Der Fremdling

Kaum glaubt man, im Einklang mit sich und seiner Umgebung zu sein, beginnen die besten Freunde, alles zu tun, um einem diese süße Illusion zu rauben. So erging es auch mir.

Nach ein paar Tagen seligen Müßiggangs, den ich nur ab und an durch ein paar rasche Bahnen im Pool unterbrochen hatte, kehrte ich ins Haus an der Brücke zurück. In meinen prächtigen Todesmantel gehüllt, ging ich durchs Treppenhaus und freute mich schon darauf, die Kollegen zu treffen. Und ich muss sagen: Sie haben meine Erwartungen nicht enttäuscht.

Im Eingang zum zweiten Stock unserer Gebäudehälfte stieß ich mit Sir Melifaro zusammen. Dass er in der Eile mein Bein rempelte und mich mit dem Ellbogen in die Seite stieß, war nicht weiter schlimm. Leider aber musste er aus diesem zufälligen Zusammenstoß gleich eine Show machen: Er prallte von mir ab wie ein Tennisball, und während seine agile Mimik auf Hyperventilation zu deuten schien, fiel er auf alle viere und fing an, mit dem Kopf auf die Türschwelle zu schlagen. Als wäre selbst das noch zu wenig, begann er obendrein, laut zu schreien.

»Verzeiht mir, fürchterlicher Sir Max, der Ihr den Tod aus dem Rachen rotzt! Verschont mich mit Eurer versehrenden Spucke, die im Überfluss auf Eure unglücklichen Feinde niedergeht! Einen derart erbärmlichen Tod habe ich nicht verdient!«

Natürlich kamen auf Melifaros Geschrei hin viele Polizisten gelaufen und schienen überzeugt, es würde jemand umgebracht. Sie musterten meinen sich vehement in Szene setzenden Kollegen offen, warfen mir hingegen nur verstohlene Seitenblicke zu, als fürchteten sie, ich könnte sie bespucken. Aus unserer Hälfte des Hauses an der Brücke sah - wie hätte es anders sein können? - lediglich das versteinerte Gesicht von Sir Lonely- Lokley heraus. Nachdem er die Situation auf den ersten Blick erfasst hatte, seufzte er nur knapp und machte die Tür wieder zu. Aus der anderen Hälfte des Hauses hingegen strömten immer mehr neugierige Polizisten heran.

Nachdem Melifaro die allgemeine Aufmerksamkeit lange genug genossen hatte, sprang er auf und stellte sich neben mich.

»Habt Ihr mir schon verziehen, oder habe ich mich noch nicht genug um Gnade bemüht?«

»Ihre Bemühungen waren leider ungenügend«, entgegnete ich und versuchte, mich zu beherrschen. »In solchen Fällen muss man mindestens eine Stunde um Verzeihung bitten - und zwar auf dem belebtesten Platz der Stadt. Also, mein armer Freund: Gehen Sie zum Siegesplatz Gurigs VII. und tun Sie dort Buße - dann wird Ihnen Ihre Strafe erlassen.«

Mit diesen Worten verschwand ich in unsere Abteilung und knallte die Tür so fest hinter mir zu, dass die Klinke nur noch an einer Schraube hing. Immerhin beruhigte ich mich langsam wieder.

»Was ist mit dir los, Max?«, fragte Melifaro mich sofort per Stummer Rede. »Bist du etwa sauer? Ich hab doch nur Spaß gemacht!«

»Spaß? Den hatte nur der von beiden, um den sich die Stadtpolizei versammelt hat«, murmelte ich.

»Seit wann hast du keinen Humor mehr, Max? Na gut - wenn du sauer bist, muss ich dafür büßen. Ich lade dich ins Fressfass ein und spendier dir was zur Beruhigung deiner Nerven.«

Dass Melifaro versuchte, sich bei mir einzuschmeicheln, indem er mein Lieblingslokal ins Spiel brachte, ließ mich erst richtig zornig werden.

»Was wäre, wenn ich Melifaro tatsächlich umbringen würde, Sir Schürf?«

Anscheinend dachte Lonely-Lokley, ich hätte tatsächlich vor, meinen Freund zu töten. Jedenfalls gab er mir einen juristischen Rat: »Dafür würde Ihnen lebenslängliche Haft in Cholomi drohen - schließlich seid ihr beide im Staatsdienst. In so einem Fall hängt alles von den Begleitumständen ab. Mit anderen Worten: Wenn Sie, Max, nachweisen könnten, dass Sir Melifaro ein schweres Verbrechen begangen hat, kämen für Sie mildernde Umstände in Betracht. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie sich in eine solche Situation bringen möchten. Sie sollten sich wirklich nicht über Melifaro ärgern. Sie kennen ihn doch. Sein Problem ist, dass seine Mutter und seine älteren Brüder ihn verzogen haben, während sein Vater, Sir Manga Melifaro also

»Jaja, ich weiß. Sir Manga hat sich in der Welt herumgetrieben und seine berühmte Enzyklopädie geschrieben. Große Entdecker sollten keine Familie haben und sich nicht mit Nachkommen belasten, damit ihre Leidenschaft fürs Abenteuer sich nicht auf die Kinder überträgt. Na schön - ich geh jetzt ins Fressfass und verpass ihm ein Veilchen. Melifaro erwartet mich bestimmt schon. Können Sie sich noch an die erschrockenen Mienen der Polizisten erinnern, Schürf?«

»Natürlich.«

»Kümmern Sie sich bitte darum, dass keiner dieser Ordnungshüter aufs Weiße Blättchen kommt. Schließlich war kein einziges intelligentes Gesicht darunter. Und sie haben tatsächlich geglaubt, ich wollte Melifaro umbringen! Diese Musterschüler von General Bubuta!«

Nachdem ich meinen Zorn an unschuldigen Menschen ausgelassen hatte, fühlte ich mich wesentlich besser und ging ins Fressfass, um mich mit Melifaro zu versöhnen. Dafür hatte ich genug Zeit. Schließlich war ich viel zu früh zur Arbeit gekommen, um der häuslichen Langeweile zu entgehen.

Nachdem Melifaro meine Stimmung zuerst ruiniert hatte, tat er nun alles Erdenkliche, um mich aufzuheitern. Daher stellte ich bei Antritt meiner Nachtschicht keine Gefahr mehr für meine Umgebung dar.

Sir Juffin saß im Sessel und sah nachdenklich in ein Buch. Diese Idylle ließ vermuten, dass in Echo Ruhe herrschte.

»Grüß dich, du Verräter!«, rief er mir zu. »Du hast mit Melifaro im Fressfass gesessen, statt mich müden Alten vom Bürodienst zu erlösen, stimmt's?«

»Erstens bin ich eine Stunde zu früh zur Arbeit gekommen, zweitens musste Melifaro seinen Auftritt wiedergutmachen ...« »Das weiß ich schon. Und drittens?«

»Drittens bin ich bereit, alles mit Ihnen zu wiederholen!«

»Was alles?«

»Den Besuch im Fressfass«

»Hast du keine Angst vor dem Bankrott, Max?«

»Wollen Sie mich beleidigen?«

»Nein, nein. Aber ich bin zu faul, um auszugehen. Vielleicht lassen wir uns besser etwas bringen. Setz dich - ich möchte ein wenig mit dir plaudern.«

»Für Sie, Sir, bin ich sogar dazu bereit.«

»Na so was - er ist selbst dieser Schandtat fähig! Aber ich habe interessante Neuigkeiten für dich. Weißt du, was Lady Melamori angestellt hat? Ich hab es heute erst erfahren. Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«

»Vorgestern. Melifaro und ich sind bei ihr zu Besuch gewesen. Was das angeht, Juffin, kann ich Sie beruhigen: Alles ist sehr anständig verlaufen. Für meinen Geschmack zu anständig.«

»Verstehe. Den Ablauf eures Besuchs kann ich mir auch ohne Hellseherei gut vorstellen. Darum geht es mir nicht. Habt ihr euch danach nicht mehr gesehen?«

»Nein. Aber Lady Melamori hat sich bei mir mehrmals per Stummer Rede gemeldet und gefragt, wie ich mich fühle und in welcher Stimmung ich bin. Das war sehr nett von ihr und hat mich gerührt.«

»Und wie hast du dich in den letzten zwei Tagen gefühlt?«

»Seit meinem Aufenthalt in Zelle Nummer Fünf? Jedenfalls habe ich kein Gift gespuckt. Ist es das, was Sie wissen wollen?«

»Wenn mich etwas näher interessiert, sage ich Bescheid. Aber jetzt erzähl mir genau, wie es dir seit vorgestern gegangen ist.«

»Da gibt's nicht viel zu erzählen. Ich hab mich großartig gefühlt und war stets gut gelaunt. Manchmal hab ich sogar plötzlich gelacht, als hätte mich etwas gekitzelt. Ich bin durchs Haus gegangen und hab in mich hineingekichert.«

»Und das war's?«

»Ist Ihnen das zu wenig?«

»Es ist deine Schuld, Max, dass ich mich über dich viel öfter wundere als über andere«, sagte Juffin vorwurfsvoll, und ich wusste nicht, ob das ein Lob war oder ob er sich über mich lustig machte.

»Was ist denn passiert? Schluss mit der Geheimniskrämerei! Inzwischen bin ich so aufgeregt, dass ich keinen Bissen mehr herunterbringe.«

»Wie schön!«, rief Juffin und schnitt sich genüsslich ein großes Stück von der leckeren Pirogge ab, die gerade aus dem Fressfass gekommen war. Zugleich aber bebte er vor Ungeduld und fing deshalb mit vollem Mund an zu reden.

»Es geht um die erste und letzte Lady im Geheimen Suchtrupp. Sie hat überprüfen wollen, ob du ihrer Aufmerksamkeit wert bist.«

»Ich kenne eine gute Methode, sie davon zu überzeugen«, warf ich ein. »Wenn sie einverstanden ist, stehe ich jederzeit zu Diensten. Das können Sie ihr gern ausrichten.«

»Ach, Max - was redest du denn da! Lady Melamori ist eine seriöse Frau und hat ihre eigenen Methoden.

Deshalb ist dir unsere schlimmste Freiwillige ja auf die Spur getreten.«

»Was hat sie getan? Ist sie verrückt geworden?«

»Das würde ich nicht sagen. Sie war schon immer so.«

»Und Sie sind sicher, dass sie auf meine Spur getreten ist? Ich hab mich doch die ganze Zeit gut gefühlt!«

»Ach ja? Und die Kicheranfälle?«

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. War Lady Melamori mir wirklich auf die Spur getreten? Na wenn schon! Welche Folgen hatte so was normalerweise? Doch mindestens eine schwere Depression! Das gehörte nun mal zu den Pflichten einer Verfolgungsmeisterin - und genau in dieser Funktion arbeitete sie in unserer Abteilung. Was war ich doch für ein Trottel! Die Dame meines Herzens war mir auf die Spur getreten, und ich hatte nichts davon gemerkt, sondern nur eine seltsame Ausgelassenheit verspürt. Als wäre ich ein rosiges und dennoch dickfelliges Ferkel, ein Mutant also, eine Missgeburt! Ich hasste mich.

Es gab noch einen Grund, empört zu sein. »Ich dachte, sie hätte sich nach meiner Stimmung erkundigt, weil sie ehrlich beunruhigt war; ich glaubte, sie hielt mich für krank, weil ich einmal nicht zur Arbeit gekommen bin; ich habe mir eingebildet, sie könnte es nicht erwarten, bis ich wieder im Haus an der Brücke auftauche - und jetzt stellt sich heraus, dass sie nur Experimente gemacht hat. Wie kränkend!«

»Nimm das alles nicht so ernst«, meinte Juffin und zuckte die Achseln. »Sie hat dich - wie sie glaubt - aus gutem Grund gefragt. Hättest du dich über Schwermut beklagt, hätte sie gleich mit ihrem Experiment aufgehört und wäre mit dem Ergebnis zufrieden gewesen. Weißt du, für Lady Melamori ist ihre Gabe zugleich eine Frage des Schicksals und der Ehre. Anderen auf die Spur zu treten, ist eigentlich ihr einziges Talent, und sie hat es an uns allen zu erproben versucht, auch an mir. Am Anfang ihrer Beschäftigung in meiner Abteilung hat sie versucht, mich zu durchleuchten.«

»Ich kann mir vorstellen, wie das gelaufen ist.«

»Ach, das war nichts Besonderes. Ich hab ihr meinen Ersten Schild gezeigt, statt mich über sie zu ärgern. Man muss ihr aber lassen, dass sie schon nach einer Stunde wieder topfit war. Unsere Lady ist nun mal sehr zäh.«

»Was ist denn der Erste Schild?«, fragte ich interessiert.

»Ein Euphemismus für einen individuellen Schutz, Max. Dass es sich dabei um den Ersten Schild handelt, bedeutet nur, dass er für deinen Gegner besonders gefährlich ist. Was kann ich dir noch beibringen? Du selbst hast mehr Schilde als jeder andere Mensch in Echo. Sogar mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Und du wirst sie gewiss alle mal brauchen, doch im gegenwärtigen Fall hilft nur Erfahrung. Stell dich nicht so an! Du kennst dich nur noch nicht richtig in der Fachterminologie aus.«

»Lady Melamori ist wirklich ein Früchtchen!«, meinte ich seufzend und goss mir eine neue Portion Kamra ein, um meine Stimmung aufzuhellen. »Da hat sie eine solche Gabe zur Verfügung, und dann benimmt sie sich wie ein Kind!«

»Bist du sauer auf sie? Nicht doch! Jetzt ist sie ganz niedergeschlagen.«

»Ach nein, ich bin nicht mehr sauer. Ich trauere nur um mein gebrochenes Herz.«

»Ich hab dir ja von Anfang an gesagt, dass du mit der Wahl deiner Herzensdame keine gute Entscheidung getroffen hast. Bist du nie auf die Idee gekommen, Max, dass es sich lohnen könnte, auf Ältere zu hören?«

Ich seufzte und schnitt die zweite Pirogge in Scheiben. Was für ein gefühlloser Mensch ich doch bin! Nicht mal ein gebrochenes Herz kann meinen Appetit zügeln - das hat sich schon mehrfach erwiesen.

»Willst du über dieses Ereignis nichts weiter erzählen?«, fragte Juffin neugierig, als ich mit der Pirogge fertig war.

»Ich weiß nicht. Eigentlich sollte ich Lady Melamori zu allem Möglichen befragen. Wie konnte es nur passieren, dass ich nichts gespürt habe? Mir widerfahren seltsame Dinge. Und was geschieht, wenn ich irgendwann ein Verbrechen begehe? Dann kann ich gleich abhauen. Anscheinend bin ich ein ziemlich gefährlicher Typ.«

»Natürlich - gefährlicher als viele andere«, bemerkte Juffin zufrieden und mit der Miene eines Künstlers, der gerade ein Meisterwerk geschaffen hat.

»Es ist alles so seltsam. Als ich noch auf der Erde lebte, hab ich an mir keine besonderen Eigenschaften festgestellt. Ich war ein Mensch wie alle anderen. Zwar hatte ich merkwürdige Träume, aber das war meine ganz persönliche Angelegenheit. Vielleicht träumten auch andere so seltsame Dinge, doch sie schwiegen darüber. Und dann kam ich hierher, wo jeder Tag etwas Neues bringt. Vielleicht wollen Sie mich bloß sezieren, um zu sehen, wie ich funktioniere.«

»Ausgezeichneter Gedanke, Max. Du bist wirklich nicht dumm! Leicht ist dir nicht beizukommen. Kannst du dich erinnern, was mit dir im Alten Dorn passiert ist?«

»Dort, wo ein großer, lustiger und rothaariger Junge als Wirt arbeitet? Wie heißt er eigentlich? Ach ja - Tschemparkaroke«, sagte ich und lächelte verlegen.

Es war kein Ereignis, an das ich mich gern erinnerte. Juffin hatte mich immer mit in den Alten Dorn genommen - damals, als ich noch in der Probezeit war. Er hatte entschieden, dass ich unbedingt die Rekreationssuppe probieren sollte, die alle Bewohner des Vereinigten Königreichs in den höchsten Tönen preisen.

Nach meiner Einschätzung hat die Suppe eine leicht narkotisierende Wirkung, die allerdings unschädlich und angenehm ist. Daher naschen oft ganze Familien davon. Und daher stürzte auch ich mich ohne Angst in psychedelische Abenteuer, obwohl ich mein Leben lang vor Drogen und Drogensüchtigen Angst gehabt habe. Meine einzige Erfahrung in diesem Bereich, die ich natürlich in einer der höheren Klassen des Gymnasiums gemacht hatte, erwies sich als so misslungen, dass ich - was Drogen anlangt - beinahe eine Phobie habe.

Die Rekreationssuppe hatte mich schwer in die Klemme gebracht. Mein Fremdsein, das mir mitunter nicht mehr bewusst war, meldete sich mit voller Wucht in genau dem Moment zurück, da ich mit der ersten Portion fertig geworden war. Der arme Juffin hatte also in Gesellschaft eines Mannes zu sitzen, der seiner Sinne nicht mehr recht mächtig war und gedankenlos über seinen Tellerrand kicherte. Aber auch für mich war es keine besonders angenehme Erfahrung, da ich unter Halluzinationen litt und Probleme mit der Koordinierung meiner Bewegungen hatte. Die übrigen Gäste des Alten Doms waren vermutlich über mein Benehmen schockiert.

Diesem Ereignis folgten Entzugserscheinungen, die mich geschlagene vierundzwanzig Stunden lang aufs Heftigste quälten. Selbst Sir Juffin, der ein ausgesprochen qualifizierter Mediziner ist, konnte mir nicht beistehen, weil er - trotz seines Talents als Heiler - schlicht machtlos war. Also hatte ich die ganze Zeit leiden müssen.

Als ich wieder bei Sinnen war, schwor ich mir, um den Alten Dorn künftig einen möglichst großen Bogen zu machen. Juffin hieß diese Entscheidung gut und sah seither davon ab, in meiner Gesellschaft Rekreationssuppe zu essen, denn er wollte mich nicht verführen.

»Sagen Sie bloß niemandem, dass man mich mit dieser Suppe fertigmachen kann. Vielleicht gießt mir sonst jemand etwas davon in meine Kamra, um zu schauen, was mit mir passiert.«

»Was redest du denn da, Max? Das wäre ja ein Giftmordversuch an einem hohen Beamten! Nach unseren Maßstäben ist das ein Kapitalverbrechen. Aber wie dem auch sei - ich fahre jetzt nach Hause. Und du versuchst, Lady Melamori morgen besser zu behandeln. Es geht ihr in letzter Zeit nicht besonders gut. Ich glaube, in den nächsten Tagen kann sie nicht richtig arbeiten. In ihrem Beruf ist Selbstvertrauen das Lebenselixier, und jede Beschädigung ihres Egos bedeutet für sie die Gefahr, ihr Talent einzubüßen.«

»Wollen Sie mich beschwichtigen, Juffin? Natürlich werde ich nett zu ihr sein. Und zwar nicht, weil ... Aber egal. Sie werden sehen: Alles kommt wieder in Ordnung. Hätte ich gewusst, dass sie mit mir Experimente gemacht hat, hätte ich mich gleich bei ihr darüber beschwert, dass meine Stimmung so schlecht war.«

»Kopf hoch, Max! Denk an die vielen angenehmen Dinge, die uns die Welt zu bieten hat. Das ist deine Aufgabe. Bis morgen!«

Mit diesen Worten eilte Sir Juffin auf die Straße, wo ihn sein treuer Diener Kimpa erwartete.

Mein Chef hatte recht: In dieser Welt gab es wirklich viele angenehme Dinge, und ich sollte wohl tatsächlich die klugen Ratschläge von Sir Juffin Halli berücksichtigen, meine Kräfte sammeln, mich aufraffen und ein neues Leben beginnen. Zum Beispiel durch einen Besuch im Stadtteil Rendezvous, wie das viele allein lebende Ladys und Gentlemen tun - und von denen gibt es in Echo jede Menge! Im Vereinigten Königreich werden Ehen - wie es sich gehört - in reifem Alter geschlossen, aber längst nicht alle heiraten. Hier heißt es nicht, die Familie sei für jeden das Beste, und im Alter allein zu sein, gilt nicht als Zeichen eines misslungenen Lebens. Auch das Gegenteil allerdings behauptet hier niemand. Die öffentliche Meinung schweigt dazu - also ist es jedem selbst überlassen, wie er sein Leben gestalten will.

Vor kurzem hatte ich von Melifaro, den meine Unwissenheit in Verlegenheit gebracht hatte, genaue Informationen über den Stadtteil Rendezvous bekommen, die er mir mit der Bemerkung überreicht hatte, ich sei und bleibe zwar ein Barbar, aber gewisse elementare Dinge müsse ich dennoch erfahren.

Was ich aus Melifaros Unterlagen über die hiesige Lebensweise erfuhr, überraschte mich. Trotz meines fast panischen Wunsches, Ordnung in mein Leben zu bringen, bezweifelte ich, schon zu einem Besuch dieses Stadtteils bereit zu sein.

Das möchte ich Ihnen gern näher erklären. Wenn Sie von einer Party in Gesellschaft eines Mädchens nach Hause kommen, das Sie noch nicht besonders gut kennen, und wenn Ihnen wie dem Mädchen klar ist, wie die Nacht enden wird, dann ist das natürlich nicht das große Liebesabenteuer, von dem Sie in Ihrer Jugend geträumt haben. Immerhin aber geschieht alles einvernehmlich: Zwei Erwachsene treffen eine mehr oder weniger klare Entscheidung. Ob sie nur eine Nacht oder länger Bestand hat, hängt damit zusammen, ob zwei Körper eine dauerhaftere Verbindung eingehen wollen.

In Echo läuft die Anbahnung von Beziehungen ganz anders.

Die Besucher des Stadtteils Rendezvous sind Suchende oder Wartende. Jeder entscheidet jedes Mal selbst, zu welcher Gruppe er gehören will. Im einen Teil des Viertels stehen Häuser, die suchende Männer und wartende Frauen ansteuern; im anderen Teil sammeln sich suchende Frauen und wartende Männer. Vor dem Eingang hängen keine Informationen, weil man davon ausgeht, alle wüssten sowieso, warum und wohin sie gekommen sind.

Kaum haben die Suchenden das Haus ihrer Wahl betreten, müssen sie an einer seltsamen Lotterie'teilnehmen und aus einer Vase eine nummerierte Kugel ziehen. Allerdings gibt es auch Kugeln, auf denen keine Nummer steht. Wer eine solche zieht, muss sich damit abfinden, dass das Schicksal ihm an diesem Abend ein Liebestreffen verwehrt hat. In so einem Fall muss der Besucher sich verabschieden und nach Hause gehen. Theoretisch kann so ein Glückloser die Prozedur im nächsten Haus wiederholen, doch das gilt als schreiende Missachtung des Fatums, und gegen das Schicksal mag sich kaum einer auflehnen.

Nachdem der Suchende seine Kugel gezogen hat, geht er ins Gästezimmer, also dorthin, wo die Wartenden sich aufhalten. Dort hat der Suchende die Anwesenden laut abzuzählen, bis er an die Person gerät, deren Nummer auf seiner Kugel steht.

Übrigens kontrolliert niemand diese Prozedur. Also ist es durchaus möglich, dabei zu mogeln. Aber nicht einmal Melifaro hat begriffen, wie ich auf den Gedanken kommen konnte, das Verfahren lade zum Schummeln ein. Ich hatte den Eindruck, er habe in seinem Leben noch nichts Abwegigeres gehört als diesen Verdacht. Aus seiner Reaktion schloss ich, dass sich - was den Stadtteil Rendezvous anging - noch niemand mit dem Problem des Mogelns beschäftigt hatte. In Echo denken alle, Fortuna sei eine äußerst launische Göttin, mit der nicht zu spaßen ist.

Frischgebackene Liebespaare verlassen den Stadtteil, gehen nach Hause oder in ein Gasthaus und versuchen, aus ihrer zufälligen Begegnung möglichst viel Vergnügen zu schlagen. Und am nächsten Morgen trennen sie sich für immer. Das ist eine unerlässliche Bedingung ihrer Begegnung.

Soweit ich begriffen habe, kontrolliert niemand, ob die Paare sich am Morgen tatsächlich für immer trennen. Und niemand bestraft die, die sich dieser Bedingung verweigern. Meinen Vorschlag, man könne die zufällige Begegnung im Stadtteil Rendezvous ja in Eigeninitiative aufs Herrlichste verlängern, quittierte Melifaro mit einer Grimasse erschrockener Ablehnung - als hätte ich von den Vorzügen sodomitischer Nekrophilie geschwärmt und ihm freundlicherweise vorgeschlagen, mich zum nächsten Tierfriedhof zu begleiten.

»Mach nie solche Witze«-, riet er mir ernst. »Weder bei Fremden noch bei Leuten, die du gut kennst.«

Ich wunderte mich, warum mein Freund plötzlich die beleidigte Unschuld spielte, tat seine Vorurteile ab und schusterte mir eine hübsch poetische Erklärung für das ganze Ritual zusammen. Die gegenseitige Zustimmung der Liebenden zur Trennung (so überlegte ich) war eine gute Methode, die »intime Verbindung mit einem zufälligen Partner« - wie das angenehme Ereignis in der furchtbaren Beamtensprache von Echo heißt - mit einem romantischen Nimbus zu umgeben.

Ich saß grübelnd über den Informationen, die ich von Melifaro bekommen hatte, und stellte betrübt fest, wie sehr es mich in den Stadtteil Rendezvous zog. Oje - wie würden meine Knie zittern, was für einen Unsinn würde ich mir zusammenstottern und wie sehr würde ich unter den Achseln schwitzen! Aber im Bett würde ich mich dann hoffentlich von meiner besten Seite zeigen ... Das war wirklich eine ungewöhnliche Art, einander kennenzulernen. Vielleicht wäre mir ja eine vorzeitig gealterte, zahnlose Riesin mit Elefantenbeinen als Partnerin bestimmt. Dann würde ich mich fragen müssen, wie ich bis zum nächsten Morgen überlebe. Also sollte ich vielleicht doch nicht in diesen Stadtteil gehen, sondern mich auf erprobte Methoden des Kennenlernens beschränken, denn diese Methoden verachtete die holde Weiblichkeit ja auch nicht.

Nachdem ich meine Entscheidung getroffen hatte, überlegte ich, wie ich die Zeit totschlagen konnte. Mein einziger möglicher Gesprächspartner - unser Buriwuch Kurusch - hatte den Kopf unter die Federn gesteckt und döste. Also nahm ich ein Buch zur Hand, das Sir Juffin im Sessel vergessen hatte. Es handelte sich um Die Philosophie der Zeit von einem gewissen Sir Sobroch Chesom. Sündige Magister! Wofür sich die Leute so interessieren!

Meine Nacht war übrigens gar nicht angenehm. Nichtstun, fruchtlose Gedanken über den Stadtteil Rendezvous und philosophische Literatur können einen schneller auf die Palme bringen als alle Tricks unserer tollen Verfolgungsmeisterin Lady Melamori.

Der Morgen hingegen brachte eine Veränderung zum Besseren. Sir Kofa Joch unterhielt mich mit ein paar pikanten Anekdoten. Juffin hatte sich entschieden, bis zum Mittagessen daheimzubleiben, meldete sich aber per Stummer Rede bei mir, um Guten Morgen zu sagen. Gleich darauf meldete sich auch Melifaro und bat mich, auf ihn zu warten, damit ständig wenigstens ein leitender Mitarbeiter unserer Behörde im Büro war. Ich erhob keine Einwände, da ich ohnehin nicht nach Hause gehen wollte, ohne Lady Melamori gesehen zu haben. Ich vermutete, sie habe bestimmt ein schlechtes Gewissen, und ich wäre ein Dummkopf gewesen, wenn ich diese günstige Gelegenheit nicht zu nutzen versucht hätte.

Schließlich erschien die Lady. Sie trieb sich ein wenig im Saal der allgemeinen Arbeit herum, machte aber keine Anstalten, mich zu besuchen. Weil die Tür meines Büros einen Spalt weit geöffnet war, konnte ich ein paar Seufzer von ihr hören, die allerdings ein wenig zu laut waren, um natürlich zu wirken. Nachdem ich dieses Konzert richtiggehend genossen hatte, meldete ich mich per Stummer Rede im Fressfass und bestellte Kamra für zwei und viel Gebäck. Binnen Minuten waren die Sachen geliefert. Als der Bote die Tür öffnete, sprang Lady Melamori in eine ferne Ecke des Saals, um nicht in mein Blickfeld zu geraten. Sie hörte das Klirren von Geschirr, und ihr stockte der Atem.

Als der Bote mit leerem Tablett gegangen war, rief ich laut durch die ein wenig geöffnete Tür: »Glauben Sie, ich leide an Persönlichkeitsspaltung, nur weil ich mir ein Tablett mit zwei Krügen Kamra ins Büro bringen lasse? Ich brauche Hilfe, meine Teuerste!«

»Soll der zweite Krug Kamra etwa für mich sein, Sir Max?«

»Ich hatte ihn eigentlich für meine allerliebste Urgroßmutter gedacht, doch die hat heute nicht zu kommen geruht ... Ich bin Ihnen nicht mehr böse, und die Kamra wird allmählich kalt.«

Lady Melamori kam an meine Tür. In ihrer bezaubernden Miene standen zwei einander widerstreitende Gesichtsausdrücke: Schuldbewusstsein und Zufriedenheit.

»Juffin hat Ihnen verraten, dass ich mit Ihnen experimentiert habe. Hätte er doch geschwiegen! Ich bin ohnehin schon diskreditiert genug«, murmelte sie und setzte sich.

»Niemand hat Sie diskreditiert, Lady Melamori. Ich bin bloß nicht so leicht auszuhorchen. Aber nehmen Sie das nicht allzu ernst. Meine kluge Mutter hat immer gesagt, wenn ich jeden Morgen einen Löffel Lebertran trinke, bleibe ich gesund und werde groß, und niemand kann mir auf die Spur treten. Wie Sie sehen, hatte sie recht.«

Mein Herz befahl mir, Lady Melamori gegenüber großzügig zu sein, doch offen gestanden erhoffte ich mir eine klitzekleine Genugtuung. Schließlich war ihre Begeisterung zwar ein ziemlich gefährliches, aber kein schlechtes Gefühl, das mir - ehrlich gesagt - weit besser gefiel als ihre höfliche Gleichgültigkeit. Indifferent nämlich hatte sie mich schon oft behandelt, und darüber wollte ich mir nun keine Gedanken mehr machen müssen.

Meine sorgfältig eingefädelte Aktion traf anscheinend auf das Wohlwollen der ersten Lady unseres Geheimen Suchtrupps. Als sie ihre Kamra ausgetrunken hatte, war sie ausgesprochen fröhlich. Unsere Hände trafen sich mehrmals im Gebäckteller, und das süße Pfötchen von Melamori gab sich keine Mühe, vor meinen Fingern zu fliehen. Irgendwann wurde ich übermütig und schlug ihr vor, demnächst zusammen einen Spaziergang durch das abendliche Echo zu machen. Die Lady räumte ein, sich noch ein wenig vor mir zu ängstigen, versprach aber, von nun an mutiger zu sein - zwar noch nicht heute und auch noch nicht morgen, aber doch schon bald.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie mir einen genauen Termin nennen würde. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich ging sehr glücklich nach Hause. Zwei Stunden wälzte ich mich im Bett herum, ohne meine Begeisterung loswerden zu können, doch schließlich schlief ich zum rhythmischen Schnurren von Armstrong und Ella ein, die sich bei meinen Beinen zusammengerollt hatten. Mein Schlaf dauerte allerdings nicht lange.

In der Mittagszeit weckte mich ein schrecklicher Lärm. Schlaftrunken überlegte ich, ob direkt vor meinem Fenster eine öffentliche Hinrichtung stattfand (was in Echo eigentlich undenkbar ist) oder ob ein Wanderzirkus vorbeizog (was öfter vorkam). Weil ich bei diesem Krach unmöglich weiterschlafen konnte, ging ich nachsehen, was auf der Straße los war. Kaum hatte ich die Haustür geöffnet, begriff ich, dass ich verrückt geworden sein musste - oder träumte.

Vor meinem Haus stand ein Orchester aus zwölf Musikern und spielte eine wehmütige Melodie. Vor den Musikanten stand der prächtige Lonely-Lokley und sang mit klarer Stimme ein trauriges Lied über ein Häuschen in der Steppe. Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich verwirrt. Nachdem ich das Ende des Liedes abgewartet hatte, überschüttete ich meinen Kollegen mit Fragen.

»Was ist los, Schürf? Warum sind Sie nicht im Dienst? Sündige Magister - was soll das eigentlich?!«

Lonely-Lokley räusperte sich gelassen. »Stimmt was nicht, Max? Hab ich das falsche Lied ausgesucht?«

»Das Lied war fantastisch, aber ... Na gut, gehen wir ins Wohnzimmer, Schürf. Ich bestelle uns Kamra im Gesättigten Skelett, und Sie erklären mir alles. In Ordnung?« Vor Verwirrung und Verlegenheit wäre ich beinahe in Tränen ausgebrochen.

Mit königlicher Geste entließ Lonely-Lokley die Musikanten. Dann folgte mir mein »offizieller Freund« ins Haus. Außer mir vor Erleichterung, ließ ich mich in einen Sessel fallen und meldete mich per Stummer Rede im Gesättigten Skelett. Das ist zwar nicht das beste Lokal in Echo, liegt aber in der Nähe.

»Ich bin nicht im Dienst, sondern habe einen Sorgenfreien Tag«, erklärte Lonely-Lokley ruhig. »Und ich wollte diese Zeit nutzen, meine Schulden zu bezahlen.«

»Welche Schulden?«

»Freundschaftsschulden!«, rief er, und nun war es an ihm, erstaunt aus der Wäsche zu sehen. »Habe ich etwas falsch gemacht? Ich habe doch Erkundigungen eingezogen.«

»Bei wem denn? Und worüber?«

»Sehen Sie, Sir Max, nachdem wir Freunde geworden waren, hatte ich mir überlegt, dass sich die Sitten des Ortes, an dem Sie Ihre Jugend verbrachten, von den hiesigen Sitten unterscheiden könnten. Und ich wollte vermeiden, Ihre Gefühle zufällig und unbewusst zu beleidigen. Also hab ich Sir Melifaro gefragt, weil sein Vater der größte Völkerkundespezialist ist.«

»Ach so! Sir Melifaro!« Langsam begann ich zu begreifen.

»Ja, weil ich in meinen Büchern keine Informationen über diesen Bereich des Lebens Ihrer Landsleute gefunden hatte. Zufällig ist der einzige zuverlässige Wissenschaftler, der zu diesem Thema geforscht hat, Sir Manga Melifaro. Und da wir seinen Sohn kennen ...«

»Den kennen wir allerdings ... Melifaro hat Ihnen also gesagt, dass man mich mit schwermütigen Liedern verwöhnen soll!?«

Ich wusste nicht, ob ich auf ihn sauer sein oder über die ganze Sache lachen sollte. Zum Glück klopfte es. Der Bote vom Gesättigten Skelett kam genau zur rechten Zeit!

»Sir Melifaro hat mir von den Traditionen der Leeren Länder und ein paar anderen Sitten und Gebräuchen erzählt. Er hat mir auch gesagt, dass wir bei Vollmond unsere Kleider tauschen sollen und am letzten Tag des Jahres ...«

»Na, was sollen wir seiner Meinung nach am letzten Tag des Jahres tun?«

»Uns besuchen und einander eigenhändig Swimmingpool, Bäder und Toiletten putzen. Stimmt schon wieder was nicht, Sir Max?«

Ich riss mich zusammen. Lonely-Lokleys Gefühle - so dachte ich mir - verdienten Schonung. Ihm wäre es bestimmt unangenehm zu erfahren, dass Melifaro ihm einen Streich gespielt hatte.

»Aber nein, Schürf, alles in Ordnung! Doch Sie hätten das wirklich nicht tun müssen. Ich bin ein normaler, zivilisierter Mensch. Ich habe mal einige Zeit an einem seltsamen Ort leben müssen. Dort herrschten merkwürdigere Sitten, als Sie es sich überhaupt vorstellen können. Aber ich habe mich nie an die barbarischen Bräuche meines Heimatlandes geklammert. Deshalb bedeutet für mich Freundschaft das Gleiche wie für Sie: ein gutes Verhältnis zwischen zwei Menschen, die sich sympathisch finden. Also brauche ich weder Kleidertausch noch gegenseitiges Putzen. Verstehen Sie?«

»Natürlich, Max. Diese Einsicht gereicht Ihnen zur Ehre. Hoffentlich habe ich Sie nicht beleidigt. Ich wollte nur den Sitten Ihrer Vorfahren Respekt erweisen und Ihnen eine Freude bereiten.«

»Das haben Sie, Schürf, das haben Sie! Vor allem durch Ihre Aufmerksamkeit und durch dieses Gespräch. Es ist wirklich alles in Ordnung.«

Nachdem ich meinen Gast bewirtet und beruhigt hatte, begleitete ich ihn zur Tür, blieb mit verständlichem Unwillen zurück und meldete mich dann als Erstes per Stummer Rede bei Melifaro: »Vielleicht hast du es schon vergessen, doch ich bin wirklich schrecklich, wenn ich zornig bin!«, rief ich empört (soweit sich Empörung per Stummer Rede mitteilen lässt).

»Was ist passiert?«, fragte Melifaro erstaunt.

»Was passiert ist?! Lonely-Lokley ist gerade mit einem ganzen Orchester bei mir aufgetaucht!«

»Stimmt was nicht, Max?«, fragte Melifaro besorgt. »Mein Vater hat mir erzählt, das sei bei euch so Sitte. Fühlst du dich jetzt nicht besser? Singt unser Lonely- Lokley vielleicht schlecht? Ich hatte immer den Eindruck, seine Stimme sei ganz passabel.«

Na so was!

Ich wusste noch immer nicht, ob ich sauer sein oder über die ganze Sache lachen sollte. Also ging ich ins Schlafzimmer, um meine Träume weiterzuverfolgen. Und das war richtig so. Wie sich im Nachhinein herausstellte, war das meine letzte Gelegenheit, auszuschlafen. Am Abend ging ich zum Dienst, wo ich leider ein paar Tage hängen blieb, weil ich in eine Klemme geriet, die man eigentlich nur aus klassischen Krimis kennt.

Der Alptraum entwickelte sich schnell und begann mit meiner Ankunft im Haus an der Brücke. Schon aus drei Straßen Entfernung hörte ich eine bekannte Stimme eine Schimpfkanonade abfeuern.

Ich war belustigt. Der Opa - gemeint ist natürlich General Bubuta - war so sauer, dass er nicht mal meine Schritte hörte. Mein Lieber, jetzt zeig ich's dir, dachte ich amüsiert, als ich an den geheimen Eingang zu unseren Behörden kam.

Geheim konnte man ihn allerdings nicht nennen. Die Tür war breit offen, und auf der Schwelle stand General Boch, das Gesicht nicht mehr rot, sondern schon lila vor Zorn.

Als er mich schließlich bemerkte, verstummte er abrupt, als habe jemand den Lauf der Welt unterbrochen.

Ich glaube, mein Auftritt war perfekt. Mein Todesmantel blähte sich im Wind, und mein Gesicht war tief erzürnt. Ich setzte mein gesamtes, wenn auch geringes Schauspieltalent ein, um meinen Ärger natürlich wirken zu lassen. Besonders ein nervöses Zucken, das Bubuta Angst einflößen sollte, gelang mir bestens - ein Zucken, das als Zeichen dafür galt, dass ich gleich Gift spucken würde. Ich weiß nicht, wie glaubwürdig ich war. Bubuta jedenfalls hat mir die Show abgekauft. Kein Wunder: Seine Panik war so groß, dass sie jede Gefahr ins Gigantische übersteigerte.

Eigentlich ist Boch kein Feigling. Man kann ihm mancherlei nachsagen, aber nicht, dass er feige ist. Doch es gibt ein unverbrüchliches psychologisches Gesetz: Der Mensch hat Angst vor dem Unbekannten. Und meine frisch erworbene, Schrecken verursachende Gabe, über die in letzter Zeit in der Stadt so viel geredet worden war, war eine geradezu ideale Verkörperung dieses Unbekannten. Ich verstand den armen General daher ganz gut.

Bubuta holte krampfhaft Luft. Kapitän Schichola, sein Adjutant, sah mich fast hoffnungsvoll an. Ich kam näher. Eigentlich hatte ich den Witz auf die Spitze treiben und Bubuta bespucken wollen, um zu sehen, was passieren würde. Theoretisch war meine Spucke für Boch keinesfalls lebensgefährlich, da ich weder erschrocken noch zornig war. Doch ich besann mich rechtzeitig eines Besseren. Den armen General - so überlegte ich - könnte der Schlag treffen, und wie hätte ich diese unangenehme Situation dann erklären sollen? Also änderte ich meinen Gesichtsausdruck und ließ statt Zorn ein freundliches Lächeln sehen.

»Guten Abend, Sir Boch! Guten Abend, Kapitän!«

Meine Höflichkeit gab Bubuta den Rest und enttäuschte seinen Adjutanten. Ich ließ beide verwirrt stehen und ging ins Büro von Sir Juffin Halli, das mir als Zuflucht erschien.

Juffin saß bester Laune am Schreibtisch. »Weißt du schon das Neueste, Max? Wir haben gerade erfahren, dass wir einen merkwürdigen Mordfall klären müssen. Auf den ersten Blick gehört die Sache nicht in unsere Abteilung, aber die Adler von Bubuta sind sowieso überfordert. Ihm selbst ist das natürlich klar, und deshalb geht es dem Armen auch sehr schlecht. Du hast bestimmt seinen Wutausbruch mitbekommen. Na, jetzt müssen wir uns aber das Opfer ansehen.«

Wir traten in den Korridor. Sofort gesellte sich Lady Melamori zu uns. Ich hatte sie noch nie so schlecht gelaunt erlebt. Seltsam - dabei hatte ich am Morgen doch den Eindruck, sie in heiterste Stimmung versetzt zu haben. Ob sie der Mordfall so verschreckt hatte? Wohl kaum. Für mich war der Tod eines Menschen noch immer ein aufwühlendes Ereignis, während er für sie längst Routine geworden war.

»Warum ist es so leise?«, staunte Juffin und horchte an der Wand, die unsere Räume von denen der Stadtpolizei trennt. »Ich dachte, Bubuta wollte die ganze Nacht durcharbeiten. Hat seine Stimme versagt? Das glaub ich zwar nicht, aber schön wär's!«

»Ich bin ihm vorhin begegnet und hab getan, als wäre ich richtig zornig«, sagte ich bescheiden.

Juffin sah mich überrascht an. »Sündige Magister! Ich werde eine Gehaltserhöhung für dich beantragen. Von mir aus kannst du mehr verdienen als ich. Das bist du schließlich wert.«

Lady Melamori lächelte nicht mal. Eigentlich war der wackere General Bubuta sowieso nie Lieblingszielscheibe ihrer Witze. Ich hatte den Eindruck, sie würde gleich in Tränen ausbrechen, legte ihr die Hand auf die Schulter und wollte etwas Tröstliches sagen, doch das war nicht nötig. Als ich mich zu ihr vorbeugte, begriff ich das selbst. Ich weiß nicht, welche geheimnisvollen Mechanismen da wirkten, doch in diesem Moment wusste ich, was mit Lady Melamori los war. Ich wusste es so genau wie sie. Unsere Verfolgungsmeisterin war tatsächlich bis auf weiteres unbrauchbar. Der misslungene Versuch, mir auf die Spur zu treten, hatte etwas in dem zerbrechlichen Mechanismus ihres gefährlichen Talents entzweigehen lassen. Sie brauchte Zeit, um sich wieder zu fangen. Das ist wie bei der Grippe, die den Bewohnern von Echo zum Glück unbekannt ist: Ob man will oder nicht - die Genesung braucht nun mal einige Zeit. Jetzt ging Lady Melamori zum Tatort, als ginge sie zu einer Hinrichtung, denn sie spürte wahrscheinlich, womit das alles enden würde: mit einer Katastrophe und einer noch tieferen Verunsicherung. Doch sie ging weiter, weil sie nicht gewohnt war, unüberwindliche Hindernisse zu meiden. Es klingt vielleicht dumm, doch ich hätte das Gleiche getan. Diese Frau gefiel mir immer besser.

Per Stummer Rede meldete ich mich bei Juffin. »Lady Melamori darf nicht arbeiten. Sie wäre sowieso zu nichts nutze. Und das weiß sie auch selbst. Warum haben Sie sie überhaupt gerufen? Zu Erziehungszwecken? «

Juffin musterte erst mich, dann Lady Melamori und setzte dann sein breitestes Lächeln auf: »Ab nach Hause, Unvergessliche!«

»Wieso das denn?«

»Das wissen Sie genau. Ihr Talent gehört nicht Ihnen, sondern dem Geheimdienst des Vereinigten Königreichs, und Sie haben jede Situation zu meiden, die diesem Talent schaden kann. Das ist doch eine Binsenweisheit! Und man soll den alten müden Leiter nicht mit privaten Problemen belasten, die er sowieso gleich vergisst. Verstanden?«

»Danke«, hauchte sie. Es fiel mir schwer, sie anzusehen.

»Gute Besserung«, brummte Juffin. »Gehen Sie nach Hause, Lady Melamori. Oder fahren Sie zu Meister Kima, Ihrem Großvater. Der wird Ihre Stimmung aufbessern. In ein paar Tagen sind Sie sicher wieder in Ordnung. Je schneller, desto besser.«

»Und wie wollen Sie den Mörder ohne mich finden?«, fragte sie schuldbewusst.

»Sir Max, die Lady beleidigt uns«, lächelte Juffin. »Sie glaubt, unser Geist sei erloschen, und vermutet, wir beide seien schreckliche Faulenzer, die eine Verfolgungsmeisterin nur begleiten, damit sie für uns die Spur des Mörders findet. Sollen wir nur auf sie sauer sein, oder sollen wir sie gleich umbringen?«

»So hab ich das doch gar nicht gemeint!« Auf dem Gesicht von Lady Melamori erschien ein schwaches Lächeln. »Ich werde mich bessern und bringe euch etwas von meinem Großvater mit. Und ihr verzeiht mir, ja?«

»Ich verzeihe Ihnen gewiss«, murmelte Juffin gedankenverloren. »Aber Sir Max? Sein Zorn ist schrecklich und hat sogar General Bubuta verstummen lassen.«

»Mit Max werd ich schon einig«, versicherte Lady Melamori.

Ich schmolz verständlicherweise vor Glück dahin, schaffte es dabei aber doch, auf den Beinen zu bleiben. Die Verursacherin meiner Verwirrung verabschiedete sich und verschwand um die Ecke, hinter der die Dienst- A-Mobile standen. Ihr verzeihendes Lächeln war für mich das letzte angenehme Erlebnis dieses Tages, dessen Fortsetzung sich erstaunlicherweise als schrecklich erwies.

Einige Schritte vom Fressfass - unserer Lieblingswirtschaft - entfernt war eine Frau getötet worden. Sie war jung und hübsch, aber nicht mein Typ. Es handelte sich um eine attraktive Brünette mit großen Augen, hohen Wangenknochen und breiten Hüften. In Echo ist diese Kombination erstaunlicherweise enorm beliebt. Dieser Frau aber hatte man die Kehle durchgeschnitten und dabei ein Lächeln von Ohr zu Ohr verpasst.

Juffin zufolge tötete man so in Echo nicht. Weder Männer noch Frauen, niemanden. Mord ist hier überhaupt sehr selten - sofern man nichts mit undisziplinierten Ordensmitgliedern zu tun hat, denn sonst muss man mit allem rechnen. Aber hier roch es nicht nach Magie - weder nach der verbotenen noch nach der erlaubten Variante. Wir zuckten die Achseln und gingen ins Büro zurück.

»Ehrlich gesagt hat mich der Tatort bei dem Ganzen am meisten schockiert«, bemerkte ich. »Die ganze Stadt weiß doch, dass das Fressfass Ihre Lieblingsgaststätte ist, Juffin. Was für ein Verrückter mag sich entschieden haben, ausgerechnet an diesem Ort zuzuschlagen?«

»Tja - einer ist es wohl gewesen«, murmelte mein Chef.

»Vielleicht kommt er ja von auswärts«, meinte ich.

»Bestimmt. Nicht mal in der Traurigen Zeit hat man Frauen in Echo so zugerichtet. Wie dumm das alles gelaufen ist! Wir hätten Melamori sehr nötig gehabt. Eine Stunde Ermittlung, und alles wäre klar gewesen! Stattdessen müssen wir uns jetzt ins Büro setzen und uns über alles Mögliche den Kopf zerbrechen.«

Kaum saßen wir im Büro, geschah ein zweiter Mord, diesmal nicht weit von der Posaunenstraße entfernt. Wieder lächelte das Opfer von Ohr zu Ohr, doch die Gioconda war diesmal ein wenig älter - ungefähr dreihundert Lenze. Es handelte sich um eine Heilerin namens Chrida, die die Bewohner der ganzen Straße besuchten, wenn sie Zahnschmerzen oder einfach nur Pech hatten. Chrida war eine noch jung wirkende, energische und - im Gegensatz zur Mehrzahl ihrer Kolleginnen - sehr nette Lady gewesen. Alle in der Nachbarschaft hatten sie gemocht, und im Trubel von Echo waren oft dankbare Briefe ihrer geheilten Patienten erschienen.

Man konnte ziemlich sicher sagen, dass es sich bei keiner der Taten um einen Raubmord handelte, da beide Opfer noch ihren Schmuck trugen. Anscheinend hatten sie kein Geld bei sich gehabt. Hier in Echo heißt es, Geld und Liebe vertragen sich schlecht. Deshalb nimmt keine Frau Geld in die Hand, sondern fasst es allenfalls mit Handschuhen an. Auch Männer haben ihre Vorsichtsmaßnahmen, doch Frauen sind viel abergläubischer. Allerdings haben die Bewohner des Vereinigten Königreichs sich im Lauf der Zeit angewöhnt, Schecks und Wechsel als Geldersatz zu verwenden und sie in den letzten Tagen des Jahres abzurechnen. Ich persönlich bevorzuge Barzahlung und bin deshalb schon oft in heikle Situationen geraten. Schon in mancher Gaststätte wollte ich dem Wirt Geld in die Hand drücken und habe dafür einen entrüsteten Blick geerntet, weil er die Handschuhe in der Küche hatte liegen lassen und meinetwegen hin und her laufen musste.

Jetzt hatten wir also in kürzester Zeit zwei Leichen. Und keine Ideen.

Und auch die Nacht war ereignisreich, denn wir bekamen vier weitere Frauen gemeldet, deren Lächeln sich aufs Haar glich. Alter, Aussehen und Lebensumstände der unglücklichen Opfer waren unterschiedlich. Sie lebten sogar in den entferntesten Ecken der Stadt. Offenbar hatte der Mörder das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden wollen und seine grausamen Taten auf einer Besichtigungstour durch das nächtliche Echo begangen.

In den frühen Morgenstunden bekamen wir eine Atempause. Die Mordserie hörte auf. Bestimmt war der Täter müde geworden und hatte sich entschieden, ein Nickerchen zu machen. Juffin ließ alle laufenden Geschäfte durch Melifaro und Lonely-Lokley erledigen. Sir Kofa Joch zog los, um sich in den Wirtshäusern nach Hinweisen auf den Täter umzuhören. Mir befahl der Ehrwürdige Leiter, ihm keinen Schritt von der Seite zu weichen. Besonders nützlich war ich allerdings nicht. Aber vielleicht sollte ich für meinen Chef ja eine Art Muse sein. Diese Rolle allerdings gelang mir auch nicht allzu gut, denn die ganze Nacht war Juffin auf keinen klugen Gedanken gekommen.

Den siebten Mord bekamen wir in der Mittagszeit geliefert. Er trug die gleiche Handschrift wie die vorigen, leider aber keinen Absender.

Ehrlich gesagt hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt Folgendes in Erfahrung gebracht: Der Täter war sehr wahrscheinlich ein Mann, denn die Abdrücke, die er im Sand hinterlassen hatte, wiesen zwar kein Profil auf, waren für eine Frau jedoch eigentlich zu groß. Bei diesem Mann handelte es sich wohl um einen Fremden, denn sein Benehmen war für hiesige Verhältnisse ausgesprochen ungewöhnlich. Außerdem musste er Besitzer eines großen Messers sein und schien - da er seine Opfer nicht ausraubte - vermögend. Wahrscheinlich hatte er keine Verbindung zu einem magischen Orden, denn er hatte bei seinen Taten keinerlei Magie angewandt. Obendrein war er sicher nicht verrückt, weil Geisteskrankheit - wie sich erwiesen hatte - einen schwachen, aber nachweisbaren Geruch hinterlässt, und dieser Geruch war an keinem Tatort zu spüren.

»Es sieht so aus, Max, als würdest du ein epochales Ereignis erleben«, sagte Juffin und legte endlich die Tabakspfeife weg, die er die letzten fünf Stunden in der Hand gehabt hatte. »Bei diesem Fall verstehe ich nämlich absolut nichts. Wir haben sieben Leichen innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden, wir haben einen Haufen Beweismaterial, das uns kein bisschen weiterbringt, und wir können sicher sein, dass keine Magie im Spiel ist - weder erlaubte noch unerlaubte. Vielleicht ist es Zeit, all diese Fälle wieder an die Behörde von General Bubuta zu übergeben und unser Versagen zu beschweigen.«

»Sie wissen doch, dass es nie ...«, begann ich vorsichtig«

»Ja, ich weiß. Aber es riecht hier nach keiner Unsauberkeit. Kann man wirklich Magie für solch grausame Morde benutzen? Das vermag ich mir einfach nicht vorzustellen. Wenn der Täter geisteskrank wäre ... Aber danach hat es, wie gesagt, nicht gerochen.«

»Wir sollten zum Mittagessen gehen, Juffin«, seufzte ich. »Die Wände müssen sich ein wenig von uns erholen.«

Doch auch im Fressfass war die Stimmung irgendwie schlecht. Madame Zizinda schien gerade geweint zu haben. Das Essen übertraf wie immer unsere Erwartungen, doch wir waren nicht fähig, es wirklich zu genießen. Juffin bestellte eine Flasche Dschubatinischen Säufer, roch gedankenverloren daran und stellte sie zur Seite.

»Das ist wohl nicht das, was man nach einer schlaflosen Nacht braucht«, bemerkte er.

Wahrscheinlich war das der schlimmste Tag seit meiner Ankunft in Echo. Na eben: seit meiner Ankunft. Das war noch nicht lang her. Ich hätte wirklich früher auf den Gedanken kommen können, dass sich nicht nur Touristen aus den Nachbarstädten, sondern auch Bewohner fremder Welten hier herumtreiben mochten - genau wie ich einer war. Sündige Magister!

»Juffin«, flüsterte ich. »Vielleicht ist der Mörder ja ein Landsmann von mir?«

Mein Chef zog die Augenbrauen hoch und nickte verständnisvoll. »Wir müssen zurück zum Haus an der Brücke. So ein Gespräch ist nicht für fremde Ohren bestimmt. Sag Madame Zizinda, sie soll mir Kamra und noch ein stärkeres Getränk ins Büro schicken - aber nicht dieses Zeug hier«, sagte er und zeigte hasserfüllt auf den Dschubatinischen Säufer.

In seinem Arbeitszimmer musterte Juffin mich eindringlich und fragte: »Warum?«

»Weil es alles erklärt. Erstens ist keine Magie im Spiel, jedenfalls keine sichtbare. Zweitens können sich außer mir doch auch andere fremde Gäste in Echo befinden. Egal wie sehr man eine Tür verbarrikadiert - solange das Haus steht, bleibt es eine Tür. Und drittens, Juffin, haben Sie immer gesagt, dass man in Echo so niemanden umbringt. Aber dort, wo ich geboren wurde, kommt das bei Verrückten bisweilen vor. Bei manchen Verrückten jedenfalls. Das ist mein drittes und stärkstes Argument. Dass es solche Morde gibt, weiß ich genau, weil ich darüber oft Berichte im Fernsehen gesehen habe.«

»Wo hast du diese Berichte gesehen?«

»Ach, egal«, meinte ich, weil ich nicht wusste, wie ich jemandem, der so ein Gerät noch nie gesehen hatte, kurz und bündig erklären sollte, was ein Fernseher ist. Dann aber raffte ich mich auf: »Sagen wir so: Es handelt sich um die Möglichkeit, zu Hause zu sitzen und zu sehen, was in anderen Ecken der Welt passiert. Natürlich nicht alles, sondern nur die wichtigsten Ereignisse. Und dazu noch Spielfilme. All das geschieht mit Hilfe eines speziellen Geräts. Es gibt also keine Magie. Aber wer weiß, wie stark Ihr Zeiger neben einem Fernseher ausschlagen würde.«

»Hättest du doch einen dieser Fernseher mitgenommen! Scheinbar ist das ein interessantes Gerät.«

»Und was halten Sie von meiner Theorie?«, versuchte ich, meinen Chef wieder auf das anstehende Problem zu lenken. »Könnte ein Landsmann von mir der Täter sein?«

»Na ja, diese Version ist zwar nicht gerade hübsch, aber logisch oder wenigstens nach deinem Geschmack.

Man muss auch in diese Richtung ermitteln. Ich fahre jetzt zu Maba Kaloch - und du ... kommst mit, um ihn kennenzulernen. Maba kennt deine Geschichte. Also brauchst du mit deiner Barbarenlegende gar nicht erst anzufangen.«

»Sir«, rief ich empört. »Das ist nicht meine, sondern Ihre Legende und das hübscheste Werk der Gattung Künstliche Falsifikation: »Sir Max, der aus dem Grenzgebiet zwischen der Grafschaft Wuk und den Leeren Ländern stammt; ein furchtbarer Barbar, aber ein genialer Detektiv.-«

»Ja, diese Legende stammt von mir«, seufzte Juffin. »Siehst du, ich tauge doch noch zu etwas. Gehen wir!«

Doch jetzt muss ich Ihnen erzählen, wie ich nach Echo geraten bin, weil das - so seltsam es klingen mag - große Bedeutung für das weitere Geschehen hat. Nach neunundzwanzig Jahren eines verworrenen Lebens schob der Max, der ich mal war, als Redakteur vom Dienst Nachtschicht bei einer großen Zeitung. Dieser Max hatte sich längst daran gewöhnt, seinen Träumen große Bedeutung beizumessen, denn im Laufe der Zeit hatte sich seine Lage so entwickelt, dass er des Lebens nicht froh wurde, wenn es ihm in seinen Träumen nicht gut ging. Träume erschienen mir damals viel realer und wichtiger als die Wirklichkeit. Ich bemerkte kaum einen Unterschied zwischen beiden Welten und nahm meine Probleme oft aus dem Traum in die Wirklichkeit (und umgekehrt) mit. Manchmal allerdings hatte ich auch das Glück, dass auf diesem Wege angenehme Ereignisse die Welten wechselten.

So unterschiedlich meine Träume auch waren - ein paar Orte tauchten erstaunlich regelmäßig auf. Zum Beispiel eine Stadt in den Bergen, die nur über eine Drahtseilbahn mit der Außenwelt verbunden war; ein schattiger Landschaftsgarten, den ein murmelnder Bach teilte; ein paar Sandstrände an einer düsteren Meeresküste. Und dann war da noch eine Stadt, deren Mosaikgehsteige mich vom ersten Moment an betörten. In dieser Stadt hatte ich auch mein Lieblingslokal, an dessen Namen ich mich nach dem Aufwachen aber nicht zu erinnern vermochte. Erst als ich später ins echte Fressfass kam, begriff ich, dass ich das Lokal schon lange kannte. Ich fand sogar meinen Lieblingsplatz wieder: einen Tisch zwischen der Theke und dem Fenster zum Hof.

In diesem Lokal hatte ich mich gleich wie zu Hause gefühlt. Die wenigen Kunden versammelten sich an der langen Theke. Alle Anwesenden kamen mir wie alte Freunde vor, und ihre exotische Kleidung befremdete mich nicht. Im Übrigen betrachteten auch sie meine Kleider ohne Verwunderung. Echo ist die Hauptstadt eines großen Landes und zudem einer der größten Flusshäfen dieser Welt. Da ist es schwierig, die Bewohner zu verblüffen, und mit exotischer Kleidung klappt es erst recht nicht.

Im Laufe der Jahre hatte einer der Stammgäste begonnen, mich zu grüßen, und ich grüßte zurück. Wer hätte sich nicht über solche Streicheleinheiten im Schlaf gefreut?

Später begann dieser Stammgast, bei dem es sich natürlich um Sir Juffin Halli handelte, sich an meinen Tisch zu setzen und sich ein wenig mit mir zu unterhalten. Juffin hat wie kein anderer die Gabe, mit jeder beliebigen Person Kontakt zu knüpfen, und so trafen wir uns eine ganze Weile zum Plaudern in diesem Cafe. Manchmal erzählte ich meinen Freunden in der realen Welt ein paar der außergewöhnlichen Geschichten, die ich von meinem neuen Bekannten gehört hatte. Sie rieten mir, alles aufzuschreiben, doch das habe ich irgendwie nicht geschafft. Ich spürte, dass manche Sachen nicht aufs Papier gehörten, und ehrlich gesagt war ich auch zu faul, mich Tag für Tag hinzusetzen und ein Traumprotokoll zu führen.

Unsere seltsame Freundschaft begann plötzlich und für mich absolut unerwartet. Eines Tages - es ist schon viele Jahre her - brach mein mir schon vertraut gewordener Gesprächspartner mitten im Wort ab, sah mit der komischen Ernsthaftigkeit eines Verschwörers nach links und rechts und sagte geheimnisvoll flüsternd: »In Wirklichkeit schläfst du, Max. Dies alles ist nur ein Traum.«

Ich war ganz verwirrt, erhob mich so rasch, dass mein Stuhl umstürzte, und erwachte auf dem Boden meines Schlafzimmers.

In den nächsten sieben Jahren träumte ich alles Mögliche, aber nie wieder von den Mosaikgehsteigen jener wunderbaren Stadt. Ohne diese Bilder war mir langweilig, und mein Leben und meine Geschäfte liefen reichlich schlecht. Ich verlor das Interesse an den alten Freunden, stritt mich mit Freundinnen, wechselte die Arbeitsstelle öfter als das Hemd und warf Bücher weg, in denen ich keinen Trost gefunden hatte. Außerdem zettelte ich immer neue Streitereien an, als wollte ich die ungeliebte Wirklichkeit durch den Wolf drehen.

Im Laufe der Zeit beruhigte ich mich natürlich wieder und genehmigte mir ein Füllhorn neuer Lebensfreuden: Freunde, Mädchen, eine erträgliche Arbeit, eine hübsche Wohnung und eine eigene Bibliothek, die mehr von den Ambitionen als vom Geschmack ihres Besitzers zeugte. In der Kneipe bestellte ich Kaffee statt Alkohol, rasierte mich jeden zweiten Tag, duschte morgens und gab die Wäsche in die Reinigung. Ich lernte, mich zu beherrschen und giftige Bemerkungen zu machen, statt meine Fäuste zu benutzen. Und dennoch war ich nicht stolz auf mich, sondern spürte wieder die gleiche dumpfe Schwermut, die mich schon in meiner Jugend verrückt gemacht hatte. Ich fühlte mich wie ein Toter, der aus dem Grab gestiegen ist und sich an die leise, unauffällige Existenz unter lauter Zombies gewöhnt.

Aber ich hatte teuflisches Glück.

Eines Morgens, als ich nach der Nachtschicht in der Redaktion schlafen gegangen war, sah ich im Traum die lange Theke wieder, meinen Lieblingsplatz und den alten Bekannten, der mich am Nachbartisch erwartete. Ich erinnerte mich sofort, wie unser letztes Treffen geendet hatte. Ich begriff auch rasch, dass ich träumte, und fiel deshalb auch nicht vom Stuhl, erwachte nicht und war auch nicht erschrocken. Ich hatte im Laufe des Erwachsenwerdens eben gelernt, mich zu beherrschen.

»Was geschieht hier?«, fragte ich. »Und wie?«

»Das weiß ich nicht«, entgegnete mein alter Freund. »Meiner Meinung nach weiß das keiner. Es geschieht nun mal, und es ist mein Hobby, die Ereignisse möglichst genau zu beobachten.«

»Sie wissen nicht, was hier los ist?«, begann ich verwirrt und hatte den Eindruck, er müsste Antworten auf all meine Fragen wissen.

»Darum geht es nicht«, fiel er mir ins Wort. »Sag mir lieber, ob es dir hier gefällt.«

»Was für eine Frage? Das ist mein Lieblingstraum! Als ich ihn nicht mehr träumte, dachte ich, ich werde wahnsinnig.«

»Verstehe. Und gefällt es dir dort, wo du lebst?«

Ich zuckte die Achseln. Damals hatte ich einige Probleme - keine Katastrophen (die gehörten endgültig der Vergangenheit an), sondern langweilige und alltägliche Misshelligkeiten. Ich war einfach glücklicher Besitzer eines total misslungenen, ruhigen und maßvollen Lebens und hatte die große Illusion, ich hätte Besseres verdient.

»Du bist ein Nachtmensch«, sagte mein Gesprächspartner. »Und du hast ein paar Schrullen, oder? Und da, wo du lebst, stören dich diese Schrullen vermutlich im Wachzustand.«

»Stören?«, rief ich aufgebracht. »Das ist das falsche Wort.«

Ich bemerkte gar nicht, dass ich diesem sympathischen älteren Mann alles erzählte, was ich auf dem Herzen hatte. Warum hätte ich mich auch zusammenreißen sollen? Schließlich war das Ganze - wie ich seit sieben Jahren wusste - nur ein Traum.

Er hörte mir teilnahmslos zu, lachte mich aber wenigstens nicht aus, wofür ich ihm bis heute dankbar bin.

»Tja, was soll ich dazu sagen?«, meinte er, als ich fertig war. »Das alles ist ziemlich schrecklich, aber ich habe dir ein tolles Angebot zu machen. Es gibt in dieser Stadt, die dir so gut gefällt, einen interessanten und gut dotierten Job für dich. Obendrein handelt es sich um Nachtarbeit, und die hast du dir ja immer gewünscht.«

Ich dachte nicht mal über sein Angebot nach, denn ich hatte noch nicht begriffen, dass die Entscheidung, die ich im Traum träfe, Auswirkungen auf meine Realität haben würde. Doch aus reiner Neugier wollte ich alle Einzelheiten erfahren. »Gut, nehmen wir mal an, Sie hätten mich angeworben. Wollen Sie mir weismachen, es gäbe in der ganzen Stadt außer mir keinen Menschen, der nachts nicht schlafen kann?«

»Ach, Leute, die an Schlaflosigkeit leiden, gibt es übergenug. Ich heiße übrigens Juffin, Sir Juffin Halli, stehe zu Diensten! Du brauchst dich nicht zu bemühen. Ich weiß, dass du Max heißt, und dein Nachname interessiert mich nicht. Du wirst staunen, aber ich weiß von dir so einiges. Zum Beispiel, dass du ein rares Talent hast, das sehr gut zu der Behörde passt, die ich leite. Bisher hattest du leider keine Gelegenheit, das Vorhandensein dieses Talents überhaupt zu bemerken.«

»Was für ein Talent haben Sie denn bei mir ausgemacht? Ich hoffe, nichts Kriminelles!«, rief ich und kicherte blöd.

»Na siehst du - du hast es selbst erraten! Bravo!«

»Meinen Sie das ernst? Sind Sie etwa ein Mafioso?«

»Ich weiß zwar nicht, was das ist, doch ich bin garantiert viel schlimmer.«

»Ein Mafioso ist der Kopf einer kriminellen Organisation. Ein Bandit reinsten Wassers. Und was sind Sie?«

»Ach, ganz das Gegenteil! Ich bin Leiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps der Stadt Echo. Streng genommen bin ich also auch ein Bandit reinsten Wassers, aber alles geschieht im Namen des Gesetzes. Und meine Behörde interessiert sich besonders für Verbrechen, bei denen Magie im Spiel ist.«

»Für welche Verbrechen interessieren Sie sich?«, fragte ich so ungläubig wie misstrauisch.

»Das hast du doch gehört - für Verbrechen, bei denen Magie im Spiel ist. Da brauchst du gar nicht die Stirn zu runzeln. Ich halte dich nicht zum Narren! Dazu bin ich jetzt ohnehin nicht aufgelegt. Pass auf: Wenn wir gut miteinander auskommen, wirst du auf all deine Fragen eine Antwort bekommen - und sogar mehr als das.«

»Gut auskommen tun wir ja schon lange miteinander.«

»Und das ist auch gut so. Ich dachte schon, ich müsste dich überreden, und hatte mir sogar Argumente zurechtgelegt.«

»Sagen Sie mir besser, was ich tun soll, wenn ich meinen Dienst bei Ihnen antrete.«

»Du sollst das Nachtantlitz des Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps sein. Diese Truppe schläft allerdings bei Nacht, und darum, Max, bist du - grob gesagt - dein eigener Chef.«

»Kein schlechter Posten für einen Gastarbeiter!«

»Stimmt. Sag mal: Wenn ich jetzt ein - wie du es genannt hast - Mafioso wäre, wärst du dann auch einverstanden, bei mir anzufangen?«

»Natürlich«, antwortete ich ehrlich. »Ich kenne Ihre Lebensumstände nicht und sehe darum keinen Unterschied zwischen Verbrechern und denen, die sie jagen.«

»Das hast du sehr gut erfasst, Max. Weiter so! Die Wahrheit ist nicht so wichtig, als dass man sie verbergen müsste.«

Dieser Sir Juffin mit seinem Raubvogelgesicht und den kühlen Augen eines klugen Killers hatte ein erstaunlich weiches Lächeln. Ich war lange nicht mehr so verzaubert gewesen - weder im Traum noch in der Wirklichkeit. Ich hatte große Lust, bei diesem seltsamen Menschen zu bleiben - egal was er tatsächlich tat und welche Rolle er für mich im Sinn hatte. Vielleicht nahm ich unser Gespräch deshalb so ernst, als würde es nicht im Traum, sondern in der Realität stattfinden. Ich wollte ihm einfach glauben! Schon lange hatte ich nichts mehr so sehr gewollt.

»Wir müssen noch ein paar technische Details besprechen«, seufzte Sir Juffin.

»Nämlich?«

»Nämlich, wie du hierher gerätst.«

»Bin ich denn noch nicht bei Ihnen? Ach so!«

»Genau das ist das Problem! Du glaubst, du befindest dich in der Wirklichkeit - dieses Hirngespinst ist völlig normal ... na ja, beinahe normal. Die Leute hier stören sich nicht an dir, bemerken aber schon mit bloßem Auge den Unterschied. Deshalb wirst du Probleme mit deinem Körper haben, der sich gerade unter der Bettdecke wälzt. Wenn dein Körper stirbt, ist das Leben für dich zu Ende. Deshalb musst du nicht nur im Geiste, sondern materiell zu mir übersiedeln. Und dein Körper befindet sich im Moment woanders.«

»Ach so! Mein Körper ist das Problem!« Ich ließ den Kopf hängen.

»So ist das. Hör mir deshalb aufmerksam zu. Wenn du aufwachst, musst du etwas beinahe Unmögliches tun. Erstens sollst du dich an unser Gespräch erinnern. Damit dürftest du keine Probleme haben. Falls aber doch, müssen wir eben noch mal von vorn beginnen. Zweitens reicht es nicht, dich an das Gespräch zu erinnern - dir muss auch klar sein, dass mein Angebot absolut ernst gemeint ist. Du musst dich davon überzeugen, dass manche Träume in der Wirklichkeit weitergehen. Und falls dir das nicht gelingt, musst du bereit sein auszuprobieren, ob sich Träume in die Wirklichkeit verschieben lassen - egal ob du das aus Langeweile oder aus Neugier ermittelst ...«

»Kein Problem. Mein Leben ist ein einziges Patchwork aus Neugier und Langeweile.«

»Lass mich ausreden. Der Mensch neigt dazu, das Unerklärliche mit der Behauptung, es sei nur ein Produkt der Fantasie, abzutun. Du musst dich demnächst von der Richtigkeit meiner Worte überzeugen, und das darf nicht länger als ein paar Stunden dauern. Was das anlangt, kann ich dir nicht helfen. Du musst einfach an den Erfolg glauben.«

»Schon gut«, meinte ich beleidigt. »Ich bin doch nicht blöd.«

»Blöd bist du nicht, aber die Fähigkeit, an Wunder zu glauben, gehört nicht gerade zu deinen Stärken. Schließlich hatte ich das Vergnügen, dich jahrelang zu beobachten, Max.«

»Und wozu?«

»Nicht wozu, sondern warum! Darum! Ich habe dich vor vielen Jahren zufällig entdeckt und schnell begriffen, dass du nicht zu den Hiesigen gehörst. Dann aber stellte ich fest, dass du noch nicht reif genug warst, dich in Wirtshäusern herumzutreiben. Und dann begriff ich, dass du einfach nicht wirklich bist, sondern ein Phantom, ein Hirngespinst, der Schatten eines Traums. Hier passiert spät in der Nacht so manches, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass du dahintersteckst. Übrigens hat niemand außer mir bemerkt, dass du dich träumend unter uns Hiesigen aufgehalten hast.«

»Und Sie ...«

»Ich hab es bemerkt, weil ich mich in diesen Dingen einigermaßen auskenne. Und weißt du was? Ich hab dich gesehen und gleich gewusst, dass sich aus diesem Jungen das ideale Nachtantlitz meiner selbst machen lässt. Du bist zwar noch nicht das optimale, aber schon ein sehr achtbares Nachtantlitz.«

Ich war erschüttert. Schon lange hatte ich keine Komplimente mehr bekommen. Und ein so schmeichelhaftes und unerwartetes Kompliment hatte mir noch niemand gemacht. Inzwischen weiß ich, dass Juffin Halli mich damals so gelobt hat, damit ich leichter an seine Existenz glaubte. Denn sosehr mein Verstand mir auch hätte weismachen wollen, nur geschlafen und einen dummen Traum gehabt zu haben: Die Vorstellung, auch die Schmeicheleien des bezaubernden Juffin wären dann nur ein Traum gewesen, hätte ich schlicht nicht ertragen.

»Wenn du dir wirklich sicher bist, dass du den Übergang in die andere Welt riskieren willst, dann tu Folgendes ...«, begann Juffin, schwieg aber plötzlich, rieb sich die Stirn und befahl mir dann: »Gib mir die Hand!«

Ich streckte die Rechte aus. Juffin griff gierig nach ihr und murmelte hastig und leise, ja beinahe unverständlich: »Spät in der Nacht gehst du an einen Ort namens Grüne Straße. Merk dir das. Dort darfst du nicht stehen bleiben, sondern musst auf und ab gehen, eine Stunde oder auch zwei - so lange, wie es eben dauert. Du wirst einen Wagen sehen, den man bei euch Straßenbahn nennt. Sie wird leer sein und auf deiner Höhe halten. Steig ein und setz dich. Die Bahn wird weiterfahren. Tu, was du willst, aber setz dich nicht auf den Platz des Fahrers - das wäre zu riskant. Sei weder aufgeregt noch ungeduldig. Die Reise kann lange dauern. Nimm darum ein paar belegte Brote und etwas zu trinken mit. Deine Vorräte sollten ein paar Tage reichen. Ich glaube nicht, dass die Reise lange dauert, aber es kann alles Mögliche passieren. Und vor allem: Erzähl niemandem davon. Keiner wird dir glauben, und die Zweifel anderer können der Magie nur schaden.«

Endlich ließ Juffin meine Hand los, öffnete die Augen und lächelte.

»Den letzten Rat merk dir gut - er kann dir in Zukunft noch sehr nützlich sein. Hast du alles verstanden?«

»Ja«, nickte ich und massierte dabei meine endlich befreite Hand.

»Und wirst du dich auch daran halten, Max?«

»Natürlich. Aber durch die Grüne Straße fährt keine Straßenbahn.«

»Gut möglich«, meinte Juffin und nickte gleichgültig. »Aber willst du etwa mit einer normalen Tram von Welt zu Welt reisen? Und abgesehen davon: Was ist eigentlich eine Straßenbahn?«

Nach dem Erwachen konnte ich mich mühelos an meinen Traum erinnern. Er stand mir bis ins kleinste Detail vor Augen. Viel schwieriger war es zu begreifen, wo ich mich befand, doch auch das gelang mir schließlich.

Es war drei Uhr nachmittags. Ich kochte mir Kaffee. Dann setzte ich mich mit einer Tasse und der ersten Zigarette des Tages in einen Sessel. Ich musste nachdenken. Nachdem ich den letzten Schluck genommen hatte, beschloss ich, dass es hier nichts zu überlegen gab. Auch wenn es nur ein ganz normaler Traum gewesen sein sollte: Was hatte ich schon zu verlieren? Ich würde also ein wenig durch die Grüne Straße bummeln. Das war schließlich keine große Anstrengung. Ich gehe gern spazieren, und diese Nacht hatte ich ohnehin frei. Und wenn der Traum mehr war als nur ein Hirngespinst? Na, dann wäre das eine Chance - und was für eine!

Ehrlich gesagt hielt mich in meiner Welt nichts. Mein Leben war ein großer, schrecklich uninteressanter Unfug. Ich konnte nicht mal jemanden anrufen, um Abschied zu nehmen. Na ja, ich hätte schon Leute zur Auswahl gehabt, mit denen ich hätte telefonieren können. In meinem Adressbuch, das ich mir etwa einen Monat zuvor zugelegt hatte, befanden sich mehr als fünfzig Nummern. Doch ich hatte keine Lust, mich mit jemandem zu unterhalten. Und noch weniger Interesse hatte ich daran, jemanden zu treffen. Vielleicht hatte ich bloß eine Depression. Auf jeden Fall wartete die nächste Depression sicher schon auf mich. Deshalb traf ich meine Entscheidung - den wichtigsten Entschluss meines Lebens - erstaunlich schnell. Noch heute wundere ich mich darüber.

Mich überkam eine seltsame, aber angenehme Verwirrung. Ich wollte weder meinen Haushalt auflösen noch den engsten Freunden von meinen geheimen Absichten erzählen. Den Abend verbrachte ich mit furchtbar ermüdenden Überlegungen und Unmengen von Tee vor dem Fernsehapparat. Nicht mal die vorletzte Staffel von Twin Peaks begriff ich als Omen. Ich dachte nur, dass ich an Agent Coopers Stelle im schwarzen Wigwam geblieben wäre, statt in die Realität zurückzukehren und das eigene Leben und das anderer zu zerstören.

Im Übrigen verhielt ich mich, als wäre das Heraustragen des Mülleimers das wichtigste Ereignis des Tages. Als ich meine Kaffeekanne und einen dreitägigen Vorrat belegter Brote in den Rucksack packte, fühlte ich mich wie ein Verrückter. Doch ich dachte mir, ich könnte zur Abwechslung auch mal ein wenig verrückt sein. Schließlich war ich in den letzten fahren vorbildlich vernünftig gewesen - und das Ergebnis war nicht gerade beeindruckend.

Ich verließ das Haus um etwa ein Uhr nachts. Der Weg in die Grüne Straße dauerte ungefähr zwölf Minuten. Dort musste ich mich ziemlich lange herumtreiben. Einer der letzten Eindrücke in meiner alten Heimat war die Zeitangabe der Digitaluhr am Gebäude einer Telefongesellschaft. Ihre riesigen Ziffern meldeten 02 : 02 - so eine Symmetrie habe ich immer für ein gutes Zeichen gehalten. Warum, weiß ich nicht.

Das Klingeln der Straßenbahn, das erstaunlich laut durch die stille Nacht drang, lenkte mich vom Betrachten der Nullen und Zweien ab. Ich war nicht erschrocken, doch mir war schwindlig, und ich sah alles doppelt und konnte nicht fassen, dass es in dieser schmalen Straße tatsächlich Trambahnschienen geben sollte. Besonders aufmerksam betrachtete ich das kleine Schild, auf dem stand, ich würde mich an einer Haltestelle der Nummer 432 befinden. Aus irgendeinem Grund schockierte mich die dreistellige Nummer der Linie viel mehr als die Tram selbst, denn damals gab es in der Stadt nur dreizehn Straßenbahnlinien. Ich kicherte nervös, und mein Lachen kam mir so unheimlich vor, dass ich sofort verstummte. In diesem Moment kam die Tram um die Ecke. Anscheinend fuhr sie schnell wie ein Express.

Ich hatte keine Lust, in die Fahrerkabine zu schauen, doch manchmal tut man ja genau das, wozu man keine Lust hat. So blickte ich denn in ein breites Gesicht, das einem Kannibalen zu gehören schien und mit einem kleinen, schmalen Schnauzbart bestückt war. Die Äuglein, die in dem fetten Gesicht schwammen, funkelten ungeheuer begeistert. Schwer zu sagen, was mich eigentlich so erschreckt hatte, doch nun begriff ich, was in der Seele der Bardot passiert war, als sie auf die erste Prozession zorniger Götter traf. Worte wie Angst, Schock oder Erschütterung können nicht wiedergeben, was ich damals empfand.

Die Tram bremste ab und näherte sich der Haltestelle. Da begriff ich, dass dies mein Ende war - egal ob ich einsteigen oder mich umdrehen und wieder nach Hause gehen würde. Ich schielte auf den Fahrerplatz, der inzwischen glücklicherweise geräumt worden war. Plötzlich fühlte ich mich besser. Eine Trambahn ohne Fahrer auf einer Straße ohne Gleis; dazu die Strecke 432 von Nirgendwo nach Nirgendwo - all das war merkwürdig, aber durchaus erträglich. Eine solche Verzerrung der Wirklichkeit war mir sehr recht. Und die Abwesenheit des Kannibalengesichts war mir noch lieber.

Die Tram hielt. Sie war schon etwas älter und nicht besonders auffällig. An der zerkratzten Außenwand stand »Sex Pistols« und »Michael spinnt«. Ich war dem unbekannten Michael unendlich dankbar: Er hatte mir das Leben, vielleicht auch nur den Verstand, vielleicht aber auch beides gerettet.

Nachdem ich die Diagnose von Michaels psychischer Verfassung zur Kenntnis genommen hatte, wurde ich ruhiger. Ich stieg in die leere Straßenbahn, setzte mich ans Fenster und legte meinen Rucksack auf den Nebensitz. Die Tür schloss sich sehr sanft, und ich spürte nichts Bedrohliches. Dann fuhren wir los. Sogar das Tempo der Straßenbahn war normal - jedenfalls erschien es mir so. Und auch die Aussicht war alles andere als ungewöhnlich: Ich fuhr durch mir halb und halb bekannte Straßen, deren Dunkelheit da und dort von Laternenlicht unterbrochen wurde. Mitunter sah ich beleuchtete Fenster und hin und wieder eine erbärmlich flimmernde Neonreklame. Ich fühlte mich gut und ruhig - als würde ich meine Großmutter in ihrem Häuschen weit vor der Stadt besuchen. Dort war ich seit vierzehn Jahren nicht mehr gewesen, meine Großmutter war tot und das Häuschen verkauft. Nie wieder habe ich mich so frei und glücklich gefühlt wie dort ... Ich sah mein Gesicht in der Scheibe: beseelt, erstaunt und sichtlich verjüngt. Wie sympathisch ich doch sein konnte!

Auf einem der Sitzplätze fand ich eine Art Reader’s Digest und fing genüsslich an zu lesen. Viele Leute mögen solche Sammelbände, und in meiner Situation hielt ich es für besser, mein Gehirn mit dieser ökologisch sauberen Droge zu verstopfen. Die Zeit verging wirklich wie im Flug - und so mag ich es am liebsten.

Was gab ich nur für einen traurigen Helden ab! Da veränderte sich mein Leben von Grund auf, und was tat ich? Ich las in einer abgegriffenen Scharteke und aß dazu mein Butterbrot. Aber so bin ich eben: Wenn ich nicht begreife, was um mich herum passiert, suche ich mir eine Beschäftigung, die mich ablenkt. Im Alltagsleben benehme ich mich oft bizarr; wenn dagegen ein Wunder geschieht, verwandle ich mich sofort in einen phlegmatischen Langweiler. Das ist natürlich nur instinktiver Selbstschutz.

Als ich aufhörte zu lesen, merkte ich, dass es vor den Fenstern heller geworden war. Was ich draußen sah, ließ mich innerlich zittern: Zwei freundlich lächelnde Sonnen stiegen - die eine rechts, die andere links, damit sich die Augen nicht langweilten - über den Horizont. Erlebte ich etwa den Sonnenaufgang im Doppelpack?

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht in Panik zu geraten, sah nicht aus dem Fenster, kniff die Augen zu, gähnte und setzte mich bequemer hin. Merkwürdigerweise gelang mir das. Mein Sitzplatz wurde buchstäblich größer und weicher. Mein Kopf fiel auf den mit Butterbroten gefüllten Rucksack, und ich sank in Tiefschlaf. Keine Alpträume quälten mich: Anscheinend machten die für meine Träume verantwortlichen Engel gerade eine Zigarettenpause. Nett von ihnen!

Die Atmosphäre in der Straßenbahn war ohnehin wohlwollend. Als ich aufwachte, stellte ich fest, dass ich mit angezogenen Knien auf einer weichen Couch lag. Aus dem Nichts kam eine haarige karierte Decke geflogen, die genauso bequem war wie meine eigene. »Prima Service!«, murmelte ich und schlief wieder ein.

Als ich erneut aufwachte, war aus der Straßenbahn eine Puppenstube geworden: Alle Sitze hatten sich in weiche Sofas verwandelt. Da ich ins Unbekannte reiste, wäre es eine Sünde gewesen, einen so nett gestalteten Raum nicht zu nutzen. Insgesamt schlief ich sehr viel, aß meine Vorräte auf und fand mitunter an überraschenden Stellen neue Bücher - zum Beispiel in meiner Brusttasche oder auf dem Fahrscheinentwerter.

Was allerdings surreale Landschaften anging, begegnete mir - vom doppelten Sonnenaufgang abgesehen - nichts Besonderes. Draußen herrschte balkendicke Dunkelheit. Das war für mein seelisches Gleichgewicht auch besser.

Die Idylle dauerte - nach meiner vorsichtigen Schätzung - drei, vier Tage. Aber vielleicht gingen die Uhren in meinem merkwürdigen Transportmittel ja auch anders. Der Hauptbeweis dafür, mich unter Einwirkung magischer Gesetze zu befinden, war, dass ich nicht auf die Toilette gehen musste, denn das - verzeihen Sie mir die Offenheit, liebe Leser! - widerspricht all meinen Erfahrungen mit dem menschlichen Stoffwechsel. Die ganze Fahrt über erwartete ich unruhig, dass Darm und Blase sich melden würden, und versuchte erfolglos, für diesen Fall eine Lösung zu finden. Aber nichts dergleichen geschah.

Mein endgültiges Aufwachen war ganz anders als die kurzen Schlafpausen, die ihm vorausgegangen waren. Schon dass ich nicht unter einer Decke, sondern unter einem Pelz erwachte, überraschte mich. Als ich die leidgeprüften Beine streckte und mich umsah, stellte ich fest, dass ich nicht auf einer Couch lag, sondern in einem weichen Bett, das in einem großen, halbdunklen, fast leeren Zimmer stand. In einer entfernten Ecke schnaufte es, und zwar - wie mir schien - ziemlich bedrohlich. Ich öffnete die Augen noch weiter und wälzte mich ein wenig herum. Dann schnellte ich plötzlich hoch und landete auf allen vieren vor dem Bett. Das Schnaufen verstummte, und nach ein paar Sekunden stieß mich etwas leicht an der Ferse. Bis heute begreife ich nicht, warum ich damals nicht losgebrüllt habe.

Stattdessen drehte ich mich blitzschnell um und ... stieß mit der Nase an eine andere Nase, die feucht und klein war. Eine unbekannte Zunge leckte mir über die Wange - entzückend! Vor mir stand ein bezauberndes Wesen: ein haariger Welpe mit der Schnauze einer Bulldogge. Später allerdings stellte sich heraus, dass Chuf kein Welpe war, sondern ein ausgewachsenes Tier. Seine Größe und entzückende Freundlichkeit hatten mich zunächst annehmen lassen, er müsse noch ganz jung sein.

Der kleine Hund bellte fröhlich. Gleich darauf materialisierte sich im halbdunklen Schlafzimmer eine nicht besonders große Gestalt in weit geschnittenem Umhang. Als ich sie mir genauer ansah, merkte ich, dass es sich nicht um den Bekannten aus meinen Träumen handelte. Hatte ich womöglich die Adresse verwechselt?

»Der Ehrwürdige Leiter erlaubt sich, heute erst spät in der Nacht nach Hause zu kommen. Bitte teilen Sie mir Ihre Wünsche mit, Sir«, sagte der Unbekannte feierlich. Er hatte ein faltiges Gesicht, strahlende Augen und sehr dünne Lippen und erwies sich bald als Kimpa, der Diener von Sir Juffin Halli.

Erst als Juffin Stunden später vor mir stand, wurde mir wirklich klar, dass die unbegreifliche Reise von einer bewohnten Welt in die andere tatsächlich passiert war.

So bin ich nach Echo gekommen und habe es bis jetzt nicht bereut - auch nicht an dummen Tagen wie dem heutigen.

Während ich meinen Erinnerungen nachhing, irrte das von Sir Juffin gelenkte Dienst-A-Mobil über eine halbe Stunde zwischen den wunderschönen Obstgärten des Linken Flussufers herum. Schließlich fuhren wir in eine Gasse, die mit Edelsteinen gepflastert schien. Zunächst konnte ich vor lauter Gestrüpp kein Haus erkennen. Sir Maba Kaloch ist offenbar ein Philosoph, und seine Philosophie verlangt die Verschmelzung mit der Natur - deshalb wohnt er in einem Garten ohne architektonischen Luxus, dachte ich belustigt, doch schon im nächsten Moment stieß ich mit der Nase an eine Hauswand, die fast unsichtbar war, weil der ganze Bau hinter einem dichten Pflanzenvorhang verborgen war.

»Gute Tarnung!«, rief ich begeistert.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie recht du hast. Weißt du, Max, warum ich mich ans Steuer unseres Wagens gesetzt habe? Du wirst lachen: Ich habe schon ein paar Besuche bei Maba gemacht und sein Haus stets nur mit Glück gefunden. Es ist unmöglich, sich den Weg hierher zu merken. Es bleibt einem nur die Hoffnung, dass es nächstes Mal klappt. Maba Kaloch ist der unübertreffliche Meister der Tarnung.«

»Vor wem versteckt er sich denn?«

»Vor niemandem. Es ist nur schwierig, ihn zu entdecken. Man kann sich das nicht vornehmen - es geschieht von allein. Das ist auch so ein Aspekt der Beschäftigung mit Wirklicher Magie.«

»Wieso ist Ihr Haus eigentlich so leicht zu finden, Juffin? «

»Erstens hat jeder von uns seine Eigenheiten, und zweitens müsste ich vermutlich erst so alt werden wie Sir Maba, um auf die seltsame Idee zu kommen, mich derart zu verstecken.«

»Wollen Sie damit sagen ...«

»Ich will gar nichts sagen. Aber wenn du mich fragst: Es kommt schon mal vor, dass alte Leute zu Fanatikern der Tarnung werden. Der Orden des Erkenntnismoments existierte - lass mich kurz überlegen - etwa dreihundert Jahre. Und ich hab nie davon gehört, dass sich in der Führungsebene des Ordens etwas geändert hätte.«

»Ach.« Mehr konnte ich dazu nicht sagen.

Sir Juffin bog um die Ecke des beinahe unsichtbaren Gebäudes und landete vor einer Sperrholztür, die besser zu einem Studentenheim als zur Villa eines Großen Magisters gepasst hätte. Sie öffnete sich mit leisem Quietschen, und wir traten in einen leeren, kühlen Korridor.

Sir Maba Kaloch, der Große Magister des Ordens des Erkenntnismoments, war dafür bekannt, seine Organisation ein paar Jahre vor Beginn der Traurigen Zeit friedlich aufgelöst zu haben. Danach hatte er es fertiggebracht, sich völlig aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, ohne Echo auch nur einen Tag zu verlassen. Diese lebende Legende erwartete uns nun also im Wohnzimmer.

Sie sah ziemlich gewöhnlich aus, war zwar nicht groß, aber untersetzt, und hatte eine starke Mimik. Schön waren an diesem Mann nur die lustigen runden Augen. Wenn er jemandem ähnelte, dann unserem klugen Vogel Kurusch.

»Du hast schon lange nicht mehr vorbeigeschaut, Juffin!«

Sir Maba Kaloch sagte diesen Satz so, als habe ihm die lange Abwesenheit von Juffin Halli großes Vergnügen bereitet.

»Ich freu mich, dich zu sehen, Max«, fuhr er fort und dienerte scherzhaft vor mir. »Hättest du mir dieses Wunder doch früher vorgestellt, Juffin! Kann man ihn anfassen?«

»Probier's mal. Soweit ich weiß, beißt und kratzt er nicht. Man kann ihn sogar auf den Boden fallen lassen.«

»Auf den Boden? Tolle Sache!«

Maba Kaloch berührte mich mit dem Zeigefinger und zog die Hand schnell zurück, als hätte er Angst vor Verbrennungen. Dann nickte er mir freundlich zu, als wollte er sagen: Wir wissen doch beide, dass diese Inszenierung nur für Juffin gedacht ist. Also halt durch! Mach dem Alten die Freude! Sir Maba bediente sich nicht der Stummen Rede, doch ich hätte wetten mögen, dass er mir mit seinem Augenzwinkern genau dies hatte sagen wollen. Das konnte ja heiter werden: Nicht nur hatte er mich »Wunder« genannt - er hatte mich obendrein betastet wie ein frisches Brötchen!

»Setzt euch, Kinder«, rief Sir Maba und wies mit großer Geste auf seinen Tisch. »Bei mir findet ihr etwas Besseres als eure schwarze Brühe.«

Mit der schwarzen Brühe meinte er - wie ich vermutete - die Kamra, also das Lieblingsgetränk der Bewohner des Vereinigten Königreichs und zugleich das hiesige Äquivalent für Tee und Kaffee.

»Das ist bestimmt wieder so ein gekochtes Kraut«, sagte Juffin streitlustig. Er wurde leicht wütend, wenn man ihn an einer Schwachstelle traf.

»Jedenfalls ist es sicher etwas anderes als euer wässriger Teer. Wer hat euch überhaupt gesagt, dass der genießbar ist? Ihr habt euer Lieblingsgetränk doch nur mit ein paar Zaubersprüchen gewürzt, ihr Schlaumeier ... Nicht schmollen, Juffin! Probieren! Das ist wirklich etwas Besonderes.«

Sir Maba Kaloch hatte recht. Das hellrote Heißgetränk, das auf den Tisch gekommen war, erinnerte ein wenig an den Kachar-Balsam, den ich so vergöttere, und war mit einigen Aromen mir unbekannter Blumen gemischt.

»Endlich bekommt man in diesem Haus mal was Anständiges vorgesetzt«, bemerkte Juffin und begann langsam aufzutauen.

»So müde hab ich dich seit dem ersten Tag der Epoche des Gesetzbuchs nicht mehr gesehen«, sagte unser Gastgeber, stand auf und streckte sich knirschend. »Warum nimmst du die paar Morde nur so ernst, Juffin?

Wäre die Welt zusammengestürzt, wärst du bestimmt ruhiger gewesen - und das würde dir sicher besser bekommen.«

»Erstens macht es mich rasend, wenn ich eine Sache nach ein paar Stunden nicht völlig geklärt habe - das weißt du doch. Und zweitens hat Max eine Idee gehabt, die mir überhaupt nicht gefällt: Vielleicht haben wir ja beide die Tür zwischen den Welten offen gelassen ... Verstehst du jetzt, Maba, dass es sich nicht um einen Scherz handelt?«

»Die Tür zwischen den Welten bleibt nie lange dicht. Es ist höchste Zeit, dass du das endlich begreifst, Juffin. Du kannst also guten Gewissens sein. Einverstanden - ich steh dir zu Diensten. Aber nur unter der Bedingung, dass ihr beide noch eine Tasse von meiner neuen Errungenschaft trinkt. Ich bin nämlich sehr eitel.«

»Sündige Magister! Und ich hatte schon Angst, du hättest keine einzige menschliche Schwäche«, meinte Juffin lächelnd und wandte sich an mich. »Max, warum sitzt du wie angenagelt da? Das ist das einzige Haus in Echo, wo man sich vor niemandem genieren muss. Nimm das zur Kenntnis und genieße es.«

»Ich geniere mich doch gar nicht. Ich brauche nur etwas Zeit, um

»... dich an den Geruch zu gewöhnen?«, fragte Maba Kaloch interessiert. Seine runden Augen funkelten wie das freundlichste Röntgengerät, das mir je begegnet war.

»So ähnlich. Es dauert meist nicht lange, bis ich merke, dass ich mich schon wieder an etwas gewöhnt hab, aber manchmal

»... manchmal stellst du fest, dass du dich an etwas nicht gewöhnen kannst oder solltest, und dann versuchst du, dich davonzumachen«, beendete Sir Maba meinen Satz. »Na, das ist ja ein vielversprechender Auftakt für die Arbeit an unserem Fall. Versuch einfach, dich an den Geruch zu gewöhnen, mein Wunder. Was mich anlangt - ich hab mich schon an dich gewöhnt.«

Ich nickte und schenkte uns gehorsam eine zweite Tasse ein.

»Kannst du eigentlich prüfen, ob Max recht hat oder nicht?«, fragte Juffin und trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch.

»Natürlich kann ich das. Aber wozu? Du weißt doch selbst, dass er recht hat, Juffin. Du bist nur müde. Und das nicht nur wegen dieses Falls. Doch es ist deine Entscheidung gewesen, dein Leben mit sinnlosen Scherereien zu vertändeln.«

»Irgendeiner muss es schließlich tun«, murmelte Sir Juffin.

»Nicht irgendeiner, sondern du - das stimmt wohl. Willst du, dass ich mir anschaue, wie alles gelaufen ist?«

»Natürlich. Wenn jemand aus einer anderen Welt durch Echo irrt, muss ich wissen, ob er nur zufällig hierhergeraten ist.«

»Nenn die Dinge doch beim Namen, Juffin! Vor allem interessiert dich, wie viele unbekannte Gäste dir noch in die Hände fallen können.«

»Du hast mich mal wieder durchschaut. Natürlich interessiert mich das. Schließlich ist das meine Arbeit.«

»Na schön. Wenn ihr noch ein Tässchen trinken wollt: Der Krug steht auf dem Tisch. Ich hoffe, ihr langweilt euch nicht bei mir. Ich jedenfalls ...«

Mit diesen Worten verschwand Sir Maba unterm Tisch. Ich sah Juffin schockiert an.

»Was soll das?«

»Schau nach, dann weißt du's.«

Ich blickte unter das Möbelstück. Natürlich war dort niemand. Was hatte ich denn erwartet!?

»Die Tür zwischen den Welten kann überall sein, Max«, sagte Juffin sanft. »Also kann sie sich auch unter dem Tisch befinden. Welchen Unterschied macht das schon? Aber wer diese Tür öffnen will, muss sich vor fremden Blicken schützen. Maba braucht dafür eine Sekunde. Ich würde dafür etwa zwei Minuten benötigen. Wie lange hast du eigentlich auf die merkwürdige Bahn gewartet, mit der du in mein Schlafzimmer gereist bist?«

»Ungefähr eine Stunde.«

»Gar nicht schlecht für einen Anfänger. Das ist alles nur eine Frage der Übung, mein Junge. Schenk mir noch eine Tasse von diesem Zeug ein. Anscheinend hab ich gefunden, was ein müder Mensch wirklich braucht.«

»Es wäre nicht schlecht, das Rezept zu bekommen«, meinte ich gedankenverloren.

»Ein Rezept dafür? Das gibt es nicht. Ich weiß doch, wie Maba kocht. Der nimmt alles, was ihm unter die Finger gerät, und so was kommt dann dabei heraus.«

»Sündige Magister! Juffin, das geht mir zu weit.«

»Mir auch. Jedenfalls im Moment. Aber das mag sich ändern - schließlich lebe ich ja schon etwas länger in Echo als du. Und ich verschwende meine Zeit nicht umsonst. Das Problem besteht darin, Max, dass hier alles sehr langsam passiert.«

»Mein Problem ist, dass hier alles sehr schnell passiert.«

»Dann hast du eben Glück. Akzeptier das einfach.«

In einer entfernten Ecke des Zimmers knallte eine Tür. Sir Maba Kaloch kehrte an den Tisch zurück und war lebensfroh wie immer.

»Vielen Dank, Juffin! Ich hab es richtig genossen, die von euch geöffnete Tür zu betrachten - und die lustige Welt dahinter. Köstlich war das.«

»Schön, dass es dir so gut gefallen hat. Aber wenn ich höre, was Max davon erzählt, gefällt mir seine Welt immer weniger.«

»Ich hab auch nicht behauptet, sie wäre nach meinem Geschmack. Aber es war wirklich köstlich. So was Lustiges hab ich schon lange nicht mehr erlebt. Max, bist du eigentlich froh, davongelaufen zu sein?«

»Inzwischen vermag ich mir nicht mal mehr vorzustellen, dass es hätte anders sein können. Aber am Anfang ist es mir sehr schwergefallen, mich hier einzuleben.«

Sir Maba Kaloch nickte, machte es sich in seinem Sessel bequem und zog gedankenverloren einen Korb mit Brötchen unter dem Tisch hervor. Er probierte eins, nickte beifällig und stellte seine Beute auf den Tisch.

»Durchaus essbar. Ich will eure Geduld nicht auf die Folter spannen. Also erzähl ich euch, wie alles gelaufen ist. Erstens, Max, hast du völlig richtig vermutet: Tatsächlich ist ein Landsmann von dir in Echo aufgetaucht. Juffin, unter uns gesagt: Ich sehe zum ersten Mal einen Menschen seines Alters mit so gut entwickelter Intuition!«

»Ich auch«, nickte mein Chef bestätigend, und ich wurde vor Stolz ganz rot.

»Glückwunsch euch beiden! Greift zu! Keine Angst! Ich kann zwar nicht erklären, woher ich sie habe, aber das besagt nichts.«

»Giftmörder«, murmelte Juffin und schob sich ein Brötchen in den Mund. »Jetzt du, Max. Wenn man sterben soll, dann am besten zusammen.«

Das Gebäck war ausgezeichnet. Sein Geschmack kam mir bekannt vor - aber woher?

»Ich weiß nicht, wie ihr es geschafft habt, Kinder«, fuhr Sir Maba Kaloch fort, »doch ihr habt die blödeste Methode gewählt, von einer Welt in die andere zu gelangen, von der ich je gehört habe.«

»Was heißt hier >wir

»Aber Max«, seufzte Juffin. »Wie hätte ich diese merkwürdige Straßenbahn denn erschaffen sollen? Ich hab doch noch immer keine Ahnung, worum es sich dabei handelt! Irgendwann begreifst du bestimmt, dass deine Überfahrt unser gemeinsames Werk war. Bis dahin musst du einfach daran glauben.«

»Und versuch zu akzeptieren, dass du die nächsten paar hundert Jahre nicht wissen wirst, was du eigentlich machst«, ergänzte Sir Maba. »Das wird dir nur anfangs schwierig Vorkommen - später erscheint einem diese Ahnungslosigkeit richtig interessant. Aber jetzt zurück zu meinen Reiseerlebnissen. Ich habe mich in die dunkle Straße begeben, wo sich für dich die Tür zwischen den Welten geöffnet hat. Dort ist jemand ziellos umhergestreift, der von Mordgedanken besessen war. Das ist an sich nichts Besonderes, aber Besessene faszinieren mich nun mal, Max. Egal wie primitiv sie sind - sie haben stets ein Gespür für das Wunderbare. Was allerdings den ziellos umherstreifenden Mann anlangt, war mir gleich klar, dass er bereits eines Wunders teilhaftig war. Ein merkwürdiger Wagen namens Straßenbahn näherte sich ihm. In meinem ganzen Leben hab ich nichts Hässlicheres gesehen! Ein Transportmittel sollte doch überall fahren können, statt ausschließlich auf einen dünnen Pfad angewiesen zu sein. Und jeder davon endet doch sicher auch irgendwo.«

»Diesen Pfad nennt man Schienen«, sagte ich.

»Vielen Dank, Max. Das ändert die ganze Sache natürlich von Grund auf. Als ich begriff, wie dieser merkwürdige Wagen gebaut ist und wozu man ihn braucht, lachte ich mich beinahe über ihn tot. Aber das Auftauchen der Straßenbahn war auch für den Besessenen eine Überraschung. Schließlich wusste er, dass es in dieser Straße eigentlich keine Schienen gibt. Sündige Magister! Wie schnell manche Leute doch den Verstand verlieren.«

»Sag mal, Maba«, begann Juffin, und seine Miene verfinsterte sich, »wie groß ist eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass die Straßenbahn auf Leute trifft, die die Welten gar nicht wechseln wollen?«

»Die Chance liegt bei annähernd null. Erstens hängt das Erscheinen dieses Wunders mit den hiesigen Mondphasen und der Stellung der dortigen Planeten zusammen, und es kommt nur sehr selten vor, dass beide Konstellationen so übereinstimmen, dass der Wechsel der Welten überhaupt möglich wird. Zweitens ist die Straße, in der Max eingestiegen ist, nachts fast immer menschenleer. Und drittens und vor allem ist der Durchgang zwischen den Welten speziell für ihn geschaffen worden.« Bei diesen Worten nickte er mir zu. »Normalverbraucher bekommen von diesem Durchgang nichts mit und können ihn daher auch nicht nutzen. Nur Eingeweihte oder völlig Verrückte können auf diesem Weg in eine fremde Welt geraten. Also keine Sorge, Juffin - solche Zufälle sind extrem selten. Es sei denn, es hätten sich ein paar hiesige Magister dorthin verlaufen, und das ist ja immer möglich!«

»Umso mehr, als es dort keine Magister gibt«, ergänzte ich.

»Du solltest nicht immer so vorschnell urteilen«, sagte Sir Maba Kaloch vorwurfsvoll. »Oder kennst du alle Bewohner deiner Welt persönlich?«

»Natürlich nicht, aber ...«

»Na eben! Dass du bisher noch keinen Magister getroffen hast, bedeutet nicht, dass es sie dort nicht gibt. Glaub mir: Uns Magister gibt es überall.«

»Dann wird es also keine Invasion geben?«, fragte Juffin sichtlich erleichtert.

»Natürlich nicht. Ein interessantes Detail aber gibt es: In dieser Straßenbahn hat ein Fahrer gesessen. Schade, dass ich nicht genug Zeit hatte, den Charakter dieses Wesens zu erforschen. Das werde ich bestimmt demnächst in der Freizeit nachholen!«

»Handelte es sich etwa um einen euphorischen Dicken mit dünnem Schnauzbart?«, fragte ich mit angststarren Lippen. »Er hatte ein ganz einzigartiges Gesicht - unvergesslich.«

»Natürlich. Wer hätte es sonst sein können? Es handelt sich bei ihm um das erste von dir erschaffene Wesen, Max. Eigentlich solltest du einen persönlicheren Bezug zu ihm haben. So ein Wesen hab ich auch noch nie gesehen!«

»Was für ein Fahrer denn?«, fragte Juffin erstaunt. »Davon hast du mir gar nichts erzählt, Max.«

»Ich dachte, Sie wüssten auch ohne mich über alles Bescheid. Außerdem wollte ich ihn so schnell wie möglich vergessen. Beinahe wäre ich gestorben, so sehr hatte mich sein Anblick erschreckt. Den Magistern sei Dank, dass er gleich darauf verschwunden war.«

»Du hast also gedacht, dieser Mann wäre ein guter Freund von mir? Tolle Idee! Ich hätte dich wirklich genauer über deine Reise befragen sollen. Mein praktischer Sinn hat mich in die Irre geführt: Ich dachte, wenn du erst mal hier bist, ist alles andere egal. Maba - um was für ein Wesen handelt es sich bei diesem Mann eigentlich?«

»Ich hab doch gesagt, dass ich das selber noch nicht weiß. Ich kann nur wiederholen, dass ich so was noch nie erlebt habe. Wenn ich mehr Zeit habe, forsche ich genauer nach und teile euch das Ergebnis meiner Recherchen mit. Aber du bist sehr streng gegenüber dem Wesen, das du selbst geschaffen hast, Max. Der Besessene nämlich war von dem Fahrer der Straßenbahn schlicht entzückt. Er hat mit ihm gesprochen und dabei unter anderem erfahren, wie es möglich war, dass die Tram durch eine Straße fuhr, durch die sie eigentlich unmöglich hätte fahren können. Er hat sich auch gedacht, dass er sich mit dem Fahrer befreunden könnte. Streng genommen waren beide besessen, jeder auf seine Weise. Na ja, die Tram hielt, und der Junge ist eingestiegen und hat den Fahrer gegrüßt. Dann fuhr die Bahn weiter. Ich kann euch leider keine schockierenden Details von der gemeinsamen Reise liefern, weil ich zu faul war, sie genauer zu erforschen. Doch nach einiger Zeit ist der Besessene in Echo aufgetaucht, und zwar im Hinterhof vom Fressfass. Er war hungrig und verängstigt und hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

»Tassen? Was für Tassen? Und welcher Schrank?«, fragte Juffin.

»Einfache weißblaue Tassen in einem Holzschrank«, antwortete Sir Maba, setzte aber gleich hinzu: »Das war nur ein Scherz. Ich habe mich seiner eigenen Formulierung bedient, um möglichst genau zu sein. In so einem Fall hat jede Kleinigkeit eine Bedeutung. Max, kannst du uns den Ausdruck mit den Tassen und dem Schrank erklären?«

»Na ja«, antwortete ich gedankenverloren. »Nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben bedeutet, ziemlich wunderlich zu sein und Dinge zu tun, über die andere nur den Kopf schütteln können. Offen gesagt benutze ich diesen Ausdruck selbst.«

»Das hast du wirklich gut erklärt«, meinte Sir Maba Kaloch sichtlich zufrieden. »Aber was später geschehen ist, wisst ihr beide besser als ich, weil sich die Tür zwischen den Welten geschlossen hat und ich das Interesse an eurem Freund verloren habe.«

»Hör mal, Maba, sollte man nicht vielleicht ...«, begann Juffin.

»Nein, das sollte man nicht.«

»Na gut, vergiss es. Aber erzähl uns bitte alles, was du über das merkwürdige Wesen mit Schnauzbart in Erfahrung bringst.«

»Dann komm in einem Dutzend Tagen vorbei - oder schon früher. Aber nicht mit so einem besorgten Gesicht. Und du, Max, kannst mich auch besuchen kommen, ob nun mit Juffin oder allein - vorausgesetzt, du findest mich. Dabei kann ich leider keinem helfen. Also gut, Herrschaften, es war mir ein Vergnügen, mich mit euren Problemen zu beschäftigen - und wann kann man das schon sagen! Na dann ...«

Sir Maba Kaloch warf den Tisch, an dem wir gesessen hatten, mit großer Geste um, und das Geschirr landete klirrend auf dem Boden. Ich zuckte instinktiv zurück und brachte dadurch auch meinen Stuhl zum Kippen. Gleich darauf landete ich - nach einem idiotischen Salto ä la Melifaro - auf allen vieren.

Noch einen Moment später begriff ich, dass ich nicht auf dem Boden im Wohnzimmer gelandet war, sondern auf einem dünnen, grasbewachsenen Pfad im Garten. Erschrocken sah ich mich um. Neben mir kicherte Juffin vor Vergnügen.

»Maba überrascht Neuankömmlinge gern. Als ich ihn kennenlernte, hat er mich auf den Grund eines Sees versetzt, wo ich dann auf allen vieren gekrochen bin und nach einer Leiter geschrien habe. Ich hatte kurzfristig vergessen, dass ich schwimmen kann. Mehr noch: Ich hatte keinerlei Vorstellung mehr davon, dass es überhaupt so etwas wie Schwimmen gab, und brauchte Stunden, um ans Ufer zu kommen. Und ein paar Jahre, um mich daran zu erinnern, wie ich in diese Lage geraten war. Und bis dahin war mein Zorn auf Maba verraucht. Glaub mir, Max - dich hat er überaus human behandelt.«

»Human nennen Sie das? Aber wie dem auch sei - Sir Maba hat mir von Anfang an sehr gefallen.«

»Schön, dass wir einen so ähnlichen Geschmack haben. Und jetzt lass uns fahren. Du kannst dich ans Steuer setzen. Den Rückweg zu finden ist kein Problem.«

»Worüber haben Sie eigentlich zum Schluss mit Maba gesprochen, Sir Juffin?«, fragte ich, als ich nach dem Abschied vom Großen Magister wieder zu Kräften gekommen war. »Worauf wollten Sie mit der Frage hinaus, die er so rüde mit dem Bescheid »Nein, das sollte man nicht* abgewürgt hat? Entschuldigen Sie meine Neugier, aber das interessiert mich nun mal sehr.«

Sir Juffin Halli winkte ab. »Das ist kein Geheimnis! Ich hatte ihn eigentlich fragen wollen, ob sich dein Landsmann nicht viel schneller finden ließe, wenn man ... na ja ... wenn man dich als Muster nähme. Gibt es vielleicht in deiner Welt einen Duft, den ich nicht zu riechen vermag, weil ich nicht von dort komme? Oder etwas Ähnliches, um die Suche nach dem Mörder zu beschleunigen?«

»Und? Gibt es so ein Lockmittel?«

»Nein, das hast du doch gehört.«

»Riecht meine Heimat also nach nichts Besonderem? Das wäre mir unangenehm. Verstehen Sie das?«

»Sie kann durchaus einen Duft haben. Nur du, Max, eignest dich nicht mehr dafür, als Spürhund eingesetzt zu werden.«

»Sie beleidigen mich«, murmelte ich empört.

»Im Gegenteil. Die Beschäftigung mit Wirklicher Magie hat dich verändert. Vielleicht hast du das noch nicht bemerkt, aber glaub mir: Wenn man dich als Muster nähme, käme man womöglich auf einen wie mich ... oder wie Maba Kaloch.«

»Das passt ja ganz gut«, meinte ich. »Schließlich haben Sie selber gesagt, es sei kein Zuckerschlecken, bei ihm zu Gast zu sein.«

»Ich würde vorschlagen, dass wir zuerst den Besessenen finden und uns dann den anspruchsvolleren Dingen des Lebens zuwenden - zum Beispiel dem Schlaf. Oh, wir sind ja schon da!«

»Und die Kleidung des Besessenen?«, fragte ich beim Aussteigen. »Die ist für den Aufenthalt in Echo bestimmt denkbar schlecht geeignet - so wie die Hose, in der ich damals angekommen bin.«

Ich war enttäuscht, als mein Chef achselzuckend fragte: »Was redest du da? Wir sind schließlich in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs. Hier gibt es sehr viele Zugereiste. Für niemanden ist es ein Geheimnis, dass mindestens die Hälfte der Welt Hosen trägt. Sogar die Bewohner der Stadt Gazin - ganz abgesehen von deinen Lieblingen aus den Grenzgebieten. Mit einer Hose kannst du hier wirklich keinen schockieren. Die Zeiten, als man in Echo jedes exotische Kleidungsstück angestarrt hat, sind lange vorbei. Inzwischen setzt so ein Quatsch niemanden mehr in Erstaunen. Aber da kommt ja Melifaro! Wie geht's?«

»So lala. Es sind keine neuen Leichen aufgetaucht«, meldete Melifaro rasch. »Der Täter hat sich offenbar verausgabt. Sir Juffin, sind Sie bereit, mein Leben vor diesem Gift speienden Monster zu schützen? Er hat mir gestern mit dem Tode gedroht.«

Ich starrte Melifaro verständnislos an. »Was redest du da?«

Ich hatte den Besuch, den Lonely-Lokley mir am Vortag abgestattet hatte, ganz vergessen. Nach diesem Auftritt war das Leben des Tagesantlitzes des Ehrwürdigen Leiters tatsächlich in Gefahr gewesen, doch inzwischen nicht mehr.

»Nimm es mir bitte nicht krumm, Melifaro, wenn ich deine Ermordung noch etwas hinauszögere, doch vor dem Hintergrund der neuesten Verbrechensserie wäre diese Tat zu banal. Ich will nicht als Nachahmer eines unbekannten Genies gelten.«

»Du klopfst vielleicht Sprüche! Im Moment werden doch lauter junge Frauen umgebracht, und ich bin ein Mann im besten Alter.«

Ich winkte ab: »Der Unterschied ist minimal. Tod bleibt Tod.«

»Du bist ein Philosoph«, bemerkte Juffin beifällig. »Komm, Melifaro. Wir brauchen einen intelligenten Faulenzer wie dich, der sich von den Ereignissen nicht so rasch überrumpeln lässt. Ich hab mich schon bei Sir Kofa gemeldet, und er kommt in einer halben Stunde zu uns.«

»Er muss noch ein paar Piroggen essen und im Wirtshaus die neuesten Gerüchte aufschnappen«, sagte Melifaro und nickte dabei enthusiastisch. »Aber ich kann Kofa durchaus verstehen - schließlich gehört das zu seinen Pflichten.«

Im Büro ließ Juffin sich mit einem breiten Grinsen in den Sessel sinken.

»Du hast getan, was du konntest, Melifaro. Aber jetzt musst du schon wieder ran. Wir wissen, dass der Mörder ein Landsmann von Max ist. Was sagst du dazu?«

»Die Kleidung zählt nicht mehr«, antwortete Melifaro rasch. »Jemand, der eine Hose trägt, ist heutzutage kein Ereignis.«

»Das hab ich dir doch gesagt!«, meinte Juffin zu mir.

»Das Gleiche betrifft auch die Sprache. Akzent und unübliche Kleidung eignen sich zwar als Indizien, doch um den Mörder dadurch zu überführen, braucht man viel Zeit«, sagte Melifaro und schob die Finger unter seinen Turban. »Denk doch mal darüber nach, wodurch sich dein Landsmann sonst noch von anderen ... na ja ... normalen Leuten unterscheidet. Verzeih mir bitte, dass ich dich gerade zu den Anomalen gerechnet habe. Aber gibt es ein auffälliges Charakteristikum, das es erlauben würde, deinen Landsmann auch in einer riesigen Menschenmenge auf Anhieb zu entdecken?«

»Um darauf zu antworten, muss ich mich voll konzentrieren«, antwortete ich. »Und das kann ich am besten im Bad. Vielleicht habe ich dort ja eine geniale Idee. Meine Herrschaften, ich bitte um Verzeihung. In einer Minute bin ich wieder da.«

»In einer Minute schon?«, gab Juffin maliziös zurück.

Ich machte eine kurze Pause, auf die jeder in allen Welten ein Recht hat. Im Korridor hörte ich einmal mehr die Suada einer mir nur allzu bekannten Stimme und näherte mich, um die Schimpfkanonade noch besser genießen zu können.

General Bubuta Boch sah sich gerade misstrauisch um und ertappte mich dabei, wie ich lächelnd um die Ecke bog.

»... weil alle diese Leute sich bestimmt dafür interessieren, was sie ihnen zu sagen hat«, verkündete Bubuta Boch gerade mit hölzerner Stimme, ohne den Blick von meinem Gesicht zu wenden. Kapitän Fuflos (sein Vertreter und Verwandter) sah zur Decke hinauf und machte eine so gelangweilte wie interessante Atemgymnastik.

»Ich habe gerade angeordnet, Ihnen zu dem Fall, mit dem Sie sich seit gestern beschäftigen, eine wichtige Zeugin zu schicken«, rief Bubuta ehrerbietig, und ich dachte: Hoppla - der kann ja sogar normal reden, wenn er will.

»Ausgezeichnet«, erklärte ich mit wichtiger Miene. »Sie haben gesetzestreu und situationsadäquat gehandelt, Sir Boch.«

Ehrenwort: Als er das hörte, seufzte er vor Begeisterung.

Als ich in Juffins Büro zurückkehrte, herrschte ausgelassene Stimmung. Eine lebhafte rothaarige Lady im teuren hellen Lochimantel hielt eine Tasse Kamra in der Hand und betrachtete kokett das Hollywoodgesicht von Sir Melifaro. Ich hatte den Eindruck, sie war der Flirtzeit seit mindestens hundert Jahren entwachsen, doch sie sah das offenbar anders.

»Das ist unser Sir Max«, sagte Juffin und konstatierte damit - was ihm bisher selten passiert war - etwas Offenkundiges. »Fangen Sie bitte an, Lady Tschedsi.«

Die Frau wandte sich zu mir um. Als sie meine Uniform sah, bekam ihr Gesicht ein falsches Lächeln. Dann drehte sie sich wieder weg, was mich nicht im Geringsten betrübte. Bescheiden setzte ich mich auf meinen Platz und nahm mir auch eine Tasse Kamra.

»Vielen Dank, Sir! Wenn Sie wüssten, mit wie merkwürdigen Leuten ich mich vorhin bei der Polizei habe rumschlagen müssen! Nicht mal eine ordentliche Tasse Kamra haben die mir angeboten - von einem bequemen Stuhl ganz zu schweigen.«

»Das kann ich mir durchaus vorstellen«, sagte Juffin mit sehr mitfühlender Miene. »Ich habe aber den Eindruck, dass Sie aus einem anderen Grund zu uns gekommen sind.«

»Natürlich! Heute Morgen hatte ich eine Vorahnung: Mir war irgendwie klar, dass ich nicht einkaufen gehen sollte, und das hab ich dann auch nicht getan, weil ich meiner Intuition stets vertraue. Dann aber hat sich meine Freundin Lady Chedli per Stummer Rede gemeldet und wollte sich unbedingt mit mir treffen. Das hab ich nicht ablehnen können. Also haben wir uns im Rosa Buriwuch verabredet. Ich bin nicht mit dem A-Mobil gefahren, sondern zu Fuß gegangen, weil ich in der Straße der Hohen Wände lebe, also

»... ist es bis zum Rosa Buriwuch nur ein Sprung«, ergänzte Melifaro nickend. Lady Tschedsi sah ihn zärtlich, aber alles andere als mütterlich an.

»Stimmt, Sir! Sie kennen sich ja prima aus! Wohnen Sie etwa in der Nähe?«

»Nein, aber ich habe vor, dorthin umzuziehen«, sagte Melifaro verbindlich. »Aber fahren Sie doch bitte fort, wunderbare Lady.«

Die Frau wurde ganz rot, so entzückt war sie über Melifaros Schmeichelei. Ich dagegen konnte mir nur mühsam ein Lachen verkneifen. Hätte ich mich nicht beherrscht, hätte sie ihre Aussage sicher so lange verweigert, bis ich verschwunden gewesen wäre.

»Ich verließ das Haus, ohne weiter auf meine Vorahnung zu achten, doch sie hatte mich nicht getrogen. Kaum hatte ich mein Viertel verlassen, kam ein furchtbarer Barbar auf mich zugestürzt. Er hatte einen widerlich schmutzigen Lochimantel und eine hässliche Hose an und taumelte entsetzlich. So einen besoffenen Kerl hab ich noch nie gesehen. Na ja, einmal hat sich mein Cousin Dschamis betrunken, aber das war noch vor der Epoche des Gesetzbuchs. Damals hat man den armen Dschamis ja noch verstehen und ihm verzeihen können ... Jedenfalls hat dieser ekelhafte betrunkene Widerling versucht, mit dem Messer auf mich einzustechen. Er hat sogar meinen neuen Lochimantel, den ich erst gestern in Dirolans Boutique gekauft habe, aufgeschlitzt. Können Sie sich vorstellen, wie viel ich für den Mantel bezahlt habe? Ich finde solche Männer unmöglich. Deshalb hab ich ihm gleich eine Ohrfeige verpasst, mich dann aber sehr erschrocken. Und er hat mir etwas Merkwürdiges zugeflüstert, ich glaube »Schachtel« oder »alte Schachtel«. Das muss irgendein Barbarenschimpfwort sein. Danach ist er weggelaufen. Ich bin wieder nach Hause gegangen, um mich umzuziehen, und hab mich bei meiner Freundin gemeldet, damit sie sich nicht über meine Verspätung ärgert. Als ich ihr die ganze Geschichte erzählte, meinte sie, ich sei womöglich dem Serienmörder begegnet, von dem sie im Trubel von Echo gelesen hat. Diese Vorstellung hat mich erst wirklich erschrecken lassen. Und Chedli hat mir geraten, zu Ihnen zu kommen - natürlich nicht zu Ihnen persönlich, sondern ins Haus an der Brücke. Also hab ich mein A-Mobil genommen und bin hergefahren. Das ist die ganze Geschichte. Denken Sie, dass ich wirklich dem Mörder begegnet bin? Er war so schwach! Ich hab keine Ahnung, warum seine Opfer ihn nicht fertiggemacht haben. Eine Ohrfeige hätte dafür doch vollauf gereicht!«

»Ich danke Ihnen sehr, Lady Tschedsi«, erklärte Juffin feierlich. »Ich glaube, Ihr Mut hat nicht nur Sie, sondern auch das Leben anderer gerettet. Und jetzt gehen Sie bitte nach Hause. Ich bereue es sehr, dass wir uns nur so flüchtig kennengelernt haben, aber wir müssen so schnell wie möglich den Mann finden, der Sie belästigt hat.«

»Den finden Sie bestimmt - da bin ich mir sicher.«

Die Lady verschwand, wackelte dabei graziös mit den Hüften und warf uns allen einen so heißen wie affektierten Blick über die hochgezogene Schulter zu. Und der glückliche Melifaro bekam zum Abschied noch ein so strahlendes Lächeln geschenkt, dass er beinahe darunter zusammengebrochen wäre. Als die Lady das Büro endlich verlassen hatte, sah der Arme zur Decke und sagte: »Sündige Magister! Womit hab ich das verdient?! Ich bin doch noch nicht mal rothaarig.«

»Dafür kannst du dich um den Chefposten von Dirolans Boutique bewerben, falls hier was schiefgehen sollte«, meinte Juffin lächelnd und wandte sich dann an mich. »Na, Max, weißt du schon, wodurch du dich von normalen Leuten - um einen Begriff unseres heißblütigen Melifaro zu verwenden - unterscheidest?«

Schweigend zuckte ich die Achseln und trank meine kalte Kamra aus. Von normalen Leuten unterschied mich vieles - besonders jetzt. Ich hatte mir überlegen sollen, wodurch sich meine alten Landsleute von den Bewohnern von Echo unterscheiden. Die lustige Episode mit General Bubuta Boch und die ehrliche Beichte von Lady Tschedsi allerdings hatten mich abgelenkt.

»Hier bin ich«, rief Sir Kofa Joch und schenkte uns allen das ruhige Lächeln eines satten Menschen. »Ich bitte, meine Verspätung zu entschuldigen, aber mir ist etwas Lustiges passiert. Juffin, Sie haben mich an der Schwelle des Alten Dorn erreicht ... «

Erschrocken sprang ich auf, der Stuhl fiel um, und meine glücklicherweise schon geleerte Tasse zerbrach klirrend am Boden. »Was bin ich doch für ein Idiot!«, rief ich. »Wie konnte ich das bloß vergessen! Die Suppe, Melifaro! Die Rekreationssuppe! Juffin, wissen Sie noch, was damals mit mir los war? Natürlich hat er geschwankt! Und wie! Schließlich ist er mein Landsmann! Er hat die Suppe probiert. Daher die Morde!«

»So einfach ist das also!«, seufzte Juffin erleichtert. »Damit ist unsere Qual beendet. Wir dürfen aber nicht stolz auf uns sein, denn wir haben einfach nur Glück gehabt. Theoretisch hätte der Mörder noch jahrelang in Echo herumirren und sich von anderen Dingen ernähren können.«

»Was hat es eigentlich mit dir und dieser Suppe auf sich?«, fragte Melifaro verlegen. »Irgendwas begreife ich hier nicht, meine Herrschaften.«

»Max darf die Rekreationssuppe nicht essen«, erklärte Juffin. »Aber macht darüber bloß keine Witze. Sie ist Gift für ihn. Ein Teller schon hat ihn drei Tage außer Gefecht gesetzt. Ich war ganz ratlos.«

»Du Armer!«, sagte Melifaro mitfühlend. »Du bist in letzter Zeit recht gereizt. Als ob dir Lonely-Lokley im Nacken säße. Aber ohne diese Suppe zu leben, ist ein herber Verzicht!«

»Schön wär's, wenn das der schlimmste Verzicht in meinem Leben wäre«, meinte ich und zuckte die Achseln. »Mir geht's auch ohne diese Suppe ganz gut.«

»Jetzt ist mir alles klar«, meldete sich Sir Kofa unerwartet zu Wort. »Sie können Lonely-Lokley zum Alten Dorn schicken. Dort sitzt der Mörder gerade. Seinetwegen hab ich mich dort so lange aufgehalten.«

»Ich geh allein dorthin«, rief Melifaro und landete mit nur einem Sprung an der Türschwelle. »So ein Naturwunder darf man auf keinen Fall töten. Unser Schnitter des Lebensfadens kann in der Zwischenzeit ja meine Papiere ordnen - dieses Vergnügen sollte man ihm nicht länger vorenthalten.«

»Wir fahren zusammen«, sagte Juffin und erhob sich. »Ich bin nämlich auch neugierig. Max begleitet uns natürlich, um seinen Landsmann zu begrüßen. Und Sir Kofa hat auch ein Recht darauf, einen Teil der Lorbeeren zu bekommen.«

Ehrlich gesagt war ich von dieser Idee ganz und gar nicht begeistert. Ich würde gleich den Menschen sehen, der die gleiche Reise wie ich unternommen und - um mich der Redewendung von Sir Juffin zu bedienen - meine Tür zwischen den Welten benutzt hatte. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich das Treffen abgelehnt, aber mich hatte ja niemand gefragt.

Ich durfte mich ans Steuer des A-Mobils setzen, weil es ohnehin nicht weit war.

Unterwegs berichtete uns Sir Kofa kurz seine Eindrücke: »Heute Mittag um kurz nach zwölf ist im Alten Dorn ein seltsamer Typ aufgetaucht. Wie ihr alle wisst, vergöttert der Wirt Tschemparkaroke seltsame Vögel. Tschemparkaroke ist noch immer so neugierig wie an dem Tag, da er von der Insel Murimach nach Echo gekommen ist. Allerdings sagte ihm der Besucher schon an der Tür, alle Frauen seien ... Oje, jetzt hab ich's vergessen! Jedenfalls war es ein merkwürdiges Wort.«

»Schachteln«, half ich ihm flüsternd weiter. »Er hat bestimmt gesagt, alle Frauen seien Schachteln.«

»Stimmt, Max! Bist du etwa ein Hellseher?«

»Nein, aber manische Typen wie dieser Mann hängen meist an einem Wort und wiederholen es immer wieder. Er hat der rothaarigen Lady das gleiche Wort gesagt: alte Schachtel. Daher weiß ich es.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Melifaro interessiert.

»Nichts Besonderes. Ein schrulliges, ziemlich unangenehmes Weib, könnte man vielleicht sagen.«

Als Melifaro diese Erläuterung hörte, wurde er beinahe übermütig. Ich hingegen zog es vor, mit meinen Erklärungen fortzufahren.

»Manische Männer verübeln Frauen oft etwas. Ihr Zorn kann sich auf das ganze Geschlecht richten oder nur auf Blondinen oder Pummelige oder so.«

»Lass doch die Kleinigkeiten«, murmelte Juffin. »Sir Kofa soll weitererzählen.«

»Tschemparkaroke war begeistert, ein ihm unverständliches Wort gehört zu haben, und nickte dem Fremden freundlich zu. Der fragte den Wirt, ob er ein Schmerzmittel für ihn habe, und Tschemparkaroke entschied, die beste Arznei sei ein Teller seiner vortrefflichen Suppe. Der Gast wollte zuerst nicht essen, aber der Wirt schwor bei seiner Mutter, diese Suppe sei das beste Schmerzmittel überhaupt. Also probierte der Fremde davon, und es schmeckte ihm. Und wie! Der Wirt hat gesagt, noch nie habe sich jemand so für seine Suppe begeistert. Kaum hatte der Gast aufgegessen, verschwand er. Tschemparkaroke hatte sich schon gedacht, dass er kein Geld dabeihatte und nicht wusste, dass in so einem Fall der König den Hungrigen die Zeche bezahlt. Die Zugereisten wissen das oft nicht und geraten deshalb mitunter in eine heikle Lage. Tschemparkaroke freute sich, dass seine Sammlung merkwürdiger Typen sich um einen weiteren Vertreter vergrößert hatte, und ging weiter seiner Arbeit nach. Nach einer Stunde war sein neuer Freund wieder da, blieb aber am Eingang und trat dort von einem Fuß auf den anderen. Kaum hatte Tschemparkaroke ihn gesehen, forderte er ihn auf einzutreten, denn er schulde ihm ohnehin nichts. Der Gast bekam eine zweite Portion Rekreationssuppe und murmelte, es gehe ihm schon besser. Als ich in den Alten Dorn kam, hatten sich dort schon viele Schaulustige versammelt. Der Wirt machte einen Bombenumsatz, und die Leute hatten was zu gaffen. Mit dem Ankömmling passierte etwas Merkwürdiges. Nach der zweiten Portion Suppe begann er erst zu lallen, dann zu tanzen - und zwar den seltsamsten Tanz, den ich je gesehen habe.

Vielleicht war es ja etwas Volkstümliches aus seiner Heimat. Dann schlief er ein, und ich stellte fest, dass ich mich zu lange im Wirtshaus aufgehalten hatte. Doch der Junge war sowieso nicht fähig, allein wegzugehen. Und obendrein hat Tschemparkaroke mir versprochen, ihn im Auge zu behalten. Ich dachte mir, dieser Sonderling könnte sich vielleicht als einer unserer Kunden entpuppen. Ich hab mich sogar gefragt, ob er ein Mensch ist. Doch ich alter Dummkopf hab mich nicht daran erinnert, dass Tschemparkaroke mir erzählt hat, Sie, Juffin, hätten den armen Jungen in den Alten Dorn geschleppt.*«

Mit dem armen Jungen war natürlich ich gemeint. Juffin seufzte reuig, als er an diesen Fehler dachte.

Am Eingang zum Alten Dorn verzog ich das Gesicht. Das Lokal war zwar berühmt, doch mein Körper wollte nicht wieder hierher, und mir war schon unterwegs übel geworden.

Das Gasthaus war so voll, als hätten alle Bewohner der Hauptstadt einen Sorgenfreien Tag. Kaum hatten sie uns gesehen, räumten sie langsam das Lokal. Der rothaarige Tschemparkaroke setzte eine kluge Miene auf und begann, energisch an den ohnehin sauberen Tellern herumzuschrubben.

Auf der breiten Holztheke lag mein Landsmann. Glücklicherweise gehörte er nicht zu meinen Schulfreunden - das wäre was gewesen! Er schien eher im Alter meines Vaters zu sein. Vielleicht aber hatte auch ein schweres Leben ihm tiefe Falten ins Gesicht gegraben. Er sah ziemlich schrecklich aus: Sein Mantel war schmutzig, seine Hose zerknittert, seit Tagen hatte er sich nicht rasiert, und er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Der Arme! Obendrein hatte er sichtlich zu viel Rekreationssuppe gegessen. Sein flacher Atem zeigte, dass es ihm körperlich alles andere als gut ging. Wäre er in unserer Anwesenheit gestorben, hätte mich das nicht überrascht.

Angewidert verzog Juffin das Gesicht: »Und um dieses Naturwunder zu finden, haben wir den ganzen Tag vergeudet? Na prima! Max, nimm ihn mit und lass uns gehen. Tschemparkaroke! Kannst du noch was zu dieser Geschichte beitragen?«

Der rothaarige Wirt zuckte die Achseln: »Was soll ich sagen, Ehrwürdiger Leiter? Das ist keine schöne Geschichte. Am Anfang war er noch lustig, aber dann hat er zu röcheln und zu stöhnen begonnen und einen Unsichtbaren durchs ganze Wirtshaus verfolgt. Die Leute waren mit seiner Show zufrieden, denn sie mögen Sonderlinge - auch wenn sie nicht bei Trost sind. Dann aber ist er auf die Bank gekracht und sofort eingeschlafen. Ich dachte, er würde jeden Moment zu den Dunklen Magistern gehen. Für so was hab ich ein Gespür. Gleich zappelt er ein paar Mal mit den Beinen - und aus die Maus, hab ich gedacht.«

»Vielen Dank für deine Auskunft«, sagte Sir Juffin. »Ich hätte nichts dagegen, wenn er jetzt sterben würde. Und du, Tschemparkaroke, bist sehr tapfer.«

Der Wirt wirkte sehr zufrieden, obwohl er nicht recht verstand, wofür er gelobt worden war. Juffin sah mich müde an.

»Nimm ihn, Max. Worauf wartest du? Tanzen wird er demnächst sowieso nicht mehr.«

Seufzend machte ich die mir schon vertraute Handbewegung, und der halbtote Manische landete zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Linken - dort also, wo einige Zeit zuvor schon Lonely-Lokley gesessen hatte. Tschemparkaroke fiel vor Staunen die Kinnlade runter. Er war in der Blütezeit der Epoche des Gesetzbuchs nach Echo gekommen und an solche kleinen Wunder nicht gewöhnt. Angewidert verzog ich das Gesicht, und wir gingen. Als Krönung des Ganzen musste ich mit meiner ekligen Hand auch noch unser A-Mobil steuern!

Im Saal der allgemeinen Arbeit befreite ich mich schnell von meiner leichten, aber unangenehmen Last, indem ich meinen Landsmann kurzerhand auf den Teppich warf. Dann ging ich mir die Hände waschen. Ich bin ein typischer Neurastheniker, und solche Ereignisse werfen mich immer aus der Bahn. Dieser manische Typ gefiel mir ganz und gar nicht. Das lag bestimmt auch daran, dass uns etwas verband - so unappetitlich er auch aussah. Seufzend kam ich zurück.

»Ob man ihn wiederbeleben sollte?«, überlegte Juffin gedankenverloren und sah sich unseren Fang mit Abscheu an. »Es ist viel passiert, aber ich möchte doch gern wissen, ob ...«

Ich konnte mir einigermaßen vorstellen, was mein Chef wissen wollte. Vielleicht aber auch nicht.

»Nimm das alles nicht so ernst, Max«, sagte Juffin heiter.

Normalerweise weiß er schneller als ich, was mit mir los ist. Diesmal aber kam sein Trost zu spät.

»Du solltest in dem, was hier passiert, keine Zerreißprobe für deine Nerven sehen, sondern zufrieden damit sein - schließlich haben wir jetzt die Chance, etwas völlig Neues zu erfahren. Kopf hoch, mein Junge!«

»Ich glaube nicht, dass diese Neuigkeiten meinen Zustand bessern werden«, murmelte ich.

Kofa und Melifaro sahen uns an, ohne zu begreifen, wovon wir sprachen.

»Das sind nur Kindereien«, sagte Juffin ihnen zur Erklärung. »Besser gesagt: familiäre Probleme. Ich werde mich jetzt ein wenig mit unserem frisch verhafteten Schönling beschäftigen.«

»Ich fürchte, ihm ist nicht mehr zu helfen«, meinte ich. »Immerhin wäre ich schon an einem Teller Rekreationssuppe fast gestorben - und er hat drei davon verputzt!«

»Ich habe nicht vor, ihm zu helfen, aber wer weiß - vielleicht beichtet er ja ein wenig«, meinte Juffin, hockte sich neben den Mann und begann, ihm erst die Ohren, dann den Hals zu massieren, doch seine rhythmischen Bewegungen verzauberten nur mich.

»Dreh dich lieber um«, hörte ich Juffins lautlosen Rat. »Es ist besser für dich, wenn du an dieser Sache nicht beteiligt bist.«

Mühsam wandte ich den Blick ab. Wie so oft tat Sir Juffin etwas, das ich von so einem soliden und respektheischenden älteren Gentleman nie erwartet hätte. Mit einem schrillen Schrei sprang er dem Unglücklichen auf den Magen, stieß sich von ihm wie von einem Sprungbrett ab und landete nach einem Salto wieder auf den Füßen.

»So prächtig hab ich mich schon lange nicht mehr amüsiert«, stellte Juffin fest. »Jetzt wird er sich bestimmt mit uns unterhalten.«

Mein Landsmann rührte sich tatsächlich ein wenig.

»Kela«, rief er. »Bist du das, Kela? Ich hab doch gewusst, dass wir uns irgendwann Wiedersehen.«

Wie in Trance näherte ich mich dem hässlichen Wesen.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

Das war dumm von mir, ich weiß. Was ging mich sein Name schon an? Aber es war der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam.

»Keine Ahnung. Hier nennt mich niemand beim Namen. Hast du vielleicht etwas Suppe für mich? Sie lindert tatsächlich alle Schmerzen.«

»Das würde ich nicht gerade sagen«, gab ich zurück und blieb hartnäckig bei meiner Meinung über dieses Gericht. »Außerdem kannst du daran sterben.«

»Quatsch! Ich bin doch schon tot, aber jemand hat mich erweckt. Wer mag das gewesen sein?«

»Ich bin das gewesen«, meldete sich Sir Juffin Halli. »Und du brauchst dich dafür nicht mal bei mir zu bedanken.«

»Kann mir jemand sagen, wo ich bin?«, fragte das unglückliche Wesen. »Der Mensch hat doch wohl das Recht zu wissen, wo er gestorben ist.«

»Du bist zu weit von zu Hause entfernt, als dass dir der Name unserer Stadt etwas sagen würde«, bemerkte ich.

»Egal - ich möchte es einfach nur wissen.«

»Du befindest dich in Echo.«

»Liegt das nicht in Japan? Aber hier gibt's gar keine Schlitzaugen ... Du machst dich über mich lustig, stimmt's? Das machen ja hier alle. Ich war sehr lange hierher unterwegs und weiß nicht mehr, warum. Die alten Schachteln haben mir auch nicht sagen wollen, wo ich bin. Sie waren bestimmt froh, dass ich in der Klemme saß. Aber dort, wohin ich sie geschickt habe, geht es ihnen auch nicht besser.«

Erstaunt stellte ich fest, dass dieser zielstrebige Mann unerschütterlich von der Richtigkeit seiner Taten überzeugt war. Er war also doch besessen - genau wie Sir Maba Kaloch gesagt hatte.

»Kela hat mir versprochen, ich würde hier Sterbehilfe bekommen«, meldete sich der Fremde unerwartet wieder zu Wort. »Wie ist es jetzt? Willst du mir helfen?«

»Wer ist eigentlich Kela?«, erkundigte ich mich.

»Der Straßenbahnfahrer. Ich kenne ihn zwar nicht näher, doch er hat mir versichert, hier wäre alles bald vorbei. Er hat mich eigentlich selber töten wollen, es sich dann aber anders überlegt und gesagt, das würden andere tun. Kela ist mein Freund. Als Kind hatte ich auch nur einen, aber dem hab ich den Hund getötet. Doch Kela ist mein allerbester Freund«, sagte er, versuchte aufzustehen und sah mich dabei weder ängstlich noch freundlich an. »Dein Gesicht kenn ich doch! Dich hab ich doch schon irgendwo gesehen! Damals hast du allerdings noch nicht diesen Kittel getragen. Richtig - ich hab dich im Traum gesehen! Genau!«

Seine Kräfte verließen ihn. Er schloss die Augen und schwieg.

»Wo will er mich gesehen haben?«, fragte ich erstaunt.

»Das spielt jetzt keine Rolle«, murmelte Sir Kofa. »Merkst du nicht, dass mit ihm etwas passiert, was wir nicht begreifen? Es gibt langsam keine Hoffnung mehr.«

»Alles halb so schlimm, Kofa. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt«, meldete sich Juffin heiter zu Wort, wandte sich dann an mich und meinte: »Er hat dich im Traum gesehen - wo denn sonst? Ob es dir gefällt oder nicht: Zwischen euch existiert eine feste Verbindung. Eine gefährliche Verbindung, würde ich sagen. Und das ist das Problem, Max. Es tut mir leid, aber du wirst ihn wohl umbringen müssen.«

»Was!?«

Ich war schockiert und wollte meinen Ohren nicht trauen. Die Welt ringsum geriet ins Rutschen - wie ein Sandhaufen, an dem der Bagger nagt.

»Warum soll ich ihn denn umbringen, Juffin? Die Todesstrafe ist doch längst abgeschafft. Das haben Sie mir selbst erzählt. Außerdem lebt er sowieso nicht mehr lange.«

»Darum geht es nicht. Sondern um dich. Dieser Fremdling hat deinen Eingang zu unserer Welt benutzt. Ich kann dir hier und jetzt nicht alles erklären, aber eins sollst du wissen: Wenn dieser Mensch eines natürlichen Todes stirbt, wird er für dich eine neue Tür zu unserer Welt öffnen. Diese Tür wird irgendwo auf dich warten. Niemand weiß, wie sie aussehen wird, und du hast zu wenig Erfahrung, um die Gefahr rechtzeitig zu erkennen. Hinter dieser Tür zu unserer Welt jedenfalls wird der Tod auf dich warten, weil auch er hierherkommen will. Nur indem du deinen Landsmann tötest, zerstörst du diese sinnlose, dumme, nicht von dir gewollte Schicksalsverbindung. Und denk daran: Du hast keine Zeit zum Überlegen. Er stirbt. Also ...«

»Verstanden, Juffin«, sagte ich nickend. »Sie haben recht.«

Die Welt um mich herum erzitterte, verlor ihre Stabilität und zerstob in Millionen kleiner Funken. Alles ringsum wurde leuchtend und trüb zugleich, und ich sah tatsächlich, nein, ich fühlte einen Korridor, der mich mit dem Besessenen verband. Ich zweifelte sehr daran, dass wir zwei voneinander getrennte Wesen waren. Wir schienen siamesische Zwillinge zu sein, wie sie auf dem Jahrmarkt von Schaulustigen begafft werden. Es gab nur einen Unterschied: Uns verband nichts Körperliches, sondern ein für andere unsichtbarer spiritueller Bezug. Das hatte ich zwar nicht von Anfang an gewusst, doch kaum war ich mir die Hände waschen gegangen - als ob mir das hätte helfen können! war es mir aufgefallen. Dann hatte ich dieses gruselige Wissen verdrängt, bis Juffin es schließlich ausgesprochen hatte.

Ich fiel neben meinem schrecklichen Zwilling auf die Knie, zog das hübsche Küchenmesser - Edelstahl, rostfrei - aus der Innentasche seines Mantels und stach es ihm in den Solarplexus, ohne mir weiter Gedanken zu machen.

Eigentlich war ich nicht stark - eher im Gegenteil -, doch dieser Vorfall ließ mich meine Kräfte neu beurteilen, denn das Messer fuhr ihm in den Leib wie in ein Stück Butter.

»Du hast es geschafft, mein Freund«, röchelte der Fremdling.

Seine letzten Worte waren vernünftiger, als der Ablauf dieses merkwürdigen Tages hätte erwarten lassen. Ich ging mir erneut die Hände waschen. Nur so konnte ich mich für meine Tapferkeit belohnen.

Als ich an den Ort zurückkehrte, an dem ich den Mann getötet hatte, waren dort schon viele junge Mitarbeiter mit Eimern und Putzlappen versammelt. Die Leiche allerdings fehlte. Aus dem Büro von Sir Juffin drang das Klappern von Geschirr - meine Kollegen waren offenbar zum gemütlichen Teil des Tages übergegangen.

»Vielen Dank, dass ihr den Toten so schnell beseitigt habt«, sagte ich und setzte mich. »Ihr werdet lachen, aber ich habe nie zuvor jemanden umgebracht - nicht mal aus Spaß an der Freud. Die eine Puppe von Dschuba Tschebobargo, die ich mit eigenen Händen auf dem Gehsteig zerschmettert habe, zählt nicht. Jetzt hab ich meine Unschuld verloren - also habt Geduld mit mir.«

»Niemand hat ihn beseitigt, mein Junge«, sagte Kofa leise. »Er ist verschwunden, als du das Zimmer verlassen hast. Nur die Blutlache ist geblieben. Darum wird der Boden jetzt geputzt.«

»Wie geht's, Max?«, fragte Juffin und gab mir eine Tasse heiße Kamra.

»So lala. Ich fühle mich noch immer reichlich seltsam - als liefe durch die Erde ein Riss.«

»Verstehe, aber das geht vorbei. Du hast alles richtig gemacht. Ich hatte nicht erwartet, dass es dir so gut gelingen würde.«

»Immerhin trage ich den Todesmantel«, sagte ich lachend, denn Lachen ist mein einziger Weg, wieder zu mir zu finden.

»Sir Juffin, ich muss dringend was trinken«, meldete sich Melifaro. »Ich dachte, ich hätte mich in diesem Tollhaus inzwischen an alles gewöhnt, aber jetzt muss ich so schnell wie möglich was trinken.«

»Ich hab schon im Fressfass Bescheid gesagt«, beruhigte ihn Juffin. »Ich hoffe, du hältst noch zwei Minuten durch.«

»Schwer zu sagen. Erst praktizieren Sie diese merkwürdigen Riten. Dann verschwindet das Hauptbeweisstück. Und dennoch fühlen Sie sich nicht verpflichtet, etwas zu erklären?«

»Nein. Das täte ich zwar gern, aber ... Jedenfalls war diese Bluttat notwendig. Glaub mir, mein Junge.«

»Ja? Vielleicht ist das ja bloß ein neues Gesellschaftsspiel, von dem ich noch nichts mitbekommen habe. Sir Kofa, vielleicht kannst du mich beruhigen?«

»Ich muss auch was trinken«, sagte Kofa Joch mit wohlwollendem Lächeln. »Danach stehe ich dir zu Diensten.«

»Das ist kein Geheimer Suchtrupp, sondern ein Kindergarten«, warf ich ein. »Ich hab einen Mann getötet, merkt euch das. Und dann ist er verschwunden. So was gibt einem doch zu denken! Obwohl... - ich glaube, ich muss auch was trinken.«

»Meine Abteilung dürfte über die Stränge schlagen«, stellte Juffin fest. »Bleibt nur zu hoffen, dass sich wenigstens Lonely-Lokley beherrscht. Wo ist er eigentlich?«

»Haben Sie mich gerufen, Sir?«, fragte Schürf und stand unvermittelt in der Tür. »Ist der Mörder etwa noch immer nicht gefunden?«

Wir vier blickten uns an und lachten. Erst sah das wie ein hysterischer Anfall aus, doch nach ein paar Sekunden waren wir tatsächlich fröhlich. Schürf trat in Juffins Büro, setzte sich, musterte uns interessiert, wartete, bis wir uns beruhigt hatten, und fragte erneut: »Wie läuft's denn mit dem Serienmörder?«

»Mit dem ist alles in Ordnung - Max hat ihn getötet, und die Leiche ist verschwunden«, sagte Melifaro und lachte erneut.

Ich allerdings hatte keine Kraft mehr, mich seiner Freude anzuschließen. In diesem Moment klopfte glücklicherweise der Bote vom Fressfass. Er kam wirklich wie gerufen!

Nie im Leben hätte ich vermutet, eine ganze Tasse auf einen Zug auszutrinken. Und schon gar keine Tasse Dschubatinischen Säufer! Aber der Körper weiß am besten, was er braucht. Und wenn es so weit ist, vollbringt er wahre Wunder.

»Sir Juffin«, begann Lonely-Lokley gelassen, »sagen Sie mir wenigstens

»Es ist wirklich alles so gelaufen, wie Melifaro gesagt hat, Sir Schürf - vorausgesetzt, man lässt ein paar pikante Details aus.«

»Max, warum haben Sie den Täter ganz allein getötet? Dazu noch auf so primitive Art?«, fragte mich unser Profikiller nun, über meine dilettantische Pfuscherei empört.

»Ich bin eben manchmal blutrünstig, Sir Schürf«, antwortete ich schuldbewusst. »Mitunter kann ich mich einfach nicht beherrschen.«

In diesem Moment brach Juffin in lautes Gelächter aus - ein Gelächter der Erleichterung, wie ich hoffte.

Denn nun war ihm klar, dass mit mir wieder alles in Ordnung war.

»Das ist aber schlimm, Max«, sagte Lonely-Lokley erschrocken. »Angesichts Ihrer Neigungen müssen Sie sich beherrschen können. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen ein paar einfache Atemübungen, die Selbstkontrolle und innere Ruhe fördern.«

Meinem offiziellen Freund gegenüber wollte ich seriös wirken.

»Vielen Dank, Schürf. Das könnte mir wirklich nicht schaden. Doch ehrlich gesagt habe ich bloß gescherzt. Ich erzähle Ihnen später genau, was passiert ist, fürchte aber, es wird ziemlich viel sein.«

»Wenn etwas davon geheim bleiben soll, sollten Sie mich in Unkenntnis lassen. Ausgeplauderte Geheimnisse schaden der Wahrheit.«

»Hast du das gehört, Melifaro?«, fragte Sir Kofa. »Das ist auch für dich die Antwort auf alle Fragen.«

»Mir reicht's!«, gab Melifaro angeheitert zurück. »Ich hab was getrunken, und jetzt geht's mir besser. Zu den Magistern mit euch und all euren schrecklichen Geheimnissen - auch ohne sie bleibt das Leben schön! Doch solange Sir Schürf noch hier ist... Du denkst doch, ich hätte euch beide verschaukelt, du blutrünstiges Wesen! Max, damit meine ich dich!«

»Stimmt«, sagte ich kühl. »Und auch mir reicht's langsam.«

»Dann musst du aber Sir Manga, meinen Vater, kennenlernen, um dich davon zu überzeugen, dass ich nicht gelogen habe. Juffin, können Sie uns beiden einen freien Tag geben - nur einen einzigen?«

»Wozu sollte ich euch noch brauchen?«, meinte Sir Juffin und zuckte die Achseln. »Von mir aus könnt ihr sofort verschwinden. Aber ihr habt nur einen Tag frei, nicht länger. Verstanden? Und nun zu euch, Sir Kofa und Sir Schürf: Ihr beide seid morgen für die Sicherheit des Vereinigten Königreichs verantwortlich. Heute Nacht passt Kurusch ganz allein auf. Stimmt's, mein kluger Vogel?«, sagte Juffin und streichelte das Tier zärtlich am wolligen Genick. »Ich habe vor, jetzt vierundzwanzig Stunden zu schlafen. Lady Melamori trinkt bestimmt gerade exquisite Weine in Gesellschaft ihres trefflichen Großvaters, und Max und Melifaro gehen die Katzen im Umland erschrecken. Eine tolle Truppe hab ich da beisammen! Einen Garanten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung!«

»Was ist mit dir los, Max?«, fragte mich Melifaro. »Wenn wir heute Nacht abreisen, sind wir in ein paar Stunden am Ziel. Und wenn du dich ans Steuer setzt, brauchen wir sogar nur eine Stunde. Da draußen erwarten uns Landluft, viel gutes Essen und mein Vater. Das alles ist etwas Besonderes - das kannst du mir glauben. Obwohl meine Mutter auch nicht von Pappe ist.«

»Viel essen und die Eltern besuchen - das klingt gut«, stellte ich träumerisch fest. »Und die schnelle Fahrt dorthin klingt noch besser. Du bist ein Genie, Melifaro, und ich stehe ewig in deiner Schuld. Vielen Dank auch Ihnen, Juffin. Ihr beide habt mir das Leben gerettet.«

Ich hatte nicht übertrieben. Ein Tapetenwechsel war das Einzige, was ich gerade brauchte, aber ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich so viel Glück haben würde.

»Na, gehen wir?« Melifaro stand schon auf der Türschwelle und scharrte mit den Hufen. Er mochte es nicht besonders, zu lange auf einem Fleck zu hocken. Schon gar nicht, wenn er gerade einen Plan geschmiedet hatte.

»Ja, wir gehen doch gleich. Juffin, sagen Sie mir nur noch, ob ich diese tollen Klamotten auch in der Freizeit tragen muss.« Es kam mir unpassend vor, einen Familienbesuch im Todesmantel zu absolvieren.

»Tja, du hast schon wieder Glück«, lächelte Juffin maliziös. »Deinen Mantel musst du nur innerhalb der Stadt tragen. Aber ich hatte gedacht, dein Kostüm gefiele dir ausnehmend gut.«

»Stimmt. Ich will bloß vermeiden, dass die Hühner aufhören, Eier zu legen ... Was ist? Hab ich schon wieder was Falsches gesagt?«

»Sündige Magister! Es gibt schon wieder ein Geheimnis zu lüften«, sagte Melifaro, klatschte in die Hände und seufzte. »Was redest du da von Hühnern? Eier legen doch nur Puten - das kannst du einem Dorfjungen wie mir ruhig glauben!«

Melifaro sah sich meine Behausung lange an und versuchte herauszufinden, ob er es mit einem Asketen oder einem Geizkragen zu tun hatte. In der Zwischenzeit schaffte ich es, meine beiden Kätzchen Armstrong und Ella auf den Schoß zu nehmen und ausgiebig zu streicheln. Ich flüsterte ihnen alle möglichen Zärtlichkeiten ins Ohr, die mir gerade durch den Kopf gingen, und genoss ihr intensives Schnurren. Dann lief ich ins Schlafzimmer und suchte im Schrank nach Klamotten, die meinen Vorstellungen von Freizeitkleidung entsprachen. Mit halb gefüllter Reisetasche kehrte ich ins Wohnzimmer zurück.

»Fertig! Ich fürchte allerdings, du hast keinen allzu guten Eindruck von meinen Lebensumständen gewonnen. Aber es hilft nichts: Ich liebe mein Nest.«

»Was redest du da?«, fragte Melifaro verblüfft. »Natürlich gibt es hier keinen Luxus. Das ist ja nur die normale Wohnung eines einsamen Helden. Unsinn, Max, du hast dich sehr romantisch eingerichtet.«

»Möchtest du was trinken, bevor wir fahren? Manchmal glaube ich, der am wenigsten gastfreundliche Mensch von ganz Echo zu sein. Ich hab nichts. Wir müssten etwas im Gesättigten Skelett bestellen.«

»Den Magistern sei Dank! Ich hab im Haus an der Brücke viel zu kräftig zugelangt - zu viel Alkohol, zu viel Kamra und zu viel von allem anderen. Wir fahren, Max. Sonst falle ich noch vor Müdigkeit um. Und du bestimmt auch.«

»Bei mir ist das anders - vergiss nicht, dass ich ein Nachtantlitz bin. Meine Zeit beginnt erst jetzt. Gehen wir!«

»Weißt du, Max, du hast etwas Unheilverkündendes an dir«, bemerkte Melifaro und setzte sich ins A-Mobil. »Deine Vorliebe für das Nachtleben, dein riskantes Fahren, dein etwas irrer Blick und dein schwarzer Lochimantel... Du isst nicht mal Rekreationssuppe! Von deiner merkwürdigen Gewohnheit gar nicht zu reden, schutzlose Staatsfeinde mit bloßen Händen zu töten. Das ist ganz schön viel für einen Einzelnen. Kein Wunder, dass Lady Melamori Angst vor dir hat.«

»Angst! ?«

»Na klar. Hast du das noch nicht gemerkt? Als ich sah, wie sie dich anhimmelt, dachte ich: fetzt hab ich einen ernsthaften Konkurrenten bekommen. Dann stellte ich fest, dass alles nur halb so schlimm war wie anfangs vermutet. Die Lady hat vor dir so viel Angst wie vor Alpträumen.«

»Unsinn! Warum sollte sie denn Angst vor mir haben? Sie ist doch kein Dummerchen.«

»Genau darum geht es ja. Sie hat eine bessere Menschenkenntnis als alle anderen hier, wirklich. Frag sie doch selbst! Darf ich ein Nickerchen machen, solange wir unterwegs sind?«

»Wir werden aber ziemlich lange brauchen. Der einzige Weg, den ich ohne deinen Rat finden kann, führt in die Leeren Länder.«

Das war natürlich gelogen - noch nicht mal dorthin kannte ich den Weg!

»Und ich dachte immer, du weißt alles - genau wie Juffin.«

»Fast alles - bis auf Adressen, Geburtsdaten und andere sinnlose Details.«

»Solche Kleinigkeiten sind wirklich unnütz. Außerdem sollte man von anderen nicht zu viel wissen. Aber gut - ich werde dir den Weg zeigen. Du hast mir übrigens noch nichts von deinem jüngsten Fall erzählt. Es ist zwar wichtig, Geheimnisse zu bewahren, aber ich sterbe beinahe vor Neugier.«

»Der Mörder war mein unehelicher Bruder«, flüsterte ich unheilschwanger. »Wir sind beide Anwärter auf das Erbe unseres Vaters. Auf uns warten zwei Stuten und jede Menge Pferdeäpfel. Ich habe meine dienstliche Position genutzt, um meinen Rivalen zu beseitigen.«

»Seltsam«, meinte Melifaro betrübt. »Und das soll ein großes Geheimnis gewesen sein?«

»Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es keins sein müssen«, murmelte ich. »Aber seltsam ist das schon - und reichlich uninteressant.«

»Schlimme Geschichte«, meinte Melifaro leichthin. Anscheinend verfügte er über einen unerschöpflichen Vorrat an guter Laune. »Na ja, zu den Magistern mit deinem Geheimnis. Hier müssen wir links abbiegen. Du hättest wirklich Rennfahrer werden sollen, mein Junge.«

»Wie sieht es eigentlich bei dir zu Hause aus?«, wollte ich wissen. »Juffin hat mich mal auf Besuch zum alten Makluk mitgenommen. Dort hätte mich beinahe der Schlag getroffen. So viele Sänften und Lakaien! Ich hoffe, so was gibt es bei dir nicht.«

»Max, schau mich an! Bin ich etwa der Sohn von Leuten, bei denen penible Ordnung herrscht? Meine Mutter behauptet, der Gast habe nur eine Verpflichtung: satt zu sein. Und mein Vater verachtet dumme und überflüssige Regeln. Weißt du, seinetwegen muss ich ohne einen Vornamen leben.«

»Wirklich? Ich hab nie verstanden, warum du nur beim Nachnamen gerufen wirst. Ich hab dich immer fragen wollen, dachte aber, du hast vielleicht einen schrecklichen Vornamen ...«

»... den niemand erfahren sollte? Keine Sorge! Das ist kein wunder Punkt - ich hab einfach keinen Vornamen. Bei meiner Geburt machte mein Vater gerade seine berühmte Reise. Meine Mutter meldete sich jeden Tag bei ihm, um zu fragen, wie sie mich nennen sollte. Und jeden Tag hatte er eine neue Idee. Also hat sie ihn immer aufs Neue gefragt. Als ich drei Jahre alt war, hatte sie die ewige Fragerei satt und erkundigte sich ein allerletztes Mal, diesmal in aller Schärfe, doch Sir Manga war damals sehr beschäftigt. Womit, weiß ich nicht. Jedenfalls meinte er: -Wofür braucht das Kind eigentlich einen Vornamen? Bei dem Nachnamen!« Meine Mutter hatte ihre eigenen Vorstellungen von ehelicher Harmonie und sagte: »Wie du willst, mein Lieber. Später wirst du noch darüber jammern.« Sie wollte einfach nicht weiterstreiten. Schließlich ging es ja nicht um ihren Namen, sondern um meinen. So bin ich um einen Vornamen herumgekommen - und beklage mich darüber nicht.«

»Bei mir ist es genau umgekehrt: Mit dem Vornamen hatte ich Glück - er ist das Einzige, wofür ich meinen Eltern dankbar bin.«

»Eben, du hast nur einen Vornamen!«, rief Melifaro nickend. »Ist das bei euch so üblich?«

»Eigentlich nicht, aber du hast doch mein Zuhause gesehen. Ich steh nicht so auf Luxus.«

»Und das ist auch gut so! Hier vorne rechts - und versuch mal, etwas langsamer zu fahren. Der Weg ist jetzt schlimm.«

»Langsamer? Niemals!«, rief ich kühn und raste über Schlaglöcher dahin.

»Wir sind da!«, stellte Melifaro erleichtert fest, als plötzlich eine hohe, dicht bewachsene Mauer auftauchte. »Leben wir noch? Max, du bist wirklich seltsam. Und so einen schrägen Vogel bringe ich mit nach Hause!

Aber zum Umkehren ist es zu spät. Nicht mal Juffin kann ich um Hilfe bitten - der ist nämlich noch schlimmer. Aber gehen wir, Sir Nachtalptraum.«

Die Bewohner des großen Hauses schliefen schon. Deshalb gingen wir leise in die Küche und vertilgten dort alles, was uns in die Hände geriet. Dann führte mich Melifaro in ein kleines, aber sehr gemütliches Zimmer.

»Wenn ich als Kind krank oder traurig war, hab ich immer hier geschlafen. Das ist der hübscheste Ort im ganzen Haus, glaub mir. Mach es dir bequem. Dieses Zimmer wirkt Wunder bei allen, die gerade einen schlimmen Tag hinter sich haben - so wie du. Erstens wirst du sehr schnell einschlafen, ganz anders, als du es gewöhnt bist. Und zweitens ... Aber das wirst du selber sehen. Diesen Teil des Gebäudes hat mein berühmter und hochgelehrter Großvater Philo Melifaro entworfen. Und er war nicht das letzte Mitglied im Orden des Geheimen Krauts.«

»Wirklich? Juffin hat mir mal ein Armband des Großen Magisters dieses Ordens geschenkt.«

»Na, da hast du Glück gehabt! Du solltest es immer dabeihaben, denn seine Wirkung ist stark. Ich gehe jetzt. Wenn ich nicht sofort ins Bett komme, sterbe ich vor Müdigkeit. Bis morgen, mein Wunder!«

Ich blieb allein zurück. Angenehme Müdigkeit umhüllte mich wie eine weiche Decke. Ich zog mich aus und inspizierte meinen Traumsalon. Dann schlug ich die Bettdecke zurück und schlüpfte in die warme Dunkelheit. Ich fühlte mich ruhig und gut. Schlafen wollte ich auf keinen Fall, sondern auf dem Bett liegen und nachdenklich an die Decke schauen. Was hätte ich auch Besseres tun sollen?

Die dunklen Balken über mir sahen herrlich aus. Ich hatte den Eindruck, sie zitterten leicht - wie kleine Wellen eines ruhigen Meers. Ihre rhythmische Bewegung schaukelte mich langsam in den Schlaf. Im Traum sah ich all die Orte, die ich besonders mochte: eine Stadt in den Bergen, einen Park im englischen Stil, Sandstrände. Nur von Echo träumte ich nicht. Aber das war auch kein Wunder: Die Stadt war längst Zentrum meines neuen Lebens geworden, und durch ihre Straßen spazierte ich Tag für Tag.

In dieser Nacht glitt ich leicht und nach Wunsch von einem Traum zum anderen. Nachdem ich lange genug durch den englischen Park spaziert war, wechselte ich an den Strand. Nach einer langen Zeit in den Dünen landete ich in einer Drahtseilbahn. Ein paar Mal hörte ich in der Nähe das leise Lachen von Maba Kaloch. Ihn selbst allerdings konnte ich nicht ausfindig machen. Doch allein sein Lachen empfand ich als bemerkenswertes Ereignis.

Kurz vor Mittag wachte ich auf und fühlte mich glücklich und frei. Die jüngsten Ereignisse erschienen mir wie ein Abenteuerfilm, vor der Zukunft hatte ich keine Angst, und die Gegenwart stellte mich rundum zufrieden. Ich wusch mich, zog eine strohgelbe Skaba und einen gleichfarbigen Lochimantel an, die ich am Vortag als Kontrast zu meiner Unheil verkündenden Arbeitskleidung eingepackt hatte, und meldete mich per Stummer Rede bei Melifaro.

»Schon aufgestanden? Du bist ja eine Rakete! Ich bleib noch ein wenig im Bett. Geh schon mal runter und trink Kamra mit meinem Vater. Oder trink sie allein, falls er schon weg ist. In einer halben Stunde komm ich zu dir.«

Ich ging ins Wohnzimmer, wo ich eine merkwürdige Szene erlebte. Ein hünenhafter junger Mann stampfte mit den Füßen auf den Boden, stützte sich dabei auf der Tischplatte ab und jammerte nach Leibeskräften: »Vater, warum?«

»Weil es so besser ist«, antwortete sein Gesprächspartner mit der Stimme eines Menschen, der viel gelitten hat. Es handelte sich um einen nicht besonders großen, elegant gekleideten Mann, dessen rotes Haar zu einem fantastischen Zopf geflochten war, der - das schwöre ich! - bis auf den Boden reichte. Nach einer Schrecksekunde war mir klar, dass Sir Manga Melifaro vor mir stand, der Verfasser der von mir so geliebten Enzyklopädie.

»Guten Tag, meine Herrschaften.«

Vor Zufriedenheit strahlend kam ich ins Zimmer, was ziemlich seltsam war, da ich Leuten gegenüber, die ich gerade erst kennenlerne, normalerweise sehr vorsichtig bin.

»Guten Tag, Sir Max. Begrüß unseren Gast, Bachba.«

»Guten Tag, Sir Max«, wiederholte der betrübte Riese brav.

»Und jetzt geh endlich zum Händler, mein Junge! Aber pass auf: Wir brauchen nur sechs Pferde. Sechs, also kein Dutzend! Wenn es nach mir ginge, bräuchten wir kein Einziges. Nur weil du so darum bettelst... Aber kein Dutzend! Verstanden?«

»Natürlich, Vater. Auf Wiedersehen, Sir Max. Sie haben mir Glück gebracht«, sagte der Riese und verließ sichtlich erfreut das Wohnzimmer.

»Das war mein Ältester«, stellte Sir Manga deutlich verwundert fest. »Ein Kind jugendlicher Leidenschaft, wie man so sagt. Es ist mir noch immer ein Rätsel, wie das passieren konnte.«

»Sie sind wirklich ein leidenschaftlicher Mensch, Sir Manga«, sagte ich lächelnd und goss mir eine Tasse Kamra ein, die noch besser schmeckte als im Fressfass - Ehrenwort!

»Kaum zu glauben, doch außer ihm und Melifaro habe ich noch einen Sohn, um mein Vaterherz zu ruinieren: Andschifa, den mittleren der drei. Er ist - ich schäme mich, es zu sagen - Pirat, und zwar einer der Schlimmsten, wenn man den Gerüchten im Hafen glauben kann. Und das, obwohl er ebenso unansehnlich ist wie ich.«

»Seemann zu sein, ist prima«, meinte ich. »Reisen macht Spaß. Man soll nicht immer hinterm Ofen hocken - davon wird man nur dick.«

»Sie passen wirklich gut zu meinem Jüngsten«, sagte Sir Manga und lächelte. »Sie haben eine genauso scharfe Zunge wie er.«

»Obendrein hat er nur den Nachnamen, ich nur den Vornamen. Aus uns beiden ließe sich ein vollständiger Bürger machen.«

»Stimmt. Sind Sie wirklich an der Grenze zwischen der Grafschaft Wuk und den Leeren Ländern geboren? Einen wie Sie hab ich dort noch nie getroffen.«

»Ich auch nicht!«, gab ich zurück und zuckte kaltblütig die Achseln. »Ich bin ein echtes Original.«

»Allerdings. Sir Max, ich muss Sie um Verzeihung bitten ...«

»Sündige Magister - wofür!?«

»Während Melifaro schläft, vertraue ich Ihnen ein Geheimnis an. Vor einiger Zeit hat er mich nach Sitten und Gebräuchen Ihrer Landsleute gefragt. Jetzt begreife ich, warum.«

»Wollte er etwas über die Riten der Freundschaft erfahren?«

»Genau. Hat Melifaro schon etwas Schrilles getan?«

»Er nicht, aber ein anderer.«

»Wissen Sie, Sir Max, ich bin ein eitler Mensch. Und wenn ich etwas nicht weiß ... Na ja, ich konnte mich doch nicht vor meinem Jüngsten blamieren. Also hab ich mir aus den Fingern gesogen, dass man in Ihrer Heimat um Mitternacht merkwürdige Lieder auf der Straße singen muss.«

»Er hat sie allerdings um zwölf Uhr mittags gesungen. Nachts bin ich im Dienst und hätte von dem Konzert nichts mitbekommen. Aber wir haben schon alles geklärt. Er hat mir versprochen, sich auf die Musik zu beschränken, die aus seinem makellosen Herzen kommt.«

»Dank sei den Magistern! Weil ich ein wenig übertrieben habe, habe ich auch behauptet ...«

»... man putze sich am letzten Tag des Jahres gegenseitig das Bad? Das hat mich am meisten erschüttert.«

»Was reden Sie denn da, Sir Max! So was hätte ich nie gesagt. Ich weiß ja, wie das Leben - was das angeht - in den Leeren Ländern aussieht. Dort gibt es doch gar keine Badezimmer.«

»Dann hat er sich das selbst ausgedacht und einen eigenen Beitrag zu Ihrer Erfindung beigesteuert.«

»Aber verraten Sie mich bitte nicht, Sir Max. Das passt doch alles sehr gut zusammen«, sagte Sir Manga, nachdem er herzlich gelacht hatte.

»Soll ich Sie diesem Raubtier ausliefern? Das würde ich nie tun«, erklärte ich und verbeugte mich vor ihm. »Vorausgesetzt allerdings, dass Sie mir das Rezept dieser Köstlichkeit verraten«, ergänzte ich und schob Piroggenkrümel auf meinem Teller zusammen.

Nach dem Frühstück verließ ich das Haus, ohne auf Melifaro zu warten. Ich streifte in der Gegend herum, bis ich wieder hungrig war, wälzte mich im Gras, schnupperte an allen Blumen, stopfte mir die Taschen meines Mantels mit kleinen Steinen voll und beobachtete wie verzaubert die Wolken. Das war einer der schönsten Tage meines Lebens. Am Abend hatte ich das Glück, Melifaros Mutter zu treffen. Ihre monumentale Silhouette brachte Licht in das Geheimnis der Herkunft des großen Bachba. Dabei war sie so hübsch, dass mir der Atem stockte. Sie schien eine Statue und kein Mensch zu sein - eine erstaunlich lebendige Statue allerdings.

Der nächste Morgen begann mit der schnellsten A- Mobil-Reise, die je in Echo stattgefunden hat. Ich musste den schlafenden Melifaro im Haus an der Brücke abliefern. Unsere rasche Fahrt bereitete ihm allerdings kein Vergnügen, da er die ganze Zeit träumend auf dem Rücksitz schlief. Als wir angekommen waren, kostete es mich viel Kraft, das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters dazu zu bewegen, seine Tätigkeit im Büro fortzusetzen. Als meine Bemühungen endlich Erfolg hatten, ging ich nach Hause. Dort nutzte ich die Vorzüge meiner nächtlichen Arbeitszeit und kroch wieder unter die Bettdecke - diesmal aber in Gesellschaft von Armstrong und Ella.

Bei Sonnenuntergang erschien ich im Haus an der Brücke und war angenehm überrascht. Lady Melamori war schon zurückgekehrt. Ihre Stimmung hatte sich deutlich gebessert, und sie schien für neue Abenteuer gerüstet.

»Das trifft sich ja gut«, sagte ich von der Türschwelle her. »Sie schulden mir noch einen Spaziergang, Gnädigste. Daran erinnern Sie sich doch bestimmt?«

»Aber natürlich. Wollen wir jetzt gehen? Sir Juffin wird Ihnen das sicher erlauben.«

»Na klar«, hörte ich die dunkle Stimme meines Chefs hinter der halb geöffneten Tür. »Ich muss sowieso bis spät in der Nacht hierbleiben.«

»Was ist passiert?«

»Nichts - nur der Jahresbericht für den König. In zwölf Tagen endet das Jahr. Hast du das schon vergessen? Und was so einen Bericht angeht, bist du mir keine große Hilfe. Leider! Also genieß das Leben - aber nur bis Mitternacht.«

Ich pfiff vorsichtig durch die Zähne. Bis dahin blieben uns nach meiner Uhr fünf Stunden. In letzter Zeit lief bei mir wirklich alles bestens! Das ließ mich umso erwartungsvoller in die Zukunft schauen.

»Ich habe nur eine Bedingung«, sagte Lady Melamori und blieb auf der Türschwelle stehen. »Kein A-Mobil, bitte. Man hört die schrecklichsten Dinge über Ihren Fahrstil.«

»Na schön«, meinte ich. »Dann gehen wir eben zu Fuß und bleiben auf belebten Straßen. Wenn der Mond aufgeht und ich mich langsam in einen Vampir verwandle, können Sie dann immer noch um Hilfe schreien. Im Übrigen könnten Sie sich an Melifaro ein Beispiel nehmen und mich duzen. Mit uns Vampiren sollte man nicht zu viele Umstände machen.«

Melamori lächelte verlegen. »Ich kann Sie nicht gleich duzen - so bin ich nicht erzogen.«

»Dafür kann ich das. Noch zehn Minuten und ich werde frech - einverstanden?«

»Natürlich, Max. Sie denken bestimmt, ich bin eine dumme Kuh, aber ... Na ja, der Vorschlag, auf belebten Straßen zu bleiben, ist sehr gut. Für den Anfang jedenfalls.«

»Für den Anfang? Klingt verheißungsvoll! Avanti, Gnädigste!«

Wir spazierten gemächlich durchs Zentrum von Echo. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass in der Idylle etwas fehlte. Dann begriff ich: Lady Melamori hatte keinen Geldbeutel dabei, den ich hätte tragen können. Später aßen wir Eis in einem hübschen kleinen Cafe auf dem Platz der Siege von König Gurig VII. Nicht alles passte also zur Atmosphäre meiner wiedergekehrten Jugend. Ich kam mir zwölf Jahre jünger vor, und Lady Melamori fühlte sich allem Anschein nach höchstens neunzig. Auch unser Gespräch war seltsam unschuldig - jedenfalls, bis ich mich entschied, das Thema zu wechseln.

»Melamori, was ich Sie schon lange fragen wollte ...«

»Lieber nicht, Max. Höchstwahrscheinlich weiß ich, was Sie ... was du fragen willst.«

»Wirklich? Ich wette eine Krone, dass du es nicht errätst.«

»Ich soll das nicht erraten können! ?«, rief sie frappiert.

Ich hatte offenbar einen Nerv getroffen, denn sie reagierte so leidenschaftlich wie Stammgäste beim Pferderennen.

»Du wolltest fragen, warum ich Angst vor dir habe«, verkündete sie. »Und jetzt gib mir die Krone.« Ihr Gesicht hellte sich nach diesem kleinen Sieg auf.

»Nimm sie, Gnädigste«, meinte ich und knallte die Goldmünze auf den Tisch, an dem wir saßen. »Soll ich sie dir einpacken, oder bist du nicht abergläubisch?«

»Pack sie ein. Abergläubisch bin ich zwar nicht, aber sicher ist sicher.«

»Natürlich. Aber ich wette zehn Kronen, dass du nicht weißt, wovor du eigentlich Angst hast.«

»Ich soll nicht wissen, wovor ich Angst habe? Wie kommst du denn darauf? Ich weiß nicht, wer du ... wer Sie sind. Und das Unbekannte ist das Einzige, was mich ängstigt. Du hast schon wieder verloren, Max. Geld auf den Tisch! Das ist auch besser so, denn dann kann ich dir was spendieren. Willst du Königlichen Schweiß.«

»Sündige Magister! Warum nicht gleich königlichen Urin? Was ist denn das wieder für ein Gebräu?«

»Der teuerste Likör - von den offenen jedenfalls.«

»Dann bestell mir was von diesem Schweiß. Es gibt da übrigens etwas, das ich noch nicht verstanden habe. Ich bin ein ganz normaler Mensch - von ein paar Seltsamkeiten abgesehen, die sich mit meiner Herkunft erklären lassen. Sir Manga Melifaro kann über dieses Thema Volksreden halten.«

»Diese Volksreden interessieren mich nicht die Bohne«, stöhnte Melamori. »Lukfi soll sich damit beschäftigen - der begeistert sich nämlich für völkerkundliche Bagatellen. Trinken Sie Ihren Likör, Max. Trotz seines seltsamen Namens ist er ganz ausgezeichnet. Und dann müssen wir auch wieder los. Sir Juffin vermisst Sie ... dich bestimmt schon.«

Der Likör schmeckte tatsächlich hervorragend, obwohl ich süßen Schnaps eigentlich nicht mag.

Natürlich begleitete ich meine Dame bis zur Haustür. Das ist in allen Welten so üblich - auch wenn die Dame eine große Verfolgungsmeisterin ist. Unterwegs schwiegen wir meist. Schließlich aber entschied sich Melamori, das i-Tüpfelchen zu setzen.

»Es ist alles in Ordnung, Max, wirklich. Ich hab bloß Zweifel, die ich zwar nicht richtig ernst nehme, die aber dennoch vorhanden sind. Natürlich bist du kein Hochstapler und sicher auch kein rebellischer Magister, der nach Echo zurückgekehrt ist. Das hätte ich nämlich längst durchschaut. Aber für einen normalen Menschen - wie schrullig er im Einzelfall sein mag - taugen Sie nicht. Ich verstehe wirklich nicht... Sie gefallen mir sehr, falls es Sie interessiert. Aber Sie ... du strahlst etwas Bedrohliches aus. Vielleicht keine echte Gefahr, doch es ist schwierig, das konkret zu benennen. Sir Juffin könnte mir bestimmt dabei helfen, doch er will nicht. Du weißt ja, wie er ist. Deshalb muss ich es allein schaffen. Und es wird mir auch gelingen.«

»Viel Erfolg dabei!«, meinte ich und zuckte die Achseln. »Und wenn du fertig bist, sag mir Bescheid. Ich hab nämlich keine Ahnung, was an mir bedrohlich sein soll. Versprichst du mir das?«

»Ja, aber das ist auch das Einzige, was ich dir versprechen kann. Gute Nacht, Max.«

Melamori verschwand hinter der massiven alten Haustür, und ich ging ins Haus an der Brücke, ohne zu wissen, was ich von unserem Treffen halten sollte. Einerseits schien alles mehr als verheißungsvoll zu sein, andererseits aber ... Ich zuckte die Achseln. Abwarten und Tee trinken! Ich musste auf alle Fälle Lonely-Lokley bitten, mir seine Atemübungen zu zeigen, denn in nächster Zeit würde ich übermenschliche Beherrschung brauchen.

Als ich nach ein paar Tagen schon glaubte, die Geschichte mit meinem Landsmann gehöre der Vergangenheit an, schreckte mich der Ruf von Sir Juffin viel zu früh aus dem Bett.

»Steh auf, Max«, tönte seine muntere Stimme durch mein verpenntes Bewusstsein. »Es gibt viel spannendere Sachen als den öden Schlaf, mit dem du dich jetzt schon geschlagene sechs Stunden beschäftigst. Zum Beispiel einen Besuch bei Maba Kaloch. In einer halben Stunde hol ich dich ab.«

Ich sprang wie von der Tarantel gestochen auf und hörte die erschrockene Ella unzufrieden miauen, während Armstrong nicht mal mit den Ohren zuckte. Innerhalb einer Viertelstunde badete ich, zog mich an und trank eine Tasse Kamra - das war neuer Rekord! Es blieb mir also genug Zeit, mich hinzusetzen und meinen Traum zu beenden.

»Maba ist bereit, uns ein paar Fragen zu beantworten. Wir haben also Glück, Max, denn der Alte löst seine Versprechungen nur selten ein«, sagte Juffin und wirkte dabei sehr zufrieden. »Hast du schon mit Schürf geübt? Du wirst Selbstbeherrschung noch sehr nötig haben.«

»Ja, ich hab angefangen. Aber mir reicht es, wenn ich Sir Maba sehe - kein Gesicht beruhigt mich so wie seins.«

»Stimmt, Junge. Doch auch das ist eine Illusion. Ich kenne keinen Gefährlicheren als ihn - und keinen, der beruhigender wirken würde«, sagte Juffin und nickte gedankenverloren. Seine Worte frappierten mich.

Diesmal brauchten wir nicht so lange wie beim letzten Mal, um Sir Mabas Haus zu finden, und irrten kaum eine Viertelstunde am Linken Flussufer herum. Das Wohnzimmer war leer, und der Hausherr kam erst nach ein paar Minuten. Er trug ein großes Tablett, musterte aber mit Befremden, was darauf versammelt war.

»Ich wollte euch eigentlich mit etwas Ungewöhnlichem begrüßen, aber ich fürchte, es ist ungenießbar«, sagte er und ließ das Tablett fallen. Ich zuckte innerlich zusammen, weil ich schrecklichen Lärm erwartete, doch das Tablett verschwand, ehe es den Boden erreicht hatte.

»Du magst zwar keine Wiederholungen, Maba, aber wir würden uns freuen, wenn du uns noch mal das wunderbare Getränk kredenzen würdest, das wir letztes Mal getrunken haben«, sagte Juffin hoffnungsvoll.

»Von mir aus - wenn ihr solche Langweiler seid und nichts Neues ausprobieren wollt!«

Sir Maba kroch unter den Tisch und brachte von dort einen Krug und drei elegante kleine Tassen mit, die mir seltsamerweise bekannt vorkamen.

»Hast du noch immer nicht begriffen, Max? Maba schiebt dir fürsorglich deine Vergangenheit unter die Nase-, sagte Juffin und lächelte.

»Aber natürlich! Sündige Magister - diese Tassen gehören ja zum Festservice meiner Mutter. Unter uns gesagt, Sir Maba: Dieses Service hab ich immer gehasst. Und die Brötchen, die Sie uns letztes Mal spendiert haben, wurden in einem Bistro in der Nähe meiner Zeitungsredaktion verkauft. Was bin ich nur für ein Dummkopf!«

»Na ja - du bist eher unaufmerksam. Außerdem warst du damals noch nicht darauf vorbereitet, hier auf Gegenstände aus deiner ehemaligen Welt zu treffen. Und der Mensch sieht nur, was er sehen will. Merk dir das für die Zukunft.« Mit diesen Worten zog Sir Maba einen Apfelkuchen unterm Tisch hervor.

»Das ist ja der Kuchen meiner Oma!«, rief ich. »Omas berühmter Apfelkuchen! Sir Juffin, jetzt können Sie sich davon überzeugen, dass meine Heimat nicht die schlimmste aller Welten ist.«

»Nein, Max«, sagte Sir Maba und überraschte mich erneut. »Das ist nicht der Kuchen deiner Oma, sondern der ihrer Freundin, die nur irgendwann das Rezept weitergegeben hat. Ich dachte mir, das Original schmeckt bestimmt besser als die Kopie. Aber gut - wie ihr seht, habe ich euer Rätsel gelöst, Kinder. Herzlichen Glückwunsch, Max. Du hast einen Doperst erschaffen, und das gelingt Neulingen selten, sehr selten.«

»Was soll ich getan haben? Was ist überhaupt ein Doperst?«, fragte ich erschrocken. »Wie soll ich etwas erschaffen, von dem ich keine Ahnung habe?«

»So was passiert eben manchmal«, stellte Juffin fest. »Ich glaube, derjenige, der das Weltall erschaffen hat, hat auch nicht gewusst, was es bedeutet.«

»Ich halte ungern Vorträge, aber bei einem so hoffnungsvollen Neuling kann ich schon mal eine Ausnahme machen«, seufzte Sir Maba Kaloch. »Alles beginnt damit, dass auf der Welt viele unbegreifliche Wesen leben - unter anderem auch Doperste, die uns Menschen gegenüber zwar nicht besonders feindselig, aber zu verschieden von uns sind, als dass wir einander verstehen könnten. Die Doperste kommen aus dem Nirgendwo und ernähren sich von unseren Ängsten und bösen Ahnungen. Manchmal nehmen sie das Aussehen eines Menschen an und erschrecken seine Bekannten. Ich kann dir sagen, wessen Aussehen der von dir erschaffene Doperst angenommen hat. Du hast ihn nur ein einziges Mal gesehen - als kleines Kind auf der Straße. Sein Gesicht hat dich sehr erschreckt. Dann hast du ihn vergessen - bis zu dem Zeitpunkt, da du die Tür zwischen den Welten öffnen musstest. Auf diese Aufgabe warst du sehr gut vorbereitet und hast weder Zeit noch Kraft mit unnützen Zweifeln verloren. Ich glaube, ihr beide habt wirklich den allerbesten Moment gewählt, Juffin. Meinen Glückwunsch - das muss man erst mal schaffen! Allerdings, Max, hast du nicht nur die Tür geöffnet, sondern auch das schreckliche Wesen mitgebracht. Du hast etwas gegen deine Ängste gebraucht und immer gedacht, das Unbekannte müsse auch seltsam sein. Und weil Juffin keine Alpträume für dich vorbereitet hatte, hast du die Lücke eigenständig, aber unbewusst gefüllt. Ich könnte dir das ausführlicher erklären, aber du wirst davon sowieso nichts verstehen. Glaub mir das, und sei bitte nicht sauer. Und dir, Juffin, erscheine ich demnächst im Traum und erkläre dir alles. Vielleicht schon heute Nacht. Das ist wirklich interessant. Max, bis zu diesem Zeitpunkt hat übrigens niemand gewusst, woher Doperste wirklich kommen. Wir haben also mit deiner Hilfe schon wieder ein Rätsel gelöst: Sie sind nur das Produkt der Furcht vor dem Unbekannten.«

Offen gesagt verstand ich von diesen Erklärungen kein Wort. Dafür erinnerte ich mich aber an etwas.

»Und was ist mit dem Hirngespinst, das im Cholomi- Gefängnis gelebt und Lonely-Lokley als Doperst bezeichnet hat? Ist unser Schürf etwa auch so einer?«

Sir Maba Kaloch kicherte.

»Nimm das Gerede von Machligl Annoch doch nicht so ernst! Doperst ist sein Lieblingsschimpfwort. So bezeichnet er ausnahmslos alle Agenten fremder Orden. Und soweit ich weiß, war auch Lonely-Lokley seinerzeit Mitglied in einer solchen Organisation - in welcher eigentlich, Juffin?«

»Im Orden der Löchrigen Tasse.«

»Genau! Er war doch der verrückte Fischer. Der hat damals wirklich viel Unheil gestiftet.«

»Sir Lonely-Lokley? Unheil!?«, fragte ich erstaunt.

»Warum wundert dich das, Max? Menschen ändern sich. Schau doch dich an! Wo ist der unglückliche Junge geblieben, der gezittert hat, wenn er die Absätze seiner Chefin klappern hörte?«, meinte Sir Maba.

»Sie haben recht.«

»Übrigens hab ich gesehen, wie ihr zwei das Hirngespinst fertiggemacht habt. Euer Wasserfall hat mich begeistert! Das war die beste Show seit Anfang der trostlosen Epoche des Gesetzbuchs.«

»Haben Sie das wirklich gesehen?«, fragte ich und war übers Staunen hinaus.

»Aber natürlich. Es ist mein Hobby, die Aufgaben ehemaliger Kollegen zu verfolgen. Da konnte ich mir dieses Vergnügen doch nicht entgehen lassen. Aber mach dir keine Illusionen, mein Junge - ich mische mich nie ein. Ich beobachte nur. Für Interventionen ist Sir Juffin zuständig. Und wir haben vielfach grundverschiedene Ansichten.«

»Was dich allerdings nicht davon abhält, für deine sogenannten Konsultationen Honorar zu verlangen«, warf Juffin boshaft ein.

»Natürlich nicht. Ich liebe Geld. Es ist so hübsch. Was deinen persönlichen Doperst anlangt, Max - früher oder später wirst du nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist töten müssen. Es ist nicht gut, das All mit solchen Dingen zu vermüllen. Obendrein ist ein Doperst, der zwischen zwei Welten unterwegs ist, etwas absolut Unanständiges. Damit ist meine Konsultation beendet. Und du, Juffin, solltest aufhören zu behaupten, ich würde vom König Geld bekommen, ohne dafür Gegenleistungen zu erbringen.«

»Schon gut. Ich habe offenbar gerade den größten Befürworter der Todesstrafe getroffen.«

»Und wie tötet man einen Doperst?«, fragte ich.

»Das wirst du wissen, wenn du ihn umgebracht hast.

Sei nicht so ungeduldig, Max. Theoretisch kann diese Sache hundert Jahre oder länger auf dich warten. Aber eines Tages wird es so sein, dass du keine andere Möglichkeit hast. Das Leben ist nämlich raffiniert. Und bis dahin weißt du bestimmt, was du zu tun hast.«

»Na - wenn Sie das so sagen, wird es wohl so sein«, meinte ich. »Jetzt haben Sie mich aber wirklich verwirrt.«

»Damit sollte jede gute Geschichte enden, Max. Wenn der Mensch zu verstehen aufhört, befindet er sich auf gutem Wege«, sagte Juffin zu mir. »Wir werden deine kostbare Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen, Maba. Außerdem haben wir schon alles aufgegessen. Aber vergiss bitte nicht: Du hast versprochen, mir im Traum zu erscheinen.«

»Das vergesse ich schon nicht. Ciao!«

Ich erwartete einen unvergesslichen Abgang, aber nichts dergleichen geschah. Sir Maba Kaloch verließ das Wohnzimmer durch die Tür, durch die er gekommen war, und wir traten in den Korridor hinaus.

»Bin ich etwa befördert worden?«, fragte ich. »Oder warum hat Sir Maba sich diesmal ohne Überraschung verabschiedet?«

»Bist du sicher, Max, dass er keine Überraschung für dich in petto hat?«, sagte Juffin und öffnete lächelnd die Haustür.

Ich trat über die Schwelle und erstarrte: Statt im Garten befanden wir uns in unserem Büro.

»So ist das eben mit ihm«, zwinkerte Juffin Halli mir zu. »Sei nie zu entspannt, wenn du mit Maba Kaloch zu tun hast.«

Ich setzte mich in meinen Sessel, begann mit den Atemübungen, die Sir Lonely-Lokley mir vorgeführt hatte, und hoffte vage, sie würden mir helfen.

Загрузка...