DAS GETEILTE ICH

Alistair Crompton war das Musterbeispiel eines stereotypen Wesens, und das machte ihn krank. Leider konnte er nichts dagegen tun. Ob es ihm gefiel oder nicht, er hatte einen monolithischen Charakter, konventionelle Begierden und Ängste, die keinem seiner Mitmenschen verborgen blieben. Schlimmer noch, sein Körpertyp paßte mit peinlicher Genauigkeit zu seinem Charakter.

Crompton war mittelgroß, unangenehm mager, schmallippig und scharfnasig. Er zeigte Ansätze zu einer Glatze, trug Brillen mit dicken Gläsern, verfügte über leicht glasig wirkende Augen und einen schütteren Bartwuchs. Er sah aus wie ein Schreiber. Er war ein Schreiber.

Auf einen Blick erkannte ihn jedermann als kleinlich, pedantisch, vorsichtig, nervös, puritanisch, nachtragend, fleißig und voll von Komplexen. Charles Dickens, der große englische Dichter, hätte ihn mit gewaltiger Überschätzung seiner eigenen Wichtigkeit ausgestattet, ihn auf einen hohen Hocker gesetzt und mit kratzender Feder verstaubte Hauptbücher einer uralten Firma füllen lassen. Ein Arzt des 13. Jahrhunderts hätte ihn als Verkörperung eines der vier Temperamente gesehen, deren Wesen in den Urelementen Erde, Luft, Feuer und Wasser zu finden ist. Bei Crompton handelte es sich um das melancholische Temperament des Wassers, hervorgerufen durch zuviel trockene, schwarze Galle, die ihn mürrisch und grüblerisch machte.

Überdies war Crompton ein Triumph für Lombroso, den Phrenologen; und für Kretschmer, den Begründer der Konstitutionstypenlehre, war Crompton ein warnendes Beispiel, eine traurige Gestalt.

Das Schlimme war jedoch, daß Crompton seinen dürren, verformten Charakter nur allzu genau kannte, sich seiner Mittelmäßigkeit bewußt war, gerechten Zorn darüber empfand, aber nichts dagegen tun konnte, als die Ärzte hassen, die ihn, wenn auch in bester Absicht, zu dem gemacht hatten, was er war.

Neidisch bemerkte Crompton ringsumher Menschen mit all ihren wunderbaren Widersprüchlichkeiten, komplizierte Wesen, die sich immer aus der von der Gesellschaft aufgezwungenen Schablone befreiten. Er entdeckte leichte Mädchen, die nicht gutherzig waren, Feldwebel, denen Brutalität widerstrebte, reiche Männer, die kein Geld für wohltätige Zwecke spendeten, Iren, die nur ungern rauften, Griechen, die noch nie ein Schiff gesehen hatten, Franzosen, denen der Sinn für Logik abging. Die meisten Menschen schienen ein erfülltes, aufregendes Leben zu führen, wurden heute von unbezähmbaren Leidenschaften überwältigt, fielen morgen in seltsame Untätigkeit, sagten das eine, taten das andere, empörten sich gegen ihre Umwelt, sprengten ihre Fesseln, stürzten Psychologen und Soziologen in Verwirrung, brachten Psychoanalytiker zur Verzweiflung.

Aber diese Herrlichkeiten blieben Crompton versagt. Um eines gesunden Verstandes willen hatten ihm die Ärzte alles genommen, was an ihm vielschichtig, kompliziert war.

Crompton traf mit der fluchenswürdigen Regelmäßigkeit eines Roboters jeden Arbeitstag Punkt neun Uhr an seinem Schreibtisch ein. Um fünf Uhr nachmittags legte er die Akten säuberlich beiseite und kehrte in sein möbliertes Zimmer zurück. Dort verzehrte er appetitlos seine Reformnahrung, legte drei Patiencen, löste ein Kreuzworträtsel und verfügte sich anschließend in sein schmales Bett. Jeden Samstagabend seines Lebens sah sich Crompton einen Film an, belästigt von fröhlichen, zu allem Unfug fähigen jungen Leuten. Die Sonntage und der Urlaub wurden dem Studium der Geometrie Euklids gewidmet, denn Crompton glaubte an den Selbstunterricht. Und einmal im Monat schlich Crompton zu einem Zeitungskiosk und erstand ein Magazin unanständigen Inhalts. In der Zurückgezogenheit seines Zimmers verschlang er ihn, um dann in einer Orgie von Selbsthaß das abscheuliche Produkt zu zerfetzen.

Crompton wußte natürlich, daß man ihn in seinem eigenen Interesse zu einem Stereotyp gemacht hatte. Er versuchte, mit dieser Tatsache zu leben. Einige Zeit suchte er die Gesellschaft anderer farbloser, zentimeterdünner Charaktere. Aber diese Gestalten waren selbstzufrieden, spießig, eingebildet. Sie hatten ihre Eigenschaften schon bei der Geburt mitbekommen, im Gegensatz zu Crompton, der im Alter von elf Jahren von den Ärzten verändert worden war. Bald entdeckte er, daß sich seinesgleichen nicht ertragen ließ, ebensowenig wie andere ihn zu ertragen vermochten.

Er bemühte sich angestrengt, die engen Schranken seines Charakters zu überwinden. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, zum Mars oder zur Venus auszuwandern, aber irgendwie wurde nichts daraus. Er wandte sich an das New Yorker Herzensbüro, und man arrangierte für ihn ein Stelldichein. Crompton machte sich mit einer Nelke im Knopfloch auf den Weg zu seiner unbekannten Angebeteten; sie erwartete ihn vor dem Jupitertheater. Zweihundert Meter vor dem Ziel überkam ihn das große Zittern und zwang ihn, sich auf sein Zimmer zurückzuziehen. In jener Nacht löste er sechs Kreuzworträtsel und legte neun Patiencen, um seine Nerven zu beruhigen, aber selbst diese Veränderung war nicht von langer Dauer.

Was er auch unternahm, Crompton mußte wohl oder übel im überaus engen Rahmen seines Charakters handeln. Sein Zorn auf sich selbst und die wohlmeinenden Ärzte wuchs und mit ihm der Drang, über sich hinauszugelangen.

Es gab nur einen Weg für ihn, die erstaunliche Vielfalt von Möglichkeiten, die Widersprüche, die Leidenschaften, das Menschsein anderer Leute zu erringen. Crompton hielt sich also weiter an seine Arbeit und wartete. Endlich vollendete er das fünfunddreißigste Lebensjahr. Dies war das Mindestalter für eine Reintegrierung der Persönlichkeit, streng nach Gesetz und Vorschrift.

Am Tag nach seinem 35. Geburtstag kündigte Crompton seine Stellung, hob die in siebzehn Jahren sorgfältig aufgehäuften Ersparnisse ab und suchte seinen Arzt auf, entschlossen, sich zurückzuholen, was man ihm genommen hatte.

Dr. Berrenger führte Crompton in sein Sprechzimmer, stellte ihm einen bequemen Sessel zur Verfügung und sagte: »Na, mein Sohn, wir haben uns lange nicht gesehen. Wie geht es Ihnen?«

»Miserabel«, erwiderte Crompton.

»Was macht Ihnen denn zu schaffen?«

»Mein Charakter«, sagte Crompton.

»Aha«, rief der alte Arzt und starrte Cromptons Schreibergesicht scharf an. »Kommt Ihnen ein bißchen eng vor, wie?«

»>Eng< ist wohl nicht das richtige Wort«, entgegnete Crompton steif. »Ich bin eine Maschine, ein Roboter, ein Nichts -«

»Sachte, sachte!« sagte Dr. Berrenger. »So schlimm wird es doch wohl nicht sein. Die Anpassung braucht Zeit -«

»Ich hänge mir zum Hals heraus«, beschwerte sich Crompton. »Ich verlange Reintegrierung.«

Der Arzt sah ihn zweifelnd an.

»Und ich habe meinen fünfunddreißigsten Geburtstag hinter mir«, erklärte Crompton. »Ich kann meinen Anspruch auf Reintegrierung gesetzlich geltend machen.«

»Das stimmt«, gab Dr. Berrenger zu. »Aber als Ihr Arzt und Freund möchte ich Ihnen nachdrücklichst abraten, Alistair.«

»Warum?«

Der alte Arzt seufzte. »Es wäre gefährlich für Sie, ungeheuer gefährlich. Vielleicht sogar verhängnisvoll.«

»Aber ich hätte doch eine Chance, nicht wahr?«

»Sie ist verschwindend klein.«

»Dann bestehe ich auf Reintegrierung.«

Der Arzt seufzte noch einmal, ging zu einem Schrank und entnahm ihm eine dicke Akte. »Also gut«, sagte er, »sprechen wir Ihren Fall noch einmal durch.«

Alistair Crompton, Sohn der Eheleute Lyle und Beth Crompton aus Amundsenville, Marie Byrd-Land, Antarktis. Der Vater war Werkmeister im Plutoniumbergwerk Scott, die Mutter halbtags am Fließband der kleinen Transistorfabrik beschäftigt. Beide waren körperlich und geistig gesund.

Während der ersten neun Lebensjahre wirkte Alistair in jeder Beziehung normal, wenn man von einer gewissen Launenhaftigkeit absah; Kinder sind jedoch recht oft launisch. Im übrigen war Alistair wißbegierig, unternehmungslustig, liebevoll und fröhlich, und überdurchschnittlich intelligent. In seinem zehnten Lebensjahr nahm die Launenhaftigkeit merkbar zu. An manchen Tagen saß das Kind stundenlang auf seinem Stuhl und starrte ins Leere. Gelegentlich reagierte es nicht einmal auf einen Anruf.

Man erkannte diese >Anfälle< nicht als Symptome, sondern sah sie als Tagträume eines phantasiebegabten Kindes.

Alistairs Abwesenheitsanfälle nahmen an Zahl und Stärke zu. Man begann Wutausbrüche bei ihm zu erleben, die der Hausarzt mit Beruhigungspillen zu bekämpfen suchte. Eines Tages, als Alistair zehn Jahre und sieben Monate alt war, schlug er ohne ersichtlichen Grund auf ein kleines Mädchen ein. Als es zu schreien begann, versuchte er es zu erdrosseln. Da dieses Vorhaben seine Kräfte überstieg, packte er ein schweres Buch und begann, dem Kind den Schädel einzuschlagen. Ein Erwachsener konnte den um sich schlagenden, schreienden Alistair gerade noch wegzerren. Das Mädchen erlitt eine Gehirnprellung und mußte ein Dreivierteljahr im Krankenhaus liegen.

Als man Alistair zur Rede stellte, erklärte er, es nicht getan zu haben. Jemand anders müsse dafür verantwortlich sein. Er würde niemals jemandem wehtun, schwor er, schon gar nicht dem kleinen Mädchen, das er sehr gern habe. Mit weiteren strengen Fragen erreichte man nur, daß er in eine Erstarrung verfiel, die fünf Tage dauerte.

Selbst zu diesem Zeitpunkt wäre Alistair zu retten gewesen, wenn jemand die Frühsymptome der Virusschizoprirenie erkannt hätte. Sofortige Behandlung konnte auch bei Kindern der Krankheit Einhalt gebieten.

In den gemäßigten Zonen war die Virusschizophrenie seit Jahrhunderten immer wieder aufgetreten; von Zeit zu Zeit breitete sie sich sogar als Epidemie aus, wie in den Veitstänzen des Mittelalters sichtbar wird. Die Medizin hatte noch keinen Impfstoff gegen diesen Virus entwickelt. Die allgemein anerkannte Therapie bestand daher in sofortiger Massivspaltung, solange die schizoiden Charaktere noch formbar waren; die dominierende Persönlichkeit mußte erkannt und bewahrt bleiben, während man die anderen Persönlichkeiten mit Hilfe eines Mikkletonprojektors in die passive Substanz eines Durierkörpers integrierte.

Die Durierkörper waren gewachsene Zuditandroiden mit einer geschätzten Betriebszeit von etwa vierzig Jahren. Sie waren selbstverständlich auf die Dauer nicht lebensfähig. Der Gesetzgeber gestattete jedoch Persönlichkeits-Reintegrierung im Alter von fünfunddreißig Jahren. Die in den Durierkörpern entwickelten Charaktere konnten nach Belieben der dominierenden Persönlichkeit in den Originalkörper und -verstand zurückgeholt werden, wobei für tatsächliche Reintegrierung und völlige Verschmelzung ausgezeichnete Prognosen gestellt werden konnten...

Wenn die Spaltung rechtzeitig durchgeführt worden war!

Der praktische Arzt im kleinen, abgelegenen Amundsenville war wirklich sehr gut für die Behandlung von Frostbeulen, Schneeblindheit, Krebs, Regressionsmelancholie und andere einfache Erkrankungen des antarktischen Kontinents. Von den in gemäßigteren Zonen grassierenden Seuchen verstand er nichts.

Alistair wurde im örtlichen Krankenhaus zwei Wochen lang beobachtet. Während der ersten Woche war er verstimmt, scheu und verlegen; ab und zu brach etwas von seiner früheren Fröhlichkeit durch. In der zweiten Woche begann er große Zuneigung für seine Krankenschwester zu zeigen. Unter dem Einfluß ihrer liebevollen, beruhigenden Art schien Alistair wieder ein normaler Junge zu werden.

Am dreizehnten Tag seines Krankenhausaufenthaltes zerschnitt Alistair das Gesicht der Schwester mit einer zertrümmerten Wasserkaraffe und unternahm dann einen verzweifelten Versuch, sich die eigene Kehle durchzuschneiden. Man brachte ihn ins Kreiskrankenhaus, wo er in eine Katalepsie verfiel, die man für die Nachwirkung des Schocks hielt. Man verschrieb Ruhe und absolute Stille, unter den gegebenen Umständen das Verkehrteste, was man tun konnte.

Nach zwei Wochen nahezu vollkommener Erstarrung hatte die Krankheit ihren Höhepunkt erreicht. Alistairs Eltern schickten das Kind in die berühmte Rivera-Klinik nach New York. Dort wurde der Fall sofort zutreffend als Virusschizophrenie in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert.

Alistair, inzwischen elf Jahre alt, hatte kaum Realitätskontakt mit der Welt, nicht genug jedenfalls, um den Ärzten ein Fundament zu liefern, mit dem sich etwas anfangen ließ. Er befand sich in einem nahezu ohne Unterbrechung andauernden Zustand der Katatonie; seine schizoiden Persönlichkeitsfragmente hatten sich gegeneinander abgeschlossen; sein Leben lief in einem seltsamen, unerreichbaren Zwielicht ab, wohin ihn nur seine Alpträume begleiteten. Eine Massivspaltung bot in einem solchen Fall kaum Aussicht auf Erfolg. Aber ohne Spaltung war Alistair dazu verurteilt, den Rest seines Lebens in einer Heilanstalt zu verbringen, nie ganz seiner Umwelt bewußt, niemals fähig, den bizarren Verliesen seines kranken Gehirns zu entrinnen.

Seine Eltern wählten, was sich als das kleinere Übel darstellte, und unterschrieben Dokumente, die den Ärzten erlaubten, einen verspäteten, verzweifelten Spaltungsversuch zu unternehmen.

Alistair wurde im Alter von elf Jahren und einem Monat operiert. In tiefer Synthohypnose rief man drei getrennte Persönlichkeiten in ihm wach. Die Ärzte sprachen mit ihnen und trafen ihre Wahl. Zwei Persönlichkeiten wurden in Durierkörper projiziert. Die dritte Persönlichkeit, als hinreichendste der drei beurteilt, verblieb im Originalkörper. Alle drei Personen überstanden das Trauma; man konnte die Operation als teilweise erfolgreich bezeichnen.

Der leitende Neuro-Hypnotiseur, Dr. Vlacjeck, stellte in seinem Gutachten fest, daß die drei Persönlichkeiten nicht auf erfolgreiche Reintegrierung hoffen durften, sobald das gesetzliche Mindestalter von fünfunddreißig Jahren eine solche Maßnahme erlaubte. Die Operation war zu spät ausgeführt worden, und die drei Charaktere hatten die lebenswichtige Gemeinsamkeit von Eigenschaften und Sympathien verloren. Das Gutachten empfahl den Persönlichkeiten, auf ihr Reintegrationsrecht zu verzichten und, jede für sich, ihre Leben so vernünftig wie möglich zu gestalten.

Die beiden Duriers erhielten andere Namen und wurden zu Pflegeeltern auf den Mars beziehungsweise auf die Venus gebracht. Die Ärzte gaben ihnen die besten Wünsche mit, erwarteten sich aber wenig.

Alistair Crompton, die dominierende Persönlichkeit im Originalkörper, erholte sich von der Operation, aber zwei Drittel seines Selbst waren verschwunden, fortgenommen mit den schizoiden Charakteren. Man hatte ihm gewisse menschliche Attribute, Gefühle, Fähigkeiten entrissen, für die es einen Ersatz nicht gab.

Crompton wuchs auf, nur mit den ihm eigentümlichen Zügen ausgestattet, mit Pflichtgefühl, Sauberkeit, Ausdauer und Behutsamkeit. Die unvermeidliche Überbetonung dieser Eigenschaften machte ihn zu einem Stereotyp, zu einer einseitigen Person, die sehr wohl spürte, was ihr mangelte und leidenschaftlich Erfüllung, Verschmelzung, Reintegrierung wünschte.

»So steht die Sache, Alistair«, meinte Dr. Berrenger und klappte den Aktendeckel zu. »Dr. Vlacjeck spricht sich entschieden gegen eine Verschmelzung aus. Ich muß ihm recht geben, so leid es mir tut.«

»Ich habe aber nur eine Chance«, wandte Crompton ein.

»Das ist eigentlich gar keine Chance«, klärte ihn Dr. Berrenger auf. »Sie können die anderen Persönlichkeiten wieder aufnehmen, aber Sie besitzen nicht die Stabilität, sie zu beherrschen und schließlich miteinander zu verschmelzen. Alistair, wir haben Sie von der Virusschizophrenie geheilt, aber die Anlage dazu läßt sich nicht beseitigen. Wenn Sie die Reintegrierung versuchen, stürzen Sie sich geradewegs in die funktionelle Schizophrenie, und dann kann Sie niemand mehr retten!«

»Andere hatten auch Erfolg«, sagte Crompton eigensinnig.

»Gewiß. Viele andere. Aber bei ihnen ist die Operation ausnahmslos zur rechten Zeit gemacht worden, nämlich bevor sich die schizoiden Fragmente abgekapselt hatten.«

»Ich muß das Risiko eben eingehen«, erklärte Crompton. »Ich bitte um die Namen und Anschriften meiner Duriers.«

»Haben Sie denn nicht zugehört? Jeder Verschmelzungsversuch wird Sie den Verstand kosten oder Schlimmeres. Als Ihr Arzt kann ich nicht -«

»Geben Sie mir die Adressen«, forderte Crompton kalt. »Ich kann mich auf einen gesetzlich verbürgten Anspruch berufen. Ich bin der Meinung, daß ich Stabilität genug besitze, die anderen Persönlichkeitsfragmente zu beherrschen. Sobald sie völlig unterworfen sind, steht einer restlosen Verschmelzung nichts im Wege. Wir müssen zu einer Einheit werden. Und dann bin ich endlich ein richtiger Mensch.«

»Sie wissen ja gar nicht, wie diese anderen Cromptons sind«, wandte der Arzt ein. »Sie halten sich für unzulänglich? Lieber Alistair, Sie sind das Ausleseprodukt!«

»Es ist mir gleichgültig, wie sie sind«, erwiderte Crompton. »Sie sind ein Teil von mir. Die Namen und Adressen, bitte.«

Der Arzt schüttelte müde den Kopf, notierte die Angaben auf einen Zettel und händigte ihn Crompton aus.

»Alistair, mit einem Erfolg ist doch praktisch nicht zu rechnen. Bitte überlegen Sie sich -«

»Danke, Dr. Berrenger«, sagte Crompton, verbeugte sich knapp und ging.

Er hatte die Praxis kaum verlassen, als seine Selbstbeherrschung zu schwinden begann. Dr. Berrenger hatte er seine Unsicherheit nicht zu zeigen gewagt; dem alten Mann wäre es sonst sicher gelungen, ihm die geplante Reintegrierung auszureden. Aber jetzt, da er die Namen in der Tasche hatte und alle Verantwortung allein tragen mußte, schlug die Brandung aus Angst über ihm zusammen. Er begann am ganzen Körper zu zittern. Mit einem Taxi fuhr er zu seinem möblierten Zimmer zurück, wo er sich aufs Bett warf.

Er lag eine volle Stunde da, von Angstkrämpfen geschüttelt, und klammerte sich wie ein Ertrinkender an das Kopfbrett. Dann beruhigte er sich langsam. Er bekam seine Hände wieder soweit in die Gewalt, daß er einen Blick auf den Zettel Dr. Berrengers werfen konnte.

Der erste Name lautete, Edgar Loomis, Elderberg, Mars. Darunter stand: Dan Stack, East Marsh, Venus. Das war alles.

Wie sahen diese Teilverkörperungen seiner gespaltenen Persönlichkeit aus? Welches Temperament, welche stereotypen Formen hatten sie angenommen?

Der Zettel gab keine Auskunft. Er mußte sich auf den Weg machen und es selbst herausfinden.

Er legte eine Patience und überdachte die Risiken. Sein jugendliches, schizoides, desintegriertes Gehirn hatte eine deutliche Tendenz zum Mord im Wahnsinn erkennen lassen. Würde eine Verschmelzung daran etwas ändern, vorausgesetzt, daß sie überhaupt möglich war? Hatte er das Recht, ein Wesen, das sich als Ungeheuer entpuppen konnte, auf die Menschheit loszulassen? Durfte er einen Schritt tun, der zum Irrsinn, ja zum Tod führen mochte?

Crompton dachte bis spät in die Nacht hinein darüber nach.

Schließlich siegte die ihm angeborene Vorsicht. Er faltete den Zettel sorgfältig zusammen und legte ihn in eine Schublade. So sehr er die Reintegrierung, so sehr er die Einheit auch begehrte, die Gefahren waren einfach zu groß. Sein jetziges Dasein schien dem Wahnsinn vorziehbar.

Am nächsten Tag verließ er das Zimmer und fand eine Stelle als Angestellter bei einer uralten, respektablen Firma.

Sofort umschlossen ihn seine Gewohnheiten wie ein Gefängnis. Wieder traf er mit der unausweichlichen Sicherheit eines Roboters Punkt neun Uhr morgens an seinem Schreibtisch ein, entfernte sich um fünf Uhr nachmittags, kehrte in sein möbliertes Zimmer zur appetitmordenden Reformnahrung zurück, legte drei Patiencen, löste ein Kreuzworträtsel und verfügte sich zur Nachtruhe in sein schmales Bett. Wieder besuchte er samstags abends das Kino, studierte er sonntags Geometrie, und einmal im Monat kaufte, las und vernichtete er ein Magazin zweifelhaften Inhalts.

Sein Ekel vor sich selbst wurde immer stärker. Er begann, Briefmarken zu sammeln, gab es wieder auf, trat einem Freundschaftsklub bei, lief bei der ersten Tanzveranstaltung davon, versuchte, das Schachspiel zu erlernen, hielt nicht durch. Auf diese Art ließen sich seine Schranken nicht überspringen.

Überall um sich herum konnte er die Widersprüchlichkeiten der Menschheit in ihrer ganzen Fülle und Vielfalt beobachten. Das Festmahl des Lebens lag vor ihm ausgebreitet, und er durfte sich nicht daran laben. Die Vorstellung begann ihn zu verfolgen, daß er weitere zwanzig Jahre mit eintöniger, sinnloser Arbeit verbringen würde; dreißig, vierzig Jahre, ohne Hilfe, ohne Hoffnung, erlöst nur vom Tod.

Er gab daher seine Stellung auf und hob wieder seine gesamten Ersparnisse ab. Diesmal erstand er eine Flugkarte zweiter Klasse zum Mars, wo er Edgar Loomis in Elderberg aufzusuchen gedachte.

Ausgerüstet mit einem dicken Band Kreuzworträtsel begab sich Crompton zur festgesetzten Zeit zum Raumflughafen Ildewild, ertrug die mehrfache g-Belastung des Aufstiegs zur Raumstation Drei, stieg n den Lockheed-Lackawanna-Pendler nach Exchange Point um, erwischte die Rakete zur Marsstation Eins, durchlief Zoll-, Einwanderungs- und Gesundheitsbehörden und ließ sich mit der Fährkapsel nach Port Newton hinunterbringen. Dort unterzog er sich der dreitägigen Akklimatisierung, erlernte den Gebrauch der Hilfsmagenlunge, ließ sich mit stoischer Ruhe erneut impfen und nahm endlich ein für den ganzen Mars gültiges Reisevisum in Empfang. Dann bestieg er einen Rapido nach Elderberg, das in der Nähe des martianischen Südpols lag.

Der Rapido bewegte sich über die flachen, eintönigen Marsebenen, vorbei an kärglichem, grauen Gebüsch, das in der dünnen kalten Luft um sein Dasein rang, durch sumpfige Gebiete mattgrüner Tundra. Crompton widmete sich seinen Kreuzworträtseln. Als der Schaffner verkündete, daß man den Grand Canal überquere, hob er interessiert den Kopf. Man sah jedoch nichts als ein flaches, ausgetrocknetes Flußbett. Die Vegetation am schlammigen Grund war von dunkelgrüner, beinahe schwärzlicher Färbung. Crompton beugte sich wieder über sein Rätsel.

Sie querten die Orangewüste und hielten an kleinen Stationen, wo bärtige Ansiedler mit breitkrempigen Hüten in Jeeps auf ihre Vitaminkonzentrate und die Mikrofilmausgabe der Sunday Times warteten. Endlich erreichten sie die Außenbezirke Elderbergs.

Die Stadt diente als Zentrale für die gesamten südpolaren Bergbau- und Landwirtschaftsunternehmungen. Sie war gleichzeitig Kurort für Begüterte, die sich in den Verjüngungsbädern tummelten und überhaupt den Neuheitsreiz einer Fahrt dorthin auskosteten. Die Umgebung war bei einer durch Vulkantätigkeit hervorgerufenen Lufttemperatur von zwanzig Grad Celsius die wärmste Gegend auf dem Mars. Die Bewohner nannten sie gewöhnlich >die Tropen<.

Crompton mietete sich in einem kleinen Motel ein und mischte sich dann unter die auf Elderbergs altmodisch-unbeweglichen Gehsteigen flanierenden Männer und Frauen. Er warf vorsichtige Blicke in die Spielhöllen, staunte vor den Geschäften, die >echte Artifakte der verschwundenen Marsmenschen< feilhielten, starrte durch die Fenster in die Bars und glitzernden Restaurants. Als ihn eine auffällig geschminkte junge Frau ansprach und in Mama Teeles Haus einlud, wo die geringe Schwerkraft besondere Vergnügungen verspreche, fuhr er entsetzt zusammen. Er wies sie und ein Dutzend ihrer Kolleginnen ab und setzte sich in einem kleinen Park auf eine Bank, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

Ringsum breitete sich Elderberg aus, prunkend mit seinen Lastern, eine geschminkte Dirne, der Crompton mit verächtlichem Kräuseln seiner Lippen seine Abscheu bekundete. Und doch drängte hinter dem verächtlich geschürzten Mund, hinter den abgewandten Augen und den angewidert geblähten Nasenflügeln etwas in ihm zur Menschlichkeit des Lasters als Alternative zu seinem trüben und sterilen Dasein.

Aber zu seiner Betrübnis vermochte ihn Elderberg ebensowenig zu verderben wie zuvor New York. Vielleicht lieferte Edgar Loomis die mangelnde Zutat.

Crompton begann seine Suche in den Hotels. Er klapperte sie in alphabetischer Reihenfolge ab. Die Portiers der ersten drei Herbergen erklärten ihm, sie hätten keine Ahnung, wo Loomis sich aufhalte: sollte er auftauchen, so sei noch die Frage einer unbezahlten Rechnung zu bereinigen. Im vierten Hotel hieß es, Loomis habe sich vielleicht an dem großen Goldsuchertreck nach Saddle Mountain beteiligt. Beim fünften Hotel, einem Neubau, hatte man von Loomis nie etwas gehört. Im sechsten lachte eine auffällig gekleidete Frau hysterisch auf, als der Name >Loomis< genannt wurde; sie weigerte sich allerdings, Informationen beizusteuern.

Im siebenten Hotel teilte der Empfangschef mit, Edgar Loomis bewohnte Suite 314. Im Augenblick sei er zwar nicht anwesend, man könne ihn aber vermutlich im Red Planet Saloon finden.

Crompton ließ sich den Weg beschreiben, dann drang er klopfenden Herzens in die Altstadt Elderbergs vor.

Hier waren die Hotelfassaden schmutzig und verwittert, die Anstriche fleckig, die Kunststoffe von den jahreszeitlich bedingten Sandstürmen zerfressen. Hier fand man einen Spielsalon neben dem anderen, und aus den Tanzsälen drang mittags wie mitternachts der gellende Lärm der Kapellen auf die Straße.

Hier stauten sich die Touristen mit ihren Kameras und Tonbandgeräten, auf der Suche nach Lokalkolorit, nach jener glamourösen Verderbtheit, die übereifrige Manager dazu gebracht hatte, Elderberg als Ninive der Drei Planeten zu bezeichnen.

Und hier gab es die Safariläden, in denen Reisegesellschaften für den Abstieg in die berühmten Xanadu-Höhlen oder die lange Wüstenfahrt zum Devils Twist ausgerüstet wurden. Hier fand man auch den berüchtigten >Laden der Träume<, der Rauschgifte jeglicher Art feilbot, trotz der Bemühungen amtlicher Stellen, solche Geschäfte zu unterbinden. Hier schließlich verkauften die Straßenhändler Steinplastiken, die angeblich von ausgestorbenen Marsbewohnern stammten, und alles sonst, was das Herz begehrte.

Crompton fand den Red Planet Saloon, ging hinein und wartete, bis er durch die dichten Schwaden von Tabakrauch etwas erkennen konnte. Er beobachtete die Touristen, die in farbenfrohen Hemden die Bar umlagerten, starrte die unaufhörlich plappernden Fremdenführer und die verschlossenen Bergleute an. Er ließ seinen Blick über die Spieltische mit den kichernden Frauen und ihren männlichen Begleitern schweifen; die meisten verfügten über die begehrte, sanft orangegetönte Bräunung, zu der man, wie es hieß, mindestens einen Monat benötigte.

Dann entdeckte er Loomis. Jeder Zweifel war von Anfang an ausgeschlossen.

Loomis stand am Baccara-Tisch. Er war in Begleitung einer vollbusigen Blondine, die auf den ersten Blick wie Dreißig, auf den zweiten wie Vierzig und nach eingehender Betrachtung wie Fünfundvierzig wirkte. Sie hatte sich völlig auf das Spiel konzentriert; Loomis beobachtete sie mit amüsiertem Lächeln.

Er war groß und schlank. Seine Art, sich zu kleiden, ließ sich am präzisesten mit dem Wort >stutzerhaft< umschreiben. Sein brünettes Haar war glatt zurückgekämmt. Eine nicht allzu anspruchsvolle Frau hätte ihn vielleicht als >gutaussehend< bezeichnet.

Er glich Crompton in keiner Weise, aber es gab eine gegenseitige Anziehung, einen Gleichklang, der allen Teilen eines gespaltenen Wesens zu eigen war. Verstand drängte zu Verstand, die Fragmente riefen nach dem Ganzen, eine beinahe telepathische Kraft teilte sich mit. Loomis, der das spürte, hob den Kopf und starrte Crompton voll ins Gesicht.

Crompton ging auf ihn zu. Loomis flüsterte der Blondine etwas zu, verließ den Spieltisch und traf mit Crompton in der Mitte des Saales zusammen.

»Wer sind Sie?« fragte Loomis.

»Alistair Crompton. Ich habe den Originalkörper und - ist Ihnen klar, wovon ich spreche?« »Ja, natürlich«, erwiderte Loomis. »Ich dachte mir schon, daß Sie einmal aufkreuzen würden. Hm.« Er betrachtete Crompton vom Scheitel bis zur Sohle und schien vom Resultat seiner Prüfung nicht sehr erbaut zu sein.

»Na schön«, meinte er, »gehen wir in mein Appartement und sprechen wir uns aus. Man muß solche Dinge immer sofort erledigen.«

Er sah Crompton wieder mit unverhohlenem Widerwillen an und führte ihn zum Ausgang.

Loomis' Wohnung erwies sich als Offenbarung. Crompton wäre beinahe gestolpert, als er bis zu den Knöcheln in einem Orientteppich versank. Das Licht im Zimmer war gedämpft und von goldenem Schimmer, an den Wänden zuckten und waberten seltsame Schatten, nahmen menschliche Gestalt an, verschmolzen miteinander, verwandelten sich zu Tieren, wuchsen ins Alptraumhafte und verschwanden in der Mosaikdecke. Crompton hatte wohl von Schattengesängen gehört, sah sie aber hier zum erstenmal.

»Ein apartes kleines Stück mit dem Titel >Abstieg zum Karthe-rum<«, erklärte Loomis, »wie gefällt es dir?«

»Sehr - eindrucksvoll«, erwiderte Crompton. »Muß wohl furchtbar teuer gewesen sein.«

»Allerdings«, winkte Loomis lässig ab. »Ein Geschenk. Willst du dich nicht setzen?«

Crompton ließ sich in einem tiefen Sessel nieder, der sich sofort seinen Konturen anpaßte und sanft seinen Rücken zu massieren begann.

»Etwas zu trinken?« erkundigte sich Loomis.

Crompton nickte stumm. Erst jetzt fiel ihm das Parfüm auf, eine komplizierte und schwer bestimmbare Mischung aus würzigen und süßlichen Gerüchen.

»Dieser Geruch -«

»Man muß sich erst daran gewöhnen«, gab Loomis zu. »Das ist eine Duftsonate, die als Begleitung zum Schattengesang komponiert wurde. Aber ich kann sie abschalten.«

Er tat es und stellte etwas anderes ein. Crompton hörte eine Melodie, deren Töne in seinem eigenen Kopf zu entstehen schienen.

»Es heißt >Deja Vu<«, sagte Loomis. »Direkte Aurikularübertra-gung. Hübsch, nicht wahr?«

Crompton wußte, daß Loomis ihn beeindrucken wollte. Und er war ja auch beeindruckt. Während Loomis zwei Gläser füllte, sah sich Crompton im Zimmer um, betrachtete die Skulpturen, Vorhänge, Möbel und technischen Einrichtungen; sein Angestelltengehirn überschlug die Kosten, addierte Transportkosten und Steuern, errechnete das Resultat.

Mit Bestürzung erkannte er, daß Loomis allein in diesem Zimmer hier Werte besaß, die Crompton in dreieinhalb Lebzeiten als Schreiber nicht erringen würde.

Loomis reichte Crompton ein Glas. »Das ist Met«, erklärte er. »Sehr beliebt in dieser Saison. Sag mir, was du davon hältst.«

Crompton nippte vom Honigwein. »Wunderbar«, erwiderte er. »Kostet sicher einiges.«

»Gewiß. Aber das Beste ist schließlich gerade gut genug, findest du nicht?«

Crompton schwieg. Er starrte Loomis scharf an und erkannte die Anzeichen eines verfallenden Durierkörpers. Sorgfältig prüfte er das klare, gutgezeichnete Gesicht, die Marsbräune, das glatte braune Haar, die lässige Eleganz der Kleidung, die Krähenfüße in den Augenwinkeln, die eingesunkenen Wangen mit den Spuren kosmetischer Mittel. Er beobachtete Loomis' selbstgefälliges Lächeln, den hochmütigen Zug um die Lippen, die nervös über ein Stück Brokat streichenden Finger.

Hier zeigte sich der Stereotyp des sinnlichen Menschen, ein Mann, der nur dem Vergnügen, nur dem Müßiggang verhaftet war. Crompton erkannte, daß ihm die Verkörperung des sanguinischen Temperaments des Feuers gegenübersaß, verursacht durch ein Übermaß an heißem Blut, das einen Menschen dazu trieb, seine Befriedigung ausschließlich in fleischlichen Genüssen zu suchen. Loomis war, gleich Crompton selbst, ein monolithischer, zentimeterdünner Charakter mit völlig eindeutigen Begierden und allzu offensichtlichen Ängsten.

In Loomis hatten sich alle Genußmöglichkeiten Cromptons wie in einem Brennglas vereinigt, losgelöst und als eigene Persönlichkeit aufgebaut. Loomis, das Prinzip des reinen Genusses, für Cromptons Seele-Leib-Ganzheit von lebenswichtiger Bedeutung.

»Wovon lebst du?« fragte Crompton rundheraus.

»Ich leiste Dienste, für die man mich bezahlt«, erwiderte Loomis lächelnd.

»Mit anderen Worten, du bist ein Schmarotzer«, sagte Crompton. »Du lebst von den reichen Leuten, die sich hier in Elderberg tummeln.«

»Es war mir natürlich klar, daß du es so sehen würdest, mein arbeitsamer, puritanischer Bruder«, meinte Loomis, während er sich eine elfenbeinfarbige Zigarette anzündete. »Aber ich stehe auf einem ganz anderen Standpunkt. Denk einmal nach. Heutzutage ist alles auf die Armen ausgerichtet, als sei die Armut eine besondere Tugend. Die Reichen haben schließlich auch ihre Bedürfnisse! Sie gleichen zweifellos nicht den Bedürfnissen der Armen, sind aber um nichts weniger drängend. Die Armen brauchen Nahrung, ein Heim, ärztliche Behandlung. In bewundernswerter Weise verschafft ihnen das der Staat. Aber wie steht es mit den Bedürfnissen der Reichen? Die Leute lachen über die Vorstellung, daß ein reicher Mann Probleme haben könnte, schließt denn aber der größere Kredit Probleme aus? Keineswegs! Ganz im Gegenteil, der Reichtum steigert die Bedürfnisse und bringt manchen Menschen in eine schwierigere Lage, als sie je seinem armen Bruder zuteil werden kann.«

»Warum verzichtet er denn dann nicht auf seinen Besitz?« wandte Crompton ein.

»Warum gibt ein Armer seine Armut nicht auf?« fragte Loomis dagegen. »Nein, das gibt es nicht, wir müssen akzeptieren, was uns das Leben aufgebürdet hat. Die Last der Reichen ist schwer; sie müssen sie trotzdem tragen und Hilfe suchen, wo sie eben können.

Die Reichen brauchen Mitgefühl, und das gebe ich ihnen. Die Reichen brauchen Leute um sich, die Luxus genießen und ihnen beibringen können, ihn auch zu genießen. Wenige Menschen genießen und würdigen den Luxus der Reichen in demselben Maße, wie ich es kann. Und ihre Frauen, Crompton! Sie haben auch ihre Bedürfnisse - wichtige, drängende Bedürfnisse, für die ihre Männer, aus ihrer inneren Spannung heraus, unter der sie leben müssen, nicht immer einen Ausgleich zu schaffen vermögen. Diese Frauen können sich nicht irgendeinem hergelaufenen Kerl von der Straße anvertrauen. Sie sind nervös, hochgezüchtet, empfindlich, diese Frauen. Sie brauchen Nuancierung, Einfühlung. Sie brauchen die Aufmerksamkeiten eines Mannes mit gewaltiger Phantasie, dem es gleichzeitig an hervorragender Feinfühligkeit nicht mangelt. Solche Männer sind in unserer Alltagswelt überaus selten. Gerade auf diesem Gebiet liegen aber meine Talente. Ich wende sie also an. Und wie jeder Tätige erwarte ich eine Entschädigung dafür.«

Loomis lehnte sich lächelnd zurück. Crompton starrte ihn entsetzt an. Es fiel ihm schwer, zu glauben, daß dieser gewissenlose, selbstzufriedene Verführer ein Teil seines Ichs war. Aber daran gab es nichts zu rütteln; Crompton brauchte ihn zur Verschmelzung.

»Tja«, sagte Crompton, »es ist deine Sache, was du für richtig hältst. Ich bin jedenfalls die Grundpersönlichkeit Cromptons in seinem Originalkörper. Ich bin hierhergekommen, um dich zu reintegrieren.«

»Kein Interesse«, winkte Loomis ab.

»Soll das heißen, daß du nicht willst?«

»Genau.«

»Du scheinst nicht begriffen zu haben, daß du unvollständig und unfertig bist«, erklärte Crompton. »Du mußt doch denselben Drang zur Selbstverwirklichung haben wie ich. Und sie kann nur durch Reintegrierung erfolgen.«

»Ganz klar.«

»Also -«

»Nein«, sagte Loomis. »Ich möchte auch die Verschmelzung erreichen, aber es treibt mich wesentlich stärker dazu, weiterzuleben wie bisher. Der Luxus hat auch seine Annehmlichkeiten, verstehst du.«

»Vielleicht hast du vergessen, daß du in einem Durierkörper lebst, dessen Funktionsdauer auf vierzig Jahre berechnet ist«, argumentierte Crompton. »Wenn du dich der Verschmelzung widersetzt, bleiben dir im besten Fall noch fünf Jahre. Wohlgemerkt, im besten Fall. Meistens halten die Durierkörper nicht einmal so lange.«

»Das stimmt«, sagte Loomis und zog die Brauen zusammen.

»Die Reintegrierung wird gar nicht so schlimm sein«, fuhr Crompton, wie er hoffte, gewinnend fort. »Dein Genußimpuls geht ja nicht verloren. Er wird lediglich auf ein vernünftigeres Maß herabgeschraubt.«

Loomis dachte angestrengt nach und zog an seiner Zigarette. Dann sah er Crompton ins Gesicht und sagte: »Nein.«

»Aber deine Zukunft -«

»Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich über die Zukunft Sorgen machen können«, meinte Loomis mit eingebildetem Grinsen. »Mir genügt es, jeden Tag zu durchleben und ihn voll auszukosten. Fünf Jahre - wer weiß denn schon, was in fünf Jahren sein wird? Fünf Jahre sind eine Ewigkeit. Irgend etwas wird sich schon ergeben.«

Crompton widerstand heldenhaft der Versuchung, Loomis an die Gurgel zu springen. Natürlich lebte der Sinnenmensch nur in der ewigen Gegenwart, ohne auch nur einen Gedanken an eine ferne, ungewisse Zukunft zu verschwenden. Eine Zeit von fünf Jahren war für den dem Jetzt verhafteten Loomis nicht übersehbar. Daran hätte er denken müssen.

Crompton zwang sich ruhig zu bleiben. »Gar nichts wird sich ergeben«, sagte er. »In fünf Jahren - fünf kurzen Jahren - wirst du sterben.«

»Ich habe mir angewöhnt, nie über den Donnerstag hinaus zu denken«, erwiderte Loomis achselzuckend. »Paß auf, alter Junge. In drei oder vier Jahren melde ich mich bei dir, dann können wir noch einmal darüber reden.«

»Völlig sinnlos«, fuhr Crompton auf. »Du bist auf dem Mars, ich wohne wieder auf der Erde, und unser drittes Ich befindet sich auf der Venus. Wir kommen niemals rechtzeitig zusammen. Außerdem hast du dein Versprechen dann längst vergessen.«

»Wir werden sehen«, sagte Loomis und schaute auf die Uhr. »Wenn es dir nichts ausmacht, erwarte ich Besuch, der es zweifellos vorziehen würde -«

Crompton erhob sich. »Falls du es dir noch anders überlegen solltest, ich wohne im Blue Moon Motel. Ein, zwei Tage bleibe ich noch.«

»Amüsier dich gut«, sagte Loomis. »Auf jeden Fall mußt du dir die Xanadu-Höhlen ansehen. Ein großartiger Ausflug!«

Wie vor den Kopf geschlagen, verließ Crompton Loomis' Wohnung und kehrte in sein Motel zurück.

Am Abend saß er in einem Selbstbedienungsrestaurant, wobei er sich einen Marsburger und ein Eisgetränk genehmigte. An einem Zeitungsstand kaufte er ein Rätselheft. Er ging auf sein Zimmer, löste drei Rätsel und legte sich zu Bett.

Tags darauf überlegte er, was ihm zu tun übrigblieb. Es schien keinen Weg zu geben, Loomis eine andere Entscheidung aufzuzwingen. Sollte er zur Venus fliegen und Dan Stack, den dritten Teil seines Ichs suchen? Nein, das war mehr als nutzlos. Selbst wenn Stack zur Verschmelzung bereit sein sollte, fehlte immer noch ein lebenswichtiges Drittel, Loomis, das entscheidende Genußprinzip. Zwei Drittel würden dringender nach Vervollständigung verlangen als eines; sie mußten den Mangel wesentlich stärker empfinden. Und Loomis ließ sich nicht überzeugen.

Unter den gegebenen Umständen konnte er nur unverrichteterdinge zur Erde zurückkehren und sich anpassen, so gut es eben ging. Immerhin lag auch in harter, pflichteifriger Arbeit eine gewisse Befriedigung, in Beständigkeit, Umsicht und Verläßlichkeit ein gewisses Vergnügen. Man durfte die bescheidenen Tugenden nicht übersehen.

Aber es fiel ihm schwer, sich selbst von der Richtigkeit seiner Anschauung zu überzeugen. Schweren Herzens rief er den Bahnhof in Elderberg an und belegte einen Platz im Abendrapido nach Port Newton.

Als er eine Stunde vor Abfahrt des Rapido seinen Koffer packte, wurde plötzlich die Tür aufgerissen, Edgar Loomis kam herein, sah sich schnell um, schloß die Tür hinter sich und sperrte sie ab.

»Ich habe es mir überlegt«, sagte er. »Ich bin zur Reintegrierung bereit.«

Cromptons erste Freudenregung ging in einer Welle von Argwohn unter.

»Warum hast du dich anders entschlossen?« fragte er.

»Spielt denn das noch eine Rolle?« meinte Loomis. »Können wir nicht -«

»Ich möchte den Grund wissen«, sagte Crompton hartnäckig.

»Na ja, es ist schwer zu erklären. Verstehst du, ich hatte eben

Jemand schlug polternd gegen die Tür. Loomis wurde unter seiner Orangetönung blaß. »Bitte!« sagte er.

»Erklär es mir zuerst«, forderte Crompton.

Auf Loomis' Stirn bildeten sich kleine Schweißtröpfchen. »Wie eben so etwas passiert«, sprudelte er hervor. »Manchmal wissen Ehemänner diese kleinen Aufmerksamkeiten, die man ihren Frauen erweist, nicht zu schätzen. Sogar die reichen Leute sind gelegentlich recht spießbürgerlich. Ehemänner sind die Gefahren meines Berufes. Ein-, zweimal im Jahr halte ich es daher für ersprießlich, mich zu einem kleinen Urlaub in eine Höhle beim All Diamond Mountain zurückzuziehen, die ich mir eingerichtet habe. Ich brauche auf Bequemlichkeit nicht zu verzichten, wenn auch der Speisezettel ein wenig einfach ist. In ein paar Wochen hat sich dann die ganze Aufregung gelegt.«

Das Klopfen an der Tür wurde lauter. Eine tiefe Stimme rief: »Ich weiß, daß Sie im Zimmer sind, Loomis! Öffnen Sie, sonst breche ich die verdammte Tür auf und winde sie um Ihren dreckigen Hals!«

Loomis' Hände begannen zu zittern. »Ich habe Angst vor körperlicher Gewalt«, sagte er. »Könnten wir uns nicht endlich reintegrieren, dann erkläre ich -«

Sie hörten, wie ein schwerer Körper gegen die Tür prallte. Loomis fuhr mit schriller Stimme fort: »Es ist nur deine Schuld, Crompton! Durch dein Erscheinen bin ich nervös geworden.

Ich habe meine Präzision, meinen sechsten Sinn für eine lauernde Gefahr verloren. Zum Teufel, Crompton, ich bin nicht rechtzeitig entkommen! Ich, in flagranti ertappt! Mit knapper Not konnte ich fliehen, während mir dieser holzköpfige Muskelprotz von Ehemann durch die ganze Stadt folgte, in allen Bars und Hotels nach mir fragte und die Drohung ausstieß, er gedenke mir das Genick umzudrehen. Ich hatte nicht genug Bargeld, um einen Wüstenwagen zu mieten, und nicht mehr die Zeit, meinen Schmuck zu verpfänden. Die Polizisten grinsten nur und weigerten sich, mich zu schützen! Crompton, bitte!«

Die Tür erbebte unter den gewaltigen Schlägen, und das Schloß begann sich aufzubiegen. Crompton wandte sich seinem zweiten Ich zu, voll Dankbarkeit darüber, daß Loomis' entscheidende Schwäche noch rechtzeitig aufgedeckt worden war.

»Komm«, sagte Crompton, »verschmelzen wir uns.«

Die beiden Männer starrten einander scharf in die Augen, Teile, die nach dem Ganzen verlangten, Kraft erzeugend, um die Kluft zu überbrücken. Dann stöhnte Loomis auf und sein Durierkörper brach zusammen, schlaff und widerstandslos, wie eine Gliederpuppe. Im selben Augenblick knickte Crompton in den Knien ein, als sei eine Last auf seinen Schultern gelandet.

Das Schloß brach auseinander, die Tür sprang auf. Ein mittelgroßer, massiver Mann mit schwarzem Haar stürmte herein.

»Wo ist er?« brüllte er los.

Crompton deutete auf Loomis' leblosen Körper am Boden. »Herzschlag«, sagte er.

»Oh«, flüsterte der Schwarzhaarige, zwischen Wut und Entsetzen hin- und her gerissen. »Oh. Dann... oh!«

»Ich bin davon überzeugt, daß er sein Schicksal verdient hat«, erklärte Crompton kalt, nahm seinen Koffer und marschierte ohne ein weiteres Wort hinaus, um den Abendrapido zu erreichen.

Die lange Fahrt über die Marsebenen lieferte die mehr als notwendige Atempause. Crompton und Loomis hatten Gelegenheit, wirklich Bekanntschaft zu schließen und bestimmte Grundprobleme zu lösen, die sich ergeben müssen, wenn zwei Persönlichkeiten in einem Körper existieren.

Die Frage nach der Vorherrschaft stellte sich nicht. Crompton war die Grundpersönlichkeit und hauste nun seit fünfunddreißig Jahren in Cromptons Leib-Seele-Existenz. Unter normalen Umständen konnte Loomis die Kontrolle nicht übernehmen; er hatte auch nicht den Wunsch, es zu versuchen. Loomis akzeptierte seine Rolle widerspruchslos und beschied sich gutwillig mit der Stellung des Kommentators, Beraters und Gönners.

Aber es kam zu keiner Reintegrierung. Crompton und Loomis existierten in dem einen Verstand wie Planet und Trabant, unabhängige, aber eng verwandte Wesen, die einander vorsichtig prüften, jedoch weder fähig noch bereit waren, ihre persönliche Autonomie preiszugeben. Bis zu einem gewissen Grad fand natürlich ein Durchsickern statt, aber die Fusion einer einzigen, stabilen Persönlichkeit aus ihren einzelnen Elementen konnte erst erreicht werden, wenn sich Dan Stack, das dritte Ich, hinzugesellte.

Und selbst dann bestand keine Gewähr für wirkliche Verschmelzung, erinnerte Crompton den optimistisch veranlagten Loomis. Wenn man zunächst unterstellt, daß Stack zur Reintegrierung bereit war - was ja noch nicht feststand -, konnten die drei schizoiden Teile einer Fusion Widerstand entgegensetzen, oder sie gar nicht zustande bringen. In diesem Fall würden die inneren Konflikte sehr bald zu unheilbarem Wahnsinn führen.

»Warum sich darüber Sorgen machen, alter Junge?« fragte Loomis.

»Weil nichts anderes übrigbleibt«, erwiderte Crompton langsam.

»Selbst wenn wir drei zur Reintegrierung gelangen, muß das sich daraus ergebende Ich nicht unbedingt stabil sein. Vielleicht überwiegen psychotische Elemente, und dann -«

»Wir müssen die Dinge einfach nehmen, wie sie kommen«, meinte Loomis. »Tag für Tag, Stück für Stück.«

Crompton stimmte zu. Loomis, die gutmütige, unbeschwerte, genußsüchtige Seite seines Wesens ließ bereits Wirkung erkennen. Mit einer besonderen Willensanstrengung zwang er sich dazu, seine Sorgen für den Augenblick zu vergessen. Bald danach war er in der Lage, sich einem Kreuzworträtsel zuzuwenden, während Loomis an einem Gedicht arbeitete.

Der Rapido erreichte Port Newton, und Crompton ließ sich mit einer Fährrakete zur Marsstation Eins hochtragen. Er unterzog sich den Zoll-, Prüf- und Untersuchungsformalitäten und flog zum Raketenhafen weiter. Dort mußte er vierzehn Tage auf ein Schiff zur Venus warten. Der junge Schalterbeamte erzählte etwas von >Opposition< und >wirtschaftlich vertretbaren Umlaufbahnen<, aber weder Crompton noch Loomis verstanden, wovon er sprach.

Die Verzögerung erwies sich als wertvoll. Loomis konnte eine brauchbare Unterschrift zu einem Brief an einen Freund in Elderberg liefern, mit dem dieser ermächtigt wurde, Loomis' Besitz zu Geld zu machen, die Rechnungen zu bezahlen, eine beträchtliche Summe für seine Dienste einzubehalten und den Rest an Crompton, Loomis' Erben, zu schicken. Am elften Tag waren diese Transaktionen abgeschlossen, und Crompton verfügte über nahezu dreitausend dringend benötigte Dollars.

Endlich startete das Raumschiff zur Venus. Crompton machte sich daran, Basic Yggdra, die Grundsprache der venusischen Ureinwohner zu erlernen. Zum erstenmal in seinem Leben versuchte auch Loomis zu arbeiten; er legte sein Gedicht beiseite und betrieb ebenfalls das Sprachenstudium. Die komplizierte Konjugation und Deklination des Yggdra langweilte ihn indes bald, er strengte sich jedoch an, so gut er konnte, und bestaunte den fleißigen Crompton.

Dieser wiederum unternahm ein paar versuchsweise Vorstöße in das Gebiet des Genusses schöner Dinge. Vom Loomis geleitet und informiert besuchte er die Schiffskonzerte, besah sich die Gemälde im großen Salon und starrte ausdauernd zu den grelleuchtenden Sternen empor. Das alles schien ihm Verschwendung kostbarer Zeit, aber er gab nicht auf.

Am zehnten Tag des Fluges wurde ihre Zusammenarbeit durch die Frau eines in der zweiten Generation auf der Venus ansässigen Pflanzers gestört, die Crompton in der Anssichtskan-zel kennenlernte. Sie war auf dem Mars in einem Sanatorium von Tuberkulose geheilt worden und befand sich auf dem Heimflug.

Sie war klein, lebendig und schwarzhaarig, hatte schöne, dunkle Augen und schimmerndes, lockiges Haar. Die lange Reise durch den Weltraum langweilte sie.

Sie gingen in die Schiffsbar. Nach vier Martinis entspannte sich Crompton und ließ Loomis das Kommando übernehmen. Loomis tanzte mit ihr zu den Klängen des Plattenspielers, dann zog er sich großzügig zurück und übergab Crompton wieder die Kontrolle, der nervös war, ständig rot wurde, sich ungeschickt benahm und hellauf begeistert war. Und es war Crompton, der sie zum Tisch zurückführte, Crompton, der mit ihr plauderte, und Crompton, der ihre Hand berührte, während Loomis wohlgefällig zusah.

Um zwei Uhr nachts Schiffszeit verabschiedete sich die junge Frau, nicht ohne vorher bedeutsam ihre Kabinennummer genannt zu haben. Crompton taumelte traumverloren zu seiner eigenen Kabine im B-Deck und sank glückserfüllt auf sein Bett.

»Na und jetzt?« fragte Loomis.

»Wieso >Na und jetzt

»Gehen wir. Die Einladung war deutlich genug.«

»Ich kann mich an keine Einladung erinnern«, sagte Crompton verwirrt.

»Sie hat ihre Kabinennummer genannt«, erklärte Loomis. »Das stellt, zusammen mit den anderen Vorfällen heute abend, eine unmißverständliche Einladung - ja, beinahe einen Befehl dar.«

»Ich kann's nicht glauben!« rief Crompton.

»Ehrenwort«, sagte Loomis. »In diesen Dingen habe ich ein wenig Erfahrung. Die Einladung ist klar, der Weg frei. Vorwärts!« »Nein, nein«, wehrte Crompton ab. »Ich darf doch - kann nicht

»Mangel an Erfahrung ist keine Entschuldigung«, verkündete Loomis fest. »Die Natur hilft sehr großzügig, wenn man sich ihr nur überläßt. Du wirst doch jetzt nicht versagen!«

Crompton stand auf, wischte sich die glühende Stirn und tat zwei zögernde Schritte zur Tür. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und setzte sich wieder auf sein Bett.

»Ausgeschlossen«, sagte er entschieden.

»Warum denn?«

»Es wäre unmoralisch. Die junge Dame ist verheiratet.«

»Die Ehe ist eine sehr schöne Einrichtung«, erklärte Loomis geduldig, »aber die Natur schafft sich ihr Recht, ohne auf Paragraphen und Buchstaben Rücksicht zu nehmen.«

»Es ist unanständig«, erwiderte Crompton ohne Überzeugung.

»Keineswegs«, versicherte ihm Loomis. »Du bist unverheiratet, also kann dich niemand tadeln. Die junge Dame ist verheiratet. Das ist ihre Verantwortung. Aber vergiß nicht, als erwachsener Mensch muß sie ihre genauen Entscheidungen treffen; sie ist nicht unveräußerlicher Besitz ihres Mannes. Sie hat ihre Entscheidung getroffen, und wir müssen Ehrlichkeit respektieren. Alles andere wäre eine Beleidigung. Schließlich ist da noch der Mann. Er wird nichts davon erfahren, ist also auch nicht davon betroffen. Im Gegenteil, er kann nur gewinnen. Seine Frau wird zum Ausgleich besonders nett zu ihm sein. Er muß annehmen, daß er das seiner großartigen Männlichkeit verdankt, und kann sich einiges darauf einbilden. Du siehst, Crompton, jeder hat einen Vorteil davon, niemand einen Nachteil.«

»Reine Haarspalterei«, sagte Crompton, erhob sich und ging auf die Tür zu.

»Nur zu, mein Junge«, sagte Loomis.

Crompton grinste idiotisch und öffnete die Tür. Dann überfiel ihn ein Gedanke, er knallte die Tür zu und legte sich aufs Bett.

»Ausgeschlossen«, sagte er.

»Was ist denn nun wieder los?«

»Die Begründung von vorhin mag stichhaltig sein oder nicht«, erklärte Crompton. »Ich besitze nicht genügend Erfahrung, um darüber urteilen zu können. Aber das eine weiß ich: ich unternehme nichts dergleichen, solange du zusiehst!«

»Aber - verdammt noch mal, ich bin doch du! Du bist ich! Wir sind zwei Teile einer einzigen Persönlichkeit!«

»Das sind wir eben noch nicht«, erwiderte Crompton. »Wir existieren jetzt als schizoide Teile, zwei Menschen in einem Körper. Später, wenn es wirklich einmal zur Verschmelzung gekommen ist. Aber unter den jetzigen Umständen verbietet mir mein Gefühl für Anständigkeit, das zu tun, was du vorschlägst. Es ist undenkbar! Ich will nichts mehr davon hören.«

Daraufhin verlor Loomis die Beherrschung. Da er sich gehindert sah, seiner eigenen Persönlichkeit auch einmal Ausdruck zu verleihen, wütete und schrie er, warf Crompton unzählige Schimpfnamen an den Kopf, wovon >dreckiger kleiner Feigling< noch der mildeste war. Sein Zorn löste Reaktionen in Cromptons Gehirn aus, hallte durch ihren gesamten, gemeinsam bewohnten Organismus wider. Die Spaltungslinien zwischen den beiden Persönlichkeiten vertieften sich, neue Risse traten zutage, und der Bruch drohte die beiden Ichs in echter Dr.Jekyll-und-Mr.Hyde-Manier voneinander zu isolieren.

Cromptons dominierende Persönlichkeit trug ihn über diese Gefahr hinweg. In seiner maßlosen Wut auf Loomis begann sein Verstand jedoch Antidole zu produzieren. Diese noch immer nicht ganz erforschten winzigen Abwehrkörper hatten, gleich den Leukozyten im Blutkreislauf, die Aufgabe, Schmerzen zu lindern und die wunde Stelle im Verstand abzuriegeln.

Loomis zuckte entsetzt zurück, als die Antidole ihren Schutzwall um ihn errichteten, ihn abdrängten, zurückschoben und einmauerten.

»Crompton! Bitte!«

Loomis drohte die Gefahr, völlig und für immer abgeschlossen zu werden, in einem dunklen Winkel verlorenzugehen. Und mit ihm würde auch die letzte Chance auf eine Reintegrierung dahin sein. Aber Crompton gewann rechtzeitig seine Beherrschung zurück. Der Strom von Antidolen versiegte, der Schutzwall löste sich auf, und Loomis bezog erschrocken wieder seine Position.

Einige Zeit sprachen sie nicht miteinander. Loomis schmollte einen ganzen Tag und schwor sich, Crompton diese Brutalität nie zu verzeihen. Aber er war in erster Linie und vor allem anderen Sinnesmensch, dem Augenblick lebend, ein Wesen ohne Vergangenheit, das sich keine Gedanken um die Zukunft machte. Sein Groll schwand dahin, er wurde wieder er selbst.

Crompton war nicht so vergeßlich, aber er begriff seine Verantwortung als beherrschender Teil seines Ichs. Er bemühte sich, die Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, und binnen kurzer Frist harmonierten die beiden Persönlichkeiten in vollstem Einklang.

In gegenseitigem Einverständnis wichen sie künftig der jungen Dame aus. Der letzte Teil der Reise verging sehr schnell, und das Raumschiff erreichte endlich die Venus.

Man setzte sie im Satelliten Drei ab, wo sie bei Zoll-, Einwan-derungs- und Gesundheitsbeamten vorstellig wurden. Man verpaßte ihnen Injektionen gegen schleichendes Fieber, Venuspest, die Knightsche Krankheit und das Große Jucken. Sie erhielten Pulver gegen Moorfäule und Pillen gegen Blaufuß. Schließlich gestattete man ihnen, mit der Fährrakete zum Ausschiirungshafen in New Port Haarlem hinunterzufliegen.

Diese Stadt am Westufer der Inland-Zee, lag in der gemäßigten Zone des Planeten. Trotzdem war ihnen nach dem kühlen, belebenden Marsklima unangenehm warm. Hier sahen sie die ersten Venus-Ureinwohner außerhalb eines Zirkus; sie begegne-ten ihnen sogar zu Hunderten. Die Eingeborenen waren im Durchschnitt eineinhalb Meter groß, und ihre geschuppten Leiber wiesen auf die entfernte Verwandtschaft mit Eidechsen hin. Auf den Bürgersteigen gingen sie aufrecht, aber bei großem Gedränge bewegten sie sich quer über die Häuserfassaden, mit ihren Saugnäpfen an Händen, Füßen, Knien und Unterarmen Halt findend.

Viele Gebäude waren zum Schutz der Fenster mit Stacheldraht garniert, denn den Eingeborenen wurde nachgesagt, daß sie zwischen mein und dein kaum unterschieden: ihr einziger Sport war der Meuchelmord.

Crompton hielt sich einen Tag in der Stadt auf und flog dann mit einem Hubschrauber nach East Marsh, der letzten Anschrift Dan Stacks. Der Flug erwies sich als monotones Surren und Knattern durch dichte Wolkenbänke, die jede Sicht nach unten verhinderten. Das Radargerät gab schrille Töne von sich, während die Antenne den Himmel nach den wandernden Inversionszonen absuchte, wo der gefürchtete Venus-Tornado, der >Zicre<, manchmal in wenigen Augenblicken sein verwüstendes Werk begann. Aber bei diesem Flug blieben die Winde sanftmütig, und Crompton schlief die meiste Zeit.

East Marsh war ein geschäftiger Hafen an einem Zufluß der Inland-Zee. Hier machte Crompton Stacks Pflegeeltern ausfindig, ein Greisenpaar um die Achtzig. Sie berichteten ihm, daß Dan ein großer, starker Bursche sei, manchmal ein wenig unbesonnen, aber von Herzen gutmütig. Sie versicherten ihm, daß das mit dem Mädel von den Morrisons gar nicht stimme. Dan sei zu Unrecht beschuldigt worden. Dan würde einem hilflosen, armen Mädchen nie so etwas antun.

»Wo finde ich Dan?« erkundigte sich Crompton.

»Ah«, sagte der alte Mann, mit seinen wäßrigen Augen blinzelnd, »Sie wissen nicht, daß Dan von hier weggegangen ist? Das muß jetzt zehn oder fünfzehn Jahre her sein.«

»East Marsh war ihm zu langweilig«, erklärte die alte Frau giftig. »Er hat sich unseren Notpfennig ausgeliehen und ist mitten in der Nacht verschwunden.«

»Er wollte uns eben nicht stören«, verbesserte der Alte schnell. »Dan hat sein Glück machen wollen. Und ich wäre nicht überrascht, wenn er es geschafft hätte. In ihm war das Zeug zu einem richtigen Mann.«

»Wohin ist er gegangen?« fragte Crompton.

»Keine Ahnung«, erwiderte der Alte. »Er hat uns nie geschrieben. Mit den Worten ist er nicht so gut zurechtgekommen, unser Dan. Aber Billy Davis sah ihn einmal in Ou-Barkar, als er eine Ladung Kartoffeln hinbrachte.«

»Wann war das?«

»Vor fünf oder sechs Jahren«, sagte die alte Frau. »Seitdem haben wir nichts mehr von Dan gehört. Die Venus ist sehr groß, Mister.«

Crompton bedankte sich bei den beiden. Er versuchte, Bill Davis ausfindig zu machen, erfuhr aber, daß er als Maat auf einem kleinen Frachter arbeitete. Das Schiff war vor einem Monat abgefahren und besuchte sämtliche Häfen der südlichen Inland-Zee.

»Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte Crompton. »Wir müssen nach Ou-Barkar.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, meinte Loomis. »Offengestanden mache ich mir aber langsam Gedanken über diesen Stack.«

»Ich auch«, gab Crompton zu. »Aber er gehört zu uns, und wir brauchen ihn zur Reintegrierung.«

»Eben«, sagte Loomis. »Also vorwärts, Kameraden.«

Crompton machte sich auf den Weg. Er bestieg einen Hubschrauber nach Depotsville und fuhr von dort mit dem Bus nach St. Denis. Hier gelang es ihm, von einem Schlepper mitgenommen zu werden, der mit einer Ladung Insektenvertilgungsmittel durch die Sümpfe nach Ou-Barkar wollte. Der Fahrer war froh, bei der Fahrt durch die eintönige Landschaft Gesellschaft zu haben.

Während der vierzehnstündigen Reise erfuhr Crompton einiges über die Venus. Die riesige, warme Wasserwelt galt als Pioniergebiet für die Erde, erzählte ihm der Fahrer. Der Mars diene lediglich als Touristenattraktion, aber die Venus biete echte Möglichkeiten. Auf die Venus kämen die Bahnbrecher, vom Schlag wie die amerikanischen Westler, Burenfarmer, Israelis und australischen Rancher. Hartnäckig kämpften sie um die fruchtbaren Steppen, die erzreichen Gebirge und warmen Seen. Sie schlugen sich mit den auf Steinzeit-Niveau lebenden, von Eidechsen abstammenden Ureinwohnern, den Ais. Ihre großen Siege bei Satan's Pass, Squareface, Albertsville und Double Tongue, und ihre Niederlagen am Slow River und bei Blue Falls standen bereits im Buch der Geschichte vermerkt. Und die Kriege seien noch nicht vorbei. Auf der Venus könne man noch eine ganze Welt erringen, meinte der Fahrer.

Crompton hörte zu und wünschte, dazuzugehören. Loomis langweilte sich entsetzlich; die aus den Sümpfen aufsteigenden Dämpfe förderten seine Stimmung nicht.

Ou-Barkar bestand aus einer Gruppe von Pflanzungen tief im Innern des White Cloud-Kontinents. Fünfzig Menschen beaufsichtigten die Arbeit von zweitausend Eingeborenen: die Anpflanzung, Pflege und Aberntung der Li-Bäume, die nur in diesem Gebiet wuchsen. Die Li-Frucht, zweimal jährlich gepflückt, diente als Grundlage für Eli-Würze, ein Gewürz, ohne das kein Koch der Erde mehr auskam.

Crompton wandte sich an den Aufseher, einen großen, rotgesichtigen Mann namens Harris, der einen Revolver an der Hüfte trug und eine lange, geflochtene Lederpeitsche in der Hand hielt.

»Dan Stack?« wiederholte der Aufseher. »Natürlich, Stack hat fast ein ganzes Jahr hier gearbeitet. Dann zog er ab, nicht ohne vorher noch einen Tritt in den Hintern bekommen zu haben.«

»Macht es Ihnen etwas aus, mir den Grund dafür zu sagen?« fragte Crompton.

»Durchaus nicht«, sagte der Aufseher. »Aber dazu müssen wir schon einen heben.«

Er führte Crompton zur einzigen Kneipe Ou-Barkars. Bei einem Glas des im Ort gebrannten Kornwhiskys erzählte Harris von Dan Stack.

»Er kam von East Marsh hierher. Ich glaube, daß das was mit einem Mädchen zu tun hatte - er soll ihr die Zähne eingeschlagen haben oder so. Aber das geht mich nichts an. Die meisten Leute hier sind nicht gerade Musterknaben, und in den Städten wird man wohl froh sein, daß man uns los ist. Ich stellte Stack als Aufsicht über fünfzig Ais auf einem vierzig Hektar großen Li-Feld ein. Anfangs leistete er gute Arbeit.«

Der Aufseher leerte sein Glas. Crompton bestellte den zweiten Drink und bezahlte ihn.

»Ich hatte ihm erklärt, daß er seine Leute antreiben muß, wenn er etwas erreichen will«, fuhr Harris fort. »Wir verwenden hauptsächlich Ais vom Chipetzistamm, und sie sind mürrische, hinterhältige Kerle, aber kräftig. Ihr Häuptling vermietet uns Arbeiter in einem Zwanzigjahresvertrag. Als Bezahlung bekommt er Waffen. Damit versuchen sie dann wieder, uns umzulegen, aber das ist eine andere Sache. Wir werden schon mit ihnen fertig.«

»Ein Zwanzigjahresvertrag?« fragte Crompton. »Dann sind die Ais also praktisch Sklavenarbeiter?«

»Richtig«, erwiderte Harris. »Manche Pflanzer versuchen das zu beschönigen. Sie nennen das System >Dienstverpflichtung< oder auch >Feudalübergangswirtschaft<. Aber es ist Sklaverei, und warum soll man das nicht offen sagen? Auf andere Weise kann man diese Leute nicht zivilisieren. Stack hatte das begriffen. Er war ein großer, starker Bursche und konnte mit der Peitsche umgehen. Ich nahm eigentlich an, daß es mit ihm klappen müßte.«

»Und?« fragte Crompton, nachdem er noch einen Whisky für Harris bestellt hatte.

»Anfangs hielt er sich prima«, meinte der Aufseher. »Er benützte die Peitsche, erfüllte seine Erntequote und holte sogar einen Überschuß heraus. Aber er kannte kein Maßhalten. Er begann, seine Leute mit der Peitsche umzubringen, und Ersatz kostet Geld. Ich wies ihn an, ein bißchen vorsichtiger zu sein. Er hörte nicht auf mich. Eines Tages überfielen ihn seine Chipetzi, und er mußte etwa acht davon niederknallen, bevor sie sich zurückzogen. Ich redete ihm ins Gewissen und erklärte ihm, daß man die Ais zur Arbeit zwingen müsse, sie aber nicht umbringen dürfe. Natürlich rechnen wir mit Verlusten. Aber Stack trieb es zu arg und verminderte den Ertrag.«

Der Aufseher seufzte und zündete sich eine Zigarette an. »Stack bediente sich zu gern seiner Peitsche. Das tun viele Aufseher, aber Stack kannte kein Maß. Seine Chipetzi stürzten sich wieder auf ihn, und er mußte ein Dutzend davon niederschießen. Bei diesem Kampf verlor er eine Hand. Die Hand, mit der er die Peitsche geführt hatte. Ich glaube, daß sie ihm ein Chipetzi abgebissen hat.

Ich gab ihm Arbeit in den Trockenanlagen, aber es kam wieder zu einer Auseinandersetzung, bei der er vier Ais tötete. Das war zuviel. Diese Arbeiter kosten Geld, und wir können es uns nicht leisten, daß irgendein hitzköpfiger Idiot bei jedem Anfang ein Dutzend davon umlegt. Ich gab Stack seinen Lohn und warf ihn hinaus.«

»Hat er gesagt, wohin er sich wenden würde?« erkundigte sich Crompton.

»Er meinte, wir hätten nicht begriffen, daß man die Ais ausrotten müsse, um Platz für die Menschen zu schaffen. Er wolle sich auf jeden Fall den Vigilanten anschließen. Das ist eine Art umherziehender Truppe, deren Angehörige die nicht befriedeten Stämme in Schach halten.«

Crompton bedankte sich beim Aufseher und fragte nach dem Weg zum Hauptquartier der Vigilanten.

»Zur Zeit kampieren sie am linken Ufer des RainmakerFlusses«, sagte Harris. »Sie wollen mit den Seriiden einen Waffenstillstand schließen. Sie wollen Stack unbedingt finden, wie?«

»Er ist mein Bruder«, erwiderte Crompton mit einem mulmigen Gefühl im Magen.

Der Aufseher sah ihn gleichmütig an. »Na ja«, meinte er nach einiger Zeit, »verwandt ist verwandt. Aber Ihr Bruder ist so ziemlich das schlimmste Exemplar Mensch, das mir jemals begegnet ist, und ich habe wirklich viel gesehen. Lassen Sie lieber die Finger davon.«

»Ich muß ihn finden«, sagte Crompton.

Harris hob die Schultern. »Es ist sehr weit bis zum RainmakerFluß. Ich kann Ihnen Packesel und Vorräte verkaufen, außerdem leihe ich Ihnen einen Eingeborenen als Führer. Sie kommen durch befriedetes Gebiet, also müßten Sie es schaffen. Jedenfalls glaube ich, daß dort keine Kämpfe mehr ausgebrochen sind.«

In dieser Nacht bestürmte Loomis Crompton, die Suche aufzugeben. Stack sei offensichtlich ein Mörder und Dieb. Was könne es nützen, ihn aufzunehmen?

Crompton meinte, so einfach sei die Sache nicht. Erstens könnten die Geschichten übertrieben sein. Aber selbst wenn sie der Wahrheit entsprachen, bedeute das nur, daß Stack eben ein Stereotyp sei, eine unzulängliche, monolithische Persönlichkeit wie Loomis und Crompton. Bei einer Verschmelzung würde auch mit Stack eine Veränderung eintreten. Er könnte das erforderliche Maß an Aggressivität, die Zähigkeit und Überlebenskraft liefern, woran es Loomis und Crompton mangelte.

Loomis ließ sich nicht überzeugen, aber er erklärte sich bereit, abzuwarten, bis sie ihrem fehlenden Dritten tatsächlich gegenüberstanden.

Am nächsten Morgen kaufte Crompton Esel und Ausrüstung zu wahnsinnigen Preisen, und am folgenden Tag machte er sich im Morgengrauen auf den Weg, geführt von einem jungen Chipetzi, dem man den Namen Rekki gegeben hatte.

Crompton folgte dem Führer durch eine unberührte Waldgegend in das Thompsongebirge, hinauf über schmale Grate, über wolkenbedeckte Gipfel zu engen Pässen, wo der Wind mit schrillem Geheul an den Felswänden entlangraste; dann hinunter in den dichten, dampfenden Dschungel auf der anderen Seite des Gebirges. Loomis, entsetzt über die Strapazen des Marsches, zog sich in einen Winkel zurück und tauchte nur an den Abenden auf, wenn das Lagerfeuer flackerte und die Hängematte angebracht war. Crompton stolperte mit zusammengebissenen Zähnen und blutunterlaufenen Augen durch die glutheißen Tage, allein die Strapazen auf sich nehmend, wobei er sich von Zeit zu Zeit fragte, wie lange wohl seine Kräfte ausreichen würden.

Am achtzehnten Tag erreichten sie einen seichten, schmutzigen Fluß. Dies sei der Rainmaker-Fluß, erklärte Rekki. Ein paar Kilometer weiter fanden sie das Lager der Vigilanten.

Der Kommandeur, Colonel Prentiss, war ein hochgewachsener, hagerer Mann mit grauen Augen, dem man ansah, daß er erst vor kurzem einen schweren Fieberanfall überstanden hatte. Er konnte sich gut an Stack erinnern.

»Ja, er ist eine Weile bei uns gewesen. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn nehmen sollte. Erstens sein Ruf, und dann als Einhänder... Aber er hatte sich beigebracht, mit der Linken besser zu schießen, als es die meisten mit der Rechten können. Über dem Stumpf trug er eine Bronzemanschette. Er hatte sie selbst so angefertigt, daß sich eine Machete hineinstecken ließ. An Mut fehlte es ihm nicht, das kann ich Ihnen sagen. Er war beinahe zwei Jahre bei uns. Dann stieß ich ihn aus.«

»Warum?« fragte Crompton.

Der Kommandeur seufzte unglücklich. »Entgegen der allgemeinen Ansicht sind wir Vigilanten keine Armee von Freibeutern und Eroberern. Wir sind nicht hier, um die Eingeborenen zu dezimieren und auszurotten. Wir sind nicht dafür da, auf den geringsten Vorwand hin ganze Landstriche zu annektieren. Wir sind hier, um die Einhaltung von Verträgen durchzusetzen, die zwischen Ais und Pflanzern geschlossen wurden, um Überfälle von Seiten der Ais und unserer eigenen Leute zu verhindern und ganz allgemein für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Es fiel Stack schwer, das zu begreifen.«

Cromptons Gesichtsausdruck schien sich verändert zu haben, denn der Kommandeur nickte mitfühlend.

»Sie wissen, wie er ist, wie? Dann können Sie sich vorstellen, was hier vorging. Ich wollte ihn nicht verlieren. Er war ein zäher und fähiger Soldat, kannte sich im Wald und im Gebirge aus, war zu Hause im Dschungel. Die Grenztruppe hat ein großes Gebiet zu überwachen, und wir brauchen jeden Mann, den wir bekommen können. Stack war wertvoll für uns. Ich wies die Unteroffiziere an, ein Auge auf ihn zu haben und keine Brutalitäten gegen die Eingeborenen zuzulassen. Eine Weile ging es gut. Stack gab sich sehr viel Mühe. Man konnte ihm nichts nachsagen. Dann kam der Vorfall beim Shadow Peak, von dem Sie sicher schon gehört haben.«

»Leider nicht«, bemerkte Crompton.

»Tatsächlich? Ich nahm an, daß er überall bekannt ist. Nun, die Situation war folgende: Stacks Patrouille hatte nahezu hundert Ais eines geächteten Stammes aufgebracht, mit dem wir ständig Schwierigkeiten hatten. Man brachte sie zur Reservation am Shadow Peak. Unterwegs gab es Ärger, eine kleine Rauferei. Einer der Ais hatte ein Messer und brachte Stack am rechten Handgelenk eine Schnittwunde bei.

Vermutlich hatte ihn der Verlust der einen Hand besonders empfindlich gemacht. Die Wunde war ganz harmlos, aber Stack verlor die Beherrschung. Er schoß den Eingeborenen mit einer Maschinenpistole nieder und begann dann die anderen niederzumähen. Ein Leutnant mußte ihn bewußtlos schlagen, um das Schlimmste zu verhüten. Der Schaden für die Beziehungen zwischen Ais und Menschen läßt sich nicht absehen. Ich konnte mir einen solchen Mann in meiner Truppe nicht leisten. Er braucht einen Psychiater. Ich entließ ihn.«

»Wo ist er jetzt?« fragte Crompton.

»Warum interessieren Sie sich so für diesen Mann?« erkundigte sich der Colonel rundheraus.

»Er ist mein Halbbruder.«

»Aha. Nun, ich habe gehört, daß Stack nach Port Harleem gegangen sei und eine Weile im Hafen gearbeitet habe. Er tat sich mit einem Mann namens Barton Finch zusammen. Beide wurden wegen Trunkenheit und ungebührlichem Benehmen eingesperrt und wieder entlassen. Sie zogen in die Grenzgebiete. Finch und er besitzen jetzt einen kleinen Laden in der Nähe von Blood Delta.«

Crompton rieb sich müde die Stirn und sagte: »Wie komme ich dorthin?«

»Mit dem Kanu«, erwiderte der Kommandeur. »Man fährt den Rainmaker-Fluß hinunter, bis er sich teilt. Der Fluß linker Hand ist der Blood River, man kann ihn bis Blood Delta befahren. Aber ich möchte Ihnen nicht raten, die Fahrt zu unternehmen.

Erstens ist sie sehr gefährlich. Zweitens wäre sie nutzlos. Sie können nichts für Stack tun. Er muß einfach töten. In einem Grenzort, wo er nicht viel Schaden anrichten kann, ist er am besten aufgehoben.«

»Ich muß zu ihm«, sagte Crompton. Seine Kehle war plötzlich ganz trocken geworden.

»Es gibt keine Vorschrift, die das verbietet«, meinte der Colonel resigniert.

Crompton mußte feststellen, daß Blood Delta die am weitesten vorgeschobene Bastion der Menschen auf der Venus war. Es lag mitten im Gebiet feindseliger Grel und Tengtzi-Ais, mit denen unsicherer Friede bestand, während man den ständigen Guerillakrieg ignorierte. Im Deltaland galt es große Schätze zu heben. Die Eingeborenen brachten faustgroße Diamanten und Rubine, Säcke voll erlesenster Gewürze, und gelegentlich eine Flöte oder eine Schnitzerei aus der untergegangenen Stadt Alteirne. Sie tauschten diese Waren gegen Waffen und Munition, die sie mit Begeisterung gegen Siedler und untereinander einsetzten. Im Delta gab es Reichtum und plötzlichen Tod, aber auch langsamen, schmerzvollen, hinausgezögerten Tod. Der Blood River, der sich langsam durch das Deltagebiet schlängelte, bot seine eigenen Gefahren.

Crompton verschloß sich allen vernünftigen Überlegungen. Stack, drittes Ich, war nicht mehr fern. Das Ende der Suche ließ sich absehen. Crompton war entschlossen, jetzt nicht aufzugeben. Er kaufte also ein Kanu und warb vier Eingeborene als Ruderer an, erstand Vorräte, Gewehre und Munition und bereitete den Aufbruch für den nächsten Morgen vor.

Aber in der Nacht davor rebellierte Loomis.

Sie befanden sich in einem kleinen Zelt, das der Kommandeur für Crompton hatte aufstellen lassen. Crompton stopfte beim Schein einer rauchenden Kerosinlampe Patronen in einen Gürtel.

Loomis sagte: »Jetzt hör mir mal zu. Ich habe dich als dominierende Persönlichkeit anerkannt. Ich habe nicht versucht, die Kontrolle über den Körper an mich zu reißen. Ich war in guter Stimmung, und ich habe dich in guter Stimmung gehalten, während wir um die halbe Venus herumgestiefelt sind. Stimmt das etwa nicht?«

»Doch«, erwiderte Crompton, widerwillig den Patronengürtel beiseitelegend.

»Ich habe mein Bestes gegeben, aber was zuviel ist, ist zuviel. Ich bin auch für die Reintegrierung, aber nicht mit einem irrsinnigen Mörder. Erzähl mir nichts von monolithischen Persönlichkeiten. Stack ist ein Mörder, und ich will nichts mit ihm zu tun haben.«

»Er ist ein Teil von uns«, sagte Crompton.

»Na und? Hör dir doch einmal selber zu, Crompton! Du bist angeblich die Persönlichkeit, die den größten Kontakt zur Wirklichkeit hat. Aber du bis ja besessen, du willst uns auf diesem verdammten Fluß in den Tod jagen.«

»Wir werden es schaffen«, meinte Crompton ohne Überzeugung.

»So?« fragte Loomis. »Hast du dir die Geschichten angehört, die man über den Blood River erzählt? Und selbst wenn wir es schaffen, was finden wir im Delta? Einen wahnsinnigen Mörder! Er wird uns umlegen, Crompton!«

Crompton fand keine passende Erwiderung. Im Laufe der Suchaktion war sein Entsetzen über Stacks Wesen immer mehr gewachsen, gleichzeitig hatte sich aber auch seine Besessenheit gesteigert, Stack zu finden. Loomis war nie von dem unbezähmbaren Drang nach Reintegrierung erfüllt gewesen; er hatte sich wegen äußerer Schwierigkeiten eingefunden, nicht einer inneren Notwendigkeit halber. Aber Crompton hatte stets mit der Leidenschaft für echtes Menschsein, für Vervollkommnung und Transzendenz gelebt. Ohne Stack war eine Fusion unmöglich. Mit ihm gab es eine Chance, gleichgültig, wie gering sie sein mochte.

»Wir ziehen weiter«, entschied Crompton.

»Alistair, bitte! Wir beide kommen doch gut miteinander aus. Wir könnten auch ohne Stack das Leben genießen. Fliegen wir zum Mars oder zur Erde zurück.«

Crompton schüttelte den Kopf. Er konnte die tiefen, unkittbaren Risse zwischen sich und Loomis bereits spüren. Er vermochte die Zeit zu erfühlen, in der diese Trennungslinien alle Gebiete erreichen würden, und ohne Reintegrierung mußte jeder seinen eigenen Weg gehen - aber in einem Körper.

Und das war der Irrsinn.

»Du willst nicht umkehren?« fragte Loomis.

»Nein.«

»Dann übernehme ich die Kontrolle!«

Loomis' Ich bäumte sich in einem Überraschungsangriff auf und erlangte eine teilweise Kontrolle über die motorischen Funktionen des Körpers. Als Crompton fühlte, wie ihm die Kontrolle zu entgleiten drohte, stellte er sich Loomis, und der Kampf begann.

Es war ein lautloser Kampf, ausgefochten beim Licht einer rauchenden Kerosinlampe, das beim Herannahen der Morgendämmerung immer trüber wurde. Der Schauplatz des Kampfes war Cromptons Verstand. Als Preis winkte Cromptons Körper, der jetzt zitternd auf einem Feldbett lag. Schweiß strömte von seiner Stirn, die Augen starrten leer ins Licht, ein Nerv an der Schläfe zuckte unaufhörlich.

Crompton war die dominierende Persönlichkeit, aber der innere Zwiespalt und ununterdrückbare Schuldgefühle hatten sie geschwächt, Skrupel behinderten sie. Loomis, schwächer, aber entschlossen, gelang es, die motorischen Funktionen in seiner Gewalt zu behalten und die Produktion von Antidolen zu verhindern.

Stundenlang lagen die beiden Persönlichkeiten miteinander im Kampf, während der fiebernde Körper Cromptons sich auf dem Feldbett hin- und herwarf. In den frühen Morgenstunden begann Loomis Boden zu gewinnen. Crompton nahm sich zusammen, aber er hatte nicht mehr die Kraft zu einem entscheidenden Vorstoß. Der Crompton-Körper war durch die Auseinandersetzung bereits gefährlich überhitzt; wenn sie nicht bald ein Ende fand, würde keinem der beiden Ichs ein Leib zur Verfügung stehen.

Loomis, den keine Skrupel plagten, stieß weiter vor, übernahm lebenswichtige Synapsen und kontrollierte damit sämtliche Bewegungsfunktionen.

Bei Sonnenaufgang hatte Loomis den Sieg errungen.

Taumelnd erhob sich Loomis. Er fuhr über die Bartstoppeln an seinem Kinn, rieb die erstarrten Fingerkuppen aneinander und sah sich um. Das war jetzt sein Körper. Zum erstenmal seit der Verschmelzung auf dem Mars konnte er wieder direkt fühlen und sehen, statt sich alle Eindrücke gefiltert durch Cromptons Persönlichkeit darreichen lassen zu müssen. Es war schön, die dumpfe Luft zu atmen, die Kleidung auf der Haut zu spüren, hungrig zu sein, zu leben! Aus einer Welt grauer Schatten war er in ein Land leuchtender Farben getreten. Wunderbar! So mußte es bleiben.

Der arme Crompton.

»Mach dir keine Sorgen, alter Junge«, sagte Loomis. »Ich meine es doch nur gut mit dir, verstehst du.«

Von Crompton kam keine Antwort.

»Wir fliegen zurück zum Mars«, erklärte Loomis. »Nach Elderberg. Alles wird gut werden.«

Crompton wollte oder konnte nichts erwidern. Loomis war beunruhigt. »Bist du da, Crompton? Alles in Ordnung?«

Keine Antwort.

Loomis runzelte die Stirn und eilte zum Zelt des Kommandeurs.

»Ich habe es mir anders überlegt«, erklärte Loomis dem Colonel. »Stack ist nicht mehr zu helfen.«

»Ich halte das für eine vernünftige Entscheidung«, meinte der Kommandeur.

»Ich möchte sofort zum Mars zurück.«

Der Colonel nickte. »Alle Raumschiffe starten von Port Haarlem aus, wo Sie auch gelandet sind.«

»Wie komme ich zurück?«

»Na ja, das ist ein bißchen schwierig«, erwiderte der Kommandeur. »Ich könnte Ihnen ja einen eingeborenen Führer leihen. Sie müssen über das Thompsongebirge nach Ou-Barkar zurückmarschieren. Ich rate Ihnen, diesmal die Route über das Desset-Tal zu wählen, da die Kmikti-Horde durch den Regenwald zieht, und man bei diesen Kerlen auf alles gefaßt sein muß. Sie erreichen Ou-Barkar in der Regenzeit, so daß die Schlepper nicht bis Depotsville fahren. Vielleicht können Sie sich der Salzkarawane anschließen, die den kurzen Weg durch den Knife-Paß nimmt, wenn Sie rechtzeitig ankommen. Andernfalls kann man den Weg mit einem Kompaß leicht begehen, allerdings muß man die Abweichungszonen berücksichtigen. Bis Sie Depotsville erreicht haben, setzt der Regen erst richtig ein. Ein großartiger Anblick. Vielleicht erwischen Sie einen Hubschrauber nach St. Denis und von dort einen nach East Marsh, aber das möchte ich wegen >Zicre< bezweifeln. Gegen die Tornados sind diese Vögel machtlos. Allerdings könnten Sie mit dem Paddelboot nach East Marsh gelangen und von dort aus mit einem Frachter die Inland-Zee hinunter nach Port Haarlem gelangen. Es gibt meines Wissens ein paar sehr sichere Hurrikanhäfen an der Südküste, für den Fall, daß das Wetter eine rasche Flucht erfordert. Ich persönlich ziehe es vor, über Land zu ziehen oder zu fliegen. Die Entscheidung, welche Route Sie wählen wollen, liegt natürlich bei Ihnen.«

»Danke«, sagte Loomis mit schwacher Stimme.

»Verständigen Sie mich noch von Ihrer Entscheidung«, meinte der Kommandeur.

Loomis bedankte sich noch einmal und kehrte als gebrochener Mann in sein Zelt zurück. Er dachte über den Marsch zurück durchs Gebirge und die Sümpfe, durch primitive Niederlassungen, vorbei an wandernden Horden nach. Er stellte sich die Komplikationen durch Regen und den >Zicre< vor. Nie hatte seine Phantasie größere Arbeit geleistet, als sie ihm jetzt die Schrecken der Reise ausmalte.

Es war schwer genug gewesen, hierherzukommen; eine Rückkehr mußte um vieles schwieriger sein. Und diesmal gab es keinen Schutz für sein empfindliches Gemüt durch den geduldigen, ausdauernden Crompton. Er selbst mußte Wind, Regen, Hunger, Durst, Erschöpfung und Angst ertragen. Er selbst mußte das schlechte Essen und das brackige Wasser zu sich nehmen. Und er selbst mußte die Probleme der schwierigen Route bewältigen, die Crompton mühsam gelöst hatte, während Loomis nicht darauf achtete.

Die ausschließliche Verantwortung lag bei ihm. Er mußte die Route wählen und die lebenswichtigen Entscheidungen treffen, um Cromptons und seiner selbst willen.

Konnte er das überhaupt? Er war ein Mann der Großstädte, ein Wesen der Gesellschaft. Seine Probleme waren die Seltsamkeiten und Abnormitäten anderer Menschen gewesen, nicht die Stimmungen und Launen der Natur. Er war der rohen, drohenden Welt von Sonne und Himmel aus dem Weg gegangen, hatte nur in den raffinierten Gräben und komplizierten Ameisenburgen der Menschheit gelebt. Durch Bürgersteige, Türen, Fenster und Decken von der Erde getrennt, waren ihm Zweifel an der Macht jener gigantischen, zermalmenden Maschinerie der Natur gekommen, über die alte Schriftsteller so bewegend geschrieben hatten, die so viele Motive für Gedichte und Lieder lieferte. Natur, das war für Loomis ein Sonnenbad an einem lauen Sommertag auf dem Mars gewesen, oder das schläfrige Lauschen auf den Wind vor seinem Fenster in einer stürmischen Nacht.

Aber nun war er plötzlich in diese Maschinerie hineingeworfen worden.

Loomis dachte darüber nach und stellte sich plötzlich sein eigenes Ende vor. Er sah die Zeit kommen, zu der seine Energie verbraucht sein würde, und dann lag er wohl in irgendeinem winddurchheulten Paß oder saß mit gesenktem Kopf im peitschenden Regen des Sumpfgebietes. Er würde sich aufzuraffen versuchen, jene Kraft anrufen, die jenseits der Erschöpfung vermutet wird. Und er würde sie nicht finden. Ein Gefühl völliger Sinnlosigkeit würde ihn übermannen, allein und verloren in einer Unendlichkeit. Zu diesem Zeitpunkt würde das Leben zu anstrengend, zu mühevoll erscheinen. Er würde, wie viele vor ihm, die Niederlage eingestehen, aufgeben, sich hinlegen und auf den Tod warten.

Loomis flüsterte: »Crompton?«

Keine Antwort.

»Crompton! Kannst du mich denn nicht hören? Ich überlasse dir das Kommando. Hol uns aus diesem irren Treibhaus heraus. Bring uns zurück zur Erde oder zum Mars! Crompton, ich will nicht sterben!«

Keine Antwort.

»Also gut, Crompton«, sagte Loomis heiser. »Du hast gewonnen. Tu, was du willst. Ich gebe auf. Bitte, übernimm das Kommando!«

»Danke«, sagte Crompton eisig und übernahm wieder die Kontrolle über seinen Körper.

Zehn Minuten später stand er im Zelt des Kommandeurs und erklärte, daß er es sich nun doch wieder anders überlegt hätte. Der Colonel nickte erschöpft und sagte sich, daß er die Menschen nie begreifen würde.

Bald danach saß Crompton in einem großen Kanu, inmitten der Stapel seiner Vorräte. Die Paddler begannen lauthals zu singen, als sie auf den Fluß hinausruderten. Crompton drehte sich um und blickte zurück, bis die Zelte der Vigilanten hinter einer Biegung verschwanden.

Für Crompton war die Fahrt den Blood River hinunter wie eine Reise zu den Anfängen der Zeit. Die sechs Eingeborenen tauchten gleichmäßig ihre Paddel ins Wasser, und das Kanu glitt wie eine Wasserspinne auf dem breiten, träge fließenden Strom dahin. Gigantische Farnhalme beugten sich über die Ufer, begannen zu erzittern, sobald sich das Kanu näherte, rückten sehnsüchtig auf langen Stengeln heran. Dann stießen die Paddler einen Warnruf aus, das Boot wurde zur Flußmitte gesteuert, und die Farne hingen in der Mittagshitze wieder schlaff herab. Das Boot erreichte Stellen, wo die Bäume über dem Fluß ineinander verschränkt waren und einen dunklen, laubbesetzten Tunnel bildeten. Crompton und die Ruderer mußten unter die Zeltleinwand kriechen und das Boot mit der Strömung treiben lassen, während von oben der ätzende Baumsaft heruntertropfte. Sie glitten wieder in das grelle Licht der Sonne, und die Eingeborenen griffen erneut zu den Paddeln.

»Unheimlich«, sagte Loomis nervös.

»Das kann man wohl sagen«, stimmte Crompton zu.

Der Blood River trug sie tief ins Innere des Kontinents. Nachts, wenn das Boot an einem Felsblock mitten im Strom festgemacht war, hörten sie die Kriegstrommeln feindlicher Ais-Stämme. Eines Tags tauchten hinter ihnen zwei Kanus mit Eingeborenen auf. Cromptons Leute legten sich in die Ruder, und das Boot schoß vorwärts. Die Verfolger blieben ihnen hartnäckig auf den Fersen; Crompton lud ein Gewehr und wartete. Aber seine Ruderer vergrößerten, von Angst beflügelt, den Vorsprung, bis die Ais schließlich hinter einer Biegung zurückblieben.

Sie atmeten auf. An einer Verengung des Flußlaufs wurden sie jedoch von einem Gewirr von Pfeilen aus beiden Uferwäldern empfangen. Ein Ruderer brach über dem Schandeckel zusammen, von vier Pfeilen durchbohrt. Die übrigen paddelten aus Leibeskräften, bis das Boot außer Schußweite war.

Sie warfen den toten Ai über Bord, und die hungrigen Flußbewohner rauften sich um die Beute. Danach schwamm ein großes, gepanzertes Tier mit den Armen und Beinen eines Krebses hinter dem Kanu her, den runden Kopf über dem Wasser haltend, stets auf Ausschau nach neuer Nahrung. Selbst Gewehrschüsse konnten es nicht vertreiben, und seine Gegenwart verursachte Crompton Alpträume.

Das Ungeheuer bekam eine weitere Mahlzeit, als zwei Paddler an einem graufarbenen Schimmel starben, der an den Rudern heraufkroch. Das krebsähnliche Wesen verschlang sie und wartete auf Nachschub. Aber es behütete das Boot wenigstens vor anderen Gefahren. Als ein Trupp von Eingeborenen zu einem Überfall ansetzte und das Ungeheuer erblickte, floh er in den Dschungel zurück.

Das Tier blieb die letzten hundertfünfzig Kilometer der Fahrt bei ihnen. Als sie sich schließlich einem bemoosten Kai näherten, hielt es an, starrte eine Weile beleidigt vor sich hin und schwamm dann stromaufwärts davon.

Die Ruderer steuerten das Boot zu dem verfallenen Kai. Crompton stieg hinauf und sah ein Stück Holz, das mit roter Ölfarbe bemalt war. Er drehte es um und las: >Blood Delta. 92 Einwohner.<

Hinter dem Kai lag nichts als Dschungel. Sie hatten Dan Stacks letzte Zuflucht erreicht.

Ein schmaler, bewachsener Pfad führte vom Kai zu einer Lichtung im Dschungel. Dort stand eine Geisterstadt. Kein Mensch zeigte sich auf der einzigen, staubigen Straße, keine Gesichter erschienen in den Fenstern der niedrigen, ungestrichenen Häuser. Die kleine Stadt dörrte unter dem weißlichgrellen Licht der Sonne stumm dahin, und Crompton hörte nichts als das Scharren seiner eigenen Schritte im Staub.

»Gefällt mir gar nicht«, sagte Loomis.

Crompton ging langsam die Straße hinunter. Er kam an einer Reihe von Vorratsschuppen vorbei, deren Wände mit den Namen der Besitzer in großen Lettern bemalt waren. Er sah eine leere Kneipe mit aufgerissenen Moskitonetzen vor den Fenstern und einer Tür, die nur noch an einem Scharnier hing, er sah drei verlassene Läden und erreichte schließlich einen vierten, an dem ein Schild mit der Aufschrift hing: >Stack & Finch. Proviant und Ausrüstung.<

Crompton trat ein. Am Boden waren große Warenstapel nebeneinander aufgereiht, andere Güter hingen von den Deckenbalken herab. Im Laden befand sich niemand.

»Hallo! Ist da jemand?« rief Crompton. Nichts rührte sich, und er trat wieder auf die Straße hinaus.

Am Stadtende erreichte er ein massives, scheunenähnliches Gebäude. Ein schnurrbärtiger Mann von etwa fünfzig Jahren mit sonnverbranntem Gesicht saß auf einem Stuhl davor. In seinem Gürtel steckte ein Revolver. Sein Stuhl war nach hinten, gegen die Gebäudewand, gekippt, und er schien vor sich hinzudösen.

»Dan Stack?« fragte Crompton.

»Im Haus«, erwiderte der Mann.

Crompton ging zur Tür. Der Schnurrbärtige bewegte sich auf seinem Stuhl und hatte plötzlich den Revolver in der Hand.

»Weg von der Tür da«, befahl er.

»Warum? Was ist denn?«

»Sie wissen nicht Bescheid?« erkundigte sich der Schnurrbärtige.

»Nein! Wer sind Sie?«

»Ich bin Ed Tyler, von den Bürgern Blood Deltas gewählter Sheriff und vom Kommandeur der Vigilanten im Amt bestätigt.

Stack befindet sich im Gefängnis. Das Gebäude hier dient vorübergehend als Gefängnis.«

»Wie lange muß er sitzen?« fragte Crompton.

»Nur ein paar Stunden.«

»Kann ich mit ihm sprechen?«

»Nein.«

»Kann ich ihn sprechen, wenn er herauskommt?«

»Sicher«, erwiderte Tyler, »aber ich bezweifle, ob er Ihnen Antwort gibt.«

»Warum?«

Der Sheriff grinste schief. »Stack sitzt deswegen nur ein paar Stunden im Gefängnis, weil wir ihn heute nachmittag herausholen und aufhängen. Nach dieser Arbeit können Sie sich mit ihm unterhalten, solange Sie wollen. Aber wie gesagt, ich bezweifle, ob Sie da Antwort bekommen.«

Crompton war zu erschöpft, um die Wucht dieses Schlages voll zu spüren. »Was hat Stack getan?« fragte er.

»Er hat einen Mord auf dem Gewissen.«

»An einem Eingeborenen?«

»Nein, zum Teufel«, sagte Tyler angewidert. »Wer schert sich um die Eingeborenen? Stack hat einen Mann namens Barton Finch umgebracht. Seinen eigenen Partner. Finch ist zwar noch nicht tot, aber er liegt im Sterben. Doc meint, daß er den Tag nicht überlebt, und damit ist es Mord. Stack ist auf rechtmäßige Weise von einer aus den Einwohnern gebildeten Jury für schuldig befunden worden, Barton Finch getötet, Billy Redburn ein Bein, Rli Talbot zwei Rippen gebrochen, Moriartys Kneipe demoliert und ganz allgemein den Landfrieden gestört zu haben. Der Richter - das bin ich - sprach das Urteil: Tod durch Erhängen, so schnell wie möglich. Also heute nachmittag, wenn die Leute von der Arbeit am neuen Damm zurückkommen.« »Wann hat die Verhandlung stattgefunden?« fragte Crompton.

»Heute früh.«

»Und wann war der Mord?«

»Ungefähr drei Stunden vor der Verhandlung.«

»Schnelle Arbeit«, meinte Crompton.

»Hier in Blood Delta wird keine Zeit verschwendet«, erklärte Tyler stolz.

»Das sieht man«, sagte Crompton. »Ihr hängt sogar einen Mann, bevor sein Opfer tot ist.«

»Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, daß er im Sterben liegt«, erwiderte Tyler. Seine Augen verengten sich. »Ich würde Ihnen raten, ein bißchen vorsichtiger zu sein. Wenn Sie die Rechtsprechung in Blood Delta angreifen, kann das allerhand Ärger geben. Wir brauchen keine komplizierten Juristenmätzchen, um >gut< von >böse< zu unterscheiden.«

Loomis flüsterte Crompton zu: »Halt den Mund und laß uns verschwinden.«

Crompton beachtete ihn nicht. »Mr. Tyler, Dan Stack ist mein Halbbruder«, sagte er.

»Pech für Sie«, brummte Tyler.

»Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn ich ihn kurz sehen könnte. Nur für fünf Minuten. Damit ich ihm einen letzten Gruß seiner Mutter überbringen kann.«

»Ausgeschlossen«, sagte der Sheriff.

Crompton kramte in seiner Tasche und holte ein Bündel schmutziger Geldscheine hervor. »Nur zwei Minuten.«

»Na ja. Vielleicht läßt sich doch - verdammt!«

Crompton folgte Tylers Blick. Eine Gruppe von Männern kam die staubige Straße herauf.

»Hier sind die Jungs«, sagte Tyler. »Jetzt geht es nicht mehr, selbst wenn ich wollte. Aber Sie können wohl beim Hängen zusehen.«

Crompton trat zurück, um Platz zu machen. Die Gruppe bestand aus mindestens fünfzig Männern, und dahinter tauchten immer wieder Nachzügler auf. Überwiegend waren es hagere, ledrige, verbissene Männer. Die meisten trugen Gewehre oder Revolver bei sich. Sie berieten sich kurz mit dem Sheriff.

»Mach keine Dummheiten«, warnte Loomis.

»Ich kann ja überhaupt nichts tun«, sagte Crompton.

Sheriff Tyler öffnete das Scheunentor. Ein paar Männer gingen hinein und zerrten den Gefangenen heraus. Crompton konnte nicht erkennen, wie er aussah, da sich sofort die ganze Menge um ihn drängte.

Man brachte den Mann aus der Stadt hinaus zu einem Baum, an dessen kräftigstem Ast ein Strick baumelte.

»Hinauf mit ihm!« schrie die Menge.

»Jungs!« hörte man die gedämpfte Stimme Stacks. »Laßt mich reden!«

»Macht endlich Schluß!« rief ein Mann. »Hinauf mit ihm!«

»Meine letzten Worte!« kreischte Stack.

Der Sheriff rief plötzlich: »Laßt ihn reden, Jungs. Es steht ihm zu. Los, Stack, aber ganz kurz nur.«

Sie hatten Dan Stack auf einen Karren gestellt; die Schlinge lag bereits um seinen Hals, das lose Strickende wurde von einem Dutzend Hände gehalten. Endlich konnte Crompton ihn sehen. Fasziniert starrte er sein langgesuchtes drittes Ich an.

Dan Stack war ein großer, muskulöser Mann. Sein grobes, zerfurchtes Gesicht zeigte die Spuren von Leidenschaft und Haß, Furcht und plötzlicher Gewalt, geheimer Trauer und geheimen Lastern. Er hatte breite, geblähte Nasenflügel, einen dicklippigen Mund, gesunde, blitzende Zähne und schmale, hinterhältig wirkende Augen. Struppiges, schwarzes Haar hing in seine gerötete Stirn, und seine flammenden Wangen bedeckten dunkle Bartstoppeln. Sein Gesicht verriet das cholerische Temperament der Luft, hervorgerufen durch zuviel heiße, gelbe Galle, die einen Mann schnell in Wut brachte und ihm die Beherrschung raubte.

Stack starrte zum glühend-weißen Himmel empor. Langsam senkte er den Kopf, und die bronzene Manschette an seinem rechten Stumpf schimmerte rötlich.

»Jungs, ich habe in meinem Leben viel Böses getan.«

»Das erzählst du ausgerechnet uns?« rief jemand.

»Ich war ein Lügner und Betrüger«, schrie Stack. »Ich habe das Mädchen geschlagen, das ich lieb hatte. Ich wollte wehtun. Ich habe meine eigenen Eltern bestohlen. Ich habe die unglücklichen Eingeborenen dieses Planeten getötet. Jungs, ich habe kein gutes Leben geführt!«

Die Menge belachte seine weinerliche Rede.

»Aber ihr sollt wissen«, brüllte Stack, »ihr sollt wissen, daß ich mit meiner sündigen Natur gekämpft und versucht habe, sie niederzuringen. Ich habe mit dem Teufel in meiner Seele gerauft und alles in den Kampf geworfen, was ich an Kraft hatte. Ich trat bei den Vigilanten ein, und zwei Jahre lang war ich so anständig, wie man es nur sein kann. Dann packte mich wieder der Wahnsinn, und ich begann zu töten.«

»Bist du jetzt fertig?« fragte der Sheriff.

»Aber ihr sollt das eine wissen«, kreischte Stack mit weit aufgerissenen Augen. »Ich gebe die Schlechtigkeiten zu, die ich verbrochen habe, ich gebe sie voll und ganz zu. Aber Jungs, ich habe Barton Finch nicht umgebracht!«

»Gut«, sagte der Sheriff. »Wenn du jetzt fertig bist, können wir wohl weitermachen.«

»Hört mich an!« brüllte Stack. »Finch war mein Freund, mein einziger Freund auf der ganzen Welt! Ich versuchte ihm zu helfen, ich habe ihn ein bißchen geschüttelt, damit er zu sich kommen sollte. Und als es nicht klappte, verlor ich den Kopf und zerschlug Moriartys Kneipe und ein paar von den Jungs die Knochen. Aber vor Gott schwöre ich, daß ich Finch kein Haar gekrümmt habe!«

»Bist du fertig?« fragte der Sheriff.

Stack öffnete den Mund, machte ihn wieder zu und nickte.

»Dann los, Leute«, befahl der Sheriff. »Fangen wir an!«

Ein paar Männer schoben den Karren an, auf dem Stack stand. Und Stack, dem hoffnungslose Verzweiflung im Gesicht geschrieben stand, erblickte Crompton.

Und erkannte ihn.

Loomis redete hastig auf Crompton ein. »Paß auf, sei vorsichtig, unternimm nichts, glaube ihm nicht, schau dir doch sein Leben an, erinnere dich an seine Taten, er wird uns ruinieren, in Stücke zerreißen. Er dominiert, er ist gewaltsam, er ist ein Mörder, er ist schlecht.«

Crompton erinnerte sich im Bruchteil einer Sekunde an Dr. Berrengers Ansicht über seine Aussichten auf eine erfolgreiche Reintegrierung.

>Irrsinn - oder Schlimmeres...<

»Völlig verdorben«, sagte Loomis, »schlecht, wertlos, ganz und gar hoffnungslos!«

Aber Stack war ein Teil von ihm! Auch Stack sehnte sich nach der Selbstüberwindung, hatte um Selbstbeherrschung gekämpft, war unterlegen und hatte es wieder versucht. Für Stack mußte es noch Hoffnung geben, wie es sie für Loomis und ihn gab.

Aber sprach Stack die Wahrheit? Oder war die leidenschaftliche Rede ein letzter Versuch gewesen, Aufschub zu gewinnen?

Er mußte Stack Ehrlichkeit unterstellen. Er mußte Stack eine Chance geben.

Als der Karren davonrollte, waren Stacks Augen auf Crompton gerichtet. Crompton traf seine Entscheidung und ließ Stack ein.

Die Menge brüllte, als Stacks Körper vom Karrenrand kippte, sich einen Augenblick entsetzlich wand und dann leblos vom straffgespannten Strick hing. Und Crompton taumelte unter der Wucht des Eintritts von Stacks Ich.

Dann verlor er das Bewußtsein.

Crompton erwachte auf einem Feldbett in einem kleinen, schwach erleuchteten Raum.

»Geht es Ihnen besser?« fragte eine Stimme. Crompton erkannte Sheriff Tyler, der sich über ihn beugte.

»Ja, danke, ganz gut«, erwiderte Crompton automatisch.

»Für einen kultivierten Mann wie Sie ist eine Hinrichtung wohl ein großer Schock. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie jetzt allein lasse?«

»Keineswegs«, sagte Crompton teilnahmslos.

»Gut. Ich muß einiges erledigen.«

Tyler ging. Crompton versuchte, sich über das Geschehene klarzuwerden.

Integrierung. Verschmelzung. Erfüllung. Hatte er sie während der heilenden Bewußtlosigkeit erreicht? Er begann in sich nachzuforschen.

Er fand Loomis halb außer sich vor Angst, sinnloses Zeug von der Orangewüste, den Campingausflügen zum All Diamond-Gebirge, von Frauen, Luxus, Sensationen und Schönheit stammelnd.

Und da war Stack, massiv, unbeweglich, unintegriert.

Crompton sprach mit ihm und erkannte, daß Stack in seiner letzten Rede völlig ehrlich gewesen war. Stack wünschte sich zu ändern, Stack wollte Mäßigung und Selbstkontrolle.

Crompton erkannte aber auch, daß Stack unfähig war, sich zu ändern, Selbstkontrolle und Mäßigung zu üben. Selbst jetzt, ungeachtet seiner Anstrengungen, war Stack von einer leidenschaftlichen Rachsucht erfüllt. Sein Ich polterte wütend, ein tiefer Kontrapunkt zu Loomis' schrillem Gewinsel. Gewaltige Racheträume stiegen in ihm auf, phantastische Pläne, die ganze Venus zu erobern. Etwas gegen die verdammten Eingeborenen zu tun, sie auszurotten, Platz für die Menschen zu schaffen. Diesen verdammten Tyler langsam zu Tode zu foltern. Die ganze Stadt mit Maschinengewehrgarben niederzumähen, später dann zu behaupten, es sei das Werk der Eingeborenen gewesen; eine Truppe entschlossener Männer aufzustellen, eine Privatarmee von Anbetern Stacks, eiserne Disziplin zu halten, keine Schwäche, kein Zögern zu dulden. Die Vigilanten zu beseitigen, und niemand konnte Eroberungen, Morde, Rache, sinnlose Zerstörung, den Terror mehr aufhalten!

Von beiden Seiten angegriffen, versuchte Crompton das Gleichgewicht zu halten, seine Kontrolle über die beiden anderen Ichs auszudehnen. Er bemühte sich, die Fragmente zu einer Einheit zusammenzuschweißen, zu einem stabilen Ganzen. Aber die Ichs wehrten sich, sie dachten nicht daran, ihre Autonomie aufzugeben. Die Trennlinien wurden tiefer, neue Klüfte rissen auf, Crompton spürte, wie seine eigene Stabilität bedroht, seine geistige Gesundheit untergraben wurde.

Dann hatte Dan Stack einen klaren Augenblick.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann nichts dagegen machen. Ihr braucht den anderen.«

»Welchen anderen?«

»Ich habe es versucht«, stöhnte Stack. »Ich wollte mich ändern! Aber es gab zu viele Konflikte in mir. Ich dachte, ich könnte mich selbst heilen. Deswegen teilte ich mich.«

»Du hast was getan?«

»Hörst du denn nicht?« fragte Stack. »Ich war auch schizoid. Das hat sich hier auf der Venus gezeigt. Als ich nach Port New Haarlem zurückkam, besorgte ich mir noch einen Durierkörper und teilte mich. Ich dachte, alles würde leichter werden. Aber ich habe mich getäuscht!«

»Es gibt noch einen von uns!« rief Crompton. »Natürlich können wir uns dann nicht reintegrieren! Wer ist es, wo ist er?«

»Ich habe mich bemüht!« stöhnte Stack, »wie habe ich es versucht! Wir waren wie Brüder, er und ich. Ich dachte, ich könnte von ihm lernen, er war so ruhig und gut und geduldig und gelassen! Ich habe sogar gelernt! Dann wollte er aufgeben.«

»Wer war es?« fragte Crompton.

»Ich versuchte ihm zu helfen, ihn durch Schütteln davon zu befreien. Aber er siechte schnell dahin, er wollte einfach nicht mehr leben. Meine letzte Chance war dahin, und ich verlor ein bißchen den Verstand, ich schüttelte ihn und demolierte Moriartys Kneipe. Aber ich habe Barton Finch nicht umgebracht! Er wollte einfach nicht leben!«

»Finch ist das letzte Fragment?«

»Ja! Du mußt zu Finch gehen, bevor er stirbt, und du mußt ihn aufnehmen. Er liegt in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden. Du mußt dich beeilen.«

Stack verfiel wieder in seine Mordträume, und Loomis stammelte etwas von den blauen Xanadu-Höhlen.

Crompton richtete den Crompton-Körper vom Bett auf und schleppte sich zur Tür. Unten an der Straße konnte er Stacks Laden sehen. >Du mußt ihn erreichen<, sagte er sich, und taumelte auf die Straße hinaus.

Er legte eine Million Kilometer zurück. Er kroch tausend Jahre, Berge hinauf, durch Flüsse, Wüsten, Sümpfe, hinab in Höhlen, die zum Zentrum der Erde führten, und wieder hinaus in unermeßliche Ozeane, die er bis zum fernsten Ufer durchschwamm. Und am Ende der langen Reise kam er zu Stacks Laden.

Im Hinterzimmer lag Finch, die letzte Hoffnung auf Reintegrierung, auf einem Sofa, eine Decke bis zum Kinn hochgezogen. Crompton starrte ihn an und drohte in einer Welle der Hoffnungslosigkeit zu versinken.

Finch lag regungslos da, mit offenen, ins Leere gerichteten Augen, die auf nichts reagierten. Sein Gesicht war das große, weißliche, ausdruckslose Gesicht eines Idioten. Diese sanften Buddhazüge zeigten eine unmenschliche Ruhe, die nichts erwartete, nichts verlangte. Ein dünner Speichelfaden rann von seinen Lippen zum Kinn, und von Zeit zu Zeit schlug sein Herz. Als unzulänglichstes Ich war er der zum Exzeß gesteigerte Ausdruck des erdigen Temperaments Phlegma, das einen Menschen passiv und gleichgültig macht.

Crompton drängte den aufsteigenden Wahnsinn zurück und kroch zum Sofa. Er starrte in die idiotischen Augen und versuchte Finch zu zwingen, daß er ihn ansah, erkannte und sich zu ihm gesellte.

Finch sah nichts.

Er war gescheitert. Crompton erlaubte dem erschöpften, überanstrengten Crompton-Körper, neben dem Bett des Idioten niederzusinken. Teilnahmslos sah er sich auf den Irrsinn zutreiben.

Dann tauchte Stack mit dem verzweifelten Mut des Ertrinkenden aus seinem Rachetraum auf. Gemeinsam mit Crompton zwang er den Idioten, aufzusehen und zu schauen. Und Loomis suchte und fand die Kraft jenseits der Erschöpfung, unterstützte ihre Anstrengung.

Zu dritt starrten sie den Idioten an. Und Finch, gerufen von drei Vierteln seines Ichs, bäumte sich ein letztesmal auf. In seine Augen kam für den Bruchteil einer Sekunde Leben. Er erkannte.

Und trat über.

Crompton spürte die gewaltig hochflutende Geduld und Toleranz Finchs. Die vier Temperamente Erde, Luft, Feuer und Wasser waren endlich vereinigt. Und endlich wurde die Verschmelzung möglich.

Aber was war das? Was geschah jetzt? Welche Macht übernahm die Kontrolle, alles andere beiseitefegend?

Crompton kreischte, versuchte sich mit den Fingernägeln die Kehle aufzureißen, hatte beinahe Erfolg, brach neben Finchs Leiche am Boden zusammen.

Als der Körper auf dem Boden die Augen wieder aufschlug, gähnte er, streckte sich ausgiebig, genoß die Empfindung der Luft, des Lichts und der Farben, war zufrieden mit sich selbst und dachte, daß es auf dieser Welt Arbeit für ihn gab, daß Liebe gefunden werden, ein ganzes Leben gelebt werden konnte.

Der Körper, ehemaliger Besitz von Alistair Crompton, eine Zeitlang bewohnt von Edgar Loomis, Dan Stack und Barton Finch, stand auf. Er begriff, daß er einen neuen Namen für sich finden müßte.

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