DIE WANDELBARE ZUKUNFT

Edwin James, Chefprogrammierer der Erde, hatte sich auf einem kleinen dreibeinigen Stuhl vor dem Wahrscheinlichkeitsrechner niedergelassen. Er war ein kleiner, schmaler Mann von eindrucksvoller Häßlichkeit. Die riesige Steuertafel, dreißig Meter in die Höhe ragend, ließ ihn zwergenhaft erscheinen.

Das gleichmäßige Summen der Maschine, das Blinken der Lichter an der Tafel, verlieh ihm ein Gefühl der Sicherheit, das er als trügerisch erkannte, aber es beruhigte ihn doch. Er war eben eingedöst, als sich die Lichtzeichen änderten.

Er schreckte hoch und rieb sich die Augen. Aus einem Schlitz in der Tafel glitt langsam ein Papierstreifen. Der Chefprogrammierer riß ihn ab und studierte ihn. Er nickte bedrückt und verließ mit schnellen Schritten den Saal.

Fünfzehn Minuten später betrat er den Konferenzraum des Weltplanungsrates. Die fünf Vertreter der Vereinigten Distrikte der Erde saßen an dem langen Tisch und erwarteten ihn.

Aus den beiden amerikanischen Staaten hatte sich in diesem Jahr ein neues Mitglied hinzugesellt, Roger Beatty. Er war groß und schlaksig; sein braunes Haar wurde bereits schütter. Er schien von Eifer erfüllt, ernsthaft und verlegen zu sein. Er las in einem Handbuch und sog von Zeit zu Zeit an seinem Sauerstoffinhalator.

James kannte die anderen Mitglieder gut. Lan Il aus PanAsien, so klein, runzlig und unverwüstlich wie immer aussehend, unterhielt sich angeregt mit dem blonden, großen Dr. Sveg aus Europa. Miss Chandragore, schön und elegant, spielte Schach mit Aaui aus Ozeanien.

James betätigte einen Regler, der die Sauerstoffversorgung des Zimmers erhöhte, und die Ratsmitglieder stellten dankbar ihre Inhalatoren zur Seite.

»Tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen«, sagte James und nahm seinen Platz an der Schmalseite des Konferenztisches ein. »Die laufende Voraussage ist eben eingetroffen.«

Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche und schlug es auf.

»In unserer letzten Sitzung einigten wir uns auf die Wahrscheinlichkeitslinie 3B3CC, die im Jahre 1832 begann. Der Faktor, auf den wir dabei abstellten, war das Leben Albert Levinskys. In der geschichtlichen Hauptlinie starb Levinsky 1935 an den Folgen eines Autounfalls. Durch den Übergang auf die Wahrscheinlichkeitslinie 3B3CC entging Levinsky diesem Unfall und erreichte ein Alter von 62 Jahren. Seine Arbeit konnte er vollenden. Das Ergebnis in unserer Zeit ist die Erschließung der Antarktis.«

»Wie steht es mit den Nebenwirkungen?« fragte Janna Chandragore.

»Sie werden in dem Bericht eingehend behandelt, den Sie später noch erhalten. Im Prinzip kann man jedoch sagen, daß 3B3CC der geschichtlichen Hauptlinie nahezu parallel verläuft. Alle wichtigen Ereignisse bleiben. Es gab natürlich einige Vorgänge, die von der Voraussage nicht erfaßt wurden. Unter anderen handelt es sich dabei um die Explosion einer Ölquelle in Patagonien, eine Grippeepidemie in Kansas und eine Zunahme der Industriegase über Mexiko City.«

»Sind alle Betroffenen entschädigt worden?« wollte Lan Il wissen.

»Gewiß. Die Kolonisierung der Antarktis ist bereits begonnen worden.«

Der Chefprogrammierer entfaltete das dem Wahrscheinlichkeitsrechner entnommene Papierband.

»Wir stehen jetzt vor einem Dilemma. Wie vorausgesagt, führt der Verlauf der historischen Hauptlinie zu unerfreulichen Komplikationen. Aber nirgends zeigt sich eine gute Alternativlinie, auf die wir umschalten könnten!«

Stimmengemurmel erhob sich.

»Lassen Sie mich Ihnen die Lage erklären«, sagte James. Er trat an eine Wand und entrollte eine große Karte. »Der Krisenpunkt wird am 12. April 1969 erreicht, und unser Problem betrifft einen Mann namens Ben Baxter. Die Umstände sind folgende.«

Die Ereignisse lenken Kraft ihrer eigenen Natur den Blick auch auf die Alternativmöglichkeiten, von denen jede ihre eigene historische Entwicklung produziert. In anderen Raum-Zeit-Welten hat Spanien die Seeschlacht von Lepanto, haben die Normannen bei Hastings, die Engländer bei Waterloo verloren.

Angenommen, Spanien wäre bei Lepanto unterlegen.

Spanien wurde tatsächlich schwer geschlagen. Die unbesiegbare türkische Seemacht fegte die Europäer vom Mittelmeer. Zehn Jahre danach eroberte eine türkische Flotte Neapel und bahnte damit der Eroberung Österreichs durch die Mauren den Weg.

Diese Spekulationen wurden nach der Entwicklung der Temporalselektion und -versetzung zu überprüfbaren Tatsachen. Im Jahre 2103 konnten Oswald Meyner und seine Mitarbeiter die theoretische Umschaltung von der historischen Hauptlinie - wie man das der Bequemlichkeit halber nannte - auf Alternativlinien zeigen. Die Grenzen waren jedoch klar erkennbar.

So erwies es sich als Unmöglichkeit, auf eine Vergangenheit umzuschalten, in der Wilhelm der Eroberer die Schlacht von Hastings verlor. Die von diesem Ereignis ausgehende Welt wäre zu verschieden, ja völlig fremd gewesen. Man konnte also nur auf eng benachbarte und verwandte Linien umsteigen.

Im Jahre 2212 wurde die theoretische Möglichkeit zu einer praktischen Notwendigkeit. Zu dieser Zeit voraussagte der Sykes-Raborndatenrechner in Havard die völlige Sterilisierung der Erdatmosphäre durch das Anwachsen radioaktiver Ausfallprodukte. Der Prozeß sei irreversibel und unaufhaltbar. Man könne ihn nur in der Vergangenheit zum Stillstand bringen, wo die Vergiftung begonnen hatte.

Die erste Umschaltung wurde mit dem neuentwickelten Adams-Holt-Maartens-Selektor vorgenommen. Der Weltplanungsrat wählte eine Linie, die den frühen Tod Wassili Outschenkos - und damit die Auslöschung seiner irrigen Theorien über die durch radioaktive Strahlung verursachten Schädigungen - enthielt. Ein Großteil der kommenden Verseuchungen konnte dadurch unterbunden werden, wenngleich auf Kosten von 73 Menschen -Nachkommen Outschenkos, für die sich Tauscheltern nicht finden ließen.

Danach gab es keine Umkehr. Die Umschaltung auf andere historische Linien erwies sich für die Welt als ebenso notwendig wie die Vorbeugungsmaßnahmen gegen Seuchen.

Aber die Methode hatte ihre Nachteile. Einmal mußte die Zeit kommen, da keine verfügbare Linie sich verwenden ließ, da alle Möglichkeiten der Zukunft ungünstig erschienen.

Als das geschah, war der Planungsrat entschlossen, direkt einzugreifen.

»Und das sind die Konsequenzen für uns«, schloß Edwin James. »Darauf läuft es hinaus, wenn wir die historische Hauptlinie nicht unterbinden.«

»Sie sehen also in diesem Falle ernste Schwierigkeiten für die Erde voraus«, meinte Lan Il.

»Bedauerlicherweise ja.«

Der Programmierer füllte ein Glas mit Wasser und blätterte in seinem Notizbuch.

»Der Angelpunkt ist Ben Baxter. Er stirbt am 12. April 1969. Er muß aber mindestens noch zehn Jahre leben, damit seine Arbeit die gewünschte Wirkung auf die historische Entwicklung nehmen kann. In dieser Zeit wird Ben Baxter von der amerikanischen Regierung den Yellowstone-Nationalpark kaufen, ihn weiterhin als Reservat betreiben, aber Aufforstung betreiben, um Holz verkaufen zu können. Diese Unternehmung wird äußerst erfolgreich sein. Er wird weitere riesige Wälder in Nord- und Südamerika erwerben. Die Erben Baxters werden die nächsten zwei Jahrhunderte Holzkönige sein und auf der ganzen Welt große Ländereien besitzen. Dank ihren Bemühungen wird es ohne Unterbrechung bis in unsere Zeit hinein gewaltige Wälder geben. Wenn Baxter jedoch stirbt -« James machte eine müde Geste. »Nach Baxters Tod werden die Wälder abgeholzt, bevor die Staaten der Welt die Konsequenzen überhaupt erkannt haben. Dann kommt die große Trockenfäule von 2003, der die restlichen Waldbestände zum Opfer fallen. Und schließlich die Gegenwart, in der der natürliche Kohlendioxyd-Sauerstoff-Kreislauf durch die Vernichtung der Bäume gestört ist, in der keine Verbrennungsmaschinen mehr betrieben werden dürfen, in der man Sauerstoffgeräte benötigt, um überleben zu können.«

»Wir haben die Wälder wieder aufgeforstet«, sagte Aaui.

»Es dauerte Hunderte von Jahren, bis sie eine wirkungsvolle Größe erreicht haben, selbst bei unseren Methoden. In der Zwischenzeit kann das Gleichgewicht noch stärker gestört werden. Das ist die Bedeutung Ben Baxters für uns. Von ihm hängt es ab, welche Luft wir atmen!«

»Gut«, meinte Dr. Sveg. »Die Hauptlinie, in der Baxter stirbt, ist zweifellos unbrauchbar. Aber es gibt ja Alternativen -«

»Viele sogar«, erklärte James. »Wie üblich sind die meisten davon nicht verwendbar. Wenn man die Hauptlinie mitzählt, stehen drei Möglichkeiten zur Wahl. Unglücklicherweise führt aber jede von ihnen am 12. April 1969 zum Tode Ben Baxters.« Der Programmierer wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn. »Um genauer zu sein, Ben Baxter stirbt am Nachmittag des 12. April 1959. Sein Tod ist das Resultat einer geschäftlichen Zusammenkunft mit einem Mann namens Ned Brynne.«

Roger Beatty, das neue Mitglied, räusperte sich nervös. »Dieses Ereignis tritt in allen drei Wahrscheinlichkeitswelten ein?«

»Ja. In jeder davon ist Brynne die Ursache für Baxters Tod.«

Dr. Sveg erhob sich schwerfällig. »Früher hat der Rat es vermieden, unmittelbar in vorhandene Wahrscheinlichkeitsentwicklungen einzugreifen. Aber diese Situation verlangt nach direktem Vorgehen.«

Die Ratsmitglieder nickten.

»Kommen wir zur Sache«, meinte Aaui. »Kann man diesen Ned Brynne zum Wohl der Erde ausschalten?«

»Nein«, erwiderte James. »Brynne spielt selbst eine wesentliche Rolle in unserer Zukunft. Er besitzt eine Option auf beinahe zweihundert Quadratkilometer Wald. Er benötigt Baxters Unterstützung, um ihn kaufen zu können. Wenn man Brynne von dieser Begegnung mit Baxter jedoch abhalten könnte -«

»Wie?« fragte Beatty.

»Die Wahl steht bei Ihnen«, meinte James. »Drohungen, Überredung, Bestechung, Entführung - bis auf einen Mord ist alles zulässig. Wir haben drei Welten, in denen wir arbeiten können. Wenn uns nur in einer davon gelingt, Brynne zurückzuhalten, ist unser Problem gelöst.«

»Was halten Sie für die beste Methode?« fragte Aaui.

»Versuchen wir mehrere, in jeder Wahrscheinlichkeitswelt eine andere«, schlug Miss Chandragore vor. »Auf diese Weise haben wir die meisten Aussichten. Sollen wir diese Aufgabe selbst übernehmen?«

»Wir sind ihr noch am ehesten gewachsen«, erwiderte Edwin James. »Wir wissen, welche Faktoren mit hineinspielen. Und wir verstehen zu improvisieren - was wir diesmal bestimmt brauchen können. Jedes Team ist auf sich allein gestellt. Es gibt keine Möglichkeit, die Fortschritte der anderen Teams quer durch die Zeitlinien zu verfolgen.«

»Dann muß also jedes Team davon ausgehen, daß die beiden anderen Gruppen versagt haben«, erklärte Dr. Sveg.

»Wahrscheinlich sogar mit Recht«, sagte James bedrückt. »Stellen wir also die Teams zusammen, und suchen wir uns die entsprechenden Methoden aus.«

I

Am Morgen des 12. April 1969 erwachte Ned Brynnne, wusch sich und kleidete sich an. Um 13 Uhr 30 an diesem Nachmittag war er bei Ben Baxter, dem Präsidenten der Baxter Industrie-AG angemeldet. Brynnes ganze Zukunft hing vom Ausgang dieses Gesprächs ab. Wenn er die Unterstützung des gigantischen Baxter-Unternehmens gewann, noch dazu unter günstigen Bedingungen.

Brynne war ein großer, dunkelhaariger, gutaussehender Mann von sechsunddreißig Jahren. In seinen betont milde blickenden Augen war ein Funken fanatischen Stolzes zu erkennen, eine Andeutung unvernünftigen Eigensinns sprach aus seinen schmalen, zusammengepreßten Lippen. Seine Bewegungen zeigten die beherrschte Kraft eines Mannes, der sich ständig beobachtet und beurteilt.

Er war beinah fertig zum Ausgang. Er klemmte sich ein Stöckchen unter den Arm und schob Somersets >Verzeichnis des amerikanischen Adels< in die Tasche. Ohne dieses unfehlbare Buch verließ er nie das Haus.

Schließlich steckte er den goldenen Stern seines Ranges ans Revers. Brynne war Kammerherr zweiten Grades, eine Tatsache, die ihn mit besonderem Stolz erfüllte. Manche Leute hielten ihn für viel zu jung für eine derart hohe Stellung. Aber sie mußten zugeben, daß er die Rechte und Pflichten seines Amts mit einer Würde wahrnahm, die man in seinem Alter normalerweise noch nicht besaß.

Er schloß seine Wohnung ab und ging zum Lift. Eine kleine Gruppe von Menschen wartete bereits, vorwiegend Bürger, aber auch zwei Stallmeister. Als der Aufzug kam, machten ihm alle Platz.

»Angenehme Stunden, Kammerherr Brynne«, grüßte der Liftführer und ließ die Kabine hinabgleiten.

Brynne neigte seinen Kopf zwei Zentimeter in der üblichen Erwiderung auf den Gruß eines Bürgers. Er beschäftigte sich in Gedanken ausschließlich mit Ben Baxter. Aber aus dem Augenwinkel bemerkte er einen der Fahrgäste, einen großen, kräftigen Mann mit goldbraunem Teint und polynesischen Gesichtszügen und schräggestellten, dunklen Augen. Brynne fragte sich, was ein solcher Mann in seinem Wohnhaus zu suchen hatte. Er kannte die anderen Bewohner vom Sehen, wenn ihr niederer Rang auch nicht zuließ, daß er sie beachtete.

Der Lift erreichte das Vestibül, und Brynne vergaß den Polynesier. Er hatte heute andere Sorgen. Im Zusammenhang mit Ben Baxter stellten sich einige Probleme, die er lösen mußte, bevor er zur festgesetzten Stunde bei ihm erschien. Er schritt in einen trüben, grauen Aprilvormittag hinaus und beschloß, für ein spätes Frühstück die Prince Charles-Kaffeestube aufzusuchen.

Es war 10 Uhr 25.

»Was halten Sie von ihm?« fragte Aaui.

»Scheint mir ein arroganter Bursche zu sein«, meinte Roger Beatty. Er atmete tief und genoß die sauerstoffreiche Luft. Ein herrlicher Luxus. In seiner Zeit drehten sogar die reichen Leute ihre Sauerstoffgeräte nachts ab.

Sie gingen hundert Meter hinter Brynne her. Brynnes große, elegante Gestalt fiel selbst im Gewühl New Yorks auf.

»Er hat Sie im Lift angestarrt«, sagte Beatty.

»Ich weiß.« Aaui grinste. »Er soll sich nur ein bißchen den Kopf zerbrechen.«

»Er sieht mir nicht so aus, als würde ihm so schnell etwas Kopfzerbrechen bereiten«, meinte Beatty. »Wenn wir nur mehr Zeit hätten.«

»Anders war es nicht zu machen«, erklärte Aaui achselzuckend. »Die nächste Möglichkeit wäre vor elf Jahren gewesen. Wir hätten dann aber auch bis zu diesem Tag warten müssen, um etwas unternehmen zu können.«

»Wenigstens wüßten wir dann mehr über Brynne. Er sieht mir nicht danach aus, als könnte man ihm leicht einen Schrecken einjagen.«

»Das ist wahr«, stimmte Aaui zu. »Aber wir haben uns nun einmal darauf eingelassen.«

Sie blieben auf Brynnes Spur, beobachteten, wie die Menschen ihm Platz machten, als er dahinmarschierte, ohne nach links oder rechts zu sehen. Und dann passierte es.

Brynne, der immer noch angestrengt nachdachte, stieß mit einem dicken Mann zusammen, der den mit Purpur und Silber verzierten Stern eines Ritters im Revers trug.

»Kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst, Dummkopf?« fauchte der Ritter.

Brynne erkannte, welchen Rang sein Gegenüber bekleidete, schluckte und murmelte: »Entschuldigen Sie, Sir.«

Der Ritter ließ sich nicht so schnell abspeisen. »Gehört es zu deinen Gewohnheiten, Höherstehende anzurempeln, Bursche?«

»Nein, Sir«, erwiderte Brynne. Sein Gesicht lief rot an. Nur mit Mühe beherrschte er sich. Eine Gruppe von Bürgerlichen hatte sich versammelt, um zuzuschauen. Die Leute grinsten und stießen einander an.

»Dann paß gefälligst besser auf!« schrie der dicke Ritter. »Lauf nicht wie ein Mondsüchtiger herum, sonst werden dir Manieren beigebracht!«

Mit tödlicher Ruhe sagte Brynne: »Sir, wenn Sie glauben, mir eine solche Lektion erteilen zu müssen, bin ich gerne bereit, Sie an einem Platz Ihrer Wahl zu treffen. Die Waffen können Sie selbst bestimmen -«

»Ich? Dich treffen?« fragte der Ritter ungläubig.

»Mein Rang läßt das zu, Sir.«

»Dein Rang? Du stehst gut fünf Stufen unter mir, du Idiot! Genug davon, sonst schicke ich dir meine Diener - die im Rang ebenfalls noch über dir stehen - und lasse dir von ihnen Manieren beibringen. Ich werde dein Gesicht in Erinnerung behalten, Freundchen! Aus dem Weg!«

Und damit stakte der Ritter davon.

»Feigling!« sagte der wütende Brynne mit blutrotem Gesicht. Aber er sagte es leise, was den Bürgern nicht entging. Brynne packte sein Stöckchen und funkelte sie an. Mit fröhlichem Grinsen entfernten sich die Leute.

»Hier sind Duelle erlaubt?« fragte Beatty.

Aaui nickte. »Seit 1804, als Alexander Hamilton Aaron Burr in einem Zweikampf tötete.«

»Wir machen uns wohl besser an die Arbeit«, meinte Beatty. »Aber mir wäre es lieber, wenn wir etwas mehr Ausrüstung hätten.«

»Wir haben mitgenommen, was wir tragen konnten. Kommen Sie.«

In der Prince Charles-Kaffeestube setzte sich Brynne an einen Tisch an der Rückseite des Raumes. Seine Hände zitterten; mühsam beherrschte er sich. Zum Teufel mit diesem Ritter!

Blöder, angeberischer Kerl! Aber war er zu einem Zweikampf bereit? Nein, natürlich nicht. Er verbarg sich lieber hinter den Vorrechten seines Ranges.

Wut stieg schwarz und drohend in Brynne auf. Er hätte den Kerl umbringen und die Konsequenzen einfach mißachten sollen! Zum Teufel mit der ganzen Welt! Kein Mensch durfte sich erlauben, so mit ihm umzuspringen.

Nimm dich zusammen, befahl er sich. Er konnte nichts tun. Er mußte über Ben Baxter und die wichtige Verabredung nachdenken. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war gleich elf Uhr. In zweieinhalb Stunden würde er in Baxters Büro sitzen und -

»Ihre Bestellung, Sir?« fragte ein Kellner.

»Heiße Schokolade, Toast und ein verlorenes Ei.«

»Pommes frites?«

»Wenn ich Pommes frites gewünscht hätte, wäre ich so frei gewesen, sie zu bestellen!« schrie Brynne.

Der Kellner wurde blaß, schluckte, sagte: »Jawohl, Sir, entschuldigen Sie, Sir«, und suchte das Weite.

Jetzt brülle ich schon Bürger an, dachte Brynne. Ich muß mich beherrschen!

»Ned Brynne!«

Brynne fuhr hoch und drehte sich um. Er hatte deutlich gehört, daß jemand seinen Namen flüsterte. Aber im Umkreis von sechs Metern saß niemand in seiner Nähe.

»Brynne!«

»Was ist denn?« murmelte Brynne unwillkürlich. »Wer spricht da?«

»Du bist nervös, Brynne, du verlierst die Kontrolle über dich. Du brauchst Ruhe, Erholung, eine Veränderung.«

Brynne wurde unter seiner Sonnenbräune leichenblaß und sah sich im Cafe um. Nahe dem Schaufenster saßen drei alte Damen; dahinter konnte er zwei Männer erkennen, die sich angeregt miteinander unterhielten.

»Geh nach Hause, Brynne, ruhe dich aus. Nimm dir Urlaub, solange es noch möglich ist.«

»Ich habe eine wichtige geschäftliche Besprechung«, sagte Brynne mit schwankender Stimme.

»Was ist wichtiger, das Geschäft oder die geistige Gesundheit?« höhnte die Stimme.

»Wer spricht mit mir?«

»Wie kommst du auf die Idee, daß jemand mit dir spricht?« fragte die Stimme sanft.

»Rede ich denn mit mir selbst?«

»Das müßtest du eigentlich wissen.«

»Das Ei, Sir«, sagte der Kellner.

»Was?« brüllte Brynne.

Der Kellner wich zurück und verschüttete dabei heiße Schokolade in die Untertasse. »Sir?« winselte er.

»Kriechen Sie nicht so lautlos herum, Sie Trottel!«

Der Kellner starrte Brynne ungläubig an, stellte das Tablett ab und ergriff die Flucht. Brynne sah ihm argwöhnisch nach.

»Du darfst mit keinem Menschen mehr zusammentreffen«, erklärte die Stimme. »Geh nach Hause, leg dich ins Bett, nimm eine Tablette, schlaf und heile dich aus!«

»Aber was ist denn los? Warum?«

»Weil dein Verstand auf dem Spiel steht! Diese Stimme stellt den letzten Versuch deines Verstandes dar, sein Gleichgewicht zu bewahren. Du kannst es dir nicht leisten, diese Warnung zu überhören, Brynne!«

»Das kann nicht wahr sein!« wandte Brynne ein. »Ich bin doch völlig normal!« »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte eine Stimme neben ihm.

Brynne fuhr herum, diese neuerliche Störung streng zu bestrafen. Er sah die Uniform eines Polizisten vor sich. Der Mann trug die weißen Epauletten eines adligen Leutnants.

Brynne schluckte und sagte: »Irgend etwas nicht in Ordnung, Leutnant?«

»Sir, der Geschäftsführer und ein Kellner haben mir erklärt, daß Sie mit sich selbst reden und mit Gewalttätigkeiten drohen.«

»Lächerlich.«, fauchte Brynne.

»Es stimmt! Es stimmt! Du wirst verrückt!« heulte die Stimme in seinem Schädel.

Brynne starrte den Polizisten an. Der Leutnant mußte die Stimme doch gehört haben! Anscheinend aber nicht, denn er sah finster auf ihn herab.

»Das ist nicht wahr«, sagte Brynne, der sicher war, sein Wort gelte mehr als das eines Bürgers.

»Ich habe Sie selbst gehört«, sagte der Adlige.

»Nun, Sir, es ist so«, begann Brynne vorsichtig. »Ich war -«

Die Stimme kreischte in seinem Schädel: »Er soll sich doch zum Teufel scheren, Brynne! Wie kommt er dazu, dich zu verhören? Wer darf sich das erlauben? Schlag ihn nieder! Bring ihn um!«

Brynne sagte, über das Geheul in seinem Kopf hinweg: »Ich habe mit mir selbst gesprochen, das ist wahr. Ich denke oft laut. Meine Gedanken lassen sich dabei besser ordnen.«

Der Leutnant nickte kurz. »Aber Sie haben mit Gewaltanwendung gedroht, ohne Anlaß, Sir.«

»Das nennen Sie keinen Anlaß? Ich bitte Sie, sind kalte Eier kein Anlaß? Sind weiche Toastschnitten und verschüttete Schokolade kein Anlaß?«

Der Kellner wurde herbeigerufen und versicherte: »Das Ei war heiß.«

»Es war nicht heiß, Schluß. Ich denke nicht daran, mit einem Bürger zu diskutieren.«

»Sehr richtig«, sagte der Leutnant. »Aber ich möchte Sie bitten, Sir, Ihren Zorn ein wenig zu zähmen, selbst wenn er gerechtfertigt ist. Man kann von Bürgern nicht allzuviel erwarten.«

»Ich weiß«, stimmte Brynne zu. »Übrigens, Sir - ich sehe die Purpurumrandung an Ihren Epauletten - sind Sie zufällig mit O'Donnel von Moose Lodge verwandt?«

»Er ist ein Vetter von mir«, erklärte der Leutnant und starrte Brynnes Stern an. »Mein Sohn ist als Anwärter in die Kammerherrenhalle aufgenommen worden. Ein großer Junge mit dem Namen Callahan.«

»Ich werde mir den Namen merken«, versprach Brynne.

»Das Ei war heiß«, sagte der Kellner.

»Einem Gentleman widerspricht man nicht«, rügte der Leutnant. »Da kommst du nur in Schwierigkeiten. Guten Tag, Sir.« Der Leutnant salutierte und verließ das Lokal.

Brynne bezahlte und ging kurz nach ihm. Er hinterließ ein beträchtliches Trinkgeld für den Kellner, beschloß aber, dieses Cafe nie wieder zu betreten.

»Zäher Bursche«, sagte Aaui bitter und steckte das winzige Mikrophon wieder in die Tasche. »Einen Augenblick lang dachte ich, wir hätten ihn unschädlich gemacht.«

»Es wäre uns auch gelungen, wenn er schon früher einmal an seinem Verstand gezweifelt hätte. Na schön, dann müssen wir eben direkt eingreifen. Haben Sie die Sachen?«

Aaui nahm zwei Schlagringe aus der Tasche und reichte einen davon Beatty.

»Verlieren Sie ihn nicht«, sagte er. »Wir sollen die Dinger in das Museum der Primitiven zurückbringen.«

»Man streckt ihn auf die Faust, nicht wahr? O ja, ich seh schon.«

Sie bezahlten und eilten hinaus.

Brynne beschloß, zur Beruhigung seiner Nerven am Hafen spazierenzugehen.

Der Anblick der mächtigen Schiffe besänftigte ihn. Er wanderte dahin und versuchte sich darüber klarzuwerden, was geschehen war.

Diese Stimme in seinem Schädel.

Verlor er wirklich den Verstand? Ein Onkel mütterlicherseits hatte seine letzten Jahre in einer Heilanstalt verbracht. Altersmelancholie. Hatte er dieses Erbe angetreten?

Er blieb stehen und betrachtete den Bug eines großen Schiffes. Die >Theseus<.

Wohin fuhren sie wohl? Vielleicht nach Italien. Er dachte an tiefblauen Himmel, Sonnenschein, Wein und Entspannung. Diese herrlichen Dinge waren nicht für ihn da. Arbeit, angestrengte Arbeit, dafür hatte er sich entschieden. Selbst wenn er dabei den Verstand verlor, würde er sich unter dem grauen Himmel New Yorks weiter abmühen.

Aber warum? fragte er sich. Er war keineswegs arm. Seine Geschäfte liefen auch ohne ihn. Was hielt ihn davon ab, dieses Schiff zu besteigen, alles zurückzulassen, ein ganzes Jahr die Sonne des Südens zu genießen?

Freudige Erregung überfiel ihn, als er einsah, daß ihn nichts, aber auch gar nichts zurückhielt. Er war sein eigener Herr, ein entschlossener, starker Mann. Wenn er die Kraft hatte, Erfolge im Geschäftsleben zu erzielen, hatte er auch den Mut, es zu verlassen, auf alles zu verzichten und fortzufahren.

»Zum Teufel mit Baxter!« sagte er.

Sein seelisches Gleichgewicht war jetzt wichtiger als alles andere. Er gedachte, augenblicklich an Bord dieses Schiffes zu gehen, seinen Geschäftspartnern von hoher See aus zu telegraphieren, ihnen mitzuteilen -

Zwei Männer kamen in der verlassenen Straße auf ihn zu. Er erkannte den einen an seinem goldbraun getönten Gesicht.

»Mr. Brynne?« fragte der andere, ein schlaksiger Mann mit braunem Haar.

»Ja?« erwiderte Brynne.

Ohne Warnung schlang der Polynesier beide Arme um ihn, hielt ihn fest, während der andere mit seiner Faust, an der etwas metallisch schimmerte, ausholte!

Brynnes aufgeputschte Nerven reagierten blitzartig. Während des Zweiten Weltkreuzzuges war er Offizier gewesen. Er wich dem Schlag aus und stieß seine Ellenbogen in den Magen des Polynesiers. Der Griff lockerte sich. Brynne machte sich frei.

Er versetzte dem Polynesier einen Handkantenschlag an die Halsschlagader. Der Mann brach zusammen. Sofort stürzte sich der Schlaksige mit dem Schlagring auf Brynne.

Brynnes Faust zuckte vor, verfehlte. Der Kammerherr wurde am Kinn getroffen. Sein Blick begann sich zu verdunkeln. Er mußte noch einen Schlag hinnehmen, ging zu Boden, war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Dann machte sein Gegner einen Fehler.

Der Schlaksige versuchte ihn mit einem Fußtritt außer Gefecht zu setzen, aber er machte es falsch. Brynne packte seinen Fuß und riß ihn um. Der Mann verlor das Gleichgewicht, stürzte zu Boden und prallte mit dem Kopf auf das Pflaster.

Brynne raffte sich keuchend auf. Der Polynesier lag nach Luft schnappend auf der Straße. Der andere rührte sich nicht. Ein Blutgerinnsel schlängelte sich durch sein Haar.

Eigentlich müßte er diesen Vorfall der Polizei melden, dachte Brynne. Aber wenn er den Schlaksigen umgebracht hatte? Man würde ihn zumindest wegen Totschlags verhaften. Und der Leutnant brachte dann sicher sein Verhalten im Cafe zur Sprache.

Er sah sich um. Niemand hatte die Schlägerei beachtet. Es war wohl am besten, einfach zu verschwinden. Sollten doch die Banditen zur Polizei gehen, wenn sie es wagten. Er glaubte allerdings nicht daran.

Langsam wurde ihm alles klar. Diese Männer mußten von einem seiner vielen Konkurrenten angeworben worden sein; diese Leute versuchten natürlich auch, mit Ben Baxter ins Geschäft zu kommen. Vielleicht war sogar das mit der inneren Stimme ein raffinierter Trick.

Nun, sie sollten nur versuchen, ihn aufzuhalten! Immer noch schwer atmend, machte er sich auf den Weg zu Ben Baxters Büro.

Der Gedanke an eine Seereise nach Italien war wie weggeblasen.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte eine Stimme.

Beatty kam langsam zu sich. Eine schreckliche Sekunde lang glaubte er, einen Schädelbruch erlitten zu haben. Aber er beruhigte sich, nachdem er seinen Kopf abgetastet hatte.

»Womit hat er mich denn k.o. geschlagen?« fragte er.

»Mit dem Pflaster, glaube ich«, meinte Aaui. »Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen konnte. Er hat mich sehr schnell kampfunfähig gemacht.«

Beatty setzte sich auf und hielt sich den schmerzenden Kopf. »Er versteht, sich zur Wehr zu setzen!«

»Wir haben ihn unterschätzt«, sagte Aaui. »Er muß eine besondere Kampfausbildung erhalten haben. Glauben Sie, daß Sie gehen können?«

»Ich denke schon«, erwiderte Beatty und ließ sich von Aaui auf die Beine helfen. »Wie spät ist es?«

»Fast ein Uhr. Für 13 Uhr 30 ist er bestellt. Vielleicht können wir ihn vor Baxters Büro aufhalten.«

Fünf Minuten später winkten sie einem Taxi und rasten zu Baxters Verwaltungsgebäude.

Die Sekretärin war jung und hübsch. Sie starrte die beiden erstaunt an. Es war ihnen gelungen, sich im Taxi ein wenig herzurichten, aber sie sahen immer noch merkwürdig aus. Beatty trug einen Verband um die Stirn, und Aauis Gesichtsfarbe tendierte zum leuchtenden Grün.

»Was wünschen Sie?« fragte die Sekretärin.

»Mr. Baxter hat doch für 13 Uhr 30 eine Besprechung mit Mr. Brynne angesetzt, nicht wahr?« meinte Aaui.

»Ja.«

Die Wanduhr zeigte 13 Uhr 17. Aaui fuhr fort. »Wir müssen Mr. Brynne sprechen, bevor er hineingeht. Es ist sehr dringend. Falls es Ihnen nichts ausmacht, warten wir hier.«

»Das können Sie«, sagte das Mädchen. »Aber Mr. Brynne sitzt bereits beim Chef.«

»Aber es ist doch noch nicht halb zwei Uhr!«

»Mr. Brynne kam etwas früher. Mr. Baxter bat ihn sofort zu sich.«

»Ich muß mit ihm reden«, sagte Aaui.

»Ich habe Anweisung, die Herren nicht zu stören«, erklärte die Sekretärin. Sie machte ein ängstliches Gesicht und legte den Finger auf einen Signalknopf an ihrem Schreibtisch.

Aaui wußte, daß sie damit Hilfe herbeiholen konnte. Ein Mann wie Baxter würde immer Leibwachen in der Nähe haben. Die Besprechung fand bereits statt, und er konnte nichts dagegen unternehmen. Vielleicht hatte der Überfall den Verlauf der Ereignisse schon entscheidend beeinflußt. Die Wahrscheinlichkeit sprach dafür. Der Brynne in Baxters Büro war ein anderer Mensch, gewandelt durch die Abenteuer des Vormittags.

»Schon gut«, sagte Aaui. »Wir warten hier.«

Ben Baxter war klein und massig. Er hatte einen völlig kahlen Kopf, und seine Augen hinter dem goldenen Zwicker waren ausdruckslos. Er trug einen strenggeschnittenen, dunklen Anzug, am Revers das kleine mit Rubinen und Perlen besetzte Abzeichen der Mitglieder des Wall Street-Oberhauses.

Eine halbe Stunde lang hatte Brynne berichtet, Dokumente auf Baxters Schreibtisch ausgebreitet, Zahlen genannt, künftige Entwicklungen vorausgesagt. Er begann zu schwitzen, als er Baxters Reaktion erwartete.

»Hmm«, sagte Ben Baxter.

Brynne wartete. In seinen Schläfen pochte das Blut; sein Magen schien sich verkrampft zu haben. Seit Jahren hatte er nicht mehr gekämpft; er vertrug das nicht mehr. Hoffentlich konnte er sich bis zum Ende des Gesprächs beherrschen.

»Die gestellten Bedingungen sind beinahe lächerlich«, erklärte Baxter.

»Sir?«

»Lächerlich, sagte ich, Mr. Brynne. Sind Sie etwa schwerhörig?«

»Nein«, erwiderte Brynne.

»Sehr schön. Die von Ihnen gestellten Bedingungen wären bei Verhandlungen zwischen zwei Unternehmen gleichen Umfangs angebracht. Aber das ist hier ja nicht der Fall, Mr. Brynne. Man muß es als Anmaßung bezeichnen, daß eine Firma von solcher Winzigkeit wie die Ihre meinem Unternehmen Bedingungen dieser Art stellen will.«

Brynnes Augen verengten sich. Er hatte von Baxters Ruf als harter Geschäftsmann gehört. Das waren keine persönlichen Beleidigungen, erinnerte er sich. Solche Manöver unternahm er selbst auch. Man mußte sie als Schachzug betrachten.

»Darf ich darauf hinweisen«, erwiderte Brynne, »daß das Waldgebiet, worauf sich meine Option bezieht, eine Schlüsselstellung einnimmt. Mit ausreichendem Kapital könnten wir den Besitz erheblich ausweiten, ganz zu schweigen von -«

»Hoffnungen, Träume, Versprechungen«, seufzte Baxter. »Vielleicht lohnt es sich. Aber die Beweise dafür fehlen noch.«

Hier geht es ums Geschäft, erinnerte sich Brynne. Er will mit mir zusammengehen - das kann man deutlich erkennen. Ich habe damit gerechnet, daß ich ein wenig nachgeben muß. Ganz klar. Er will mehr herausschinden. Hier ist nichts Persönliches im Spiel.

Aber Brynne war an diesem Tag zuviel geschehen. Der Ritter, die Stimme im Cafe, der kurzlebige Traum von der Freiheit, der Kampf mit den beiden Männern - er wußte, daß er nicht mehr viel ertragen konnte.

»Wie wäre es, Mr. Brynne«, sagte Baxter, »wenn Sie mir einen vernünftigeren Vorschlag unterbreiten würden? Er sollte mit dem bescheidenen Umfang Ihres Unternehmens in Einklang sein.«

Er prüft mich nur, dachte Brynne. Aber es war zuviel für ihn. Er war von ebenso edler Geburt wie Baxter. Wie konnte der Mann es wagen, ihn so zu behandeln?

»Sir«, sagte er mit starren Lippen, »ich nehme Anstoß.« »Wie?« meinte Baxter, und Brynne glaubte, ein amüsiertes Funkeln in den kühlen Augen wahrnehmen zu können. »Woran nehmen Sie Anstoß?«

»An Ihren Feststellungen und an der Art, wie Sie mir gegenübertreten. Ich rate Ihnen, sich zu entschuldigen.«

Brynne erhob sich steif und wartete. Sein Herz klopfte wie wahnsinnig, und sein Magen verkrampfte sich immer mehr.

»Ich sehe keinen Grund, mich zu entschuldigen, Sir«, sagte Baxter. »Und ich habe auch nicht die Absicht, mit einem Mann ins Geschäft zu kommen, der persönliche Dinge nicht aus einer geschäftlichen Besprechung heraushalten kann.«

Er hat recht, dachte Brynne. Ich müßte mich entschuldigen. Aber er konnte nicht mehr zurück. Verzweifelt sagte er: »Ich warne Sie - entschuldigen Sie sich, Sir!«

»Auf diese Weise kommen wir nie zusammen«, meinte Baxter. »Offengestanden, Mr. Brynne, ich hatte gehofft, mit Ihnen zusammenarbeiten zu können. Ich werde mich bemühen, vernünftig zu reden, wenn Sie sich vernünftig benehmen. Ich ersuche Sie, Ihre Forderung nach einer Entschuldigung zurückzuziehen, dann können wir weitermachen.«

»Ich kann nicht!« sagte Brynne und wünschte verzweifelt, es doch fertigzubringen. »Entschuldigen Sie sich, Sir!«

Baxter stand auf. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor, das Gesicht vom Zorn gerötet. »Verschwinden Sie, unverschämter Kerl! Hinaus, sonst lasse ich Sie die Treppe hinunterwerfen! Hinaus!«

Brynne hätte sich am liebsten entschuldigt, aber er dachte an den Ritter, an den Kellner, an die beiden Banditen. Irgend etwas löste sich in ihm. Er schlug mit seiner ganzen Kraft zu.

Der Schlag traf Baxter voll am Hals, schleuderte ihn gegen den Schreibtisch. Mit glasigen Augen brach Baxter zusammen.

»Es tut mir leid!« rief Brynne. »Ich bitte um Verzeihung! Ich bitte um Verzeihung!«

Er kniete neben Baxter nieder. »Sind Sie verletzt, Sir? Es tut mir wirklich leid. Ich bitte um Verzeihung.«

Die kalte Logik erklärte ihm, daß er einem unlösbaren Zwiespalt ausgesetzt war. Die Notwendigkeit, zu handeln, hatte sich als ebenso stark erwiesen, wie die Pflicht, sich zu entschuldigen. Er hatte das Dilemma überwunden, indem er beides gleichzeitig zu tun versuchte. Er hatte zugeschlagen - und sich dann erst entschuldigt.

»Mr. Baxter?« rief er entsetzt.

Ben Baxters Gesicht war verzerrt, Blut lief in einem dünnen Faden vom Mund zum Kinn. Dann bemerkte Brynne, daß Baxters Kopf in unmöglichem Winkel zu seinem Körper hing.

»Oh.«, stöhnte Brynne.

Er war drei Jahre im Krieg gewesen. Er hatte mehr als einmal Menschen mit gebrochenem Genick gesehen.

II

Am Morgen des 12. April 1969 erwachte Ned Brynne, wusch sich und kleidete sich an. Um 13 Uhr 30 an diesem Nachmittag war er bei Ben Baxter, dem Präsidenten der Baxter-Industrie-AG angemeldet. Brynnes ganze Zukunft hing vom Ausgang dieses Gesprächs ab. Wenn er die Unterstützung des gigantischen Baxter-Unternehmens gewann, noch dazu unter günstigen Bedingungen.

Brynne war ein großer, dunkelhaariger, gutaussehender Mann von sechsunddreißig Jahren. In seinen betont milde blickenden Augen war eine Spur großer Sanftheit zu erkennen, eine Andeutung unerschütterlicher Frömmigkeit sprach aus seinem ausdrucksvollen Mund. Seine Bewegungen zeigten die Grazie eines seiner Selbst sicheren Mannes.

Er war beinahe fertig zum Ausgang. Er klemmte einen Betstock unter den Arm und schob Norsteds >Führer zur Sanftmut< in die Tasche. Ohne dieses unfehlbare Buch verließ er nie das Haus.

Schließlich steckte er den Silbermond seines Ranges ans Revers. Brynne war ein Zügler zweiten Grades der westlichen Buddhistenkongregation, eine Tatsache, die ihn mit sorgfältig gezügeltem Stolz erfüllte. Manche Leute hielten ihn für viel zu jung für das Laienpriestertum. Aber sie mußten zugeben, daß Brynne die Rechte und Pflichten seines Amtes mit einer Würde wahrnahm, die man in seinem Alter normalerweise noch nicht besaß.

Er schloß seine Wohnung ab und ging zum Lift. Eine kleine Gruppe von Menschen wartete bereits, vorwiegend Westbuddhisten, aber auch zwei Lamaisten. Als der Aufzug kam, machten ihm alle Platz.

»Guten Tag, Bruder Brynne«, grüßte der Liftführer und ließ die Kabine hinabgleiten.

Brynne neigte seinen Kopf zwei Zentimeter in der üblichen Erwiderung auf den Gruß eines Mitgliedes der Gemeinde. Er beschäftigte sich in Gedanken ausschließlich mit Ben Baxter. Aber aus dem Augenwinkel bemerkte er einen der Fahrgäste, eine schlanke, schöne, schwarzhaarige Frau mit reizvollem Gesicht und braungoldenem Teint. Inderin, dachte Brynne und fragte sich, was eine solche Frau in seinem Wohnhaus zu suchen hatte. Er kannte die anderen Bewohner vom Sehen, wenn er auch nicht unbescheiden genug war, sie zu erkennen.

Der Lift erreichte das Vestibül, und Brynne vergaß die Inderin. Er hatte heute andere Sorgen. Im Zusammenhang mit Ben Baxter stellten sich einige Probleme, die er lösen mußte, bevor er zur festgesetzten Stunde bei ihm erschien. Er trat in einen trüben, grauen Aprilvormittag hinaus und beschloß, für ein spätes Frühstück das Cafe zum goldenen Lotus aufzusuchen.

Es war 10 Uhr 25.

»Am liebsten würde ich für immer hier bleiben und diese herrliche Luft atmen!« sagte Janna Chandragore.

Lan Il lächelte schwach. »Vielleicht können wir sie in unserer eigenen Zeit atmen. - Was halten Sie von ihm?«

»Eingebildet und dünkelhaft«, sagte sie. Sie gingen hundert Meter hinter Brynne her. Brynnes große, etwas gebeugte Gestalt fiel selbst im Gewühl New Yorks auf.

»Im Lift hat er Sie angestarrt«, sagte Lan Il.

»Ich weiß.« Sie lächelte. »Er sieht recht gut aus, nicht?«

Lan Il zog die Brauen hoch, erwiderte aber nichts. Sie blieben auf Brynnes Spur und beobachteten, wie die Menschen aus Achtung vor seinem Rang Platz machten. Dann passierte es.

Brynne, der immer noch angestrengt nachdachte, stieß mit einem dicken Mann zusammen, der die gelbe Robe eines westbuddhistischen Priesters trug.

»Entschuldigt die Störung Eurer Meditation, junger Bruder«, sagte der Priester.

»Es ist allein meine Schuld«, erwiderte Brynne. »Denn es steht geschrieben Jugend muß auf ihre Schritte achten<.«

Der Priester schüttelte den Kopf. »In der Jugend lebt der Traum der Zukunft«, sagte er. »Das Alter hat ihr Platz zu machen.«

»Das Alter leitet unseren Weg«, wandte Brynne unterwürfig, aber eigensinnig ein. »Darin drücken sich die Schriften klar aus.«

»Wenn Ihr das Alter anerkennt«, erwiderte der Priester, ein wenig gepreßt, »dann fügt Euch auch seinem Wort: die Jugend stürme vorwärts! Seid so freundlich, mir nicht zu widersprechen, lieber Bruder.«

Brynne verbeugte sich tief. Der Priester folgte seinem Beispiel, und die beiden Männer gingen auseinander.

Brynne beschleunigte seine Schritte; er umkrampfte den Betstock. Das sah einem Priester ähnlich - sein Alter als Unterstützung seiner Argumente zugunsten der Jugend anzuführen. Im westlichen Buddhismus gab es seltsame Widersprüche, aber Brynne hatte keine Lust, darüber nachzudenken.

Er betrat das Cafe zum goldenen Lotus und setzte sich an einen Tisch an der Rückseite des Raumes. Er betastete die Schnitzereien an seinem Gebetsstock und spürte, wie der Zorn in ihm abebbte. Beinahe augenblicklich gewann er die gelassene, ungestörte Einheit des Verstandes mit den Gefühlen zurück.

Es war jetzt an der Zeit, über Ben Baxter nachzudenken. Schließlich hatte man seine zeitlichen Pflichten ebenso zu erfüllen wie die religiösen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war gleich elf. In zweieinhalb Stunden würde er in Baxters Büro sitzen und -

»Ihre Bestellung, Sir?« fragte ein Kellner.

»Ein Glas Wasser und etwas getrockneten Fisch, wenn Ihr so gut sein wollt«, sagte Brynne.

»Pommes frites?«

»Heute ist Wisya, da sind sie nicht erlaubt«, murmelte Brynne sanft.

Der Kellner wurde blaß, schluckte, sagte: »Jawohl, Sir, entschuldigen Sie, Sir«, und eilte davon.

Ich hätte ihn nicht so behandeln dürfen, dachte Brynne. Ich hätte ganz einfach dankend auf die Pommes frites verzichten sollen. Müßte ich mich bei dem Mann entschuldigen?

Er entschied, daß ihn das nur verlegen machen würde. Brynne schob diesen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf Ben Baxter. Wenn Baxter hinter Brynnes Option stand, ließ sich gar nicht absehen -

Er bemerkte, daß an einem Tisch in der Nähe etwas Ungewöhnliches vorging. Er drehte sich zur Seite und sah, daß eine Frau mit goldbrauner Gesichtsfarbe hemmungslos in ein winziges Spitzentaschentuch weinte. Es war die Frau, die er vorher in seinem Haus gesehen hatte. Neben ihr saß ein kleiner, weißhaariger alter Mann, der vergeblich versuchte, sie zu beruhigen.

Die schöne Frau warf einen verzweifelten Blick zu Brynne hinüber. Unter diesen Umständen gab es für einen Zügler nur eine Möglichkeit.

Er trat an den anderen Tisch. »Entschuldigen Sie die Aufdringlichkeit«, sagte er. »Ich habe bemerkt, wie sehr Sie sich quälen. Vielleicht sind Sie in der Stadt fremd. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Für uns gibt es keine Hilfe mehr!« jammerte die Frau.

Der alte Mann zuckte ergeben die Achseln.

Brynne zögerte und setzte sich dann an den Tisch. »Erzählen Sie mir«, bat er. »Kein Problem ist unlösbar. Es steht geschrieben, daß es einen Pfad durch alle Urwälder und einen Weg über die steilsten Berge gibt.«

»Wahr gesprochen«, stimmte der alte Mann zu. »Aber manchmal tragen den Menschen die Beine nicht bis zum Ende des Weges.«

»In diesen Fällen hilft einer dem anderen und das Ziel wird erreicht«, erwiderte Brynne. »Berichten Sie mir Ihre Sorgen, ich werde Ihnen dienen, wie ich nur kann.«

Tatsächlich war das mehr, als von einem Zügler verlangt wurde. Unumschränkte Verpflichtung, einem anderen zu dienen, war das Vorrecht höhergestellter Priester. Aber Brynne wurde vom Leid und der Schönheit dieser Frau fortgerissen, und er hatte die Worte ausgesprochen, bevor er es sich anders überlegen konnte.

»>lm Herzen eines jungen Mannes wohnt die Kraft<«, zitierte der alte Mann. »Aber sagen Sie mir, Sir, glauben Sie an religiöse Toleranz?« »Selbstverständlich!« sagte Brynne.

»Sehr gut. Dann sollen Sie wissen, Sir, daß meine Tochter Janna und ich aus Lhagrama in Indien kommen, wo wir der daritrischen Inkarnation der kosmischen Funktion dienen. Wir kamen nach Amerika in der Hoffnung, hier einen kleinen Tempel erbauen zu können. Unglücklicherweise erschienen die Schismatiker der Marii Ankarnation vor uns. Meine Tochter muß nach Hause zurückkehren, aber unser Leben ist in Gefahr, weil diese Fanatiker sich geschworen haben, den Glauben an Daritria auszurotten.«

»Euer Leben kann doch gar nicht in Gefahr sein!« rief Brynne. »Nicht mitten in New York.«

»Hier mehr als anderswo«, erwiderte Janna. »Denn die Verbrecher vermögen in der Menge unterzutauchen.«

»Ich lebe auf keinen Fall mehr lange«, erklärte der alte Mann gelassen, »ich muß hierbleiben und meine Arbeit vollenden. Sie verstehen das sicher? Aber ich möchte, daß meine Tochter ungefährdet nach Hause zurückkehrt.«

»Ohne dich fahre ich nicht!« rief Janna.

»Du tust, was dir aufgetragen wird!« erwiderte der Alte.

Janna senkte betroffen die Augen. Der alte Mann wandte sich an Brynne.

»Sir, heute nachmittag segelt ein Schiff nach Indien ab. Meine Tochter braucht einen Mann, einen starken, ehrlichen Mann, der sie schützt und leitet, der sie nach Hause bringt. Mein ganzer Besitz gehört diesem Mann, der solch heilige Pflicht für mich erfüllt.«

»Ich kann das kaum glauben«, sagte Brynne plötzlich zweifelnd. »Sind Sie sicher -«

Wie zur Antwort zog der alte Mann einen Lederbeutel aus seiner Tasche und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Brynne war kein Sachverständiger für Edelsteine, wenngleich er im Zweiten Welt-Jehad als Religionsoffizier gearbeitet hatte.

Trotzdem glaubte er, das echte Feuer von Rubinen, Saphiren, Diamanten und Smaragden zu erkennen.

»Sie sind Euer«, sagte der alte Mann. »Nehmt Sie mit in ein Juweliergeschäft. Vielleicht glaubt Ihr meine Geschichte, wenn die Echtheit der Steine bestätigt wird. Oder falls das noch nicht Beweis genug ist -«

Aus der anderen Tasche zog er eine prall gefüllte Brieftasche und reichte sie Brynne. Als Brynne sie aufklappte, stellte er fest, daß sie mit großen Scheinen vollgestopft war.

»Jede Bank wird Ihnen die Echtheit dieser Scheine bestätigen«, sagte der alte Mann. »Nein, bitte, ich bestehe darauf! Behalten Sie alles. Glauben Sie mir, es ist nur ein winziger Bruchteil dessen, womit ich Sie überhäufen möchte.«

Brynne versuchte, sich klarzumachen, daß die Edelsteine raffinierte Fälschungen, daß die Geldscheine nachgemacht sein konnten. Aber er wußte, daß das nicht zutraf. Sie waren echt. Und wenn diese Reichtümer echt waren, warum sollte dann die Geschichte nicht stimmen?

Es wäre nicht das erstemal, daß ein wunderbares Märchen sich mitten im Leben zutrug. Standen nicht im >Buch der goldenen Antworten< viele ähnliche Geschehnisse?

Er sah die schöne, traurige, zarte Frau an. Unwiderstehliches Verlangen erfüllte ihn, diesen leidgeprüften Mund lächeln zu sehen. Und in der Art, wie sie ihn anblickte, entdeckte Brynne mehr als das Interesse, das man einem Beschützer entgegenbringt.

»Sir!« rief der alte Mann. »Wäre es möglich, daß Sie - daß Sie bereit wären -«

»Ich übernehme diese Aufgabe!« sagte Brynne.

Der alte Mann drückte Brynne wortlos die Hand. Janna sah ihn nur an, aber es kam ihm vor wie eine Umarmung.

»Ihr müßt sofort fahren«, sagte der alte Mann entschlossen. »Kommt, ihr habt keine Zeit zu verlieren. Der Feind lauert in den Schatten.«

»Aber meine Kleidung -«

»Unwichtig. Die Garderobe bekommen Sie von mir.«

»Und Freunde, geschäftliche Besprechungen - halt! Einen Augenblick!«

Brynne atmete tief ein. Abenteuer im Stile Harun al Raschids waren ja recht nett, aber sie mußten vernünftig durchgeführt werden.

»Ich habe heute nachmittag eine geschäftliche Besprechung«, erklärte Brynne. »Ich muß sie einhalten. Danach stehe ich uneingeschränkt zu Ihrer Verfügung.«

»Die Gefahr für Janna ist zu groß!« erregte sich der alte Mann.

»Ihr seid beide völlig sicher, ich versichere es Ihnen. Ihr könnt mich sogar dorthin begleiten. Oder besser noch, ich habe einen Vetter in der Polizei. Es wird nicht schwierig sein, eine Leibwache

Janna wandte ihr schönes Gesicht ab. Der alte Mann sagte: »Sir, das Schiff fährt um ein Uhr nachmittags. Punkt eins.«

»Schiffe fahren doch jeden Tag«, meinte Brynne. »Nehmen wir das nächste. Diese Verabredung ist sehr wichtig, ja, man könnte sagen, entscheidend. Ich habe Jahre gearbeitet, um sie zu erreichen, und es geht nicht nur um mich. Ich habe ein Geschäft, Angestellte, Partner. Um ihretwillen muß ich diese Verabredung einhalten.«

»Zuerst kommt das Geschäft«, meinte der alte Mann bitter.

»Euch geschieht nichts«, versicherte ihm Brynne. »Es steht geschrieben, daß das Tier des Dschungels zurückweicht -«

»Ich weiß, was geschrieben steht. Das Wort des Todes ist groß auf meine Stirn gemalt und auch meine Tochter ist verloren, wenn Ihr uns jetzt nicht helft. Sie befindet sich auf der >Theseus< in der Luxuskabine 2 A. Die Kabine nebenan steht Euch zur Verfügung. Das Schiff fährt um ein Uhr. Wenn Ihr ihr Leben wertschätzt, werdet Ihr erscheinen, Sir.«

Der alte Mann und seine Tochter standen auf, bezahlten und gingen, ohne auf Brynnes Einwände zu achten. Als Janna zur Tür hinausging, drehte sie sich noch einmal um und sah ihn an.

»Ihr getrockneter Fisch, Sir«, sagte der Kellner.

»Zum Teufel damit!« schrie Brynne. »Oh, ich bitte um Entschuldigung! Verzeihen Sie vielmals«, sagte er entsetzt zu dem schockierten Kellner. »Sie können nichts dafür.« Er bezahlte, hinterließ ein beträchtliches Trinkgeld für den Kellner und eilte hinaus. Er mußte nachdenken.

»Die für diese Szene aufgewendete Energie kostet mich wahrscheinlich zehn Jahre meines Lebens«, beschwerte sich Lan Il.

»Dabei haben Sie jede Sekunde genossen«, meinte Janna Chandragore.

»Stimmt«, gab Lan Il zu. Er nippte an einem Glas Wein, das der Stewart in die Kabine gebracht hatte. »Die Frage ist nur -wird er seine Verabredung mit Baxter aufgeben und hierherkommen?«

»Ich scheine ihm zu gefallen«, sagte Janna.

»Das beweist nur, über welch ausgezeichneten Geschmack er verfügt.«

Sie neigte spöttisch den Kopf. »Aber wissen Sie, diese Geschichte! War es wirklich notwendig, sie so phantastisch zu gestalten?«

»Absolut. Brynne ist ein kluger, entschlossener Mann, aber er hat eine romantische Ader. Vom Pfad der Pflicht konnte ihn nur ein Märchen ablenken.« »Vielleicht nützt auch das Märchen nichts«, erwiderte Janna nachdenklich.

»Wir werden sehen«, sagte Lan Il. »Ich persönlich glaube, daß er kommen wird.«

»Ich nicht.«

»Sie unterschätzen Ihre Anziehungskraft und Ihr Talent zur Schauspielerin. Warten wir ab.«

»Es bleibt uns ja nichts anderes übrig«, sagte Janna und lehnte sich zurück.

Es war zwölf Uhr 42.

Brynne beschloß, zur Beruhigung seiner Nerven am Hafen spazierenzugehen. Der Anblick der mächtigen Schiffe besänftigte ihn stets. Er wanderte gleichmäßig dahin und versuchte sich darüber klarzuwerden, was geschehen war.

Diese herrliche, traurige Frau.

Aber was war mit seiner Pflicht, der Arbeit fleißiger Angestellter, die heute nachmittag am Schreibtisch Ben Baxters ihre Erfüllung finden sollte?

Er blieb stehen und betrachtete den Bug eines großen Schiffes. Die >Theseus<.

Er dachte an Indien, den blauen Himmel, Sonnenschein, Wein, Entspannung. Diese herrlichen Dinge waren nicht für ihn da. Arbeit, angestrengte Arbeit, dafür hatte er sich entschieden. Selbst wenn er die schönste Frau der Welt dadurch verlieren sollte, würde er sich unter dem grauen Himmel New Yorks weiter abmühen.

Aber warum? fragte er sich und berührte den Lederbeutel in seiner Tasche. Er war keineswegs arm. Seine Geschäfte liefen auch ohne ihn. Was hielt ihn davon ab, dieses Schiff zu besteigen, alles zurückzulassen, und ein ganzes Jahr die Sonne zu genießen?

Freudige Erregung befiel ihn, als er einsah, daß ihn nichts, aber auch gar nichts zurückhielt. Er war sein eigener Herr, ein entschlossener, starker Mann. Wenn er die Kraft und den Glauben hatte, Erfolg im Geschäftsleben zu erzielen, besaß er auch den Mut, es zu verlassen, auf alles zu verzichten und den Neigungen seines Herzens nachzugeben.

»Zum Teufel mit Baxter!« sagte er. Die Sicherheit der jungen Frau war wichtiger als alles andere. Er gedachte, augenblicklich an Bord dieses Schiffes zu gehen, seinen Geschäftspartnern von hoher See aus zu telegraphieren und ihnen mitzuteilen -

Die Entscheidung war gefallen. Er drehte sich um und marschierte die Gangway hinauf.

Ein Offizier trat ihm lächelnd entgegen und fragte: »Sie heißen, Sir?«

»Ned Brynne.«

»Brynne, Brynne«, der Offizier suchte auf seiner Liste. »Ich glaube nicht - o doch, da steht's. Jawohl, Mr. Brynne, Ihre Kabine liegt im A-Deck. Sie hat die Nummer 3. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt.«

»Vielen Dank«, sagte Brynne und sah auf die Uhr. Es war zwölf Uhr fünfundvierzig.

»Wann fährt das Schiff übrigens ab?« fragte er den Offizier.

»Punkt halb fünf, Sir.«

»Halb fünf? Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher, Mr. Brynne.«

»Aber man sagte mir, daß die Abfahrt auf ein Uhr festgesetzt sei.« »Das war auch ursprünglich der Fall, Sir. Es kommt sehr häufig vor, daß die Abfahrtszeit um ein paar Stunden verschoben wird. Wir holen diese Verspätung auf See leicht ein.«

Halb fünf! Jawohl, er hatte genug Zeit! Er konnte zurückfahren, mit Ben Baxter sprechen, und trotzdem rechtzeitig wieder da sein! Beide Probleme waren gelöst.

Er bedankte sich beim geheimnisvollen, gütigen Schicksal und hastete die Gangway hinunter. Zu seinem Glück fand er sofort ein Taxi.

Ben Baxter war klein und massig. Er hatte einen völlig kahlen Kopf, und seine Augen hinter dem goldenen Zwicker waren ausdruckslos. Er trug einen strenggeschnittenen, dunklen Anzug, am Revers das kleine, mit Rubinen und Perlen besetzte Abzeichen der Mitglieder der Untertänigen Diener Wall Streets.

Eine halbe Stunde lang hatte Brynne berichtet, Trends bezeichnet, künftige Entwicklungen vorausgesagt. Er begann zu schwitzen, als er Baxters Reaktion erwartete.

»Hmm«, sagte Ben Baxter.

Brynne wartete. Sein Puls wurde immer schneller, sein leerer Magen begann zu knurren. Er dachte unaufhörlich an die >Theseus<. Er wollte dieses Gespräch beenden und an Bord gehen.

»Die Bedingungen für einen Zusammenschluß unserer beiden Firmen sind sehr zufriedenstellend«, sagte Baxter.

»Sir?« hauchte Brynne.

»Zufriedenstellend, habe ich gesagt. Sie sind doch nicht schwerhörig, Bruder Brynne?«

»Nicht bei solchen Nachrichten«, meinte Brynne grinsend.

»Unsere Zusammenarbeit verspricht für uns beide eine großartige Zukunft«, erklärte Baxter lächelnd. »Ich bin ein offener Mensch, Brynne, und ich will Ihnen ganz klar sagen: es gefällt mir, wie Sie diese Berichte zusammengestellt haben, es gefällt mir, wie Sie in diesem Gespräch vorgegangen sind. Außerdem mag ich Sie persönlich sehr gern. Ich bin wirklich sehr zufrieden und ich glaube, daß unsere Partnerschaft sehr erfolgreich sein wird.«

»Das ist auch meine Meinung, Sir.«

Sie schüttelten sich die Hände, und beide Männer standen auf.

»Meine Anwälte werden im Einklang mit unserem Gespräch die Verträge aufsetzen«, meinte Baxter.

»Ausgezeichnet.« Brynne zögerte. Er fragte sich, ob er Baxter sagen sollte, daß er nach Indien fuhr. Er beschloß, es nicht zu tun. Mit ein paar Ferngesprächen konnten die Verhandlungen zum Abschluß gebracht werden. Im übrigen würde er nicht lange unterwegs sein - er mußte nur die junge Frau sicher nach Hause bringen, dann würde er zurückfliegen.

Sie sagten einander noch ein paar Freundlichkeiten, schüttelten sich nochmals die Hände. Dann wandte sich Brynne zum Gehen.

»Das ist ein sehr schöner Betstock«, sagte Baxter.

»Wie? Ach ja«, sagte Brynne. »Ich habe ihn diese Woche aus Sinkiang bekommen. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach werden dort die schönsten Betstöcke hergestellt.«

»Ich weiß. Darf ich ihn mir ansehen?«

»Selbstverständlich. Aber Vorsicht, bitte, er öffnet sich sehr schnell.«

Baxter nahm den geschnitzten Betstock in die Hand und drückte auf den Griff. Am anderen Ende schoß eine scharfe Klinge heraus und streifte sein Bein.

»Donnerwetter!« sagte Baxter. »Ich habe noch keinen schnelleren gesehen.«

»Haben Sie sich verletzt?« »Nur ein kleiner Kratzer. Herrlich, diese Klinge.« Sie unterhielten sich eine Weile über die vielschichtige Bedeutsamkeit der Messerklinge im westlichen Buddhismus. Dann schloß Baxter den Betstock und gab ihn Brynne zurück.

»Eine herrliche Arbeit. Auf Wiedersehen, lieber Bruder Brynne, und -«

Baxter brach mitten im Satz ab. Sein Mund stand offen, und er schien an Brynne vorbei an die Wand zu starren.

Brynne drehte sich um, konnte aber nichts Besonderes feststellen. Als er sich seinem Gastgeber wieder zuwandte, waren Baxters Gesichtszüge verzerrt; aus den Mundwinkeln traten Schaumbläschen.

»Sir!« rief Brynne. Baxter versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton hervor. Er machte zwei taumelnde Schritte und brach zusammen.

Brynne raste zur Tür. »Rufen Sie einen Arzt! Schnell! Schnell!« rief er der erschrockenen Sekretärin zu. Dann eilte er zu Baxter zurück.

Er hatte den ersten amerikanischen Fall der mutieren Krankheit vor sich, die man später als Sinkiang-Pest bezeichnete. Übertragen durch hundert verseuchte Betstöcke, sollte sie wie der Blitz durch New York zucken und eine Million Tote hinterlassen. Binnen einer Woche sollten die Symptome der Sinkiang-Pest bekannter werden als jene der Masern.

Aber Brynne sah den ersten Toten.

Mit Entsetzen starrte er die steinharte, apfelgrüne Haut an Baxters Händen und in seinem Gesicht an.

III

Am Morgen des 12. April 1969 erwachte Ned Brynne, wusch sich und kleidete sich an. Um 13 Uhr 30 an diesem Nachmittag war er bei Ben Baxter, dem Präsidenten der Baxter-Industrie AG angemeldet. Brynnes ganze Zukunft hing vom Ausgang dieses Gesprächs ab. Wenn er die Unterstützung des gigantischen Baxter-Unternehmens gewann, noch dazu unter günstigen Bedingungen.

Brynne war ein großer, dunkelhaariger, gutaussehender Mann von sechsunddreißig Jahren. In seinen betont milde blickenden Augen war ein Funken Nachdenklichkeit zu erkennen, eine Andeutung klarer Vernunft und der Bereitschaft zum Kompromiß sprach aus seinem vollen Mund. Seine Bewegungen zeigten die nachlässige Sicherheit eines Mannes, der seinen Platz in der Welt kennt.

Er war beinahe fertig zum Ausgang. Er klemmte einen Schirm unter den Arm und schob eine Taschenbuchausgabe des Romans >Mord in der U-Bahn< in die Tasche. Ohne einen guten Kriminalroman verließ er nie das Haus.

Schließlich steckte er die kleine Onyx-Nadel eines Kommodore des Ozeanjachtclubs ans Revers. Manche Leute hielten ihn für viel zu jung für eine derartige Auszeichnung. Aber sie mußten zugeben, daß er die Rechte und Pflichten seines Amtes mit einer Würde wahrnahm, die man in seinem Alter normalerweise nicht zu besitzen pflegt.

Er schloß seine Wohnung ab und ging zum Lift. Eine kleine Gruppe von Menschen wartete bereits, vorwiegend Ladenbesitzer, aber auch zwei Geschäftsleute.

»Schöner Tag heute, Mr. Brynne«, grüßte der Liftführer, als er die Kabine hinabgleiten ließ.

»Hoffentlich«, sagte Brynne, tief in Gedanken an Ben Baxter. Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen der Fahrgäste, einen massigen, blonden Riesen, der sich mit einem kleinen, kahlköpfigen Mann unterhielt. Er kannte die meisten Bewohner vom Sehen, wenn er auch noch nicht lange genug hier lebte, um Bekanntschaften geschlossen zu haben. Der Lift erreichte das Vestibül, und Brynne vergaß den Riesen. Er hatte heute andere Sorgen. Im Zusammenhang mit Ben Baxter stellten sich einige Probleme, die er lösen mußte, bevor er zur festgesetzten Stunde bei ihm erschien. Er trat in einen trüben, grauverhangenen Aprilvormittag hinaus und beschloß, bei >Childs< zu frühstücken.

Es war 10 Uhr 25.

»Was halten Sie von ihm?« fragte Dr. Sveg.

»Er sieht ganz normal aus«, meinte Edwin James. »Er scheint mir auch vernünftig zu sein. Das werden wir ja herausfinden.«

Sie gingen fünfzig Meter hinter Brynne her. Brynnes große, elegante Gestalt fiel selbst im Gewühl New Yorks auf.

»Ich bin noch nie für Gewalt gewesen«, sagte Dr. Sveg, »aber warum hauen wir ihm nicht einfach eins auf den Schädel, damit die Sache endlich erledigt ist?«

»Diese Methode hatten Aaui und Beatty gewählt. Miss Chandragore und Lan Il versuchten es mit Bestechung. Wir müssen nun wirklich der Vernunft Raum geben.«

»Aber angenommen, daß er Vernunftgründen nicht zugänglich ist, was dann?«

James hob die Schultern.

»Mir gefällt das nicht«, sagte Dr. Sveg. Sie sahen, wie Brynne mit einem dicken Geschäftsmann zusammenstieß.

»Entschuldigung«, sagte Brynne.

»Entschuldigung«, sagte der Dicke.

Sie nickten einander zu und gingen weiter.

Brynne betrat >Childs< und setzte sich an einen Tisch an der Rückseite des Raumes. Jetzt war es an der Zeit, an Ben Baxter zu denken und sich zu überlegen, wie man am besten -

»Sie wünschen, Sir?« fragte ein Kellner.

»Rühreier, Toast, Kaffee«, sagte Brynne.

»Pommes frites?«

»Nein, danke.«

Der Kellner eilte davon. Brynne konzentrierte sich auf Ben Baxter. Wenn sich Baxter mit seinem finanziellen und politischen Einfluß hinter die Sache stellte, war gar nicht anzusehen -

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte eine Stimme, »können wir Sie einen Augenblick sprechen?«

Brynne hob den Kopf und sah den blonden Mann mit seinem Begleiter, die ihm im Lift aufgefallen waren.

»In welcher Sache denn?«

»Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges«, sagte der Mann.

Brynne warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Er hatte noch zweiundeinhalb Stunden Zeit bis zu seiner Besprechung mit Baxter.

»Setzen Sie sich doch«, sagte er. »Worum handelt es sich?«

Die Männer sahen einander an und lächelten verlegen. Schließlich räusperte sich der Kleine.

»Mr. Brynne«, sagte er, »ich bin Edwin James. Das ist mein Mitarbeiter, Dr. Sveg. Wir haben Ihnen eine albern klingende Geschichte zu erzählen, die Sie sich hoffentlich ohne Unterbrechung anhören werden. Danach können wir Ihnen gewisse Beweise vorlegen, die Sie von der Echtheit unserer Geschichte überzeugen werden - vielleicht aber auch nicht.«

Brynne runzelte die Stirn. Er fragte sich, welcher Sorte von Verrückten er hier begegnet war. Aber beide Männer waren gut angezogen, beide Männer verfügten über Manieren.

»Na gut, schießen Sie los«, sagte Brynne.

Eine Stunde und zwanzig Minuten später sagte Brynne: »Donnerwetter! Das schlägt ja alles!«

»Ich weiß«, entschuldigte sich Dr. Sveg. »Unsere Beweise -sind sehr eindrucksvoll. Zeigen Sie mir doch noch einmal das erste Gerät.«

Sveg überreichte es ihm. Brynne starrte den kleinen schimmernden Gegenstand ehrfürchtig an.

»Du lieber Himmel! Wenn ein Ding von dieser Größe wirklich Hitze oder Kälte in der von Ihnen erwähnten Quantität ausstrahlen kann - die Elektrizitätswerke würden ein paar Milliarden dafür zahlen!«

»Das ist ein Produkt unserer Technik«, sagte Chefprogrammierer James, »wie die anderen Apparaturen auch.«

»Und dann dieses billige Gerät zur Herstellung von frischem Wasser aus Salzwasser.« Er sah die beiden Männer an. »Es wäre natürlich möglich, daß diese Geräte nur Schwindel sind.«

Dr. Sveg runzelte die Stirn.

»Aber ich verstehe ein bißchen was von Technik. Selbst wenn sie Schwindel wären, müßten sie genauso raffiniert konstruiert sein wie echte Geräte. Ich glaube, Sie haben mich überzeugt. Menschen aus der Zukunft! Donnerwetter!«

»Dann akzeptieren Sie also, was wir Ihnen berichtet haben?« fragte James. »Auch das mit Ben Baxter und der Zeitlinienauswahl?«

»Nun ja...« Brynne dachte angestrengt nach. »Mit Vorbehalt.«

»Werden Sie auf Ihre Besprechung mit Baxter verzichten?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sir?«

»Ich sagte, ich weiß es nicht. Sie haben wirklich Nerven«, ereiferte sich Brynne. »Ich habe wie ein Galeerensklave gearbeitet, um dieses Ziel zu erreichen. Diese Verabredung ist die größte Chance, die ich je in meinem Leben haben werde, und Sie verlangen, daß ich das alles aufgeben soll, wegen irgendeiner nebulösen Voraussage -« »Die Voraussage ist nicht nebulös«, meinte James. »Sie ist an Präzision nicht zu überbieten.«

»Hören Sie, es dreht sich ja nicht nur um mich. Ich habe eine Firma, Angestellte, Teilhaber, Aktionäre. Auch um ihretwillen muß ich diese Verabredung einhalten.«

»Mr. Brynne«, sagte Dr. Sveg, »überlegen Sie, was auf dem Spiel steht!«

»Ja, gewiß«, sagte Brynne säuerlich. »Und was ist denn mit den anderen Teams, von denen Sie gesprochen haben? Vielleicht hat man mich in einer anderen Wahrscheinlichkeitswelt aufhalten können.«

»Leider nicht.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich durfte den Teams das nicht sagen«, erklärte Chefprogrammierer James, »aber die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg war verschwindend gering - ebenso wie auch die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ich bei Ihnen Erfolg habe, statistisch ebenso geringfügig ist.«

»Zum Teufel noch mal«, sagte Brynne, »ihr kommt aus der Zukunft daher und verlangt von einem Mann, daß er sein ganzes Leben verändert. Dazu habt ihr nicht das mindeste Recht!«

»Wenn Sie die Verabredung um einen einzigen Tag verschieben könnten -«, meinte Dr. Sveg.

»Bei Ben Baxter verschiebt man keine Verabredungen. Entweder hält man diejenige ein, die er mit einem vereinbart hat, oder man wartet, bis er eine neue festsetzt, wahrscheinlich dann aber umsonst.« Brynne erhob sich.

»Hören Sie, ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich habe Sie angehört, ich glaube Ihnen mehr oder weniger, aber ich bin mir einfach nicht sicher. Ich muß eben sehen, was sich ergibt.«

Dr. Sveg und James standen ebenfalls auf. »Das ist Ihr gutes Recht«, sagte Chefprogrammierer James. »Leben Sie wohl. Hoffentlich treffen Sie die richtige Entscheidung, Mr, Brynne.«

Sie schüttelten sich die Hände. Brynne eilte hinaus. Dr. Sveg und Chefprogrammierer James sahen ihm nach. Sveg sagte: »Was glauben Sie? Es sieht günstig aus, nicht wahr? Glauben Sie nicht?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte James. »Die Möglichkeiten, innerhalb einer Zeitlinie Ereignisse zu verändern, ist immer sehr gering. Ich habe wirklich keine Ahnung, was er tun wird.«

Dr. Sveg schüttelte den Kopf und atmete dann tief ein. »Das ist eine Luft, was?«

»Kann man wohl sagen«, meinte Chefprogrammierer James.

Brynne beschloß, zur Beruhigung seiner Nerven am Hafen spazierenzugehen. Der Anblick der mächtigen Schiffe besänftigte ihn stets. Er wanderte gleichmäßig dahin und versuchte, sich darüber klarzuwerden, was geschehen war.

Diese lächerliche Geschichte.

An die er glaubte.

Aber was war mit seiner Pflicht, den Jahren, in denen er sich bemüht hatte, dieses riesige Waldgebiet zu erwerben?

Er blieb stehen und betrachtete den Bug eines großen Schiffes. Die >Theseus<.

Er dachte an das Karibische Meer, an den blauen Himmel, den hellen Sonnenschein, an Wein und Entspannung. Diese Dinge waren nicht für ihn da. Arbeit, angestrengte Arbeit, dafür hatte er sich entschieden. Gleichgültig, worauf er dabei verzichten mußte, er würde sich unter dem grauen Himmel New Yorks weiter abmühen.

Aber warum? fragte er sich. Er war keineswegs arm. Seine Geschäfte liefen auch ohne ihn. Was hielt ihn davon ab, dieses Schiff zu besteigen, alles zurückzulassen, ein ganzes Jahr die Sonne zu genießen?

Freudige Erregung befiel ihn, als er einsah, daß ihn nichts, aber auch gar nichts zurückhielt. Er war sein eigener Herr, ein entschlossener, starker Mann. Wenn er die Kraft hatte, Erfolge im Geschäftsleben zu erzielen, hatte er auch den Mut, es zu verlassen, auf alles zu verzichten und seinen inneren Wünschen zu folgen. Und auf diesem Wege würde auch die verdammte, lächerliche Zukunft gesichert sein.

»Zum Teufel mit Ben Baxter«, sagte er.

Aber es war ihm nicht ernst damit.

Die Zukunft war ihm zu ungewiß, zu weit entfernt. Vielleicht war das Ganze nur ein aufgelegter Schwindel, den ein Konkurrent sich ausgedacht hatte.

Sollte sich die Zukunft um sich selbst bekümmern!

Ned Brynne wandte sich ab. Er mußte sich beeilen, wenn er noch rechtzeitig zur Verabredung mit Ben Baxter erscheinen wollte.

Als er in dem großen Verwaltungsgebäude mit dem Lift nach oben fuhr, bemühte er sich, nicht nachzudenken. Es war genug, einfach zu handeln. Im sechzehnten Stockwerk stieg er aus und ging zu der Sekretärin.

»Ich heiße Brynne. Ich habe eine Verabredung mit Mr. Baxter.«

»Jawohl, Mr. Brynne. Mr. Baxter erwartet Sie. Sie können sofort hineingehen.«

Brynne rührte sich nicht. Eine Welle unüberwindlichen Zweifels schlug in ihm hoch und er dachte an die zukünftigen Generationen, deren Chancen er durch dieses Vorgehen zunichte machte. Er dachte an Dr. Sveg und Chefprogrammierer Edwin James, ernste, ehrliche Männer. Sie hätten ihn niemals gebeten, ein solches Opfer zu bringen, wenn es nicht unbedingt erforderlich gewesen wäre.

Und er dachte noch an etwas anderes -

Unter diesen zukünftigen Generationen würden auch seine Nachkommen zu leben haben.

»Sie können hineingehen, Sir«, sagte das Mädchen.

Ganz plötzlich löste sich etwas in Brynne.

»Ich habe es mir überlegt«, sagte er mit einer Stimme, die er kaum wiedererkannte. »Ich möchte die Verabredung absagen. Sagen Sie Baxter, daß es mir leid tut - alles.«

Er fuhr herum und rannte sechzehn Treppen hinunter.

Im Konferenzraum des Weltplanungsrates saßen die fünf Vertreter der Bundesbezirke der Erde an einem langen Tisch und warteten auf Edwin James. Er trat ein, ein kleiner Mann von eindrucksvoller Häßlichkeit.

»Ihre Berichte«, sagte er.

Aaui, der immer noch ziemlich mitgenommen aussah, erzählte vom Ergebnis ihrer Bemühungen. »Vielleicht hätten wir ihn aufhalten können, wenn man uns beigebracht hätte, rigoroser vorzugehen.«

»Vielleicht auch nicht«, sagte Beatty, der noch weit erschöpfter als Aaui aussah.

Lan Il berichtete vom teilweisen Erfolg und schließlich gänzlichen Mißerfolg seiner Mission mit Miss Chandragore. Brynne hatte sich bereit erklärt, sie nach Indien zu begleiten, selbst wenn das bedeuten sollte, daß er auf seine Verabredung mit Baxter verzichten müßte.

Lan Il schloß mit ein paar bösen Bemerkungen über die ungenauen Fahrpläne der Reedereien.

Chefprogrammierer James erhob sich. »Die Zukunft, die wir zu wählen versuchten, war eine, in deren Vergangenheit Ben Baxter am Leben blieb und seine Arbeit vollenden konnte. Unglücklicherweise ist das nicht möglich. Unsere einzige Hoffnung lag schließlich auf der historischen Hauptlinie, in der Dr. Sveg und ich uns bemühten.«

»Sie haben noch keinen Bericht erstattet«, sagte Chandragore. »Was geschah?«

»Vernunft und ein Appell an die Intelligenz schienen die größten Aussichten auf Erfolg zu bieten«, sagte James. »Nach eingehender Überlegung beschloß Brynne, seine Verabredung mit Ben Baxter nicht einzuhalten. Aber -«

Ben Baxter war klein und massig. Er hatte einen völlig kahlen Kopf und seine Augen hinter dem goldenen Zwicker waren ausdruckslos. Er trug einen strenggeschnittenen, dunklen Anzug, am Revers das kleine mit Rubinen und Perlen besetzte Abzeichen des Wall Street-Klubs.

Er saß jetzt seit einer halben Stunde regungslos am Schreibtisch, dachte über Zahlen und künftige Entwicklungen nach.

Sein Summer ertönte. »Ja, Miss Cassidy?«

»Mr. Brynne war hier. Er ist eben gegangen.«

»Was soll das heißen?«

»Ich verstehe es wirklich nicht, Mr. Baxter. Er kam herauf und sagte, daß er die Verabredung absagen wolle.«

»Was hat er gesagt? Wiederholen Sie möglichst exakt, Miss Cassidy.«

»Er sagte, daß er eine Verabredung mit Ihnen hätte, und ich erklärte, daß er sofort hineingehen könne. Er blieb aber stehen und sah mich seltsam an. Er schien wütend und aufgeregt zu sein. Ich sagte noch einmal, daß er hineingehen könne. Dann sagte er -«

»Bitte, jetzt Wort für Wort, Miss Cassidy.« »Jawohl, Sir. Er sagte: >Ich habe es mir anders überlegt. Ich möchte die Verabredung absagen. Sagen Sie Baxter, daß es mir leid tut - alles.<«

»Mehr hat er nicht gesagt?«

»Nein, Mr. Baxter.«

»Und dann?«

»Er drehte sich um und eilte die Treppe hinunter.«

»Die Treppe?«

»Ja, Mr. Baxter. Er wartete nicht auf den Lift.«

»Aha.«

»Wünschen Sie noch etwas, Mr. Baxter?«

»Nein, danke, Miss Cassidy.«

Ben Baxter schaltete die Gegensprechanlage ab und sank in seinem Stuhl zusammen.

Brynne wußte also Bescheid.

Eine andere Erklärung gab es nicht. Irgendwie mußte etwas durchgesickert sein. Er hatte geglaubt, es zumindest noch für einen Tag verbergen zu können, aber irgendwo gab es eine undichte Stelle.

Baxter lächelte grimmig. Er konnte Brynne verstehen, obwohl er sich wenigstens zu einem Gespräch hätte bereitfinden können. Aber vielleicht war es so besser.

Wie hatte er es herausgefunden? Wer hatte ihn davon verständigt, daß der Baxter-Konzern auf unsicheren Beinen stand, daß er zusammenzubrechen drohte?

Wenn sich diese Nachricht nur noch einen Tag, nur noch ein paar Stunden hätte verheimlichen lassen! Er hätte mit Brynne abgeschlossen. Ein neues Unternehmen wäre in der Lage gewesen, frisches Blut herbeizupumpen. Bis die Leute dahintergekommen wären, hätte er wieder über ein solides Fundament verfügt.

Brynne wußte Bescheid, er hatte sich zurückgezogen. Das bedeutete, daß alle Bescheid wußten.

Jetzt ließ sich nichts mehr retten. Die Wölfe würden sich auf ihn stürzen, seine Freunde, seine Frau, seine Partner und all die vielen Leute, die ihm ihr Vertrauen geschenkt hatten.

Nun ja, er hatte schon vor Jahren entschieden, was er in einem solchen Fall tun würde.

Ohne zu zögern öffnete Baxter eine Schreibtischlade und entnahm ihr ein kleines Fläschchen. Er schüttelte zwei weiße Tabletten auf seine Hand.

Er hatte immer nach seinen eigenen Regeln gelebt, jetzt war es an der Zeit, ein Ende zu machen.

Ben Baxter schluckte die beiden Tabletten. Zwei Minuten später sank er über dem Schreibtisch zusammen.

Sein Tod leitete die große Börsenkatastrophe von 1969 ein.

ENDE

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