DER TOD SPIELT MIT (Das Millionenspiel)

Raeder hob vorsichtig den Kopf über die Fensterbrüstung. Er sah die Feuerleiter, und unter ihr eine enge Gasse. Dort unten standen drei Abfalltonnen und ein defekter Kinderwagen. Hinter der letzten Tonne tauchte ein schwarzer Ärmel auf; die Hand umklammerte etwas Schimmerndes. Raeder duckte sich hastig. Eine Kugel pfiff durch das Fenster über seinem Kopf und schlug in der Decke ein. Putz bröselte auf ihn herab.

Jetzt wußte er über die Gasse Bescheid. Sie war bewacht, wie die Tür.

Er lag ausgestreckt auf dem rissigen Linoleum, starrte zum Einschuß an der Decke hinauf, lauschte den Geräuschen draußen vor der Tür. Er war ein hochgewachsener Mann mit blutunterlaufenen Augen und zwei Tage alten Bartstoppeln. Schmutz und Überanstrengung hatten sein Gesicht gezeichnet, die Angst seine Züge verändert, hier einen Muskel gespannt, dort einen Nerv zum Zucken gebracht. Das Resultat war verblüffend. Sein Gesicht hatte jetzt Charakter, denn es war durch die Erwartung des Todes umgeformt.

In der Gasse hielt sich ein bewaffneter Bandit auf, auf der Treppe waren zwei Gangster. Er saß in der Falle. Er war tot.

Gewiß, dachte Raeder, er bewegte sich noch, er atmete noch, aber das lag nur an der Unfähigkeit des Todes. In ein paar Minuten würde sich der Tod seiner annehmen, Löcher in sein Gesicht und seinen Körper stoßen, seine Kleidung künstlerisch mit Blut färben und seine Glieder in irgendeiner grotesken Variation des Friedhof-Balletts anordnen.

Raeder biß sich auf die Unterlippe. Er wollte leben. Es müßte doch einen Weg geben.

Er rollte sich auf den Bauch und studierte die schäbige Wohnung, in die ihn die Gangster getrieben hatten. Ein perfekter, kleiner Einzimmer-Sarg. Er besaß eine Tür, die unter Beobachtung stand, und eine Feuerleiter, die bewacht wurde. Und außerdem gehörte ein winziges, fensterloses Badezimmer zur Wohnung.

Er kroch auf dem Bauch zum Badezimmer und stand auf. In der Decke befand sich ein gezacktes Loch mit einem Durchmesser von nahezu vierzehn Zentimetern Durchmesser. Wenn er es vergrößern und sich in die Wohnung darüber hochziehen könnte.

Er hörte einen dumpfen Schlag. Die Mörder wurden ungeduldig. Sie begannen die Tür aufzubrechen.

Er studierte das Loch in der Decke. Sinnlos, überhaupt daran zu denken. Er konnte es niemals rechtzeitig vergrößern.

Sie warfen sich gegen die Tür, bei jedem Anprall Flüche ausstoßend. Bald würde das Schloß auseinanderbrechen, oder die Scharniere würden sich auf alle Fälle aus dem verfaulten Holz lösen.

Die Tür würde umstürzen, und die beiden Männer mit den ausdruckslosen Gesichtern würden hereinkommen, ihre Jacketts abstauben.

Aber irgend jemand würde ihm gewiß helfen! Er nahm den winzigen Fernsehempfänger aus der Tasche. Das Bild war verschwommen; er machte sich nicht die Mühe, es scharf einzustellen. Der Ton kam klar und deutlich aus dem Kleinlautsprecher.

Er hörte, wie die sonore Stimme Mike Terrys zur riesigen Zuschauerschaft sprach.

». furchtbare Situation«, sagte Terry gerade. »Jawohl, liebe Zuschauer, Jim Raeder ist in einer wirklich entsetzlichen Lage. Er hatte sich unter einem falschen Namen in einem drittklassigen Hotel am Broadway eingemietet, wie Sie sich entsinnen werden. Das schien Sicherheit genug zu bieten. Aber der Hotelpage erkannte ihn und verriet der Thompsonbande sein Versteck.«

Die Tür knarrte unter den heftigen Stößen. Raeder umklammerte das kleine Fernsehgerät und lauschte.

»Jim Raeder konnte gerade noch aus dem Hotel entkommen! Hart verfolgt, betrat er das Wohnhaus in der West End Avenue mit der Nummer 156. Er hatte vor, über die Dächer zu fliehen. Und es hätte klappen können, verehrte Zuschauer, es hätte beinahe geklappt. Aber die Tür zum Dach war abgesperrt. Das Ende schien nahe. Aber Raeder stellte fest, daß Appartement sieben unbewohnt war. Er flüchtete sich in die Wohnung.«

Terry machte eine Kunstpause, dann rief er: » - und jetzt sitzt er dort in der Falle, wie eine gefangene Maus! Die Thompson-bande bricht die Tür auf! Die Feuerleiter wird bewacht! Unsere Kameraleute, die von einem Gebäude in der Nähe aus arbeiten, vermitteln Ihnen jetzt Nahaufnahmen. Sehen Sie ihn, liebe Zuschauer? Gibt es keine Hoffnung mehr für Jim Raeder?«

>Gibt es keine Hoffnung mehr!< wiederholte Raeder stumm, während ihm der Schweiß aus allen Poren trat, als er in dem dunklen, stickigen Badezimmer stand und den regelmäßigen Stößen gegen die Tür lauschte.

»Einen Augenblick!« rief Mike Terry. »Halten Sie aus, Jim Raeder, halten Sie noch ein bißchen aus. Vielleicht besteht noch Hoffnung! Ich erhalte eben einen dringenden Anruf von einem unserer Zuschauer, einen Anruf über die Gute-Samariter-Leitung! Hier ist jemand, der glaubt, Ihnen helfen zu können, Jim! Hören Sie uns, Jim Raeder?«

Raeder wartete. Die Scharniere der Wohnungstür brachen aus dem angefaulten Holz.

»Sprechen Sie ruhig, Sir«, sagte Mike Terry. »Wie heißen Sie, Sir?«

»Äh - Felix Bartholemow.«

»Nur keine Nervosität, Mr. Bartholemow. Äußern Sie sich.«

»Na ja, okay, Mr. Raeder«, erklärte die zittrige Stimme eines alten Mannes, »ich habe früher in der West End Avenue 156 gewohnt. Sogar in demselben Appartement, wo Sie sich jetzt aufhalten, Mr. Raeder. Hören Sie, das Badezimmer hat ein Fenster, Mr. Raeder. Es ist übermalt worden, aber es da -«

Raeder steckte den Fernsehapparat in die Tasche, entdeckte die Umrisse des Fensters und stieß mit dem Fuß zu. Glas splitterte, und plötzlich drang Tageslicht ins Badezimmer. Er räumte die gezackten Splitter vom Fensterbrett und schaute hinaus.

Es ging weit hinunter auf einen Hof mit Betonboden.

Die Scharniere rissen aus dem Holz. Er hörte, wie die Tür zu Boden stürzte. Hastig stieg er durchs Fenster, hing einen Augenblick an den Fingerspitzen und ließ sich fallen.

Der Aufprall nahm ihm die Luft weg. Betäubt erhob er sich. Im Badezimmerfenster erschien ein Gesicht.

»Pech«, sagte der Mann, beugte sich hinaus und zielte mit einer stumpfnasigen Pistole.

In diesem Augenblick explodierte im Badezimmer eine Rauchbombe.

Der Schuß des Gangsters verfehlte sein Ziel bei weitem. Fluchend fuhr er herum. Weitere Rauchbomben detonierten im Hof, und der Nebel hüllte Raeder ein.

Er hörte Mike Terrys aufgeregte Stimme aus dem Gerät in seiner Tasche tönen. »Laufen Sie!« schrie Terry. »Laufen Sie um Ihr Leben, Raeder! Fliehen Sie, solange die Gangster noch durch den Rauch behindert werden. Und danken Sie der Guten Samariterin Sarah Winters aus Brocktan, Massachusetts, Edgar Street 341, die fünf Rauchbomben gestiftet hat und einen Mann beauftragte, sie zu werfen!«

Mit etwas ruhigerer Stimme fuhr Terry fort: »Sie haben heute einem Menschen das Leben gerettet, Mrs. Winters. Würden Sie unseren Zuschauern sagen, wie es -«

Raeder konnte sie nicht mehr hören. Er raste durch den raucherfüllten Hof, vorbei an Wäscheleinen, hinaus auf die offene Straße.

Er ging die 63. Straße hinunter, gebückt, um seine Größe ein wenig zu tarnen, taumelnd durch die Erschöpfung, schwindlig aus Mangel an Nahrung und Schlaf.

»He, Sie da!«

Raeder drehte sich um. Auf den Stufen eines Wohnhauses saß eine ältere Frau und sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an.

»Sie sind Raeder? Der, den sie umbringen wollen?«

Raeder ging weiter.

»Kommen Sie hier herein, Raeder«, sagte die Frau.

Vielleicht war es eine Falle. Aber Raeder wußte, daß er auf die Großzügigkeit und Anständigkeit der Leute vertrauen mußte. Er war ihr Repräsentant, eine Verkörperung ihres Wesens, ein einfacher Mann in Schwierigkeiten. Ohne sie war er verloren. Mit ihnen konnte ihm nichts zustoßen.

Vertrauen Sie auf die Leute, hatte ihm Mike Terry gesagt. Sie lassen Sie niemals im Stich.

Er folgte der Frau in ihr Wohnzimmer. Sie bot ihm einen Stuhl an und verließ den Raum. Wenige Augenblicke später kam sie mit einem Teller Stew zurück. Sie beobachtete ihn, während er aß, wie man im Zoo einem Affen beim Verschlingen von Erdnüssen zusieht.

Zwei Kinder kamen aus der Küche und starrten ihn an. Drei Männer in Arbeitsanzügen verließen das Schlafzimmer und stellten eine Fernsehkamera auf ihn ein. In der Ecke stand ein großer Fernsehempfänger. Während er das Essen hinunterschlang, beobachtete Raeder das Bild Mike Terrys und lauschte der ernsten, besorgt klingenden Stimme.

»Hier ist er, verehrte Zuschauer«, erklärte Terry. »Hier ist Jim Raeder, seit zwei Tagen bei seiner ersten richtigen Mahlzeit. Unsere Kameraleute haben sich wirklich angestrengt, um Ihnen das zu zeigen! Danke, Jungs. Liebe Zuschauer, Jim Raeder hat vorübergehend bei Mrs. Velma O'Dell, 63. Straße 343, eine Zuflucht gefunden. Vielen Dank, Gute Samariterin O'Dell! Es ist wirklich großartig, wie Menschen aus allen Kreisen Jim Raeder ins Herz geschlossen haben!«

»Sie sollten sich beeilen«, sagte Mrs. O'Dell.

»Ja, Mrs. O'Dell«, erwiderte Raeder.

»Ich will in meiner Wohnung keine Schießerei.«

»Ich bin gleich fertig, Mrs. O'Dell.«

Eines der Kinder fragte: »Bringen sie ihn denn nicht um?«

»Halt den Mund«, sagte Mrs. O'Dell.

»Jawohl, Jim«, leierte Mike Terry, »Sie beeilen sich besser. Ihre Verfolger sind nicht weit zurück. Sie sind keine Dummköpfe, Jim. Bösartig, anomal, verrückt - ja! Aber nicht dumm. Sie folgen einer Spur von Blut - Blut aus Ihrer verletzten Hand, Jim!«

Raeder hatte bis jetzt nicht bemerkt, daß er sich beim Durchkriechen des eingeschlagenen Fensters eine Schnittwunde zugezogen hatte.

»Kommen Sie her, ich verbinde Sie«, sagte Mrs. O'Dell. Raeder stand auf und ließ sich verbinden. Dann gab ihm Mrs. O'Dell ein braunes Jackett und einen grauen, breitkrempigen Hut.

»Das sind Sachen von meinem Mann«, erklärte sie.

»Er hat eine Tarnung, verehrte Zuschauer!« rief Mike Terry entzückt. »Das ist etwas ganz Neues! Eine Verkleidung! Und noch sieben Stunden, bis Jim Raeder in Sicherheit ist!«

»Nun verschwinden Sie«, sagte Mrs. O'Dell.

»Ich gehe schon«, erwiderte Raeder. »Vielen Dank auch.« »Für mich sind Sie nicht bei Trost«, meinte sie. »Nur ein Verrückter kann sich auf so etwas einlassen.«

»Ja, Mrs. O'Dell.«

»Die Sache ist doch diesen Einsatz nicht wert.«

Raeder bedankte sich und verließ das Haus. Er ging zum Broadway, fuhr mit der Untergrundbahn zur 59. Straße, stieg in einen Pendlerzug zur 86. Straße um. Dort kaufte er eine Zeitung und stieg in die Manhasset-Schnellverkehrsbahn ein.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch sechseinhalb Stunden.

Die U-Bahn raste unter Manhattan dahin. Raeder döste vor sich hin, die bandagierte Hand unter der Zeitung verborgen, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Hatte ihn schon jemand erkannt? War es ihm gelungen, die Thompsonbande abzuschütteln? Oder rief in diesem Augenblick bereits jemand die Gangster an?

Schläfrig fragte er sich, ob er dem Tod entronnen war. Oder war er immer noch eine kunstvoll belebte Leiche, die nur dank, der Nachlässigkeit des Todes noch herumlief?

Raeder riß die Augen auf. Er hatte etwas Unangenehmes, geträumt. Was es gewesen war, wußte er nicht mehr.

Er schloß die Augen wieder und entsann sich mit leichter Überraschung einer Zeit, in der es keine Schwierigkeiten für ihn gegeben hatte.

Das war vor zwei Jahren gewesen. Er hatte als Lastwagenbeifahrer gearbeitet, ein großer, freundlicher, junger Mann. Er verfügte über keine Talente. Er war zu bescheiden, um sich Träume zu leisten.

Der kleine Lastzugchauffeur mit dem schmalen Gesicht träumte für ihn. »Warum versuchst du es nicht bei einer Fernsehschau, Jim?« hatte er gesagt. »Wenn ich dein Aussehen hätte, würde ich es selber probieren. Man will doch nette, durchschnittliche Leute, die nicht allzuviel auf dem Kasten haben, als Bewerber.

Für solche Burschen hat jeder etwas übrig. Warum erkundigst du dich nicht einmal?«

Er hatte sich also erkundigt. Der Besitzer des TV-Empfänger-Geschäfts im Ort klärte ihn weiter auf.

»Schau, Jim, das Publikum hat die hochtrainierten Athleten mit ihren Trickreflexen und ihrem professionellen Mut satt. Wer kann für solche Kerle Mitgefühl aufbringen? Wer identifiziert sich damit? Die Leute wollen aufregende Dinge sehen, gewiß, aber nicht, wenn irgendein Bursche für fünfzigtausend pro Jahr ein Geschäft daraus macht. Deswegen interessiert sich niemand mehr für die Massensportarten. Deswegen sind die Sensationssendungen so beliebt.«

»Aha«, sagte Raeder.

»Vor sechs Jahren hat der Kongreß das Gesetz über den freiwilligen Selbstmord erlassen. Die alten Senatoren faselten allerhand Zeug vom freien Willen und von der Selbstbestimmung. Aber das ist alles Käse. Weißt du, was dieses Gesetz wirklich bedeutet? Es läuft darauf hinaus, daß Amateure ihr Leben fürs große Geld riskieren dürfen, nicht bloß Professionelle. Früher mußte man Berufsboxer, -fußballer oder -hockeyspieler sein, wenn man das Recht haben wollte, sich für Geld den Schädel einschlagen zu lassen. Aber jetzt steht normalen Menschen, wie du einer bist, Jim, dieser Weg auch offen.«

»Aha«, sagte Raeder wieder.

»Das ist doch eine wunderbare Gelegenheit. Nehmen wir zum Beispiel gleich dich. Du bist nicht besser als die anderen, Jim. Was du kannst, können alle anderen auch. Du bist Durchschnitt. Ich glaube, daß man dich bei den Sensationsreihen brauchen könnte.«

Raeder erlaubte sich, zu träumen. Die Teilnahme an Fernsehsendungen solcher Art schien für einen netten jungen Mann ohne besondere Begabung oder Ausbildung der sichere Weg zum Reichtum. Er schrieb einen Brief an eine Sendung mit dem Namen >Risiko< und fügte eine Photographie bei.

>Risiko< war an ihm interessiert. Die Sendegesellschaft JBC überprüfte ihn und stellte fest, daß er von einer Durchschnitt-lichkeit war, die selbst den mißtrauischsten Zuschauer befriedigen mußte. Man spürte seiner Ahnenreihe nach, prüfte seine Verwandtschaft. Schließlich wurde er nach New York bestellt und von Mr. Moulian ausgequetscht.

Moulian war ein dunkelhaariger, energischer Mann, der ständig Kaugummi kaute. »Sie sind brauchbar«, knurrte er. »Aber nicht für >Risiko<. Sie treten in >Bahn frei< auf. Das ist eine Halbstundensendung bei Tag auf Kanal drei.«

»Mensch!« sagte Raeder.

»Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Wenn Sie gewinnen oder Zweiter werden, gibt es tausend Dollar, auf allen anderen Plätzen einen Trostpreis von hundert Dollar. Aber das ist unwichtig.«

»Ja, Sir.«

»>Bahn frei< ist eine kleine Sendung. JBC verwendet sie als Testserie. Sieger und Zweite bei >Bahn frei< kommen weiter zu >Ernstfall<. Dort sind die Preise sehr viel höher.«

»Ich weiß, Sir.«

»Und wenn Sie sich in >Ernstfall< gut schlagen, geht es in die erstklassigen Sensationssendungen, wie >Risiko< und >Gefahren unter Wasser<, die im ganzen Land ausgestrahlt werden und phantastische Preise bieten. Schließlich kommt das ganz große Geschäft. Wie weit Sie kommen, hängt von Ihnen ab.«

»Ich werde mein Bestes tun, Sir«, sagte Raeder.

Moulian hörte einen Augenblick auf zu kauen und sagte beinahe ehrfurchtsvoll: »Sie können es schaffen, Jim. Denken Sie immer daran: Sie sind das Volk, und das Volk kann alles.«

Die Art, wie er das sagte, brachte Raeder dazu, Mitleid für Mr. Moulian zu empfinden, der schwarzes Haar, einen dunklen Teint und hervortretende Augen hatte und offensichtlich nicht das Volk war.

Sie schüttelten sich die Hände. Dann unterschrieb Raeder ein Schriftstück, in dem er JBC von jeder Verantwortung entband, falls er während des Wettbewerbs sein Leben, seine Glieder oder den Verstand verlieren sollte. Und er unterschrieb ein Dokument, worin er seine Rechte aufgrund des Gesetzes über den freiwilligen Selbstmord geltend machte. Die Vorschriften verlangten das; es handelte sich um eine bloße Formalität.

Drei Wochen später trat er in >Bahn frei< auf.

Die Sendung hatte das klassische Rezept der Automobilrennen übernommen. Unausgebildete Fahrer setzten sich in leistungsfähige amerikanische und europäische Rennwagen und rasten über einen mörderischen Zwanzigkilometer-Kurs. Raeder wurde von Angst geschüttelt, als er sich in seinen großen Maserati klemmte, den falschen Gang einlegte und davonbrauste.

Das Rennen war ein heulender, reifenversengender Alptraum. Raeder blieb zurück und ließ die an die Spitze vorgerückten Fahrer ihre Wagen in den Haarnadelkurven zertrümmern. Er kroch auf den dritten Platz vor, als ein Jaguar vor ihm einen Alfa-Romeo streifte und die beiden Wagen sich auf einem Acker überschlugen. Raeder versuchte auf den letzten fünf Kilometern Platz Zwei zu erreichen, fand aber keinen Raum zum Überholen. Dann brach beim führenden Wagen auf den letzten hundert Metern die Kurbelwelle, und Jim wurde Zweiter.

Er hatte tausend Dollar gewonnen. Er bekam vier Verehrerbriefe; eine Dame aus Oshkosh schickte ihm eine Rennbrille. Man lud ihn ein, in >Ernstfall< zu erscheinen.

Im Gegensatz zu anderen Sendungen war >Ernstfall< keine Reihe mit Wettbewerbscharakter. Man legte hier besonders Wert auf persönliche Initiative. Für seinen Auftritt wurde Raeder mit einem gefahrlosen Mittel bewußtlos gemacht. Er erwachte in der Pilotenkanzel eines Sportflugzeugs, das, auf automatische Steuerung eingestellt, in einer Höhe von dreitausend Metern kreiste. Die Treibstoffuhr zeigte an, daß die Benzintanks fast leer waren. Er besaß keinen Fallschirm. Er sollte das Flugzeug landen.

Selbstverständlich hatte er noch nie eine Maschine geflogen.

Er experimentierte behutsam mit der Steuerung, nachdem ihm eingefallen war, daß der Kandidat der letzten Sendung in einem U-Boot zu sich gekommen war, das falsche Ventil geöffnet hatte und ertrunken war.

Tausende von Zuschauern beobachteten atemlos diesen Durchschnittsmenschen, einen Mann aus ihrer Mitte, der mit diesem Problem rang, wie sie es tun würden. Jim Raeder, das waren sie selbst. Alles, was er fertigbrachte, konnten sie auch. Er war der Repräsentant des Volkes.

Raeder schaffte es, das Flugzeug in einer Art Landung zu Boden zu bringen. Die Maschine überschlug sich ein paarmal, aber die Sitzgurte hielten. Und der Motor explodierte entgegen aller Erwartung nicht.

Er taumelte mit zwei gebrochenen Rippen, dreitausend Dollar und der Chance, nach Gesundung in >Torero< aufzutreten, ins Freie.

Endlich eine erstklassige Sendung! >Torero< brachte zehntausend Dollar. Man brauchte nur einen schwarzen Miurastier mit dem Degen zu töten, wie ein echter Matador.

Der Kampf fand in Madrid statt, da Stierkämpfe in den Vereinigten Staaten immer noch nicht zugelassen waren. Sämtliche Fernsehsender übertrugen ihn.

Raeder hatte eine gute Mannschaft. Die Männer mochten den großen, schwerfälligen Amerikaner. Die Pikadores strengten sich bei ihren Lanzenstößen wirklich an, sie versuchten, den Stier für Raeder langsamer zu machen. Die Banderillos bemühten sich, das Tier zu ermüden, bevor sie die Banderillas hineintrieben. Und der zweite Matador, ein traurig wirkender Mann aus Algeciras, brach mit seiner raffinierten Cape-Arbeit dem Stier beinahe das Genick.

Aber schließlich stand doch Jim Raeder im Sand, eine rote Muleta ungeschickt in der Linken, einen Degen in der Rechten, vor sich einen tonnenschweren, schwarzen, blutüberströmten, breitgehörnten Stier.

Jemand schrie: »Such die Lunge, hombre. Sei kein Held, stich ihm in die Lunge!« Aber Jim wußte nur, was ihm der technische Berater in New York erzählt hatte: mit dem Degen zielen und zwischen den Hörnern den Nacken treffen.

Er stach zu. Der Degen glitt am Knochen ab, und der Stier warf Raeder über seinen Rücken durch die Luft. Jim stand auf, wie durch ein Wunder unverletzt, nahm einen anderen Degen und stach wieder zu, mit geschlossenen Augen. Der Schutzengel der Kinder und Narren mußte aufgepaßt haben, denn der Degen glitt wie durch Butter hinein, der Stier machte ein erstauntes Gesicht, starrte Raeder ungläubig an und brach wie ein angestochener Ballon zusammen.

Man bezahlte Jim zehntausend Dollar, und sein gebrochenes Schlüsselbein heilte sehr schnell. Er bekam dreiundzwanzig Verehrerbriefe, darunter die leidenschaftliche Einladung eines Mädchens aus Atlantic City, die er ignorierte. Und man fragte ihn, ob er bei anderen Sendungen auftreten wolle.

Er hatte ein wenig von seiner Unschuld verloren. Er sah jetzt deutlich, daß er für ein Taschengeld sein Leben riskiert hatte. Das große Geld wartete. Jetzt wollte er einmal für einen lohnenden Einsatz alles riskieren.

Er trat also in >Gefahren unter Wasser< auf, eine von einer Seifenfirma unterstützte Sendung. Mit Sauerstoffmaske, Atemgerät, bleibeschwertem Gürtel, Flossen und Messer tauchte er ins warme Wasser der Karibischen See, gemeinsam mit vier anderen Kandidaten, gefolgt von einem durch einen Käfig geschützten Kamerateam. Man mußte einen am Grund verborgenen Schatz finden und bergen.

Tauchsport ist an sich nicht übermäßig gefährlich. Die zahlende Firma hatte sich jedoch ein paar hübsche Dinge ausgedacht. Das Gebiet wurde mit Riesenmuscheln, Muränenaalen, verschiedenen Haiarten, Riesenpolypen, Giftkorallen und anderen unheimlichen Wesen der Meere gespickt.

Der Wettbewerb war ungeheuer aufregend. Ein Mann aus Florida fand den Schatz in einem Felsspalt, aber ein Muränenaal fand den Mann. Ein anderer Taucher übernahm den Schatz, und ein Hai erledigte ihn. Das blaugrün schimmernde Wasser bewölkte sich mit Blut, das im Farbfernsehen besonders gut herauskam. Der Schatz sank auf den Meeresgrund, und Raeder tauchte ihm nach, wobei ihm ein Trommelfell platzte. Er packte die Beute, streifte seinen Bleigürtel ab und schwamm nach oben. Zehn Meter unter der Oberfläche mußte er mit einem anderen um den Schatz kämpfen.

Die beiden Männer fintierten mit ihren Messern. Der Gegner stieß zu und traf Raeder an der Brust. Aber Jim ließ mit der Sicherheit eines altgedienten Kandidaten sein Messer fallen und riß dem Mann den Sauerstoffschlauch aus dem Mund.

Das genügte. Raeder tauchte auf und reichte den Schatz in das wartende Motorboot. Er entpuppte sich als eine Packung Seife.

Dieser Erfolg brachte ihm zweiundzwanzigtausend Dollar in Bargeld und Prämien, dreihundertacht Verehrerbriefe und einen interessanten Vorschlag eines Mädchens in Macon, den er sich ernstlich überlegte. Für den Messerstich und das geplatzte Trommelfell erhielt er kostenlose Krankenhausbehandlung.

Aber was das wichtigste war: man lud ihn ein, in der größten Sensationsschau aufzutreten, in >Der Tod spielt mit<.

Und damit begannen die Schwierigkeiten.

Der U-Bahn-Zug kam zum Stehen und riß ihn aus seiner Versunkenheit. Raeder schob den Hut ins Genick und bemerkte gegenüber einen Mann, der ihn anstarrte und dann seiner dicklichen Nachbarin etwas zuflüsterte. Hatten sie ihn erkannt?

Als sich die Türen öffneten, erhob er sich sofort und warf einen Blick auf die Uhr. Fünf Stunden mußte er noch aushalten.

Am Manhasset-Bahnhof stieg er in ein Taxi und wies den Fahrer an, ihn nach New Salem zu bringen.

»New Salem?« fragte der Chauffeur und starrte ihn durch den Innenspiegel an.

»Richtig.«

Der Fahrer schaltete sein Funkgerät ein. »Passagier nach New York. Ja, richtig. New Salem.«

Sie fuhren los. Raeder runzelte die Stirn und fragte sich, ob das ein Signal gewesen war. Selbstverständlich war es bei Taxifahrern üblich, sich in der Zentrale abzumelden. Aber irgend etwas in der Stimme dieses Mannes.

»Lassen Sie mich hier 'raus«, sagte Raeder.

Er zahlte und ging die schmale Landstraße hinunter, die sich durch lichten Wald schlängelte. Die Bäume waren zu klein und standen zu weit auseinander, um als Versteck dienen zu können. Raeder wanderte weiter und suchte nach einem Unterschlupf.

Ein schwerer Lastwagen näherte sich. Jim ging weiter, den Hut tief in die Stirn gezogen. Aber als das Fahrzeug herankam, hörte er eine Stimme aus dem Fernsehempfänger in seiner Tasche rufen: »Vorsicht!«

Er sprang in den Graben. Der Lastwagen schleuderte vorbei, Raeder nur knapp verfehlend, und hielt mit kreischenden Bremsen. Der Fahrer schrie: »Da ist er! Schieß, Harry, drück doch endlich ab!«

Kugeln fegten das Laub von den Bäumen, als Raeder in den Wald raste.

»Wieder ist es passiert!« erklärte Mike Terry aufgeregt seinen Zuschauern. »Ich fürchte, daß sich Jim Raeder in ein irriges Gefühl der Sicherheit verrannt hat. Das geht nicht, Jim! Nicht, wenn Ihr Leben auf dem Spiel steht! Nicht, solange Mörder Sie verfolgen! Nehmen Sie sich in acht, Jim, Sie müssen noch viereinhalb Stunden durchstehen!«

Der Lastwagenfahrer sagte: »Claude, Harry, schneidet ihm den Weg mit dem Wagen ab. Er sitzt in der Falle.«

»Sie sitzen in der Falle, Jim Raeder!« schrie Mike Terry. »Aber man hat Sie noch nicht! Und Sie können der Guten Samariterin Susy Peters, South Orange, New Jersey, Elmstreet zwölf, für den Warnruf vorhin, als der Lkw herankam, danken. Wir bringen die kleine Susy in wenigen Augenblicken vor die Kamera... Sie sehen, verehrte Zuschauer, unser Hubschrauber ist am Schauplatz angelangt. Jetzt können Sie Jim Raeder auf der Flucht beobachten, während ihm die Mörder den Weg abschneiden, ihn einkreisen.«

Raeder rannte durch den Wald und erreichte eine Betonstraße; auch auf der gegenüberliegenden Seite gab es stark gelichteten Wald. Einer der Gangster kam von hinten heran. Der Lastwagen hatte eine Nebenstraße befahren und war jetzt eineinhalb Kilometer entfernt, brauste aber auf Raeder zu.

Von der anderen Seite her näherte sich ein Personenwagen. Raeder rannte auf die Straße hinaus und winkte verzweifelt. Das Auto hielt.

»Schnell!« schrie die blonde, junge Frau am Steuer.

Raeder hechtete in den Wagen. Die Frau wendete das Fahrzeug. Eine Kugel durchschlug die Windschutzscheibe. Sie trat auf den Gashebel, fuhr beinahe den Gangster über den Haufen, der im Weg stand.

Bevor der Lastwagen in Schußweite war, raste die Limousine davon.

Raeder lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die junge Frau konzentrierte sich auf die Lenkung des Wagens.

»Es hat wieder geklappt!« rief Mike Terry mit ekstatischer Stimme. »Jim Raeder ist wieder den Kiefern des Todes entrissen worden, dank der Hilfe unserer Guten Samariterin Janice Morrow, New York City, Lexington Avenue 433. Haben Sie so etwas schon erlebt, meine Damen und Herren? Wie Miss Morrow durch den Kugelregen raste und Jim Raeder vor dem Untergang rettete! Wir werden uns später mit Miss Morrow unterhalten und uns ihre Erlebnisse mit ihren eigenen Worten schildern lassen. Inzwischen, während Jim Raeder vielleicht der Sicherheit, vielleicht neuen Gefahren entgegenrast, hören Sie eine Mitteilung unseres Sponsors. Bleiben Sie an Ihrem Gerät! Jim muß noch vier Stunden und zehn Minuten überstehen, bevor er in Sicherheit ist. Noch ist alles möglich!«

»Okay«, sagte das Mädchen. »Die Übertragung ist vorübergehend unterbrochen. Raeder, was zum Teufel ist mit Ihnen los?«

»Wie?« fragte Jim. Das Mädchen war Anfang Zwanzig. Es sah tüchtig, anziehend, unberührbar aus. Raeder stellte fest, daß es ein gutgeschnittenes Gesicht und eine schöne Figur hatte. Und er bemerkte, daß die junge Dame wütend war.

»Miss«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll -«

»Lassen Sie das Gerede«, erwiderte Janice Morrow. »Ich bin keine Gute Samariterin. Ich arbeite für die Sendegesellschaft JBC.«

»Die Sendeleitung hat mich also retten lassen!«

»Sehr klug gefolgert«, meinte sie.

»Und warum?«

»Hören Sie, die Sendung ist teuer, Raeder. Wir müssen eine gute Schau bringen. Wenn die Zuschauerzahlen geringer werden, sitzen wir alle auf der Straße. Und Sie arbeiten nicht mit!«

»Was? Wie?«

»Weil Sie furchtbar sind«, sagte Janice bitter. »Sie sind ein Versager, eine Null. Wollen Sie etwa Selbstmord begehen? Haben Sie überhaupt nicht gelernt, wie man sich durchschlägt?«

»Ich gebe mein Bestes.«

»Die Thompsonbande hätte sie bis jetzt schon ein dutzendmal erledigen können. Wir haben die Leute gebeten, die Sache auszudehnen und langsam vorzugehen. Aber es ist genau so, als müßte jemand auf eine zwei Meter große Tontaube schießen. Die Thompsonleute machen mit, aber sie können auch nur bis zu einem gewissen Punkt schwindeln. Wenn ich nicht gekommen wäre, hätten sie Sie abknallen müssen - Sendezeit hin, Sendezeit her.«

Raeder starrte sie an und fragte sich, wie ein hübsches Mädchen so reden konnte. Sie warf ihm einen Blick zu, sah dann schnell wieder auf die Straße.

»Schauen Sie mich nicht so an!« sagte sie. »Sie haben sich entschieden, Ihr Leben für Geld zu riskieren, Freundchen. Für sehr viel Geld sogar! Sie wußten, was gespielt wurde. Tun Sie nicht wie ein unschuldiger, kleiner Drogist, der entsetzt erkennt, daß die bösen Gangster hinter ihm her sind. Das ist wieder eine ganz andere Geschichte.«

»Ich weiß«, sagte Raeder.

»Wenn Sie nicht ordentlich leben können, dann versuchen Sie wenigstens, ordentlich zu sterben.«

»Das ist nicht Ihr Ernst«, erwiderte Raeder.

»Ich würde mir da nicht so sicher sein. Sie haben noch drei Stunden und vierzig Minuten, bis die Sendung zu Ende ist. Wenn Sie am Leben bleiben können, gut. Das Geld gehört Ihnen. Aber wenn Sie es nicht schaffen, dann strengen Sie sich wenigstens an.«

Raeder nickte, ohne den Blick von ihr zu lassen.

»In wenigen Augenblicken geht die Sendung weiter. Ich muß einen Motorendefekt vortäuschen und Sie fortschicken. Die Leute Thompsons nehmen jetzt keine Rücksicht mehr. Sie legen Sie um, sobald sie können. Verstanden?«

»Ja«, sagte Raeder. »Kann ich Sie später einmal sehen, wenn ich durchkomme?«

Sie biß sich zornig auf die Unterlippe. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« »Nein. Ich möchte Sie wiedersehen. Darf ich?«

Sie sah ihn forschend an. »Ich weiß nicht. Lassen wir's. Wir sind beinahe soweit. Ich glaube, Sie verschwinden am besten im Wald auf der rechten Seite. Fertig?«

»Ja. Wo kann ich Sie erreichen? Nachher, meine ich.«

»Oh, Raeder, Sie hören mir ja nicht zu. Gehen Sie durch den Wald, bis Sie einen ausgewaschenen Hohlweg finden. Viel ist das nicht, aber etwas Deckung bietet er doch.«

»Wo kann ich Sie erreichen?« wiederholte Raeder.

»Ich stehe im Telefonbuch von Manhattan.« Sie brachte den Wagen zum Stehen. »Okay, Raeder, laufen Sie.«

Er öffnete die Tür.

»Warten Sie.« Sie beugte sich hinüber und küßte ihn auf den Mund. »Viel Glück, Sie Idiot. Rufen Sie mich an, wenn Sie es schaffen.«

Er hetzte in den Wald.

Er rannte zwischen Birken und Fichten dahin, kam gelegentlich an einem Haus vorbei, wo sich Gesichter an die großen Fenster preßten. Ein Bewohner eines dieser Häuser mußte die Bande verständigt haben, denn die Gangster waren knapp hinter ihm, als er den kleinen Hohlweg erreichte. Sie wollten sehen, wie einer starb. Oder vielleicht wollten sie auch nur beobachten, wie er ganz knapp dem Tod entging.

Es kam auf dasselbe heraus.

Er sprang in den Hohlweg, kroch in das dichte Unterholz und blieb regungslos liegen. Die Gangster erschienen auf beiden Böschungen, streiften langsam umher, achteten auf die geringste Bewegung. Er hörte einen Revolverschuß. Aber der Gangster hatte nur ein Eichhörnchen abgeknallt. Es wand sich einen Augenblick, dann war es still.

Raeder hörte den Hubschrauber des Fernsehens heranbrummen. Er fragte sich, ob Kameras auf ihn gerichtet waren. Möglich. Und wenn man ihn sah, war vielleicht irgendein Guter Samariter bereit, ihm zu helfen.

Raeder lag im Unterholz auf dem Rücken. Er machte ein frommes Gesicht, faltete die Hände und begann zu beten. Er betete leise, weil das Publikum für auffällige Religiosität nichts übrig hatte. Aber seine Lippen bewegten sich. Das konnte man keinem Menschen verwehren.

Und er betete wirklich. Einmal hatte ein Lippenleser im Publikum einen Flüchtigen dabei ertappt, daß dieser zu beten Vorgab, in Wirklichkeit aber Multiplikationen vor sich hinmurmelte. Diesem Mann war jede Hilfe versagt geblieben.

Raeder beendete sein Gebet. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß er noch zwei Stunden überstehen mußte.

Und er wollte doch nicht sterben! Das ganze Geld war das nicht wert, wieviel sie ihm auch bezahlen mochten! Er mußte verrückt gewesen sein, total wahnsinnig, um sich darauf einzulassen.

Aber er wußte, daß das nicht stimmte. Und er erinnerte sich genau, wie normal er geistig gewesen war.

Vor einer Woche war er im Studio von >Der Tod spielt mit< gewesen, hatte in die Scheinwerfer geblinzelt, und sich von Mike Terry die Hand schütteln lassen.

»Nun, Mr. Raeder«, hatte Terry ernst gefragt, »begreifen Sie die Regeln des Spiels, an dem Sie sich beteiligen wollen?«

Raeder nickte.

»Wenn Sie annehmen, Jim Raeder, sind Sie eine Woche lang ein gejagter Mann. Mörder werden Ihnen auf der Spur sein, Jim. Ausgebildete Mörder; Männer, die wegen anderer Verbrechen gesucht werden und für diese eine Tat nach dem Gesetz über freiwilligen Selbstmord Straffreiheit erhalten haben. Sie werden versuchen, Sie umzubringen, Jim - begreifen Sie?«

»Ich verstehe«, sagte Raeder. Er verstand auch die zweihunderttausend Dollar, die man ihm aushändigen würde, wenn er die Woche überlebte.

»Ich frage Sie noch einmal, Jim Raeder. Wir zwingen keinen Menschen, mit seinem Leben als Einsatz zu spielen.«

»Ich will spielen«, sagte Raeder.

Mike Terry wandte sich dem Publikum zu. »Meine Damen und Herren, ich habe hier die Durchschrift eines ausführlichen psychologischen Testberichts, den eine unparteiische Institution auf unseren Wunsch über Jim Raeder erstellt hat. Gegen Einsendung von 25 Cents für Portokosten wird jedem Interessenten ein Exemplar übersandt. Der Test zeigt, daß Jim Raeder geistig gesund, völlig im Gleichgewicht und in jeder Hinsicht voll verantwortlich ist.« Er wandte sich Raeder zu.

»Wollen Sie immer noch mittun, Jim?«

»Ja.«

»Nun gut!« rief Mike Terry. »Jim Raeder, darf ich Ihnen Ihre Gegner vorstellen!«

Die Thompsonbande marschierte ins Studio, vom Publikum ausgepfiffen.

»Schauen Sie sich diese Männer an, liebe Zuschauer!« sagte Mike Terry mit unverhohlener Verachtung. »Schauen Sie sie sich nur an! Asozial, durch und durch verrottet, völlig amoralisch. Diese Männer kennen kein Gesetz als den abnormen Kodex des Verbrechers, keine Ehre, als die Ehre des feige angeworbenen Mörders. Sie sind dem Untergang geweiht, verurteilt von unserer Gesellschaft, die ihr Unwesen nicht lange dulden wird, einem frühen, schäbigen Tod vorherbestimmt.«

Das Publikum schrie begeistert auf.

»Was haben Sie zu sagen, Claude Thompson?« fragte Terry.

Claude, der Sprecher der Thompsons, trat ans Mikrophon, ein magerer, glattrasierter Mann im dunklen Anzug.

»Ich sage«, erklärte Claude Thompson mit heiserer Stimme, »ich sage, daß wir nicht schlechter sind als alle anderen. Ich meine, wie Soldaten im Krieg, sie töten doch auch. Und sehen Sie sich die Korruption in den Behörden und Gewerkschaften an. Jeder bereichert sich auf seine Weise.«

Das war Thompsons dürftige Lebensanschauung. Aber mit welcher Geschwindigkeit und Präzision zerstörte Mike Terry die Rechtfertigung des Gangsters! Terrys Fragen bohrten tief in die schmutzige Seele des Anführers.

Am Ende des Gesprächs stand Claude Thompson der Schweiß auf der Stirn. Er wischte sich das Gesicht mit einem seidenen Taschentuch und warf seinen Leuten hastige Blicke zu.

Mike Terry legte Raeder die Hand auf die Schulter. »Hier ist der Mann, der sich bereit erklärt hat, Ihr Opfer zu sein - wenn Sie ihn fangen können.«

»Wir erwischen ihn«, erwiderte Thompson zuversichtlich.

»Verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf«, meinte Terry. »Jim Raeder hat mit wilden Stieren gekämpft - jetzt steht er Schakalen gegenüber. Er ist ein Durchschnittsmensch. Er ist das Volk - das schließlich Ihr und Ihrer Leute Untergang sein wird.«

»Wir schnappen ihn«, sagte Thompson.

»Noch eins«, meinte Terry leise. »Jim Raeder steht nicht allein da. Die Menschen Amerikas sind für ihn. Gute Samariter aus allen Winkeln unserer großen Nation stehen bereit, ihn zu unterstützen. Der unbewaffnete, wehrlose Jim Raeder kann auf die Hilfe und Anständigkeit des Volkes zählen, dessen Repräsentant er ist. Geben Sie sich also nicht zu selbstbewußt, Claude Thompson! Der Mann von der Straße ist für Raeder - und er ist die Mehrheit!«

Raeder dachte darüber nach, regungslos im Unterholz liegend. Ja, die Leute hatten ihm geholfen. Aber auch den Banditen.

Ein Schauder überlief ihn. Er hatte entschieden, erinnerte er sich. Er allein trug die Verantwortung. Das hatte der psychologische Test bewiesen.

Trotzdem, welche Verantwortung trugen die Psychologen, von denen er getestet worden war? Welche Verantwortung traf Mike Terry, wenn er einem unbegüterten Mann soviel Geld bot? Die Gesellschaft hatte die Schlinge geflochten und sie um seinen Hals gelegt; er erhängte sich selbst damit, und das nannte man freier Wille<.

Wessen Fehler war es?

»Aha«, rief jemand.

Raeder sah nach oben und bemerkte einen dicken Mann in seiner Nähe. Er trug ein auffallendes Tweedjackett. Um seinen Hals hing ein Fernglas, in der Hand hielt er einen Spazierstock.

»Mister«, flüsterte Raeder, »bitte verraten Sie mich nicht!«

»Hierher!« rief der Dicke und deutete mit dem Spazierstock auf Raeder. »Da ist er!«

Ein Verrückter, dachte Raeder. Der verdammte Narr glaubt wohl, wir spielen hier Räuber und Gendarm.

»Gleich hier! Schnell!« schrie der Mann.

Fluchend sprang Raeder auf und rannte davon. Er ließ den Hohlweg hinter sich und sah in der Ferne ein weißes Gebäude. Er lief darauf zu. Hinter sich konnte er immer noch den Mann rufen hören.

»Hierher, diesen Weg. Schaut doch hin, könnt ihr ihn noch nicht sehen?«

Die Gangster schossen wieder. Raeder hastete weiter, stolperte auf dem unebenen Boden, raste vorbei an drei Kindern, die in einem Baumhaus spielten.

»Da ist er!« schrien die Kinder. »Da ist er!«

Raeder stöhnte auf und lief weiter. Er erreichte die Stufen des Gebäudes und sah, daß es eine Kirche war.

Als er die Tür aufstemmte, traf ihn eine Kugel in die rechte Kniekehle.

Er stürzte, kroch in die Kirche hinein.

Das Fernsehgerät in seiner Tasche tönte: »Was für ein Endspurt, meine Damen und Herren, was für ein Endspurt! Raeder ist getroffen! Er ist getroffen, liebe Zuschauer, er kriecht jetzt, er hat Schmerzen, aber er gibt nicht auf! Jim Raeder gibt nicht auf!«

Raeder lag im Mittelgang vor dem Altar. Er hörte die eifrige Stimme eines Kindes sagen:

»Er ist dort hineingegangen, Mr. Thompson. Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie ihn noch!«

Galt denn eine Kirche nicht als Freistatt? fragte sich Raeder.

Dann wurde die Tür aufgerissen, und Raeder mußte einsehen, daß man sich nicht mehr an solche Gewohnheiten hielt. Er riß sich zusammen und kroch am Altar vorbei durch die Hintertür der Kirche hinaus.

Er befand sich in einem alten Friedhof. Er kroch vorbei an Kreuzen und Sternen, vorbei an Grabsteinen aus Marmor und Granit, vorbei an Steingrabmälern und groben Holzbrettern. Eine Kugel streifte einen Grabstein, überschüttete ihn mit Steinsplittern. Er kroch vorsichtig zum Rand eines offenen Grabes.

Sie hatten ihn aufgenommen, dachte er. Alle diese netten, durchschnittlichen, normalen Leute. Hatten sie nicht gesagt, daß er ihr Vertreter war? Hatten sie nicht geschworen, ihr Eigen zu beschützen? Aber nein, sie haßten ihn. Warum hatte er das nicht erkannt? Ihr Held war der eiskalte Bursche mit dem Colt in der Hand, Thompson, al Capone, Billy the Kid, El Cid, der Mann ohne menschliche Regung. Ihn verehrten sie, diesen leblosen, roboterhaften Mörder.

Raeder versuchte, sich zu bewegen und rutschte hilflos in das offene Grab.

Er lag auf dem Rücken und starrte zum blauen Himmel empor. Dann ragte eine dunkle Silhouette über ihm auf, löschte den Himmel aus. Metall schimmerte. Langsam begann die Silhouette zu zielen.

Und Raeder ließ für immer alle Hoffnung fahren.

»Halt, Thompson!« schrie die durch Lautsprecher verstärkte Stimme Mike Terrys.

Der Revolver schwankte.

»Es ist eine Sekunde nach fünf! Die Woche ist um! Jim Raeder hat gewonnen!«

Das Studiopublikum machte sich in einem gellenden Aufschrei Luft.

Die um das Grab versammelten Gangster verzogen mürrisch die Gesichter.

»Er hat gewonnen, Freunde, er hat gewonnen!« schrie Mike Terry. »Schaut auf den Bildschirm, seht hin! Die Polizei ist angekommen, man entfernt die Thompsonbande von ihrem Opfer - dem Opfer, das sie nicht töten konnte. Und das verdankt es nur euch, Gute Samariter Amerikas. Sehen Sie, meine Damen und Herren, sanfte Hände heben Jim Raeder aus dem offenen Grab, das seine letzte Zuflucht war. Auch die Gute Samariterin Janice Morrow ist dabei. Ist das der Anfang einer Liebe? Jim scheint das Bewußtsein verloren zu haben, Freunde, man gibt ihm ein Aufputschungsmittel. Er hat zweihunderttausend Dollar gewonnen! Und nun hören wir ein paar Worte von Jim Raeder!«

Es blieb kurze Zeit still.

»Merkwürdig«, sagte Mike Terry. »Liebe Zuschauer, leider können wir im Augenblick nicht mit Jim sprechen. Die Ärzte untersuchen ihn. Haben Sie kurze Zeit Geduld.«

Es wurde still. Mike Terry wischte sich die Stirn und lächelte.

»Es ist die Belastung, verehrte Zuschauer, die furchtbare Belastung. Die Ärzte erklären mir. Nun, liebe Zuschauer, Jim Raeder hat vorübergehend seine geistige Gesundheit verloren. Aber nur vorübergehend! JBC wird die besten Psychiater und Psychoanalytiker des Landes beauftragen. Wir werden für diesen mutigen jungen Mann alles Menschenmögliche tun. Und selbstverständlich übernehmen wir sämtliche Kosten.«

Mike Terry warf einen Blick auf die Uhr im Studio. »Wir müssen jetzt Schluß machen, liebe Zuschauer. Verfolgen Sie die Ankündigung unserer nächsten großen Sensationsschau. Und keine Angst, ich bin davon überzeugt, daß Jim Raeder bald wieder unter uns sein wird.«

Mike Terry lächelte und blinzelte dem Publikum zu. »Er muß ja gesund werden, Freunde. Wir alle stehen ja auf seiner Seite.«

Загрузка...