Viertes Buch Herbst, 1965

»Wer die Vielfalt sieht und nicht das Eine, der wandert von Tod zu Tod.«

— KATHA UPANISHAD[44]

Kapitel Zweiunddreißig

Er war einer von Hunderten, die an der transalpinen Gleisstrecke arbeiteten.

Sie waren in der Railworkers Union organisiert. Mit TNT sprengten sie sich durchs Gebirge, sie schlugen Brücken über Schluchten, verlegten Gleise. Oder sie waren Ingenieure, Schaffner, Schmierer, Schlosser und Stauer.

Wenn die Arbeit knapp wurde, verschwanden sie für Monate in der Wildnis. Oder in den qualmenden Slums von Tilson und New Pittsburgh am Rhein.

Es waren wortkarge Einzelgänger. Sie hatten keine Freunde, keine Familie. Sie sahen nicht besonders alt aus (ihr Alter war schwer zu schätzen), doch ihr Alter umgab sie wie eine Aura. Ihr Gang sprach von Ökonomie, von einer schrecklichen und sturen Ausdauer.

Karen Wilder kannte diesen Schlag Männer. Sie hatte viele von ihnen erlebt, aber noch nie so viele wie in letzter Zeit.


* * *

Karen bediente am Ausschank des Schaffhausen Grill in Randall, New Inland Territories. Sie war jetzt fünf Jahre hier, hereingeschneit aus einer Zechenstadt in den Pyrenäen, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche und auf Arbeitssuche. Sie machte ihren Job gut und hatte eine sachlich-nüchterne Übereinkunft mit dem Besitzer. Der Koch ließ die Finger von ihr und sie brauchte nicht mit den Kunden nach oben zu gehen. (Was allerdings das kleinere Problem war, seit sie Vierzig geworden war. Die Offerten kamen zwar immer noch, aber nicht mehr so häufig.)

Randall war ein Kaff an der Rhein-Ruhr-Linie. Jeden Tag kamen die großen Güterwaggons hier durch, schwer mit Kohle beladen, die für Tilson, Carver und New Dresden bestimmt war. Unterhalb des Rheinfalls kreuzten sich Binnenautobahn und Trasse. In den letzten paar Jahren war der Schienenkopf enorm vorangekommen. Respektable Familien waren zugezogen. Doch Randall blieb eine Grenzstadt; das Heimstätten- und Auswanderungsgesetz ließ den Strom von Gelegenheitsarbeitern aus den Städten nicht abreißen. Karen empfand die neuen Arbeiter als eine Plage; streitlustig und schnell mit der Faust dabei. Sie zog die Gesellschaft der Langzeitarbeiter vor, auch (oder besonders) der wortkargen.

Als Guilford Law zum ersten Mal hereingekommen war, hatte sie ihn gleich gekannt — nicht den Namen, aber den Typ.

Er war ein Langzeitarbeiter reinsten Wassers. Hager, beinah knochig. Große Hände. Uralte Augen. Karin hätte zu gern gewusst, was diese Augen alles gesehen hatten.

Aber er war nicht gesprächig. Seit anderthalb Jahren war er Stammkunde hier. Er kam abends, aß nicht viel, trank ein bisschen. Karen dachte, dass er sie vielleicht mochte — er richtete immer ein paar Worte an sie, entweder über das Wetter oder die Nachrichten. Wenn er etwas sagte, lehnte er sich zu ihr herüber wie eine Pflanze, die die Sonne sucht.

Doch er ging immer nur mit den Huren nach oben.


* * *

Heute Abend kam es ein bisschen anders.

Mitte September schien der Schaffhausen Grill ausschließlich Ortsansässige anzulocken. Die Sommergäste, Holzarbeiter und Wollschlangenhirten und die Billigtouristen, die mit dem Zug kamen, sie zog es in wärmere Gegenden. Um den Laden zu füllen, hatte der Besitzer eine Jazzband aus Tilson angeheuert, doch die Musiker waren teuer und hinter jedem Weiberrock her gewesen, und der Trompeter hatte die schlechte Angewohnheit gehabt, auf dem Marktplatz in aller Herrgotts Frühe betrunkene Tonleitern zu spielen. Das hatte so nicht weitergehen können, und im September darauf war der Schaffhausen Grill wieder so ruhig, wie er es die meiste Zeit gewesen war.

Dann waren die Langzeitarbeiter aufgetaucht. (Die Alten Männer, wie manche sie nannten.) Anfangs war daran nichts Ungewöhnliches gewesen. Solche Leute kamen und gingen wie eh und je, mieteten ein muffiges altes Zimmer und zogen nach einer Weile weiter. Sie zahlten ihre Rechnungen, keine Fragen, keine Antworten. Sie gehörten zum Leben, wie es die wilden Wollschlangen in den südlichen Hügeln taten.

Doch in letzter Zeit waren manche von diesen Männern ungewöhnlich lange geblieben, und es waren mehr geworden. Sie saßen in Gruppen im Schaffhausen und tuschelten angeregt über Werweißwas und Karens Neugier war geweckt. Böse, wer sich Böses dabei denkt.

Als Guilford Law sich also an die Bar setzte und einen Drink bestellte, schob sie ihm das Glas vor die Nase und sagte: »Haben wir in Randall eine Versammlung oder was?«

Er bedankte sich höflich. Dann sagte er: »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Den Teufel tun Sie.«

Er sah sie lange an. »Karen, richtig?«

»Hmm.« Ja, Mr. War-ein-Jahr-lang-jeden-Abend-hier, so heiße ich.

»Karen, das ist eine heikle Frage.«

»Mit anderen Worten, es geht mich nichts an. Aber irgendwas tut sich.«

»So?«

»Ich hab doch Augen im Kopf. Jede Gleisratte und jeder Holzbock aus den Territorien muss heute Abend hier sein. Irgendwie seht ihr doch alle gleich aus.«

Wie etwas Verhungertes und Erschöpftes, das nicht sterben kann. Aber das behielt sie für sich.

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, er würde sie ins Vertrauen ziehen. Der Ausdruck, der über sein Gesicht huschte, war von solch makelloser Einsamkeit, dass Karen merkte, wie ihre Unterlippe zu beben begann.

Was er sagte, war: »Sie sind ein sehr hübsches Mädchen.«

»Das ist das erste Mal in fünfzehn Jahren, dass jemand ›Mädchen‹ zu mir sagt, Mr. Law.«

»Es wird ein harter Herbst.«

»Ach ja?«

»Möglich, dass Sie mich eine Zeit lang nicht zu Gesicht bekommen. Wissen Sie was? Wenn ich bis zum Frühling wieder zurück bin, dann komme ich Sie besuchen. Ich meine, wenn Ihnen das recht ist.«

»Soll mir recht sein. Im Frühling also. Das ist noch lange hin.«

»Und wenn ich nicht zurückkomme…«

Zurück wovon? Sie wartete.

Doch er trank sein Glas aus und schüttelte den Kopf.


* * *

Hübsches Mädchen, hatte er gesagt.

Von früh bis spät bekam sie ein Dutzend falscher Komplimente gemacht; von Männern, die entweder betrunken oder belanglos waren. Komplimente bedeuteten nichts.

Doch an das, was Guilford Law gesagt hatte, musste sie den ganzen Abend denken. So simpel, dachte sie. Und traurig und komisch.

Vielleicht würde er wiederkommen… und vielleicht würde ihr das ganz recht sein.

Doch heute Abend trank er nur aus und ging alleine nach Haus, wie ein verwundetes Tier. Sie machte ihm Augen. Er blickte in eine andere Richtung.

Kapitel Dreiunddreißig

Um halb fünf verließ Lily das Büro und fuhr mit dem Bus zum National Museum. Der Tag war kalt, klar und frisch. Der Bus war voll von Lohnempfängern, Männern mittleren Alters in Kammgarnanzügen und mit zerdrückten Hüten auf dem Kopf. Niemand von ihnen ahnte, dass ein himmlischer Krieg bevorstand. Was diese Männer nach Lilys Erfahrung im Sinn hatten, war ein Cocktail, dann ein Dinner, dann ein Cocktail nach dem Dinner, Kinder im Bett, das Fernsehen auf einen der zwei nationalen Sender eingestellt und vielleicht noch ein Absacker vor dem Schlafengehen.

Sie waren zu beneiden.

Über den Portalen des Museums hingen prunkvolle Banner:


THE TRANSFORMATION OF EUROPE

Understanding a Miracle


»Wunder.« Das Wort sollte wohl die religiösen Lobbys besänftigen. Im Stillen nannte Lily den Kontinent immer noch so, wie ihn die Hearst-Blätter getauft hatten: Darwinia. Die Ironie war verlorengegangen; die meisten Menschen akzeptierten, dass Europa eine eigene fossile Geschichte hatte, was immer das bedeutete, und sie konnte sich sehr wohl den jungen Charles Darwin vorstellen, wie er in der Rheinmarsch Käfer sammelte und sich den Kopf über Darwinia zerbrach. Wobei ihm wahrscheinlich das eigentliche Mysterium des Kontinents entging.

Aus dem Bus und in die leuchtstoffhellen Gemächer des Museums.

Die Ausstellung war enorm umfangreich. Lily ignorierte den größten Teil und ging schnurstracks auf die Glasvitrine zu, die sich der Finch-Expedition von 1920 und dem kurzen angloamerikanischen Konflikt widmete. Hier waren Exemplare altmodischer Kompasse, Pflanzenpressen und Theodoliten zu sehen sowie eine primitive Gedenktafel, die man Jahre später im Rheinland unterhalb des Bodensees gefunden hatte: In Memory of Dr. Thomas Markland Gillvany. Photographien der Expeditionsmitglieder: Preston Finch, lächerlich steif mit seinem Tropenhelm; der magere Every Keck; der glücklose Gillvany; der arme, zu Tode gepeinigte John Watts Sullivan… Diggs, der Koch, war nicht vertreten, auch Tom Compton nicht, aber da war ihr Vater, Guilford Law, auf Expedition zum Gallatin-River, mit Tagesbart und Flanellhemd, ein junger Mann mit schmutzigen Fingernägeln, krauser Stirn und Boxkamera.

Ihre Fingerkuppe berührte die Vitrine. Seit zwanzig Jahren hatte sie ihren Vater nicht mehr gesehen, nicht mehr seit diesem grässlichen Morgen in Fayetteville, den sie in Erinnerung hatte, als sei die Sonne über einem Meer aus Blut aufgegangen.

Er war damals nicht gestorben. So tödlich die Wunden gewesen waren, so rasch waren sie verheilt. Er hatte im Bezirkskrankenhaus von Oro Delta gelegen, unter Bewachung: Die Bezirkspolizei wollte Aufschluss über den gewaltsamen Tod von Abby, Nicholas, drei Unbekannten und Sheriff Carlyle. Doch er war wieder auf den Beinen gewesen, viel eher, als die Ärzte ahnen konnten; während der Nachtschicht hatte er eine Wache überwältigt und das Krankenhaus verlassen. Man erließ Haftbefehl gegen ihn, aber das war kaum mehr als Kosmetik gewesen. Der Kontinent verschluckte seine Ausreißer mit Haut und Haaren.

Er war immer noch da draußen.

Sie wusste, dass er lebte. Die Alten Männer nahmen von Zeit zu Zeit Verbindung mit ihr auf. Dann berichtete sie ihnen, was sie als Schreibkraft im Büro von Matthew Crane in Erfahrung gebracht hatte — einem von Dämonen besessenen Beamten des Verteidigungsministeriums —, und erkundigte sich gleichzeitig nach ihrem Vater.

Der immer noch da draußen war, um die Apokalypse abzuwenden.

Der Zeitpunkt, versicherten sie, rücke in greifbare Nähe.

Lily blieb vor einem erleuchteten Diorama stehen.

Ein darwinischer Zweifüßer — der lateinische Name war ein Zungenbrecher — zwei Beine, vier Arme, ein Monster, das um die Eiszeit herum auf dem europäischen Flachland gejagt hatte, ein wahres Ungetüm. Das Skelett stand acht Fuß hoch, hatte eine massive, ventrale Wirbelsäule, an der kräftige Muskelbänder anpackten, einen gewölbten Schädel und Zähne wie Faustkeile. Daneben stand eine Rekonstruktion, komplett mit Chitinhaut, Glasaugen und gezähnten Scheren, die einer Wollschlange die Kehle aufrissen.

Ein Ausstellungsstück wie die Photographie von Guilford Law; doch Lily wusste, dass beide noch existierten: ihr Vater und diese Bestien.

»Wir schließen gleich, Ma’am.«

Es war der Nachtwächter, ein kleiner Mann mit Hängebauch und näselnder Stimme und Augen, die weit älter schienen als das übrige Gesicht. Sie wusste nicht, wie er hieß, obwohl sie sich schon oft begegnet waren, immer so wie heute. Er war ihr Verbindungsmann.

Wie immer drückte sie ihm ein Buch in die Hand. Sie hatte es tags zuvor in einer Filiale in Arlington gekauft. Ein populärwissenschaftliches Buch, The Martian Canals Reconsidered,[45] mit den neuesten Aufnahmen aus dem Mount Palomar, die Lily aber nur flüchtig interessiert hatten. Zwischen den Seiten lagen Fotokopien von Dokumenten aus Cranes Büro.

»Das hat wohl jemand liegenlassen«, sagte sie.

Der Wachmann nahm das Buch in seine fleischigen Hände. »Da freut sich das Fundbüro.«

Sie hatten diese Floskeln so oft ausgetauscht, dass sie allmählich das Gefühl hatte, ›Fundbüro‹ sei ein anderer Name für die Alten Männer, die Veteranen, die Unsterblichen.

»Danke.« Sie war so mutig zu lächeln, bevor sie sich umdrehte und zum Ausgang ging.


* * *

Altwerden, dachte Matthew Crane, ist wie Rechtsprechen. Es muss nicht bloß passieren, es muss öffentlich sein.

Er hatte sich eine Reihe Techniken ausgedacht, um sicherzustellen, dass er nicht verdächtig jung erschien.

Einmal im Jahr — jeden Herbst — zog er sich in die Intimsphäre seines marmornen Bades zurück, duschte, trocknete sich ab, setzte sich vor den Spiegel und rupfte sich mit der Pinzette Haare vom Kopf, um einen zurückweichenden Haaransatz zu simulieren. Die Götter waren nicht so mitfühlend, ihm eine Lokalanästhesie zu gönnen, doch inzwischen hatte er sich an den Schmerz gewöhnt.

Als er fertig war, schnitt er sich mit der blanken Rasierklinge ein paar Linien ins Gesicht.

Die Technik war heikel. Es kam darauf an, oft und tief (aber nicht zu tief) zu schneiden. Dieser Bereich am Augenwinkel zum Beispiel. Er musste aufpassen, das Auge nicht zu verletzen, zog die Klinge kräftig nach außen über die Wange. Blut quoll hervor, kurz nur. Abtupfen und wiederholen. Nach dem dritten oder vierten Schnitt ließ sich das sture, unsterbliche Fleisch endlich zu einer dauerhaften Narbe herab.

Eine Kunst für sich.

Auf Uneingeweihte mussten diese Prozeduren natürlich abstoßend wirken. Schneiden, verschmieren, wieder schneiden, wie ein Arzt, der eine Leiche für anatomische Zwecke seziert, ohne ihre Nervenbahnen zu beschädigen. Einmal war er drei Tage mit einer hängenden Lippe herumgelaufen, was eine seiner Assistentinnen zu der besorgten Frage veranlasst hatte, ob er womöglich einen Schlag erlitten habe. Es war eine heikle Arbeit, die Geduld und eine ruhige Hand erforderte.

Er hob die Utensilien in einem Lederetui im Medizinschränkchen auf, Make-Up-Besteck eines Unsterblichen: frische Rasierklingen, Schleifstein, Wattebäusche, Pinzette.

Um die Grobheit einer gealterten Haut vorzutäuschen, benutzte er Schmirgelpapier.

Er bevorzugte Stärke 10 und wandte sie an, bis die Poren blutig waren.

Es lag auf der Hand, dass sich die Illusion nicht unbegrenzt aufrechterhalten ließ. Aber das musste auch nicht sein. Schon bald würde der Krieg eine neue, andere Wendung nehmen; dann war Tarnung überflüssig; in sechs Monaten, einem Jahr… tja, da würde alles anders sein. Soviel hatte man ihm versprochen.

Er beendete die Arbeit mit der Rasierklinge, säuberte sie, spülte die blutigen Rinnsale in den Abfluss, warf die blutigen Wattebäusche ins Klosett und zog ab. Er war mit seiner Arbeit zufrieden und wollte eben das Bad verlassen, als er etwas Seltsames bemerkte. Der Nagel des linken Zeigefingers fehlte. Die Stelle, wo er hätte sein sollen, war leer — eine feuchte, rosarote Delle.

Das war merkwürdig. Er erinnerte sich nicht, den Nagel verloren zu haben. Es hatte offenbar nicht wehgetan.

Er hielt beide Hände vor sich und inspizierte sie mit großem Unbehagen.

Rechts hatten sich zwei weitere Nägel gelockert, am Daumen und am kleinen Finger. Versuchsweise hob er den Daumennagel an. Er löste sich mit einem glibberigen, ekligen Schmatzer und fiel ins Waschbecken, wo er wie ein Käferflügel am feuchten Porzellan hing.

Tja, dachte er. Dasist neu.

Irgendeine Hautkrankheit? Das ging vorüber. Die Nägel würden nachwachsen. So funktionierte das immer. Er war unsterblich.

Doch die Götter mieden dieses Thema.

Kapitel Vierunddreißig

Der letzte Klient von Elias Vale war eine Frau aus der Karibik, die an Krebs starb.

Sie hieß Felicity und war auf Stockbeinen durch den Herbstregen zu Vales schäbiger Praxis in der Coaltown Street in New Dresden gekommen. Sie trug ein loses, geblümtes Kleid, das um ihren ausgemergelten Körper schlotterte. Die Tumoren — so seine Gottheit — hatten bereits Lunge und Darm besiedelt.

Er schloss die Fensterläden und sperrte den Blick auf nasse Straßen, dunkle Gesichter, Fabrikschlote und sauren Regen aus. Felicity, siebzig Jahre alt, seufzte erleichtert auf. Als sie zum ersten Mal in sein zerstörtes Gesicht geblickt hatte, war sie erschrocken gewesen. Und das war gut so, dachte Vale. Angst und Ehrfurcht wohnten dicht beisammen.

Felicity fragte mit einer matten Stimme, die sich aber den Klang von Spanish Town[46] bewahrt hatte: »Werde ich sterben?«

Sie brauchte kein Medium für diese Diagnose. Jeder aufrichtige Laie hätte auf Anhieb gewusst, dass sie starb. Ein Wunder, dass sie es geschafft hatte, die Treppe zu Vales Praxis zu erklimmen. Natürlich war sie nicht hergekommen, um die Wahrheit zu hören.

Er setzte sich hinter den kleinen Holztisch, der mit dem kurzen Bein auf einem Buch mit astrologischen Tabellen stand. Die gelben Augen von Felicity glitzerten im wässrigen Licht. Vale reichte ihr die Hand. Seine Hand war weich gepolstert. Die ihre mager, eine blasse, pergamentene Handfläche. »Ihre Hand ist warm«, sagte er.

»Ihre ist kalt.«

»Warme Hände sind ein gutes Zeichen. Das ist das Leben, Felicity. Fühlen Sie nur. Das sind die Tage, die Sie durchlebt haben, das alles fließt durch Ihren Körper wie Elektrizität. Spanish Town, Kingston, das Schiff nach Darwinia… Ihr Mann, Ihre Kinder, sie alle sind dort, all Ihre Tage unter dieser Haut.«

»Wie lange habe ich noch?«, sagte sie unbeirrt.

Vales Gottheit hatte kein Interesse an dieser Frau. Sie war nur so viel wert, wie er für die Konsultation bekam. Sie existierte, um seine Barschaft aufzubessern, bevor er auf den Zug nach Armageddon sprang.

Mit oder ohne Gepäck.

Doch sie tat ihm Leid.

»Fühlen Sie diesen Fluss, Felicity? Diesen Strom von Blut? Strom von Eisen und Luft, der sich aus dem Innersten des Hochgebirges ins Delta Ihrer Finger und Zehen ergießt?«

Sie machte die Augen zu, zuckte schwach unter dem Druck auf ihrem Handgelenk. »Ja«, flüsterte sie.

»Das ist ein starker, alter Fluss, Felicity. Ein Fluss, so breit wie der Rhein.«

»Wo fließt er hin?«

»Ins Meer«, sagte Vale sanft. »Jeder Fluss fließt ins Meer.«

»Aber… noch nicht?«

»Nein, noch nicht. Dieser Fluss ist noch nicht ausgetrocknet.«

»Ich fühle mich so schlapp. Manchmal komme ich morgens gar nicht aus dem Bett.«

»Sie sind keine junge Frau mehr, Felicity. Denken Sie an die Kinder, die Sie großgezogen haben. Michael baut Brücken im Gebirge und Constance, deren Kinder schon fast erwachsen sind.«

»Und Carlotta«, murmelte Felicity, die traurigen Augen geschlossen.

»Und die kleine Carlotta, rund und schön wie der Tag, an dem sie starb. Sie wartet auf Sie, Felicity, aber sie ist nicht ungeduldig. Sie weiß, die Zeit ist noch nicht gekommen.«

»Wie lange noch?«

»Alle Zeit der Welt«, sagte Vale. Was nicht mehr viel war.

»Wie lange?«

Die Eindringlichkeit ihrer Stimme war ernüchternd. In diesem Sack aus Knochen und verseuchtem Gewebe steckte noch eine starke Frau.

»Zwei Jahre«, sagte er. »Vielleicht drei. Lange genug, um zu erleben, wie die Kleinen von Constance sich selbständig machen. Lange genug, um zu tun, was getan werden muss.«

Sie tat einen Seufzer, einen langen Seufzer der Erleichterung und Dankbarkeit. Ihr Atem roch wie die Metzgerei auf der Hoover Lane, in deren Fenster die ausgeweideten Ziegen wie Christbaumschmuck hingen. »Danke. Danke, Doktor.«

Sie würde diesen Monat nicht überleben.

Er faltete die Scheine in sein Portemonnaie und half ihr die Treppe hinunter.


* * *

Der Rangierbahnhof von New Dresden war ein weitläufiges, rußiges Ödland, das von grellen Industrielampen auf Stahlmasten beleuchtet wurde. Hinter den Langhäusern ragten die Wolkenkratzer der City wie nasse Grabsteine in den Himmel.

Vale trug dunkle Kleidung. Sein Sportbeutel enthielt ein paar Habseligkeiten, das Geld war um die Taille geschnallt und im Hosenbund steckte eine Pistole.

Er kroch durch eine kaputte Stelle im Maschendraht und richtete sich mit durchweichten Hosenknien auf. In dem dicht gepackten Boden aus Dreck, Asche und Kohle hatten sich bunt schillernde Regenpfützen gebildet. Fast eine Stunde lang hatte er frierend ausgeharrt, während ein Inlandzug auf das nächste Gleis geschoben wurde. Jetzt fuhr die Diesellok an, die Scheinwerfer fraßen sich durch die vom Regen schraffierte Nacht.

Los, dachte Vale. Lauf!

Er spürte, wie ihn die Gottheit drängte, doch es ging ihr nicht um diesen speziellen Zug. Die Geschichte der Menschheit schraubte sich zum Nullpunkt hinunter, schneller vielleicht, als die Götter erwartet hatten. Es gab Arbeit für ihn. Er war nicht von ungefähr an diesen trostlosen Ort gekommen.

Er schleuderte seinen Beutel durch die Aussparung eines offenen Güterwagens und warf sich hinterher. Er landete, rollte und renkte sich die Finger der linken Hand nach hinten. »Shit«, zischte er und setzte sich gegen die Wandlatten. Der Wagen war finster und stank nach modrigem Heu und nach Wollschlangen und Rindern, deren Tod besiegelt war. Die Lichter des Rangierbahnhofs blitzten vorbei.

Er war nicht allein. In der Ecke gegenüber kauerte ein Mann, er war mit jedem Lichtblitz deutlich zu sehen. Vales Hand näherte sich instinktiv der Pistole. Dann sah er, dass der Mann alt war, alt, heruntergekommen, hohläugig und besoffen von Aftershave oder Antiseptikum. Lästig vielleicht, aber ungefährlich.

»He, Fremder«, sagte der Alte.

»Lass mich in Frieden«, sagte Vale schroff.

Er spürte die Bürde der Jahre. Seit Washington hatte er viele anonyme Jahre verbracht, hatte sein Leben in Randbezirken von zu vielen Städten gefristet: New Orleans, Miami, Jeffersonville, New Pittsburgh, New Dresden. Er hatte ein paar Dinge gelernt, die den Göttern von Nutzen waren, und er hatte immer zu essen und ein Dach über dem Kopf gehabt, auch wenn er zeitweise arm gewesen war. Man hatte ihn vermutlich in Reserve gehalten, in Wartestellung für den finalen Aufruf, die Posaune des Jüngsten Gerichts, den Aufstieg der Götter über die Menschheit.

Und da war immer die Angst gewesen: Was, wenn es nie zu dieser Schlacht kam? Was, wenn er verdammt war zu einem endlosen Kreislauf aus schäbigen Zimmern, den Bekenntnissen impotenter Männer und todgeweihter Frauen und trauernder Ehemänner, dem seichten Trost aus Billigschnaps und türkischem Heroin?

Bald, flüsterte seine Gottheit. Oder war es nur seine innere Stimme? In letzter Zeit war ihm diese Unterscheidung abhanden gekommen.

Bald. Bald.

Der Zug ratterte tief ins Land hinein, vorbei an tropfenden Moscheebäumen und Salbeikiefernwäldern, über Stahlbrücken, an denen sich der Herbstnebel niederschlug, nach Osten, den wilden Osten, gen Armageddon.


* * *

Er erwachte unter einer Flut von Sonnenschein, der Landstreicher stand über ihm. Vale floh auf allen Vieren vor dem übel riechenden Alten und griff nach seiner Pistole.

Der Landstreicher wich zurück, hielt die schmutzigen Hände beschwichtigend hoch. »Nichts passiert! Nichts passiert!«

Der Zug klapperte durch taghellen Wald. Hinter der Aussparung des Wagens floss am Fuß eines Berghangs ein moosgrüner Fluss.

»Bleib einfach auf Abstand«, sagte Vale.

»Du hast dir die Hand verletzt, Bruder«, sagte der Landstreicher.

»Mein Problem.«

»Sieht schlimm aus.«

»Wird schon wieder.« Er hatte sich die Hand verstaucht, als er letzte Nacht auf den Zug gesprungen war. Sie tat nicht weh. Ein bisschen komisch sah sie schon aus.

Vier der fünf Fingernägel fehlten. Die Nagelbetten waren bleich und… Er hatte so was noch nie gesehen.

Kapitel Fünfunddreißig

Sie kamen von der Küste und aus dem Hinterland, aus Tilson und Jeffersonville und New Pittsburgh und hundert kleineren Städten; aus den Alpen, den Pyrenäen, aus allen Himmelsrichtungen der Territorien. Sie kamen zusammen, eine heimliche Armee, wo Straßen auf Bahntrassen stießen, in einem Dutzend Dörfer und namenlosen Wirtshäusern an den Verbindungsstraßen. Sie trugen Waffen: Pistolen, Gewehre, Schrotflinten. In Randall und Perseverance, den Schienenköpfen, trafen Kisten mit Munition ein und wurden mit Lastwagen und Lieferwagen auf die Arsenalzelte tief im Wald verteilt. Artilleristen trafen ein, als Farmer getarnt, die Feldartillerie unter Heuballen versteckt.

Guilford Law hatte das letzte Jahr als Kundschafter gedient. Er kannte sich aus in diesen Bergen und Tälern. Er folgte seinem eigenen Pfad zum Hort der Dämonen und musterte den Wald, forschte nach Spuren des Feindes.

Das Wetter war klar, kühl und stabil. Die Moscheebäume behielten ihr spitzes Laub, es färbte sich lediglich grau. Der Waldboden, ein bunt schimmelnder Mulch aus pflanzlichem Gewebe, verschluckte jede Spur. Er wanderte durch ein Schattenreich, das nach Zimt duftete, zwischen dünnen Fingern aus Sonnenlicht. Er trug eine knielange Jacke aus Wurmleder und darunter ein Sturmgewehr.

Die Dämonenstadt war nirgends verzeichnet. Die öffentlichen Straßen kamen ihr nicht zu nahe. Messtischblätter und Luftbildkarten ignorierten sie und weder Land noch Klima waren geeignet, Siedler oder Holzfäller in Versuchung zu führen. Privatflugzeuge, besonders die kleinen, in den Territorien beliebten Wasserflugzeuge Marke Winchester, überflogen sie gelegentlich, doch die Piloten sahen nichts Ungewöhnliches. Nachdem die Finch-Expedition das bewaldete Tal beinah publik gemacht hätte, war es in den Jahren darauf aus der menschlichen Wahrnehmung entfernt worden. Es war unsichtbar für menschliche Augen.

Nicht für Guilfords Augen.

Gib jetzt Acht, ermahnte er sich. Das Land stieg in einer Reihe dünn bewaldeter Kämme bergan. Diese uralten Felsgrate zu überqueren, wäre allzu leichtsinnig gewesen.

Er näherte sich der Stadt, vielleicht nicht zufällig, von derselben Seite, von wo er sie vor fast fünfzig Jahren zum ersten Mal erblickt hatte.

Aber nein, er hatte sie schon früher gesehen… in der Blüte ihrer Jahre, vor mehr als zehntausend Jahren, als die Granitblöcke noch frisch aus dem Urgestein geschlagen waren, die Alleen noch bevölkert waren mit den Inkarnationen der Psionen, schwer gepanzerten Zweifüßern, dem Ergebnis einer Evolution, in der die Wirbellosen einen längeren Weg bis zur Erfindung der Wirbelsäule zurückgelegt hatten, einer Evolution, die, hätte das galaktische Bewusstsein nicht interveniert, die Erde völlig vertilgt hätte. Halb verlorene Schlachten, dachte Guilford, halb gewonnene Schlachten. Mitten in diesem neuen Europa hatten die Psionen ein Loch im Mantel des Planeten gelassen, einen Brunnen, eine Maschine, die direkt mit den Freigabecodes des Archivs kommunizierte und aus der zu gegebener Zeit — schon bald — die Psionen wieder auftauchen würden, um die Erde zu bevölkern… nur um sie zu vertilgen.

Diesen Planeten und Millionen anderer archivierter Planeten.

Jetzt und in der Vergangenheit und in der Zukunft.

In gewisser Hinsicht waren es Guilfords Erinnerungen, sie waren allerdings vage, flüchtig und unvollständig. Er war sich seiner Grenzen bewusst. Er war ein zerbrechliches Gefäß. Er fragte sich, ob er überhaupt fassen konnte, was der göttliche Guilford ihm einschenken würde.

Er lag bäuchlings über dem Tal und sah die Stadt durch einen Schirm aus Nesselgras. Er hörte den Wind durch die Halme fahren, spürte Billyfliegen zwischen den Armhaaren. Er lauschte seinem Atem.

Die Dämonenstadt erwachte zu neuem Leben.

Die Psionen waren noch nicht aus dem Brunnen gestiegen, doch die Straßen waren wieder bevölkert, diesmal von Männern, die von Dämonen besessen waren. Noch mehr Kriegskameraden, dachte Guilford. Wie die Alten Männer, die sich in den Wäldern sammelten, waren auch sie bei Ypres oder an der Marne oder auf See ums Leben gekommen — gestorben in der einen, lebendig in einer anderen Welt. Sie waren Transportkanäle zwischen dem Archiv und seiner Ontosphäre. Da es ihnen an Bewusstsein fehlte, waren sie perfekte Vehikel für die Psionen. Sie waren die Verteidiger der Dämonenstadt und verfügten über eigene Waffen. Seit Monaten trafen sie einzeln oder zu zweit hier ein.

Guilford zählte die Zelte und versuchte Schützengräben und Artilleriestellungen auszumachen. Klarer, zarter Sonnenschein warf Wolkenschatten über die Stadt. Die zentrale Kuppel, in welcher sich der Brunnenschacht befand, war freigelegt worden. Er war jetzt deutlich zu sehen, aus der teilweise eingestürzten Kuppel stieg eine Dunstfahne in den herbstlichen Nachmittag.

Guilford nahm sein Notizbuch und machte sich Skizzen: die Lage der Schützengräben, Schwachstellen, mögliche Einfallstraßen an den bewaldeten Talhängen. Denen läuft die Zeit davon, überlegte er. Die Turingmaschinen hatten gute Arbeit geleistet. Die waren im Rückstand.

Aber die Verteidiger hatten sich gut verschanzt, in konzentrischen Ringen aus Gräben und Stacheldraht rings um die Zentralkuppel bis an den zerfallenen Rand der Stadt.

Es würde kein Spaziergang werden.

Den ganzen Nachmittag über beobachtete er die Stadt, aber mehr gab es nicht zu sehen… nur diese Straßen, die wie Sonnenuhren die Stunden der Erde zählten.


* * *

Er kehrte so umsichtig zurück, wie er hergekommen war. Die Schatten zwischen den Bäumen sammelten sich zu Tümpeln. Er ertappte sich dabei, wie er an Karen dachte, das Barmädchen im Schaffhausen Grill in Randall. Was fand sie an ihm? Ich bin alt wie Leder, dachte Guilford. Lieber Gott, ich bin ja kaum mehr ein Mensch.

Trotzdem, es war verlockend, an menschliche Wärme zu denken… es war verlockend; auch wenn das alles nach Sentimentalität und Schmerz roch.

Als er das Camp erreichte, war es schon dämmrig. Die Mahlzeit bestand aus einer Dosenration, die wahrscheinlich aus einer Fracht abgezweigt war, deren Bestimmungshafen im Chinesischen Meer lag. Der Wald wimmelte von uralten Männern: Geistersoldaten, wie manche sich nannten. Das hier war eine Infanterieeinheit und Tom Compton war ihr Kommandeur. Tom saß am Ufer eines steinigen Baches, schmauchte seine Pfeife und starrte sinnend in das scheidende Blau des Abends.

Immer wenn Guilford den Grenzer zu Gesicht bekam, erlebte sein geistiges Auge eine Art Doppelbelichtung: Tom war mit ihm am Bois Belleau gewesen, ihr Bataillon war im langsamen Gleichschritt ins feindliche Feuer marschiert, zwei blutjunge Amerikaner, fest entschlossen, die Boches genauso in die Flucht zu schlagen, wie ihre Großväter es mit den Truppen von Jeff Davis[47] getan hatten; sie konnten nicht recht an die Kugeln glauben, die ihre Linien wie mit einer unsichtbaren Sense dezimierten…

Andere Erinnerungen, andere Feinde: Tom und Lily und Abby und Nick…

Wir haben unsere Unschuld verloren, dachte Guilford. Wir riechen nach Blut.

Er berichtete, was er gesehen hatte.

»Das Wetter scheint mitzuspielen«, sagte der Grenzer. »Morgen zumindest. Viel helfen wird uns das nicht.«

»Wir rücken aus? Diese Nacht?«

»Die Munitionswagen rollen schon. Viel Schlaf ist nicht mehr drin.«

Kapitel Sechsunddreißig

Nach nunmehr fünfzehn Jahren, die sie im Verteidigungsministerium arbeitete, ging Lily davon aus, Matthew Crane zu kennen.

Er war ein ziviler ›Berater‹, der die meiste Zeit darauf verwandte, mit Kongressinspektoren zu lunchen und seinen Namen unter Duplikate von Kopien irgendwelcher Bewilligungsschreiben zu setzen. Er war groß, hager, hatte ein einnehmendes Wesen und gute Beziehungen. Sein Stab von drei Sekretärinnen und einem halben Dutzend Assistenten war nicht überbeansprucht. Sein Gehalt war großzügig.

Er war natürlich von Dämonen besessen, und Lilys eigentliche Arbeit hatte darin bestanden, Mr. Matthew Crane zu observieren und ihr Wissen gelegentlich an die Alten Männer weiterzugeben. Sie hatte keine Ahnung, wie nützlich oder wichtig ihre Beobachtungen waren. Vielleicht würde sie es nie erfahren. Ihre größte Sorge war, anderthalb Jahrzehnte mit kleinkarierter Spionage zugunsten einer finalen Schlacht zu vergeuden, die sie nicht mehr erleben würde, weil die Vorlaufphase womöglich eine halbe Ewigkeit in Anspruch nahm.

Sie war Fünfzig, hatte nie geheiratet und diesen Schritt höchst selten in Betracht gezogen. Sie hatte sich mit ihrer Einsamkeit arrangiert. Dieser Status hatte sein Vorzüge.

Und wie das Schicksal es wollte, hatte sie im Laufe der Jahre eine gewisse Sympathie für Matthew Crane entwickelt. Er war zuvorkommend, reserviert und pünktlich. Er trug maßgeschneiderte Anzüge und war, was seine Kleidung betraf, äußerst pedantisch, ja geradezu eitel. Sie hatte unter der Glasur aus vollkommener Selbstbeherrschung eine Spur von Unsicherheit entdeckt.

Und er war, zumindest teilweise, eine berechnende, mitleidslose und ganz und gar unmenschliche Kreatur.

An diesem Morgen war er ungekämmt und derangiert ins Büro gekommen, den linken Arm an den Leib gepresst, und huschte wortlos an seinen Sekretärinnen vorbei. Lily wechselte einen besorgten Blick mit Barb und Carol, den jüngeren Kolleginnen, sagte aber nichts.

Der einen Frage war sie immer aus dem Weg gegangen: Was, wenn er mir auf die Schliche kommt? Diese Angst nagte schon lange an ihr. Crane konnte charmant sein. Aber Gnade vor Recht ergehen zu lassen, war nicht seine Art.


* * *

Allein in seinem Büro, zog Matthew Crane den Rock aus, streckte den Arm über die lackierte Schreibtischplatte und krempelte den Hemdsärmel hoch. Er stellte einen Löscher unter den Ellbogen, um das Blut aufzusaugen, das unaufhörlich tropfte.

Er war gegen den Springbrunnen im Foyer gestolpert und hatte sich irgendwie die Haut am linken Unterarm aufgeschrammt. Die Wunde blutete. Das war ihm ebenso unwillkommen wie neu. Es war lange her, dass Crane mehr von seinem Blut gesehen hatte als in einen Fingerhut passte.

Vorausgesetzt das war sein Blut. Es schien nicht ganz in Ordnung zu sein. Erstens war es der falsche Rotton. Ein schmutziges Ziegelrot, beinah braun. Mit winzigen Blitzern darin wie von Glimmer. Zum anderen war das Blut dickflüssig wie Honig; und es roch entfernt (vielleicht doch nicht so entfernt) nach Ammoniak.

Blut, überlegte Matthew Crane fieberhaft, hätte so nicht sein dürfen.

Die Wunde war ein Witz, nicht mehr als eine Abschürfung, nur dass sie keine Anstalten machte, im Handumdrehen zu verheilen, und das entblößte Fleisch weniger an zünftiges Menschengewebe erinnerte als an die blutenden Waben eines Wespennestes.

Er rief Lily auf der internen Leitung an und bat sie, sich aus der Sanitätsstube Verbandswatte und eine Mullbinde schicken zu lassen. »Und, bitte, machen Sie keinen Wirbel — ich habe lediglich eine Schramme.«

Ein Moment des Schweigens. »Ja, Sir«, sagte sie.

Crane legte den Hörer zurück. Ein Tropfen Blut fiel auf die Hose. Es roch jetzt stärker. Wie irgendein Toilettenreiniger.

Er atmete mit entspannter Bauchdecke und besah sich seine Hände. Die Finger sahen aus wie die eines Säuglings, rosa und unfertig. Die letzten Nägel waren diese Nacht abgefallen. Er hatte sie gesucht, kindisch, aufgeregt, hatte sie aber nicht finden können zwischen dem rosarot gefleckten Bettzeug.

Die Zehennägel hatte er noch. Ein Schuh verliert nichts. Er konnte sie fühlen, sie waren lose und verfingen sich in den Argyll-Socken.

Augenblicke später kam Lily mit dem Verbandszeug und einer Flasche Desinfektionsmittel. Er hatte vergessen, den Arm wieder zu bedecken, und sie glotzte auf die Wunde. Sie wird hysterisch, dachte Crane, wenn sie näher hinschaut. Er bedankte sich und bat sie zu gehen.

Er schüttete Jod auf die Wunde und tupfte den Überschuss mit der Kopie eines Sitzungsprotokolls vom Schreibtisch. Dann legte er die Watte auf, wickelte die Stelle kreuz und quer und streifte den blutbraunen Ärmel darüber.

Er brauchte ein neues Hemd. Was nun? Sollte er Lily zu einem Herrenausstatter schicken?

Irgendwas war schiefgelaufen, das sagten ihm nicht nur seine Nägel und die Wunde und das nervtötende Schweigen seiner inwendigen Gottheit. Crane spürte es buchstäblich in den Knochen. Alles tat ihm weh. Ihm war, als verwerfe sich der Erdmantel, als höre er das Getriebe krachen, das die materielle Welt in Gang hielt.

Die Vorboten der Schlacht, dachte er, der Augenblick des Triumphs naht, ein neues Zeitalter bricht an; wie Magma werden sich die Götter aus dem verborgenen Tal in Europa ergießen und aus den Gebeinen der Barbaren ihre Paläste errichten, und er, Crane, würde unsterblich sein und in alle Ewigkeit seine Baronie regieren, die eroberte Erde…

So hatte es seine Gottheit versprochen.

Was war schiefgelaufen?

Vielleicht gar nichts. Nur dass er, Crane, auseinanderfiel.

Er hielt seine nagellosen Finger in die Höhe, zehn plumpe, rosarote Würstchen.

Auf dem Schreibtisch lag eine Schicht von Haaren.


* * *

Diesen Morgen blieb Matthew Crane in seinem Büro und ließ alle Termine absagen. So oft, wie er Lily anrief, hätte er längst verblutet sein müssen; er verlangte neue Mullwickel, Mopp und Eimer, einen ganzen Beutel Verbandswatte. (»Schnell«, als es um den Beutel ging. »Und seien Sie um Himmels willen diskret.«)

Gut gesagt, dachte Lily, wenn man flaschenweise Pine-Sol beim Hausmeister erbetteln muss.

Crane nahm alles durch einen Türspalt entgegen, der schmäler nicht hätte sein können; Lily durfte nicht hinein. Doch selbst aus dem Spalt schlug ihr beißender Geruch entgegen, eine Mischung aus Ammoniak, Bleichmittel und Nagellackentferner. Barb und Carol rümpften die Nase, starrten auf ihre Schreibmaschine und sagten kein Wort.

Pünktlich um halb fünf verließen die beiden das Büro. Lily räumte eben ihren Schreibtisch auf, als der Apparat schnurrte. Sie war allein in dem geräumigen Außenbüro; Teppichboden, Deckenvertäfelung und versenkte Lampen dämpften den Hall. Hinter dem einzigen Fenster ließ das Tageslicht bereits nach. Ihr Gummibaum ließ die Flügel hängen.

Heb jetzt nicht ab, dachte Lily. Nimm einfach deine Handtasche und geh.

Doch die Person, die sie so akribisch erschaffen hatte, diese pflichtbewusste Drohne, die ungeliebte Frau mittleren Alters, die mit ihrer Arbeit verheiratet war — diese Person würde ihren Chef nicht ignorieren.

Ihr ging durch den Kopf, was Guilford bei ihrem kurzen Aufenthalt in Fayetteville über Großvater erzählt hatte. Großvater war Drucker gewesen, in Boston, und er war so sehr mit seinem Pflichtgefühl verwachsen gewesen, dass er bei dem Versuch, seine Werkstatt zu erreichen, erschlagen worden war — dabei hatte die Werkstatt seit einem Monat keinen zahlenden Kunden mehr gesehen und die Hungertumulte in der Stadt waren in vollem Gange gewesen.

He, Großvater, dachte Lily. Ging es dir genauso, als du dich gegen den Mob gewehrt hast?

Sie hatte den Hörer schon in der Hand. »Ja?«

»Bitte kommen Sie in mein Büro«, sagte Matthew Crane.

Die Stimme klang heiser und schwerfällig. Lily blickte auf die geschlossene Innentür. Sie ahnte nichts Gutes.

Kapitel Siebenunddreißig

An der Spitze seiner blutigen Spur, die er auf dem Lehmboden unter den Salbeikiefern hinterließ, näherte sich Elias Vale der heiligen Stadt.

Die raue darwinische Wildnis war nicht sein Fall. Die Gottheit lenkte seine Schritte, hatte ihn vom Verschiebebahnhof in Perseverance über primitive Zechenanlagen, unbefestige Straßen und Kieswege in die unerschlossene Wildnis geführt. Sie ließ ihn einen weiten Bogen machen um die ausgebleichten Knochenriffe der Insektenatolle, ließ ihn Quellwasser finden und Unterschlupf in den kalten, klaren Herbstnächten. Und sie war es vermutlich auch, die ihm dieses Gefühl von Entschlossenheit, Unversehrtheit und Gewissheit einflößte.

Bis auf den Tag hatte sie ihm nicht erklärt, warum er so plötzlich seine Haare und Nägel verlor oder wieso seine unsterbliche Haut beim kleinsten Kratzer aufplatzte und abhanden kam. Seine Arme waren übersät von nässenden Wunden, die Schultern pochten vor Schmerzen; sein Gesicht — das er zuletzt in einem eiskalten Tümpel gesehen hatte — schien an den Narben auseinanderzufallen. Seine Kleidung war steif von getrockneten Absonderungen. Ein stechender, chemischer Gestank ging von ihm aus.

Vale erklomm einen bewaldeten Hang, seine rosarote Wurmspur auf dem trockenen Erdreich hinterlassend, die Erregung drohte ihn zu verbrennen: Nicht mehr weit, raunte die Gottheit, und als er auf dem Hügelkamm stand, blickte er in das verborgene Tal hinab und sah sie geheimnisvoll glitzern, die Stätte seiner Erlösung, die heilige Stadt, gewaltig und majestätisch und uralt, lange verwaist und zu neuem Leben erwacht, voller gottesfürchtiger Menschen. Unter dem eingestürzten Dom pochte immer noch das Herz der Stadt, der Born der Schöpfung. Sogar aus dieser Entfernung konnte Vale die Stadt riechen, es war ein mineralischer Duft nach Tau und Sonnenlicht auf kaltem Granit, und Vale wollte weinen vor Dankbarkeit, Demut und Begeisterung. Ich bin zu Hause, dachte er, zu Hause nach zu vielen Jahren in zu vielen lichtlosen Slums und düsteren Gassen, endlich zu Hause.

Voller Freude lief er den bewaldeten Hang hinunter, atemlos aber behände, bis an den Stacheldrahtwall, wo ihn Männer seinesgleichen, Plasma blutende Halbgötter, wortlos empfingen.

Wortlos, weil Worte überflüssig waren, und weil manche nicht hätten reden können, selbst wenn sie es gewollt hätten, weil nämlich ihre Gesichter aus verfaultem Pappmaschee hätten sein können. Aber sie waren seine Brüder und Vale war überglücklich, sie zu sehen.

Man gab ihm ein Sturmgewehr und Munition, zeigte ihm, ungeachtet seiner schwärenden Schulter, wie man beides zu tragen hatte und wie man die Waffe lud, entsicherte und damit schoss, und als die Sonne schon tief stand, brachte man ihn zu einer Ruine, die als Schlafsaal diente. Tief in der steinernen Dunkelheit legte Vale sich auf eine dünne Matratze, eingehüllt vom Gestank nach sterbendem Fleisch und Azeton und Ammoniak und dem feinen Aroma der Stadt. Irgendwo tropfte Wasser von Stein auf Stein. Die Musik der Erosion.

Der Schlaf wollte sich nicht einstellen und als er sich einstellte, träumte Vale. Die Träume waren Alpträume aus Ohnmacht, aus dem Gefühl, im eigenen Körper gefangen zu sein und zu ersticken, elend zu ertrinken in den Sekreten des eigenen Fleisches. In seinen Träumen verzehrte Vale sich nach einem anderen Zuhause, es war nicht die heilige Stadt, sondern ein Zuhause, das ihm vor langer Zeit entglitten war…

Er wachte auf und bemerkte, dass sein Leib mit feinen, grünen Pusteln bedeckt war. Die Struktur erinnerte an gekörntes Leder.


* * *

Er verbrachte den Tag auf einem improvisierten Schießplatz, zusammen mit denjenigen unter seinen stummen Gefährten, die noch in der Lage waren, ein Gewehr zu halten und damit umzugehen.

Die anderen — deren Hände gezackte Scheren waren, deren Leiber von Krämpfen geschüttelt wurden, deren Wirbelsäule gewachsen war und neue Fortsätze trieb —, sie heckten anderes aus.

Nicht zuletzt durch das beredte Schweigen seiner Gottheit begann Vale das eine oder andere zu verstehen: Diese organischen Veränderungen waren gottgewollt, kamen aber verfrüht, provoziert durch Sabotage in den Gefilden der Götter.

Die Götter waren mächtig aber nicht allmächtig; wissend aber nicht allwissend.

Deshalb brauchten sie seine Hilfe.

Und es war ein Vergnügen zu dienen, auch wenn ein Bruchteil von ihm gegen die Gefangenschaft anschrie, auch wenn er sich von Zeit zu Zeit schmerzlich nach jenem Teil von sich sehnte, der nichts weiter als menschlich war.


* * *

Niemand redete in der heiligen Stadt, obwohl ein paar Männer noch im Schlaf schrien. Es war, als hätten sie ihre Sprache in den Wäldern hinter den Stacheldrahtwällen gelassen. So viele Männer, so viele Gottheiten, und alle diese Götter waren letztlich ein Gott, wozu musste man sich da unterhalten?

Doch der Teil von Elias Vale, der sich nach der verlorenen Menschlichkeit sehnte, vermisste auch den Klang der menschlichen Sprache. Das Stottern des Gewehrfeuers und das Klatschen der Schritte verhallten in den steinernen Straßen zu melancholischer Stille, und selbst die lautlose Stimme seiner Gedanken wurde immer leiser und konfuser.

Als er am nächsten Tag aufwachte, hatte er eine neue Haut, waldgrün und glänzend wie Schellack, nur an den Gelenken trat noch eine blasse, weißliche Flüssigkeit aus.

Er legte den Rest der stinkenden Kleidung ab. Die heilige Stadt kannte kein Schamgefühl.


* * *

Auch keinen Hunger.

Er würde essen müssen, eine Menge zu guter Letzt, um die mageren Zeiten auszugleichen. Aber später erst.

Trinken musste er allerdings reichlich. Man hatte ein Rohr gelegt, das Wasser vom Fluss abzweigte, und aus der Mündung am Stadtrand ergoss sich ein gleichmäßiger Strom in die Straßen, um in den Rissen und Löchern zu versickern. Das Wasser war kalt und schmeckte nach Fels und Kupfer. Vale trank eimerweise davon; dasselbe taten die anderen Männer.

Wenn es denn noch Männer waren. Sie wurden ganz offensichtlich etwas anderes. Ihre Körper machten einen radikalen Wandel durch. Manchen war ein zweites Paar Arme gewachsen, kleine Stummel, die aus der veränderten Rippenmuskulatur traten, mit winzigen Fingerchen, die blind ins Leere griffen.

Er trank, brauchte aber nicht zu urinieren. Der neue Körper nutzte das Wasser effizienter, und das war gut so. Denn irgendwann diese Nacht hatte er seinen Penis verloren. Das Ding hatte wie ein brandiger Daumen dagelegen; es lag noch da.

Vale vermied es, darüber nachzudenken. Es hätte seine Euphorie gestört.

Die herbstliche Luft war kühl und erquickend.


* * *

Elias Vale hatte viel prophezeit, Richtiges und Falsches. Wie durch Champagner hindurch hatte er in menschliche Seelen geblickt und lauter Dinge gesehen, die dort schwammen oder schwebten. Für die Götter war seine Begabung ganz hilfreich gewesen. Doch der Blick in die eigene Zukunft war ihm verwehrt.

Na und?

Seine Gottheit hatte ihm einst Reichtum, ewiges Leben und die ganze Erde versprochen. All das kam ihm jetzt reichlich überzogen vor, so überredete man ein Kind.

Wir dienen, weil wir dienen, dachte Vale, ein Zirkelschluss, der zutraf.

Er spürte den Herzschlag im Zentrum der Stadt: den Born der Schöpfung.

Sein Gesicht kam ihm vor wie eine geschälte Apfelsine. Vale konnte nur vermuten, wie er jetzt aussah. Es gab nirgends einen Spiegel.


* * *

Seine Gottheit bugsierte ihn tiefer in die Stadt hinein, machte ihn zu einem der Auserwählten, die rings um den Dom in Stellung lagen.

Elias Vale fühlte sich geehrt.

Die Nacht war eiskalt. Er schlief im Freien, den Kopf auf Steinen gebettet. Er wurde von Mörserfeuer geweckt.

Kapitel Achtunddreißig

Unter Artillerieeinschlägen arbeiteten sie sich an die Kammlinie heran.

Die Einschläge erinnerten Guilford an die Sprengungen beim Bau der Alpentrasse. Nur dass man kein Gestein stürzen hörte. Und dass es nicht aufhörte. Es ging immer weiter mit einer entnervenden Unregelmäßigkeit, wie der Herzschlag eines Gejagten.

Und es erinnerte ihn an Bois Belleau und die deutsche Artillerie.

»Sie müssen gewusst haben, dass wir kommen.«

»So ist es«, sagte Tom Compton. Die beiden Männer duckten sich hinter einen Felssturz. »Aber sie wissen nicht, wie viele wir sind.« Er knöpfte den Kragen seines ramponierten, braunen Mantels zu. »Der Teufel ist ein Optimist.«

»Sie könnten Verstärkung bekommen.«

»Kaum. Wir haben Leute an jedem Bahnhof und jedem Flugfeld östlich von Tilson.«

»Wie viel Zeit gewinnen wir dadurch?«

Der Grenzer zuckte die Achseln.

War das von Belang? Nein, natürlich nicht. Die Lawine war losgetreten.

Gedämpftes Tageslicht berührte die Gipfelkette. Als Guilford den Kamm überschritt, sah er das Chaos. Das Tal lag noch im Dunkeln, weißer Nebel fingerte durch die Straßen. Einem Trupp von Männern, zu denen der ehrwürdige Erasmus zählte, war es gelungen, sich mit ihrem Sammelsurium an schweren Kanonen, Haubitzen und Mörsern in Schussweite der ersten Gebäude zu verschanzen, und die Dämonenfestung noch vor Tagesanbruch unter Beschuss zu nehmen.

Inzwischen hatte sich der Feind allerdings von der Überraschung erholt; die Westflanke lag unter heftigem Beschuss.

Gleichzeitig kamen Guilford und knapp zweihundert andere Alte Männer den Nordhang herunter. Das Riedgras, das hier Halt gefunden hatte, und die Brocken, die aus der steilen Talwand gebrochen waren, boten herzlich wenig Deckung. Das Gelände hatte nur einen Vorteil: Es war schwer zu befestigen gewesen.

Das eigentliche Ziel lag noch in hoffnungsloser Ferne: der Brunnenschacht, in dem das Bewusstsein Tausende halb inkarnierter Dämonen gefangenhielt… und auch an diesen Krieg erinnerte sich Guilford…

Weil ich bei dir bin, erinnerte ihn sein Geist.

Guilford trug ihn jetzt in sich, den Wachsoldaten. Wenn es ihm oder einem seiner Waffenbrüder gelang, seinen persönlichen Geist zum Brunnen zu bringen, konnten die Dämonen wieder gebannt werden.

Kaum dass er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, eröffnete ein Heckenschütze das Feuer. Aus den verkrüppelten Moscheebäumen, die sich an den Steilhang klammerten, ratterten Salven einer automatischen Waffe…

Auch Guilford wurde getroffen.

Er spürte, wie ihn die Kugeln durchbohrten. Die Wucht der Einschläge warf ihn zu Boden. Krabbelnd suchte er Deckung hinter ein paar verkümmerten Bäumen.


* * *

Der Vormarsch stockte, während man den Heckenschützen mit einem Granatwerfer auszuschalten versuchte. Guilford stierte auf die Wunden von Tom Compton. In der rechten Schulter des Grenzers klaffte eine v-förmige Wunde und links unter dem Brustkorb gähnte ein Loch.

In den Wunden war kein blutiges Gewebe zu sehen, sondern etwas viel Feineres und Groteskeres, ein leuchtendes Medium, als sei der Leib des Grenzers inwendig eine erstarrte Flamme.

Loses Fleisch, dachte Guilford, und sein Geist scheint durch.

Widerstrebend nahm er sich selbst in Augenschein.

Es hatte ihn schwer erwischt. Brust und Bauch waren offen, die Kleidung verkohlt. Sein Rumpf glomm wie eine wildgewordene Partylaterne. Eigentlich hätte er tot sein müssen. War es vielleicht auch. Er schien weder Blut noch Eingeweide noch Fleisch zu besitzen, nur dieses heiße, pulsierende Licht.

Lauter Zahlen, dachte er. Lauter seltsame, unergründliche Zahlen.

Er blutete nicht, spürte aber sein Herz in der offenen Brust. Es hämmerte wie verrückt. Auch das nur Einbildung? Vielleicht war er zwanzig Jahre lang tot gewesen… oft war ihm das so vorgekommen. Einatmen, ausatmen, Hammer heben, Schraubenschlüssel ziehen; Liebe meiden, Freundschaft meiden, ausharren…

Ein paar Zoll von seinem Ohr entfernt peitschten Kugeln in den steinigen Boden.

Du wusstest, der Tag würde kommen. Kein Aufschub mehr.

»Sie bringen uns um«, murmelte er.

»Nein«, sagte Tom. »Das glaubt dieser Heckenschütze vielleicht. Du weißt es besser. Die töten uns nicht, Guilford. Die können nur töten, was sterblich ist.« Er zuckte zusammen, als er sich umdrehte. »Die sind dabei, unsere Götter auszubrüten.«

»Es tut verdammt weh«, sagte Guilford.

»Du sagst es.«


* * *

Den ganzen langen Morgen erinnerte er sich zu lebhaft an zu vieles.

Er rollte über eine Brombeerhecke aus Stacheldraht, verfing sich mit dem Fuß in einem langen Wurzelausläufer, stürzte noch etliche Yards und landete um Armeslänge von seinem Gewehr entfernt. Nacktes Gestein schürfte ihm die Wange auf. Er hatte den Rand der Stadt erreicht.

Ich war das, dachte er, im Bois Belleau; ja, ich entsinne mich. O Herr Jesus: das Weizenfeld voller Mohnblumen und überall fielen die Männer, die Verwundeten überließ man den Sanis, die noch nicht gefallen waren, Schreie über dem Geschützdonner und bitterer, wallender Rauch… Seht uns an, dachte Guilford. Beinah zweihundert halbmenschliche alte Männer waren hinter ihm, in Staubmänteln aus Wollschlangenhaut und Arbeitsanzügen, mit Schlapphüten statt Helmen und faustgroßen Löchern, wo die Kugeln ihre Leiber durchschlagen hatten. Unsterblich waren sie noch nicht. Der Leib als Gefäß ertrug nur ein gewisses Ausmaß an Schmerz und Wunder. Manche Verletzungen waren tödlich; manche Männer lagen leblos im Steilhang, so tot wie die Männer im Bois Belleau.

Guilford hatte viel Fleisch verloren und setzte in leichten Sprüngen zwischen den erodierten Mausoleen voran.

Er hat mich die ganzen Jahre regelrecht zugeritten.

Doch wir sind ein und derselbe.

Sind wir nicht.

Erinnerung dampfte aus der Dämonenstadt.

Einst waren diese Bauwerke weiß und rein wie Marmor gewesen, angefüllt mit Lebensmitteln und von einer unfreiwillig bösen und ungeheuer kraftvollen Spezies bewohnt, wohlgehegten Instrumenten, um die Archivzeit mit Psileben zu durchsetzen. Hirnlose Baumeister, die wie Insekten lebten. Als ausgewachsene Kreaturen in den Born der Schöpfung geschickt, waren sie ihm als sterbliche Götter entstiegen.

Das war nur ein Pfad in die Ontosphäre des Archivs. Es gab Tausende solcher Eintrittspunkte. Psileben war ebenso unerbittlich wie erfinderisch.

Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen und sie haben mir Angst gemacht: Herrgott, wovor hat jemand Angst, der zwischen den Sternen lebt?

Ich erinnere mich an Caroline, dachte er grimmig. Ich erinnere mich an Lily. Ich erinnere mich an Abby und Nicholas.

Ich entsinne mich, wie Blut aussieht, das sich mit Regen und Erde vermischt.

Ich entsinne mich eines blauen Himmels unter einer Sonne, die vor einer Milliarde Jahren erloschen ist.

Ich entsinne mich zu vieler Himmel.

Zu vieler Welten.

Er entsann sich wider Willen der abertausend Byzanzen der greisen Milchstraße.

Er drang tiefer in dieses weitläufige Ruinenfeld vor, Bereiche, in die nicht einmal die Mittagssonne drang, wo die Schatten in Ozeane aus Finsternis mündeten.

Sterbe ich?, dachte er.

Was hieß schon sterben in einer Welt, die aus lauter Zahlen bestand?

Tom Compton schloss sich ihm an, die beiden Männer gingen ein Stück weit Seite an Seite. »Halt die Augen offen«, sagte der Grenzer. »Sie sind dicht vor uns.«

Guilford ließ von den Sternen ab und konzentrierte sich auf gemeißeltes, erodiertes Gestein.

Der Geruch, dachte er. Penetrant. Wie Lösungsmittel. Wie etwas, das gründlich verdorben war. Vor ihm, wo der Nebel sich lichtete, sah er den glänzenden Körper und die messerscharfen Scheren des Feindes.

»Zeig dich nicht«, flüsterte Tom Compton. »Wir sind zu dicht vor dem Ziel, um einen Kampf zu riskieren.«


* * *

Vor zehntausend Jahren, so die Zeitrechnung der Ontosphäre, waren die Dämonen in ihrem Brunnen gebannt worden.

Ihre irdischen Inkarnationen waren Tiere. Das Psileben hatte gefährlichen Code in ihre DNS geschrieben, doch eine Gefahr für das Archiv wurden sie erst, wenn sich die Dämonen ihrer bemächtigten. Als Gott hatte Guilford mit ihnen gekämpft, unsichtbar und kraftvoll wie der Wind.

In eben diesen kraftvollen Körpern wollten sie aus dem Brunnen steigen, und die Männer, die ihn verteidigten, die Marionetten derselben monistischen Logik, würden anfangen, fremden genetischen Programmen zu gehorchen.

Nur dass sie es früher taten als die Dämonen erwartet hatten. Neue Turingmaschinen hatten das Tuning gesprengt. Der Feind stolperte über seine eigene, schwerfällige Metamorphose.

Doch es half alles nichts: Ein Saat-Bewusstsein musste seinen uralten Geist in die Tiefen des Brunnens tragen.

Guilford Law spürte die Angst des sterblichen Guilford — die letztlich seine eigene war. Ihm tat diese überforderte Kopie seiner selbst Leid, diese unfreiwillige Achse, um die sich die Welt drehte.

Nur Mut, kleiner Bruder… hallte es zwischen Guilford und Guilford und verlor sich wie ein Lichtstrahl zwischen schadhaften Spiegeln.


* * *

Die von Dämonen besessenen Männer — selbst diejenigen, die so sehr deformiert waren, dass sie kein Gewehr mehr handhaben konnten — waren dennoch eine tödliche Bedrohung. Guilford spürte die enorme Energie, die aufgewendet wurde, um ihn trotz seiner verheerenden Verletzungen am Leben zu halten.

Das Artilleriefeuer im Westen hatte nachgelassen. Die Munition wird knapp, dachte Guilford. Jetzt wird Mann gegen Mann gekämpft.

Im Winter war die Stadt ganz anders gewesen, als Tom und Sullivan neben ihm hergestapft waren, die eigene Stimme und die der Gefährten, das traurige Bellen der Wollschlangen und die weichen Kurven des Schnees, damals, als sie noch so naiv gewesen waren, an eine vernünftige und einleuchtende Welt zu glauben.

Er dachte mit Wehmut an Sullivan, der sich den Kopf über das Wunder von Darwinia zerbrochen hatte… das gar keines war, das lediglich einer Technik entsprang, die so ungeheuer fortgeschritten war, dass kein Mensch sie verstanden oder auch nur in Betracht gezogen hätte. Mit dieser Spukwelt hätte Sullivan nichts anfangen können, dachte Guilford. Ebensowenig Preston Finch; mit Zweiflern und Eiferern hatte diese Welt nichts im Sinn.

In der Nähe ratterten Handfeuerwaffen. Tom Compton blickte über die Schulter und winkte ihn die moos-verschorfte Mauer entlang. Der klare Morgenhimmel war bleiernen Haufenwolken und Regenschauern gewichen. In der Düsternis glühte der verwüstete Leib des Grenzers, schwach nur, wie Kerzenschein. Warum kein Schild um den Hals, dachte Guilford. Endlich umbringen. Wir leben noch.

Aber der Feind war auch nicht zu übersehen.

Ein paar Yards entfernt kam ein Dutzend ihrer Gegner die breite Straße herunter. Er duckte sich hinter gestürzten Steinquadern und wartete, bis sie vorbei waren. Die knotigen Rücken glänzten wie gehämmertes Metall, und die langen Köpfe pendelten missmutig hin und her. Knochige Schultern, knochige Hüften. Groteske Zweibeiner, fast eine vorsätzliche Parodie auf die Menschen, die sie eben noch gewesen waren. Manche trugen noch schmierige Fetzen menschlicher Kleidung am Leib.

Der sterbliche Anteil von Guilford Law wäre am liebsten davongelaufen.

Doch der sterbliche Anteil von Guilford Law bezwang seine Furcht.

Er bewegte sich zwischen geborstenen Steinwänden auf das Zentrum der Stadt zu, auf demselben Weg wie damals, in jenem schrecklichen Winter vor knapp einem halben Jahrhundert. Wo die Kuppel über dem Brunnen stand und die Erscheinungswelt ein Loch hatte.

Kapitel Neununddreißig

Matthew Crane hatte die Deckenlampe ausgeschaltet. Er saß in einer düsteren Ecke seines Büros. Die Schreibtischlampe hatte er brennen lassen.

Der Schreibtisch war leer geräumt. Im Lichtkegel der Lampe lag nur ein einziger Gegenstand: eine Pistole, ein altmodischer Revolver, blank und makellos.

Lily stierte auf die Waffe.

»Sie ist geladen«, sagte Matthew Crane.

Er klang wie durch Gallerte hindurch, undeutlich, gurgelte die Worte. Lily ertappte sich, wie sie die Entfernung zum Schreibtisch taxierte. Konnte sie es vor ihm schaffen? Oder würde sie alles nur schlimmer machen? Was wollte er von ihr?

»Keine Angst, mein kleiner Floh«, sagte Crane.

»Kleiner Floh?«, sagte Lily.

»Wie sagt der Volksmund? Große Flöhe haben kleine Flöhe im Pelz und die kleinen noch kleinere. Weil Sie mein kleiner Floh waren, Lily. Das waren Sie doch, oder?«

Sie tastete nach dem Lichtschalter. »Lassen Sie das«, sagte Crane scharf.

Lily ließ die Hand sinken. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden?«

»Zu spät. Zu spät für uns beide, fürchte ich. Ich habe auch meine Spione. Der kleine Floh hatte einen noch kleineren im Pelz, als er gestern das Museum besuchte.«

Ich könnte weglaufen, dachte Lily. Ob er schießen würde? Schwer zu sagen. Der chemische Geruch stieg ihr zu Kopf.

»Wir wissen, was wir sind«, sagte Crane. »Das macht es einfacher.«

»Macht was einfacher?«

»Über uns nachzudenken«, sagte Crane mit köchelnder Stimme. Er hustete, krümmte sich und richtete sich auf, bevor Lily seine Schwäche ausnutzen konnte. »Wir beide all die Jahre, großer Floh und kleiner Floh, und wozu das alles? Was hab ich erreicht, Lily? Ein paar Waffenlieferungen umleiten, ein paar Staatsgeheimnisse hüten, ein bisschen dazu beitragen, dass die Regierung mit Kriegen beschäftigt ist oder mit Grundsatzentscheidungen und jetzt ist die große Schlacht im Gange…« Im Düsteren sah es aus, als zucke er die Achseln. »Weit weg von hier. Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

»Das ist nicht lustig.«

»Da haben Sie Recht. Ich verändere mich, kleiner Floh, und ich weiß nicht wieso.«

Er stand auf und kam ein bisschen näher an die Lampe heran — an die Pistole.

Er ließ den lose umgehängten Überzieher fallen. Der Gestank wurde penetrant. Lily konnte die gekörnte Haut unter dem ramponierten Hemd sehen, die schwärenden Stellen, die Haut im Gesicht, die abblätterte wie sprödes Seidenpapier. Der Schädel nahm eine neue Form an, der Kiefer schob sich vor, die Hirnschale verzerrte sich unter Inseln aus Blut und Haar und dickem, gelbem Plasma.

Lily rang nach Luft.

»So schlimm, kleiner Floh? Ich habe keinen Spiegel. Doch, ich glaube, es ist so schlimm.«

Ihre Hand tastete nach der Tür.

»Wenn Sie weglaufen«, sagte er, »dann schieße ich. Ja, wirklich. Ehrenwort. Machen wir doch lieber ein Spiel daraus.«

Sie hatte noch nie solche Angst gehabt — doch, einmal, in dieser schrecklichen Nacht in Fayetteville. Damals hatte der Gegner wenigstens menschlich ausgesehen. Crane sah nicht wie ein Mensch aus, nicht mehr, nicht einmal im trüben Widerschein dieser Lampe.

»Ein Spiel?«, hauchte sie.

»Vergessen Sie, wie ich aussehe, kleiner Floh. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen, noch nicht jedenfalls. Ich kann es nicht ändern. Mein Gott komischerweise auch nicht.«

»Welcher Gott?«

»Mein abwesender Gott. Abwesend. Das ist der Punkt. Diese leise, kleine Stimme schweigt. Hat vermutlich anderswo zu tun. Unvorhergesehene Notfälle. Die wir euch verdanken. Aber dieser… Prozess…« Er streckte die blasenwerfenden Hände aus. »Es tut verdammt weh, kleiner Floh. Und so sehr ich um eine kleine Linderung bete… die Gebete bleiben ohne Antwort.«

Er musste husten, ein nicht enden wollender, gurgelnder Anfall. Rosarote, wässrige Tropfen landeten auf dem Schreibtisch, dem Teppich, ihrer Bluse.

Jetzt, dachte Lily, doch ihre Beine waren wie gelähmt.

»Bald«, sagte Crane, »bin ich nicht mehr ich selbst. Ich hätte es wissen müssen. Die Götter, was immer sie sonst noch sind, haben Appetit. Mehr als alles andere. Matthew Crane soll keinen Deut länger leben als du, kleiner Floh. Du siehst also, in welcher Lage ich bin.«

Er machte einen schlurfenden Schritt nach vorne. Die Beine knickten an den falschen Stellen ein. Fleisch platzte auf; es tropfte gelb aus den Manschetten.

»Ein Wettkampf. Die Pistole ist geladen und entsichert. So eklig diese Finger auch sind, sie können immer noch abdrücken. Deine sowieso. Ich bin natürlich nicht mehr so beweglich, aber du bist auch nicht mehr die Jüngste, kleiner Floh. Ich gehe davon aus, du hast das Stadium von Stützstrümpfen und orthopädischen Schuhen erreicht, richtig? In feuchten Nächten, tun dir da nicht manchmal die Gelenke weh? Du rennst schon lange nicht mehr hinter einem Bus her.«

Stimmte alles.

»Ein Spiel. ›Schnapp dir die Pistole‹ heißt es. Ich finde, du hast eine faire Chance. Aber warte nicht, bis ich ›Los‹ sage.«

Sie zögerte nicht. Lily setzte sich sofort in Bewegung, tat einen wilden Schritt nach dem anderen, doch es war wie in einem Traum; ihre Glieder waren bleischwer; sie bewegte sich unter Wasser.

Sie sah die Pistole im kreisrunden Schein der Lampe, schwarzglänzend auf poliertem Mahagony, das Licht ließ die Kerben, Rinnen und Kanten der Waffe in immer neuen Konstellationen hervortreten.

Sie atmete den schweren Gestank von Cranes Verwandlung. Crane gab einen Laut von sich, den Lily kaum wahrnahm, ein schrilles, tierisches Kreischen.

Mit der Rechten berührte sie den Griff der Pistole. Die Waffe schlitterte einen kostbaren Zoll weit zurück. Jetzt spürte sie Cranes Nähe, eine schweflige Hitzewelle.

Doch plötzlich war sie im Besitz der Waffe. Sie schloss die Finger um den Griff.

Sie wich einen Schritt zurück, blieb mit dem Absatz hängen und saß im nächsten Augenblick auf dem blutbefleckten Teppich, die Pistole in den bebenden Händen wie jemand, der das Böse mit einem billigen Kruzifix bannen will.

Matthew Crane — oder was einmal Matthew Crane gewesen war — richtete sich zu voller Größe auf. Die Schreibtischlampe kippte um, grelles Licht fuhr über das blasenwerfende Gesicht. Die Augen waren kirschrot, die Pupillen schmale, schwarze Schlitze. »Kleiner Floh!«, schrie die Schimäre. »Gut gemacht!«

Lily drückte ab. Sie zielte tief. Die Kugel streifte eine Rippe und schleuderte einen blutigen Klumpen an die rückwärtige Wand. Crane taumelte zurück, fand Halt an einem Regal mit Sitzungsprotokollen. Er sah erst auf die Wunde hinunter, dann auf Lily.

Sie stand vorsichtig auf.

Er lächelte rechts und links an den Zahnstümpfen vorbei — wenn es denn ein Lächeln war.

»Hör jetzt nicht auf, kleiner Floh«, flüsterte er heiser. »Um Himmels willen hör jetzt nicht auf.«

Sie hörte nicht auf. Sie hörte erst auf, als die Pistole leer war und das, was von Matthew Crane noch übrig war, regungslos am Boden lag.

Kapitel Vierzig

Ein wütendes Mörserfeuer brachte den Rest der Brunnenkuppel zum Einsturz. Wuchtige, intakte Steinelemente donnerten zu Boden, barsten und schickten mächtige Staubfontänen in den Herbsthimmel. Das Gewehr schussbereit, arbeitete Guilford sich durch die Trümmer.

Seine Verletzungen waren schrecklich, er atmete stoßweise und unter Schmerzen. Doch die Glieder taten ihren Dienst und sein Verstand war so klar, wie es die Umstände zuließen.

Ein Wolkenriff war vom Gebirge herübergezogen und brachte Kälte und Nässe. Sprühregen kühlte die Ruinen und überzog sie mit einem finsteren, glitschigen Firnis. Guilford schwärzte sich das Gesicht mit einer Handvoll Dreck und kam sich vor wie ein Teil dieses Chaos aus Ecken und Kanten. Der Gegner hatte seine Reihen aufgelöst und jagte die menschlichen Eindringlinge, wann immer sich eine Gelegenheit bot — eine wirksame Strategie, da man nie wusste, hinter welcher Ecke ein Dämon lauerte. Zum Glück verströmten sie einen fürchterlichen Gestank.

Guilford lugte um einen standhaften Grundstein herum. Das Monstrum war höchstens ein Dutzend Yards entfernt.

Dieses Exemplar hatte seinen menschlichen Ursprung weit hinter sich gelassen. Die Verwandlung war so gut wie abgeschlossen: Über sieben Fuß groß, erinnerte es mit seinem abgerundeten Schädel und den messerscharfen Scheren an das Präparat, das Sullivan ihm in dem Monstrositätenkabinett in London gezeigt hatte.

Das Monstrum war dabei, einen Mann, der ihm in die Arme gelaufen sein musste, nach allen Regeln der Kunst zu zerlegen. Dass Guilford den Mann nicht kannte, war nur ein kleiner Trost. Es säbelte, nahm die Stücke methodisch in Augenschein, um sie dann einfach fallen zu lassen. Guilford kämpfte seinen Ekel nieder und zielte sorgfältig. Als es sich mit einem frischen Brocken Menschenfleisch aufrichtete, drückte er ab.

Ein sauberer Schuss in den bleichen und verletzlichen Bauch. Das Monstrum taumelte und fiel — verwundet, nicht tot, aber es schien zu nichts anderem mehr fähig, als auf dem Rücken zu liegen und sinnlos mit seinen Scheren zu schnappen. Guilford sprintete über ein Feld aus Granitstaub in Richtung Brunnen, fieberhaft bedacht, Deckung zu finden, denn der Knall mochte weitere Kreaturen anlocken.

Er entdeckte Tom Compton, der hinter einem Mauerstück hockte und sich den Hals hielt.

»Die Bestien haben mir fast den Kopf abgerissen«, sagte der Grenzer. Er spie ein rotes Taubenei in den Staub.

Also können wir noch bluten, dachte Guilford. Wie im Bois Belleau. Wie Menschen.

Er nahm Tom beim Arm. »Kannst du laufen?«

»Ich hoffe doch. Wär zu schade, jetzt schon den Geist aufzugeben.«

Guilford half ihm auf. Die Halswunde sah böse aus, so böse wie die anderen Wunden. Ein schwacher Schein blakte aus dem zerstörten Körper. Ein Rest von Magie.

»Still jetzt«, mahnte Tom.

Sie erreichten die Kuppe eines Trümmerbergs, alles, was noch übrig war von einem Dom, der zehntausend Jahre in der Stille dieses menschenleeren Kontinents gestanden hatte. Im Norden und im Westen flammte Gewehrfeuer auf.

»Kopf runter!«, zischte Tom. Sie arbeiteten sich Zoll um Zoll voran, atmeten Staub, bis sie den Mund voller Sandpapier und den Hals voller Rost hatten. Ich entsinne mich, dachte Guilford: Tom Compton, der First Sergeant, der ihn durch das Weizenfeld nach Château-Thierry geschleift hatte, umsonst, denn er war vom Tod gezeichnet gewesen… Über messerscharfe Granitsplitter, bis sie endlich den Brunnen sahen, heller als Guilford ihn in Erinnerung hatte, strahlend, am bröckelnden Rand zwei wachsame Monster mit huschenden, sichernden Augen, in denen eine böse Intelligenz glomm.


* * *

Elias Vale wunderte sich, dass ihm diese schrecklich deformierten Finger noch gehorchten. Das Sturmgewehr konnten sie jedenfalls noch abfeuern. Er verwandelte sich auf eine Weise, über die er lieber nicht nachdachte. Auch die Männer ringsum verwandelten sich, manche erinnerten nicht einmal mehr entfernt an Menschen. Aber das ging in Ordnung. Er befand sich dicht am Brunnen der Auferstehung und verrichtete heilige und unaufschiebbare Arbeit. Er spürte die Nähe der Götter.

Seine Sehkraft hatte sich leicht verändert. Er stellte fest, dass er im Halbdunkel die leiseste Bewegung wahrnahm. Alle Sinne hatten sich verändert. Die Angreifer rochen nach gepökeltem Schweinefleisch. Der Regen, der auf seine gekörnte Haut fiel, war zugleich kalt und wohltuend. Gewehrfeuer war schmerzhaft laut, sogar das Knirschen der Kiesel war eine Symphonie aus diskreten Tönen.

Geschärft war auch der Sinn, dessentwegen sich die Götter überhaupt erst für ihn interessiert hatten, seine Fähigkeit, zumindest ein Stückchen weit in die menschliche Seele blicken zu können. Die Wesen, die die heilige Stadt angriffen, waren nur zum Teil menschlich — zum Teil waren sie etwas viel Älteres und Größeres —, aber er spürte die Gestalt ihres Lebens, jede Bitterkeit und jede Achillesferse. Diese Gabe konnte sich noch als hilfreich erweisen.

Das Gewehr war nicht seine einzige Waffe.

Er kauerte hinter einem Granitblock, derweil zwei Männer, deren Verwandlung schon fast abgeschlossen war, am Rand des Brunnens patrouillierten. Er spürte — was allerdings unbeschreiblich war — die ungeheure Lebensenergie, die von diesem Ort ausging, von den Göttern, die in dem Nichtraum tief unten in der Erde eingesperrt waren und sich nach Inkarnation verzehrten.

Eine ganze Armee von Göttern.

Und er spürte die Gegenwart von zwei halb sterblichen Männern, die sich von Norden näherten.

Er pflückte ihre Namen aus der glühenden Luft: Tom Compton. Guilford Law.

Uralte Seelen.

Vale nahm das Gewehr an die schwärende Brust und lächelte.


* * *

Tom sagte: »Ich komme von links und lenke sie mit ein, zwei Schüssen ab. Du tust, was du kannst.«

Guilford nickte und sah zu, wie sein schwer verwundeter Freund davonkrabbelte.

Der Brunnen war ein Einschluss in der Ontosphäre, das Werk von Algorithmen, eine nadelstichgroße Luke in die Binnenarchitektur des Archivs. Da hinein konnte der göttliche Guilford nur über eine Inkarnation gelangen: Guilford hatte ihn hierher gebracht, doch der Kampf am Grund des Brunnens, die Bannung, das war einzig und allein Sache der Götter. Aber ich bin todmüde, dachte Guilford. Ich komme um vor Schmerzen. Und mit dem Schmerz und der Müdigkeit ging eine lähmende Sehnsucht einher; er dachte an Caroline, ihr langes, schwarzes Haar und ihre verwundeten Augen; an Lily, als sie fünf war und ganz unter dem Einfluss von Dorothy Gale und Tik-Tok gestanden hatte;[48] an Abbys Geduld und Stärke; an Nicholas, der seinen Vater mit einem Vertrauen anstarrte, das schon bald enttäuscht werden sollte… — das alles wollte er zurückholen. War das die treibende Kraft für den Bau des Archivs gewesen: diese tiefe Abneigung der Sterblichen, die Vergangenheit zu verlieren, zuzusehen, wie das Liebste sich in Nichts auflöste?

Er schloss die Augen und drückte die Wange an einen nassen, steinernen Vorsprung. Das Licht in seinem Innern flackerte. Aus den Wunden quoll Blut.

Der Schuss aus Toms Gewehr rüttelte ihn auf.

Die beiden Wächter am erodierten Rand des Brunnens rissen den Kopf in die Richtung des Geräuschs. Tom feuerte noch einmal und eine der Bestien kreischte auf, es klang nahezu menschlich. Galliges Grün spritzte aus ihrem Bauch.

Guilford nutzte die Ablenkung, um sich zwischen mannshohen Granitpfeilern etliche Yards näher an den Brunnen zu pirschen.

Jetzt waren beide Kreaturen in Bewegung, näherten sich der Quelle des Gewehrfeuers, wobei sie fast rückwärts gingen und ihren Rückenpanzer als Schild benutzten. Sie waren außergewöhnlich groß, vielleicht auf ihre Aufgabe spezialisiert. Ihr Gang war aufrecht und fließend, sie ließen sich Zeit. Guilford wusste aus Erfahrung, wie schnell sie sein konnten. Scheren und Mandibeln waren ausgestellt, knochenweiß, glänzend vom Regen. Die kürzeren unteren Arme, mehr scharfe Hilfsinstrumente denn Arme, klapperten rastlos.

Aus dem Nieselregen wurde ein Platzregen, kleine Wasserfälle rauschten über uraltes Gestein, der Brunnen dampfte.

Die Bestien schienen nicht gerade erbaut von der Sturzflut. Sie hielten inne, wiegten unzufrieden den Kopf, eine Gebärde, die an Vögel erinnerte. Haut und Panzer bekamen einen seidigen Glanz, begannen in allen Farben des Regenbogens zu schillern. Guilford musste unwillkürlich daran denken, wie sie als Kinder in einem Bach Kiesel gewaschen hatten, bis sie richtig schön geglänzt hatten.

Es war nicht mehr weit. Er spürte die Wärme des Brunnens, er stank nach verbranntem Gummi.

Tom gab seine Deckung auf und feuerte noch einmal. Vielleicht hatte er keine Munition mehr. Guilford nutzte die Gelegenheit, die ihm der Grenzer verschaffte, und lief auf den Brunnen zu, nicht ohne sich umzublicken. Hau ab, bevor es zu spät ist!, wollte er brüllen, sah aber, wie dem Grenzer das linke Bein wegknickte. Tom fiel auf die Knie, brachte das Gewehr noch hoch, doch da war die Kreatur, die ihm am nächsten war, es war die verwundete, schon über ihm.

Guilford stöhnte auf, als die Bestie im Handumdrehen Toms Kopf vom Rumpf zwickte.

Der strömende Regen verhüllte alles andere. Die Luft roch nach Ozon und Blitzschlag.

Er hätte weiterlaufen sollen. Die andere Bestie hatte ihn erspäht und bewegte sich mit atemberaubendem Tempo auf den Brunnen zu. Die langen Beine pumpten wie die eines Leoparden.

Das Rauschen des Regens verschluckte jedes Laufgeräusch. Erst als sie stehenblieb, setzte sie laut vernehmlich eine Wolke stechender Lösungsmitteldämpfe frei, Abfallprodukte einer abwegigen Körperchemie. Ausdruckslose und fremdartige Augen nahmen ihn aufs Korn.

Er hob das Gewehr und feuerte zweimal kurz hintereinander.

Die eine Kugel schrammte den schimmernden Panzer, die andere mochte eine ungeschützte Rippe getroffen haben, jedenfalls torkelte die Kreatur einen Schritt zurück. Guilford drückte wieder ab, feuerte, bis das Magazin leer war und das Monster regungslos am Boden lag.

Tom!

Doch der Grenzer war unwiderruflich tot.

Guilford wandte sich wieder dem Brunnen zu.

Der Rand war zum Greifen nahe. Die Rampe, die ringsherum in die Tiefe führte, war intakt, aber übersät mit Schutt und Trümmern. Na und? Er hatte nicht vor, zu Fuß da hinunter zu gehen. Springen und sich der Gravitation überlassen: Das Kaninchenloch hatte keinen Boden, da unten war nur die Welt zu Ende. Er nahm Anlauf…

… und blieb stehen, als sich kaum zehn Schritt vor ihm ein Mensch aufrichtete.

Nein, kein Mensch, lediglich eine arme Seele, deren Vernichtung noch nicht abgeschlossen war. Vor allem das Gesicht sah aus, als sei es schon vor langer Zeit zerstört worden, wie vulkanische Platten wanderten die Knochen entlang der Bruchlinien.

Diese Kreatur hielt ein Gewehr und wollte es in Anschlag bringen, das Schütteln der Arme machte ihr zu schaffen.

Guilford nahm ein volles Magazin vom Gürtel.

»Du möchtest mich nicht umbringen«, sagte das Monstrum.

Die Worte schnitten durch das Rauschen des Regens und das ferne Krachen der Artillerie.

Hör nicht hin, sagte der göttliche Guilford.

»Ich habe jemanden mitgebracht, Guilford. Du kennst ihn.«

Guilford warf das leere Magazin aus. »Und wer soll das sein?« Er sah zu, wie das Monstrum mit dem Gewehr kämpfte. Schwerer Fall von Schüttelfrost. Reden, reden, reden.

Nein, beharrte der Wachsoldat.

Das Monstrum schloss die Augen und sagte: »Dad?«

Guilford erstarrte.

Nein.

»Bist du das, Dad? Ich kann dich nicht sehen.«

Guilford rührte sich nicht, obwohl der Wachsoldat ihn drängte.

»Dad, ich bin es! Nick!«

Nein, das ist nicht Nick, Nick ist…

»Nick?«

»Dad, schieß nicht! Ich bin hier drin! Ich will nicht sterben, nicht schon wieder!«

Das Monstrum kämpfte immer noch mit dem Gewehr. Guilford sah zu und konnte sich keinen Reim darauf machen. Er dachte an die nassen, schrecklichen Rosen aus Nicks Blut.


* * *

Der Wachsoldat war plötzlich neben ihm, durchsichtig wie Nebel. Die Zeit bremste. Sein Herz hämmerte nur noch halb so schnell, dann zwei träge Paukenschläge.

Das Monstrum fuchtelte zähflüssig mit dem Gewehr.

Der Wachsoldat sagte: »Hör zu. Schnell jetzt. Das ist nicht Nick.«

»Was passiert mit den Toten? Bekommen die Dämonen sie?«

»Nicht immer. Und das ist nicht Nick.«

»Wer weiß?«

»Guilford. Glaubst du, ich würde zulassen, dass sie ihn bekommen?«

»Haben sie Nick?«

»Nein. Haben sie nicht. Nick ist bei mir, Guilford. Er ist bei uns.«

Der Wachsoldat streckte die Hände aus wie jemand, der seine Unschuld beteuert, und einen süßen und schrecklichen Moment lang war da Nick, die Augen zu, schlafend, zwölf Jahre alt und ganz friedlich.

»Glaub mir«, sagte der Wachsoldat. »Diese Leben sind aufgehoben.«

Guilford sagte: »Ich bin so müde… Nick?«

Doch Nick war nicht mehr da.

»Schieß endlich!«, sagte der Wachsoldat.


* * *

Er schoss.

Das Ungeheuer schoss.

Guilford spürte die Kugeln eindringen. Der Schmerz war diesmal brutal. Na und? Er war am Ziel. Er feuerte und feuerte, bis der Mensch mit dem zerstörten Gesicht regungslos am Boden lag.

Guilford schleppte sich mit letzter Kraft an den Rand des Brunnens.

Er schloss die Augen und fiel. Der Schmerz verlor sich im Nebel. Er war frei wie ein Regentropfen. Hey, Nick, schau her. Und er fühlte Nicks schläfrige Gegenwart. Der Wachsoldat hatte nicht geflunkert. Nick war eingehüllt in Zeitlosigkeit, schlief bis ans Ende der Ontosphäre, tauchte durch die leuchtenden Wasser des Archivs, die tiefer waren als alle Meere und warm wie die Sommerluft.

Er blinzelte und sah, wie der Gott aus ihm herausbarst. Das leuchtende Etwas war einst Guilford Law gewesen, umgekommen auf einem Schlachtfeld in Frankreich, gehätschelt vom Bewusstsein, mächtig wie die Götter und selbst ein Gott, untrennbar mit ihnen verbunden, ein Wesen, das Guilford auch nicht annähernd begreifen würde, ganz und gar aus gleißendem Licht und Farbe, ein Racheengel, der die Dämonen bannte, die ihre Enttäuschung hinausheulten über die fernen, schwindenden Ränder der Welt.

Zwischenspiel

Sie standen eine Zeit lang auf der Anhöhe über der zerstörten Dämonenstadt. Der Tag war schattenlos hell und der Himmel voller Sterne.

»Was nun?«, fragte Guilford.

»Wir warten«, sagte der Wachsoldat mit unendlicher Geduld.

Guilford sah die Männer hangaufwärts klettern. Die Stadt lag still, aufs Neue verwaist. Guilford erkannte die Alten Männer, unter ihnen Tom und Erasmus, sie waren wohlauf und lächelten. Es war verblüffend, wie klar und deutlich er die fernen Gesichter sah.

»Warten worauf?«

»Auf das Ende aller Schlachten«, sagte der Wachsoldat.

Guilford schüttelte entschieden den Kopf. »Neinnein.«

»Nein?«

»Nein. Ohne mich. Ich will haben, was ich nie haben durfte.« Er sah den Wachsoldaten fest an. »Ich will ein Leben.«

»So viel du willst — wenn alles vorbei ist.«

»Ich meine ein Menschenleben. Ich will herumlaufen wie ein richtiger Mensch und alt werden, bevor ich sterbe. Einfach… ein Menschenleben.«

Der Wachsoldat schwieg, er schwieg ungewöhnlich lange.

Ich habe ihn sprachlos gemacht, dachte Guilford. Einen Gott.

Schließlich sagte der Wachsoldat: »Ich glaube, das liegt in meiner Macht. Bist du auch sicher, dass du das willst?«

»Ich wollte nie etwas anderes.«

Der uralte Guilford nickte. Er hatte Verständnis — zumindest der älteste Teil von ihm. »Und das Leid…«

»Ja«, sagte Guilford kategorisch. »Auch das Leid.«

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