und als Zeichen der Dankbarkeit hat er beschlossen, die Verantwortung für seine Tat mit Ihnen zu teilen.« Kofa zog eine Schachtel aus dem Lochimantel und übergab sie vorsichtig Sir Juffin.
Der wiederum behandelte die Schachtel wie eine ungeheure Kostbarkeit. Ich hatte ihn wirklich noch nie so ehrfürchtig dreinblicken sehen. Kaum hatte er den Deckel geöffnet und dabei darauf geachtet, dass die Seitenwände nicht aufklappten, erblickten wir eine riesige Pirogge, die wie ein dreieckiger Bernstein aussah und von innen heraus in warmem Licht erstrahlte. Juffins Hände zitterten - Ehrenwort! Er seufzte, nahm ein Messer und schnitt ein kleines Stück ab.
»Halt mal, Max. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Glück du hast »... und welche Ehre dir gerade erwiesen wurde«, ergänzte Kofa lächelnd. »Hätte Juffin sein Leben für dich opfern wollen, hätte ich das noch verstanden. Aber dass er eine Tschakkatta-Pirogge mit dir teilt, ist wirklich unfassbar! Was ist bloß los mit Ihnen, Juffin?«
»Das weiß ich selber nicht. Max ist einfach ein Glückskind«, seufzte mein Chef. »Mit dir, Kofa, teile ich nicht. Ich bin fest überzeugt, dass du deine Portion schon bekommen hast.«
»Stimmt. Ihr Gewissen darf beruhigt sein.«
»Und deine Pirogge war sicher ein Stück größer ...«
»Neid lässt alles größer scheinen. Dabei war mein Teil nur halb so groß wie Ihres.«
Wie verzaubert betrachtete ich mein kleines Stück Pirogge. Was für ein merkwürdiges Gebäck das doch war! Und warum mochte es die Hände von Sir Juffin zum Zittern gebracht haben? Vorsichtig biss ich hinein.
Keine menschliche Sprache hat Worte, um zu beschreiben, was an diesem Morgen in meinem Mund geschah. Sollten Sie denken, Ihre Zunge habe alle nur möglichen kulinarischen Wonnen empfunden, dann bleiben Sie ruhig in diesem Zustand glücklicher Ignoranz. Ich verstumme, denn um auch nur einen Biss in eine Tschakkatta-Pirogge zu beschreiben, würden tausend Worte mir nicht reichen.
Als das Festmahl zu Ende war, schwiegen wir einige Zeit bedeutungsschwer.
»Ließe sich nicht wenigstens das Verschenken magisch hergestellter Gaumenfreuden legalisieren?«, fragte ich betrübt, weil mich die Ungerechtigkeit der Welt bedrückte. »Wenn das ein Gericht der alten Küche war, möchte ich unbedingt weitere Speisen von damals kennenlernen.«
Meine Kollegen tauschten einen traurigen Blick und hatten die Miene von Menschen, die etwas sehr Wertvolles für immer verloren haben.
»Tut mir leid, Max, aber es heißt, solche Geschenke könnten die Welt zum Einsturz bringen!«, seufzte Juffin. »Und dafür wurde das Chrember-Gesetzbuch schließlich nicht geschrieben.«
»Seine Verfasser haben bestimmt tausend Jahre lang strengste Diät gehalten und deshalb die ganze Menschheit gehasst«, murmelte ich. »Gönnen sich nicht mal Seine Majestät und der Große Magister Nuflin zum Frühstück eine Tschakkatta-Pirogge? Das glaube ich einfach nicht!«
»Deine Intuition ist ausgezeichnet. Was den König anlangt, habe ich meine Zweifel, aber dafür gibt es in der Stadt Gerüchte über eine Geheimküche, die sich in Jaffachs Keller befinden soll - in der Residenz des Ordens des Siebenzackigen Blattes also«, bemerkte Sir Kofa mit gezwungenem Gleichmut.
»Kann es sein, dass man mich gar nicht in den Geheimdienst hätte aufnehmen sollen?«, fragte ich und warf Juffin einen vorwurfsvollen Blick zu. »Legen Sie doch für mich ein gutes Wort beim Orden des Siebenzackigen Blattes ein! Vielleicht bekomme ich dann wenigstens eine Stelle bei Hof.«
Juffin nickte geistesabwesend, trank einen zweiten, inzwischen kalt gewordenen Becher Kamra und schenkte uns ein strahlendes Lächeln.
»Das Leben geht weiter«, erklärte er. »Aber Pirogge beiseite, mein teurer Freund - ist in der Zwischenzeit sonst noch was passiert?«
»Nur, was im Polizeibericht von General Bubuta steht«, sagte Kofa und machte dabei eine geringschätzige Handbewegung. »Nichts als Kleinigkeiten - davon allerdings jede Menge. Deshalb wohl haben Sie so schlecht geschlafen. Zum Beispiel haben die blöden Schmuggler versucht, ihre Fracht vor dem Zoll zu verstecken, und dafür Schwarze Magie fünfzehnten Grades angewandt. Können Sie sich das vorstellen?«
»Natürlich«, meinte Juffin und nickte traurig. »Man kann sogar einen alten Skabamantel stehlen und danach das ganze Rechte Flussufer sprengen, damit niemand den Täter ermittelt.«
»Dazu kommt die Herstellung falscher Juwelen, bei der Schwarze Magie sechsten Grades eingesetzt wurde. Außerdem hat es einen misslungenen Versuch gegeben, auf eigene Faust Schlafmittel herzustellen. Das war übrigens der größte Quatsch. Aber Sie haben vermutlich auf etwas Schwerwiegenderes gehofft. Bela Grou - ein ehemaliger Novize des Ordens des Geheimen Krauts - hat sich entschieden, Taschendieb zu werden. Ich muss gestehen, dass er in diesem Metier ein echter Experte geworden ist. Auch heute Nacht hat man ihn nicht verhaften können. Aber schauen Sie sich das besser selber an.«
Sir Kofa Joch gab Sir Juffin einige sich selbst beschriftende Tafeln. Diese Tafeln sind - unter uns gesagt - eine ungemein praktische Erfindung! Man kann denken, was man will: Gleich schreiben sie es einem auf. Dabei hat sich zwar gezeigt, dass die Gedanken mancher Leute grammatisch fehlerhaft sind, aber dagegen lässt sich ohnehin nichts machen.
Juffin inspizierte die Tafeln wohlwollend. »Ich wüsste gern, womit Bubuta Boch sich während der Arbeitszeit beschäftigt. Und womit er sich Gedanken macht, wenn das mal nötig sein sollte. Etwa mit dem Hintern?
Der ist immerhin riesig - da könnte er doch wohl mal auf einen klugen Gedanken kommen! Na ja, überlassen wir ihm den Piroggenbäcker und die Schmuggler, und heben wir uns den Juwelenfälscher und den Taschendieb für später auf.«
Sir Kofa nickte verständnisvoll. »Wenn Sie erlauben, möchte ich mich jetzt verabschieden. Unterwegs will ich noch was im Rosa Buriwuch trinken. Zwar gibt es dort keine vernünftige Kamra, aber dafür versammeln sich da die geschwätzigsten Marktweiber von Echo. Zumal an einem Markttag wie heute. Ich glaube eigentlich nicht, dass ... Obwohl... <> Sir Kofa war plötzlich ins Stocken geraten und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, das sich im selben Moment zu verwandeln begann. Er rieb seine sichtlich wachsende Nase und machte sich auf den Weg, die restlichen Ermittlungen zu beenden.
»Juffin«, begann ich verlegen. »Sagen Sie mir doch, warum Sie nicht gleich alle Fälle an General Bubuta Boch übergeben haben. Er mag ein Bock sein, doch Verbrecher frei herumlaufen zu lassen, ist meiner Meinung nach nicht richtig. Oder habe ich da wieder etwas missverstanden?«
»Missverstanden? Gar nichts hast du verstanden! Ein Verbrecher in Freiheit ist eine kleine Unannehmlichkeit; ein Bubuta aber, der im Haus an der Brücke herumläuft, ist eine Katastrophe. Darum habe ich keine Lust, mich an seine Anwesenheit zu gewöhnen. Denn das hieße, dass er die Situation kontrollieren würde. Dabei sollten wir die Lage kontrollieren, damit Bubuta uns verpflichtet ist. Nur dann lässt sich ein konstruktiver Dialog mit ihm führen. Wir brauchen immer ein paar Dinge, von denen er nichts weiß, um ihm mitunter ein Geschenk machen oder ihn erschrecken zu können. Seine Dankbarkeit ist lautstark und ungestüm wie die Blähungen, die er in seinem Kielwasser hinterlässt. Und genauso kurzlebig wie deren Aroma.«
»Das ist ja ganz schön kompliziert!«, klagte ich.
»Kompliziert?! Das ist Basiswissen, mein Junge. Was bedeutet >Bock< eigentlich?«
»Bock? Das ist Bubuta Boch. Und Sie sind ein echter Jesuit!«
»Du kannst ganz schön schimpfen«, kicherte Juffin begeistert.
»Ich bitte um Verzeihung!«, rief der Unbekannte, in den Sir Kofa sich gerade verwandelt hatte, durch die offene Tür in Juffins Büro hinein. »Wegen der sündigen Pirogge hab ich das Wichtigste vergessen: Die ganze Nacht hat es in der Stadt Gerüchte gegeben, Burada Isofs sei im Cholomi-Gefängnis gestorben. Ich hab das überprüfen lassen, und es stimmt tatsächlich. Er war in Zelle Nummer Fünf inhaftiert. Dem sollten Sie nachgehen, Juffin. Oder was meinen Sie?«
»Das sollte ich auf jeden Fall im Auge behalten«, meinte unser Leiter. »Aber wie haben nächtliche Spaziergänger davon erfahren? Zumal das Ganze hinter Gefängnismauern passierte?«
»Sie haben doch selbst gesagt, dass es in Echo jede Menge preiswerte Hellseher gibt«, mischte ich mich ins Gespräch.
»Na so was. Vielen Dank, Kofa. Du hast mir wirklich eine Freude gemacht. Wie viele Leute sind eigentlich in den letzten Jahren in Zelle Nummer Fünf gestorben, Kurusch?«
Der verschlafene Vogel plusterte sich ein wenig auf und gab dann eine Bilanz zum Besten, die bis zum 225. Tag des 115. Jahres reichte, also bis zu dem Tag, an dem diese Geschichte spielt.
»Dosot Fer ist am 114. Tag des 112. Jahres in Zelle Fünf des Königlichen Cholomi-Gefängnisses gestorben genau wie Tolosot Liw am 209. Tag des 113. Jahres, Balok Sanr am 173. Tag des 114. Jahres, Civet Maron am 236. Tag des 114. Jahres, Acham Ann am 78. Tag des 115. Jahres und Sowaz Lowod am 184. Tag des 115. Jahres. Burada Isofs ist dort ebenfalls gestorben, und zwar am 224. Tag des 115. Jahres, wenn ich Sir Kofa richtig verstanden habe. Gibt mir noch jemand ein paar Nüsse?«, schloss Kurusch mit unerwartet inoffizieller Stimme.
»Natürlich, mein Lieber!«, sagte Juffin und begann sofort, in den Schubladen seines Schreibtischs nach Nüssen zu suchen, die dort reichlicher vorhanden waren als Geheimunterlagen. »Und du, Kofa, kümmerst dich jetzt um deine Aufgaben. Vielen Dank, dass du den Vorfall im Gefängnis erwähnt hast. Mal sehen, was sich da herausfinden lässt.«
Unser »Verfressener Meister des Verhörs« - diesen Spitznamen hatte er von Melifaro - nickte und verschwand im Halbdunkel des Korridors. Die Tür schloss sich geräuschlos, und ich erschauerte unter Sir Juffins kritischem Blick.
»Also, Max, willst du den Vorfall im Gefängnis untersuchen?«
»Wo soll ich denn anfangen?«
»Wir haben nur eine Chance: Du lässt dich in Cholomi inhaftieren. Dort bekommst du sicher jede Menge Scherereien, erlebst, wie es da zugeht, und kannst die Verhältnisse vor Ort mit eigenen Augen studieren. Diese Beobachtungen sollten dir ermöglichen, eine Ermittlungsstrategie zu entwickeln.«
»Ich? In Cholomi?«
»Wo denn sonst? Schließlich sterben die Leute dort und nicht bei dir zu Hause. Du fährst morgen. Und reg dich nicht so sehr darüber auf. Nach allem, was bisher passiert ist, brauchst du nicht lange auf weitere Entwicklungen zu warten. Ich bin fest überzeugt, dass niemand diese Sache besser erledigen kann als du.«
»Welche Sache denn? Im Gefängnis schmoren?«
»Das meine ich natürlich auch«, sagte Sir Juffin und lächelte genüsslich. »Was ist mit dir los, Max? Wo ist dein Humor geblieben?«
»Der muss irgendwo verloren gegangen sein. Ich geh ihn gleich mal suchen«, meinte ich und winkte vage ab, um zu zeigen, dass es um mich doch noch nicht so schlimm bestellt war.
»Hör mal, Max - früher oder später wäre das sowieso passiert...«
»Was meinen Sie damit? Dass man mich ins Gefängnis wirft?«
»Fang doch nicht immer wieder mit diesem Gefängnis an! Hier geht es um eine sehr ernste Sache. Früher oder später musst du zum ersten Mal allein arbeiten. Sei froh, dass du schon jetzt die Möglichkeit dazu bekommst. Hier handelt es sich nicht um einen Fall, der über Wohl und Wehe von Echo entscheidet. Und allzu kompliziert ist er offenbar auch nicht. Außerdem kann ich dir jederzeit helfen, obwohl ich überzeugt bin, dass du meine Hilfe nicht brauchen wirst. Im Übrigen, Max, hast du noch über vierundzwanzig Stunden Zeit, über den Fall nachzudenken und dein Vorgehen zu planen. Alles, was du brauchst, steht zu deiner Verfügung. Und heute Abend schiebst du keinen Dienst, sondern kommst mich besuchen. Es wird ein Abschiedsessen für den künftigen Gefangenen geben - mit allen kulinarischen Genüssen!«
»Vielen Dank, Juffin.«
»Nichts zu danken. So unangenehm dein Einsatz auch werden mag - wir lassen uns dadurch die Freundschaft nicht vermiesen.«
»Na ja - Sie könnten mir ja noch ein paar Tipps geben
»Das glaubst du doch hoffentlich selber nicht! Es geht nur darum, den künftigen Gefangenen mit einem Festmahl zu verabschieden.«
Mit diesen Worten trennten wir uns.
In der Hoffnung, endlich ein paar Hinweise darauf zu bekommen, was ich im Cholomi-Gefängnis eigentlich ausrichten sollte, ging ich am Abend zum Linken Flussufer, fürchtete aber, der alte Unhold Juffin würde mir nur einmal mehr erklären, ich hätte diesen Fall ganz allein zu lösen. Sicher würde er erneut sagen, ich sei nur zum Essen eingeladen, und wenn ich ihm eine Freude machen wolle, solle ich mächtig reinhauen. Und wenn ich dennoch nachzufragen wagte, würde er mir erklären, über die Arbeit hätten wir schon genug geredet.
Kimpa berichtete mir schon auf der Türschwelle, der Ehrwürdige Leiter habe das Abendessen persönlich zubereitet. Wie sich erwies, konnte Sir Juffin ausgezeichnet kochen! Aber ich hatte auf etwas anderes gehofft - auf Ratschläge und Instruktionen nämlich.
»Setz dich, Max. Und vergiss nicht: Morgen ist morgen, und heut ist heut. Außerdem weiß ich eines ganz genau: Wenn du erst im Cholomi-Gefängnis bist, kommst du bestimmt auf eine dumme Idee, die sich im Nachhinein als goldrichtig erweisen wird. Probier das hier doch mal.«
Chuf - Sir Juffins kleiner Hund und mein bester Freund - seufzte mitfühlend unter dem Tisch. »Max hat Angst ... das ist schlecht«, teilte er mir mitleidig per Stummer Rede mit, und ich antwortete ihm innig: »Du bist der Einzige, der mich liebt und versteht«, fing also schon wieder an, mich zu bedauern.
»Sir Juffin - trotz all Ihrer Komplimente wäre es für mich am besten, einen Zettel zu bekommen, auf dem in Druckschrift vermerkt ist, was ich im Gefängnis zu tun habe.«
»Ach, Max, du bringst immer alles durcheinander. Iss - mehr hast du im Moment nicht zu tun. Weißt du, schon seit vierzig Jahren träume ich davon, in Rente zu gehen und ein Restaurant zu eröffnen. Dort wäre es bestimmt nicht schlechter als im Fressfass.«
»Daran zweifle ich nicht. Allerdings würde der König Ihnen das nicht erlauben.«
»Irgendwann tut er das gewiss.«
»Sind Sie noch nie auf den Gedanken gekommen, die Leute könnten Angst haben, ins Wirtshaus eines ehemaligen Topagenten zu gehen? Können Sie sich nicht vorstellen, welche Gerüchte über Ihre Küche in der Stadt kursieren würden? Es hieße bestimmt, Sie bereiten alle Gerichte aus Dörrfleisch zu, das Sie rebellischen Magistern von den Rippen geschnitten haben. Und man würde behaupten, Ihre Suppen enthielten das Blut unschuldiger Kinder.«
»Die Vampire sollen dich holen, mein Junge! Solche Gerüchte sind doch die beste Werbung! Und das Blut unschuldiger Kinder hat einen fabelhaften Neuigkeitswert. Vorausgesetzt, man kann die entsprechenden Gerüchte geschickt lancieren.«
Substanzielleres hatte ich von Juffin ohnehin nicht erwartet. Kurz vor Verlassen seines Hauses aber hatte ich eine blendende Idee: »Ich habe beschlossen, Sir Lonely- Lokley ins Gefängnis mitzunehmen«, sagte ich, und meine Stimme klang begeistert, da mich die Genialität meines Einfalls schier überrumpelt hatte. »Ich hoffe, das ist möglich?«
»Eigentlich sind die Zellen nur für eine Person gedacht. Meinst du, ihr könnt eng umschlungen schlafen? Na ja, bei deiner Vorstellung von Bequemlichkeit...«
»Nein, nein - Sie haben mich falsch verstanden. Ich habe vor, Sir Schürf zu verkleinern und ihn in meiner Hand verschwinden zu lassen. Er hat mir das selber vor ein paar Tagen beigebracht und gemeint, ich würde das schon sehr gut beherrschen. Na ja, zugegeben, bisher hab ich noch nicht an lebenden Menschen geübt«, fügte ich halbherzig hinzu, und mein Selbstbewusstsein schwand wie eine Pfütze in der Wüste.
»Tot oder lebendig - da gibt es keinen Unterschied«, beruhigte mich Sir Juffin. »Das ist eine ausgezeichnete Idee, Max. Ich hab doch gesagt, dass niemand diesen Fall besser bewältigen kann als du!«
»Hoffentlich. Ob auch Sir Lonely-Lokley mit meinem Vorschlag einverstanden sein wird?«
»Zum einen wird es Sir Schürf sicher sehr schmeicheln, dass du so viel Vertrauen zu ihm hast, denn er nimmt dich viel ernster, als du ahnst. Zum anderen interessiert niemanden, was er über deinen Vorschlag denkt, denn Befehl ist Befehl. Gewöhn dich endlich daran, mein Stellvertreter zu sein: Anweisungen zu erteilen, ist dein tägliches Brot.«
»Sündige Magister! Ich kann vieles nicht leiden, und Befehlen gehört sicher dazu!«, rief ich und runzelte die Stirn.
»Und wer hat mit seinem Gebrüll die jüngeren Bediensteten in unserer Hälfte des Hauses an der Brücke so erschreckt? Wer hat Bubuta Boch so gereizt, dass er beinahe einen Wutanfall bekommen hätte? Stell dich nicht so an, Max. Aus dir wird noch ein perfekter Tyrann - einer von denen, die man mit größtem Vergnügen bei einem Putsch um die Ecke bringt.«
»Als ich die Möglichkeit bekam, Befehle zu geben, war ich die ersten beiden Tage wirklich glücklich«, gab ich verlegen zu. »Doch ich habe schnell begriffen, dass das nichts für mich ist. Wenn ich einen Boten um Kamra schicke, höre ich auf, der sympathische Max zu sein, den ich schon lange kenne. Diesen Befehl gibt ein anderer. Ich kann nicht sagen, wer, doch der Typ gefällt mir einfach nicht!«
»Was für eine komplizierte Natur du bist!«, sagte Juffin lächelnd. »Na schön. Nimm das alles nicht so ernst. Ich werde Schürf per Stummer Rede alles erklären. Sonst noch Wünsche?«
»Im Moment nicht. Ich bin nur von Wenigem wirklich überzeugt, und dazu gehört, dass ich mich in Gesellschaft von Sir Lonely-Lokley sicherer fühlen werde. Juffin, ich habe Ihnen noch nie davon erzählt, doch ich bin ein ziemlich ängstlicher Junge. Vergessen Sie das nicht.«
»Stell dir vor - auch ich werde mich ruhiger fühlen, wenn du mit Schürf unterwegs bist«, gab Juffin zu. »Ich hab dir auch noch nicht erzählt, dass ich ein vorsichtiger alter Fuchs bin. Du musst lernen, dich geschickter auszudrücken, Max. Ich hab das Gleiche gesagt wie du, doch meine Formulierung hat der Eitelkeit sehr viel mehr geschmeichelt als deine Worte.«
Kaum hatte ich das Haus meines Chefs verlassen, packte mich die Verwirrung. Ich wollte mir einreden, Juffin glaube zu Recht, ich könne selbständig arbeiten und eine Operation allein durchführen, kam mir dabei allerdings etwas heuchlerisch vor. Plötzlich erwachte in mir ein streberhaftes Gefühl und flüsterte, ich müsse entweder alles perfekt erledigen oder sterben, um mein Elend nicht länger mit anzusehen. Wo war dieser Streber bloß, als ich noch zur Schule ging? Das wüsste ich gern.
Obwohl ich noch weit länger hätte grübeln können, war mir eins sofort klar: Wenn alles überstanden wäre, würde ich glücklich sein, von Sir Juffin Halli ein Lächeln und ein paar dieser gönnerhaften Worte zu bekommen, die einen Menschen fertigmachen können, der gerade einen Berg erobert hat - Worte wie: »Na siehst du, Max, ich hab dir doch immer gesagt, dass alles prima klappen wird, und du hast mir nicht geglaubt!« Ich musste mich also damit abfinden, wer weiß wie heroische Taten zu vollbringen, nur um mir ein wohlwollendes Lächeln meines Chefs zu verdienen. So tief war ich gesunken!
Die Nacht war kalt - eine der kältesten des Winters. Das Quecksilberthermometer in meiner Heimat freilich hätte sicher kaum mehr als null Grad gezeigt. Das Klima in Echo ist im Allgemeinen sehr gemäßigt. Es gibt hier weder extreme Kälte noch starke Hitze, und das hat mir an meinem neuen Zuhause immer gefallen. Für verschneite Winterromantik war ich nie empfänglich. Ich kann es nicht ertragen, in der Dämmerung zur Arbeit zu gehen, mit verfrorenen Beinen in halbnassen Schuhen über den Gehsteig zu schlurfen und darüber nachzudenken, was mich neue Schuhe kosten werden. Und im Hochsommer wiederum bin ich bereit, mein Seelenheil für ein wenig frische Luft zu verkaufen. Deshalb macht mich das angenehme Klima von Echo richtig glücklich. Aber irgendwas muss mich ja auch glücklich machen - den Magistern sei Dank!
Ich fuhr nach Hause und versuchte, nicht an die anstehende Aufgabe zu denken, sondern mich auf etwas anderes zu konzentrieren - zum Beispiel darauf, ob ich es am Morgen noch schaffen würde, Lady Melamori zu sehen.
Meine Sympathie für sie hatte bereits gefährliche Ausmaße angenommen. Am schlimmsten jedoch war, dass ich sie oft nicht verstehen konnte. Vielleicht brauchte ich ja einen Dolmetscher. Seit dem Abend, an dem wir uns kennengelernt hatten, sah sie mich mit unverhohlener Anbetung an. Vielleicht sogar mit ein wenig Angst. Doch soweit ich weiß, führt maßlose Begeisterung selten dazu, dass Menschen einander nahekommen. Darum wusste ich selber nicht, ob ich noch hoffen oder gar die Initiative ergreifen sollte, ehe es endgültig zu spät wäre. Und woher sollte ich wissen, ob es nicht längst zu spät war? Das war mein Problem.
Ein paar Tage zuvor hatte Lady Melamori mich überrascht und mir vorgeschlagen: »Besuchen Sie mich doch heute Abend, Max! Sie wissen noch nicht, wo? Es ist leicht zu finden: Ich lebe in der Nähe des Stadtteils Rendezvous. Lustig, was?«
Mir war ganz schwindelig geworden. Innerlich platzte ich schier vor Stolz und war eitel wie ein Pfau. Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich im Bad und verließ dann im besten Lochimantel das Haus. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte mir das Gesicht gepudert, obwohl sich das in Echo für Männer nicht gehört - auch nicht in Fällen schwerster Verliebtheit. Doch vor diesem letzten, verhängnisvollen Schritt bewahrte mich meine gute Erziehung.
Mit der Aufsicht über mein Büro betraute ich den Vogel Kurusch, für den solche Aufträge ein Klacks waren. Dann ging ich zu Lady Melamori und traf dort auf den fast vollzählig versammelten Kleinen Geheimen Suchtrupp. Zuerst konnte ich meine Enttäuschung nicht verbergen.
»Lady, Sie hätten mir vorher sagen können, dass es sich um ein ganz normales Arbeitstreffen handelt. Sehen wir uns im Büro denn so selten?«
Wenn ich zerstreut bin, rede ich immer so taktloses Zeug, doch zum Glück war niemand sauer auf mich.
»Dafür gibt es bei mir keinen General Bubuta Boch!«, trumpfte die Hausherrin auf. »Und ich verrate Ihnen noch mehr: Er hält sich nicht mal in einem der Nachbarhäuser auf. Merkwürdig, was?«
»Wie schade, Lady! Mit wem kann ich mich dann unterhalten? Ich hatte gehofft, mit einem kompetenten Spezialisten über die neusten Entwicklungen sprechen zu können. Darum dachte ich mir: Komm, geh zu Lady Melamori, dort triffst du bestimmt General Bubuta.«
Zunächst versuchte ich verzweifelt, mich trotz meiner Enttäuschung zu amüsieren, was meine Kollegen sehr belustigte. Später aber war ich dann tatsächlich guter Laune, obwohl es mir an diesem Abend nicht gelang, eine Affäre mit Lady Melamori zu beginnen. Die Treulose kokettierte mit Melifaro und Sir Kofa, und mir blieb nichts anderes übrig, als schmachtende Blicke auf sie zu richten - allerdings aus einer Entfernung von mindestens zwölf Schritten.
Dann merkte ich, dass ich langsam wieder traurig wurde, und versuchte, die verliebten Gedanken an Lady Melamori loszuwerden. Aber wie sollte das gelingen? Unser ungeklärtes Verhältnis machte mich nervös. Hätte sie mir doch einen Korb gegeben! Dann wäre alles klar gewesen. Nein bedeutet Nein, man schüttelt sich, und das Leben geht weiter. Doch bei jedem Treffen bestaunte sie mich wie ein fünfjähriges Mädchen eine drei Meter hohe Micki-Maus-Figur, hob sich vorsichtig auf die Zehenspitzen, klimperte mit den Wimpern und hätte beinahe ihre Freundinnen gerufen, damit auch die mich anstarren konnten. Mein Herz - ein Baumstumpf aus Eschenholz - schmolz dahin, und ich verstrickte mich immer tiefer in meine Verliebtheit.
Die plötzliche Erkenntnis, in meinem Wohnzimmer zu sitzen und mechanisch über etwas nachzudenken, riss mich aus meiner Melancholie. Mein Magen krampfte sich zusammen. Sündige Magister! Was hatte ich bloß gegessen? Und warum?
In der Stadt läuteten schon die Glocken. Der neue Tag begann - und mit ihm die Zeit, da zwei Geheimagenten aufstehen und sich auf den Weg ins Cholomi-Gefängnis machen mussten, dorthin also, wo in den letzten Jahren so viele Todesfälle zu beklagen gewesen waren. Irgendwie hatte ich keine Lust auf Cholomi - vor allem deshalb nicht, weil ich die Zelle beziehen sollte, in der all die Häftlinge gestorben waren. Eigentlich war das doch deren Problem, nicht meins. Ich gebe es nur ungern zu, doch vor allem beunruhigte mich, demnächst inhaftiert zu sein. Bisher war ich nie auf den Gedanken gekommen, ich könnte eines Tages im Gefängnis landen. Erst recht nicht in Echo! Es ging natürlich um eine Ermittlung, aber trotzdem. Ehrlich gesagt zitterten mir die Knie, als ich mir vorstellte, in Anstaltsklamotten in meiner Zelle vor dem geschlossenen Fenster zu stehen, das obendrein womöglich vergittert war. Aber wozu eigentlich Gitter, wenn den Gefangenen ohnehin keinerlei Magie zu Gebote stand?
Hinsichtlich der Dauer unseres Einsatzes hatte sich Sir Juffin mir und Lonely-Lokley gegenüber nicht festgelegt. Es hieß nur, wir sollten erst zurückkehren, wenn wir mit der Ermittlung fertig wären. Was das wohl bedeutete? Sollte ich etwa, falls wir den Fall nicht aufklärten, für immer im Gefängnis bleiben? Das waren ja heitere Aussichten!
Würde ich in Haft bleiben, wäre das schon schlimm genug. Aber warum sollte auch noch der arme Lonely- Lokley leiden? Na - falls niemand uns befreien käme, würden wir das Gefängnis eben in die Luft jagen. Spätestens wenn Sir Schürf die Trennung von seiner Frau nicht länger ertragen könnte, würden wir die Festungsmauern einfach pulverisieren.
Auch die Frau von Sir Lonely-Lokley hatte ich an dem fatalen Abend bei Lady Melamori kennengelernt. Eine fantastische Frau! Sie ist klug und hübsch und lacht viel. Bestimmt hat ihre humorvolle Natur ihre Herzenswahl beeinflusst, denn es gibt nichts Lustigeres als dieses Pärchen. Schurfs Frau ist klein und pummelig und reicht ihrem groß gewachsenen Mann nicht mal bis zum Gürtel. Obendrein verfügt sie über eine sehr scharfe Zunge, und doch kann man ihr nicht lange böse sein. Nach Jahrendes Ehelebens hatte sie es sogar geschafft, Sir Schurfs Namen richtig auszusprechen, und das war ja immerhin was.
Ich hatte den Eindruck, die beiden seien noch immer sehr ineinander verliebt. Wenn Sir Schürf seine Frau ansah, bekam sein undurchdringliches Gesicht beinahe etwas Menschliches. Gut, dass Lonely-Lokley im familiären Bereich so glücklich war, denn das persönliche Wohlbefinden eines Berufskillers ist für die allgemeine Sicherheit immer von Vorteil. Kaum hatte ich mir das überlegt, besserte sich meine Stimmung merklich.
Ich hätte ewig in meinem Sessel sitzen bleiben können. Unangenehme Dinge will man ja immer auf morgen verschieben. Doch leider war dieses Morgen nun angebrochen. Die Erinnerung an die Gemütlichkeit vom Vorabend, an den netten Besuch bei Sir Juffin also, musste ich beiseiteschieben, um mich auf den kommenden Auftrag zu konzentrieren. Das kleine warme Jetzt - dessen war ich mir bewusst - blieb noch kurz in meinem Sessel zurück, um sich alsbald zu verflüchtigen.
Ich stand auf und begann, mich vorzubereiten. Ella und Armstrong - meine etwas größer gewordenen Katzen - meldeten laut, ihre Frühstückszeit sei gekommen. Zum Abschied war ich großzügig, vielleicht sogar verschwenderisch.
»Von nun an wird euch ein anderer füttern - ein Herr Urf«, verkündete ich meinen Tieren, während ich ihre Fressnäpfe füllte. »Er soll ein guter Mensch sein und ist auf dem Bauernhof groß geworden, wo er genauso haarige Kleintiere gefüttert hat wie euch. Ich bin bald zurück. Ich gehe nur ein wenig ins Gefängnis und komme dann wieder.« Als mir auffiel, welchen Unsinn ich mir da zusammenmonologisierte, brach ich in Gelächter aus.
Armstrong und Ella sahen mich mit blauen, so unbewegten wie undurchdringlichen Augen an, die denen von Sir Juffin auf eigentümliche Weise glichen.
Der Morgen war nicht mehr so kalt wie die Nacht. Ich genoss jeden Schritt meines Spaziergangs zum Haus an der Brücke. Der Gedanke, ich könnte demnächst in Cholomi - wie alle meine Vorgänger in Zelle Nummer Fünf - ein plötzliches Ende finden, schärfte meine Sinne angenehm. Vielleicht war das alles ja nur ein Zusammen treffen verschiedener Zufälle? Aber das wäre wohl zu einfach.
Doch das Herz lässt sich nicht betrügen - mein Herz jedenfalls nicht. Und langsam wurde es schwer wie Blei. Was würde wohl passieren, wenn ich in Cholomi eintraf? Ich wurde immer nervöser. Auch der Gedanke daran, dass der mächtige Lonely-Lokley demnächst wie eine klitzekleine Puppe unter meiner Handfläche säße, konnte mich nur teilweise beruhigen. Denn immerhin musste es mir gelingen, ihn im richtigen Moment aus meinem Körper zu befreien und zu voller Größe anwachsen zu lassen.
Sir Lonely-Lokley erwartete mich im Saal der allgemeinen Arbeit. Er war unerschütterlich, gelassen und ruhig wie stets. Um seine Zeit sinnvoll zu nutzen, schrieb er etwas in sein Notizbuch. Als ich ihn ansah, fasste ich wieder Mut.
»Na, Sir Schürf, sind Sie bereit, mein Opfer zu werden?«
»Ihr Opfer? Sir Max, Sie überschätzen die Bedeutung dessen, was vor uns liegt!«, meinte er ungerührt. »Glauben Sie mir - ich habe keinen Grund zur Beunruhigung. Und Sie noch weniger.«
»Vielen Dank für Ihr Vertrauen!«, sagte ich. Dann machte ich mit der linken Hand eine Geste, die für die Umstehenden unsichtbar war, und Sir Lonely-Lokley verschwand. Theoretisch war mir zwar klar, dass er nicht wirklich verschwunden war, sondern sich zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Linken befand, praktisch jedoch hatte ich das Gefühl, den armen Mann aus der Welt geschafft zu haben.
»Schön hast du das gemacht, Sir Nächtlicher Alptraum«, begeisterte sich Melifaro, der kurz zuvor aus seinem Büro gekommen war. »Sag mal, kannst du ihn jetzt nicht hundert oder zweihundert Jahre lassen, wo er ist?«
»Dagegen dürfte Lady Lokley manchen Einwand haben, und ich will ihr keinen Kummer bereiten«, sagte ich lächelnd. »Und du - warum bist du so früh im Büro?«
»Juffin hat mich geweckt und mir per Stummer Rede mitgeteilt, dass er erst mittags kommen kann. Er hat mir befohlen, dich zu begleiten. Offenbar will er meinen Tod. Normalerweise steht er immer schon im Morgengrauen auf, doch heute hat er mich zu nachtschlafender Zeit aus den Federn geholt!«
»Er versteckt sich wohl vor mir!«, sagte ich frech.
»Vor dir? Du bist gut! Soweit ich die Geschichte des Vereinigten Königreichs kenne, hat sich Sir Juffin in den letzten hundert Jahren vor niemandem gedrückt. Vielleicht ist ihm das in der Epoche der Orden mal passiert, aber damals haben sich alle voreinander versteckt. Womit willst du ihn eigentlich so erschreckt haben?«, fragte Melifaro und setzte sich mir gegenüber.
»Wenn du mir Kamra gibst, erzähle ich es dir!«, sagte ich, setzte mich ebenfalls und legte die Beine auf den Tisch. Aus welchem der vielen idiotischen Filme, die ich in meinem Leben gesehen habe, dieses Gehabe stammte, weiß ich nicht mehr. »Du sollst mich also begleiten? Dann musst du dich jetzt schon gut um mich kümmern, damit ich das Haus zufrieden verlasse. Also verwöhn mich nach Strich und Faden!«
»Einen Verbrecher zu verwöhnen!«, brummte Melifaro. »Aber gut, genieße meine Gastfreundschaft!«, setzte er hinzu, ging in sein Büro und holte einen Krug und zwei überdimensionierte Tassen.
»Also noch mal: Weshalb sollte unser Ehrwürdiger Leiter sich eigentlich vor dir drücken?«
»Weil ich zu viele Fragen stelle. Deswegen will er mich ins Gefängnis verbannen.«
»Ach deshalb! Ich dachte schon, du hättest gestern Abend versucht, ihm ein aus Pferdemist hergestelltes Getränk unterzujubeln - eine Spezialität aus euren Leeren Ländern.«
»Das wäre was gewesen!«, meinte ich und senkte bescheiden die Augen. »Aber Sir Juffin hat mir gesagt, sein Tagesantlitz müsse alle unangenehmen Aufgaben für ihn erledigen. Und gut, dass du das Pferdemistgetränk erwähnt hast, Melifaro, denn jetzt kann ich dir etwas richtig Leckeres anbieten!«
»Bloß nicht!«, rief er, blickte erschrocken drein und floh in sein Arbeitszimmer. Nachdem er sich von dort aus ein paar Mal in gespielter Panik nach mir umgesehen hatte, wurde ihm seine Show langweilig, und er kehrte zu mir zurück.
Frotzelnd verbrachten wir noch eine angenehme halbe Stunde. Lady Melamori, auf die ich insgeheim noch immer Absichten hatte, tauchte nicht auf. Schließlich setzte ich mich ans Steuer meines A-Mobils und fuhr nach Cholomi. Auf in den Kampf!
»Sie sind es wirklich!«, rief der alte Kommandant des Gefängnisses und verdeckte ehrfürchtig die Augen, hielt sich also genau an die Vorschriften des Begrüßungsrituals. »Ich freue mich, Sie willkommen zu heißen. Mein Name ist Marunarch Antarop.«
Kaum hatte ich mich ihm vorgestellt, wurde ich in den Frühstückssaal geführt.
»Wie dünn Sie sind, Sir Max! Ich weiß, dass die Arbeit beim Geheimdienst sehr schwer ist. Sie müssen einfach mehr essen!«, rief Sir Marunarch immer wieder und füllte meinen Teller dabei ein ums andere Mal. »Keine Sorge: Es wird Ihnen demnächst viel besser gehen - das verspreche ich Ihnen!«
Das fantastische Frühstück, das Marunarch mir vorgesetzt hatte, ähnelte gefährlich einem festlichen Abendessen. Der Kommandant behandelte mich wie ein fürsorglicher Großvater. Ich war ins Gefängnis gegangen und in einem Sanatorium gelandet - das Leben hält nun mal manche Überraschung bereit.
»Wissen Sie, es geht mir schon viel besser. Ich habe mindestens zehn Kilo zugenommen«, seufzte ich nach einer Stunde ununterbrochenen Essens. »Vielen Dank, Sir Marunarch. Aber jetzt muss ich in meine Zelle - darum bin ich schließlich hier.«
»Sie tun mir wirklich leid! Ich fürchte, es wird nicht gerade bequem für Sie werden, doch Sir Juffin hat mich gebeten, Sie nicht in einem Gästezimmer unterzubringen, sondern in einer echten Zelle. Was meinen Sie - war das ein Scherz von ihm?«
»Schön wär's!«, antwortete ich lächelnd. »Nein, Sir Marunarch, ich muss tatsächlich in eine Zelle ziehen.«
»Na gut«, seufzte der Alte. »Gehen wir. Sie wissen doch sicher, dass Sie die Stumme Rede dort nicht benutzen können? Da kann ich nichts machen - so ist das Gefängnis nun mal gebaut. Schließlich ist Cholomi ein magischer Ort, und wir einfachen Angestellten können nicht entscheiden, was hier möglich ist und was nicht.«
»Ja, das hat man mir schon gesagt.«
»Wenn Sie also mit Sir Juffin oder jemand anderem sprechen möchten, sagen Sie bitte den Wächtern, dass Sie spazieren gehen wollen. Dann werden Sie zu mir geführt, egal zu welcher Tageszeit. In diesem Zimmer hier können Sie machen, was Sie wollen. Selbstverständlich habe ich meine Mitarbeiter über Ihr Kommen informiert.«
»Ausgezeichnet«, meinte ich nickend. »Und jetzt verhaften Sie mich bitte!«
Die Zelle Nummer Fünf machte auf mich einen gemütlichen Eindruck. Unter uns gesagt: In meiner Heimat hätte man für so etwas einige Koffer voller Dollars hinblättern müssen, doch für eine in Echo geborene Person war es nicht leicht, sich damit abzufinden, nur so wenig Platz zur Verfügung zu haben. Die Zelle bestand nicht etwa nur aus einem Zimmer, sondern aus dreien, die nach hiesigen Maßstäben sehr klein waren, mir jedoch riesig vorkamen. Darüber hinaus befand sich ein Stockwerk tiefer noch ein Bad mit Toilette, das über eine Wendeltreppe zugänglich war. Wie bei mir zu Hause hatte das Badezimmer drei Wannen. Jetzt begriff ich, warum mein Vermieter so lange keinen Interessenten für seine Wohnung hatte finden können, und beschloss, gleich nach der Rückkehr eine vierte Badewanne einbauen zu lassen. Schließlich will ich daheim nicht so leben wie im Gefängnis!
Doch ich hatte - den Magistern sei Dank - noch nicht alle großstädtischen Gewohnheiten übernommen und empfand meine bescheidene Zelle als nettes Plätzchen. Nach einer halben Stunde schon stellte ich fest, dass ich mich recht gut eingelebt hatte.
Ich gewöhne mich sehr schnell an neue Umgebungen. Ziehe ich am Morgen irgendwo ein, fühle ich mich am Abend schon, als hätte ich mein ganzes Leben dort verbracht. Nun aber kam mir der Gedanke, dass ich mich in ein paar Tagen - vorausgesetzt, alles liefe weiterhin so gut - in Cholomi schon so heimisch fühlen würde, dass ich vergäße, warum ich hier war. Gut möglich, dass ich mich dann sogar an ein nie über mich verhängtes Urteil erinnern und Reue über eine Tat zeigen würde, die ich nie begangen hatte.
So saß ich denn in meiner Zelle und betrachtete die Decke. Der herrliche Sir Lonely-Lokley führte sein für mich unsichtbares Leben in meiner linken Hand. Ich hätte ihn gern gefragt, was er dabei fühlte. Auf jeden Fall hatte er sein Notizbuch mitgenommen. Ob er seine erzwungene Freizeit dadurch produktiver verbrachte, blieb mir verborgen. Schließlich beschloss ich, mich schlafen zu legen. Ich musste mich erholen, denn ich vermutete, das eigentlich Interessante würde - wenn überhaupt - nachts passieren.
Meine größte Angst war, dass nichts geschah und die spannende Frage auf mich zukam, wie lange ich in Cholomi würde verbringen müssen, um endlich beurteilen zu können, ob es sich bei den sieben Toten der letzten drei Jahre womöglich nur um eine absurde Häufung von Zufällen gehandelt hatte. Würde es ein Jahr dauern? Zwei Jahre? Vielleicht noch länger? Na ja, wenn die lieben Kollegen erst gezwungen wären, zwölf Tage ohne uns auszukommen, würden sie schon von sich aus nach uns rufen! Sir Juffin wäre vermutlich der Erste, der zu dem Schluss käme, dass meine Dienstreise mit Sir Lonely-Lokley schon zu lange dauerte.
Dennoch schlief ich ausgezeichnet. Als ich aufwachte, war es schon dunkel, und ich bekam die abendliche Gefängniskost - die meinem prächtigen Frühstück gefährlich ähnelte - in die Zelle gebracht. Warum gehen wir mit Juffin eigentlich immer ins Fressfass. Dort isst man zwar gesund, doch die Gefängnisküche ist einfach traumhaft. Sollten wir vielleicht die Sitte einführen, in Cholomi zu tafeln, wenn die dienstliche Lage es erlaubte? Oder sollten wir hier gar ein paar Sorgenfreie Tage verbringen? Schließlich ist es in diesem Gefängnis ungemein leise und bequem, und niemand stört einen.
Die Nacht rückte heran. Um keine kostbare Zeit zu verlieren, tat ich, was ich wirklich gut konnte, versuchte also, mich mit den Möbeln in meiner Zelle zu unterhalten, um den Teil der Vergangenheit aufzudecken, an den sie sich erinnern konnten.
Leider aber ließ sich nichts herausfinden. Alle Gegenstände reagierten auf meine Fragen nur mit Wellen starker Angst. Das hatten wir doch schon im Schlafzimmer des alten Sir Makluk-Olli erlebt! Die kleine Cremedose dort hatte auch große Angst gehabt. Es gab also keinen Zweifel: Hier war kein dummer Zufall im Spiel. Ich war in eine ernste Geschichte geraten.
Dann kam ein Wächter, forderte mich zu einem »Abendspaziergang« auf und brachte mich zu einem Treffen. Einer der Mitarbeiter der Haftanstalt, ein Mann namens Chaned Dschanirah, hatte seit den Morgenstunden unbedingt mit mir sprechen wollen, doch der gute Kommandant hatte meinen Schlaf geschützt und dem ungeduldigen Mann befohlen zu warten, bis ich wach würde.
Dschanirah trug den Titel eines Trösters der Leidenden und schien eine Art Gefängnispsychologe zu sein. Regelmäßig besuchte er die Gefangenen und fragte sie, ob sie gut geschlafen hätten, wovor sie sich ängstigten und ob sie ihren Angehörigen Nachrichten übermitteln möchten. In Echo werden Gefangene recht human behandelt. Wer in Cholomi einsitze, so heißt es, habe es ohnehin schwer genug, und man müsse es ihm nicht noch schwerer machen.
»Ich glaube, Sir Max, ich habe eine interessante Information für Sie«, sagte Chaned Dschanirah, kaum dass wir uns begrüßt hatten.
Er war ein ziemlich junger Bursche mit rundem Gesicht, leiser, sympathischer und melodischer Stimme und sehr scharfsichtig wirkenden grünen Augen.
»In letzter Zeit sind bei uns merkwürdige Dinge passiert«, fuhr er fort. »Ich schätze, dass Sie deshalb gekommen sind, und denke, Sie sollten vor Beginn Ihrer Untersuchungen mit mir sprechen. Ich habe den ganzen Tag damit gerechnet, dass Sie mich kommen lassen würden - leider vergeblich. Möglicherweise empfinden Sie mich jetzt als aufdringlich, aber dieses Risiko muss ich eingehen.«
»Ich habe einfach zu viel gefrühstückt, Sir Dschanirah - so viel, dass ich zwischenzeitlich nichts mitbekommen habe«, entschuldigte ich mich. »Ich hätte mich wirklich gleich nach meiner Ankunft an Sie wenden sollen, doch nachdem ich letzte Nacht kein Auge zugetan hatte, bin ich gleich nach dem Frühstück in Tiefschlaf gesunken. Bitte verzeihen Sie mir!«
Der Gesichtsausdruck von Chaned Dschanirah wirkte, als wäre der junge Mann bereit, für mich zu sterben. Ich wusste nicht, was ihn so sehr für mich eingenommen hatte - vielleicht die altertümliche Anrede »Sir«, die einem jungen Psychologen nicht gerade oft begegnete. Vielleicht aber auch die Unbefangenheit, mit der ich meine Fehler eingestanden hatte. Wie auch immer - ich hatte sein Herz offenbar ohne große Mühe erobert.
»Aber nicht doch, Sir Max! Es ist schließlich Ihr gutes Recht, sich zu erholen, ehe Sie mit der Recherche beginnen. Ich wollte Ihnen nur erklären, warum ich mich unbedingt mit Ihnen treffen wollte. Ich glaube, ich kann Ihnen sehr nützlich sein. Hören Sie mich einfach an. Vorgestern haben sich die Häftlinge der Zellen Drei, Vier und Sechs - also die Insassen Ihrer Nachbarzellen - über Alpträume beklagt. Diese Alpträume haben in vieler Hinsicht übereingestimmt.«
»Bedauerlich, dass die drei so schlecht geschlafen haben. Worum ist es in ihren Träumen denn gegangen?«
»Alle drei haben von einem kleinen, halb durchsichtigen Männlein geträumt, das aus der Wand gekommen sei und ihnen unbeschreibliche Angst eingejagt habe. Malesch Patu hat gesagt, das Männlein habe ihm die Augen ausdrücken wollen. Sir Alapajek Vass hingegen hat erzählt, das Männlein habe versucht, ihm das Herz aus dem Leibe zu reißen. Der dritte Fall ist noch merkwürdiger«, meinte Sir Dschanirah und fuhr nach kurzer Pause fort: »Der dritte Gefangene nämlich hat geschworen, das Männlein habe versucht, seinen Darm zu verschließen. Nun hat er panische Angst, dem Gnom könne es im nächsten Traum gelingen, sein Ziel zu erreichen. Der Arme!«
»Der Mann ist wirklich nicht zu beneiden.«
Ich hatte den Eindruck, die drei Alpträume stellten eine merkwürdige Mischung aus realen Gefahren und persönlichen Phobien dar. Dieses Männlein hatte bestimmt etwas mit den Häftlingen anstellen wollen, doch jeder der drei deutete seine Träume anders. Das war durchaus verständlich. Unverständlich war für mich jedoch, woher das Männlein, das ihre Träume durcheinandergebracht hatte, überhaupt gekommen sein mochte. Immerhin war es schlicht unmöglich, im Cholomi-Gefängnis Zaubertricks zu vollführen. Genau aus diesem Grund landeten dort ja alle, die sich mit verbotener Magie beschäftigten.
»Und wie steht es um die Gesundheit der drei Träumer?«, fragte ich. »Hat sich schon ein Heiler um sie gekümmert?«
»Natürlich. Solche Probleme darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Zumal da die Träume zeitgleich bei drei Gefangenen, die sich nicht kennen, aufgetreten sind. Und Sie wissen ja, dass die drei sich in Cholomi nicht haben absprechen können.« Der Tröster der Leidenden zuckte die Achseln. »Es hat sich erwiesen, dass keiner von ihnen gesund ist. Die Organe allerdings, auf die das Männlein im Traum scharf war, sind in bestem Zustand.«
Erfreut stellte ich fest, dass meine These, die persönlichen Phobien der drei Häftlinge hätten ihre Träume beeinflusst, für einen psychologischen Laien, der ich zweifellos bin, gar nicht so schlecht war.
»Was ist mit den dreien?«
»Sie alle verlieren langsam den Funken«, flüsterte Dschanirah Unheil verkündend und schwieg dann bedeutsam, als wollte er mir die Möglichkeit geben, die ganze Tragweite dieses Satzes zu verstehen.
Ich stieß einen leisen Pfiff aus. Den Funken zu verlieren, bedeutet, dass einem die Lebenskraft abhandenkommt und man immer schwächer wird - bis der Tod wie ein erholsamer Schlaf nach einem harten Tag dem Leben ein Ende setzt. Diesem Ende kann und will man keinen Widerstand leisten. Nach Ansicht meiner kompetenten Kollegen ist diese geheimnisvolle Krankheit das Unangenehmste, was einem in Echo passieren kann.
»Das Merkwürdige ist, dass alle drei ihre Kräfte sehr langsam verlieren, obwohl einem der Funken normalerweise rasch und ohne Warnzeichen abhandenkommt«, sagte mein Gesprächspartner. »Doch unsere Heiler sind ihrer Diagnose sicher. Andererseits meinen sie, man könne die drei vielleicht noch retten, doch bis jetzt habe ihnen keine Arznei geholfen.«
»Versuchen Sie doch vielleicht, die Häftlinge zu verlegen - je weiter weg von Zelle Fünf, desto besser. Und ihre Zellen sollen so lange leer bleiben, bis ich die Zusammenhänge, die hinter den Geschehnissen stecken, verstehe. Das ist doch wohl machbar, oder?«
»Selbstverständlich«, sagte der Tröster der Leidenden nickend und fragte gleich darauf: »Glauben Sie wirklich, das hilft?«
»Sicher bin ich mir nicht, aber das ist normal, denn ich bin eigentlich nie zu hundert Prozent von etwas überzeugt. Aber tun Sie, worum ich Sie gebeten habe - und tun Sie es jetzt. Vielleicht können wir die Männer ja gemeinsam retten. Ich weiß nicht, warum die drei in Cholomi gelandet sind, aber man darf keinen Menschen durch Qualen vom Kaliber dieser Alpträume manipulieren. Das sagt Ihnen einer, der - was das angeht - schon sattsam zu leiden hatte.«
»Dann glauben Sie also, Alpträume wirksam bekämpfen zu können, Sir Max?«
»Na ja«, sagte ich lächelnd. »Meine eigenen jedenfalls kann ich in den Griff bekommen.«
Nach dem Gespräch mit Sir Dschanirah ging ich zurück in meine Zelle und murmelte dabei: »Was Alpträume angeht, habe ich anscheinend wirklich Glück.«
Und so war es doch auch: Kaum hatte ich mich von den Alpträumen erholt, die mir ein Fetan aus dem Nachbarhaus geschickt hatte, war ich nach Cholomi geraten, wo Gefangene von Alpträumen gequält wurden - zum Beispiel von dem, einen Darmverschluss zu bekommen. Ich dagegen hatte ausgezeichnet geträumt. Vielleicht, weil ich tagsüber geschlafen hatte?
Die schwere Zellentür schloss sich hinter mir und ... verschwand. In Cholomi existiert jede Tür nur für den, der sich im Korridor befindet. Aus der Perspektive der Gefangenen existiert sie nicht. Wunder über Wunder!
Inzwischen brannte ich vor Ungeduld. Würde mir das »durchsichtige Männlein« heute Nacht erscheinen wollen? Und was würde es tun, wenn ich einfach nicht schliefe? Ich war fest überzeugt, ich würde wach bleiben. Schließlich hatte ich mich tagsüber blendend erholt.
Ich wartete einfach, wie die Dinge sich entwickeln würden. Allerdings musste ich lange warten, und die Nacht brachte mir keine einzige Antwort auf meine Fragen, dafür aber jede Menge merkwürdige Erfahrungen und Empfindungen.
Ich empfand weder Angst noch Unruhe, spürte aber die ganze Zeit einen aufmerksamen Blick, der so lastend war, dass er mich geradezu juckte. Der Juckreiz wurde immer stärker, und irgendwann hatte ich den Eindruck, mir sei eine Raupe in den Pyjama gekrochen. Ich wälzte mich im Bett herum, kämmte mich und badete sogar dreimal - alles vergeblich!
In der Morgendämmerung verschwand das Jucken, und ich fiel in Tiefschlaf. Meist kommt mir über Nacht eine vernünftige Idee, doch ihre Verwirklichung kann bis zum Mittagessen dauern. Auf morgen zu verschieben, was man heute besorgen kann, ist seit eh und je mein Hobby. Und Aufgaben, die ich am Vormittag erledigen könnte, bis zum späten Abend vor mir herzuschieben, macht mir auch größten Spaß.
Das Öffnen meiner Zellentür ließ mich erwachen. Ich bekam Frühstück gebracht. Nachdem ich meine Zwiebelsuppe gegessen hatte, begann ich zu grübeln, welches Kapitalverbrechen ich begehen sollte, um die nächsten zwanzig Jahre in den Genuss einer derart vorzüglichen Küche zu kommen. Ich würde den Aufenthalt hier jeder königlichen Auszeichnung vorziehen.
Als ich mit dem Essen fertig war, bat ich, einen Spaziergang unternehmen zu dürfen - ins Büro des Kommandanten natürlich. Es war Zeit, mich mit Juffin zu unterhalten. In der Nacht hatte ich begriffen, dass ich von Zelle Nummer Fünf nur wusste, was sich dort seit dem ersten Todesfall - seit drei Jahren also - zugetragen hatte. Doch was mochte zuvor passiert sein? Wer hatte dort eingesessen? Das wollte ich klären. In Echo muss man bei solchen Sachen auf der Hut sein. Egal was passiert ist - früher oder später erweist sich immer, dass sich am Ort des Geschehens vor ein paar tausend Jahren ein berühmter Magister aufgehalten hat und die gegenwärtigen Unannehmlichkeiten nur eine gesetzmäßige Folge seiner früheren Aktivitäten sind. Ich nahm mir daher vor, nicht überrascht zu sein, falls sich herausstellen sollte, dass auch diesmal ein in Vergessenheit geratener Magister die Hände im Spiel haben sollte.
Sir Juffin kannte die Geschichte dieses netten Plätzchens garantiert bis ins Detail. Doch als er mich nach Cholomi geschickt hatte, war er stumm wie ein Fisch geblieben - und zwar nicht aus Bosheit, sondern um abzuwarten, bis ich nachfragen würde, also aus erzieherischer Absicht. Dafür wünschte ich ihm nun ein Dutzend Vampire an den Hals!
Inzwischen aber musste ich mich zur Ordnung rufen, denn statt pedantisch Informationen zu sammeln, hatte ich sehr viel Zeit und Kraft mit überflüssigen Reflexionen vergeudet. Damit musste jetzt Schluss sein. Also machte ich es mir im Sessel des Gefängniskommandanten bequem und sandte Juffin nach beendeter Selbstkritik per Stummer Rede einen Ruf.
»Klären Sie mich bitte darüber auf, wie das alles begonnen hat«, erklärte ich fordernd. »Was ist hier bis zum 114. Tag des 112. Jahres passiert? Hat in meiner Zelle - wie ich vermute - irgendein mächtiger Magister gesessen?«
»Sehr gut, Max!«, rief Juffin, von meinem Scharfsinn begeistert.
»Ich verstehe nicht, warum Sie mich loben«, sagte ich. »Schließlich stelle ich die eigentlich wichtige Frage jetzt erst. Andererseits ist es für eine so kleine Leuchte wie mich wahrscheinlich wirklich eine Errungenschaft, überhaupt auf diese Frage gekommen zu sein.«
»Viele meiner Bekannten hätten sehr viel länger gebraucht, um darauf zu kommen. Du bist sauer auf mich, noch mehr allerdings auf dich selbst. Dabei bist du wirklich gut!«
»Ich erkenne Sie gar nicht wieder, Juffin! Warum machen Sie mir solche Komplimente? Vermissen Sie mich etwa?«
Der Honig, den er mir ins Ohr geträufelt hatte, begann zu wirken. Wie hätte es auch anders sein sollen? Ich war überglücklich - wie ein Hund, der etwas Leckeres zu fressen bekommen hat. Mich zu loben, ist eine sehr gute Strategie, um mich weichzuklopfen. Ich bin dann nahezu beliebig formbar und zu fast allen Schandtaten bereit.
Wie auch immer: Ich hatte eine ausführliche Antwort auf meine Frage bekommen und war nach einer halben Stunde wieder zu Hause, also in Zelle Nummer Fünf.
Ich saß bequem in meinem Sessel und verdaute die Informationen, die Juffin mir gegeben hatte. Wie vermutet steckte ein Magister hinter der ganzen Sache: Machligl Annoch - Großer Magister des Ordens des Grabhunds und einer der stärksten Reformgegner von Echo - war in der schlimmsten Phase der Traurigen Zeit in Cholomi gefangen gesetzt worden. Laut Juffin hatte damals nicht einmal die gemeinsame Anstrengung von zwölf der größten Zauberer des Ordens des Siebenzackigen Blattes diese bedeutende Persönlichkeit zähmen können. Damals hatten sich sogar Große Magister anderer Orden, die in aller Regel keinerlei Angst verspürten, vor ihm gefürchtet.
Der Große Magister des Ordens des Grabhunds war nicht dumm, aber sehr eigenwillig, was - wie ich immer wieder in den Chroniken gelesen habe - für Magister geradezu typisch ist.
So hatte sich Sir Annoch intensiv mit der Frage des Lebens nach dem Tode beschäftigt. Nicht nur in meinem Herkunftsland, sondern auch hier in Echo gibt es keine Antwort auf die Frage, was nach dem Tod mit uns geschieht. Es gibt viele seltsame, ja abstruse Hypothesen, doch keine vermag skeptische Zeitgenossen zu überzeugen.
Selbstverständlich war das Interesse des Gefangenen in Zelle Nummer Fünf nicht allein theoretisch gewesen. Die hiesigen Magister sind schließlich ernsthafte Leute, die ihre Zeit nicht verschwenden.
Schnell war mir klar geworden, dass Sir Annoch enorme Anstrengungen unternommen hatte, um seine Existenz auch nach dem Tode in dem ihm vertrauten Körper fortzusetzen. Er hatte also auferstehen wollen und garantiert einen Dreh gefunden, wieder ins Reich der Lebenden zurückkehren zu können. Und dann war er gestorben. In Zelle Nummer Fünf.
Die siegreichen Reformer hatten ihn sicher nicht umgebracht. Soweit ich weiß, haben sie ihre Gegner nur ungern getötet, weil der Tod etwas Unumkehrbares ist. Und der Orden des Siebenzackigen Blattes folgte dem Gebot, möglichst wenige unumkehrbare Dinge zu tun, um die Ordnung der Welt nicht zu stören.
Doch wie auch immer - ich hatte bisher zu wenig Zeit gehabt, mich mit den vertrackten Problemen der hiesigen Apokalypse zu beschäftigen. Jedenfalls war der Große Magister Machligl Annoch gestorben. Sein Tod war übrigens kein Selbstmord im üblichen Sinne gewesen, sondern wohl eher Teil der für seine Forschungen notwendigen Untersuchungen.
Die Tatsache, dass die Mauern von Cholomi ein unüberwindbares Hindernis für alle Arten von Magie waren, stimmte mich nicht besonders optimistisch, sondern ließ mich im Gegenteil vermuten, das Weiterleben von Sir Annoch sei auf Zelle Nummer Fünf beschränkt. Dieses Weiterleben aber war für die Häftlinge, die im Laufe der letzten drei Jahre die Zelle mit ihm geteilt hatten, eindeutig ungünstig gewesen. Der Aufenthalt in Annochs alter Zelle kam anscheinend fast einem Todesurteil gleich. Das erschien mir ungerecht, da die Insassen von Zelle Nummer Fünf ihrem »Mitbewohner« schutzloser ausgeliefert waren, als es die in Freiheit lebenden Bürger des Vereinigten Königreichs je sein könnten. Gefangene nämlich können nicht entscheiden, wo sie leben wollen - auch wenn sie spüren, dass ein Ortswechsel (und sei es nur der Umzug in eine andere Zelle) sicher besser für sie wäre. Ich hätte mich nicht in ihrer Lage befinden wollen. Allerdings befand ich mich bereits in ihrer Lage ...
Die Nacht vertrieb ich mir mit der Lektüre des letzten Bandes von Manga Melifaros Enzyklopädie der Welt, den ich glücklicherweise aus der Gefängnisbibliothek hatte ausleihen können. Nichts Übernatürliches geschah - bis auf den Umstand, dass mich der bohrende Blick einmal mehr bis zum Juckreiz quälte. Und zwar noch aufdringlicher als in der Nacht zuvor. Ein paar Mal hörte ich ein Husten, das allerdings mehr einer Halluzination als einem echten Geräusch ähnelte.
Kurz vor dem Morgengrauen beschlich mich eine neue Wahrnehmung: Ich hatte das Gefühl, mein Körper sei hart wie eine Nussschale - so hart, dass ich das Jucken nicht mehr als Berührung empfand, sondern als Zittern der Luft um mich herum. Das war nicht gerade angenehm, doch ich spürte, dass das unsichtbare Wesen, das mich die ganze Nacht beobachtet hatte, noch recht klein war. Seine Unzufriedenheit übertrug sich auf mich. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte mir Vorwürfe gemacht, dass diese Augen keinen noch stärkeren Juckreiz bei mir ausgelöst hatten. Als ob die Tatsache, dass das Jucken mich nicht wild die Wände hochgehen ließ, die Gefühle eines anderen Wesens verletzt hätte.
Die Nacht brachte nichts Neues - vielleicht weil das Wesen misstrauisch war? Oder weil Juffin mir unbemerkt einen magischen Schutzschild verliehen hatte?
Das würde gut zu ihm passen! Aber vielleicht rettete mich auch die Tatsache, dass ich aus einer anderen Welt stamme und gewissermaßen ein Außerirdischer bin.
Plötzlich wurde ich so müde, dass ich beschloss, mich schlafen zu legen. Damit wartete ich allerdings bis zur Dämmerung. Wie wohl Lonely-Lokley seine Zeit verbringen mochte? Dem war garantiert langweilig. Und Hunger hatte er bestimmt auch. Er steckte sicher in der Klemme.
Mir hingegen war ganz und gar nicht langweilig. Und richtig ausschlafen konnte ich mich erst recht nicht. Es war Mittag, als mich der vertraute Juckreiz weckte. Ob das Wesen - worum auch immer es sich dabei handelte - auch tagsüber wirken mochte? Warum eigentlich nicht! Die schrecklichsten Dinge, die während meines Aufenthalts in Echo passiert waren, hatten sich alle bei Tageslicht zugetragen. Vielleicht ist die Überzeugung, Alpträume würden uns nur bei Nacht zustoßen, ein dummer Aberglaube, der noch aus der Zeit stammt, da unsere Vorfahren im Dunkeln nicht arbeiten konnten.
Nachdem ich mich gewaschen und eine Tasse Kamra getrunken hatte, begann ich erneut zu grübeln. Meine Vorgänger waren allesamt nachts gestorben. Ob das Zufall gewesen war? Oder gab es einen einfachen Grund dafür: den nämlich, dass sie zu dieser Zeit - wie jeder normale Mensch - geschlafen hatten? Oder hatte mein persönlicher Makel - die Tatsache also, nicht aus dieser Welt zu stammen - die Ordnung der Dinge gravierend verändert? Ich hatte keinen blassen Schimmer.
Vor allem meine unerschütterliche Ruhe frappierte mich. Ich hatte vor nichts Angst - weder vor dem, was passiert war, noch vor dem, was theoretisch noch alles geschehen konnte. Ich war einfach naiv überzeugt, dass mir nichts Schlimmes passieren würde - weder hier noch irgendwo sonst. Mein Heldenmut berauschte mich so sehr, dass ich beinahe benommen ins Bett gesunken wäre. Noch vor kurzem hatte ich dieses Gefühl nicht gekannt. Möglicherweise steckte hinter meiner Tapferkeit ja Sir Lonely-Lokley, der sich wie eine magische Puppe in meiner Hand aufhielt. Vielleicht gefiel es dem so sehr an mir interessierten Wesen ja, dass ich mutig und zugleich blind für die Gefahr war. Aber vielleicht arbeitete es auch darauf hin, dass ich leichtsinnig wurde.
Wie auch immer - ich konnte nicht mehr einschlafen, trank bis zum Morgengrauen Kamra, las in meiner geliebten Enzyklopädie und wurde mit jeder Seite klüger.
Später wurde mir klar, dass sich die damaligen Geschehnisse wie im Märchen entwickelt hatten. In der ersten und zweiten Nacht war ich nur leicht gereizt worden - der eigentliche Ärger kam erst in der verhängnisvollen dritten Nacht.
Alles begann damit, dass ich bei Einbruch der Dunkelheit ein enormes Schlafbedürfnis verspürte. Das war sehr ungewöhnlich für mich, da ich um diese Tageszeit eigentlich besonders wach bin - und zwar unabhängig davon, wie der Tag gelaufen ist. Aber diesmal musste ich gegen eine gewaltige Müdigkeit ankämpfen - erfolglos.
Ich versuchte, mich wach zu halten, indem ich mir vorstellte, mir würden bei geschlossenen Lidern grässlichste Alpträume bevorstehen. Doch das nützte nichts. Nicht mal der Gedanke an die ungeheure Schande, die mir bei einem Versagen drohte, konnte mich aufmuntern. Selbst die Aussicht auf Sticheleien von Melifaro, auf die gehässige Freude von Juffin und auf das höhnische, zähnefletschende Lächeln von Lady Melamori - mit dem so sicher zu rechnen war wie mit dem Amen in der Kirche - vermochte mich nicht aufzurütteln. Süße Schläfrigkeit umgab mich wie ein weißes Kissen, mit dem mich eine unsichtbare Hand zu ersticken suchte. Es fehlte nicht viel, und ich wäre eingeschlafen.
In dieser schwierigen Lage rettete mich die Flasche Kachar-Balsam, die ich glücklicherweise mitgenommen hatte. Ich musste ziemlich viel davon trinken, doch ich beklage mich nicht: Der Balsam ist nicht nur eins der wirksamsten Stärkungsmittel, sondern schmeckt auch ungemein lecker.
Im Nachhinein erklärte mir Juffin, dieses Trinken habe denjenigen provoziert, der mich - um die Geschehnisse zu beschleunigen - in der Zelle beobachtet habe. Das Wesen habe offenbar entschieden, ich sei kein ernsthafter Gegner mehr, da ich zur Selbstverteidigung den Balsam - also immerhin Magie achten Grades! - benutzt hatte. Meine offensichtliche Hilflosigkeit habe das geheimnisvolle Wesen anscheinend dazu verführt, eine der am wenigsten überlegten Entscheidungen seines seltsamen Lebens zu treffen.
Darüber wollte ich nicht mit Juffin streiten. Auch ich glaubte, das Unheil verkündende, ob seiner einsamen, halbdurchsichtigen Existenz verwirrte Wesen habe nicht mehr länger warten können. Welcher Logik mochte es gefolgt sein? Der tote Magister hatte mir das Leben rauben wollen. Er war zu diesem Versuch gezwungen, je eher, desto besser. Bestimmt war mein Funken - oder wie man es nennen will - genau das Quantum an Lebensenergie, das ihm zur Auferstehung fehlte. Er hatte ja schon seit sehr langer Zeit auf dieses Ziel hingearbeitet und die Kraft all derer, die in Zelle Nummer Fünf eingesessen hatten, Tropfen für Tropfen aufgesogen. Eines Tages jedoch - im 112. Jahr, um genau zu sein - hatte Sir Machligl Annoch sich dann als so stark erwiesen, dass er sich nicht länger von der ausdünstenden Lebensenergie der in seiner ehemaligen Zelle gefangen gesetzten Häftlinge mühsam und wie von Brosamen hatte ernähren müssen, sondern sich aktiv des fremden Lebens bemächtigen und die Zelleninsassen töten konnte, um ihre konzentrierten Vitalkräfte aufzunehmen. Er brauchte fremdes Leben, um selbst wieder lebendig zu werden.
Der Funke meines direkten Vorgängers in Zelle Nummer Fünf hatte die schattenhafte Existenz des alten Magisters so mächtig werden lassen, dass er sogar in die Träume der Insassen der Nachbarzellen hatte eindringen können. So unpassierbar die Gefängniswände auch für alle Formen von Magie unter Lebenden waren, so wenig galt dieses Hindernis für ihn, da er als tot zu gelten hatte. Er wollte nur eins: Er wollte genug fremde Lebensenergie sammeln, um demnächst aufzuerstehen. Und er war auf dem besten Wege dazu. Ihm fehlte nur noch der letzte Schluck jenes Getränks, das man in Echo Funke nennt. Und dieser letzte Schluck saß nun schon die dritte Nacht vor ihm und wollte nicht einschlafen.
Natürlich musste der alte Geist daraufhin va banque spielen. An seiner Stelle hätte ich es auch getan.
Egal wie Sir Juffin Halli sich später dazu geäußert haben mag: Mein Gegner war der erfolgreichen Umsetzung seines Plans ausgesprochen nah gewesen. Viel näher, als ich bei meinem Duell mit ihm gedacht hatte.
Als in der hintersten Ecke meines Gefängnisschlafzimmers die undeutliche Gestalt des Unbekannten erschien, erstarrte ich vor Schreck. Natürlich befanden sich in meinen Unterlagen Informationen, die es mir ermöglicht hätten, mich auf ein solches Treffen vorzubereiten. Tatsächlich aber hatte ich nichts dergleichen getan.
Kurz gesagt: Ich war nicht nur erschrocken, sondern auch völlig überfordert. Eigentlich sah der Unbekannte eher lustig als schreckenerregend aus. Mochte er auch zu Lebzeiten ein Großer Magister gewesen sein - seine gegenwärtige Gestalt war sehr klein ausgefallen. Er war unproportional gebaut, denn er hatte zwar einen mächtigen Kopf und einen muskulösen Oberkörper, zugleich aber sehr kurze Beine und kleine, kindlich anmutende Füße. Er gab wirklich eine komische Figur ab. Sein faltiges, sonnengebräuntes Gesicht aber hatte einen ganz anderen Ausdruck. Er hatte große blaue Augen, eine hohe Stirn und eine enorm lange Nase mit den dünnen, scharf konturierten Nasenflügeln eines Raubtiers. Sein langes Haupthaar und sein nicht minder imposanter Bart waren zu vielen dünnen Zöpfen geflochten - bestimmt nach einer uralten Mode. Es ist eben schwer, mit der Zeit zu gehen, wenn man im Gefängnis sitzt, dachte ich mir. Zumal wenn man obendrein ein Gespenst ist. Dass mir solche Gedanken kamen, bewies mir, dass die Lage gar nicht so schlimm war.
Aber kaum hatte ich meine Angst besiegt, merkte ich, dass mir etwas Schlimmes widerfuhr. Eine Erstarrung überkam mich, und ich konnte mich nicht rühren. Reglos sah ich den Ankömmling an und konnte von Glück sagen, dass mir nicht die Beine einknickten. »Na los! Beweg dich!«, rief mir ein kleiner kluger Junge zu, der in meinem Innern wohnte, im Wechselspiel meiner Charakterzüge aber leider keinen großen Einfluss gewonnen hatte. »Die Zeit läuft! Das ist kein Spiel! Beweg dich!«
Doch sein Appell verhallte wirkungslos.
Mir war klar, dass ich nun Sir Lonely-Lokley hätte befreien sollen, doch ich konnte nicht mal die einfache Handbewegung ausführen, die notwendig gewesen wäre, um meinem nächtlichen Besucher die tödliche Puppe Schürf zu zeigen. Aber das war nicht mehr wichtig. Ich begriff, dass ich in der Klemme saß.
»Dein Name ist Persjet. Du bist ein Häppchen Leben, und ich habe dich lange gesucht«, flüsterte das Gespenst. »Ich bin einen weiten Weg gekommen. Auf der einen Seite lag das Gefängnis, auf der anderen der Friedhof. Und der Wind heulte. So bin ich zu dir gekommen.«
Olala, du bist zu mir gekommen? Schau an! Hättest du das nicht schweigend tun können, du verkannter symbolistischer Poet? Mich jemandem zu unterwerfen, der schon beim ersten Treffen zu pompösen Redewendungen griff, hielt ich für keine gute Idee und beschloss darum, nicht aufzugeben. Unter uns gesagt: Mit achtzehn hatte ich bessere Monologe verfasst. Ich wusste zwar nicht, wie ich das Gespenst besiegen sollte, doch eins war mir klar: Ich würde es besiegen!
Dann widerfuhren mir merkwürdige Dinge. Ich spürte, dass ich erneut härter wurde, und hatte den Eindruck, mich in einen kleinen grünen Apfel zu verwandeln, einen von denen, in die nur siebenjährige Jungen beißen können, die - wie man ja weiß - in alles beißen, was ihnen in die Finger gerät.
Dann kam mir ein verrückter Gedanke: Ein erwachsenes Gespenst wie mein Gegenüber konnte doch auf keinen Fall in den kleinen sauren Apfel beißen, der ich war. Diese Wahnvorstellung erschien mir ungemein plausibel und gab mir meine Kraft zurück. Ehrenwort: Ich vergaß tatsächlich meine menschliche Natur und alle damit verbundenen Probleme. Wir grünen Äpfel führen ein unfassbar sorgloses Leben!
Mein Besucher verzerrte deutlich genug die Miene. Er hatte die Züge von jemandem, der seit langem mit einem Mund voll Essig und unreifer Datteln herumspazieren muss. Nun geriet er sichtlich in Verlegenheit, und der kleine grüne Apfel wurde wieder ein Mensch - einer, der seine Handlungsfähigkeit zurückgewonnen hat. Und dieser Mensch machte mit der linken Hand eine kleine, aber notwendige Bewegung. Das reichte: Mitten in der Zelle stand Sir Lonely-Lokley.
»Du hast Doperst mitgebracht!«, empörte sich Machligl Annoch, als hätten wir vor unserer Begegnung Regeln ausgehandelt, gegen die ich nun verstoßen würde.
»Du bist kein Persjet«, fügte das Gespenst aufgebracht hinzu. Offenbar hoffte es, ich würde mich schämen und Schürf wieder in meine Hand verbannen. Ich glaube, Sir Annoch war in den letzten fahren etwas wirr im Kopf geworden, weil er vor allem mit schwachen, erschrockenen Häftlingen zu tun gehabt hatte.
»Du bist auch kein Persjet!«, antwortete ich bissig.
Die Verlegenheit des Gespensts kam Schürf und mir sehr zupass, denn Sir Lonely-Lokley brauchte etwas Zeit, die schützenden, mit Runen übersäten Handschuhe auszuziehen. Solange wir uns mit dem toten Magister gezankt hatten, hatte Schürf notwendige Vorbereitungen treffen können. Als seine tödlichen Hände nun die Wände der Zelle mit ihrem Glanz beleuchteten, erschien mir das Leben wieder als leichte, angenehme Übung. Wie ein nettes Märchen, an dessen Ende sich die guten Nachrichten häufen, auf dass jeder Beteiligte sich die Neuigkeiten aussuchen kann, die ihm am besten passen.
Damals wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass meine Überlebenschancen so gut wie null waren.
Schuld daran war natürlich ich selbst. Weil ich bis dahin noch nie mit einem in Rente lebenden Großen Magister zu tun gehabt hatte, entschied ich leichtsinnig, uns bliebe noch genügend Zeit, ihn zu töten. Mein Leichtsinn verführte mich sogar dazu, das seltsame Gespenst ins Haus an der Brücke bringen und dort mit großer Geste meinen Kollegen präsentieren zu wollen. Wie das aber hätte geschehen sollen, wusste ich selber nicht. Meine Kenntnisse in diesem Bereich jedenfalls waren sehr bescheiden: Die Grundlagen der Metaphysik hatte man weder am Gymnasium - das ich nur mit Ach und Krach abgeschlossen hatte - unterrichtet noch an der Universität, von der ich in hohem Bogen geflogen war.
Meinen leichtsinnigen Geistesblitz hatte ich dem Kollegen Schürf allerdings nicht mitgeteilt. Und weil niemand im ganzen Kosmos disziplinierter sein dürfte als er und weil ich die Operation leitete, waren meine Befehle seiner Ansicht nach ohne Nachdenken zu befolgen. Auch die unsinnigsten Befehle!
Die rechte Hand, mit der Lonely-Lokley sein Gegenüber normalerweise erstarren lassen konnte, erwies sich als wirkungslos. Schlimmer noch: Das Gespenst begann plötzlich zu wachsen und wurde dabei immer durchsichtiger - und zwar so schnell, dass der transparente Kopf der Erscheinung schon nach wenigen Sekunden direkt unter der Decke hing.
»Der dumme Doperst!«, rief Machligl Annoch. »Er kann nicht töten! Verschwinde, Doperst!«
Das Gespenst schenkte Sir Lonely-Lokley keine Beachtung mehr, sondern langte nach mir und schaffte es, mich zu berühren. Das fühlte sich an wie ein kalter, feuchter Wackelpudding, ließ mir die Galle hochsteigen und bereitete mir am ganzen Körper Schmerzen. Bis heute begreife ich nicht, wie ich diese Berührung habe überleben können. Nicht einmal das Bewusstsein habe ich verloren, sondern stattdessen laut gerufen: »Mach ihn nass! Mach ihn nass!«
Sündige Magister! Wo hatte ich damals nur meinen Verstand gelassen?
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Sir Lonely-Lokley seine wunderbaren Hände aneinanderlegte und die Zeigefinger kreuzte. Dieser vielversprechenden Geste folgten allerdings keine Taten. Eine weitere qualvolle Sekunde verging. Ich verstand überhaupt nichts mehr.
Warum brachte Schürf ihn nicht um? Der menschenähnliche Wackelpudding umzingelte mich gefährlich.
Dann passierte das Unglaubliche, das dieser Nacht das gewisse Etwas verlieh. Die aneinandergelegten Hände von Sir Lonely-Lokley zogen in der Dunkelheit eine seltsame Linie, und dann prasselte ein Wasserfall auf uns nieder. Der tonnenschwere Schwall drückte die transparente Gestalt zu Boden. Erst begriff ich nicht, was da passierte, hob mein Gesicht aber vergnügt dem erfrischenden Guss entgegen. Diese Dusche war dringend notwendig gewesen.
Doch unser Gegner erwies sich als enorm zäh. Natürlich hatte das Wasser ihm nicht schaden können, sondern diente nur seiner nächsten Verwandlung. Nach der Dusche schrumpfte das Gespenst wieder. Gerade war es noch groß und durchsichtig gewesen; nun war es wieder klein, kompakt und blickdicht.
Ich weiß katastrophal wenig über Astronomie und habe darum keine Ahnung, wie man Himmelskörper mit hohem spezifischem Gewicht nennt. Nur dass es sich dabei um Zwerge handelt, bringe ich zusammen - aber sind es Weiße oder Schwarze Zwerge? Keine Ahnung! Unser Zwerg jedenfalls war weiß: eine winzig kleine menschliche Gestalt, die von innen durchsichtig leuchtete wie die Hände von Lonely-Lokley, die sich ihm nun näherten.
»Sie haben sich geirrt, Sir Max«, bemerkte mein Partner hastig. »Wasser schadet ihm nicht.«
»Ich soll mich geirrt haben?! Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, dass wir Wasser brauchen?«
»Sie haben doch selbst befohlen, ihn nass zu machen!«
»Sündige Magister! Schürf - nass machen heißt töten! Und je schneller, desto besser!«
Ich verkniff mir weitere Bemerkungen. Mir war nicht nach Gesprächen. Das kleine, glänzende Wesen stand direkt vor mir in der Luft und murmelte mir etwas zu. Ich überlegte seltsam unbeteiligt, ob es mich verfluchte. Zum Widerstand hatte ich einfach keine Kraft mehr.
Strahlendes Sonnenlicht blendete mich. Ich stand unter einem Baum mit mächtiger Krone, und ein unordentlich angezogenes Mädchen, das so kurze Beine hatte wie Sir Annoch, reichte mir eine Aprikose. »Hier - nehmen Sie eine Erfrischung!- Ich weiß nicht, warum ich das Obst annahm und hineinbiss. Es war verdorben. Eine winzige weiße Made sprang mir in den Mund und verbiss sich in meinem Rachen. Ich spürte ihre scharfen Zähne in der Schleimhaut. Das Gift verbreitete sich in meinem Körper und erfüllte mich mit einer widerlichen Schwäche. Eigentlich hätte ich vor Schmerz und Ekel sterben müssen, doch mich erfüllte nur blinder Hass, und ich schrie so laut, dass ein Sturm aufkam und der Baum seine Blätter verlor. Das hellblonde Mädchen kroch mit vor Angst verzerrtem Gesicht übers Gras und zischelte dabei wie eine Viper. Schließlich spuckte ich die giftige Made vor die Füße von Lonely-Lokley, obwohl der sich gar nicht im Obstgarten befand. Dann verlosch das strahlend helle Sonnenlicht.
Was mich an unserem Schnitter des Lebensfadens so begeistert, ist seine unfassbare Unerschütterlichkeit. Als ich noch durch meinen Alptraum irrte, hatte Schürf seine Aufgabe schon erledigt und seine tödliche Linke, mit der sowieso alles hätte beginnen müssen und die ihm eigentlich nie Probleme bereitete, doch noch in Aktion versetzt. Egal ob er sie gegen einen Menschen, ein Gespenst oder was auch sonst erhob: Der Tod kam rasch und war nicht rückgängig zu machen.
Danach zog dieser tolle Hecht die Schutzhandschuhe an und flößte mir, geschickt wie eine Krankenschwester, die Reste meines Kachar-Balsams ein.
»Das ist in solchen Fällen sehr wirksam, Sir Max. Also trinken Sie. Tut mir leid, aber ich hatte Ihren Befehl missverstanden. Bei uns in Echo hat Nassmachen keine doppelte Bedeutung. Deshalb hatte ich gedacht, Sie wollten eine neue Tötungsart erproben. Der kleine Wolkenbruch hat mich viel Mühe gekostet - auch wenn ich natürlich, was Zaubertricks anlangt, bei Sir Juffin eine Spezialausbildung gemacht habe. Aber Sie wissen ja, wie schwer das Zaubern gerade hier in Cholomi ist.«
Der Kachar-Balsam brachte mich nicht nur wieder zur Besinnung, sondern hob auch meine Laune spürbar - ein deutliches Zeichen der Besserung.
»Mit Wasser töten? Sündige Magister! Geht das denn überhaupt? Und warum eigentlich mit Wasser? Man hätte das Gespenst doch nur anpinkeln müssen! Schon das wäre tödlich gewesen - da bin ich mir sicher! Loki, haben Sie mal versucht, einen Geist anzupinkeln?«
»Sir Max!«, entgegnete mein Retter vorwurfsvoll. »Ich heiße nicht Loki, sondern Lonely-Lokley! Bisher haben Sie es doch immer geschafft, meinen Namen fehlerfrei auszusprechen. Ich hoffe sehr, dass Ihnen diese Fähigkeit nicht dauerhaft abhandengekommen ist.«
Der Arme hielt mich gewiss für einen ebenso hoffnungslosen Fall wie Melifaro. Um die Situation zu retten, griff ich zu einer Notlüge: »Das war eigentlich kein Fehler, Sir Schürf. Ich habe nur einen Gott erwähnt, dessen Name dem Ihren sehr ähnlich ist. Seien Sie also bitte nicht sauer, mein Freund.«
»Von einem Gott namens Loki hab ich noch nie gehört«, gab Lonely-Lokley erstaunt zurück. »Verehren Ihre Landsleute den etwa?«
»Manche schon«, antwortete ich und verzog dabei keine Miene. »Bei uns in den Leeren Ländern herrscht, wie Sie ja wissen, Vielgötterei. Jeder glaubt, an wen es ihm passt. Und weil jeder Zweite ein Nomade ist, ist er auch sein eigener Opferpriester. Viele glauben - so wie ich - an gar nichts, interessieren sich dafür aber ein wenig für alles.«
»Ist das etwa Geheimwissen?«, fragte Sir Schürf hoffnungsvoll. »Können Sie mir mehr darüber erzählen?«
»Natürlich«, sagte ich entschlossen. »Wie Sie wünschen.«
Die nächsten anderthalb Stunden verbrachte ich damit, Sir Lonely-Lokley über dem kalt gewordenen Rest unserer Kamra die nordische Mythologie zu erklären, die ich ihm als Sagen aus den Leeren Ländern unterjubelte.
Eins musste man Sir Schürf lassen: Die nordische Sagenund Mythenwelt gefiel ihm sehr! Besondere Vorliebe entwickelte er für Göttervater Odin, der nicht nur Schutzherr der Walhalla ist, in deren Mauern die auf dem Schlachtfeld gefallenen Krieger zechen, sondern den Menschen auch den Dichtermet geschenkt hat.
Und der Schnitter des Lebensfadens schätzte die Poesie so sehr, dass er vor Ehrfurcht schier zu beben begann.
Nicht nur die unerwartete Übereinstimmung unserer literarischen Vorlieben, sondern auch meine große Portion Kachar-Balsam hatte mich so entflammt, dass ich meinem Kollegen auf die Schulter klopfte, ohne zu bedenken, dass diese Geste im Vereinigten Königreich engsten Freunden Vorbehalten ist. Glücklicherweise erhob Sir Schürf keine Einwände gegen den offiziellen Beginn unserer Freundschaft. Im Gegenteil: Er schien sehr zufrieden damit.
Erst später begriff ich, wie viele Verpflichtungen die Ehre mit sich brachte, ein enger Freund von Sir Lonely- Lokley zu sein. In Echo gibt es unterschiedlichste Freundschaftsrituale. Deshalb beschloss ich, Sir Juffin untertänigst zu bitten, mich darüber aufzuklären, wie man hier Freundschaften pflegt, und nahm mir außerdem vor, in einem eigens dafür angelegten Heft die Bedeutung jeder Geste und jedes Gesichtsausdrucks zu protokollieren. Hauptsache, ich würde in der nächsten halben Stunde niemanden beleidigen. Aber bei mir musste man immer mit allem rechnen.
Dann beendeten wir unser literarisches Gespräch, riefen einen Wächter und verließen die Zelle. Wir gingen zum Kommandanten, wo wir ein ausgezeichnetes Frühstück und eine Menge frische, heiße Kamra bekamen. Das war einfach fantastisch. Ich kam endlich wieder richtig zur Besinnung und wollte meine wachsende Neugier stillen.
»Verraten Sie mir doch, Sir Schürf, wie Sie sich gefühlt haben, als Sie winzig klein waren. Ich meine natürlich nicht in Ihrer Kindheit, sondern während der langen Zeit, die Sie zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Linken verbracht haben.«
»Welche lange Zeit denn?«, fragte Lonely-Lokley und zuckte die Achseln. »In den drei Stunden bin ich etwas hungrig geworden.«
»In welchen drei Stunden denn?«
»Wollen Sie sagen, mein Zeitgefühl hat mich getrogen?«
»Wir haben drei Tage und drei Nächte in der Zelle verbracht!«, rief ich.
»Ein interessanter Effekt«, stellte Lonely-Lokley fest. »Und gut für mich. Drei Tage sind nämlich eine lange Zeit für jemanden, der vergessen hat, sich belegte Brötchen mitzunehmen. Da kann ich von Glück sagen, dass sich mein Zeitgefühl so stark verändert hat.«
Ich hatte natürlich noch viele Fragen zu seinem Aufenthalt in meiner Hand, doch Sir Schürf meinte nur trocken, Erfahrungen solcher Art solle man besser persönlich machen, statt fremden Beschreibungen zu trauen. Dann bot er mir großzügig an, mich meinerseits in seiner Faust einzuschließen. Ich allerdings kam zu dem Schluss, vorerst genug Eindrücke gesammelt zu haben, und wechselte das Thema.
Nach dem Frühstück nahmen wir Abschied vom gastfreundlichen Sir Marunarch. Es ging mir sehr gut, doch ich fühlte mich unter dem Einfluss der großen Portion Kachar-Balsam eigenartig schwerelos und hatte Lust, meine Manteltaschen mit Steinen zu befüllen, um nicht davonzuschweben.
»Sie sollten sich besser nicht ans Steuer setzen«, bemerkte Lonely-Lokley beim Einsteigen ins A-Mobil. »Sie sind zwar der beste Fahrer, den ich kenne, aber als es Kachar-Balsam noch an jeder Ecke zu kaufen gab, war es streng verboten, sich in Ihrem Zustand ans Lenkrad zu setzen.«
Dieser Argumentation konnte ich mich nicht verschließen.
»Ihr Bewohner der Grenzländer seid merkwürdige Wesen!«, meinte Sir Schürf, als er auf die hölzerne Fähre fuhr, die zwischen Cholomi und der Altstadt von Echo verkehrte. »Zugegeben - ich weiß noch nicht, worin sich die Unterschiede zu uns gebürtigen Hauptstädtern am deutlichsten zeigen, aber Sie, Sir Max, unterscheiden sich ohnehin von anderen Fremden. Doch leider bin ich ein schlechter Theoretiker«, schloss Lonely- Lokley und vertiefte sich in sein Arbeitsheft. Vermutlich wollte er seine Eindrücke zu Papier bringen, solange sie noch frisch waren.
»Worauf wollen Sie hinaus, Schürf?«, fragte ich vorsichtig.
»Nehmen Sie mir das bitte nicht krumm, Sir Max! Es herrscht nur allgemein die Ansicht, Kachar-Balsam habe - wie alle anregenden Getränke - eine deprimierende Wirkung auf die Psyche sogenannter Barbaren. Verzeihen Sie mir dieses grobe Wort. Manche Heiler behaupten sogar, Kachar-Balsam sei für das seelische Gleichgewicht Ihrer Landsleute gefährlich, und meinen, solche Getränke dürften nur gebürtige Uguländer zu sich nehmen. In Ihrem Fall sieht das Ganze anders aus: Ihre Psyche wird vom Kachar-Balsam kaum verändert - anders als das Bewusstsein manches Vertreters der sogenannten zivilisierten Völker. Nur das habe ich gemeint. Und ich bitte nochmals um Verzeihung, wenn ich taktlos gewesen sein sollte.«
»Haben Sie schon vergessen, Schürf? Sie sind jetzt mein Freund und können mir an den Kopf werfen, was Sie wollen.«
Ehrlich gesagt: Ich atmete vor Erleichterung auf. Als Lonely-Lokley über meine seltsamen Eigenschaften gesprochen hatte, befürchtete ich schon, er habe meine angebliche Herkunft als Lüge durchschaut und Juffins Bemühungen seien umsonst gewesen. Aber nein, ihm war es nur seltsam vorgekommen, dass ich nach ein paar Schluck Kachar-Balsam nicht nackt auf dem Tisch getanzt hatte. Na ja, nächstes Mal musste ich seinen Erwartungen wohl besser entsprechen.
Sir Juffin war sehr zufrieden, als er uns gesund, wohlbehalten und siegreich zurückgekehrt sah.
»Ich glaube kaum, dass für Magister Annoch das Problem des Lebens nach dem Tode noch aktuell ist«, rief ich schon von der Türschwelle her. »Hätten wir ihn erst nach seiner Auferstehung umgebracht, wäre vielleicht alles Mögliche passiert. Aber wir haben ihn erledigt, als er gerade noch der Schattenwelt angehörte. Sündige Magister! Was schleppe ich denn da mit mir herum? Warum hat mich niemand gebremst?«, wunderte ich mich und betastete die Steine in meinem Mantel.
»Auf jeden Fall bin ich sicher, dass Annoch seine Forschungen endgültig abgeschlossen hat«, sagte Juffin begütigend zu mir.
»Das glaube ich auch. Dieser Magister hat mir absolut nicht gefallen. Natürlich hätte ich ihn Ihnen gern lebend geliefert - wenn von lebend überhaupt die Rede hätte sein können. Aber das hat leider nicht geklappt.«
»Mach dir darüber keine Gedanken, Junge! Das hätte nie und nimmer hingehauen.«
»Das hab ich von Anfang an gewusst«, warf Lonely- Lokley ein. »Aber Befehl ist Befehl.«
»Ich war dumm, doch ich werde mich bessern«, meinte ich entschuldigend, warf mich in einen Sessel und merkte rasch, dass ich kurz davor war, einzuschlafen. Mit halb geschlossenen Augen murmelte ich: »Vergessen Sie nicht, von Ihrer Nummer mit dem Wasser zu erzählen - das war vielleicht was ...«
Weil ich noch immer unter dem anregenden Einfluss des Kachar-Balsams stand, schlief ich höchstens eine Stunde. Als ich aufwachte, fühlte ich mich leicht wie eine Feder und obendrein erstaunlich munter. Meine Kollegen tranken Kamra, die sie im Fressfass bestellt hatten, und unterhielten sich leise.
»Ah, er ist wieder wach«, rief Juffin fröhlich, nickte zu mir rüber und sah mich dabei verdächtig enthusiastisch an, als ob ich ein Festtagspudding wäre, der genau die richtige Konsistenz hatte, um gierig den Löffel darin zu versenken. Juffin hätte sich beinahe die Lippen geleckt.
Aufgegessen hat er mich dann aber doch nicht. Stattdessen führte er eine medizinische Untersuchung durch, die allerdings keine Ähnlichkeit mit einer ärztlichen Prozedur hatte.
Ich bekam die Anweisung, mich an die Wand zu stellen. Einige Zeit musterte Juffin mich mit seinen leuchtenden Augen. Das war nicht besonders angenehm und hatte mich am Anfang unserer Bekanntschaft stets verlegen gemacht. Nun befahl er mir, mich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen, was mich natürlich riesig begeisterte. Nachdem mein Chef einige Zeit meinen Hintern und dessen Umgebung untersucht hatte, klopfte er mir - weil er noch nicht zufrieden war - den Rücken ab. Diese Massage gefiel mir besser als das Blickduell, das ihr vorausgegangen war. Dann legte er mir die schwieligen Hände - die warme Rechte wie die eiskalte Linke - in den Nacken, und ich spürte plötzlich Unheil. Beinahe wäre ich gestorben, und nichts wäre von mir übrig geblieben. Dann schrie ich - nicht vor Schmerz, sondern um mir und der ganzen Welt zu zeigen, dass ich noch lebte. Es mag sich seltsam anhören, ist aber wahr: Wer schreit, versichert sich seiner Existenz.
»Entspann dich, Max«, sagte Juffin und führte mich fürsorglich zum Sessel. »Das war unangenehm, ich weiß, aber du hast es hinter dir.«
Mein körperliches Wohlbefinden kehrte rasch zurück, nicht aber mein seelisches Gleichgewicht.
»Was war das?«
»Nichts Besonderes. Nur ein ganz normaler Dialog zwischen dem Körper eines Heilers und dem eines Patienten. Das gefällt nicht jedem. Dir zum Beispiel hat es nicht gefallen, doch du brauchst einfach ein wenig Zeit, um dich daran zu gewöhnen. Bist du bereit, Neuigkeiten zu erfahren?«
»Kommt drauf an, welche«, antwortete ich vorsichtig. »Gute Nachrichten oder schlechte? Oder Neuigkeiten, die nicht so leicht einzuschätzen sind?«
»Schwer einschätzbare Nachrichten. Alles hängt von deinem Humor ab«, sagte Juffin und lächelte vieldeutig.
»Mit meinem Humor hatte ich eigentlich noch nie Probleme.«
»Das werden wir ja jetzt sehen. Weißt du, Max, deine Körperbeschaffenheit hat sich ein wenig geändert.«
»Inwiefern? Bin ich jetzt eine Frau? Muss ich jetzt anderswo auf die Toilette gehen, oder was meinen Sie damit? «
»Jein. Was deinen Unterleib anlangt, ist alles in Ordnung«, kicherte Juffin. »Hinsichtlich der Toilette und anderer Freuden des Lebens kannst du beruhigt sein.«
»Schon gut!«
»Es ist nichts Schlimmes passiert, aber es ist besser, wenn man gewisse Dinge über sich weiß ... Wie soll ich es sagen ... Du bist ... na ja ... du bist giftig geworden.«
»Giftig? Ich?«, fragte ich ungläubig, da Juffins Feststellung mich zutiefst erschreckt hatte. »Sie meinen also, wenn mich jemand aufäße, würde er sterben? Das sollten Sie dringend allen Kannibalen unserer Stadt zur Kenntnis bringen, damit es nicht zu tragischen Todesfällen kommt«, sagte ich und kicherte so aufgekratzt, als wäre es das letzte Kichern meines Lebens.
»Nein, nein - essbar bist du schon. Und berühren darf man dich auch. Und wer Lust hat, kann auch dein Besteck und deine Handtücher benutzen«, antwortete Juffin lächelnd. »Es gibt nur ein Problem: Wenn du wütend oder erschrocken bist, wird deine Spucke giftig. Und dieses Gift ist - unter uns gesagt - schrecklich. Es tötet blitzschnell, wenn es in Kontakt mit menschlicher Haut gerät. Mit diesem Gift spuckst du deine Gegner garantiert an. Ich kann dir versichern, dass dir dagegen nicht mal deine gute Erziehung helfen kann. Auch deine Willenskraft vermag nichts daran zu ändern, denn das ist keine Frage der freien Entscheidung. Du wirst spucken - auch wenn du es nicht möchtest. Du kannst nur eines tun, wenn du deine Gegner nicht gleich umbringen willst: Du kannst danebenspucken. Also arbeite an deinem Charakter, mein Junge: Du darfst dich nicht gleich über jede Kleinigkeit ärgern, denn sonst spuckst du halb Echo tot.«
»Das ist alles nicht so schlimm«, bemerkte ich etwas unschlüssig. »Ich werde nicht so schnell wütend. Wenn General Bubuta so etwas passiert wäre, dann wäre jetzt die ganze Menschheit in Gefahr. Aber vielleicht sollte ich als Hilfskiller für Sir Schürf arbeiten.«
»Ein zusätzlicher Meuchelmörder kann nicht schaden«, bemerkte Lonely-Lokley, der bisher friedlich und gleichgültig geblieben war, ernst. »Sie wissen, Sir Max, dass ich gegenwärtig sehr viel zu tun habe!«
»Und keine Sorge: Wenn Sie irgendwann Ihre Handschuhe vergessen, brauche ich mich nur ein wenig zu ärgern, und meine Spucke wird giftig«, fügte ich großzügig hinzu.
»Sir Max, wie könnte ich denn meine Handschuhe vergessen? Wie kommen Sie bloß auf diese Idee?«, staunte Lonely-Lokley.
Ich begriff, dass ich etwas Dummes gesagt hatte. Manche Dinge passieren einfach nicht: Die Sonne kann nicht rückwärtslaufen, Sand kann keinen Durst löschen, und Sir Schürf kann seine tödlichen Handschuhe nicht vergessen, wenn er im Einsatz ist. So hat alles seine Ordnung.
»Und was wird jetzt aus meinem Leben, Juffin?«, seufzte ich. »Kein Mädchen wird ein Ungeheuer wie mich küssen wollen. Lässt sich diese Entwicklung vielleicht verheimlichen?«
»Du musst den Mädchen klarmachen, dass es absolut ungefährlich ist, dich zu küssen. Vorausgesetzt, du bist nicht sauer«, meinte Juffin achselzuckend. »Und was die Geheimhaltung angeht - ich will wegen dieser Sache zwar keine Pressekonferenz geben, aber du weiß ja ...«
»... dass es in Echo viele preiswerte Hellseher gibt«, vollendete ich Juffins Satz.
»Eben!«
»Wie konnte mir das überhaupt passieren?«
»Das ist dein Schicksal, Junge. Wenn du mit Magie höheren Grades in Berührung kommst, wirkt sie auf dich etwas anders als - sagen wir - auf normale Leute«, meinte Juffin und äugte vielsagend zu Lonely-Lokley rüber.
Schürf war verschwiegen wie ein Fels im Safe einer Schweizer Bank, doch ihm gegenüber zu erwähnen, dass ich aus einer anderen Welt stammte, wäre nicht nötig gewesen. Immerhin war mir nun klar, welches Schicksal mir bevorstand.
»Manchmal ist es besser, nicht im Voraus zu wissen, was wie auf einen wirken wird«, ergänzte Juffin. »Kannst du dich noch erinnern, was damals im Haus meines Nachbarn passiert ist?«
»Ich hatte eine Zeit lang blutsaugerische Gelüste«, erwiderte ich traurig. »Nach ein paar Stunden war aber wieder alles im Lot.«
»Richtig. Damals war die Wirkungsdauer meines Zauberspruchs nur kurz bemessen. Das Gespenst in der Gefängniszelle hingegen hat dich töten wollen und dich mit seiner Formel für alle Zeit gezeichnet.«
»Sehr tröstlich - vielen Dank!«
»Finde dich damit ab, Max. Und glaub nicht, dass dieses Ereignis eines der letzten in deinem Leben gewesen ist. Alles wird sich zum Besseren wenden. Im Haus von Sir Makluk-Olli bist du klüger geworden. Und jetzt hat sich herausgestellt, dass du auch ganz gut kämpfen kannst. Wer weiß, was als Nächstes kommt!«
»Genau!«
Einige Sekunden versuchte ich intensiv, mich zu bedauern, gab dann aber klein bei und kicherte erneut. »Vielleicht sollte man mich zum Arzt bringen? Dem könnt ich dann sagen: -Herr Doktor, meine Spucke ist giftig. Was soll ich tun?«, und er könnte antworten: »Kein Problem. Sie müssen strenge Diät halten und jeden Tag vor dem Schlafengehen einen Spaziergang machen und eine Aspirin schlucken. In fünfhundert Jahren ist dann alles wie weggeblasen.««
»Aspirin? Was ist das?«, fragte Sir Schürf interessiert.
»Oh, ein echtes Zaubermittel. Es wird aus Pferdemist gewonnen und hilft wirklich gegen alles!«
»Na so was! Dabei schreiben die Wissenschaftler doch, die Medizin in den Grenzgebieten sei noch sehr unterentwickelt. Tja, die Wahrheit fällt oft Vorurteilen zum Opfer
Sir Juffin Halli fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. »Stopp, meine Herrschaften. Ich kann nicht lachen, weil ich mir das Jochbein verrenkt habe. Aber ich habe noch einen letzten Ratschlag für dich, Max. Du hattest wirklich großes Glück und hast viele harmlose und unnütze Gewohnheiten. Höchste Zeit, dass du dir ein paar gefährliche Gewohnheiten anschaffst! Deine neue Errungenschaft kann für deine Arbeit sehr nützlich sein. Und wenn sich irgendeine hysterische Frau weigert, dich zu küssen, brauchst du sie nur anzuspucken, und die Sache ist erledigt. Alles klar?«
»Alles klar.«
»Na prima.« Mit diesen Worten öffnete Juffin die Haustür, nahm ein großes Paket in Empfang und warf es mir zu. »Probier das hier mal an.«
Ich machte das Paket auf, entnahm ihm einen schwarzen, mit Gold bestickten Lochimantel, eine schwarze Skaba, einen Turban und ein Paar außergewöhnliche Stiefel. Besonders die Stiefel gefielen mir sehr: Die Spitze erinnerte an ein Drachengesicht mit großen Zähnen, und der Schaft war mit goldenen Glocken übersät. In meinem Heimatland hätte ich so etwas nie tragen können, aber hier war es anders.
»Ist das ein Geschenk, Juffin?«
»So was in der Art. Probier sie erstmal an.«
»Danke«, sagte ich und schlüpfte in die Stiefel.
»Nichts zu danken. Gefallen sie dir?«
»Was für eine Frage!« Ich setzte mir den schwarzen Turban auf, der ebenfalls mit goldenen Glocken verziert war.
»Und der Lochimantel?«
»Einen Moment«, meinte ich, knöpfte den Mantel zu und betrachtete mich im Spiegel. Wie sich herausstellte, war das Goldmuster so gearbeitet, dass es auf dem Rücken größere, überall sonst aber kleinere Kreise bildete. »Wirklich gar nicht schlecht. Ein königlicher Anzug!«
»In der Tat königlich. Ich bin froh, dass er dir gefällt, Max. Jetzt wirst du ihn tragen müssen.«
»Mit Vergnügen. Aber warum muss ich es tun? Außerdem ist es doch schade, etwas so Schönes jeden Tag anzuziehen.«
»Du wirst so viele Exemplare davon bekommen, wie du brauchst. Offenbar hast du noch nicht begriffen, dass diese Ausstattung so etwas wie dein Dienstanzug ist. Von nun an musst du ihn immer tragen.«
»Ausgezeichnet. Aber ich habe wirklich noch längst nicht alles kapiert. Sie haben selbst gesagt, die Mitglieder des Kleinen Geheimen Suchtrupps würden im Gegensatz zu Polizisten keine besonderen Dienstanzüge tragen! Was ist das hier also? Eine Neuerung?«
»Eigentlich nicht. Dieser Anzug ist nur für dich allein. Jetzt bist du der Tod, Max. Der Tod im königlichen Dienst. Und für solche Fälle gibt es den Todesmantel.«
»Und alle Fußgänger, die mein A-Mobil von weitem erblicken, fliehen mich wie einen Pestkranken? Na prima!«
»Alles halb so wild. Wenn sie dich sehen, werden sie vor Ehrfurcht erzittern und selig an die gute alte Ordensepoche denken, als einem öfter mal Leute in solchen Anzügen begegnet sind. Du bist die Karriereleiter jetzt so weit hochgestiegen, dass ... Na ja, mit einem Wort: Du bist nun eine ungeheuer wichtige Person. Das wirst du schon noch merken!«
»Bin ich also jetzt ein großer Leiter? Das wäre wirklich nicht so schlimm. Aber warum tragen Sie nichts Ähnliches, Schürf? Das wäre doch für Sie wie geschaffen.«
»Früher habe ich auch den Mantel des Todes getragen«, sagte Lonely-Lokley und nickte gleichgültig. »Aber die Zeiten haben sich geändert, und jetzt trage ich weiße Sachen.«
»Ich dachte immer, Weiß würde Ihrem Geschmack entsprechen. Was bedeuten Ihre weißen Anzüge eigentlich? «
Sir Schürf zuckte die Achseln. Er hatte offensichtlich keine Lust, darüber zu reden.
»Es hat eine Zeit gegeben, da war Sir Schürf der Tod«, begann Juffin feierlich. »Aber jetzt ist er die Wahrheit. Unter diesem Begriff ist seine Tätigkeit im Geheimregister der praktizierenden Magier des Königs aufgeführt. Wenn man es einfacher sagen will, ist unser Lonely-Lokley nicht fähig, sich zu ärgern und sauer oder beleidigt zu sein. Im Gegensatz zu dir, zum Beispiel. Er bringt zwar den Tod, aber nur, wenn es zwingend notwendig ist. Und das nicht, weil er es so will oder weil er einen entsprechenden Befehl bekommen hat. Wenn ich - sagen wir mal - Sir Schürf den Befehl gebe, einen Unschuldigen zu Asche zu verwandeln, wird er wie jeder anständige Untertan versuchen, meine Anordnung zu erfüllen. Aber seine Hand wird ihm den Dienst verweigern. Letztlich ist unser disziplinierter Sir Schürf also niemandem unterworfen - und zwar, weil er größer als der Tod ist. Er ist die letztinstanzliche Wahrheit, also unparteiisch wie der Himmel. Na ja, was rede ich da. Alles, was ich gesagt habe, ist nur eine klapprige Mischung aus naiver Philosophie und schlechter Poesie. Aber es erklärt die Situation ganz gut.«
»Wenigstens muss ich weder orangenoch himbeerfarbene Sachen tragen«, meinte ich achselzuckend. »Besonders begeistert von meiner neuen Aufgabe als Tod bin ich allerdings auch nicht.«
»Niemand verlangt von dir Begeisterung. Beruhige dich erst mal und versuch, dich mit der Situation abzufinden. Damit ist dieses Thema abgeschlossen. Arbeiten werden wir heute sowieso nicht mehr. Also lasst uns ins Fressfass gehen. Ich bin hungrig, und ihr seid es sicher auch. Noch Fragen?«
»Ja«, meldete ich mich zu Wort. »Wer übernimmt die Zeche?«
Am Ende des Abends waren an unserem Tisch alle Geheimagenten versammelt. Daran war leider gar nichts geheimnisvoll. Juffin hatte alle per Stummer Rede gerufen und sie gebeten, an unserem kleinen Schmaus teilzunehmen. Es wäre mir lieber gewesen, unter meinen Kollegen hätte eine verborgene Verbindung bestanden. Dann wären alle durch die Stadt spaziert, und jeder hätte sich unabhängig von den anderen zu diesem Ort, an dem sich schon einige versammelt hatten, aufgemacht. Wie Magneten hätten wir einander angezogen. Das wäre schöner gewesen.
Zum Abschied lud mich Lady Melamori, die mich den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen hatte, gemeinsam mit Melifaro ein, sie irgendwann einmal in der Dämmerung auf eine Tasse Kamra zu besuchen. Gemäß ihrem Plan sollten wir gemeinsam bei ihr erscheinen und uns gegenseitig neutralisieren. Machte sie sich über uns lustig, oder wusste sie nicht, was sie von uns wollte? Eine interessante Frage!
»Spuck sie an, mein Freund«, flüsterte Melifaro mir zu. »Spuck sie einfach an, und das Problem ist gelöst.«
»Witzbold«, murmelte ich. »Meine Spucke ist Staatseigentum! Sie zu persönlichen Zwecken zu verwenden, ist Amtsmissbrauch. Und ich war erst vor kurzem im Gefängnis.«
Erst spät in der Nacht kam ich nach Hause, wo Armstrong und Ella mich schon erwarteten. Sie waren satt, und ihr Fell war - wie versprochen - sorgfältig gekämmt. Ich beschloss, künftig immer die Dienste des Mannes in Anspruch zu nehmen, der sich in den letzten Tagen mit meinen Katzen beschäftigt hatte. Anders als ich war er für diese Arbeit offenbar geschaffen.
Die ganze Nacht fütterte ich meine Zöglinge mit Delikatessen aus dem Fressfass und berauschte mich so lange an ihrem dankbaren Schnurren, bis ich todmüde war.
Doch ich konnte mich nicht lange erholen, denn bald weckte mich ein Klopfen an der Tür. So selbstbewusst können nur Beamte klopfen, die keinen hohen Rang erreicht haben. Ich schlurfte ärgerlich und verschlafen zur Tür und hatte keine Ahnung, worum es gehen mochte. Rechts von mir trippelte Armstrong, links spähte Ella vorsichtig um die Ecke, und beide miauten fantastisch. Was für ein Anblick!
In der Tür stand ein respektheischend aussehender Gentleman. Sein rassiges Gesicht wirkte sehr klug, was wohl nicht zuletzt an der eleganten Brille mit dünnem Gestell und an den grauen Strähnen an seinen Schläfen lag.
»Verzeihen Sie bitte, Sir Max!«, sagte er und verbeugte sich. »Erlauben Sie mir, mich Ihnen vorzustellen - mein Name ist Kowista Hiller. Ich bin Revisor der schlechten Nachrichten. Zwar soll man um diese Tageszeit keine Besuche machen, doch seine Hoheit Gurig VII. hat darauf bestanden, dass ich Sie umgehend beehre.«
Meine angeborene Gastfreundlichkeit und der kriecherische Ton des Fremden zwangen mich, ihn ins Wohnzimmer zu bitten. Dort standen ein fast voller Krug Kamra aus dem Fressfass und eine große Auswahl diverser Leckereien auf dem Tisch. Ich musste nur sauberes Geschirr finden - und das ist in einem großen Haus gar nicht so leicht.
»Was ist passiert?«, fragte ich, nachdem ich meine Suche erfolgreich beendet hatte. »Welche schlechten Nachrichten bringen Sie? Hat sich jemand über mich beschwert? Dem müssen Sie natürlich nachgehen.«
»Ich verrate es Ihnen sofort, Sir Max. Aber ärgern Sie sich bitte bloß nicht! Es ist nichts wirklich Wichtiges passiert.«
»Wie ich vermute, kennen Sie meine neue Funktion bereits«, bemerkte ich boshaft. »Aber ich habe nicht vor, mich aufzuregen, Ehrenwort! Egal was passiert ist - Todesurteile sind in Echo ziemlich selten, und aus dem Gefängnis bin ich gerade entlassen worden. Dort habe ich übrigens - wenn ich das anmerken darf - ein paar herrliche Tage verbracht.«
»Meine Hauptaufgabe ist die Überprüfung an den Hof gerichteter Beschwerden«, sagte Hiller, und seine Stimme wurde immer leiser. »Aber ich bitte Sie, Sir Max: Denken Sie nicht, der König habe die Aktennotiz von General Bubuta Boch wirklich ernst genommen! Ich bin wegen einer anderen Sache hier.«
»Ach wirklich? Unser Gespräch wird ja immer interessanter. Seien Sie so lieb, Sir, und erzählen Sie mir, um was für eine Aktennotiz es sich da gehandelt hat. Ich bin drei Tage nicht im Haus an der Brücke gewesen, weil ich auf Befehl meines Chefs in Cholomi ermittelt habe. Also: Was habe ich nach Ansicht von General Bubuta ausgefressen?«
»Es ist mir peinlich, über diese dumme Sache mit Ihnen zu reden, Sir Max, aber der General hat erfahren, dass in Ihrer Abwesenheit einer der jüngeren Mitarbeiter der Verwaltung Ihr Haus besucht und ...«
»... meine Tiere gefüttert hat!«, rief ich nickend. »Das ist die reine Wahrheit. Unter uns gesagt: Er hat sie obendrein sogar gekämmt. Wozu sind jüngere Mitarbeiter sonst auch zu gebrauchen?«
»Das sehe ich genauso, Sir Max. Aber ich verrate Ihnen etwas: General Boch vergisst ständig, dass Geheimer Suchtrupp und Polizei getrennt voneinander operierende Organisationen sind. Was in seiner Hälfte des Hauses an der Brücke verboten sein mag, kann in Ihrer Hälfte erlaubt sein. Bubuta Boch hat uns mehrfach Berichte über das Verhalten des Ehrwürdigen Leiters Sir Juffin geliefert. Und über welche Ihrer Kollegen er sich sonst noch beschwert hat, behalte ich lieber für mich.«
»Was gefällt ihm eigentlich nicht an uns?«
Kowista Hiller verzog den Mund zu einem verlegenen Lächeln. »Was meinen Sie wohl, Sir Max? Er hat an allem etwas auszusetzen. Zum Beispiel daran, dass Sir Kofa Joch nicht zum Dienst erscheint, weil er sich nicht vom Wirtshaustisch losreißen kann.«
»Stimmt«, pflichtete ich übertrieben eilfertig bei. »Sir Kofa sollte wirklich tagaus, tagein in seinem Büro bleiben und nur hin und wieder zum Lauschen auf eine öffentliche Toilette schleichen, um mitzubekommen, dass die Mitarbeiter von General Boch an ihrem Chef kein gutes Haar lassen. Stattdessen treibt sich dieser Kerl in der ganzen Stadt herum! Skandal!«
Mein Gesprächspartner nickte genüsslich: »Der König persönlich sammelt Bubutas Beschwerden über Ihre Einheit, klebt sie in ein spezielles Album und versieht sie mit eigenhändigen Illustrationen. Es heißt, er will das Album Sir Juffin Halli schenken, wenn es voll ist. Deswegen hat der König die neueste Notiz von General Boch ja so aufmerksam gelesen, bevor er sie seiner Sammlung hinzugefügt hat. Und er ist neugierig geworden: Warum halten Sie sich eigentlich Tiere daheim? Wozu soll das gut sein?«
»Überzeugen Sie sich doch selbst, wozu das dient! Sehen Sie nicht, wie schön Armstrong und Ella sind? Und wie klug?«
Als die Auslöser der neuesten Querelen ihren Namen hörten, sprangen sie mir auf den Schoß, und ich stöhnte kurz unter ihrem Gewicht. Ihr langes, sorgsam gekämmtes Haar schimmerte, ihre blauen Augen funkelten freundlich, und ihr haariger Schwanz kitzelte mich angenehm an der Nase. Ich war richtig stolz auf meine zwei Hauskatzen.
»Wenn Sie wüssten, wie angenehm es ist, beim Schnurren der beiden einzuschlafen!«, sagte ich träumerisch. »Das - mit Verlaub - ist schon beinahe alles, wozu sie gut sind.«
»Und woher haben Sie die Katzen?«, fragte Hiller neugierig.
Bis heute weiß ich nicht, warum ich damals log. Vielleicht fürchtete ich ja, meine Tiere könnten sauer sein, wenn ich einem Fremden von ihrer plebejischen Herkunft erzählte.
»Die beiden sind direkte Nachkommen der Wildkatzen, die in den Leeren Ländern leben, und eines geheimnisvollen schwarzen Tiers, das aus der Gegend stammt, wo die Sonne versinkt!«
Ich versuchte, allen Ernstes einen exaltierten Barbaren zu mimen, hielt das aber nicht lange durch, sondern lachte und fuhr mit normaler Stimme fort: »Das jedenfalls hat auf dem Zettel gestanden, der neben den Tieren im Korb gelegen hat. Ich habe sie von einem alten Freund geschenkt bekommen.«
»Und Seine Majestät hat das erraten!«, rief der Abgeordnete des Königs begeistert. »Stellen Sie sich das mal vor! Er hat gleich gesagt: >Ich bin überzeugt, bei diesem unglaublichen Max leben auch unglaubliche Katzen. Geh hin und schau dich um - ich bin neugierig!« Jetzt sehe ich es selbst, Sir Max: Ihre Katzen haben nichts mit den Tieren gemein, die bei uns auf den Bauernhöfen leben.«
»Wenn Seine Majestät der Auffassung ist, dass Armstrong und Ella wunderbare Geschöpfe sind, bin ich ganz seiner Meinung«, versicherte ich Hiller und streichelte meine beiden haarigen und allzu wohlgenährten Kameraden. »Die beiden sind wirklich etwas Besonderes!«
Ich hatte den Eindruck, dass die Bauern von Echo weder Zeit noch Geduld hatten, das weiche Fell ihrer Zöglinge durchzukämmen. Auch den zerlausten Geschöpfen, die sich hier in den Gärten auf der Suche nach Nahrung herumtreiben, ähnelten meine Tiere keinesfalls.
Der Revisor der schlechten Nachrichten entschuldigte sich fünfmal, meine kostbare Aufmerksamkeit in Anspruch genommen zu haben, und meldete sich per Stummer Rede in der Burg Rulch, der königlichen Hauptresidenz. Und weil über eine so ernste Sache wie meine Katzen ausführlich berichtet werden musste, schwieg der Junge beinahe eine geschlagene Stunde.
Schließlich schenkte mir Kowista Hiller seine Aufmerksamkeit erneut. Offen gesagt war ich zwischendurch schon eingedöst.
»Sir Max«, flüsterte er ehrerbietig. »Der König will auch solche Katzen haben. Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Ich möchte damit nicht gesagt haben, dass er diese beiden haben will! Doch Sie haben Kater und Katze, und die werden früher oder später sicher Nachwuchs bekommen. Können wir also auf ein Kätzchen aus dem ersten Wurf hoffen?«
Das war gar keine schlechte Lösung meiner künftigen Probleme. Früher oder später würden sicher kleine Kätzchen auf tauchen - daran hatte ich keinen Zweifel. Zwar hatte ich vorgehabt, die ersten Kinder von Armstrong und Ella dort abzugeben, woher ich die Eltern bekommen hatte - auf Melifaros Landgut also -, doch ein Königshof war natürlich etwas Feineres. Und viel näher lag er auch.
»Wenn der erste Nachwuchs kommt, schicke ich dem König natürlich das dickste Pärchen«, versprach ich feierlich.
Kowista Hiller überschüttete mich mit Dank, Entschuldigungen und Komplimenten und verabschiedete sich dann. Kaum hatte er das Haus verlassen, ging ich ins Schlafzimmer.
Ausschlafen konnte ich allerdings nicht, denn schon nach wenigen Stunden meldete sich mein neuer Bekannter per Stummer Rede bei mir. Wie sich herausstellte, war der Nachwuchs von Ella und Armstrong bei allen Höflingen heiß begehrt, und Hiller wünschte, dass wir uns bald wiedersahen.
Am Abend besaß ich ein Verzeichnis all der Leute, die sich eine seltene, vom König privilegierte Rassekatze wünschten. Ich vermutete allerdings, dass das nur der Anfang wäre. Die arme Ella - wie viele Kinder mochte sie in ihrem kurzen Leben bekommen können? Doch alle wichtigen Leute standen bereits auf der Liste.
Natürlich erfuhr Juffin rasch von meinen Kontakten zum königlichen Hof und rief mich zu sich. Auf dem Weg zum Haus an der Brücke kostete ich meinen Triumph im Vorhinein aus.
»Was zettelst du eigentlich in Echo für Veränderungen an, Max?«, fragte mich der Ehrwürdige Leiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps mit gespielter Strenge. »Sei bitte so lieb und sag mir, warum du dir nur Katzen hältst. Man könnte doch auch Pferde daheim haben, um vom Wohnins Schlafzimmer zu reiten! Warum beschränkst du dich auf Kleintiere?«
»Versuchen könnte man das«, antwortete ich gedankenverloren. »Vorausgesetzt, die hauptstädtischen Wohnungen sind dafür groß genug.«
»Ich bin sicher, du wirst auch diesen Trend noch setzen! Die Herren Höflinge sind doch immer erpicht auf die neueste Mode! Aber warte damit noch ein paar Jahre, ja? In meinem Alter ist es schwierig, sich an Veränderungen zu gewöhnen.«
»Aber sicher. Zu den Magistern mit den Pferden! Ich beschränke mich auf Katzen.«
»Wirklich? Gut so! Sündige Magister - manchmal glaube ich schon selbst daran, dass du aus den Grenzgebieten kommst. Aber nimm mir das bitte nicht übel!«
»Natürlich nehme ich Ihnen das übel! Und ich werde gleich spucken!«, rief ich und zog eine Fratze.
»Wie gern würde ich mich jetzt erschrecken, doch leider lässt mein Dienstgrad das nicht zu«, meinte Juffin Halli lächelnd. »Es heißt immerhin, ich hätte vor nichts und niemandem Angst. Da kann ich doch jetzt nicht aus heiterem Himmel mit dieser Tradition brechen!«
»Apropos Traditionen«, warf ich ein. »Wie sollen sogenannte enge Freunde eigentlich miteinander umgehen? Mir ist es mit dieser Frage völlig ernst - ich muss das unbedingt wissen.«
»Wen meinst du denn mit diesen engen Freunden, Max?«
»Na ja, letzte Nacht habe ich zu viel Kachar-Balsam getrunken und Sir Schürf auf den Rücken geklopft. Anscheinend hat ihm das gefallen - also ist alles in Ordnung. Aber dann habe ich mir überlegt, dass es bestimmt irgendwelche Traditionen gibt, gemäß derer ich regelmäßige Pflichten zu erfüllen habe, damit Sir Schürf nicht sauer auf mich wird. Stimmt das?«
»Das wäre mir neu. Soviel ich weiß, bist du zu nichts verpflichtet. Du brauchst ihn nur nicht mehr per Sir anzureden, aber damit hättest du wahrscheinlich ohnehin über kurz oder lang aufgehört. Sündige Magister, was soll ich da erklären? Eine Freundschaft ist nun mal eine Freundschaft. Übrigens habe auch ich dir - wenn du dich daran noch erinnerst - mit der flachen Hand auf den Rücken geklopft.«
»Na ja«, begann ich, stockte dann aber verlegen. Es ist nicht leicht, jemandem zu sagen, dass man ihn für die große Ausnahme von allen denkbaren Regeln hält. Das klingt wie pure Schmeichelei. Aber Juffin verstand auch dies.
»Du findest offenbar, dass wir zwei ein sehr vertrautes Verhältnis zueinander haben, während du Schürf so distanziert begegnest, wie sich das einem Gentleman gegenüber geziemt. Doch vergiss eines nicht, Max: Für Freundschaften gibt es keinen Verhaltenskodex. Solltest du Schürf aber irgendwann besuchen, hast du das moralische Recht, seine Badewanne zu benutzen und bei ihm zu übernachten. Und er hat dir gegenüber das gleiche Recht. Und jetzt hast du dir ein paar Sorgenfreie Tage verdient. Ich will dich nicht weiter aufhalten.«
»Das klingt, als wollten Sie mich loswerden«, sagte ich lächelnd. »Irgendwie schade. Soll ich mich wirklich die nächsten zwei Tage nicht sehen lassen? Ich bekomme ja jetzt schon Sehnsucht nach meinem Büro!«
»Schön, dass du deine Arbeit so liebst. Aber jetzt musst du dich mal richtig ausschlafen. Und bitte keine zusätzlichen Abenteuer! Alles klar?«
Am Eingang des Hauses an der Brücke stieß ich auf General Bubuta. Er grinste mich ehrfürchtig an und senkte das purpurrote Gesicht. Anscheinend war der Arme einer Ohnmacht nahe, als er meinen Todesmantel sah. Kein Wunder - schien er doch überzeugt, in mir einen gefährlichen Feind gefunden zu haben. Dabei bemitleidete ich ihn lediglich.
Aber Scherz beiseite. Als ich am Gesättigten Skelett vorbeikam, hörte ich zwei ältere Frauen einander beschimpfen. Wenn ich mich nicht täuschte, hatten sie Krak (also die hiesige Art Poker) gespielt und versucht zu schummeln. Sie waren so in ihr Gezänk vertieft, dass sie meine Schritte nicht gehört hatten.
»Sir Max soll dich bespucken!«, rief eine der beiden zornig.
Nicht schlecht! Ich setzte mich auf den Gehsteig und presste die Hände an den Kopf. So verbrachte ich etwa zehn Minuten und wiederholte Juffins Worte wie ein Mantra: »Beruhige dich erst mal und versuch, dich mit der Situation abzufinden.«
Dann stand ich auf und ging nach Hause. Was hätte ich auch sonst tun sollen?