»Esse est percipii.«[35]
AUS DEM TAGEBUCH VON GUILFORD LAW:
Ich möchte diese Ereignisse erzählen, solange ich es noch kann.
Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe, und es wäre ein weiteres, wenn auch nur einer von uns den Winter überstünde. Ja, wir haben Unterschlupf gefunden — später mehr über diesen unsäglich merkwürdigen Ort —, aber die Lebensmittel sind knapp, das Klima ist frostig und da ist die ständige Angst vor einem weiteren Überfall.
Heute bin ich noch geschwächt und das Tageslicht schwindet bereits. (Ich halte den Bleistift, wie Lily es tut, und meine Schrift sieht aus wie die ihre.)
Ich hoffe, das Tagebuch findet eines Tages zu euch, und Lily wird diese Worte lesen. Ich denke an dich, Caroline, und an Lily, so oft und so intensiv, dass ich euch fast berühren kann. Seit das Fieber zurückgeht, weiß ich, wie sehr es daran beteiligt war.
Von all meinen Fieberphantomen vermisse ich nur zwei: dich und Lily.
Morgen mehr, wenn die Umstände es erlauben.
Drei Monate sind vergangen, seit uns die Partisanen überfallen haben. Ich war sehr lange ohne Bewusstsein und habe lange nur phantasiert. Das Folgende ist eine Rekonstruktion der Ereignisse. Besonders Avery Keck, John Sullivan und ›Diggs‹ Digby haben mir geholfen, die Lücken zu füllen.
Ich muss mich kurz fassen, solange es mir an Kraft und Zeit mangelt. (Das Licht, das durch die hohen Steinscharten fällt, ist launisch, weil es durch Wachstuch und Tierhäute gefiltert wird. Ich muss jetzt meinen bescheidenen Beitrag für das Wohlergehen aller leisten — ich helfe hauptsächlich Diggs, der seinen linken Arm nicht mehr benutzen kann. Ich werde gleich beim Kochen unserer kargen Mahlzeit gebraucht. Diggs schürt bereits das Feuer und Wilson Farr ist nach draußen, um einen Eimer Schnee zu holen.)
Wir hatten also den Bodensee verlassen und näherten uns den Alpen, als wir von einer Bande bewaffneter Partisanen überfallen wurden, die allem Anschein nach nur eins im Sinn hatten: uns umzubringen und auszuplündern. In den ersten Salven verloren wir Ed Betts, Chuck Hemphill und Emil Swensen — und alles wäre noch viel schlimmer gekommen, hätten wir näher am Gehölz kampiert. Dass Tom Compton so kurz entschlossen gehandelt hat, war unsere Rettung. Er führte uns um eine weite, ringförmige Knochenhalde der hiesigen Insekten herum, eine Falle, in die unsere Verfolger hineintappten und die ihnen zum Verhängnis wurde. Die nicht darin umkamen, flohen oder wurden von uns erschossen.
Sie waren nicht die einzigen Opfer der Insekten. Einem der Biester gelang es, sein Gift in meinen Kreislauf zu spritzen. Bei Einbruch der Dunkelheit, so Dr. Farr, sei ich bereits mit einem Bein im Grab gewesen. Ich war dem Tode geweiht und die meisten von uns litten unter mehr oder weniger großen Verletzungen. Preston Finch kam mit einem verstauchten Knöchel davon, aber sein Elan war dahin; er gab nur noch einsilbige Antworten und übergab die Führung an Sullivan und Tom Compton.
Nachdem man sich einigermaßen erholt und zum Lager zurückgeschleppt hatte, zeigte sich das ganze Ausmaß der Verwüstung: Die wissenschaftliche Ausrüstung und alle Proben waren verbrannt, die Tiere niedergemetzelt, Proviant und Medikamente gestohlen.
Der Gedanke daran schmerzt mich jetzt noch. Die ganze Arbeit, Caroline! Sullivans Proben, seine Notizen, seine Pflanzenpresse, alles fort. Beide Kameras zerstört und die belichteten Platten zertrümmert. (Sullivan brachte es mir schonend bei, als ich aus dem Koma erwachte.) Mein Notizbuch hat nur überlebt, weil ich es immer am Körper trage. Wir konnten noch ein paar weitere Notizen bergen, außerdem Schreibgerät und genügend Papierfetzen, sodass jetzt viele von uns ein Wintertagebuch führen.
Ich konnte nicht um die Toten trauern, Caroline, ebensowenig wie ich die Augen öffnen oder mehr als atmen konnte, während das Gift durch meinen Körper kochte.
Ich habe sie später betrauert.
Die Verwundeten brauchten Ruhe und Nahrung. Einmal mehr erwies sich Tom Compton als unsere Rettung. Er brannte meinen Insektenbiss aus und behandelte ihn mit dem bitterstoffhaltigen Saft eines Krauts. Da es weit und breit keine zivilisierten Arzneien gab, akzeptierte Dr. Farr diese Kumpanei mit der Wildnis. Er tat, was er konnte, um Wunden zu verbinden und Knochenbrüche zu richten. Für den Fall, dass sich hier noch mehr Partisanen herumtrieben, fabrizierten wir aus dem, was uns geblieben war, ein Lager, das weniger auffällig und besser zu verteidigen war. Ein paar von uns waren gesund genug, um einen Marsch durchzustehen.
Das Nächstliegende war, Hilfe zu holen. Der Bodensee lag nur ein paar Tagesmärsche hinter uns. Erasmus würde mittlerweile zu seiner Torfhütte und seinem Kraal zurückgekehrt sein, aber da waren ja noch die Boote — sofern sie nicht auch in Feindeshand geraten waren — und die Fahrt den Rhein hinunter würde weniger beschwerlich sein als die Fahrt flußaufwärts. Schätze mal, einen Monat bis Jeffersonville und nicht ganz so lange für den Rettungstrupp hierher.
Tom Compton bot sich an, aber er war unser Leibwächter und Medizinmann zugleich. Mit seiner Erfahrung im Jagen und Fallenstellen konnte er für Nahrung sorgen, ohne einen Schuss aus seiner Flinte abzugeben. Und er ging wirklich dazu über, Wollschlangen mit dem Bowiemesser zu erlegen. Er schnitt ihnen einfach die Kehle durch. Mit der Zeit wurden die Tiere zwar unruhig, wenn sie ihn witterten, blieben aber so artig, dass das dumme Tier erst Verdacht schöpfte, als es praktisch schon tot war.
Wir schickten Chris Tuckman und Ray Burke, die beide mit heiler Haut davongekommen waren. Sie nahmen mit, was wir noch an Konserven hatten (lächerlich wenig), außerdem ein Zelt, das die Flammen überlebt hatte, sowie Pistolen, einen Kompass und einen beträchtlichen Teil unserer wohlgehüteten Munition.
Das war vor drei Monaten.
Sie sind nicht zurückgekommen.
Niemand ist gekommen. Von ursprünglich fünfzehn Mann sind noch acht übrig. Ich selbst, Finch, Sullivan, Compton, Donner, Robertson, Farr und Digby.
Der Winter kam früh in diesem Jahr. Eisiger Schneeregen und dann körniger, unbarmherziger Schnee.
Sullivan, Wilson Farr und Tom Compton hätschelten mich, bis ich wieder den Anschein von Gesundheit erweckte — päppelten mich mit Schleimsuppe und transportierten mich, wenn wir weiter mussten, auf einer primitiven Trage, die von einer wilden Wollschlange geschleppt wurde und mit einem Ende am Boden schleifte. Ich nahm natürlich ab, mehr noch als die anderen. Uns stand der Hunger auf den Leib geschrieben.
Du müsstest mich sehen, Caroline. Der Bauchansatz, den du mir vorgeworfen hast, ist Schnee von vorgestern. Ich musste neue Löcher in den Gürtel schneiden. Meine Rippen sind so dünn wie die Zinken einer Mistgabel und wenn ich mich rasiere (wir teilen uns einen Spiegel und ein Messer), dann hüpft mein Adamsapfel wie die Katze unterm Bettlaken.
Wie gesagt, wir haben ein Winterquartier gefunden. Aber dieses Quartier…
Caroline, ich darf nicht weiterschreiben! Für heute ist Schluss.
(Hör nur: Diggs ist wieder bei der Arbeit, die Krücke, ein langer Ast mit kurzer Gabel, pocht über den Steinboden, das Wasser zischt, weil es ins Feuer schwappt — ich muss ihm zur Hand gehen.)
Vielleicht sollte ich unser Quartier so beschreiben, wie ich es damals gesehen habe — mit fiebrigen Augen natürlich, aber ich war nicht im Delirium, auch wenn es sich vielleicht so anhört.
Eins nach dem anderen, Caroline. Ich fürchte, du wirst mir nicht glauben.
Stell dir diese zerlumpte Bande vor, bärtige Männer in Tierfellen, die einen humpeln, die anderen werden von Tieren geschleppt; stell dir vor, wie wir ausgehungert und frierend über den nächsten verschneiten Kamm kommen und in das nächste wilde Tal blicken… Diggs mit seinem kaputten Arm, der jämmerlich hinkende Sullivan, ich auf einem Schlitten, weil ich nach ein paar Yards schlappmachem würde. Laut Farr macht das Gift vor allem meiner Leber zu schaffen. Ich fiebere und bin gelb und… na ja, ich will dir die Einzelheiten ersparen.
Wieder ein alpines Tal, aber dieses Tal war anders. Tom Compton hat es für uns erkundet.
Ein breites Flusstal, aus steinigem Boden geschnitten und von störrischen, struppigen Moscheebäumen besiedelt. Ich lag in Felle gewickelt auf meinem Schlitten und sah zunächst nur die Talschräge und die düstere Vegetation. Doch die anderen verstummten jählings, und ich stemmte mich hoch, um zu sehen, was ihnen die Sprache verschlug, und es war etwas, das ich in diesem trostlosen Land am allerwenigsten erwartet hätte:
Eine Stadt!
Oder die Ruinen einer Stadt. Ein weites Mosaik, durch das der Fluss eine Spur der Zerstörung gezogen hatte, alt offenbar, aber zweifellos von intelligenten Wesen erbaut. Selbst aus dieser Entfernung war zu erkennen, dass die Architekten längst nicht mehr da waren. Nichts bewegte sich auf den unbeirrbar parallelen Straßen. Die Gebäude, die noch heil waren, waren eisengraue Steinwürfel unter einem Weichzeichner aus Nebel und Zeit. Und die Stadt war riesig, Caroline, man hält es kaum für möglich — eine Ruine, in die ganz Boston gepasst hätte und noch ein, zwei Bezirke dazu.
Trotz ihres offenkundigen Alters waren die Außenbezirke der Stadt mehr oder weniger gut erhalten. Diese Ruine versprach alles, wonach wir verzweifelt gesucht hatten: eine Zuflucht für uns und die Tiere, Wasser in Hülle und Fülle und reichlich Fleisch (angesichts bewaldeter Hügel und deutlicher Spuren von Wollschlangenherden). Tom Compton hatte die Stadt und die Umgebung erkundet und fand, dass wir hier überwintern sollten. Die Stadt war eine einzige unbewohnte Ruine und er machte uns klar, dass wir nichts geschenkt bekamen; Feuerholz gab es genug, aber damit alleine waren diese zugigen Kästen nicht warm zu halten. Da wir aber nicht mehr in Schlangenfellzelten zu verenden oder in einem Alpenpass zu erfrieren brauchten, betrachteten wir diese grimmige Aufgabe als die milde Gabe eines gütigen Gottes.
Natürlich warf die Stadt unzählige Fragen auf. Wer hatte sie erbaut in diesem völlig unbewohnten Land und was war aus ihren Erbauern geworden? Waren es Menschen gewesen oder irgendeine total andere darwinische Gattung? Doch wir waren zu erschöpft, um den Ursprung oder die Bedeutung dieser Ruine zu diskutieren. Preston Finch war der einzige, der sich nur zögernd an den Abstieg machte; ich weiß nicht, wovor er Angst hatte, seit Tagen war kein Wort über seine Lippen gekommen.
Die Aussicht auf ein Dach und vier Wände gab uns Auftrieb. Auf dem Weg ins Tal sammelten wir Windbruch von Moscheebäumen und Salbeikiefern und ehe die Sterne am Winterhimmel standen, hatten wir ein brüllendes Feuer entfacht, dessen launisches Licht mit den steinernen Kolossen der namenlosen Stadt spielte.
Liebe Caroline: Ich weiß, ich habe das Tagebuch vernachlässigt, aber wir kommen nicht zur Ruhe.
Nein, es ist nichts Schlimmes passiert — keine Sorge —, unsere Isolation und die ständige Plackerei sind schlimm genug.
Wir führen das Leben von Indianern. Das Fieber ist abgeklungen (ein für alle Mal, hoffe ich) und das Bein ist nicht mehr taub und schon wieder belastbar. Am Stock kann ich ziemlich weit gehen, ich bin sogar schon mit Tom Compton und Avery Keck auf die Pirsch gegangen — meine Ausflüge sind natürlich noch auf die Talsohle beschränkt. Im Frühling geht es zum Lake Constance, wir wollen nach Hause. Bis dahin dürfte es kein Problem mehr sein, mit den anderen Schritt zu halten.
Zur Jagd hüllen wir uns von Kopf bis Fuß in Felle. Wir haben unsere Monturen mit Knochennadeln genäht, die alten Lumpen liefern das Garn. Wir haben zwei Gewehre und einen ansehnlichen Vorrat an Munition, doch gejagt wird fast ausschließlich mit Bogen oder Messer. Bögen und Pfeile hat Tom aus Holz und Knochen gefertigt und er ist nach wie vor unser Ass im Treffen. Ein Gewehrschuss, so Tom, könnte unerwünschte Aufmerksamkeit erregen, und die Kugeln würden wir vielleicht noch brauchen — auf der Heimreise. Ich glaube nicht, dass es hier irgendwo Partisanen gibt. Der Winter muss ihnen genauso zu schaffen machen wie uns. Trotzdem hatten einige von uns das Gefühl, als würden wir beobachtet.
Wir haben ein paar Wollschlangen eingefangen und halten sie in einem zerfallenen Geviert mit einem Halbdach als Unterstand. Sullivan kümmert sich um die Tiere und sorgt dafür, dass sie immer genug Futter und Wasser haben. Der Botaniker hat auf Landwirtschaft umgesattelt, vorerst zumindest.
Wir sind uns näher gekommen, vielleicht weil uns ähnliche Behinderungen (mein Bein, seine Hüfte) ein paar Wochen zusammengesperrt hatten. Nicht selten bleiben wir allein mit Diggs oder Preston Finch zurück. Finch bleibt nahezu stumm, geht aber zur Hand. Sullivan dagegen spricht ganz offen mit mir und ich fast so offen mit ihm. Man muss sich vor seinem Atheismus hüten, Caroline, aber es ist ein begründeter Atheismus. Wo ist da der Unterschied?
Gestern waren wir zur Nachtwache eingeteilt, eine bequeme Aufgabe, wenn einem die späte Stunde nichts ausmacht. Wir unterhielten das Feuer und tauschten wie üblich Geschichten aus, als wir tumultartige Geräusche hörten — sie kamen aus dem Stall, wie wir das halb verfallene Geviert nennen, in dem die Tiere untergebracht sind. Also zogen wir unsere Fellsachen an und humpelten in die frostige Nacht hinaus, um nach dem Rechten zu sehen.
Es hatte den ganzen Nachmittag geschneit und Sullivans Fackel ergoss ihr flackerndes Licht über einen Boulevard aus makellosem Weiß. Der Schnee macht aus den zerbrochenen Steinen und eingestürzten Wänden eine Stadt, die nur vorübergehend evakuiert wurde. Die Gebäude gleichen sich, obwohl sie in unterschiedlichem Zustand sind, auch die Bauweise ist immer dieselbe: riesige Blocksteine aus Granit geschnitten und ohne Mörtel gefügt. Diese Blöcke sind vollkommene Würfel von etwa zehn Fuß Kantenlänge. Auch die Gebäude sind vollkommene Würfel und je vier bilden die Ecken eines Quadrats — als sei ein pedantisches aber einfallsloses Kind am Werk gewesen.
Sollten in den Eingängen Holztüren gesessen haben, waren sie längst vermodert und verweht. Die Öffnungen sind etwa doppelt so hoch wie eine normale Tür und ein paarmal breiter; was aber, so Sullivan, so gut wie nichts über die ursprünglichen Bewohner verrate — das Portal einer Kathedrale ist zum Beispiel für die gleiche Gattung bestimmt wie die Tür einer Torfhütte. Trotzdem denkt man unwillkürlich an gedrungene, gigantische Wesen, prädiluvial, prä-Adamisch.
Um unsere zwölf Wollschlangen beisammen zu halten, hatten wir rings um die Ruine einen groben Zaun aus Moscheeholz errichtet. Bis auf das übliche Quieken und Rülpsen sind die Tiere normalerweise recht still. Jetzt herrschte eine nahezu stehende Geräuschkulisse, eine Art kollektives Stöhnen. Die Geräuschquelle lag unter der Dachruine — ein Tier aus der Herde brachte anscheinend ein Junges zur Welt.
Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass das Tier Eier legte. Die Eier traten in glitzernden Klumpen aus dem hängenden Hinterleib, jedes einzelne ungefähr so groß wie ein Baseball, — schließlich dampfte in der Schneeverwehung ein gallertartiger Haufen Eier.
Ich sah Sullivan an. »Die Eier erfrieren bei dem Wetter. Wir könnten…«
Er schüttelte den Kopf. »Die Natur wird schon wissen, was sie tut«, sagte er leise. »Sie weiß jedenfalls mehr als wir. Kommen Sie, Guilford. Machen wir den Tieren Platz.«
Und er behielt Recht. Die Natur war zwar ein bisschen umständlich, aber sie wusste tatsächlich, was sie tat. Als das Muttertier seine Eier abgelegt hatte, löste sich ein anderes Tier, vielleicht der männliche Part, aus der Herde und näherte sich der perlig schillernden Masse… In einer Art Kettenreaktion schaufelten die sechs Beine die Eier aus dem Schnee in irgendwelche unsichtbaren Bauchtaschen… wo sie vermutlich ausgebrütet wurden.
Das Stöhnen und Bellen verebbte schließlich, und die Herde verlor das Interesse.
Wir kehrten fluchtartig an unser Feuer zurück. Wir hatten ein relativ geschützt liegendes Gebäude übernommen, den riesigen Innenraum mit Wollschlangenhäuten halbiert und gegen das Wetter abgedichtet, und den Boden mit getrockneten Binsen ausgelegt. Im Vergleich zu draußen war es hier drinnen geradezu behaglich.
Sullivan wurde nachdenklich, wärmte sich erst die Hände und setzte dann einen Kessel mit Schnee an den Rand des Feuers, Wasser für den obligatorischen Wurzeltee. »Sie werden geboren«, sagte er, »sie pflanzen sich fort, sie sterben… Guilford, wenn sie keine Entwicklung durchgemacht haben, ist es unvermeidlich, dass sie jetzt eine durchmachen, durch natürliche Auslese…«
»Gottes Werk, würde Finch sagen.« Seit Finch nur noch schwieg, fühlte ich mich verpflichtet, seine Partei zu ergreifen. Oder wollte ich Sullivan nur aus der Reserve locken?
»Aber was heißt das?« Sullivan erhob sich, stieß fast den Kessel um. »So eine unglaublich allumfassende Erklärung, ich beneide ihn! Und das meine ich überhaupt nicht sarkastisch, Guilford; sehen Sie mich nicht so bekümmert an. Im Ernst. Sich nachts die Farbe des Mars ansehen, zusehen, wie sechsbeinige Wollschlangen Eier in den Schnee legen, und darin nichts anderes als die Hand Gottes zu erkennen… wie herrlich einfach!«
»Die Wahrheit ist immer einfach«, seufzte ich.
»Oft. Die Wahrheit ist oft einfach. Täuschend einfach. Aber ich will meiner Unwissenheit keinen Altar bauen und sie Gott nennen. Das kommt mir vor wie Götzendienst, wie Götzendienst der schlimmsten Sorte.«
Siehst du, Caroline? Das meinte ich mit ›begründetem Atheismus‹. Sullivan ist ein rechtschaffener Mann, der bescheiden über seine Wissenschaft denkt. Er stammt aus einer Quäkerfamilie und verfällt, wenn er müde ist, sogar in die Sprache der Bibel: I tell thee, Guilford…
»Diese Stadt«, grübelte Sullivan. »Diese so genannte Stadt, sie besteht nur aus riesigen Kästen und schnurgeraden Passagen… keine Wasserleitungen, keine Abflüsse, keine Speisekammern, keine Öfen, auch kein Kornspeicher, kein Tempel, keine Arena… diese Stadt ist ein Schlüssel.«
Schlüssel wozu?, wollte ich fragen.
Er ließ mir keine Zeit. »Wir haben sie nicht gründlich genug untersucht. Diese Ruine erstreckt sich über Meilen.«
»Tom hat sich umgesehen.«
»Kurz. Und auch Tom räumt ein…«
Was räumt er ein? Doch Sullivan starrte abwesend ins Leere. Ihn jetzt zu drängen, wäre zwecklos gewesen. Seine Gemütsverfassung war mir nur allzu vertraut.
Darwinia stellt einige von uns auf die Probe. Finch glaubt unerschütterlich, dass dieser Kontinent ein Wunder ist, auch wenn er es vermutlich bedauert, dass Gott sich in das vielsagende Schweigen dieser Hügel und Wälder hüllt. Wohingegen Sullivan nichts bleibt, als sich tagtäglich mit dem Wunderbaren herumzuschlagen.
Wir tranken unseren Tee und froren unter unseren Armeedecken. Seit dem Überfall bestand Tom auf einer Nachtwache. Zwei Männer am mitternächtlichen Feuer war unsere Bestleistung. Ich frage mich oft, worauf wir eigentlich achtgeben sollen, denn unsere Sicherheitsvorkehrungen haben einem neuerlichen Überfall so gut wie nichts entgegenzusetzen. Man würde uns so oder so überwältigen. Wozu noch Alarm schlagen?
Doch die Stadt scheint zur Vorsicht zu mahnen.
»Guilford«, sagte Sullivan nach längerem Schweigen. »Wenn Sie schlafen… träumen Sie da in letzter Zeit?«
Die Frage überraschte mich.
»Selten«, sagte ich.
Aber das war gelogen.
Haben Träume etwas zu bedeuten, Caroline?
Ich glaube nicht an Träume. Ich glaube nicht an den Wachsoldaten, der so aussieht wie ich, auch wenn er immer wieder da ist, sobald ich die Augen schließe. Zum Glück reitet Sullivan nicht darauf herum, wir schweigen und sitzen die anberaumte Zeit einfach nur aus.
Mitte Januar. Unerwartete Ausbeute der letzten Jagd: reichlich Fleisch, gebraten und schmackhaft zubereitet, Winterkeime, sogar zwei darwinische ›Vögel‹ — Nachtfalken, hirnlose, zweibeinige Kreaturen mit lederartigen Flügeln, die aber wie Lammfleisch schmecken, vor allem saftig und kräftig. Alle aßen mit großem Appetit, außer Paul Robertson, der eine Grippe auskuriert. Selbst Finch lächelte anerkennend.
Sullivan gibt keine Ruhe, er will die Ruinen untersuchen — er ist wie besessen von der Idee. Und jetzt, da wir unsere Speisekammer gefüllt haben und das Wetter etwas milder wird, da will er zur Tat schreiten.
Als Handlanger und Gepäckträger hat er Tom Compton und mich auserkoren. Morgen brechen wir auf, eine zweitägige Exkursion ins Herz der Stadt.
Ob das wohl vernünftig ist? Um ehrlich zu sein, ich fürchte mich ein bisschen.
Der Winter in London war ungewöhnlich kalt, Caroline konnte sich nicht erinnern, in Boston jemals einen so scharfen Winter erlebt zu haben. Ein Wolfswinter, wie Tante Alice ihn nannte. Die Versorgungsschiffe kamen seltener, seit die Themse im Eis erstickte, obwohl der Hafen nur so kochte vor Industrie und die Schornsteine den Himmel verrußten. Jedes Haus in London trug dazu bei: eine rußige Fahne, wer Kohle verfeuerte, eine graue, wer Torf oder Holz verbrannte. Mittlerweile fand Caroline einen gewissen Trost in diesen düsteren Rauchwolken, sie symbolisierten, dass die Wildnis an Terrain verlor. Caroline begriff inzwischen, was London wirklich war: keine ›Siedlung‹ — wer wollte schon in diesem kontraproduktiven, garstigen Land siedeln? — nein, London war ein Brückenkopf gegen eine allzu widerspenstige Natur.
Letzten Endes gewann die Natur ja doch. Das tat sie immer. Doch Caroline freute sich mittlerweile über jede gepflasterte Straße und jeden gestürzten Baum.
Mitte Januar brachte ein Dampfer eine Warenladung, die Jered letzten Sommer bestellt hatte. Darunter Ketten- und Seilmaterial auf gewaltigen Spulen, Paletten voller Nägel, Pech und Teer und Bürsten und Besen. Jered mietete einen Fuhrmann, der die Ware eine Woche lang jeden Morgen vom Lagerhaus zum Geschäft karrte. Heute schleppte Jered die letzte Fuhre in den Vorratsraum und zahlte den Fahrer aus, dessen Pferde kleine Dampfwolken in die zugige Seitengasse schnaubten, derweil Caroline und Alice im Laden um- und einräumten. Tante Alice arbeitete unermüdlich, wischte immer wieder die Hände an der Schürze ab und redete kaum.
Sie mied Carolines Augen. So war sie schon seit Monaten: kühl, missbilligend, auf eine brüske Weise höflich.
Nach der schockierenden Nachricht vom Überfall auf die Weston hatte ein Wort das andere ergeben: Alice wollte nicht wahrhaben, dass Guilford tot war. Was das anging, blieb sie resolut.
Für Caroline stand es schlicht und einfach fest, dass er tot war; gleich als Jered ihr vom Angriff auf die Westen berichtet hatte, da hatte sie es gewusst, obwohl nichts bewiesen war; die Expedition war flussaufwärts abgesetzt worden. Doch selbst Jered musste einräumen, dass die Männer gegen entschlossene Banditen keine Chance gehabt hätten. Caroline behielt ihre Gefühle für sich, anfangs zumindest. Der Sommer war noch nicht zu Ende, da war sie im Grunde ihres Herzens bereits Witwe.
Außer Caroline wollte es niemand wahrhaben. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Doch der September verstrich ohne Nachricht und im Herbst schwand die Hoffnung und bis zum Winter war sie praktisch erloschen.
Nichts sei bewiesen, sagte Alice. Und Wunder geschähen täglich. »Eine Ehefrau darf die Hoffnung nicht aufgeben«, ermahnte sie Caroline.
Aber eine Frau weiß es manchmal besser.
Die Meinungsverschiedenheit war nicht beigelegt, konnte es nicht sein. Man sparte das Thema einfach aus; aber es färbte jede Unterhaltung, warf seinen Schatten über die Mahlzeiten und nistete im Ticken der Uhr. Caroline war dazu übergegangen, Schwarz zu tragen. Alice verwahrte ostentativ Guilfords Koffer im Flurspind.
Aber heute, fand Caroline, sprach aus Alicens Verhalten mehr als nur diese müde Meinungsverschiedenheit.
Noch ehe die morgendliche Arbeit getan war, sollte Caroline einen Hinweis bekommen. Alice ging hinter die Theke, um einen Kunden zu bedienen, und kam zurück ins Warenlager, im Gesicht den verkniffenen Ausdruck, der verriet, dass sie etwas Unangenehmes zu sagen hatte. Sie blickte Caroline mit verengten Augen an und Caroline gab sich Mühe, dem Blick standzuhalten.
»Es ist schon schlimm genug, wenn man Trauer trägt«, sagte sie erbittert, »bevor man sicher weiß, dass jemand tot ist. Aber es ist schlimmer, Caroline, viel, viel schlimmer, nicht mehr zu trauern.«
Sie weiß Bescheid, dachte Caroline.
Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte.
Am Abend gingen Jered und Alice ins Crown and Reed, wie der hiesige Pub hieß. Als Caroline sicher war, dass sie außer Sichtweite waren, brachte sie Lily die Treppe hinunter und wenige Schritte durch die Kälte zu Mrs. de Koenig, einer verschwiegenen Nachbarin, die einen Kanadischen Dollar nahm, um auf das Mädchen aufzupassen. Caroline verabschiedete sich von Lily, knöpfte auch den letzten Knopf gegen die bittere Kälte zu und machte sich auf den Weg.
Die Sterne zitterten über dem vereisten Kopfsteinpflaster. Gaslampen streuten ihr fahles Licht über den verharschten Schnee. Caroline eilte gegen den Wind und litt unter Schuldgefühlen. Warum zog sie sich den Schuh auch an, den ihre Tante ihr hinhielt? Sie tat nichts Schlechtes. Guilford war tot. Ihr Mann lebte nicht mehr. Sie war nicht mehr verheiratet.
Colin Watson wartete Ecke Market- und Thames Street. Er umarmte sie kurz und winkte ein Taxi heran. Er lächelte, als er ihr hinaufhalf, ein nichtssagendes Lächeln, das halb unter dem albernen Schnurrbart verschwand. Vermutlich unterdrückte er ihr zuliebe seine natürliche Melancholie. Seine Hände waren groß und stark.
Wohin brachte er sie heute Abend? Vielleicht lud er sie zu einem Drink ein (Hauptsache, nicht ins Crown and Reed). Eine Unterhaltung. Das war schon alles. Er musste reden. Er trug sich mit dem Gedanken, die Army zu verlassen. Man hatte ihm eine Arbeit im Hafen angeboten. In Jereds Lagerraum schlief er seit September nicht mehr; er hatte sich ein Zimmer im Empire genommen und war in den meisten Nächten allein.
Das machte alles einfacher — ein eigenes Zimmer.
Sie wäre zu gerne noch geblieben. Aber das ging nicht. Jered und Alice brauchten nicht zu wissen, was sie tat. Solange sie nur etwas ahnten, konnte sie es abstreiten.
Aber sie wollte noch bleiben. Colin war nett zu ihr, so war Guilford nie gewesen. Colin nahm es hin, wenn sie still war, und versuchte nicht, sie mit aller Macht zum Reden zu bewegen, wie Guilford es getan hatte. Guilford hatte immer geglaubt, ihre Schweigsamkeit habe mit ihm zu tun. Er war fürsorglich — aufmerksam, ja, so wie er es verstand —, aber jedes Mal, wenn ihr einfach nur zum Weinen zumute gewesen war, hatte Guilford sich schuldig gefühlt. Schade.
Lieutenant Watson, groß und kräftig und selbst nicht ohne Anwandlungen von Melancholie, respektierte Carolines Gefühle. Vielleicht, dachte sie, behandelt man so eine Witwe.
Die Welt stand zwar Kopf, aber es gab noch Ehrenmänner. Ein paar fragten eben noch, bevor sie sich gehen ließen. Colin war ein Gentleman. Während seine Hände auf Wanderschaft gingen, ließ er Caroline nicht aus den Augen. Es waren vor allem diese Augen, die es ihr angetan hatten; sie waren verständnisvoll; verzeihend zu guter Letzt. Es schien überhaupt keine Sünde zu geben, die diese stillen, blauen Augen nicht vergeben konnten.
Sie blieb zu lange und trank mehr, als sie hätte trinken dürfen. Sie liebten sich stürmisch und verzweifelt.
Ihr Lieutenant setzte sie in ein Taxi, als sie darauf bestand, eine Stunde später als geplant; trotzdem ließ sie sich eine Querstraße vor der Market Street absetzen. Sie wollte nicht gesehen werden, wie sie um diese Stunde aus einem Hansom stieg. Das hätte etwas Lasterhaftes gehabt. Also ging sie schwankenden Schrittes durch den schneidenden Wind, bevor sie Lily abholte und sich von Mrs. de Koenig einen zweiten Dollar abschwatzen ließ.
Jered und Alice waren natürlich längst wieder zu Hause. Caroline kämpfte um Haltung, als sie die Mäntel wegbrachte und Lily gut zuredete. Jered klappte sein Buch zu und verkündete monoton, er wolle zu Bett gehen. Er stolperte auf dem Weg durch die Tür. Jered hatte getrunken.
Falls Alice auch getrunken hatte, so konnte sie es gut verbergen. »Das kleine Fräulein braucht Schlaf«, sagte sie kategorisch. »Na, was ist, Lily?«
»Ich lege sie schlafen«, sagte Caroline.
»Sie kommt allein zurecht. Sie schläft ja schon im Stehen. Das Bett ist schön warm und wartet, Lily! Gute Nacht, Liebes.«
Lily gähnte und watschelte von dannen. Ihre Mutter blieb wehrlos zurück.
»Sie hat heute lange geschlafen«, brachte Caroline vor.
»Sie schläft gar nicht gut. Sie hat Angst um ihren Vater.«
»Ich bin auch müde«, sagte Caroline.
»Aber nicht zu müde, um Ehebruch zu begehen?«
Caroline ließ den Mund offen. Hatte sie richtig gehört?
»Um es mit einem Mann zu treiben, der nicht dein Ehemann ist«, sagte Alice. »Wie würdest du es denn nennen?«
»Das ist unter deiner Würde.«
»Vielleicht solltest du dir einen anderen Platz zum Schlafen suchen. Ich habe Liam geschrieben. Er will, dass wir sobald wie möglich eine Überfahrt buchen. Ich musste mich entschuldigen. In deinem Namen.«
»Warum hast du das getan? Du hattest kein Recht dazu.«
»Und ob ich das Recht dazu hatte.«
»Guilford ist tot!« Das war ihr einziges Argument, und sie bedauerte, es so rasch verspielt zu haben. Es verlor irgendwie an Gewicht in diesem schlecht beheizten Wohnzimmer.
Alice schniefte. »Woher willst du das wissen?«
»Ich spüre es jeden Tag. Natürlich weiß ich es.«
»Dann hast du eine komische Art zu trauern.« Alice stand auf, machte keinen Hehl aus ihrem Zorn. »Wer hat dir gesagt, du wärst was Besonderes, Caroline? Liam vielleicht? Ich nehme an, er hat dich so behandelt, hat dich in seinem herrschaftlichen Haus in Boston eingesperrt, das arme, leidende Waisenkind. Damals hat jeder einen Menschen verloren, Caroline, manche mehr als nur ihre Eltern… manche haben alles verloren, was ihnen lieb und teuer war, Menschen und Heimat, Söhne, Töchter, Brüder und Schwestern und manche von uns hatten keinen reichen Verwandten, der uns die Tränen getrocknet hat und auch keine Dienstboten, die uns die Komfortbetten gemacht haben.«
»Du bist gemein!«
»Wir machen nicht die Regeln, Caroline. Wir richten uns danach oder wir brechen sie.«
»Ich will nicht für den Rest meines Lebens Witwe bleiben!«
»Wirst du sicher nicht. Aber wenn du auch nur einen Funken Anstand besitzt, dann überleg dir zweimal, ob du diese Affäre fortsetzt — mit einem Mann, der geholfen hat, Guilford umzubringen.«
»Meinen Sie nicht, Sie hätten genug?«
Die Stimme schien aus der Luft der Taverne zu kondensieren, rauchig, feucht und schmeichlerisch. Die Frage gehörte nicht zu denen, die Vale hören wollte. Er suchte nach einer knappen aber erschöpfenden Antwort.
Sei präzise, dachte er und sagte: »Scheren Sie sich zum Teufel!«
Jemand bestieg den Hocker neben ihm. »Das habe ich überhört. Lassen Sie sich nicht stören, Elias. Ich möchte nur ein bisschen plaudern, das ist alles.«
Aufstöhnend drehte Vale den Kopf. »Muss ich Sie kennen?«
Der Mann war groß. Groß und gepflegt, adrett gekleidet und gutaussehend. Vielleicht nicht so gutaussehend, wie er dachte — die schneeweiß blitzenden Zähne erinnerten an ein Pferdegebiss. Vale schätzte ihn auf Zweiundzwanzig, Dreiundzwanzig. Der Bursche war blutjung und für sein Alter viel zu selbstsicher.
»Nein, Sie kennen mich nicht. Ich bin Timothy Crane.«
Hände eines Klavierspielers. Lange, knochige Finger. Vale wollte seine Ruhe.
»Scheren Sie sich zum Teufel!«, wiederholte er.
»Tut mir Leid, Elias, wir müssen uns unterhalten, ob es Ihnen passt oder nicht.« Der Akzent verriet New England und war aufreizend aristokratisch.
»Wer sind Sie, noch ein Neffe von Sanders-Moss?«
»Leider nein. Weder verwandt noch verschwägert.
Aber ich weiß, wer Sie sind.« Crane lehnte sich zu Vale. Die Nähe war bedrohlich. Cranes Atem kitzelte die dünnen Haare auf Vales rechter Ohrmuschel. »Sie sind der Mann, der mit den Toten redet.«
»Ich bin der Mann, der es lieber sähe, wenn Sie sich endlich zum Teufel scherten.«
»Der Mann, der einen Gott in sich trägt. Einen quälenden und anspruchsvollen Gott. Ich weiß, wovon ich rede.«
Am Straßenrand wartete ein Taxi auf Crane. Jesus Christus, dachte Vale, was nun? Er hatte das dunkle Gefühl, dass sein Verstand hoffnungslos ins Hintertreffen geriet. Er nannte dem Fahrer die Adresse und ließ sich neben diesem grinsenden Flegel nieder.
Der Herbst war ruhig gewesen, der Winter noch ruhiger. Die Götter folgten vermutlich ihrem eigenen Terminkalender, und obwohl das Spiel mit Eugene Randall noch nicht zu Ende gespielt war — es war zu zwei weiteren mehr oder weniger belanglosen Seancen gekommen —, schien die Fortsetzung in angenehme Ferne gerückt. Vale hatte sogar die wehmütige Vorstellung genährt, seine Gottheit verliere womöglich das Interesse an ihm.
Irrtum.
Der geschwätzige Mr. Crane verstummte in Gegenwart des Kutschers. Vale versuchte sich mit aller Kraft zu ernüchtern — renkte die Schultern nach hinten, runzelte die Stirn und blinzelte —, derweil das Taxi an elektrischen Masten vorüberkroch, die leuchtende Eiskugeln in die frostige Nacht hängten. Ein mörderischer Winter für Washington.
Schließlich hielten sie vor Vales Reihenhaus. Die Straße war still, alle Fenster enthaltsam finster. Crane zahlte das Taxi, lud zwei immens große Handkoffer aus dem Vehikel, schleppte sie durch Vales Haustür und ließ sie am Schirmständer gehörig aus den Händen rumsen.
»Sie bleiben eine Zeit lang?«
»Fürchte, ja, alter Knabe.«
Alter Knabe? Gott bewahre, dachte Vale. »Haben wir so viel zu besprechen?«
»Jede Menge. Aber das kann bis morgen warten. Sie brauchen ihren Schlaf, Elias. Sie sind wirklich nicht in Form. Ausgeruht redet es sich besser. Nur keine Umstände. Was mich angeht, ich kann die Knie anziehen, das Sofa ist gerade richtig.«
Und tatsächlich streckte er sich unverwandt grinsend auf dem Samtsofa aus.
»Hören Sie, ich bin zu müde, um sie rauszuwerfen. Sollten Sie morgen früh noch hier sein…«
»Werden wir die Sache besprechen. Gute Idee.«
Vale warf die Hände hoch und verließ das Zimmer.
Für Vale begann der Morgen kurz vor Mittag.
Crane saß beim Frühstück. Er hatte geduscht und war rasiert. Das Haar war gekämmt. Das Hemd frisch. Er schenkte sich Kaffee ein.
Vale registrierte unterschwellig den schalen Schweißgeruch, der aus seinen verstopften Poren dampfte. »Wie lange gedenken Sie zu bleiben?«
»Weiß nicht.«
»Eine Woche? Einen Monat?«
Achselzucken.
»Vielleicht haben Sie es noch nicht bemerkt, Mr. Crane, aber ich lebe allein. Und zwar weil ich es möchte. Ich will keinen Hausgenossen, weder unter diesen noch unter anderen Umständen. Und offen gesagt, man fragt doch wenigstens.«
»Tun sie doch nie, oder?«
Die Götter, meinte er.
»Wollen Sie sagen, mir bleibt keine Wahl?«
»Mir hat man keine gelassen. Toast, Elias?«
Wir sind zu zweit, dachte Vale. Das hatte er nicht erwartet. Obwohl es natürlich Sinn machte. Aber wie viele Heimgesuchte liefen da draußen herum? Hunderte? Tausende?
Er faltete die Hände. »Was führt Sie zu mir?«
»Immer dieselbe Frage, hm? Schwer zu sagen. Vorerst zumindest. Ich glaube, Sie sollen mich herumzeigen.«
»Als was? Als meinen Lustknaben?«
»Als Ihren Vetter, Neffen, unehelichen Sohn…«
»Und dann?«
»Und dann tun wir, was man uns zu gegebener Zeit sagt.« Crane legte das Buttermesser zurück. »Ehrlich, Elias, ich kann auch nichts dafür. Und ich vermute, es ist nur auf Zeit. Nichts für ungut.«
»Nichts für ungut, schade.«
»Inzwischen müssen wir ein Kissen für mein müdes Haupt finden. Oder soll ich meine Sachen in der Diele verteilen. Kommt es vor, dass hier Klienten übernachten?«
»Häufig. Was wissen Sie eigentlich von mir?«
»Ein bisschen. Und Sie von mir?«
»Gar nichts.«
»Ach.«
Vale machte einen letzten, verzweifelten Anlauf: »Gibt es denn in der Stadt kein Hotel…?«
»Das ist nicht in ihrem Sinne.« Wieder dieses Grinsen. »In Freud und Leid, unsere Schicksalsfäden scheinen sich zu verheddern.«
Das Erstaunliche war, Vale gewöhnte sich daran, dass Crane seine Mansarde in Beschlag nahm, etwa so wie man sich an eine chronische Migräne gewöhnt. Crane war ein rücksichtsvoller Gast, pingeliger als Vale, was Abdecken, Spülen und Aufräumen betraf, darauf bedacht, nur ja nicht zu stören, wenn Vale zahlende Kundschaft hatte. Er bestand tatsächlich darauf, dass Vale ihn mit zum Sanders-Moss-Salon nahm und als seinen ›Vetter‹ vorstellte, der von Beruf Finanzier war. Zum Glück schien Crane wirklich etwas von der Wall Street und vom Bankwesen zu verstehen, gerade so als sei er damit großgeworden. Wer weiß? Was seine Vergangenheit anging, so machte er lediglich Andeutungen über gewisse familiäre Beziehungen.
Heute jedenfalls kehrten die Tischgespräche bei Sanders-Moss immer wieder zum Verlust der Finch-Expedition und dem drohenden Krieg zurück. Die Hearst-Blätter spekulierten über einen Krieg mit England, behaupteten Beweise zu haben, dass die Engländer die Partisanen mit Waffen belieferten und damit den Tod von Amerikanern in Kauf nahmen. Etwas, das Vale völlig egal war, nicht aber seiner Gottheit.
Wenn sie beide in Vales Domizil waren, versuchte man sich gegenseitig zu ignorieren. Und wenn sie sich doch unterhielten — gewöhnlich nachdem Vale etwas getrunken hatte —, dann unterhielten sie sich über ihre Gottheiten.
»Meine droht nicht bloß«, sagte Vale in einer weiteren kalten Nacht, da er mit Crane in der Falle saß und ein rauer Wind an den Flügelfenstern rüttelte. Tennessee-Whisky. Timor mortibus conturbat me. »Sie versprach, ich würde leben. Ewig, meine ich.«
»Unsterblichkeit«, sagte Crane gelassen, während er mit dem Küchenmesser einen Apfel schälte.
»Und bei Ihnen?«
»Bei mir? Dasselbe.«
»Und… glauben Sie daran?«
Crane sah ihn komisch an. »Elias. Wann haben Sie sich zuletzt geschnitten — beim Rasieren, meine ich?«
»Wie? Ich kann mich nicht erinnern.«
»Lange her?«
»Lange her«, gab Vale zu. »Wieso?«
»Blinddarmentzündung, Grippe, Schwindsucht? Knochenbrüche, Zahnschmerzen, Niednagel?«
»Nein, aber… was wollen Sie damit sagen?«
»Sie kennen die Antwort, Elias. Sie trauen sich bloß nicht. Waren Sie nie in Versuchung — über dem Waschbecken, mit dem Rasiermesser in der Hand?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Crane spreizte die linke Hand auf die Tischplatte und setzte das Messer auf. Die dünnen Knochen knirschten, dann steckte die Klinge im Holz. Vale fuhr zurück und blinzelte.
Crane zuckte kurz zusammen. Dann lächelte er. Er schloss die Faust um den Griff des Messers und zog die Klinge aus der Hand. Ein Tropfen Blut quoll aus der Wunde. Ein einziger. Crane tupfte ihn mit der Serviette weg.
Die Haut darunter war glatt, rosa, unverletzt.
»Christus«, hauchte Vale.
»Verzeihen Sie, dass ich den Tisch beschädigt habe«, sagte Crane. »Aber jetzt wissen Sie, was ich meine.«
AUS DEM TAGEBUCH VON GUILFORD LAW:
Entschuldige meine Schrift. Das Feuer wärmt, aber das Licht taugt nicht zum Schreiben. Caroline, ich tröste mich mit dem Gedanken, du könntest diese Zeilen lesen. Ich hoffe, du musst nicht frieren, da wo du bist.
Hier ist es relativ warm, gemessen an dem, was wir gewöhnt sind — zu warm vielleicht. Unnatürlich warm. Aber dazu muss ich ausholen.
Heute früh sind wir zu unserer Exkursion ins Innere der Stadt aufgebrochen, Tom Compton, Dr. Sullivan und ich. Wir müssen einen komischen Anblick geboten haben (auf jeden Fall für Diggs) — in Felle gehüllt und weiß wie Pusteblumen, zwei, die hinken (der eine rechts, der andere links), ein Schlitten mit Proviant für vier Tage, den eine grunzende Wollschlange zog. ›Eine komische Nummer‹ eben, wie Digby meinte.
Wir ignorierten die Sticheleien und ließen uns von unserem sechsbeinigen Schrittmacher tiefer in das Ruinenfeld lotsen, in die bedrückende Stille der inneren Stadt. Caroline, ich kann dir nicht sagen, wie unheimlich es hier ist, regelrecht gespenstisch, diese wuchtigen, glatten Bauwerke, uferlos in Reih und Glied. Wir bewegten uns nach Südwesten, über uns der sonnige Himmel, unter uns der strahlend weiße, feste Schnee.
Die Sonne blieb allerdings so tief, dass wir auf den breiten, verschneiten Straßen meistens im Schatten pilgerten.
Tom Compton führte die Wollschlange an der kurzen Leine. Der Grenzer war nicht gerade gesprächig, also hinkte ich mit Sullivan hinterher in der Hoffnung, eine menschliche Stimme möge die Melancholie dieser gewaltigen, sich immerzu wiederholenden Straßen zerstreuen. Doch Sullivan war nicht minder wortkarg.
»Wir sind die ganze Zeit davon ausgegangen, dass es sich bei den Erbauern um intelligente Wesen handelt«, sagte er plötzlich. »Das muss nicht so sein.«
Ich wollte wissen, wie er das meinte.
»Die äußere Erscheinung kann täuschen. Haben Sie schon einmal einen afrikanischen Termitenhügel gesehen? Kunstvolle, ausgeklügelte Gebilde, mannshoch und größer. Aber der Architekt heißt Evolution. Oder denken Sie an die komplexe Geometrie von Honigwaben.«
»Sie meinen, wir könnten uns in einer Art Insektenstock befinden?«
»Ich will nur sagen, auch wenn diese Gebilde zweifellos künstlich sind, so spricht ihre Gleichförmigkeit, was die Größe und vermutlich auch die Funktion angeht, entschieden gegen einen menschlichen Erbauer.«
»Welche Insekten schneiden Granitblöcke von der Größe des Washington Monument?«
»Unvorstellbar. Und — was noch schlimmer ist — ohne Beispiel. Die Literatur kennt nichts Vergleichbares. Wer oder was auch immer diese Stadt gebaut hat, sie scheinen weder Nachfahren noch Vorfahren zu haben. Eine Art punktuelle, abgekapselte Schöpfung.«
Das passte haargenau zu meinen Gedanken. Darwinia ist uns fremd, aber es hat seine Schönheit — die moosgrünen Wiesen, die Lichtungen in den Salbeikieferhainen, die friedlichen Flüsse. Diese Ruinen haben nichts von dieser Anmut. Stunde um Stunde zogen wir durch diese schrecklich monotonen Straßen, während die Sonne nicht über die geborstenen Monumente hinauskam. Die Schneedecke vor uns war völlig unberührt und makellos. Das gab weder Sullivan noch mir zu denken, bis Tom uns mit der Nase darauf stieß. In den vier oder fünf Tagen nach dem letzten Schnee hatte hier kein Tier eine Spur hinterlassen, kein Vogel, auch kein Nachtfalke. Nachtfalken sind in diesem Tal zu Hause; sie hocken scharenweise in den Ruinen am Rand der Stadt. (Leichte Beute, wenn man keine Wahl hat. Nachts pirscht man sich an den schlafenden Schwarm heran, und zwar mit einer Fackel; das Licht blendet sie; ein Mann kann sechs oder sieben Stück mit einem Stock zur Strecke bringen, bevor sie ihre fünf Sinne beisammen haben und auf und davon sind.) Aber hier gab es keine. Zugegeben, mitten in diesem Steinlabyrinth gab es so gut wie keine Nahrung. Trotzdem, dass sich kein Lebewesen hierher verirren sollte, war schon seltsam. Das zerrt an den Nerven, Caroline, und ich muss gestehen, wir wurden immer nervöser, je länger die Schatten wurden. Wir waren hellwach, hätte sich auch nur das Geringste gerührt in unserer Umgebung, es hätte uns bis ins Mark getroffen.
Nicht dass sich irgendetwas getan hätte. Gelegentlich verzeichneten wir das Knistern von Eis oder den weichen Sturz von herabgleitendem Schnee. Bei Einbruch der Dunkelheit schlugen wir ungestört unser Lager auf. Dass wir immer noch nicht da sind, wo Sullivan das Zentrum der Stadt vermutet, zeigt, wie ausgedehnt dieses Artefakt ist. Wir hatten Brennholz dabei, Moscheeäste, hart aber hohl und nicht besonders schwer; in einem Bauwerk mit einem halbwegs intakten Dach entfachten wir ein Feuer. Natürlich nicht, um diese kubische Halle zu heizen, aber wir waren aus dem Wind und konnten uns ein behagliches Eckchen schaffen.
Ich sollte noch erwähnen, dass Tom Compton, der unerschütterliche Pragmatiker, von uns dreien der mit Abstand nervöseste ist. Als ich heute Abend zu schreiben anfing, sagte er etwas Seltsames… murmelte es, so weit vorgebeugt, dass ich fürchtete, sein struppiger Vollbart könne Feuer fangen.
»Ich habe von diesem Ort geträumt«, sagte er.
Mehr wollte er wohl nicht sagen, doch mir war, als hätte mich ein kalter Hauch gestreift. Denn, Caroline, ich habe auch von diesem Ort geträumt, im Herbst, als ich im Fieber lag und das Gift noch in meinem Körper kreiste und ich den Tag nicht von der Nacht unterscheiden konnte… Ich habe auch von dieser Stadt geträumt, und ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.
… und ich habe letzte Nacht wieder von ihr geträumt.
Doch ich muss dir noch mehr erzählen, Caroline, aber viel Zeit bleibt mir nicht. Unser Proviant ist begrenzt und Sullivan besteht darauf, nicht die geringste Zeit zu vergeuden. Daher will ich dir jetzt ohne Umschweife erzählen, was wir gefunden haben.
Die Stadt ist nicht bloß ein Gitter aus Quadraten. Sie hat, wie Sullivan zurecht vermutet, ein Zentrum. Und im Zentrum liegt keine Kathedrale, auch kein Marktplatz, sondern etwas völlig Abwegiges.
Heute Morgen stießen wir auf das Gebäude. Irgendwann einmal muss es aus großer Entfernung zu sehen gewesen sein, inzwischen ist es durch Erosion getarnt. (Ich kann mir nicht vorstellen, dass Finch das unsägliche Alter dieser Ruinen bestreiten würde.) Das Bauwerk (oder das, was noch übrig ist), steht mitten in einem Trümmerfeld. Gewaltige Steinblöcke versperrten uns den Weg, manche so glatt, als kämen sie frisch aus dem Steinbruch, andere zu grotesken Formen erodiert. Wir ließen den Schlitten zurück und pilgerten durch diesen Irrgarten aus Zufall und Witterungseinflüssen, bis wir endlich auf den Kern des zentralen Bauwerks stießen.
Eine Kuppel aus schwarzem Basalt erhebt sich aus den Trümmern, die Peripherie zu gut einem Viertel offen. Sie ist etwa hundert Fuß hoch und so breit wie ein Stadtwürfel. Die intakten Teile sind noch glatt, beinah seidig, ein Verfahren, an dem Sullivan noch rätselt.
Ein ständiger Nebel verhüllt das Bauwerk, was vielleicht erklärt, warum es uns von den Talhängen aus entgangen war. Schnee und Eis, so Sullivan, wurden von unten her erwärmt und schmolzen und verdunsteten. Selbst hier unten im Trümmerfeld war die Luft spürbar warm, und die Kuppel war schneefrei. Die Temperatur muss ein gutes Stück über dem Gefrierpunkt liegen.
Alle drei standen wir schweigend in diesen Anblick versunken. Ich bedauerte den Verlust meiner Kamera. Was wäre das für eine Platte geworden! The desolate Alpine ruins of the European Hinterland. Caroline, von dieser Photographie hätten wir gut und gerne ein Jahr leben können.
Keiner von uns sprach aus, was er dachte. Vielleicht war es zu phantastisch. Was ich sah, erinnerte mich einmal mehr an die Abenteuergeschichten von E. R. Burroughs mit ihren vulkanischen Höhlen und ihren Tiermenschen, die uralte Götter verehrten.
(Ich weiß, meine Lektüre ist dir ein Dorn im Auge, Caroline, aber die Phantasien von Mr. Burroughs entpuppen sich geradezu als Baedecker für diesen Kontinent! Uns fehlt lediglich eine richtige Prinzessin und mir das Schwert zum Umschnallen.)
Wir kehrten zum Schlitten zurück, fütterten die Wollschlange, nahmen von unseren Vorräten, was wir tragen konnten, und pilgerten wieder retour. Sullivan war so aufgeregt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte; wir mussten ihn abhalten, wie verrückt in der Gegend herumzurennen. Er fand sich mit einem Lager knapp hinter dem Rand des Doms ab und ist offensichtlich enttäuscht, dass wir nicht weiter vorgedrungen sind — aber ein gut Teil des Terrains liegt unter dem seidig glänzenden Steingewölbe, überall liegen Gesteinsbrocken herum, und es ist ehrlich gesagt nicht gerade beruhigend, diese ungestützten Granitmassen über sich zu wissen.
Das Innere des Doms war nahezu lichtlos — die Sonne schickte ihre letzten Strahlen durch die Lücken der Ruinenlandschaft — und Eile tat Not, wenn unser Feuer noch flackern sollte, bevor es vollends dunkel war.
Wir begegneten der Nacht mit einer Mischung aus Erregung und Besorgnis, kauerten am Feuer wie die Westgoten in einem römischen Tempel. Jenseits des Feuerscheins ist nichts zu sehen als der flackernde Widerschein an der hohen Innenseite des Gewölbes.
Nein, das stimmt nicht ganz. Sullivan hat unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Licht gelenkt, noch schwächer als der Widerschein des Feuers, die Quelle muss tief im Innern dieses Trümmerhaufens liegen. Ein natürliches Phänomen, hoffe ich inbrünstig, denn ich werde das haarsträubende Gefühl nicht los, dass wir hier nicht allein sind.
Das Licht taugt nicht zum Schreiben. Ich will mir nicht die Augen verderben. Morgen mehr.
HIER ENDET DAS TAGEBUCH.
»Ein bisschen mehr Seil, bitte, Guilford.«
Sullivans Stimme kam aus der Tiefe, als trügen die Echos sie nach oben. Guilford gab noch ein paar Fuß Seil aus.
Das Seil gehörte zu den wenigen nützlichen Dingen, die man nach dem Überfall im letzten Sommer noch gefunden hatte. Die beiden Rollen Hanfseil hatten mehr als ein Leben gerettet — hatten zum Anschirren der Tiere, zum Vertäuen der Zelte und für vieles mehr gedient. Doch das Seil war nur eine Sicherheitsvorkehrung.
In der Mitte der Kuppel hatten sie einen kreisrunden Schacht von etwa fünfzig Yards Durchmesser entdeckt, an dessen Peripherie eine steinerne Rampe in die Tiefe führte. Die flachen, zehn Fuß langen Stufen waren unversehrt, die Konturen durch Jahrhunderte der Erosion gerundet. Ein Wasserstrom schnitt den südlichen Rand des Brunnenschachts, stürzte, zerstob zu Sprühregen und verlor sich in der nebelverhüllten Tiefe. Von oben fiel schwaches Tageslicht herunter, von unten drang ein kühles, züngelndes Leuchten herauf. DasHerz der Stadt, dachte Guilford. Es ist noch warm und schlägt noch immer. Wenn auch nur schwach.
Sullivan wollte dem Phänomen auf den Grund gehen.
»Das Gefälle ist unerheblich«, sagte er. »Die Treppe ist intakt und war bestimmt nicht als Verzierung gedacht. Da drinnen ist es nicht gefährlicher als draußen in der Kälte.«
Tom Compton strich über seinen taunassen Bart. »Du bist dämlicher als ich dachte«, sagte er. »Du willst doch da nicht runterklettern.«
»Was schlägst du denn vor?« Sullivan fuhr auf dem Absatz herum, um dem Grenzer ins Gesicht zu sehen. Guilford hatte ihn noch nie so zornig erlebt, Sullivans Gesicht glühte ziegelrot. »Dass wir in unser mickriges Pueblo zurückkehren und auf schönes Wetter warten? Uns kommenden Frühling Richtung Norden zum Bodensee schleppen, immer vorausgesetzt, die Kälte oder die Partisanen oder Rheinfelden machen uns keinen Strich durch die Rechnung? Damn thee, Tom, das hier ist vielleicht unsere einzige Chance, etwas über diese Stadt zu lernen!«
»Wozu lernen«, konterte der Grenzer, »wenn man das Gelernte mit ins Grab nimmt?«
Sullivan wandte sich verächtlich ab. »Wozu Freundschaft oder Liebe oder das ganze Leben? Wir nehmen alles mit ins Grab?«
»Hatte ich eigentlich nicht vor«, sagte Tom. »Wenigstens jetzt noch nicht.«
Er haspelte das Seil von der Hand.
Wenigstens haben wir Tageslicht, dachte Guilford. Durch die teilweise eingestürzte Kuppel sickerte allerdings nur wenig davon. Das Seil beruhigte. Sie machten es wie die Polarforscher. Das Gefälle war mäßig, aber die Feuchtigkeit machte das erodierte Gestein glitschig, ein Sturz konnte zur Rutschpartie werden und niemand wusste, wie weit diese Rampe in den Nebel hinabreichte. Inwendig betrug die Sichtweite gerade mal ein paar Yards. Sie warfen einen Stein, doch aus den Echos war nicht schlau zu werden.
Sullivan ging voran, schonte sein schlimmes Bein. Dann kam Guilford, der es mit dem seinen genauso hielt. Der Grenzer folgte ihnen. Die spiralförmige Rampe war immerhin so breit, dass Guilford es vermeiden konnte, direkt in die dunstverhangene Tiefe des Schachts zu blicken.
Guilford gingen lauter Fragen durch den Kopf. Wozu war dieser Schacht gebaut worden? Wer war vor undenklichen Zeiten auf dieser Rampe nach unten gestiegen? Wie tief nach unten? Wie sah diese flackernde Unterwelt aus? Eine vulkanische Höhle mit einem Lavasee? Hatten nicht die Azteken Schächte für ihre Menschenopfer benutzt? Viel Gutes hatte es mit diesem Kaninchenloch bestimmt nicht auf sich.
Guilford schätzte, dass sie gut hundert Fuß tief waren, als Sullivan das Kommando zum Anhalten gab. Der Rand des Schachts war inzwischen so unsichtbar wie der Boden, beides von schwebenden Nebelschwaden verhüllt. Sullivan war außer Atem, rang nach Luft, doch diese seltsame, trübe Strahlung brachte seine Augen zum Leuchten.
Guilford fragte, ob es denn nötig sei, noch tiefer hinabzusteigen. »Nichts für ungut, Dr. Sullivan, aber was genau versprechen Sie sich von dem Abstieg?«
»Die Antwort auf unzählige Fragen.«
»Das ist eine Art Brunnen oder Zisterne«, sagte Guilford.
»Haben Sie denn keine Augen im Kopf! Ein Brunnen ist es auf keinen Fall. Wenn mich nicht alles täuscht, sollte der Schacht das Grundwasser aussperren. Sind diese Steine vielleicht so gewachsen? Die Blöcke sind behauen und die Fugen abgedichtet… keine Ahnung womit, aber das Material ist ziemlich gut erhalten. Auf jeden Fall sind wir schon unter dem Grundwasserspiegel. Das ist doch kein Brunnen, Mr. Law.«
»Was dann?«
»Egal, ob das hier einem praktischen oder einem rituellen Zweck gedient hat, es muss von großer Bedeutung gewesen sein. Die Kuppel ist ein Wahrzeichen, und auf diesem Wendelgang herrschte vermutlich reger Verkehr.«
»Verkehr?«
»Die Erbauer der Stadt.«
»Aber die sind doch ausgestorben«, sagte Guilford.
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, knurrte der Grenzer von weiter hinten.
Der Abstieg nahm kein Ende. Nichts als die steinerne Rampe, die sich monoton in den bläulichen Nebel schraubte. Schließlich gab Sullivan auf, er war am Ende seiner Kräfte.
»Wir brauchen«, keuchte er, »wir brauchen einfach mehr Männer.«
Guilford fragte sich, wen Sullivan denn meinte. Keck? Robertson? Den einarmigen Digby?
Tom blickte in die farblose Waschküche hinauf. »Wir sollten nicht lange warten. Das bisschen Tageslicht ist bald verschwunden.« Er warf einen skeptischen Blick auf Sullivan. »Wenn du verschnauft hast…«
»Macht euch um mich keine Gedanken. Los, vorwärts! Umgekehrte Reihenfolge. Ich bin das Schlusslicht.«
Er war bleich und schweißnass.
Der Grenzer zuckte die Achseln und machte kehrt. Guilford tat es ihm nach. Jedes Mal, wenn sich die Leine zwischen ihm und Sullivan straffte, musste Tom auf Zuruf warten. Und das passierte laufend. Der Atem des Botanikers ging rasselnd, mit jeder Stufe keuchte er lauter. Nicht lange, und er fing an zu husten. Tom warf einen vielsagenden Blick über die Schulter und verlangsamte den Aufstieg. Sie kamen nur noch im Schneckentempo voran.
Der Nebel wurde dichter. Bald konnte Guilford die gegenüberliegende Wand nicht mehr erkennen, die Steinstufen verschwanden hinter einem Vorhang aus Dampfschwaden. Jetzt bewährte sich das Seil, als selbst der breite Rücken eines Tom Compton zu einem vagen Schemen wurde.
Mit den sichtbaren Anhaltspunkten ging auch die Orientierung verloren. Guilford hatte keine Ahnung, wie weit sie vorangekommen waren oder wie weit es noch bis oben war. Ist ganz egal, sagte er sich grimmig. Jeder Schritt bringt uns einen Schritt weiter. Das schlimme Bein tat jetzt höllisch weh, der Schmerz feuerte fadendünn aus der Wade ins Knie.
Ich hätte nicht so weit runter gedurft, dachte Guilford, aber Sullivans Begeisterung hatte ihn angesteckt, die Aussicht auf eine ungeheuerliche Offenbarung irgendwo da unten. Er blieb für einen Augenblick stehen, schloss die Augen, spürte den kalten Luftstrom an sich vorüberstreichen. Da waren die mineralischen Gerüche von Granit und Nebel. Und noch etwas. Beinah wie Moschus. Nein, ganz anders.
»Guilford!«
Toms Stimme. Guilford hob einfältig den Blick.
»Aufpassen!«, rief der Grenzer. »Wo stehen Sie denn da?«
Er stand am Rand des Abgrunds. Ein Schritt, und er wäre in die Tiefe gestürzt.
»Lassen Sie die linke Hand nicht von der Wand. Du auch, Sullivan.«
Sullivan kam in Sicht, nickte wortlos. Er war ein Schemen, ein Geist, ein schlaksiges Gespenst.
Guilford tastete sich hinter dem Grenzer voran, als ihm das Seil plötzlich die Taille abschnürte. Er schrie »Halt!« und drehte sich um.
»Dr. Sullivan?«
Keine Antwort. Das Seil ließ nicht locker. Es verschwand im Nebel.
»Dr. Sullivan — alles in Ordnung?«
Keine Antwort, nur der unnachgiebige Widerstand.
Tom Compton kam aus dem Nebel gekraxelt. Guilford machte kehrt, lockerte das Seil und tastete sich zurück. Dabei spähte er angestrengt in das verhangene Dunkel.
Er fand den Botaniker, der bäuchlings auf dem Granitsims lag, Sullivans Hand berührte noch die feuchte Steinwand.
»Jesses!« Tom ließ sich auf die Knie fallen, wälzte Sullivan auf den Rücken und fühlte ihm den Puls.
»Er atmet«, sagte der Grenzer. »So gut wie.«
»Was ist mit ihm?«
»Keine Ahnung. Er ist leichenblass und fühlt sich kalt an. Sullivan! Aufwachen, du Dickschädel! Wir müssen weiter!«
Sullivan wachte nicht auf. Sein Kopf rollte auf die Seite. Aus einem Nasenloch sickerte Blut. Er sieht irgendwie geschrumpft aus, dachte Guilford benommen. Als habe ihm jemand die Luft rausgelassen.
Tom nahm sein Bündel vom Rücken und stopfte es unter den Kopf des Botanikers. »Dämlicher Hund, nur ja nicht kürzer treten aus lauter Liebe zum Leben…«
»Was machen wir jetzt?«
»Ich überlege.«
Alle Mühe war vergeblich, Sullivan wachte nicht auf.
Tom Compton schaukelte grübelnd auf seinen Füßen, dann schulterte er sein Bündel und befreite sich aus dem Seil. »Zum Teufel damit. Hören Sie, Guilford, ich hole Decken und Proviant vom Schlitten. Dann hole ich Hilfe und Sie bleiben bei ihm.«
»Er ist nass und schon ganz steif vor Kälte.«
»Im Freien ist es noch kälter. Und der Transport könnte ihn umbringen. Geben Sie mir zwei Tage. Dann bin ich mit Keck und Farr zurück. Farr kennt sich besser aus. Sie haben nichts zu befürchten, und was aus Sullivan wird… der arme Hund.« Er zog eine Grimasse aus Besorgnis und Strenge. »Aber bleiben Sie bei ihm, Guilford. Lassen Sie ihn nicht allein.«
Vielleicht wacht er nicht auf, dachte Guilford. Er stirbt vielleicht. Und dann bin ich es, der allein ist in diesem gottverlassenen Loch.
»Ich bleibe.«
Der Grenzer nickte knapp. »Wenn er stirbt, warten Sie auf mich. Wir sind so hoch, dass Sie Tag und Nacht unterscheiden können. Kapiert? Und halten Sie die Ohren steif.«
Guilford nickte.
»Also dann.« Tom beugte sich über den bewusstlosen Sullivan und strich ihm eine graue Strähne aus der nasskalten Stirn. So viel Zartgefühl hätte Guilford ihm nicht zugetraut. »Durchhalten, alter Schürzenjäger! Gottverdammter, dämlicher Forscher.«
Mit den Decken, die Tom geholt hatte, baute Guilford ein Lager, das Sullivan gegen die Kälte abschirmte. Verglichen mit der Außentemperatur war es in diesem Schacht beinah behaglich — die Temperatur lag über dem Gefrierpunkt; doch der Nebel drang durch die Kleidung und unterkühlte die Haut.
Als Tom im Nebel verschwand, fühlte Guilford sich mit einem Mal unsäglich einsam. Was ihm blieb, waren seine Gedanken und die langen, mühsamen Atemzüge des Botanikers. Er schwebte zwischen Langeweile und Panik. Hätte er wenigstens etwas zu lesen gehabt — egal was. (Was für ein verrückter Wunsch.) Der einzige Lesestoff, der den Überfall überlebt hatte, war Digbys New Testament in Taschenformat und Diggs hütete es wie seinen Augapfel. Diggs war überzeugt, dass ihm diese Dünndruckausgabe das Leben gerettet hatte: Das Buch war sein Talisman. Und das Argosy war längst nicht mehr.
Als ob er in dieser arsenfarbenen Düsternis hätte lesen können…
Als es über ihm dunkel wurde und die feuchte Luft einen satteren und giftigeren Grünton annahm, wusste er, dass die Nacht hereinbrach. Winzige Partikel aus Staub und Eis wehten aus der Tiefe herauf, wie Kieselalgen in einer Meeresströmung. Er richtete das Deckenlager rings um Dr. Sullivan, dessen Atemgeräusche sich inzwischen so anhörten, als säge jemand nasses Kiefernholz. Dann entzündete er eine der beiden Moscheeholzfackeln, die Tom Compton geholt hatte. Er zitterte am ganzen Leib, er hatte es nicht gewagt, auch nur eine Decke für sich zu behalten. Jedes Mal, wenn die Füße taub wurden, stand er auf, immer bedacht die Hand nicht von der Wand zu lassen. Er häufte ein paar lose Steine auf, stützte die Fackel sorgfältig ab und wärmte sich die Hände über der niedrigen Flamme. Moscheeholz in Wollschlangentalg getaucht, die Fackel brannte sechs bis acht Stunden, allerdings nicht besonders hell.
Er hatte Angst zu schlafen.
In der Stille waren feine Geräusche zu hören — ein fernes Pochen; oder hörte er sein eigenes Blut pulsieren und die Finsternis wirkte als Verstärker? Ihm fiel eine Geschichte von H. G. Wells ein, The Time Machine: die unterirdischen Morlocks mit ihren glühenden Augen und schrecklichen Gelüsten. Eine unwillkommene Erinnerung.
Damit die Zeit verging, redete er mit Sullivan. Vielleicht konnte Sullivan ihn ja hören. Die Augen des Botanikers blieben allerdings geschlossen, und aus seiner Nase sickerte nach wie vor Blut. In gewissen Abständen drückte Guilford seinen Hemdschoß in ein Rinnsal aus Schmelzwasser und wischte ihm das Blut ab. Guilford erzählte liebevoll von Caroline und Lily. Von seinem Vater, der bei den Hungerunruhen in Boston erschlagen worden war, als er gegen alle Vernunft versucht hatte, seine Druckerei aufzuschließen — etwas, das er an jedem Arbeitstag getan hatte, seit er großjährig war. Ein bisschen von dieser Courage hätte Guilford jetzt brauchen können.
Warum schlug Sullivan nicht einfach die Augen auf? Er hätte ein paar Episoden aus seinem Leben erzählen können. Argumente für ein Darwinia vorbringen können, das uralt war und sich entwickelt hatte. Er hätte dem Wundersamen mit dem kühlen Schwert der Vernunft zu Leibe rücken können. Hoffentlich behältst du Recht, dachte Guilford. Hoffentlich ist dieser Kontinentnicht bloß ein Traum oder — schlimmer noch — ein Alptraum. Hoffentlich bleibt alt, was alt ist, und tot, was tot.
Er wünschte, er könnte sich auf eine warme Mahlzeit und ein Bad freuen. Und auf ein Bett, in dem Caroline lag, die warmen Konturen ihres Körpers unter einer Schneewehe aus Baumwolllaken. Er mochte diese Geräusche nicht, die aus der Tiefe kamen, auch nicht wie sie anschwollen und verebbten, als gehorchten sie irgendwelchen Gezeiten.
»Hoffentlich sterben Sie nicht, Dr. Sullivan. Ich weiß, Sie würden nie und nimmer aufgeben, bevor Sie nicht wenigstens ein bisschen von alledem verstanden hätten. Keine leichte Aufgabe, was?«
Sullivan holte tief Luft, aber wie unter einem Würgegriff. Guilford sah hin und erschrak, als die Augen des Botanikers aufsprangen.
Sie starrten ihn an — oder durch ihn hindurch —, schwer zu sagen, was sie taten. Eine Pupille war grotesk geweitet, das Weiße blutrot gerändert.
»Wir sterben nicht«, ächzte Sullivan.
Guilford widerstand dem Drang zurückzuweichen. »He!«, sagte er. »Dr. Sullivan, nicht bewegen! Nicht aufregen. Alles wird gut, entspannen Sie sich. Tom holt Hilfe.«
»Hat er Ihnen das nicht gesagt? Hat Guilford Ihnen nicht gesagt, dass Guilford nicht stirbt?«
»Nicht sprechen, Dr. Sullivan.« Nicht sprechen, wiederholte Sullivan bei sich, sonst piss ich mir vor Angst in die Hose.
Sullivans Lippen verrutschten zu der Seite, wo die Augenbraue Runzeln in die Stirn schob, eine schreckliche Grimasse. »Sie haben von ihnen geträumt…«
»Bitte nicht, Dr. Sullivan.«
»Grün wie altes Kupfer. Wirbelsäule vorne… Sie fressen Träume. Fressen alles!«
Tatsächlich. Doch Guilford schob die Erinnerung beiseite. Er durfte einfach nicht in Panik geraten.
»Guilford!« Die linke Hand des Botanikers schnellte vor und bekam Guilfords Handgelenk zu packen, während die rechte reflexartig ins Leere schnappte. »Hier ist eine von den Stellen, wo die Welt endet!«
»Sie reden wirres Zeug, Dr. Sullivan. Bitte, versuchen Sie zu schlafen. Tom wird bald zurück sein.«
»Sie sind in Frankreich gestorben. Im Kampf gegen die Boches. Ausgerechnet.«
»Ich sage das nicht gerne, aber Sie machen mir Angst, Dr. Sullivan.«
»Ich kann nicht sterben!«, beharrte Sullivan.
Ächzte und hauchte sein Leben aus.
Nach einer Weile schloss Guilford ihm die Augen.
Er saß noch etliche Stunden bei Dr. Sullivan, summte unmelodisch vor sich hin und wartete, dass irgendetwas aus dem Dunkel geklettert kam, um ihn heimzusuchen.
Kurz vor Morgengrauen fiel er erschöpft in Schlaf.
Sie wollen endlich in die Welt hinaus!
Guilford spürt ihre Wut, ihre Enttäuschung.
Er kann sie nicht benennen. Eigentlich existieren sie noch nicht. Sie sind gefangen zwischen Idee und Verwirklichung, unfertig, halb bewusst, verzehren sich nach Fleischwerdung. Physisch sind sie vage, grüne Schemen, größer als Menschen, gepanzert, stachelig, mit riesigen Schnauzen, die sich öffnen und schließen in stummer Wut.
Nach der Schlacht hatte man sie hierher verbannt.
Das sind nicht meine Gedanken. Guilford dreht sich, er ist schwerelos. Er schwebt tief unten im Schacht, es ist nicht Wasser, das ihn trägt. Es ist die Luft, die so strahlt. Irgendwie ist dieses unverursachte Licht zugleich Luft und Stein und er selbst.
Der Wachsoldat schwebt neben ihm. Ein schmächtiger Mann in Uniform. Soldat der US-Army. Licht durchdringt ihn, geht von ihm aus. Es ist der Soldat aus Guilfords Träumen, der Mann könnte sein Zwillingsbruder sein.
Wer bist du?
Du selbst, erwidert der Wachsoldat.
Das ist nicht möglich.
Scheint so. Aber es stimmt.
Sogar die Stimme ist ihm vertraut. Es ist die Stimme, mit der Guilford zu sich selbst spricht, die Stimme seiner Gedanken.
Und wer sind die da? Er meint die gebannten Kreaturen. Dämonen?
Könnte man sagen. Oder Ungeheuer. Sie wollen nur eins: ihre Existenz. Letzten Endes wollen sie alles sein, was existiert.
Guilford kann sie jetzt deutlicher sehen. Schuppen und Scheren, die vielen Arme, die schnappenden Zähne.
Tiere?
Viel mehr als Tiere. Aber eben auch Tiere.
Du hast sie hier eingesperrt?
Ja. Nicht ich allein. Andere haben geholfen. Aber der Bann ist unvollkommen.
Was willst du damit sagen?
Siehst du, wie sie auf der Schwelle zur Existenz zittern? Nicht lange, und sie nehmen wieder physische Gestalt an. Wenn wir sie nicht endgültig bannen.
Bannen? fragte Guilford. Er hat jetzt Angst. Er begreift zu wenig. Er spürt den enormen Druck aus der Tiefe, das schreckliche, seit Äonen vereitelte und aufgestaute Verlangen, das auf Befreiung wartet.
Wir werden sie bannen, sagte der Wachsoldat gelassen.
Wir?
Du und ich.
Schockierende Worte. Guilford spürt die unsägliche Bürde der Verantwortung. Sie ist schwer wie der Mond. Ich begreife nichts von alledem!
Geduld, kleiner Bruder, sagt der Soldat und trägt ihn durch das unheimliche Licht nach oben, durch den Nebel und die Hitze der vereitelten Fleischwerdung, wie ein Engel in der abgerissenen Uniform der US-Army, und dann löst er sich in Luft auf.
Tom Compton stand über ihm, in der Hand eine brennende Fackel.
Ich würde ja aufstehen, sagte sich Guilford, wenn ich nur könnte. Wenn es hier nicht so kalt wäre. Wenn sein Körper nicht überall so steif wäre. Wenn er seine wirren Gedanken ordnen könnte. Er hatte etwas verdammt Wichtiges zu sagen — es betraf Dr. Sullivan.
»Er ist gestorben«, sagte Guilford. Das war es. Die Leiche lag neben ihm, zugedeckt. Das Gesicht guckte heraus, lag bleich und reglos im Schein der Fackel. »Tut mir Leid, Tom.«
»Ich weiß«, sagte Tom. »Es war gut, dass Sie bei ihm waren. Können Sie gehen?«
Guilford versuchte auf die Füße zu kommen. Mit dem Erfolg, dass er sich die Hüfte an einer Steinkante schlug.
»Ich stütze Sie«, sagte der Grenzer.
Schon wieder fühlte er sich getragen.
Guilford kämpfte mit bleierner Müdigkeit. Der taube Körper wollte nichts weiter als die Augen schließen und ausruhen. »Wir machen ein ordentliches Feuer, wenn wir aus dem Loch sind«, ermunterte ihn der Grenzer. »Treten Sie fester auf.«
»Wie lange hat es gedauert?«
»Drei Tage.«
»Drei?«
»Es gab Probleme.«
»Wer ist mitgekommen?«
Sie hatten den Rand des Schachts erreicht. Das Innere der Kuppel schwamm in wässrigem Tageslicht. Eine ausgemergelte Gestalt saß mit hängenden Schultern an eine Steinplatte gelehnt, die Segeltuchkapuze ins Gesicht gezogen. Der Dunstschleier verwischte die Züge.
»Finch«, sagte Tom. »Finch ist mitgekommen.«
»Finch? Wieso Finch? Was ist mit Keck und mit Robertson?«
»Sie sind tot, Guilford. Keck, Robertson, Diggs, Donner und Farr. Alle tot. Und uns blüht dasselbe, wenn Sie nicht in Bewegung bleiben.«
Guilford stöhnte und schlug die Hand vor die Augen.
London wurde vom Frühling überrascht. Das auftauende Sumpfland im Osten und Westen verlieh der Luft einen erdigen Geruch. Die Thames Street, frisch gepflastert von den Docks bis zum Tower Hill, rasselte vor Geschäftigkeit. Im Westen wurde schon wieder an der Kuppel der neuen St. Paul’s Cathedral gearbeitet.
Caroline wich einer Schafherde aus, die zum Markt getrieben wurde; sie hatte selbst das Gefühl, auf dem Weg zur Schlachtbank zu sein. Seit Wochen hatte sie jeden Kontakt mit Colin Watson vermieden, seine Einladungen abgelehnt und nicht einmal seine Briefchen gelesen. Sie wusste selbst nicht, warum sie jetzt zur Candlewick Street ging, um ihn in dieser Imbissstube zu treffen — vielleicht weil sie das Gefühl nicht loswurde, ihm etwas zu schulden, und wenn es nur eine Erklärung war. Sie konnte doch nicht sang- und klanglos nach Amerika abreisen.
Und außerdem war er Soldat. Er gehorchte Befehlen. Er war nicht Lord Kitchener; er war auch nicht die Royal Navy. Er war nur ein winziges Rädchen im Getriebe.
Sie kannte die Imbissstube nur zu gut. Fachwerk im Tudor-Stil. Bleiverglaste Fenster mit Rinnsalen aus Kondenswasser. Der riesige, silberne Samovar dampfte. Die Gäste waren grobgestrickt, Arbeiterklasse, hauptsächlich Männer. Caroline ließ den Blick über ein Meer aus Wollmützen schweifen, bis sie Colin an einem rückwärtigen Tisch entdeckte, den Mantelkragen hochgestellt, das lange Gesicht voll banger Erwartung.
»Na ja«, sagte er. »Da sind wir ja wieder.« Er hob die Tasse wie zu einem Prost.
Caroline wollte jetzt keinen Streit. Sie setzte sich und kam sofort zur Sache. »Du sollst wissen, dass ich wieder nach Hause fahre.«
»Du bist doch eben erst gekommen?«
»Nach Boston, meine ich.«
»Boston! Wolltest du mich deshalb nicht sehen?«
»Nein.«
»Willst du mir nicht wenigstens verraten, warum du abreist?« Er senkte die Stimme und sperrte die blauen Augen weit auf. »Caroline, bitte. Ich weiß, ich muss dich verletzt haben. Ich weiß nicht, wann und womit, aber wenn du willst, dass ich mich entschuldige, dann entschuldige ich mich.«
Es fiel ihr schwerer, als sie gedacht hatte. Er war ratlos und sichtlich zerknirscht. Sie biss sich auf die Lippe.
»Deine Tante ist dahintergekommen, ist es das?«
Caroline schlug die Augen nieder. »Das bestgehütete Geheimnis war es nicht.«
»Aha. Hab ich mir doch gedacht. Jered hätte nicht so viel Wind gemacht, aber Alice — na ja, sie ist bestimmt aus allen Wolken gefallen.«
»Aber das ist es nicht.«
»Was dann?«
»Sie wollen nicht, dass ich noch länger bleibe.«
»Dann zieh doch zu mir.«
»Ich kann nicht!«
»Ich will nicht mit der Tür ins Haus, Caroline. Aber wir müssen nicht in Sünde leben, hörst du?«
Lieber Gott, gleich wird er mir einen Heiratsantrag machen! »Du weißt genau, warum das nicht geht! Colin — ich weiß es von Alice.«
»Du weißt was von Alice?«
Zwei Seeleute am Nachbartisch grinsten sie einfältig an. Sie senkte die Stimme auf Colins Lautstärke. »Dass du Guilford timgebracht hast.«
Der Lieutenant fuhr in den Stuhl zurück und stierte sie an. »Allmächtiger Gott! Ihn umgebracht? Das hat sie gesagt?« Er blinzelte. »Aber, Caroline, das ist absurd!«
»Indem du Waffen über den Kanal geschafft hast. Feuerwaffen für die Partisanen.«
Er setzte die Tasse ab. Blinzelte wieder. »Feuerwaffen für die… ah, ich verstehe.«
»Dann stimmt es?«
Er sah sie fest an. »Dass ich Guilford umgebracht habe? Unsinn. Und das mit den Waffen?« Er zögerte. »Bis zu einem gewissen Grad, vielleicht. Solche Dinge sind tabu, selbst wenn wir unter uns sind.«
»Dann stimmt es also?«
»Es könnte sein. Ehrlich, ich weiß es nicht! Ich bin kein höherer Offizier. Ich tue, was man mir sagt und ich stelle keine Fragen.«
»Aber es geht um Waffen?«
»Ja, hier sind Waffen durchgekommen.«
Das war fast ein Geständnis. Ich müsste jetzt wütend sein, dachte Caroline. Wo, zum Kuckuck, versteckte sich ihre Wut.
Vielleicht verhielt es sich mit der Wut wie mit der Trauer. Sie warteten, bis ihre Zeit gekommen war.
Colin sah nachdenklich drein, und betroffen. »Ich nehme an, Alice hat es von Jered… und, was das betrifft, weiß Jered wahrscheinlich mehr als ich. Manchmal stellt er der Navy sein Lagerhaus und seine Rollgespanne zur Verfügung. Vielleicht hat er noch mehr für das Marineministerium getan. Immerhin betrachtet er sich als Patriot.«
Alice und Jered, die nachts streiten, sodass Lily nicht schlafen kann: Hatten sie darüber gestritten? Jered, der zugab, dass Waffen durch sein Lagerhaus geschleust wurden, Waffen für die Partisanen, und Alice, die Angst hatte, Guilford könne etwas zustoßen…
»Aber selbst wenn Waffen über den Kanal gekommen sind, heißt das noch lange nicht, dass sie etwas mit Guilford zu tun haben. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was man gegen die Finch-Expedition haben sollte. Die Partisanen kontrollieren die Küste; sie brauchen in erster Linie Kohle und Geld, nicht Kriegsmaterial. Jeder kann die Weston beschossen haben — Banditen, Anarchisten! Und was Guilford angeht, wer weiß, was hinter Rheinfelden passiert ist? Dieser Kontinent ist eine einzige unerforschte Wildnis; da lauern ganz andere Gefahren.«
Sie schämte sich, als ihre Abwehr zu bröckeln begann. So wie Alice es dargestellt hatte, war alles glasklar gewesen. Was, wenn Jered genauso schuldig war wie Colin?
Sie hätte nicht herkommen sollen… weder Moral noch sonstige Hindernisse konnten den Lauf der Dinge jetzt noch aufhalten. Dieser Mann, was immer er getan hatte, war offen zu ihr.
Und sie hatte ihn vermisst. Gib es doch zu, dachte sie.
Die Seeleute in ihren gestreiften Strickjacken grinsten anzüglich herüber.
Colin fasste ihre Hand. »Lass uns ein bisschen Spazierengehen«, sagte er. »Irgendwo abseits vom Lärm.«
Sie ließ ihn reden, die ganze Candlewick hinauf bis zur Fenchurch, wo das Pflaster aufhörte, ließ sie sich einlullen vom Klang seiner Stimme und dem verführerischen Gedanken, er könne unschuldig sein.
Die Moscheebäume hatten den ganzen Winter über ein trübes Grün getragen, doch der unverhoffte Sonnenschein und der schmelzende Schnee hatten den Baumkronen neue Blätter entlockt. Die Luft war fast warm.
Er war Soldat, sagte sie sich immer wieder. Selbstverständlich tat er, was man ihm sagte; welche Wahl hatte er denn?
Bei Jered sah das anders aus. Jered war Zivilist; er brauchte nicht mit dem Marineministerium zu kooperieren. Und Alice wusste Bescheid. Wie musste sie das umgetrieben haben! Sie hatte verbittert geklungen in jener Nacht, als sie mit ihm gestritten hatte. Natürlich machte sie ihm Vorwürfe, aber verlassen konnte sie ihn nicht; kraft ihrer Ehe war sie an ihn gekettet.
Also hasste sie stattdessen Colin. Blinder, fehlgeleiteter, gedankenloser Hass. Weil sie sich den Luxus nicht leisten konnte, ihren eigenen Mann zu hassen.
»Wir müssen uns wiedersehen«, bat Colin. »Noch vor deiner Abreise, wenigstens einmal noch.«
Caroline wollte nichts versprechen.
»Es gefällt mir gar nicht, dass du übers Meer willst. Es sind schon Schiffe bedroht worden. Es heißt, die Amerikaner ziehen ihre Flotte im Nord-Atlantik zusammen.«
»Darüber mach ich mir keine Gedanken.«
»Solltest du aber.«
Noch in derselben Woche steckte Mrs. de Koenig ihr eine Nachricht von Colin zu. Eine Generalmobilmachung sei angekündigt, er müsse vielleicht an Bord; er wolle sie so bald wie möglich sehen.
Krieg, dachte Caroline verbittert. Alle redeten von Krieg. Vor nur zehn Jahren war die Welt bis ins Mark erschüttert worden, und jetzt wollte man sich um die Reste prügeln. Um eine Wildnis!
Die Times, eine sechsseitige, auf faseriger Moscheepulpe gedruckte Tageszeitung, erging sich in ihren jüngsten Leitartikeln fast ausschließlich darin, den Amerikanern aus verschiedenen Anlässen Arroganz und Selbstgefälligkeit vorzuwerfen: Sie würden den neuen Kontinent wie ein amerikanisches Protektorat behandeln und den britischen Inseln ›Beschränkungen auferlegen‹. Carolines Akzent erntete in Geschäften und an den Marktständen nicht selten hochgezogene Augenbrauen. Heute hatte Lily sie gefragt, warum es denn so schlimm sei, ein Amerikaner zu sein.
»Das ist überhaupt nicht schlimm«, erwiderte Caroline. »Das ist doch nur Gerede. Die Leute sind ärgerlich, früher oder später werden sie sich wieder beruhigen.«
»Wir werden bald mit dem Schiff fahren«, meinte Lily.
»So Gott will.«
Caroline saß nicht mehr mit Alice und Jered bei Tisch. Sie hätte für sich und Lily ein Zimmer im Empire gemietet, wenn die Zuwendung von zu Hause großzügiger gewesen wäre. Doch selbst die Mahlzeiten im Pub waren zur Zeit eine Qual, immer und überall wurde nur von Krieg geredet. Ihre Tante und ihr Onkel wahrten die Form, wenn sie ihr nicht aus dem Weg gehen konnten; um Lily scharwenzelten sie allerdings herum. Caroline konnte besser damit umgehen, seit sie sich mit Colin ausgesprochen hatte. Alice tat ihr beinahe Leid — arme treu ergebene Alice, gefangen in einem Netz aus Schuld, das so dicht war wie die Locken, die sie ins graumelierte Haar flocht.
»Schlaf«, sagte Caroline an diesem Abend zu Lily, packte sie ein, strich das Baumwolllaken glatt. »Schlaf gut. Bald verreisen wir.«
So oder so.
Lily nickte ernst. Seit Weihnachten fragte sie nicht mehr nach ihrem Daddy. Sie hatte immer nur ausweichende Antworten bekommen.
»Weg von hier?«, fragte Lily.
»Weg von hier.«
»Irgendwohin, wo uns nichts passieren kann?«
»Irgendwohin, wo uns nichts passieren kann.«
Ein sonniger Morgen. Die Fenchurch wurde asphaltiert, der Geruch von Teer wehte über die Stadt, überall das Klappern von Hufen und das flache Geklingel von Pferdegeschirr.
Colin wartete in der Thames Street nahe den Docks, die Sonne im Rücken, Zeitung lesend. Ihre Erregung wuchs. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Sie hatte sich nichts zurechtgelegt. Sie brachte nur ein Sammelsurium an Hoffnungen und Ängsten mit.
Sie war kaum ein paar Schritte auf ihn zugegangen, als in der Stadtmitte die Sirenen aufheulten.
Das Geräusch lähmte sie, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
Die Menschen am Kai standen auch wie gelähmt. Colin sah bestürzt von der Zeitung auf. Caroline hob die Arme; er lief auf sie zu. Die Sirenen heulten weiter.
Sie fiel ihm in die Arme. »Was ist das?«
»Ich weiß auch nicht.«
»Ich will meine Tochter haben.« Irgendetwas Schlimmes trug sich zu. Lily würde Angst haben.
»Dann komm.« Colin nahm ihre Hand und drückte sanft zu. »Wir finden Lily. Aber wir müssen uns beeilen.«
Der Wind kam aus dem Osten — ein gleichbleibender Frühlingswind, rauchig und duftend. Der Fluss war ruhig und mit weißen Segeln gespickt. Im Süden am sumpfigen Ufer der Themse tauchten Schornsteine von Kanonenbooten auf.
Es sei einfach, hatte Crane ihm erklärt. Wir sind Teil von etwas, das stärker wird. Und sie sind Teil von etwas, das schwächer wird.
Vielleicht sah es aus seinem Blickwinkel so aus. Wie ein vergoldetes Suppositorium war Crane in die Reihen der Washingtoner Elite geflutscht — na ja, der Halbelite, der minderen Elite. Kaum ein paar Monate in der Stadt, und er arbeitete bereits in irgendeiner diffusen Funktion für Senator Klassen; hatte sich vor kurzem sogar ein eigenes Apartment zugelegt (den Göttern sei Dank für dieses Almosen).
Crane war fester Bestandteil des Sanders-Moss-Salons und konnte sich ungestraft mit Elias Vale in der Öffentlichkeit zeigen.
Wohingegen Vales Seancen nur noch ein dünnes Rinnsal waren, die Klientel war geschrumpft und nicht mehr so betucht und selbst Eugene Randall machte sich rar.
Randall war natürlich von dem Ausschuss vorgeladen worden, der das Schicksal der Finch-Expedition untersuchte. Vielleicht musste selbst eine verstorbene Gattin hinter derart wichtigen Belangen zurücktreten. Die Geduld der Toten war ja allbekannt.
Trotzdem fragte Vale sich seit einiger Zeit, ob die Götter nicht ihre Lieblinge hatten.
Er suchte Zerstreuung, wo immer sie zur Hand war. Einer von seinen Neuzugängen, eine ältliche Engelmacherin, hatte ihm die bernsteinfarbene Phiole mit Morphium nebst der in Silber getriebenen Spritze überlassen. Hatte ihm gezeigt, wie man eine Vene fand und hervortreten ließ und mit der Hohlnadel hineinstach. Der Vorgang ließ ihn abstrakt an Bienen und Gift denken. Oh, Stachel des Vergessens. Er wurde ihm zur lieben Gewohnheit.
Als er am Landsitz von Sanders-Moss aus dem Taxi stieg, trug er die aufklappbare, hübsche Silberschatulle von der Größe eines Zigarrenetuis in der Rocktasche. Er hatte nicht vor, das Besteck zu benutzen. Doch der Nachmittag versprach nichts Gutes. Das Wetter war zu nass für den Winter und zu kalt für den Frühling. Eleanor begrüßte ihn mit einem Anflug von Nervosität — nur aus einem verschwundenen Taufkleidchen lässt sich so viel Kapital schlagen, dachte Vale — und nach dem Lunch begann ihn ein beschwipster, junger Kongressabgeordneter zu hänseln.
»Börsentips, Mr. Vale? Sie sprechen mit den Toten, die haben doch sicher ein paar heiße Tips. Haben Tote überhaupt die Möglichkeit zu spekulieren?«
»In diesem Distrikt, Verehrtester, wird nicht einmal gewählt.«
»Habe ich einen wunden Punkt berührt, Mr. Vale?«
»Doktor Vale.«
»Und was für ein Doktor wäre das?«
Doktor der Unsterblichkeit, dachte Vale. Im Gegensatz zu dir, du verwesendes Stück Fleisch.
»Sie müssen wissen, Mr. Vale, ich habe rein zufällig einen Blick in Ihre Vergangenheit geworfen. Habe ein wenig recherchiert, besonders als Eleanor mir sagte, wie viel sie bezahlt hat, damit Sie ihr aus der Hand lesen.«
»Ich lese nicht aus der Hand.«
»Nein, aber ich wette, Sie wissen, wie man eine Bilanz liest.«
»Das ist unverschämt.«
Der Kongressabgeordnete lächelte schadenfroh. »Nanu, wer hat Ihnen das denn gesagt, Mr. Vale? John Wilkes Booth?«
Jetzt lachte sogar Eleanor.
»Das ist nicht die Gästetoilette!« Olivia, das Hausmädchen, pochte verärgert an die Tür. »Das ist die Personaltoilette!«
Vale stellte sich taub. Das Injektionsbesteck lag aufgeklappt auf dem grün gekachelten Boden. Er ließ sich auf den Klodeckel plumpsen. Er hatte das Bergkristallfenster aufgekurbelt; ein kühler Regen spritzte herein. Die Kette des WC klopfte rastlos gegen die feuchte, weiße Wand.
Er hatte den Rock ausgezogen, rollte den linken Ärmel hoch. Er klopfte auf die Achsel, bis sich eine Vene zeigte. Rutscht mir alle den Buckel runter, dachte er und zog ein sehr ernstes Gesicht.
Der erste Schuss war eine Wohltat, hüllte ihn ein wie mit einer Kinderdecke, eine tiefe Ruhe überkam ihn. Die Toilette sah plötzlich verschwommen aus, als sei alles in glänzendes Transparentpapier gewickelt.
Aber ich bin unsterblich, dachte Vale.
Und vor seinem geistigen Auge stach Crane sich das Messer durch den Handrücken. Crane hatte eine perverse Vorliebe zur Selbstverstümmelung bewiesen. Er durchbohrte sich mit Messern, schnitt sich mit Rasierklingen, stach sich mit Nadeln.
Na ja, Nadeln weiß ich auch zu schätzen. Kentucky-Whisky hin, Kentucky-Whisky her, es ging nichts über Morphium. Das Vergessen war verlässlicher, irgendwie umfassender. Er brauchte mehr davon.
»Mr. Vale! Sind Sie das?«
»Geh weg, Olivia, danke.«
Er langte wieder nach der Spritze. Ich bin schließlichunsterblich. Ich kann gar nicht sterben. Die Konsequenzen dieser Tatsache wurden allmählich zum Problem.
Diesmal traf die Nadel auf Widerstand. Vale drückte fester zu. Es war, als müsse er Cheddarkäse impfen. Er schien die Vene getroffen zu haben, doch als er den Kolben drückte, begann sich die Haut zu verfärben — ein massiver Flüssigkeitserguss.
»Shit«, sagte er.
»Kommen Sie da raus oder ich sage Mrs. Sanders-Moss, sie soll die Tür aufbrechen lassen!«
»Nur ein bisschen noch, Olivia, Liebes. Sei brav und geh fort.«
»Das ist nicht die Gästetoilette! Sie sind schon eine Stunde da drin!«
So lange schon? Und wenn, dann nur, weil sie ihn dauernd störte. Er musste sich auf das Nächstliegende konzentrieren. Er füllte die Spritze wieder auf.
Aber die Nadel schien stumpf zu sein.
Obgleich die Spitze so scharf war wie eh und je.
Er verstärkte den Druck.
Er zuckte zusammen. Es tat weh, und wie. Die weiche Haut wurde eingedellt, bekam einen Trichter, und lief rot an. Aber sie ließ die Nadel nicht hinein.
Er probierte es am Handgelenk. Dasselbe — als versuche er Leder mit dem Löffel zu schneiden. Er ließ die Hose runter und probierte es innen am Oberschenkel.
Nichts.
In seiner Verzweiflung stach er mit der nässenden Nadel nach seinem Hals, dahin wo er eine Arterie vermutete.
Die Spitze brach ab. Die Spritze sabberte ihren Inhalt über den offenen Hemdkragen.
»Shit!«, rief Vale wieder, er hätte weinen mögen vor Enttäuschung.
Die Tür barst nach innen. Da war Olivia, die ihn angaffte, und hinter ihr dieser junge Parvenü aus dem Kongress und Eleanor mit geweiteten Augen und auch Timothy Crane mit halbamtlichem Stirnrunzeln.
»Oh!«, sagte Olivia. »Das konnte ich ja nicht wissen!«
»Der goldene Schuss in der Niggertoilette? Ungeschickt, Elias, gelinde gesagt.«
»Halt den Mund«, sagte Vale frustriert. Die anfängliche Wirkung des Morphiums hatte sich verloren. Sein Körper war staubtrocken, der Verstand zum Verrücktwerden klar. Er ließ sich von Crane zu dessen Auto bringen, nachdem Eleanor klargestellt hatte, dass er fortan unerwünscht sei und sie die Polizei rufen würde, falls er sich hier noch einmal blicken lasse. Der genaue Wortlaut hatte nicht so diplomatisch geklungen.
»Unsere Arbeitgeber sind nicht kleinlich«, sagte Crane.
»Wer?«
»Die Götter. Es schert sie nicht, was du in deiner Freizeit machst. Morphium, Kokain, Frauen, Sodomie, Mord, Backgammon — sie machen da keinen Unterschied. Aber du darfst dich nicht betäuben, wenn sie deine Aufmerksamkeit brauchen, und schon gar nicht versuchen, dir eine tödliche Überdosis zu spritzen, wenn das deine Absicht war. Das war dämlich, Elias, wenn ich das so sagen darf.«
Der Wagen bog um eine Ecke. Aus dem trostlosen Tag wurde ein trostloser Abend.
»Es gibt zu tun, Elias.«
»Wo fahren wir hin?« Nicht dass ihn das sonderlich interessierte, wenngleich er in seinem Innern die ekelerregende Gegenwart der Gottheit spürte, er bekam Pulsjagen und ein Hohlkreuz.
»Zu Eugene Randall.«
»Ist mir neu.«
»Jetzt nicht mehr.«
Vale musterte apathisch die Polsterung des nagelneuen Ford. »Was ist in der Tasche?«
»Sieh nach.«
Der lederne Arztkoffer enthielt Dreierlei: ein Skalpell, eine Flasche Methylalkohol und ein Döschen Zündhölzer. Sonst nichts.
Alkohol und Zündhölzer — um das Skalpell zu sterilisieren? Das Skalpell, um…
»Oh, nein«, sagte Vale.
»Nicht so zimperlich, Elias.«
»Randall ist nicht wichtig genug… egal was du vorhast.«
»Ich habe gar nichts vor. Die Entscheidung liegt nicht bei uns. Das weißt du.«
Vale starrte den vergnügten Burschen an. »Es macht dir nichts aus?«
»Nein. Nicht wirklich.«
»Du machst das nicht zum ersten Mal, hab ich Recht?«
»Elias, das ist Berufsgeheimnis. Tut mir Leid, wenn ich dich erschrecke. Was glaubst du denn, für wen wir arbeiten? Für den lieben Gott aus der Bibelstunde, für den ach so Guten Hirten? Wir haben es eher mit einem reißenden Leoparden zu tun.«
»Willst du Eugene Randall töten?«
»Du triffst den Nagel auf den Kopf.«
»Aber warum?«
»Muss ich das wissen? Das Problem ist wahrscheinlich die Aussage, die er vor dem Chandler-Ausschuss machen will. Alles, was er tun muss, und das hat ihm meines Wissens die selige Louisa Ellen bereits geraten, ist nichts zu tun; er soll den Untersuchungsausschuss seines Amtes walten lassen. Es gibt fünf Zeugen, die angeblich gesehen haben, wie die Weston von Englisch sprechenden Gentlemen mit Mörsern und regulären Lee-Enfield-Gewehren beschossen wurde. Randall würde sich und dem Smithsonian eine Menge Ärger ersparen, wenn er einfach nur lächeln und nicken würde, aber wenn er unbedingt querschießen möchte…«
»Er glaubt, dass Finchs Leute noch am Leben sind.«
»Du sagst es.«
»Selbst wenn — aufs Ganze gesehen, was macht das schon? Wenn die Götter wirklich wollen, dass es Krieg gibt, dann dürfte Randalls Aussage kein Hindernis sein. Und die Zeitungen werden sowieso nicht darüber berichten.«
»Aber sie werden den Mord bringen. Und wenn wir es richtig anstellen, dann waren es britische Agenten.«
Vale schloss die Augen. Ein Rad greift ins andere, ad infinitum. Einen qualvollen Moment lang sehnte er sich nach der Morphium-Spritze.
Dann überkam ihn eine verdrossene Entschlossenheit, es war nicht wirklich seine. »Wird es lange dauern?«
»Überhaupt nicht«, winkte Crane ab.
Vielleicht war es eine Nebenwirkung des Morphiums, denn Vale spürte die Gegenwart seiner Gottheit neben sich, als er durch den verwaisten Korridor des Museums zu Randalls Büro ging. Randall war allein, arbeitete noch, und vermutlich hatten die Götter auch das arrangiert.
Seine Gottheit war ungewöhnlich leibhaftig. Wenn er nach links sah, konnte er sie sehen oder bildete sich ein, sie zu sehen. Sie ging neben ihm her. Bot weder einen erfreulichen noch einen ätherischen Anblick. Ihre Präsenz war so aufdringlich wie die eines ausgewachsenen Ochsen, allerdings um Längen grotesker.
Sie hatte viel zu viel Arme und Beine, das Maul war grausig, außen scharf wie ein Schnabel und inwendig feucht und knallrot. Ein Kamm aus knotigen Beulen zog sich vom Bauch bis zum Hals. Eine frontale Wirbelsäule? Vale konnte die Farbe der Gottheit nicht ausstehen: ein totes, mineralisches Grün. Crane, der rechts neben ihm ging, sah nichts von alledem.
Roch auch nichts. Doch der Geruch war genauso leibhaftig, zumindest für Vales Nase. Ein strenger, chemischer Geruch wie in einer Gerberei oder in einer Arztpraxis, wenn irgendeine Flasche zu Bruch gegangen war.
Sie überraschten Eugene Randall in seinem Büro. (Wie überrascht Randall erst gewesen wäre, hätte er die abscheuliche Gottheit sehen können! Das war offensichtlich nicht der Fall.)
Randall sah müde von der Arbeit auf. Nach Walcotts Ausscheiden hatte er die Leitung des Museums übernommen, was sichtlich an seinen Kräften zehrte. Ganz zu schweigen von der Vorladung des Untersuchungsausschusses und seiner post mortem nörgelnden Gattin.
»Elias!«, sagte er. »Und Sie sind Timothy Crane, richtig? Wir sind uns bei Eleanor begegnet.«
Eine Unterhaltung war unerwünscht. Die Zeiten ändern sich. Crane ging ans Fenster hinter Randall und öffnete den Arztkoffer. Er nahm das Skalpell heraus. Es glitzerte im wässrigen Licht. Randalls Aufmerksamkeit galt weiterhin Vale.
»Elias, was gibt es? Offen gesagt, ich habe jetzt keine Zeit für…«
Wofür?, fragte Vale sich, als Crane rasch vortrat und das Messer über Randalls Hals zog. Randall gurgelte und schlug um sich, doch er hatte zu viel Blut im Mund, um wirklich laut zu werden.
Crane legte das blutige Skalpell in den Koffer zurück und nahm die braune Flasche mit Methylalkohol heraus.
»Ich dachte, damit wolltest du das Messer sterilisieren«, sagte Vale. Idiotischer Gedanke.
»Sei nicht albern, Elias.«
Crane leerte die Flasche über Randalls Kopf und Schultern und besprengte mit dem Rest den Schreibtisch. Randall kippte aus seinem Schreibtischsessel und machte Anstalten, über den Boden zu robben. Eine Hand umklammerte den Hals, als versuchte er, die klaffende Wunde zu schließen, doch das Blut quoll in Bächen über die Finger.
Crane riss ein Zündholz an.
Cranes linke Hand stand in Flammen, als er das brennende Büro verließ. Er war fasziniert, drehte und wendete die Hand vor seinen Augen, bis die blauen Flammen infolge Nahrungsmangel erloschen. Hand und Manschette waren unversehrt geblieben.
»Amüsant«, sagte er.
Elias Vale, dem plötzlich speiübel war, sah sich nach seiner Gottheit um. Doch die Gottheit war fort. Alles, was von ihr übrig war, waren Rauch und Feuerschein und dieser entsetzliche Gestank nach brennendem Fleisch.
Um wieder zu Kräften zu kommen, ritt Guilford auf einer Wollschlange, derweil Tom Compton die Tiere den Hang hinauftrieb. Es war kein leichter Aufstieg. Der eisverkrustete Schnee verbiss sich in die dicken Beine der Wollschlangen; die Tiere beklagten sich bitter, verweigerten aber nicht den Gehorsam. Vielleicht weil sie begriffen, was hinter ihnen lag, dachte Guilford. Vielleicht waren sie um jeden Schritt froh, den sie zwischen sich und dieses gewaltige Ruinenfeld brachten.
Nach Einbruch der Dunkelheit und bei Schneeregen machte der Grenzer auf einer Lichtung halt und entfachte ein kleines Feuer. Guilford machte sich nützlich, indem er Windbruch sammelte, während Preston Finch vermummt und verbittert beim Feuer hockte und nachlegte. Die Wollschlangen drängten sich zusammen, ihr Winterpelz glitzerte, Atem dampfte aus den kreisrunden Nüstern.
Die Mahlzeit bestand aus einem frisch erlegten Nachtfalken, ausgenommen und kohlschwarz gegrillt, sowie ein paar Streifen gedörrtes Wollschlangenfleisch aus Tom Comptons Tornister. Zwischen zwei Bäumen improvisierte der Grenzer aus Fellen und Salbeikieferästen einen überdachten Windschutz. Aus dem jüngsten Überfall hatte er etliche Felle, eine Pistole und drei Packtiere bergen können. Das war alles, was von der Finch-Expedition übrig war.
Guilford aß nur wenig. Er wollte schlafen, schlafen, schlafen — die chronische Unterernährung ausschlafen, die dreitägige Unterkühlung im Schacht, Sullivans Tod, die porzellanweißen Erfrierungen an Zehen und Fingerspitzen. Aber vorher wollte er genau wissen, wie schlimm die Lage wirklich war. Und wie die anderen umgekommen waren.
Er fragte den Grenzer.
»Als ich kam, war schon alles vorbei«, sagte Tom. »Die Spuren sagen, die Angreifer kamen von Norden. Bewaffnete Männer, zehn oder fünfzehn, vielleicht angelockt durch Digbys Herdfeuer, wer weiß. Sie müssen schießend hereingekommen sein. Alle waren tot bis auf Finch, der sich draußen im Stall versteckte. Die Banditen ließen die Wollschlangen zurück — sie hatten selbst welche. Und einen Mann mit zerschossenen Beinen, er konnte nicht laufen.«
»Partisanen?«, fragte Guilford.
Der Grenzer schüttelte den Kopf. »Der mit den zerschossenen Beinen war jedenfalls keiner.«
»Sie haben mit ihm gesprochen?«
»Nicht viel. Er konnte keinen Schritt gehen. Beide Beine total kaputt und dann hat er noch Bekanntschaft mit meinem Messer gemacht, als er aufsässig wurde.«
»Jesus, Tom!«
»Tja, Sie haben nicht gesehen, was sie mit Diggs und Farr und Robertson und Donner gemacht haben. Das sind keine Menschen.«
Finch sah ruckartig auf, hohläugig, bestürzt.
»Weiter«, sagte Guilford.
»Nein, das Miststück war kein Partisan, die hören sich anders an. Verflucht, ich habe mit Partisanen gezecht. Das sind hauptsächlich französische oder italienische Heimkehrer, die sich gerne besaufen, ihre Fahne hissen und ab und zu auf amerikanische Kolonisten ballern. Die richtigen Partisanen sind Piraten, bewaffnete Händler, die schnappen sich eine knarrende, alte Fregatte, klauen die Ladung und nennen es Einfuhrzoll und verjubeln das Geld in irgendeinem Puff am Flussufer. Die einzigen Partisanen, die man rheinauf zu Gesicht kriegt, sind illegale Minenbetreiber, die politische Motive haben.
Dieser Bursche war Amerikaner. Angeblich in Jeffersonville angeworben, um Jagd auf die Finch-Expedition zu machen. Kopfgeldjäger und gut bezahlt, wie er meinte.«
»Hat er gesagt, wer sie bezahlt?«
»Er fiel leider in Ohnmacht, nein. Und dann hatte ich keine Gelegenheit mehr. Musste mich um Finch kümmern, und um Sie und Sullivan im Schacht. Hatte vor, den Hundesohn bei Tageslicht auf einen Schlitten zu binden und mitzuschleppen.« Der Grenzer holte tief Luft. »Aber er war auf und davon.«
»Wie das?«
»Ich hab ihn allein gelassen, um die Tiere anzuschirren. Na ja, genau genommen nicht allein — Finch war bei ihm, auch wenn das wenig ändert. Und als ich zurückkam, war er fort. Weggelaufen.«
»Ich denke, er war bewusstlos. Er konnte doch gar nicht laufen?«
»War er und seine Beine waren eine einzige blutige Angelegenheit, zwei, drei Knochenbrüche mindestens. Das kann man nicht vortäuschen. Aber als ich zurückkam, war er fort. Er hinterließ Fußabdrücke. Wenn ich sage, er ist gelaufen, dann meine ich nicht gegangen. Er ist gerannt wie ein Hase, ab in die Ruinen. Ich hätte ihn aufgespürt, aber es gab Wichtigeres.«
»Auf den ersten Blick«, sagte Guilford vorsichtig, »ist das absolut unmöglich.«
»Auf den ersten Blick ist das totaler Quatsch, aber was ich gesehen habe, habe ich gesehen.«
»Sie sagen, Finch war bei ihm?«
Die Runzeln auf Toms Stirn wurden tiefer, in der Höhle des reifbedeckten Bartes zeichnete sich ein Zug von Unzufriedenheit ab. »Finch war bei ihm, wollte aber nichts dazu sagen.«
Guilford wandte sich an den Geologen. Alle Unbilden, die die Expedition seit Gillvanys Tod erlitten hatte, standen Finch ins Gesicht geschrieben, ganz zu schweigen von der Demütigung eines Mannes, der das Kommando verloren hatte — der Menschenleben verloren hatte, für die er persönlich die Verantwortung trug. Nein, dieser Mann nahm sich nicht mehr wichtig, sein Blick war starr, ohne Würde, ohne Hoffnung.
»Dr. Finch?«
Der Geologe sah Guilford kurz an. Seine Aufmerksamkeit flackerte wie eine Kerze.
»Dr. Finch, haben Sie gesehen, was mit dem Mann passiert ist, mit dem Tom geredet hat? Mit dem Verletzten?«
Finch wandte sich ab.
»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte Tom. »Er ist stumm wie ein Fisch.«
»Dr. Finch, es könnte uns helfen, wenn wir wüssten, was passiert ist. Helfen, heil nach Hause zu kommen, meine ich.«
»Es war ein Wunder«, sagte Preston Finch.
Seine Stimme war ein schmirgelndes Krächzen. Der Grenzer blickte ihn verdutzt an.
Guilford hakte behutsam nach: »Dr. Finch? Was genau haben Sie gesehen?«
»Die Wunden sind verheilt. Das Fleisch tat sich zu. Die Knochen fügten sich zusammen. Er stand auf. Er blickte mich an. Er lachte.«
»Das ist alles?«
»Alles, was ich gesehen habe.«
»Eine große Hilfe«, sagte Tom Compton.
Der Grenzer hielt Wache. Guilford kroch zu Finch in den Windschutz.
Der Botaniker stank nach Schweiß und Schlangenfell und Hoffnungslosigkeit, doch Guilford roch selbst nicht viel besser. Ihre menschlichen Ausdünstungen füllten die Enge und ihr Atem kristallisierte in der frostigen Luft.
Aus einem unerfindlichen Grund war Finch zu neuem Leben erwacht. Er starrte durch die Lücken zwischen den Fellen in die unmenschliche Nacht hinaus. »Das ist nicht das Wunder, das ich mir gewünscht habe«, sagte er leise. »Verstehen Sie, Mr. Law?«
Guilford war steif vor Kälte. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. »Davon verstehe ich sehr wenig, Dr. Finch.«
»Ich weiß, was Sie und Sullivan von mir gedacht haben. Preston Finch, der Fanatiker, sucht nach Beweisen für göttliches Eingreifen, wie diese Leute, die behaupten, sie hätten ein Stück von der Arche Noah oder vom Kreuz Christi gefunden.«
Finch klang so alt wie der Nachtwind. »Tut mir Leid, wenn Sie diesen Eindruck hatten«, sagte Guilford.
»Ich bin Ihnen nicht böse. Vielleicht stimmt es ja. Nennen Sie es Hybris. Die Sünde der Eitelkeit. Ich habe nicht zu Ende gedacht. Wenn die Natur und das Göttliche nicht mehr voneinander getrennt sind, dann kann es auch zu dunklen Wundern kommen. Diese schreckliche Stadt. Der Mann, dessen Beine im Handumdrehen geheilt sind.«
Und der tiefe Schacht und mein Doppelgänger in seiner abgerissenen Uniform und die nach Fleischwerdung gierenden Dämonen. Nein: das nicht. Das konnte ebensogut Einbildung sein, dachte Guilford. Das Ergebnis von Übermüdung und Unterernährung und Kälte und Angst.
Finch hustete in die vorgehaltene Hand, ein schmerzhaftes Geräusch. »Es ist eine neue Welt«, sagte er.
Dagegen war nichts einzuwenden. »Wir brauchen ein bisschen Schlaf, Dr. Finch.«
»Dunkle Kräfte und helle. Sie suchen uns heim.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Das hab ich nicht gewollt.«
»Ich weiß.«
Nach ein paar Atemzügen: »Schade um Ihre Photographien, Mr. Law.«
»Nett, dass Sie das sagen.«
Guilford schloss die Augen.
Sie ließen keinen Tag aus, sie kamen nicht weit voran, aber wenigstens ein bisschen.
Sie folgten Tierfährten, felsigen Flussbetten, schneefreien Flecken unter Moscheebäumen und Salbeikiefern, immer bedacht, keine auffälligen Spuren zu hinterlassen. In regelmäßigen Abständen musste Guilford auf Finch aufpassen, während der Grenzer mit seinem Bowiemesser auf Jagd ging. Wenn es kein Wollschlangenfleisch gab, dann blieben immer noch die Schlafplätze der Nachtfalken. Aber seit etlichen Monaten hatten sie nichts Pflanzliches mehr gegessen, abgesehen von ein paar schwer zu findenden Wurzeln oder zähen, in Wasser gekochten Moscheebaumstacheln. Guilfords Zähne hatten sich gelockert, und sein Sehvermögen hatte deutlich an Schärfe verloren. Finch, der seine Brille schon beim ersten Überfall verloren hatte, war nahezu blind.
Die Tage vergingen. Nach dem Kalender war der Frühling nicht mehr fern, doch der Himmel blieb dunkel, der Wind stechend kalt. Guilford gewöhnte sich an die Schmerzen, jedes Gelenk tat ihm weh, immer.
Er fragte sich, ob der Bodensee wohl zugefroren war. Ob er ihn je wieder zu Gesicht bekam.
Das ramponierte Tagebuch trug er unter der Fellkleidung; er hatte es nie irgendwo liegen lassen. Auf den wenigen freien Seiten schrieb er gelegentlich kurze Mitteilungen an Caroline.
Er war sich darüber im Klaren, dass seine Kräfte nachließen. Das Bein peinigte ihn jetzt täglich und was Finch betraf — er sah aus wie ausgebuddelt aus einer Insektenkippe.
Die Temperaturen kletterten, aber nach drei Tagen setzte ein kalter Frühlingsregen ein. Die Jahreszeit war willkommen, Schlamm und Wind waren es nicht. Selbst die Wollschlangen waren abgemagert und stöberten trübsinnig im Morast nach den Gräsern vom vergangenen Jahr. Eines der Tiere war auf einem Auge erblindet, ein Star, der die Pupille mit einem hellen Schleier überzog.
Im Westen ballten sich neue Unwetter zusammen. Tom Compton erkundete einen Steinschlag, der natürlichen Schutz bot. Der Hohlraum unter den Granitblöcken war niedrig und auf zwei Seiten offen. Der Sandboden war übersät mit Tierkot. Guilford versperrte beide Zugänge mit Ästen und Fellen und band die Wollschlangen draußen an, sodass man hören konnte, wenn sie anschlugen. Doch der ehemalige Bewohner dieser kleinen Höhle, wenn es ihn denn gegeben hatte, blieb aus.
Ein sintflutartiger, kalter Regen sperrte sie in den Unterschlupf. Tom scharrte eine Feuermulde unter dem natürlichen Abzug des Steinschlags. Er war dazu übergegangen, alberne, sentimentale Lieder aus den Neunzigern, der so genannten ›Mauve Decade‹, zu summen Golden Slippers, Marbl’d Halls und dergleichen.[36] Keine Texte, nur die Bassmelodien. Es klang weniger nach Liedern als nach dem Singsang der Aborigines, düster und fremd.
Der Regen prasselte weiter, ließ ab und zu nach, hörte aber nicht auf.
Rinnsale schossen aus dem Gestein. Guilford scharrte eine Rinne, um das Wasser zu der tiefer gelegenen Öffnung zu leiten. Sie rationierten den Proviant. Mit jedem Tag, den wir hier verbringen, dachte Guilford, werden wir ein bisschen schwächer; mit jedem Tag rückt der Rhein ein bisschen weiter von uns ab. Vermutlich gab es eine einfache Gleichung, irgendeine Relation zwischen Schmerz und Zeit, die nicht zu ihren Gunsten arbeitete.
Er träumte seltener von dem Wachsoldaten, gleichwohl war der Soldat ein fester Bestandteil seiner Nächte, engagiert, beschwörend und unwillkommen. Guilford träumte von seinem Vater, dessen Verbissenheit und Ordnungssinn ihn früh ins Grab gebracht hatten.
Nur keine Schuldzuweisung, dachte Guilford. Was treibt einen Mann in dieses gottverlassene Niemandsland, wenn nicht seine verbissene Zielstrebigkeit?
Vielleicht brachte ihn dieselbe Zielstrebigkeit zurück zu Caroline und Lily.
Sie werden nicht sterben, hatte Sullivan ihm zu verstehen gegeben. Wer weiß? Bis jetzt hatte er Glück gehabt. Eins stand jedenfalls fest: Er ertrug mehr, als er sich je hätte träumen lassen.
Er drehte sich nach Tom um, der mit angezogenen Knien dasaß, den kalten Fels im Kreuz. Toms Hand tastete immer mal wieder nach der Pfeife, die er vor Monaten verloren hatte. »In der Stadt«, sagte Guilford, »haben Sie da geträumt?«
Der Grenzer reagierte abweisend. »Das geht Sie nichts an.«
»Vielleicht doch.«
»Träume sind nichts wert. Ein Dreck sind sie.«
»Trotzdem.«
»Da war ein Traum«, sagte Tom. »Ich bin auf einem Schlachtfeld gestorben, ein einziger Morast. Ich war Soldat.« Er zögerte. »Ich wär mein eigener Geist, hab ich geträumt. So ein Quatsch!«
Überhaupt nicht, dachte Guilford.
Im Gegenteil, das hieß doch… ja, was nur, um Himmels willen?
Ein Schauder überlief ihn. Er wandte sich ab.
»Wir brauchen Fleisch«, sagte Tom. »Wenn das Wetter mitspielt, geh ich morgen auf die Jagd.« Er starrte zu Preston Finch hinüber, der Geologe schlief, sein Gesicht ähnelte einer Totenmaske. »Wenn nicht, müssen wir eins der Tiere schlachten.«
»Dann können wir gleich aufgeben.«
»Den Rhein erreichen wir auch mit zwei Tieren.«
Diesmal klang er nicht so überzeugt.
Der Morgen war klar, aber sehr kalt. »Legen Sie Holz nach«, sagte der Grenzer zu Guilford. »Lassen Sie das Feuer nicht ausgehen. Wenn ich in drei Tagen nicht zurück bin, ziehen Sie ohne mich los. Nach Norden. Und tun Sie, was Sie können, für ihn.«
Guilford sah Tom in das frische Blau des Tages hinausgehen, die Flinte auf dem Rücken, mit rhythmischen, sparsamen Bewegungen. Die Wollschlangen blickten ihm mit weit aufgerissenen, schwarzen Augen nach und miauten wie Katzen.
»Das habe ich nicht gewollt«, sagte Finch.
Das Feuer war niedergebrannt. Guilford hockte vor der blakenden Flamme und fütterte sie mit feuchten Zweigen. Der Qualm bestand hauptsächlich aus Dampf. »Was ist, Dr. Finch?«
Finch erhob sich, trat vorsichtig aus der Höhle ins kalte Tageslicht hinaus, er schien verletzlich wie altes Pergament. Guilford behielt ihn im Auge. Vergangene Nacht hatte Finch im Schlaf phantasiert.
Doch der Geologe stellte sich nur an den Fels, griff ins Fell und urinierte ausgiebig.
Er kam zurückgehumpelt, immer noch redend. »Nein, das hab ich nicht gewollt, Mr. Law. Ich wollte eine normale Welt, verstehen Sie?«
Er war ohnehin schwer zu verstehen. Zwei Vorderzähne hatten sich gelockert; er pfiff wie ein Wasserkessel. Guilford nickte geistesabwesend, während er das Feuer päppelte.
»Schonen Sie mich nicht. Hören Sie mir zu. Sie hatte ihren Sinn, Mr. Law, die Verwandlung von Europa, sie hatte Sinn im Hinblick auf die Sintflut, auf Babel und die Zerstörung von Sodom und Gomorrha, und wenn diese Verwandlung nicht die Tat eines eifernden aber vernünftigen Gottes ist, dann kann sie nur Chaos und Schrecken bedeuten.«
»Vielleicht sehen wir mit falschen Augen, vielleicht wissen wir zu wenig«, sagte Guilford. »Vielleicht sind wir wie Affen, die in einen Spiegel starren. Der Affe ist im Spiegel, aber nicht dahinter. Ist das schon ein Wunder, Dr. Finch?«
»Sie haben nicht gesehen, wie dieser Mann im Handumdrehen geheilt ist.«
»Dr. Sullivan hat mal gesagt, ›Wunder‹ sei ein Name für unsere Unwissenheit.«
»Nur einer von vielen.«
»Ach.«
»Geister, Dämonen.«
»Aberglaube«, sagte Guilford, obwohl ihm nicht geheuer war.
»Aberglaube«, sagte Finch monoton, »nennen wir die Wunder, die uns nicht passen.«
Kaum noch Papier, kaum noch Tinte. Ich fasse mich kurz. (Außer dass ich dir sage, wie sehr ich dich vermisse, Caroline, und dass ich die Hoffnung nicht aufgegeben habe, dich wiederzusehen und in meinen Armen zu halten).
Tom Compton ist seit vier Tagen fort, also seit einem Tag überfällig. Ich müsste aufbrechen, aber ohne ihn sieht es schlimm aus. Wer weiß? Vielleicht sehe ich die zottelige Gestalt ja noch aus dem Wald kommen…
Dr. Finch ist tot, Caroline. Als ich wach wurde, war er fort. Ich trat in den frischen Morgen hinaus und fand, dass er sich erhängt hatte — mit unserem Seil am Ast einer Salbeikiefer.
Überfroren vom Regen letzte Nacht. Glitzernd in der Sonne, wie ein böser Christbaumschmuck. Ich werde ihn abschneiden, wenn ich wieder bei Kräften bin. Diese Steinhöhle wird sein Denkmal & sein Grab.
Armer Dr. Finch. Er war müde & krank & wollte wohl nicht mehr weiterleben in einer, wie er nun glaubte, von Dämonen besessenen Welt. Kann man ihm das verdenken?
Aber ich mache weiter. In Liebe für dich & Lily.
Das Plüsch-Foyer des Empire war verwaist. Die Bewohner hatten sich am höchsten Punkt der Straße versammelt, um das Artilleriefeuer zu beobachten. Caroline ging an den roten Samtgarnituren vorbei und eilte die Treppe hinauf, gefolgt von Colin und Lily.
Colin schloss sein Zimmer auf. Augenblicklich war Lily am Fenster und verrenkte sich fast, um an der Mauer eines Lagerhauses vorbei den Krieg zu sehen. Lily war froh gewesen, von Mrs. de Koenig wegzukommen: Sie wollte doch auch wissen, was da los war.
»Feuerwerk«, sagte Lily feierlich.
»Nicht wirklich, Liebling. Das ist etwas Schlimmes.«
»Und wie laut das ist«, gab Lily zu bedenken.
»Sehr laut.« Sind wir hier sicher?, fragte sich Caroline. Wohin hätten sie gehen sollen?
Das Artilleriefeuer ließ die Mauern beben. Amerikanische Artillerie, dachte Caroline. Und das bedeutete? Es bedeutete, dass sie ein feindlicher Ausländer in einem kriegführenden Land war. Und das konnte noch ihre geringste Sorge sein. Sie zog Lily vom Fenster weg, die Docks standen in Flammen und die Werften und das Zollgebäude, vielleicht auch Jereds Lagerhaus, das voller Munition war. Der Wind war sanft aber hartnäckig und kam von Osten und am anderen Ende der Candlewick Street brannte es bereits.
Der Lieutenant räusperte sich. Sie drehte sich um und sah ihn unsicher in der offenen Tür stehen.
»Ich müsste bei meinem Regiment sein«, sagte er.
Damit hatte sie nicht gerechnet. Ein schrecklicher Gedanke. »Colin, nein — lass uns jetzt nicht allein.«
»Es ist meine Pflicht, Caroline…«
»Zum Teufel mit deiner Pflicht! Ich will nicht wieder verlassen werden. Ich will nicht, dass Lily wieder verlassen wird, nicht jetzt. Lily braucht jemanden, der zu ihr steht.«
Und das tue ich, dachte sie. Das tue ich, weiß Gott.
Colin sah hilflos und unglücklich drein. »Caroline, um Gottes willen, wir haben Krieg!«
»Und was hast du vor? Willst du den Krieg allein gewinnen?«
»Ich bin Soldat«, sagte er hilflos.
»Wie lange schon — zehn Jahre? Länger? Gott, lässt man dich nicht gehen oder willst du nicht?«
Er gab keine Antwort. Caroline kehrte ihm den Rücken zu. Sie ging zu Lily ans Fenster. Der Rauch von den Kais verdunkelte den Fluss, aber sie konnte stromabwärts die Schlote der amerikanischen Kanonenboote sehen und die britischen Schiffe, die sie bereits leckgeschossen hatten, zerstörte Dreadnaughts, die in der Themse versanken.
Die Artillerie verstummte. Jetzt waren die Stimmen zu hören, das Geschrei unten auf der Straße. Ein scharfer Geruch nach Rauch und brennendem Treibstoff wehte heran.
Die Stille zog sich hin. Schließlich sagte Colin: »Ich könnte den Dienst quittieren. Na ja, nein, nicht solange Krieg ist. Aber, Gott ist mein Zeuge, ich habe mit dem Gedanken…«
»Keine Rechtfertigung«, fiel ihm Caroline ins Wort.
»Ich will dir aber nicht wehtun.« Er zögerte. »Jetzt ist sicher nicht der passende Augenblick, aber ich habe mich nun einmal in dich verliebt. Und ich mache mir Sorgen um Lily.«
Caroline versteifte sich. Nicht jetzt, dachte sie. Nur,wenn er es ernst meint. Nicht, wenn es nur eine Entschuldigung ist, um gehen zu können.
»Versuch mich zu verstehen«, bettelte er.
»Ich verstehe dich. Verstehst du mich?«
Keine Antwort. Nur das Geräusch der Tür, die rasch ins Schloss fiel. Tja, das wär’s dann, dachte Caroline. Auf Nimmerwiedersehen, hol dich der Teufel, Lieutenant Watson! Nur noch wir beide, Lily und keine Tränen, keine Tränen.
Doch als sie sich umdrehte, war er noch da.
Die Hauptziele des Angriffs waren das Zeughaus und die verschiedenen britischen Kriegsschiffe, die an den Kais lagen, allesamt in der ersten Phase des Artilleriefeuers zerstört. Das Zeughaus und die dockseitigen Lagerhäuser brannten die ganze Nacht hindurch. Sieben britische Kriegsschiffe waren versenkt, die Ungetüme flackerten in der trägen Strömung der Themse.
Die anfänglichen Schäden am Londoner Hafen hielten sich in Grenzen und auch die Brände an den Kaianlagen hätte man unter Kontrolle bringen können, wenn da nicht die Irrläufer gewesen wären, die am Ostende der Candlewick einschlugen.
Das erste zivile Opfer war ein Bäcker namens Simon Emmanuel, der kürzlich aus Sydney angekommen war. Sein Laden hatte sich geleert, als die amerikanischen Schiffe den Fluss heraufkamen. Er stand an den Backöfen und wollte mehrere Dutzend Rosinenbrötchen retten, als eine Artilleriegranate durchs Dach schlug und vor seinen Füßen explodierte. Er war sofort tot. Das Feuer verschlang Emmanuels Laden und griff rasch auf die benachbarten Ställe über und auf die Brauerei gegenüber.
Die Anwohner wollten eine Eimerkette bilden, um die Brände zu löschen, wurden aber durch die Explosion einer frisch gelegten Gasleitung vertrieben. Zwei städtische Arbeiter und eine schwangere Frau starben in der Detonation.
Der Ostwind wurde trocken und böig. Er hüllte die Stadt in Rauch.
Caroline und Colin blieben mit Lily in dem Hotelzimmer, wohlwissend dass ihre Stunden hier gezählt waren. In der Frühe verließ Colin das Hotel, um etwas Essbares aufzutreiben. Die meisten Geschäfte und die Verkaufsstände in der Market Street waren geschlossen, ein paar Stände waren bereits geplündert. Er kam mit einem Laib Brot und einem Glas Melasse zurück. Die Küche des Empire war ein Opfer der Umstände geworden, doch im Speisesaal gab es kostenlos Flaschenwasser.
Den Morgen über beobachtete Caroline die brennende Stadt.
Die Brände an den Docks waren unter Kontrolle, aber das Ostviertel brannte lichterloh; nichts und niemand konnte das Feuer hindern, die ganze Stadt zu verschlingen. Das Feuer war jetzt gewaltig, unberechenbar, preschte plötzlich voran oder zauderte, je nachdem wie der Wind blies. Die Luft stank nach Asche und Schlimmerem.
Colin breitete ein sauberes Taschentuch über den Beistelltisch und setzte ihr ein mit Melasse getränktes Stück Brot vor die Nase. Caroline nahm einen Bissen, dann schob sie das Tischchen beiseite. »Wo sollen wir hin?« Irgendwohin mussten sie ja gehen. Und zwar bald.
»Nach Westen«, sagte Colin gefasst. »Viele schlafen schon in der Hochheide. Es gibt Zelte. Wir nehmen Decken mit.«
»Und danach?«
»Schwer zu sagen. Hängt vom Krieg ab und von uns.
Ich muss der Militärpolizei aus dem Weg gehen, fürs Erste wenigstens. Und dann buchen wir eine Überfahrt.«
»Wohin?«
»Egal eigentlich.«
»Nicht zum Kontinent!«
»Natürlich nicht…«
»Und nicht nach Amerika.«
»Nicht? Ich dachte, du wolltest wieder nach Boston.«
Sie spielte mit dem Gedanken, Colin ihrem Onkel vorzustellen. Liam hatte Guilford nie besonders gemocht, und trotzdem, es würde Fragen geben und Einwände. Bestenfalls würde alles wieder seinen gewohnten Gang gehen mit all seinen Vor- und Nachteilen, besonders aber mit den Nachteilen. Nein, nicht nach Boston.
»Wenn das so ist«, sagte Colin, »was hältst du dann von Australien?« Wie er das sagte, klang es vollkommen beiläufig. Caroline vermutete, dass er schon oft an Australien gedacht hatte. »Ich habe einen Vetter in Perth. Er würde uns aufnehmen, bis wir Fuß gefasst haben.«
»In Australien gibt es Känguruhs«, sagte Lily.
Der Lieutenant blinzelte ihr zu. »Jede Menge Känguruhs, mein Mädchen. Wimmlig viele.«
Caroline war berückt, verhielt aber den Atem. Australien? »Und was machen wir da?«
»Leben«, sagte Colin einfach.
Am nächsten Morgen klopfte ein Portier an die Tür und teilte ihnen mit, sie müssten sofort das Hotel verlassen oder man könne nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren.
»Doch nicht sofort«, meinte Caroline. Colin und der Portier überhörten ihren Einwand. Vielleicht war es doch an der Zeit. Über Nacht war die Luft unerträglich geworden. Caroline spürte Stiche in der Lunge und Lily musste immerzu husten.
»Alles östlich der Thames Street muss geräumt werden«, beharrte der Portier. »Anordnung des Bürgermeisteramtes.«
Schon merkwürdig, wie lange eine Stadt brannte, selbst eine so kleine und primitive Stadt wie London.
Sie raffte ihre Taschen zusammen und half Lily packen. Colin hatte kein Gepäck — jedenfalls nichts, woran ihm gelegen war —, aber er faltete die hoteleigenen Bettlaken und Decken zu einem Bündel zusammen. »Das Hotel wird nicht meckern«, sagte Colin. »Nicht unter diesen Umständen.«
Er weiß genauso gut wie ich, dachte Caroline, dass das Hotel morgen früh in Schutt und Asche liegt.
Sie trat vor die Spiegelkommode und ordnete ihr Haar. Sie konnte kaum etwas sehen. Draußen herrschte Zwielicht und das Gas war seit dem Angriff abgesperrt. Sie sah zu, wie sich die Geistererscheinung im Spiegel kämmte, dann nahm sie Lilys Hand. »Fertig«, sagte sie. »Wir können gehen.«
Colin verkleidete sich auf dem Treck in die ausgedehnte Zeltstadt, die westlich von London entstanden war. Er trug einen viel zu großen Regenmantel und einen Schlapphut, beides zu einem horrenden Preis von einem Altwarenhändler erstanden, der den Flüchtlingsstrom abgraste. Army und Navy waren zur Unterstützung abkommandiert. Sie zirkulierten zwischen den improvisierten Unterkünften und verteilten Lebensmittel und Arznei. Colin wollte unerkannt bleiben.
Natürlich wollte er nicht als Deserteur festgenommen werden. Genau genommen, dachte Caroline, war er ja desertiert. Sie wusste, dass ihm das zu schaffen machte, aber er wollte nicht darüber sprechen. »Ich war nicht viel mehr als eine Art Lagerverwalter«, sagte er. »Ich bin ersetzbar.«
Nachdem sie drei Tage in der Zeltstadt verbracht hatten, wurden die Lebensmittel knapp, allerdings wurden allerortens optimistische Gerüchte laut: Ein Dampfer vom Roten Kreuz komme die Themse herauf; die Amerikaner seien auf offener See geschlagen worden. Das Gerede ließ Caroline kalt. Sie wusste aus eigener Erfahrung, was davon zu halten war. Es reichte voll und ganz, dass dem Feuer offenbar die Nahrung ausging und ein kalter Frühlingsregen einsetzte. Die Leute redeten von Wiederaufbau, wenngleich Caroline das Wort für absurd hielt: die Rekonstruktion einer Rekonstruktion einer verschwundenen Welt, was für ein Unsinn!
Einen ganzen Nachmittag lang wanderte sie zwischen den schwelenden Lagerfeuern und stinkenden Latrinengräben umher und hielt nach Alice und Jered Ausschau. Sie bedauerte, in London keinen Bekanntenkreis zu haben, sie hatte sich zu sehr abgesondert. Wie schön wäre es gewesen, jetzt einem vertrauten Gesicht zu begegnen, doch es gab keine vertrauten Gesichter, bis auf das von Mrs. de Koenig, der Frau, die so oft auf Lily aufgepasst hatte. Mrs. de Koenig sah verdrossen drein, sie war allein, in eine triefende Persenning gehüllt, ihr Haar war wirr und nass; zuerst erkannte sie Caroline gar nicht.
Doch als Caroline sich nach Alice und Jered erkundigte, schüttelte die ältere Frau traurig den Kopf. »Sie haben zu lange gewartet. Das Feuer stürmte durch die Market Street, als ob es lebendig wär.«
Caroline stockte der Atem. »Sie sind tot?«
»Tut mir Leid.«
»Sind sie sicher?«
»So sicher wie es regnet.« Ihre rotgeränderten Augen waren voller Trauer. »Tut mir Leid, Miss.«
Etwas wird einem immer gestohlen, dachte Caroline, als sie durch den Morast und die faulenden Pflanzen zurückstapfte. Etwas wird einem immer genommen. Im Regen fiel es nicht auf, wenn man weinte, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie wollte mit dem Weinen fertig sein, bevor sie Lily unter die Augen trat.
Blüte um Blüte explodierte das Feuerwerk über dem Washington Monument, man feierte den Sieg im Atlantik. Die jähen Lichter färbten den Reflecting Pool.[37] Die Nacht roch nach Schießpulver; die Menschenmenge war ausgelassen und wild.
»Du musst die Stadt verlassen«, sagte Crane, er hatte die Hände in den Taschen und lächelte vielsagend. Er latschte wie ein Brahmane, mit einer Selbstgefälligkeit, die sich nicht allzu ernst nahm. »Ich nehme an, du weißt das.«
Wann hatte Vale zuletzt eine öffentliche Feier erlebt? Ein paar halbherzige Feten am Independence Day seit dem denkwürdigen Sommer 1912. Doch der Sieg im Atlantik hatte wie Glockengeläut über das Land gehallt. In diesem nächtlichen Gedränge würden sie nicht auffallen. Sie konnten laut reden.
Vale sagte: »Erst hätte ich noch gerne gepackt.«
Crane würde, anders als die Götter, einen Einwand hinnehmen.
»Keine Zeit, Elias. Wie dem auch sei, Leute wie wir brauchen keine irdischen Güter. Wir halten es eher — ähm — wie die Affen.«
Das Fest würde bis in den Morgen dauern. Ein glorreicher, kleiner Krieg: ganz im Sinne von Teddy Roosevelt. Die Briten hatten nach verheerenden Verlusten, die man ihrer Atlantikflotte und ihren Darwinischen Kolonien beigebracht hatte, kapituliert und fürchteten nun einen Angriff auf Kitcheners Exilregierung in Kanada. Das Diktat hielt sich in Grenzen: ein Waffenembargo, so die offizielle Fußnote der Wilson-Doktrin. Der Konflikt hatte eine ganze Woche gedauert. Weniger ein Krieg, dachte Vale, als die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln — und eine Warnung an die Japaner, sollten sie auf die Idee kommen, ihre imperialen Gelüste gen Westen zu richten.
Natürlich hatte der Krieg einem anderen Zweck gedient, einem Zweck, den nur die Götter kannten. Und dabei würde es vermutlich auch bleiben, dachte Vale. Vielleicht ging es nur darum, das Potential an Hass, Gewalt und Verwirrung zu steigern. Aber die Götter machten für gewöhnlich Nägel mit Köpfen.
In der Post hatte ein gerahmter Zusatz gestanden: Im Zusammenhang mit dem Mord an Smithsonian-Direktor Eugene Randall wurden britische Staatsangehörige und Sympathisanten vernommen. Vales Name wurde nicht erwähnt, der hatte das Zeug für eine Morgenausgabe. »Du solltest mir dankbar sein, dass ich den Kopf hinhalte«, erklärte er Crane.
»Nett ausgedrückt. Aber er bleibt obendrauf, glaub mir. Du wirst noch gebraucht. Sieh es einmal so: Du legst eine Rolle ab. Die Polizei findet dich tot in der Asche deines Reihenhauses, zumindest ein paar verräterische Knochen und Zähne. Fall erledigt.«
»Wessen Knochen?«
»Spielt das eine Rolle?«
Vermutlich nicht. Irgendein anderes Opfer. Irgendein Hindernis auf dem Weg zu einer angemessenen und zweckmäßigen Evolution des Kosmos.
Crane sagte: »Hier, nimm das.« Es war ein Umschlag mit einem Eisenbahnticket und einem Bündel Hundert-Dollar-Noten. Als Bestimmungsort stand New Orleans auf dem Ticket. Vale war noch nie in New Orleans gewesen. Seinetwegen hätte da statt New Orleans auch Mars-Ost stehen können.
»Dein Zug geht um Mitternacht«, sagte Crane.
»Und was ist mit dir?«
»Ich habe einen Schutzengel, Elias.« Er lächelte. »Um mich mach dir keine Sorge. Vielleicht sehen wir uns ja wieder, in zehn Jahren oder zwanzig oder dreißig.«
Gott steh uns bei. »Fragst du dich nie — ob das jemals aufhört?«
»Oh doch«, sagte Crane. »Ich glaube, wir werden das erleben, was meinst du?«
Das Feuerwerk erreichte sein Crescendo. Sterne explodierten zum rollenden Donner der Kanonenschläge: blau, violett, weiß. Ein gutes Omen für die neue Harding-Regierung. Hier im modernen Washington würde Crane Karriere machen, dachte Vale. Wie eine Rakete würde er aufsteigen.
Und ich werde in Vergessenheit geraten, und das ist vielleicht gut so.
New Orelans war warm, beinah schwül; der Frühling nahm tropische Formen an. New Orleans war eine seltsame Stadt, dachte Vale, so unamerikanisch. Sie nahm sich aus wie aus einer französisch-karibischen Kolonie importiert, lauter verspieltes Eisenzeug und Gewitter und weiches Kreolisch.
Das Apartment, das er unter einem Decknamen mietete, lag in einem schäbigen, ansonsten aber passablen Viertel. Er zahlte mit einem Bruchteil von Cranes Geld und machte sich gleich auf die Suche nach einem Büro im zweiten oder dritten Geschoss, wo sich ein wenig Spiritismus betreiben ließ. Er fühlte sich seltsam frei, als habe er seine Gottheit in Washington gelassen. Ein falsches Gefühl, wie er wusste, aber er wollte es auskosten, so lange es anhielt.
Sein Verlangen nach Morphium war nicht körperlich bedingt, vermutlich ein weiterer Nebeneffekt seiner Unsterblichkeit; doch er dachte mit Sehnsucht an den Rauschzustand zurück und verbrachte ein paar Abende damit, durch die Jazzbars zu ziehen, um eine Quelle aufzutun. Auf dem Heimweg — die Nacht war sternenklar und windig — fielen zwei Fremdlinge über ihn her. Die Männer waren muskulös, die Gesichter unter den Wollmützen der Navy waren grob, mehr war nicht zu erkennen. Sie schleppten ihn in eine Gasse hinter einem Tattoo-Laden.
Sie mussten ein Werkzeug der Götter gewesen sein, dachte Vale später. Das war die einzige Erklärung. Der eine hielt eine Flasche, der andere eine kurze Eisenstange mit Gewinde. Sie verlangten nichts, sie nahmen ihm auch nichts weg. Sie nahmen sich ausschließlich sein Gesicht vor.
Seine unsterbliche Haut platzte und ging in Fetzen, sein unsterblicher Schädel trug etliche Frakturen davon. Er verschluckte mehrere unsterbliche Zähne.
Er starb selbstverständlich nicht.
Zugewickelt mit Bandagen und ruhiggestellt, wie er war, hörte er, wie ein Arzt und eine Schwester sich im trägen Louisiana-Dialekt über seinen Fall unterhielten. Ein Wunder, dass er noch lebt. Weiß Gott, danach wird ihn kein Mensch mehr erkennen.
Kein Wunder, dachte Vale. Auch kein Zufall. Für die Götter, die in Washington seine Haut gegen die Morphiumspritze gefeit hatten, war es ein Leichtes, auch diese tödlichen Schläge abzufangen. Er war überrumpelt worden, weil er sich freiwillig nie hätte operieren lassen.
Keiner wird mich wiedererkennen.
Er heilte rasch.
Eine neue Stadt, ein neuer Name, ein neues Gesicht. Er gewöhnte sich ab, in den Spiegel zu sehen. Ein hässliches Gesicht stand seiner Arbeit nicht unbedingt im Wege.
Guilford erreichte den Bodensee an einer Stelle, wo ein Gletscherbach in den See mündete, eisiges Wasser, das über glatte, schwarze Kiesel hüpfte. Rittlings auf der Wollschlange, die er Evangeline getauft hatte, folgte er langsam und akribisch der Uferlinie. ›Evangeline‹ nur deshalb, weil ihm der Name gefiel; das wirkliche Geschlecht des Tieres war ihm ein Rätsel. Die letzte Woche über hatte Evangeline mehr Nahrung aufstöbern können als Guilford, und ihre sechsgliedrigen Hufe kamen weit besser voran als seine streichholzdünnen Beine.
Eine freundliche Sonne vergoldete den Tag. Guilford hatte aus Seilen eine Art Sitzgeschirr gebastelt, das ihn selbst dann rittlings auf dem breiten Rücken von Evangeline hielt, wenn er die Besinnung verlor. Hinzu kam, dass er mitunter in einen nickenden Halbschlaf verfiel, der sein Kinn immer wieder auf die Brust sinken ließ. Doch die Sonne erlaubte ihm, einige Felle abzulegen, und es war eine Wohltat zu spüren, dass die Luft ihre tödliche Kälte verloren hatte.
Für eine Wollschlange war Evangeline ausgesprochen intelligent. Sie ging Insektenhalden selbst dann aus dem Weg, wenn Guilford sie verschlief. Sie kam nie weit vom Trinkwasser ab. Und sie hatte Respekt vor Guilford — vielleicht nicht so verwunderlich, nachdem er einen ihrer Artgenossen getötet und gekocht und den anderen freigelassen hatte.
Er behielt den Horizont im Auge. Er war so allein wie eh und je, erschreckend allein, in einem grenzenlosen Land mit finsteren Wäldern und abgrundtiefen Schluchten. Aber das war in Ordnung. Das Alleinsein war nicht so schlimm. Gefährlich wurde es immer nur, wenn andere auftauchten.
Dass er den Felssims fand, wo sie die Boote versteckt hatten, schrieb er Evangeline zu. Stunde um Stunde war sie dem Kiesufer gefolgt, hatte sich jeden Schritt erschnüffelt, bis sie zu guter Letzt stehenblieb und ihn durch ihr lautes Stöhnen aufrüttelte.
Guilford erkannte die Felsformation wieder, die Uferlinie, die hügeligen Wiesen im ersten Hauch ihres Grüns.
Es war die richtige Stelle. Aber die Persenning war nicht da und auch die Boote waren fort.
Benommen ließ Guilford sich von Evangelines Rücken rutschen und suchte den Strand ab — nach was auch immer: Überbleibseln, Spuren. Er fand ein verkohltes Brett und einen rostigen Nagel. Sonst nichts.
Die Brise warf kleine Wellen ans Ufer.
Die Sonne stand niedrig. Er brauchte Brennholz und wusste nicht einmal, wo er die Kraft hernehmen sollte, ein Feuer zu entfachen.
Er seufzte. »Ende der Straße, Evangeline. Fürs Erste zumindest.«
»Für immer, wenn Sie nicht bald was Anständiges in den Magen bekommen.«
Er drehte sich um.
Erasmus.
»Tom meinte, Sie würden hier aufkreuzen«, sagte der Farmer.
Erasmus gab ihm zu essen, richtiges Essen, überließ ihm eine Bettrolle und versprach, ihn und Evangeline auf seine kleine Ranch hinter Rheinfelden zu bringen, die nicht weiter als ein paar Tage entfernt war; wenig später, wenn die Winterware abgeholt würde, brauche Guilford nur mit flussabwärts zu fahren.
»Sie haben mit Tom Compton gesprochen? Er lebt?«
»Kam auf dem Weg nach Jayville am Kraal vorbei. Meinte, ich soll nach Ihnen und Mr. Finch Ausschau halten. Er lief Banditen in die Arme, nachdem er euch verlassen hatte. Zu viele, um den Kampf aufzunehmen. Also kam er nach Norden, köderte sie mit Feuern und lockte sie bis zum Bodensee. Er hat Ihnen das Leben gerettet, Mr. Law. Und Preston Finch?«
»Finch hat es nicht geschafft«, sagte Guilford.
Sie gingen parallel zur Rheinschlucht, folgten der Landroute, die Erasmus erschlossen hatte. Der Farmer machte an einem Tümpel Halt, der von einem namenlosen Nebenfluss gespeist wurde. Das Wasser war seicht und strömte nur träge. Die Sonne hatte es leidlich aufgeheizt, auch wenn Guilford es immer noch als bitterkalt empfand. Es war Wochen her, seit er sich zuletzt gewaschen hatte. Das Wasser hätte gut und gerne eine Lauge sein können, so viel an Schuppen und Dreck verlor er. Frierend und nackt wie eine Made kam er heraus. Die ersten Billyfliegen des Jahres prallten auf seine Haut und flohen über das sonnenbeschienene Wasser. Das Haar fiel ihm in die Augen; wie der Bart über die Brust fiel, erinnerte er an eine triefnasse Armeedecke.
Erasmus spannte das Zelt auf und schabte eine Mulde für das Feuer aus, derweil Guilford sich abtrocknete und anzog.
Sie aßen Bohnen aus der Dose, süße Melasse und geräucherten Schellfisch. In einem Blechnapf kochte Erasmus Kaffee. Der Kaffee war dick wie Sirup und bitter wie Lehm.
Der Wollschlangenfarmer hatte etwas auf dem Herzen.
»Tom hat mir von der Stadt erzählt«, sagte er, »und was euch da passiert ist.«
»So gut kennen Sie ihn?«
»Wir kennen uns, sagen wir es so. Uns verbindet, dass wir beide in dieser anderen Welt waren.«
Guilford bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick. Der Farmer zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Zur Hölle«, sagte Erasmus. »Ich hätte Tom die zwanzig Viecher verkauft, wenn er gefragt hätte. Man soll ja nicht schlecht über die Toten reden, aber Finch hat sich aufgeführt wie Gottvater persönlich, ich war stinksauer.«
Er fischte eine Pfeife aus der Satteltasche, stopfte sie und riss ein Zündholz an. Er rauchte Tabak, keinen Flusstang. Der Geruch war exotisch, voller Erinnerungen. In Leder gebundene Bücher, tiefe Polster, Zivilisation.
»Wir sind beide im Großen Krieg gefallen«, sagte Erasmus. »In der anderen Welt, meine ich. Wir haben beide mit unserem eigenen Geist geredet.«
Guilford überlief ein Schauder. Er wollte das nicht hören. Alles andere, nur das nicht — nicht noch mehr Wahnsinn, nicht jetzt.
»Im Grunde«, sagte Erasmus, »bin ich bloß ein kleiner Heinie[38] aus der dritten Generation in Wisconsin. Mein Vater hat den größten Teil seines Lebens in einer Abfüllerei gearbeitet, und mir hätte dasselbe geblüht, wenn ich mich nicht nach Jeffersonville abgesetzt hätte. Aber da ist diese andere Welt, wo der Kaiser mit den Briten und den Franzosen und den Russen aneinandergeriet. 1917/18 wurden eine Menge Amerikaner eingezogen, sie mussten über den Teich, um zu kämpfen. Viele sind gefallen.« Er räusperte sich und spuckte einen braunen Schleimbatzen ins Feuer. »In der anderen Welt bin ich ein Geist und in dieser hier bin ich noch aus Fleisch und Blut. Können Sie mir folgen?«
Guilford schwieg.
»Aber die zwei Welten sind nicht mehr ganz voneinander getrennt. Daher die Verwandlung Europas, ganz zu schweigen von der so genannten Stadt, in der ihr überwintert habt. Die beiden Welten haben sich verheddert, weil — es gibt da etwas, das sie zerstören will. Vielleicht nicht zerstören, eher fressen — tja, es ist schon kompliziert.
Ein paar von uns sind in der anderen Welt gestorben und leben in dieser Welt weiter, und das ist das Besondere an uns. Vor uns liegt eine Aufgabe, Guilford Law, und es ist kein Zuckerschlecken. Glauben Sie ja nicht, dass ich alle Einzelheiten kenne. Nein, nein. Aber die Aufgabe ist langwierig und scheußlich, und wir sind diejenigen, welche.«
Guilford sagte nichts, dachte nichts.
»Die beiden Welten kommen sich immer ein bisschen näher. Tom wusste das nicht, als er die Stadt betrat — vielleicht hat er es geahnt —, aber er wusste es hundertprozentig, als er ging. Er weiß es jetzt. Und ich glaube, Sie wissen es auch.«
»Menschen glauben alles Mögliche«, sagte Guilford.
»Und Menschen wollen alles Mögliche nicht wahrhaben.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen?«
»Ich glaube doch. Sie sind einer von uns, Guilford Law. Sie sträuben sich noch. Sie haben Frau und Kind, und da will man nichts vom Armageddon wissen, ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Aber es ist auch um ihretwillen — der Kinder, der Enkelkinder.«
»Ich glaube nicht an Geister«, brachte Guilford heraus.
»Das ist schade, denn die Geister glauben an Guilford Law. Und ein paar von diesen Geistern würden Sie am liebsten tot sehen. Gute Geister, böse Geister, es gibt zwei Sorten.«
Ich will diese Hirngespinste nicht noch päppeln, dachte Guilford. Vielleicht hatte er ja das eine oder andere in seinen Träumen erlebt. In diesem Schacht im Zentrum der Ruinenstadt. Aber was hieß das schon?
(Woher wusste Erasmus von dem Wachsoldaten? Sullivans letzte, rätselhafte Worte: Sie sind in Frankreich gestorben. Im Kampf gegen die Boches… Nein, lass die Finger davon; denk später drüber nach. Nur nichts zugeben. Mach, dass du heimkommst, zu Caroline.)
»Die Stadt…«, hörte er sich flüstern.
»Die Stadt gehört ihnen. Sie sollte nicht gefunden werden. Um sie versteckt zu halten, scheuen sie vor nichts zurück. Gehen Sie mal hin, in sechs Monaten oder einem Jahr, Sie werden sie nicht mehr finden. Die nähen das Tal einfach zu, wie einen Mehlsack. Die können so was. Die entfernen ein Stückchen Welt aus unserem — unserem Horizont. Oh, Sie oder ich, wir finden die Stadt vielleicht, ein normaler Mensch aber nicht.«
»Ich bin ein normaler Mensch«, sagte Guilford.
»Wünschen kann man sich vieles, hat meine Mutter immer gesagt. Egal.« Der Wollschlangenfarmer erhob sich ächzend. »Legen Sie sich aufs Ohr, Guilford Law. Wir haben noch ein gutes Stück vor uns.«
Erasmus kam nicht wieder auf das Thema zu sprechen, und Guilford wollte nicht darüber nachdenken. Er hatte andere Probleme, dringendere.
Auf der Wollschlangenfarm besserte sich sein körperlicher Zustand. Bis die Warenboote aus Jeffersonville eintrafen, konnte er schon ein Stück weit gehen, und zwar ohne zu humpeln. Er bedankte sich bei Erasmus und fragte ihn, was er denn von einem Argosy- Abonnement per Schiff halte.
»Gute Idee. Dieses Buch von Finch war langweilig. Vielleicht auch noch das National Geographic?«
»Abgemacht.«
»Science and Invention?«
»Erasmus, Sie haben mir am Bodensee das Leben gerettet. Alles, was Sie wollen.«
»Na ja — ich will nicht habgierig sein. Und ich bezweifle, ob ich Ihnen das Leben gerettet habe. Ob Sie leben oder sterben, liegt nicht in meinen Händen.«
Erasmus hatte seine Ware in zwei flache Flussboote geladen, die auf einen Broker aus Jeffersonville hörten. Das war Guilfords Rückkehr an die Küste. Er hielt dem Farmer die Hand hin.
»Und wegen Evangeline…«
»Keine Sorge. Sie kann tun und lassen, was sie will. Gibt man dem Tier erst einen Namen, hat der gesunde Menschenverstand verloren.«
»Danke.«
»Wir sehen uns«, sagte Erasmus. »Und denken Sie an meine Worte, Guilford.«
»Mache ich.«
Aber nicht jetzt.
Der Flussschiffer erzählte ihm von den Scherereien mit England. Ein Seegefecht und streng zensierte Nachrichten über den Äther. »Es heißt aber, wir hätten sie vernichtend geschlagen.«
Die Boote kamen gut voran, das Land wurde flacher, der Rhein breiter. Die Tage waren jetzt wärmer, die Rheinmarsch lag smaragdgrün unter einem heiteren Frühlingshimmel.
Er folgte dem Rat von Erasmus und kam anonym in Jeffersonville an. Die Stadt war gewachsen, seit Guilford sie zuletzt gesehen hatte, mehr Fischerhütten und drei neue Gebäude auf dem festen Grund bei den Docks. Mehr Boote lagen in der Bucht, aber keine Kriegsmarine; die Basis der Navy lag fünfzig Meilen weiter südlich. Keine Fracht für London — jedenfalls keine legale.
Er sah sich nach Tom Compton um, aber die Hütte des Grenzers war verwaist.
Im hiesigen Büro der Western Union veranlasste er eine Geldanweisung; er konnte nur hoffen, dass Caroline in der irrigen Annahme, er sei tot, sein Bostoner Konto nicht aufgelöst hatte. Der Transfer funktionierte einwandfrei, eine Nachricht kam allerdings nicht durch nach London. »Nach dem, was man so hört«, erklärte ihm der Telegraphist, »gibt es da wohl keinen Kollegen mehr.«
In der Hafenkneipe, wo er den Mann treffen sollte, der ihn über den Kanal bringen würde, erfuhr er von einem betrunkenen amerikanischen Matrosen vom Angriff auf London.
Guilford trug einen zweireihigen Mantel aus grobem Wollstoff und eine Wollmütze, tief in die Stirn gezogen. Die Schenke war randvoll und zugequalmt. Er setzte sich auf einen Schemel am Ende der Bar, was aber nichts daran änderte, dass er das eine oder andere aus dem allgemeinen Stimmengewirr aufschnappte. Erst als ein dickleibiger Matrose am nächsten Tisch etwas über London sagte, spitzte Guilford die Ohren. Es fielen die Worte ›Feuer‹ und ›gottverdammte Wildnis‹.
Er ging an den Tisch, an dem der Seemann mit einem anderen saß, einem schlaksigen Neger. »Entschuldigen Sie«, sagte Guilford. »Ich wollte nicht mithören, aber sie haben doch London erwähnt? Ich bin ganz wild auf Einzelheiten… meine Frau und meine kleine Tochter sind da.«
»Ich hab selbst ein paar Bastarde da zurückgelassen«, sagte der Matrose. Sein Lächeln verzog sich, als er Guilfords Miene sah. »Nichts für ungut… ich weiß nur, was ich gehört habe.«
»Sie waren da?«
»Nicht mehr seit dem Beschuss. Ich hab einen Heizer getroffen, der mit einem Kanonenboot themseauf gewesen sein will. Quatscht aber viel, wenn er trinkt, und was er von sich gibt, ist nicht immer die lautere Wahrheit.«
»Ist er in Jeffersonville?«
»Hat gestern abgelegt.«
»Was hat er über London erzählt?«
»Dass es beschossen wurde. Dass es völlig niedergebrannt ist. Aber reden kann man viel. Sie wissen ja, wie das ist. Jesus, Sie müssten sich mal sehen. Sie sind ja ganz durch den Wind, Mann. Der Drink geht auf meine Rechnung.«
»Danke«, sagte Guilford. »Habe keinen Durst.«
Er heuerte einen Kanalskipper namens Hans Kohn an, der einen schäbigen, aber seetüchtigen Fischtrawler fuhr und bereit war, Guilford gegen Bargeld nach Dover zu bringen.
Das Schiff verließ Jeffersonville nach Einbruch der Dunkelheit, bei mäßiger Dünung und mondlosem Himmel. Zweimal änderte Kohn den Kurs, um Navy-Patrouillen auszuweichen, undeutlichen Silhouetten am violetten Horizont. Die Themse könne er sich aus dem Kopf schlagen, erklärte ihm Kohn. »Die ist abgeriegelt. Es gibt einen Landweg von Dover aus, eine unbefestigte Straße. Mehr kann ich nicht für Sie tun.«
An einem grob gezimmerten Anlegesteg an der Küste von Kent ging Guilford an Land. Kohn machte kehrt. Guilford blieb eine Zeit lang auf dem knarrenden Dock sitzen und lauschte den Schreien der Ufervögel, derweil im Osten ein milchiges Zinnoberrot dämmerte. Die Luft roch nach Salz und Fäulnis.
Endlich auf englischem Boden. Das Ende der Reise oder zumindest der Anfang ihres Endes. Die Meilen, die er hinter sich gebracht hatte, fielen wie Bleigewichte von ihm ab, als sei er vom Grund des Ozeans aufgestiegen. Er dachte an seine Frau und sein kleines Mädchen.
Die Landroute von Dover nach London bestand aus einer Schneise, die man durch die Wildnis getrieben hatte, ein morastiger Pfad, stellenweise so schmal, dass ein Pferd mit Reiter in Bedrängnis kam.
Dover war ein blühendes Hafenstädtchen, das man in den kreidigen Küstenboden geschnitten hatte, umgeben von windgepeitschten Hügeln und endlosen blaugrünen Weiten aus Sternampfer und einem Ried mit Blattkrone, das die Einheimischen ›Shag‹ nannten, was so viel wie ›Struwwelkopf‹ heißt. Das Städtchen war kaum vom Krieg berührt worden; Lebensmittel gab es noch reichlich und Guilford konnte eine zugerittene Stute erstehen, die noch nicht zu alt war und die ihn nach London tragen würde. Er war nicht der geborene Reiter, empfand dieses Reittier aber verglichen mit Evangeline als Luxus.
Eine Zeit lang war er auf der Straße nach London allein, doch als er die Hochlandwiesen durchquerte, begegneten ihm die ersten Flüchtlinge.
Ein paar zerlumpte Reisende, manche waren beritten, andere zogen schlammverkrustete Karren, die mit Decken und Porzellan und ramponierten Teerruhen beladen waren. Er wechselte ein paar Worte mit den Leuten. Keiner hatte ermutigende Neuigkeiten, und die meisten scheuten zurück, wenn sie seinen Akzent hörten. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit traf er auf einen Trupp von etwa vierzig Familien, die am Hang eines Hügels kampierten, die Feuer glitzerten wie die Lichter einer lebhaften City.
Seine Gedanken kreisten immer nur um Caroline und Lily. Er befragte die Flüchtlinge ausgesucht höflich, fand aber niemanden, der die beiden kannte oder gesehen hatte. Entmutigt und einsam, wie er war, zügelte er sein Pferd und nahm die Einladung an, sich dem Kreis rings um ein Lagerfeuer anzuschließen. Freimütig teilte er seinen Proviant, erklärte seine Lage und erkundigte sich, was genau mit London passiert sei.
Die Antworten waren kurz und schonungslos.
Die Stadt hatte unter Artilleriebeschuß gelegen. Die Stadt hatte lichterloh gebrannt.
Waren viele ums Leben gekommen?
Viele — wie viele, war schwer zu sagen, eine Zahl gab es nicht.
Als er sich der Stadt näherte, drängte sich ihm der Verdacht auf, dass ihm jemand folgte.
Da war ein Gesicht, das er kannte, ein vertrautes Gesicht, und es tauchte wiederholt unter den immer zahlreicher werdenden Flüchtlingen auf oder hielt Schritt mit ihm auf der Waldstraße oder beobachtete ihn aus dem Gitterwerk aus Moscheebäumen und Pagodenfarnen. Das Gesicht eines Mannes, jung aber abgehärmt. Der Mann trug eine zerschundene Khaki-Uniform ohne Abzeichen. Der Mann sah dem Wachsoldaten aus Guilfords Träumen verdächtig ähnlich. So unsinnig das auch sein mochte.
Guilford versuchte, sich ihm zu nähern. Zweimal auf einer verwaisten Strecke tief im Zwielicht des Waldes, er blieb im Sattel und rief den Mann an. Aber niemand gab Antwort. Guilford hatte Herzklopfen und kam sich albern vor.
Wahrscheinlich gab es diesen Mann überhaupt nicht. Müde Augen und bange Gedanken spielten ihm einen Streich.
Doch er blieb auf der Hut.
Das Erste, was er von London sah, war die geschwärzte aber sonst unversehrte Kuppel der neuen St. Paul’s Cathedral, die über einem Feld aus Nebel und Trümmern brütete.
Eine provisorische Seilfähre trug ihn ans Nordufer der Themse. Anhaltender Nieselregen sprenkelte den turbulenten Fluss. Im baumlosen Gebiet westlich der Stadt fand er ein Flüchtlingslager, ein weitläufiges und stinkendes Durcheinander von Zelten und Latrinengräben, in dessen Mitte ein paar Rotkreuzfahnen schlaff im Regen hingen.
Guilford näherte sich einem der Versorgungszelte, an dem eine Schwester mit Haarnetz Decken ausgab. »Entschuldigen Sie«, sagte er.
Köpfe drehten sich, als sie seinen Akzent hörten. Die Schwester sah ihn flüchtig an, die Andeutung eines Nickens.
»Ich suche jemanden«, sagte er. »Gibt es eine Möglichkeit… ich meine, irgendeine Liste…?«
Ein knappes Kopfschütteln. »Tut mir Leid. Wir haben es versucht, aber zu viele sind nach dem Feuer einfach losgezogen. Kommen Sie von New Dover?«
»Ich bin über Dover gekommen, ja.«
»Dann haben Sie ja gesehen, wie viele Menschen auf der Flucht sind. Trotzdem, versuchen Sie es am Kantinenzelt. Da kommen alle hin. Es steht auf der Westwiese.« Sie kippte den Kopf. »Diese Richtung.«
Sein Blick schweifte über etliche ausgedehnte Areale menschlichen Elends, die Stirn lag in Falten.
Die Schwester drückte ihr Kreuz durch. »Tut mir Leid«, sagte sie mit weicherer Stimme. »Ich will ja nicht rücksichtslos klingen. Es ist nur, weil… es sind so viele.«
Guilford steuerte auf das Kantinenzelt zu, als er das Phantom erneut sah; es hätte sein Schatten sein können, wie es durch den Morast und die zerrissenen Zelte und die qualmenden Feuer strich.
»Mr. Law? Guilford Law?«
Erst dachte er, der Geist hätte ihn angesprochen. Dann sah er sich um und erblickte die zerlumpte Frau, die mit den Armen ruderte. Er brauchte einen Augenblick, bis er sie erkannte: Mrs. de Koenig, die Witwe, die neben Jered Pierce gewohnt hatte.
»Mr. Law — sind Sie es wirklich?«
»Ja, Mrs. de Koenig, ich bin es.«
»Lieber Gott, und ich dachte, Sie wären tot! Alle haben gedacht, Sie wären auf dem Kontinent gestorben!«
»Ich suche nach Caroline und Lily.«
»Oh«, sagte Mrs. de Koenig. »Natürlich.« Doch das zahnlose Lächeln verblasste. »Natürlich tun Sie das. Ich will Ihnen was sagen. Genehmigen wir uns einen Drink, Mr. Law, Sie und ich, und dann reden wir darüber.«
Liebe Caroline!
Wahrscheinlich wirst du diesen Brief nie bekommen. Ich schreibe ihn, weil mir ein Funke Hoffnung bleibt.
Offensichtlich habe ich den Winter in Darwinia überlebt. (Von der Finch-Expedition haben nur ich und Tom Compton überlebt — wenn er denn noch am Leben ist.) Falls dich diese Nachricht zum ersten Mal erreicht, bist du hoffentlich nicht allzu erschrocken. Ich weiß, du hast geglaubt, ich sei auf dem Kontinent gestorben. Ich denke, im Großen und Ganzen erklärt diese Annahme dein Verhalten seit Herbst 1920.
Vielleicht denkst du, ich würde dich verachten oder dass ich nur schreibe, um meinem Zorn Luft zu machen. Na ja, der Zorn ist da. Ich wünschte schon, du hättest gewartet. Aber diese Frage ist müßig. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich war in der Wildnis und war lebendig; du warst in London und dachtest, ich sei tot. Sagen wir einfach, jeder hat entsprechend gehandelt.
Ich zögere, dir das zu schreiben (die Chance, dass du es liest, ist ohnehin gering). Aber die Gewohnheit, meine Gedanken an dich zu richten, ist mir zur zweiten Natur geworden. Und es gibt Dinge zwischen uns, die wir klären müssen.
Und ich möchte dich um einen Gefallen bitten.
Da ich die Notizen und Briefe an dich, die ich auf dem Kontinent geschrieben habe, beilegen werde, will ich die Geschichte jetzt zu Ende erzählen. Es ist etwas Außergewöhnliches geschehen, Caroline, und ich muss es zu Papier bringen, selbst wenn du es nie zu Gesicht bekommst (und das wäre vielleicht gut so).
Ich habe dich im zerstörten London gesucht. Kurz nach meiner Ankunft traf ich auf Mrs. de Koenig, unsere Nachbarin aus der Market Street. Von ihr erfuhr ich, dass du an Bord eines Mercy-Schiffs[39] nach Australien abgereist bist. Du wärst, wie sie sagte, mit Lily und diesem Mann (um nicht ›Deserteur‹ zu sagen, was er nach meinem Verständnis ja ist), diesem Colin Watson, an Bord gegangen.
Ich will nicht näher auf meine Reaktion eingehen. Es soll genügen, wenn ich sage, dass ich mich an die Tage danach wie durch einen Nebel erinnere. Ich verkaufte mein Pferd und gab das Geld für ein gut Teil dessen aus, was man aus den Brennereien der High Street hatte retten können.
Vergessen muss teuer bezahlt werden, Caroline. Nicht bloß in London. Das war schon immer so.
Viel später erwachte ich im Nebel auf offener Heide, unbarmherzig nüchtern und kalt bis ins Mark. Die Decke war durchnässt, auch die schmutzstarrende Kleidung. Der Morgen dämmerte herauf, kaum dass die Sonne den östlichen Himmel erhellte. Ich saß am Rand des Flüchtlingslagers und musterte die wenigen Feuer, die verwaist im Morgengrauen schwelten. Ich raffte mich auf. Ich fühlte mich verlassen und allein…
Aber ich war nicht allein.
Es war mehr die Ahnung eines Geräuschs, die mich veranlasste, mich umzudrehen…
Da war ich, ich selbst.
Ich weiß, wie seltsam das klingt. Und es war seltsam, seltsam und desorientierend. Man sieht nie sein eigenes Gesicht, Caroline, nicht einmal im Spiegel. Schon als Kinder posieren wir vor dem Spiegel, um unsere Schokoladenseite zu bewundern. Etwas ganz anderes ist es, wenn auf einmal jemand anderes dein Gesicht und deinen Körper hat.
Erst habe ich ihn nur angestarrt. Mir war sofort klar, dass das der Mann war, der mir auf meinem Ritt von New Dover nach London gefolgt war.
Es lag auf der Hand, warum er mir nicht eher aufgefallen war. Er war zweifellos ich selbst, aber eben nicht mein Spiegelbild. Ich will dir beschreiben, was ich sah: einen großen, jungen Mann in abgetragenen Militärsachen. Kein Hut, schlammverkrustete Stiefel. Er war stämmiger als ich, und er hinkte nicht. Er war glatt rasiert. Helle, wachsame Augen. Er lächelte, nichts Bedrohliches. Er trug keine Waffe.
Er sah harmlos aus.
Aber er war kein Mensch.
Zumindest kein lebendiger Mensch. Zum einen war er gar nicht richtig da. Ich will damit sagen, Caroline, dass seine Erscheinung periodisch verblasste und aufhellte, ähnlich wie das Funkeln der Sterne in einer windigen Nacht.
»Wer bist du?«, flüsterte ich.
Seine Stimme klang fest, gar nicht geisterhaft. Er sagte: »Das ist eine gute Frage. Aber einen Teil der Antwort kennst du schon.«
Nebel stieg aus dem durchweichten Boden ringsherum. Wir standen da im kalten Halbdunkel, als trenne uns eine Wand vom Rest der Welt.
»Du siehst aus wie ich«, sagte ich mit lahmer Zunge. »Oder wie ein Geist. Was bist du?«
Er sagte: »Gehen wir ein Stück, Guilford. Beim Gehen kann ich besser denken.«
Also spazierten wir durchs Heidekraut an diesem nebelverhüllten Morgen. Eigentlich hätte ich Angst haben müssen. Hatte ich auch bis zu einem gewissen Grad. Doch seine Art war entwaffnend. Seine Miene schien zu sagen: Wie verrückt, dass wir uns so begegnen müssen.
Als ob sich ein Gespenst für seinen absurden Auftritt entschuldigte: das Leichentuch, die Ketten.
Es mag sich anhören, als hätte mich diese Erscheinung nicht sonderlich aufgeregt. Tatsächlich war ich eher entgeistert oder verzückt. Ich glaube, er hatte gewartet, bis ich wehrlos genug — betäubt genug — war, ihn trotz meiner lärmenden Angst zu verstehen.
Oder er war bloß eine Halluzination aus Erschöpfung, Alkohol und Kummer. Du kannst es halten, wie du willst, Caroline.
Wir schlenderten im Halblicht dahin. Am Rand der Wiese, im tiefen Schatten der Moscheebäume, schien er glücklicher zu sein, zumindest am leibhaftigsten. Seine Stimme war eine richtige Stimme mit allem, was an Atem- und Lungengeräuschen dazugehörte. Er sprach ohne Schnörkel, redete Umgangsenglisch, das mir so vertraut war wie das Poltern meiner Gedanken. Aber er stockte nie oder suchte nach Worten.
Und das hat er gesagt:
Sein Name sei Guilford Law, und er sei in Boston geboren und aufgewachsen.
Er habe ein ganz normales Leben geführt, bis er mit achtzehn eingezogen und nach Übersee geschickt worden sei, in den Krieg… einen europäischen Krieg, einen ›Weltkrieg‹.
Ich sollte mir einen Weltenlauf vorstellen, in dem Europa geblieben sei, was es war, ein brodelnder Eintopf aus Königreichen und Diktaturen, der schließlich übergekocht sei und einen globalen Konflikt ausgelöst habe.
Die Einzelheiten sind nicht von Belang. Wichtig ist, dass es diesen Guilford Law zuletzt nach Frankreich verschlug, wo er den Deutschen in einem blutigen Stellungskrieg gegenüberlag, ein Alptraum, der durch Giftgas und Fliegerangriffe nur noch schauerlicher wurde.
Dieser Guilford Law — jener ›Wachsoldat‹, wie ich nunmehr weiß — wurde in diesem Krieg getötet.
Als er nun die Augen zum letzten Mal schloss, war dies zu seiner Verblüffung nicht das Ende.
Und jetzt, Caroline, wird die Geschichte noch abwegiger, noch verrückter.
In der Morgenfrische saßen wir auf einem gestürzten Baumstamm und ich war beeindruckt von seiner Selbstverständlichkeit, seiner Leibhaftigkeit, seiner schieren Greifbarkeit. Das dunkle Haar bewegte sich im Wind; er atmete ein und aus wie du und ich; der Baumstamm regte sich, als er sein Gewicht verlagerte, um mir ins Gesicht zu sehen.
Wenn das stimmt, was er mir erzählt hat, dann haben Schiaparelli und seinesgleichen Recht: Es gibt Leben draußen im Weltall. Leben, wie wir es kennen und wie wir es nicht kennen, manchmal so extrem anders, dass wir es von alleine nicht erkennen würden.
Das Universum, sagte der Wachsoldat, sei unvorstellbar alt. So alt, dass es schon wissenschaftliche Zivilisationen hervorgebracht habe, lange bevor der Mensch die Steinaxt erfand. Unsere Galaxie sei bereits mit Bewusstsein durchtränkt gewesen, als der Mensch noch gar nicht spruchreif war. Bevor unsere Sonne aus dem Urnebel kondensierte, sagte er, da habe es im Universum bereits Wunderwerke gegeben, die so gewaltig und so feinnervig waren, dass sie eher den Anschein von Magie als von Naturwissenschaft erwecken; und noch viel großartigere Werke sind im Entstehen, Projekte, die buchstäblich Äonen in Anspruch nehmen.
Er beschrieb die Milchstraße — diese bescheidene Schar aus etlichen Milliarden Sternen, selbst nur eine unter Milliarden ihresgleichen — er beschrieb sie als etwas Lebendiges, das allmählich ›zu sich komme‹. Es gebe unsichtbare Verbindungen zwischen den Sternen: weder Telegraphie noch Funk, sondern etwas, das einen Grundzug des Raums nutze, die ›isotrope Energie‹ (womit er wohl den Äther meint); und diese eng geknüpften Verständigungsnetze seien so verwickelt und kompliziert geworden, dass sie eine eigene Intelligenz besäßen! Die Galaxien, so behauptet der Wachsoldat, würden buchstäblich denken, und nicht nur das: Sie würden sich sogar erinnern.
Preston Finch pflegte Bischof Berkeley zu zitieren, der uns für Gedanken Gottes hält. Was aber, wenn es sich genauso verhält, Caroline?
Bis zu seinem Tod war dieser Guilford Law ein körperliches Lebewesen gewesen, dann wurde er zu einem Gedanken… einem Saat-Bewusstsein, wie er es nannte, im Geist dieses lokalen Gottes, dieses sich entwickelnden galaktischen Egos.
Keine, wie er meinte, besonders ausgezeichnete Existenz, anfangs zumindest.
Ein menschlicher Geist bleibt eben ein menschlicher Geist, selbst wenn er in den Großen Geist eingeht. Als er nach seinem Tod erwachte, glaubte er sich mit einer Schrapnellwunde in einem französischen Feldlazarett, und es brauchte ein paar Verstorbene, ihn zu überzeugen, dass er wirklich tot war! Sein ›virtueller‹ Leib (wie er es nannte) sah seinem eigenen zum Verwechseln ähnlich, obwohl sich das ändern konnte, wie man ihm erklärte. Der Kern des Lebens sei Veränderung, meinte er, und der Kern des ewigen Lebens sei ewige Veränderung. Es gelte zu lernen, Welten zu erkunden, fremden Lebensformen zu begegnen — sie anzunehmen, falls der galaktische Geist es so wolle. Während der organische Leib durch seine Bedürfnisse bestimmt wird und der organische Geist von der Beschränktheit des Hirns, genieße der ›virtuelle‹ Leib eine gewisse Unbeschränktheit.
Er würde sich unweigerlich verändern, und zwar in dem Maße, wie er sich in dem Größeren Geist zurechtfinde und dessen Erinnerungen und dessen Weisheit anzapfe. Nicht um seine menschliche Natur aufzugeben, sondern um sie auszubauen, zu überhöhen.
Und das hat er, kurz gesagt, über Millionen von Jahrhunderten hinweg getan, bis ›Guilford Law‹, das so genannte Saat-Bewusstsein, zu guter Letzt Teil eines gewaltigen und komplexen Ganzen war.
Womit ich mich an diesem Morgen unterhalten habe, war sowohl Guilford Law als auch dieses gewaltige Wesen, das sich im Grunde aus Milliarden über Milliarden von Wesenheiten zusammensetzt, die miteinander verknüpft sind und dennoch ihre Individualität bewahren.
Du kannst dir sicher denken, wie fassungslos ich war. Doch unter den gegebenen Umständen hätte jede Erklärung plausibel geklungen.
Kannst du in diesen Zeilen etwas anderes lesen als die fixen Ideen eines Mannes, der durch Isolation und Schock zum Wahnsinn getrieben wurde?
Der Schock sitzt tief genug, weiß Gott. Was du und ich verloren haben, der Gedanke zerreißt mir das Herz.
Und ich erwarte nicht, dass du mir glaubst. Alles, worum ich dich bitte, ist ein bisschen Geduld. Und guten Willen, Caroline, wenn du noch welchen hast.
Ich habe den Wachsoldaten gefragt, wie das alles passieren konnte. Ich sei schließlich Guilford Law, und ich sei nicht in einem Krieg gegen die Deutschen gefallen, und das sei so sicher wie die Sonne, die soeben aufging.
»Eine lange Geschichte«, meinte er.
Ich sagte, ich hätte nichts vor.
Das Leben nach dem Tode, sagte der Wachsoldat, habe er sich so nicht vorgestellt. Genau genommen habe es nichts Übernatürliches — es sei ein von Menschenhand (oder zumindest von intelligenten Geschöpfen) gemachtes Paradies, ein Artefakt wie die Brooklyn Bridge, zwar überdimensional aber eben doch endlich. Die geretteten Seelen von zahllosen Planeten seien in materiellen Strukturen miteinander vernetzt, die er ›Noosphären‹ nannte, planetengroße Maschinen, die wissbegierig und ohne Ende durch die Galaxie streiften. Ein Paradies, Caroline, aber kein Himmel, und nicht ohne Probleme und auch nicht ohne Feinde.
Ich wollte wissen, was für Feinde diese Götter denn hätten.
»Zwei«, sagte er.
Der eine sei die Zeit. Das Bewusstsein habe die Sterblichkeit besiegt, zumindest auf galaktischer Ebene. Denn schon vor dem Auftauchen der Menschheit sei jedes hinreichend mit Bewusstsein begabte Geschöpf, das im Einflussbereich einer Noosphäre gestorben sei, ins Paradies aufgenommen worden. (So auch jeder Mensch vom Neandertaler bis Präsident Taft und darüber hinaus. Manche hätten, wie er durchblicken ließ, einer ordentlichen Tracht an ›moralischer Wiederbelebung‹ bedurft, bis sie für das Leben nach dem Tode getaugt hätten. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann gehören wir zwar zu den beherzteren Spezies in der Galaxis, aber bei weitem nicht zu den Engeln.)
Doch das Bewusstsein an sich sei sterblich und auch die Milchstraße sei es und das ganze Universum! Er benutzte Begriffe wie ›Partikelzerfall‹ und ›Wärmetod‹, ich habe nur mit halbem Ohr hingehört. Es lief darauf hinaus, dass die Materie selbst zu guter Letzt vergehen würde. Doch mit all ihrer zur Verfügung stehenden Intelligenz hätten die Noosphären einen Weg gefunden, ihre Existenz über diesen Punkt hinaus zu verlängern. Und sie hätten es fertiggebracht, ein ›Archiv‹ zu bauen, um die ganze Geschichte des Bewusstseins zu speichern, ein allumfassendes historisches Archiv, das nicht nur von den Noosphären konsultiert würde, sondern auch von ähnlichen Entitäten in anderen, unsäglich fernen Galaxien.
Ein Feind war also die Zeit, und dieser Gegner sei, wenn nicht besiegt, dann doch zumindest kaltgestellt.
Den anderen Feind nannte er Psileben, von dem griechischen Buchstaben Psi, für ›Pseudo‹.
Psileben sei das Resultat von Anstrengungen, mit Maschinen die Evolution nachzuahmen.
Maschinen könnten, so behauptete er, in gewissen Grenzen Bewusstsein erlangen. (Ich glaube, er benutzte die Begriffe ›Bewusstsein‹ und ›Maschinen‹ in einem technischen Sinne, aber ich habe nicht nachgehakt.) Sowohl das organische wie auch das echte künstliche Bewusstsein würden sich etwas zunutze machen, das er ›Quantenunbestimmtheit‹ nannte, während Psileben so etwas wie Mathematik sei.
Das Psileben habe so genannte ›Systemparasiten‹ erzeugt oder — wie er es noch nannte — ›geistlose Algol-Rhythmen, die Jagd auf komplexe Strukturen machen, sich darin einnisten und sie von innen auffressen‹.
Ein Algol-Rhythmus hätte so wenig Hass auf ein bewusstes Lebewesen wie eine Tarantelwespe auf die Spinne, in die sie ihre Eier lege. Psileben unterwandere bewusste ›Systeme‹ und schmarotze von ihrem Bewusstsein. Es benutze Kommunikation und Denkprozesse, um Kopien von sich selbst anzufertigen, die sich wiederum kopieren würden und so weiter und so fort…
Und Psileben, das nach geltendem Maßstab weder mit Bewusstsein begabt sei noch mit Individualität, könne gleichwohl beide Eigenschaften simulieren — könne mit einer Art konzertierter wenn auch nur ameisenhafter Intelligenz agieren, einer blinden Klugheit. Stell dir, wenn du kannst, eine weitverzweigte Intelligenz vor, die absolut keinen Verstand hat.
Psileben sei immer mal wieder an den verschiedensten Orten des Universums entstanden. Eine Bedrohung des Bewusstseins, die immer wieder zurückgeschlagen, nie aber ausgerottet worden sei. Das Archiv habe man allerdings für uneinnehmbar gehalten, für immun gegen Psileben; und dem Zerfall der herkömmlichen Materie würden auch diese virulenten Algol-Rhythmen nicht entgehen.
Nur dass man sich geirrt habe.
Das Archiv sei von Psileben befallen worden.
Das Archiv.
Caroline, wie, würdest du sagen, müsste aus göttlicher Sicht die ultimate Geschichtsschreibung aussehen?
Doch nicht wie jemandes Interpretation der Vergangenheit, und wenn sie noch so geistvoll und objektiv wäre. Auch nicht wie die Vergangenheit an sich, die weiß Gott schwierig zu konsultieren wäre.
Nein, das ultimate und praktikable Geschichtsbuch wäre Geschichte im Spiegel betrachtet, die originalgetreue und irgendwie zugängliche Wiedererschaffung der Vergangenheit, ein Buch, das man aufschlagen kann und das in all seinen ursprünglichen Sprachen und Dialekten zu einem spricht; ein originalgetreues Arbeitsmodell, aus dem zum Zwecke der Vereinfachung alle Leerräume entfernt wurden und das dem befreiten Geist auf eine Weise offensteht, die jedwede Veränderung oder Störung des Inhalts ausschließt.
Das Archiv sei statisch, weil sich Geschichte nicht ändere, aber es sei in großen Abständen von etwas durchdrungen worden, das der Wachsoldat ein ›Higgs-Feld‹ nannte und das er mit der Nadel eines Grammophons verglich, die den Rillen einer Schallplatte folgte. Die Aufzeichnung bleibe unverändert, aber das dynamische Ereignis — die Musik — werde aus diesem fixierten Objekt abgerufen.
In einer gesunden Welt bleibe die Musik der Platte natürlich immer dieselbe. Was aber, wenn man eine Symphonie von Mozart auflegt und diese sich mittendrin in die Zauberflöte verwandelt?
Benommen, wie ich war, begriff ich dennoch, worauf er hinauswollte.
Der so genannte Weltkrieg des Wachsoldaten war die Mozartsymphonie. Die Verwandlung Europas war die Zauberflöte.
»Soll das heißen, wir existieren im Archiv?«
Er nickte seelenruhig.
Mir lief ein Schauder den Rücken hinunter. »Soll das heißen — willst du damit sagen, ich bin so etwas wie ein Kapitel in einem Geschichtsbuch — vielleicht nur eine Seite darin oder ein Abschnitt?«
»So warst du gedacht«, sagte er.
Daran hatte ich natürlich schwer zu schlucken, zumal ich hellwach und all meiner Sinne mächtig war. Caroline, solltest du das jemals lesen, musst du denken, ich sei völlig übergeschnappt…
Und vielleicht bin ich das ja auch. Es wäre mir fast lieber so.
Ich frage mich nun, ob dieser Brief wirklich an dich gerichtet ist… an dich, meine ich, an die Caroline in Australien… oder an die andere Caroline, deren Bild ich mit in die Wildnis genommen habe und die mir Kraft gegeben hat.
Vielleicht ist sie ja noch nicht völlig aus der Welt, diese Caroline. Vielleicht blickt sie dir ja beim Lesen über die Schulter.
Begreifst du die Ungeheuerlichkeit dessen, was mir dieses Gespenst mitgeteilt hat?
Behauptet — am helllichten Tag und unverblümt —, die Welt ringsherum, unsere Welt, deine und meine, sie sei nichts weiter als eine Illusion, abgespielt von einer Maschine am Ende der Zeit…
Das ging weit über mein Fassungsvermögen hinaus, trotz meiner Wertschätzung der Herren Burroughs, Verne und Wells.
»Besser kann ich es nicht erklären«, sagte der Wachsoldat. »Ich kann dich nur bitten, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.«
Und damit nicht genug. Wenn wir ein ›Geschichtsbuch‹ sind, Caroline, dann war jedes Ereignis, jede einzelne Handlung vorherbestimmt, eine rein mechanische Wiederholung der Vergangenheit — was wir normalerweise nie erfahren hätten.
Doch das Psileben habe das System mit ›Chaos‹ (wie er sich ausdrückte) infiziert — was gleichbedeutend sei mit dem, was die Theologen den ›freien Willen‹ nennen!
Was wiederum bedeute, so der Wachsoldat, dass aus dir und mir und allen anderen ›archivierten Modellen‹ bewusster Lebewesen nunmehr eigenmächtige, unberechenbare und moralische Entitäten geworden seien -Lebewesen, die wirklich leben; neue Lebewesen, die zu schützen vornehmste Aufgabe des Bewusstseins sei!
So gesehen hat uns also die Psileben-Invasion aus einem maschinenartigen Dasein befreit… auch wenn uns das Psileben gleichsam als Geisel benutzt, um uns letztlich mit Stumpf und Stiel auszurotten.
(Diese Psi-Entitäten erinnern unwillkürlich an die rebellischen Engel. Indem sie das Böse in die Welt brachten, haben sie uns zu sittlichen Geschöpfen gemacht — und müssen fortan bis aufs Messer bekämpft werden, obwohl sie uns befreit haben!)
Wir redeten noch immer, als der Morgennebel längst verdunstet und der Tag aufgehellt war. Gegen Mittag nahm sich der Wachsoldat gespenstischer aus. Er warf einen Schatten, aber sein Schatten war heller als der meine.
Schließlich stellte ich ihm die allerwichtigste Frage: Warum er hierher gekommen sei und was er von mir wolle?
Seine Antwort war langatmig und beunruhigend.
Er bat mich um Hilfe.
Ich habe abgelehnt.
Dr. Sullivan pflegte beim Debattieren mit Preston Finch häufig mit einem Berkeley-Zitat zu kontern. Ich habe die Worte nicht vergessen: »Dinge und Handlungen sind, was sie sind, und ihre Folgen werden sein, was sie sein werden; warum also sollten wir hoffen, uns getäuscht zu haben?«[40]
Manchmal tun wir das allerdings, Caroline. Manchmal hoffen wir, uns zu irren.
Vielleicht überrascht es dich, aber ich werde auf den Kontinent zurückkehren, ich liebäugele mit einer Siedlung am Mittelmeer:
Fayetteville oder Oro Delta. Dort ist es warm und alles steckt noch in den Kinderschuhen.
Doch ich erwähnte bereits, dass ich dich um einen Gefallen bitten möchte.
Lebe dein Leben in Australien, Caroline. Ich weiß, dich drückt eine Bürde an Traurigkeit, die ich nie in der Lage war dir abzunehmen. Vielleicht ist es dir gelungen, sie ein für alle Mal abzuschütteln. Hoffentlich. Ich stelle deine Entscheidung nicht mehr in Frage, und ich werde Lily nicht uneingeladen aufsuchen.
Aber bitte — tu mir diesen einen Gefallen — lass Lily nicht in dem Glauben, ich sei tot.
Diese Post gebe ich einem Mr. Barnes mit, der auf einem Rotkreuzschiff nach Sydney angemustert hat, einem Flüchtlingstransporter. Ich habe ihm eingeschärft, diese Post an irgendeinen lebenden Verwandten von Lieutenant Colin Watson weiterzuleiten. Er wird alles unterlassen, was den Lieutenant militärisch kompromittieren könnte. Der Mann erscheint mir vertrauenswürdig und diskret.
Dazugelegt habe ich meine Notizen, die ich auf dem Kontinent im Laufe des Winters gemacht habe. Betrachte sie als Briefe, die ich nicht abschicken konnte. Wenn Lily älter ist, möchte sie sie vielleicht lesen.
Ich weiß, ich bin nicht der Ehemann, den du dir erhofft hast. Ich wünsche mir aufrichtig, dass Zeit und Gedächtnis es gut mit uns meinen.
Ich glaube nicht, dass wir uns noch einmal begegnen.
Aber bitte, grüße Lily von mir. Vielleicht sind wir alle nur Phantome in einer Maschine. Das ist eine Erklärung, die Dr. Sullivan brennend interessiert hätte. Doch was immer wir sind — wir sind. Lily ist meine Tochter. Ich liebe sie. Wenn sonst nichts real ist, diese Liebe ist es. Sag ihr, dass ich sie sehr, sehr lieb habe und dass dies immer so bleibt.
Immer.
Immer.
Das Saat-Bewusstsein Guilford Law ließ sich an einem Kern aus komplexer Materie, der nicht größer als ein Sandkorn war, in das Archiv fallen.
Wie ein Dauerregen rieselten die Körner ins Archiv. Saat-Bewusstseine aus allen Welten und Spezies, deren Geschichte durch das Psileben gefährdet war. Jedes Korn war praktisch eine Waffe, getarnt und bestens vorbereitet, mit dem hermetisch verschlossenen Gerüst des Archivs in Wechselwirkung zu treten, und zwar so, dass die Aufmerksamkeit des Feindes abgelenkt wurde.
Überall im Archiv tobte der Kampf. Halbbewusste Turingmaschinen streiften umher und fahndeten nach der algorithmischen Kennung von Psileben, um seine Reproduktion zu unterbinden. Eine Zeit lang gewannen Fress-Machinen die Oberhand, dann unterlagen sie, als ihre Angriffssequenzen von den Invasoren lokalisiert und abgeblockt wurden. Der Krieg gewann ökologische Züge.
Guilford hatte eine andere Aufgabe. Sein autonomes System zapfte die funktionale Architektur des Archivs an und beförderte ihn zur Replik der archaischen Erde. Er konnte dort nicht als Wesen in Erscheinung treten — jedenfalls nicht funktional und nicht für lange —, aber er konnte sich unmittelbar mit der Replik Guilford Law verständigen.
Was dort geschah, war wichtig. Das Psileben hatte die Ontosphäre, das Herz des Archivs, radikal verändert. Die Narben der Schlacht waren allgegenwärtig.
Europa war in einem einzigen Handstreich auf den Kopf gestellt worden. Hatte eine ganz andere Geschichte bekommen. Das Psileben hatte versucht, eine Evolutionssequenz zu generieren, die ihm in Gestalt halbbewusster Insektoiden einen Zugang zur Ontosphäre erlauben sollte.
Diese Anstrengung war auf heftigen Widerstand gestoßen. Das Psileben hatte sich zum Ziel gesetzt, die Erde völlig umzukrempeln. Gelungen war es ihm nur mit einem Bruchteil des Planeten.
Doch die Replik der Erde gärte. Leben, die zu Ende gewesen waren — wie das von Guilford —, wurden in neue, autonome, ganz und gar bewusste Figuren umgemünzt. Viele davon waren durchlässige Verbindungen zwischen dem Gerüst des Archivs und seinem ontologischen Kern. Tunnel, wenn man so will, durch die Seelen — wie die von Guilford — oder parasitäre Psiknoten eindringen und das Plenum der Geschichte ändern konnten.
Das Saat-Bewusstsein, welches Guilford Law war, empfand Wut, als es gewahrte, welcher Schaden bereits angerichtet war. Und Angst: Angst um die neuen, vom Psileben erzeugten Saat-Seelen, denen das schreckliche Schicksal drohte, unwiderruflich verloren zu gehen.
Entitäten, bislang nicht mehr als Rekonstruktionen der Vergangenheit, waren zu Geiseln geworden — schutzlos ausgeliefert und vom Untergang bedroht, solange das Psileben ungehindert in die Ontosphäre drang.
Als Saat-Bewusstsein, abgenabelt von seiner Noosphäre, begriff Guilford freilich nur einen winzigen Ausschnitt des Krieges. Mehr war nicht vorgesehen. Zusammen mit seinesgleichen sollte er nichts weiter tun, als Partei für die Erde ergreifen.
Er kannte sich aus mit dem Planeten.
In Europa hatten die Psionen am Ort ihres versuchten Durchbruchs gestoppt werden können: in einem ahistorischen Schacht, der die verborgenen Strukturen des Archivs mit der irdischen Ontosphäre verband. Die Psionen hatten sich riesiger Insektoiden als Inkarnation bedient, diese Tiere auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten und sie benutzt, um rings um ihren Zugang eine steinerne Festung zu errichten.
Diese Festung war in einer früheren Schlacht gefallen. Und der Zugang hatte versperrt werden können.
Aber nicht endgültig.
Jüngste Ereignisse hatten ihn auf den Plan gerufen. Das Higgs-Feld, das durch das Archiv strich, um ontologische Zeit zu generieren, hatte Hinweise auf eine neuerliche Unterwanderung. Ein neues Armageddon stand bevor. Eine neue Schlacht.
Das alles nahm er unmittelbar wahr: den Schacht und seine eigene Inkarnation namens Guilford Law, den Kontinent, den einige Darwinia nannten; ja, sogar die veränderte Marslandschaft mit ihren ahistorischen Saat-Seelen, die um Autonomie rangen. Vergangene und künftige Krisen.
Er konnte nicht eingreifen, nicht unmittelbar. Sich eine Inkarnation gefügig zu machen, wie es die Psionen taten, war undenkbar für ihn. Er respektierte die sittliche Freiheit der Saat-Leben. Sehr behutsam näherte er sich seiner Inkarnation. Er gab sich alle Mühe, sich auf das geistige Niveau dieses Guilford Law einzulassen… das schlichte, sterbliche Etwas zu werden, das er einst gewesen war.
Es war schon sonderbar, den Kern des Ichs wiederzuentdecken, jenes chaotische Bündel aus Ängsten und Bedürfnissen und Ambitionen, den Keim allen Bewusstseins. Er dachte unter anderem:
Dasda war einmal ich. Das war einmal alles, was von mirexistierte, verletzlich und allein und verängstigt, weit und breit kein anderes Ich. Ein Funke auf einem Meer an unbeseelter Materie.
Eine Welle von Mitleid erfasste ihn.
Er trat seiner Inkarnation unter die Augen, freilich nur als Phantom, etwas Handfesteres ließ die Ontosphäre des Archivs nicht zu. Eine Schlacht stehe bevor, erklärte er ihr. »Du hast eine Rolle zu spielen. Ich brauche deine Hilfe.«
Seine Inkarnation hörte sich Guilfords schwerfällige Ausführungen an. Sie gerieten plump, primitiv, ungenau.
Und dann wies sie ihn zurück.
»Du kannst mir viel erzählen.« Was der jüngere Guilford ihm sagte, klang freimütig und endgültig. »Ich weiß nicht, wer oder was du bist oder ob du die Wahrheit sagst. Was du da von dir gibst, hört sich an wie finsteres Mittelalter — Geister und Dämonen und Ungeheuer, wie in einer Moritat aus dem zehnten Jahrhundert.«
Das kindliche Bewusstsein war verbittert. Seine Frau hatte ihn verlassen. Er hatte Dinge erlebt, die seinen Horizont überstiegen. Er hatte seine Landsleute sterben sehen.
Der ältere Guilford konnte ihn verstehen.
Er erinnerte sich an Bois Belleau und Bouresches. Er erinnerte sich an ein Weizenfeld mit rotem Klatschmohn. Er erinnerte sich an Tom Compton, der im Feuer eines Maschinengewehrs starb. Er erinnerte sich an Kummer und an Leid.