»For each age is a dream that is dying, or one that is coming to birth.«[41]
Im Tiefland von Kampanien hatte man viele alte Namen Wiederaufleben lassen. Die Bucht von Neapel öffnete sich nach wie vor auf das Tyrrhenische Meer, wurde immer noch vom Capo Miseno und der Halbinsel von Sorrent flankiert und immer noch von einem aktiven Vesuv beherrscht (obwohl ihn die ersten Siedler ›Old Smoky‹ genannt hatten). Der Boden konnte bestellt werden, das Klima war leidlich mild. Der trockene Frühlingswind, der von Nordafrika herüberwehte, hieß immer noch Schirokko.
Die Siedlungen an den Hängen und auf den Hügeln trugen eigenwillige Namen: Oro Delta, Palaepolis, Fayetteville, Dawson City. Die Jünger des utopistischen Upton Sinclair hatten auf der früheren Insel Kapri ihr Mutualville gegründet, doch die streng konzipierte Kommune hatte im Laufe der Zeit Zugeständnisse an den Handel machen müssen. Der Hafen war inzwischen ausgebaut worden. Wo einst nur Fischerboote und Trawler gelegen hatten, gehörten jetzt amerikanische Öltanker zum Bild, Frachter aus Afrika und Schiffe, die Flüchtlinge aus den marodierenden Regionen Ägyptens und Arabiens brachten.
Fayetteville war nicht die größte Siedlung an der Bucht. Heute war das Städtchen eher ein Ableger, den Oro Delta die Küste hinunterschickte, um Bauern und Landarbeiter zu versorgen. Das Tiefland war reich an Mais, Weizen, Zuckerrüben, Oliven, Nüssen und Hanf. Das Meer lieferte Docketfisch, Scheinkrabben und Salzsalat. Nichts Einheimisches wurde angebaut, aber die Gewürzläden waren voll mit Dingonüssen, Weinsamen und Ingwerflachs aus der Wildnis.
Guilford gefiel der Ort. Er hatte erlebt, wie Fayetteville von der Grenzsiedlung der Zwanzigerjahre zu einem blühenden, relativ modernen Gemeinwesen herangewachsen war. Jetzt gab es Strom in Fayetteville und all den anderen neapolitanischen Orten. Straßenlaternen, gepflasterte Straßen, Gehsteige, Kirchen. Und Moscheen und Tempel für die Araber und Ägypter, die sich aber eher an das Hafenviertel von Oro Delta hielten. Ein Kino, das hauptsächlich Western zeigte und die absurden Abenteuerstreifen über Darwinia, die Hollywood am laufenden Band produzierte. Und all die weniger geschmackvollen Annehmlichkeiten wie Bars, Rauchersalons und sogar ein Bordell draußen an der Follet Road gleich hinter der Kiesgrube.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte in Fayetteville jeder jeden gekannt. Heutzutage musste man auf den Straßen mit lauter fremden Gesichtern vorliebnehmen.
Obwohl die vertrauten Gesichter häufig beunruhigender waren.
Guilford hatte neulich ein vertrautes Gesicht gesehen.
Es hielt Schritt mit ihm, wenn er auf den hügeligen Landstraßen spazierenging. Den ganzen Frühling über hatte es sich immer mal wieder gezeigt: hatte aus einem Weizenfeld gestarrt oder hatte sich im Küstennebel verloren.
Die Gestalt trug eine zerlumpte und altmodische Uniform. Das Gesicht sah aus wie seines. Es war sein Doppelgänger: der Geist, der Soldat, der Wachsoldat.
Nicholas Law, der mit seinen zwölf Jahren ganz versessen war, auch den letzten Rest der Sommersonne auszunutzen, entschuldigte sich und sauste zur Tür hinaus. Das Fliegengitter rasselte hinter ihm ins Schloss. Durchs Fenster konnte Guilford ihn gerade noch sehen, nicht mehr als eine gestreifte Strickjacke, die vor dem Himmel, der Landspitze und dem abendblauen Meer bergab fegte.
Abby kam aus der Küche, wo sie den Nachtisch aus dem Kühlschrank genommen hatte. Etwas mit Eiscreme. Eiscreme aus dem Laden, für Guilford immer noch etwas gänzlich Neues.
Sie hielt inne, als sie den leeren Platz sah. »Er konnte wohl nicht auf den Nachtisch warten?«
»Sieht so aus.« Baseball bei Abendlicht, dachte Guilford. Der große Rasenplatz vor der Fayette-Schule. Er empfand plötzlich so etwas wie Heimweh.
»Hast du auch keine Lust mehr?«
Sie trug zwei kleine Teller. »Ich probier mal«, sagte er.
Sie setzte sich vis-à-vis, ihr gutmütiges Gesicht bekam einen skeptischen Zug. »Du hast abgenommen«, sagte sie.
»Ein bisschen. Muss nichts heißen.«
»Du bist zu oft allein unterwegs.« Sie kostete von der Eiscreme. Guilford bemerkte vereinzelte silbrige Fäden an den Schläfen. »Heute war ein Mann hier.«
»Aha?«
»Ob das hier das Haus von Guilford Law wär, wollte er wissen. Ich habe ja gesagt, und er wollte wissen, ob du der Photograph mit dem Laden in der Spring Street wärst. Ich habe ja gesagt, und dass er dich dort erreichen könnte.« Ihr Löffel schwebte über dem Dessert. »War das richtig?«
»Goldrichtig.«
»War er im Laden?«
»Vielleicht. Wie sah der Gentleman aus?«
»Dunkel. Er hat so merkwürdig geguckt.«
»Merkwürdig? Wie meinst du das?«
»Einfach nur merkwürdig.«
Die Geschichte mit dem Fremden an der Tür und Abby, die ihm aufgemacht hatte, warf ihn aus der Bahn. »Mach dir keine Gedanken.«
»Ich mach mir keine Gedanken«, sagte Abby bedächtig. »Es sei denn, du machst dir welche.«
Lügen wollte er nicht. Es war schwer, ihr etwas vorzumachen. Also schüttelte er nur den Kopf. Sie wollte wissen, was nicht stimmte, und ihm fehlten die Worte.
Er hatte nie darüber gesprochen… zu niemandem. Außer in diesem lange zurückliegenden Brief an Caroline.
Immerhin war der Mann an der Haustür nicht sein Doppelgänger. Man vergisst, dachte er, nach so vielen Jahren. Wenn eine Erinnerung so abwegig ist, so aus dem Rahmen des rauen Alltags fällt, dann kommt sie einem einfach abhanden… oder sie tickt wie die Erbse in einer Trillerpfeife unterschwellig vor sich hin. Bis man mit der Nase darauf gestoßen wird. Dann kommt sie wieder ans Licht der Sonne, frisch wie ein alter Traum aus dem Kühlschrank, ausgepackt und glitzernd.
Bis jetzt waren es nur flüchtige Eindrücke gewesen -Vorboten vielleicht; Omen; Ausreißer. Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten, dieses jugendliche Gesicht, das ihn in einer Menschenmenge verfolgte, um plötzlich nicht mehr da zu sein, das wie Treibgut aus abenddunklen Gassen starrte. Er wollte, dass es nichts zu bedeuten hatte. Er befürchtete das Gegenteil.
Abby aß den Nachtisch zu Ende und räumte ab. »Heute kam Post aus New York«, sagte sie. »Sie liegt in deinem Sessel.«
Er war froh, von seinen düsteren Gedanken erlöst zu werden. Er ging ins ›Wohnzimmer‹, wie Abby das lange Südende des einfachen, rechteckigen Hauses nannte, das Guilford vor gut zehn Jahren gebaut hatte. Er hatte die Mauern hochgezogen, die Zimmermannsarbeiten gemacht und das Fundament gegossen; ein ansässiger Unternehmer hatte das Haus verputzt und mit Schindeln gedeckt. In warmen Gegenden waren die Häuser unkomplizierter. Abby und Nicholas hatten es zum Leben erweckt, mit gerahmten Bildern und Tischdecken und Sesselschonern, unter den Möbeln lauerten Gummibälle und Holzspielzeug.
Die Post belief sich auf etliche ältere Ausgaben von Astounding und einem Stapel New Yorker Zeitungen. Die Zeitungen lasen sich deprimierend: Einzelheiten über den Krieg mit Japan, bessere Berichte als die von den Nachrichtenagenturen im Fayetteville Herald, aber älter eben.
Guilford widmete sich zuerst den Magazinen. Seine Vorliebe fürs Phantastische war in den Jahren, nachdem er Caroline und Lily verloren hatte, abgeflaut, doch die jüngeren Magazine hatten ihn wieder heimgeholt. Riesige Luftschiffe, Reisen zu den Planeten, außerirdisches Leben: Das alles kam ihm heute glaubwürdiger und zugleich unglaubwürdiger vor als früher. Wie auch immer, die Geschichten schlugen ihn in ihren Bann.
Nur heute Abend nicht. Heute Abend las er ganze Seiten, ohne zu wissen, was er gelesen hatte. Schließlich starrte er nur noch auf die grellbunten und unsäglich vielversprechenden Umschlagbilder…
Er war im Sessel eingenickt, als er das laute Gebimmel hörte, mit dem sich der Löschzug seinen Weg von der Feuerwache oben auf dem Lantern Hill in die Stadt bahnte.
Dann klingelte das Telephon.
Telephone waren noch keine Selbstverständlichkeit für Fayetteville, und er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, eines im Haus zu haben, obwohl er schon über ein Jahr lang eines in seinem Laden benutzte. Das rasselnde Klingeln schrappte wie ein Fischmesser an seinem Rückgrat entlang.
Die Stimme am anderen Ende gehörte Tim Mackelroy, seinem Assistenten. Komm schnell, sagte Tim, Jesus, es ist furchtbar, aber komm schnell, der Laden brennt ab.
Guilford hatte außerhalb der Stadt gebaut, eine halbe Meile von der nächsten gepflasterten Straße entfernt. Von der Haustür aus konnte er Fayetteville sehen, ein fernes Gitter aus Straßen und Häusern, und eine Rauchfahne, die wahrscheinlich aus der Spring Street stieg.
Er müsse sich überzeugen, sagte er zu Abby. Sie solle nicht aufbleiben und auf ihn warten. Er würde anrufen, sobald er Genaues wisse. Bis dahin solle sie sich keine unnützen Sorgen machen; schlimmstenfalls sei das Geschäft bei der Oro Delta versichert. Sie würden es wiederaufbauen.
Abby sagte nichts, küsste ihn nur und sah ihm vom Fenster aus nach, wie er mit dem zerbeulten Ford in einer wallenden Staubwolke verschwand.
Es war ein staubiger Monat gewesen. Der Himmel war grellbunt und im Westen berührte die Sonne jeden Moment das Meer.
Guilford überholte Nick, der noch immer in Richtung Stadt radelte, hielt kurz an, um Nicks Rad hinten in den Wagen zu werfen und vorne für den Jungen Platz zu machen.
Nick hörte mit ernster Miene zu, aber Nicks Miene war oft so ernst. Große Augen, schmales Gesicht. Ihm standen immer kleine Falten zwischen den Brauen. Nick kannte kein Lächeln, nur verschiedene Arten, die Stirn zu krausen. Selbst wenn er am glücklichsten war — spielte, las, an seinen Modellen werkelte —, runzelte er konzentriert die Stirn und presste die Lippen zusammen.
»Wie konnte das Studio denn Feuer fangen?«, fragte Nick.
Guilford sagte, er wisse es nicht. Es sei noch zu früh, um Genaueres zu sagen. Erst müsse er sich vergewissern, dass Tim Mackelroy wohlauf sei, dann könne man immer noch retten, was zu retten sei.
Der herrenlose Hang wurde von terrassierten Feldern abgelöst. Guilford bog auf die geteerte Landstraße ein. Der Verkehr war spärlich, nur ein paar Autos, ein paar Fuhrwerke aus der Amish-Siedlung weiter oben in Richtung Palaepolis und zwei Lkws, die leer von den Kornspeichern kamen. Follette Road hieß die Hauptstraße von Fayetteville, und sowie er am Lebensmittel- und Getreidespeicher um die Ecke bog, gewahrte er den Rauch. Ein Löschfahrzeug versperrte die Kreuzung Follette und Spring Street.
Es war nicht viel übrig von Law & Mackelroy, Photographers. Ein paar verkohlte Balken. Ein Geviert aus verrußten Ziegelsteinen.
»Wow«, hauchte Nick, die Augen stumpf vor Rauch.
Guilford fand Tim Mackelroy, der unter der Markise des Tyrrhenischen Tonfilmtheaters stand. Rauch und Tränen hatten ihm Streifen ins Gesicht gemalt.
Der Löschwagen des FFD[42] bestrich die schwelende Ruine beharrlich mit Wasser. Die Menschenmenge löste sich allmählich auf. Guilford kannte die meisten: den Anwalt aus Tunneys Kanzlei, die Verkäuferin von Blake’s; Molly und Kate aus dem Lafayette Diner. Als sie ihn sahen, wurden die Mienen teilnahmsvoll und man verdrückte sich. Guilford schickte Nick in den Wagen zurück, bevor er mit Mackelroy redete.
Seit 1939, als das Geschäft zu florieren begann, war Tim sein Kompagnon. Tim kümmerte sich um die kaufmännische Seite, während Guilford sich aufs Portraitieren konzentrierte und die meiste Zeit im Atelier verbrachte. Das Geschäft lief gut — oder war gut gelaufen. Die Arbeit war großenteils Routine, na und? Ihm gefiel das Photographieren, die Arbeit in der Dunkelkammer und dass dabei das Haus auf der Landspitze, Nicks Schulgeld und eine sorgenfreie Zukunft für ihn und Abby herumkam. Gelegentlich reparierte er Radioempfänger. Noch bevor der Funkturm oberhalb von Palaepolis in Betrieb ging, hatte er sich mit Edicron- und G.E.-Empfangsröhren eingedeckt — eine Zeit lang boomte das Geschäft, denn die Hälfte der Radios, die man aus den Staaten importierte, hatten, wenn sie hier ankamen, schadhafte Röhren, von der Salzluft zerfressene Lötstellen oder durch die Seereise gelockerte Teile.
Die Zeit nach London war nicht leicht gewesen. Die ersten fünf Jahre hatte Guilford in Oro Delta verbracht, auf Hafenbooten gearbeitet oder Getreide eingefahren, schwere Arbeit, die wenig Raum zum Nachdenken ließ. Die Nächte waren besonders hart gewesen. Die kampanischen Farmen hatten bereits 1921 reiche Ernten an Korn und Trauben eingefahren, sodass es nicht an hiesigem Schnaps und Wein mangelte und Guilford Trost in der Flasche fand — manchmal mehr als ihm zuträglich war.
Als ihm Abby begegnete, hörte er auf zu trinken. Damals hatte sie Abby Panzeca geheißen; sie war eine US-Sizilianerin der zweiten Generation, die nach Darwinia gekommen war, weil ihr der Kopf nur so schwirrte vor lauter Familiengeschichten aus der Alten Welt. Nach Guilfords Erfahrung wurden solche Menschen für gewöhnlich enttäuscht und bekamen über kurz oder lang Heimweh nach den Staaten. Doch Abby war in der Gegend geblieben und hatte sich tapfer durchgeschlagen. Sie bediente in einer Kneipe in Oro Delta, wo sie Guilford auffiel, die Kneipe hieß Antonio’s. Sie alberte mit den neapolitanischen Hafenarbeitern herum, die hier aus- und eingingen, aber anfassen tat sie keiner. Abby verlangte Respekt. Eine Aura der Selbstachtung umgab Abby, eine Aura, die sich am ehesten mit dem Lichthof einer Glühbirne vergleichen ließ.
Und sie hatte ihn natürlich gemocht, auch wenn sie ihm keine große Beachtung geschenkt hatte — bis er eines Tages nicht mehr in einer Wolke aus Fischgestank nach Antonio’s kam. Er brachte Ordnung in sein Leben, sparte von seinem Lohn, arbeitete in Doppelschicht, bis er sich die Ausrüstung für ein eigenes Photo-Atelier leisten konnte — das einzige Portrait-Atelier in der Stadt, allerdings noch im Lagerraum über einer Metzgerei.
1930 hatten sie geheiratet. Nick machte ’33 von sich reden. ’35 wurde ein Mädchen geboren, das Baby starb aber noch vor der Taufe an einer Grippe.
Seit nunmehr fünfzehn Jahren hatte der Laden seine Familie ernährt.
Nichts als Ziegelsteine und verkohltes Holz…
Mackelroy starrte voller Kummer aus seiner Rußmaske. »Es tut mir so Leid«, sagte er. »Ich konnte nichts tun.«
»Du warst hier, als es anfing?«
»Ich war im Büro. Wollte noch ein paar Rechnungen fertigmachen. Kurz nach Geschäftsschluss. Ich meine, da kamen sie durchs Fenster geflogen.«
»Was kam durchs Fenster geflogen?«
»Wie Milchflaschen sahen sie aus, Flaschen mit Lumpen und Benzin. Es roch nach Benzin. Sie kamen wie Ziegelsteine durchs Fenster, ich hab mich zu Tode erschrocken, dann wumm stand das Zimmer in Flammen, und ich kam nicht mehr an den Feuerlöscher. Vom Diner aus hab ich die Feuerwehr gerufen, aber das Feuer war zu schnell — als der Löschzug kam, war praktisch schon alles vorbei.«
Flaschen?, dachte Guilford.
Benzin?
Er packte Mackelroy bei den Schultern. »Soll das heißen, dass das jemand mit Absicht getan hat?«
»Es war kein Unfall, bei allem, was mir heilig ist.«
Guilford blickte zum Wagen hinüber.
Seine Augen suchten Nick.
Drei Dinge, vielleicht kein Zufall:
Brandstiftung.
Der Wachsoldat.
Der Fremde, mit dem Abby am Morgen gesprochen hatte.
»Der Einsatzleiter will dich sprechen«, sagte Mackelroy. »Auch der Sheriff, glaub ich.«
»Bestell ihnen, sie sollen mich zu Hause anrufen.«
Er rannte bereits zum Auto.
»Verdammtes Miststück!«, sagte Nick im Auto.
Guilford bedachte ihn mit einem fahrigen Blick. »Du wolltest auf deine Sprache achten, Nick.«
»Du hast es zuerst gesagt.«
»Ich?«
»Ungefähr fünfmal in den letzten zehn Minuten. Und zu schnell fahren wir auch.«
Guilford nahm das Tempo zurück. Ein wenig. Nick entspannte sich. Sommerbraunes Wildland flog an den staubigen Fenstern des Ford vorbei.
»Verdammtes Miststück«, sagte sein Vater.
Abby würde in Sorge sein, aber sie war nicht in Gefahr. Warum hatte er es dann so eilig, nach Hause zu kommen? Der Einsatzleiter der Feuerwehr und der Sheriff hatten angerufen. »Das kann alles bis morgen warten«, sagte er zu Abby. »Lass uns verriegeln und schlafen gehen.«
»Kannst du denn schlafen?«
»Wahrscheinlich nicht. Nicht sofort. Decken wir wenigstens Nick noch zu.«
Als Nick versorgt war, setzte Guilford sich an den Küchentisch, derweil Abby die Kaffeemaschine anwarf. Kaffee zu mitternächtlicher Zeit signalisierte eine Familienkrise. Abby hantierte mit der ihr eigenen Ökonomie. Heute Nacht zumindest ähnelte ihre Augenpartie der von Nick.
Abby war mit ausgesprochener Anmut gealtert. Sie war stämmig aber nicht dick. Wäre nicht der Grauschimmer an ihren Schläfen gewesen, hätte man sie für fünfundzwanzig halten können.
Sie bedachte Guilford mit einem langen Blick, schien etwas mit sich selbst auszutragen. Schließlich sagte sie: »Du könntest ebenso gut darüber sprechen.«
»Wie meinst du das, Abby?«
»Den ganzen Monat bist du schon nervös wie eine Katze. Abends rührst du kaum das Essen an. Und jetzt das.« Sie hielt inne. »Die Feuerwehr sagt, es war kein Unfall.«
Jetzt war es an ihm zu zaudern. »Tim Mackelroy sagt, es waren zwei selbstgebastelte Benzinbomben, sie kamen durchs Fenster.«
»Verstehe.« Sie faltete die Hände. »Guilford, warum?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was hat dich denn so bedrückt?«
Er schwieg.
»Ist es etwas von vor unserer Zeit?«
»Glaub ich nicht.«
»Du erzählst nämlich wenig aus dieser Zeit. Das ist in Ordnung — ich muss nicht alles über dich wissen. Aber wenn wir in Gefahr sind, wenn Nick in Gefahr…«
»Abby, ehrlich, ich weiß es nicht. Stimmt, ich mache mir Sorgen. Jemand hat mein Geschäft angezündet, und entweder war es einfach nur ein Irrer oder irgendjemand da draußen, der meint, er hätte eine alte Rechnung zu begleichen. Alles, was ich tun kann, ist verriegeln und morgen früh mit Sheriff Carlyle reden. Du weißt, ich würde nie zulassen, dass dir oder Nick etwas zustößt.«
Sie starrte ihn lange an. »Ich geh dann ins Bett.«
»Schlaf, wenn du kannst«, sagte Guilford. »Ich bleib noch ein bisschen auf.«
Sie nickte.
Brandstiftung.
Der Fremde an der Tür.
Der Wachsoldat.
Man lässt etwas hinter sich, dachte Guilford, und die Zeit vergeht, zehn, fünfzehn, fünfundzwanzig Jahre, und damit sollte es dann gut sein.
Er erinnerte sich noch lebhaft an alles, alles hatte die leuchtenden Farben eines Traums angenommen, der mörderische Winter in der uralten Stadtruine, die Seelenqualen in London, der Verlust von Caroline und Lily. Aber, Jesus, das lag ein Vierteljahrhundert zurück — sollte er etwas mit dem. Leben bezahlen, das so lange zurücklag?
Aber wenn das nun stimmte, was ihm damals der Wachsoldat erzählt hatte…
…was er als Fieberphantasien abgeschrieben hatte, als verzerrte Erinnerung, als Halluzination…
… falls es stimmte, dann waren fünfundzwanzig Jahre nicht mehr als ein Augenblick. Götter hatten ein langes Gedächtnis.
Guilford trat ans Fenster. Die Bucht war finster bis auf die Lichter von zwei, drei Handelsschiffen. Ein trockener Wind spielte mit den Spitzengardinen, die Abby aufgehängt hatte. Die Sterne blinzelten.
Die Zeit der Wahrheit ist gekommen, dachte Guilford. Kein Wunschdenken mehr. Nicht wenn deine Familie auf dem Spiel steht.
Es ist nicht ausgeschlossen, gestand er sich ein, dass nun alte Schulden eingetrieben wurden.
Die unbequeme Frage: Hätte er das verhindern können?
Nein.
Voraussehen?
Vielleicht. Er hatte sich oft genug gefragt, ob er nicht eines Tages doch noch Farbe bekennen musste. Soweit die Welt wusste, war die Finch-Expedition einfach in der Wildnis zwischen Bodensee und Alpen verschwunden. Und die Welt war ohne ihn zurechtgekommen, gut sogar.
Was, wenn sich das geändert hatte?
Abby und Nicholas, dachte Guilford.
Ihnen darf nichts zustoßen.
Egal, was die Götter wollten.
Zwei Stunden vor Tagesanbruch folgte er Abby ins Bett. Er wollte nicht schlafen, nur die Augen schließen. Ihre Gegenwart, die sanfte Musik ihres Atems beruhigten seine Gedanken.
Er wurde wach, als die Sonne durchs Ostfenster schien und Abby ihm die Hand auf die Schulter legte, sie war vollständig angezogen.
Er setzte sich auf.
»Er ist wieder da«, sagte sie. »Der Mann.«
Ihm ging durch den Kopf, was dieses Vierteljahrhundert aus dem Kontinent gemacht hatte.
Neue Häfen, Siedlungen, Flottenstützpunkte. Schienen und Straßen ins Landesinnere. Zechen und Raffinerien. Flugplätze.
Die Einteilung in Verwaltungsbezirke, gewählte Gouverneure, Rundfunk. Parzellierung der russischen Steppe diesseits der vulkanischen Zone zwischen Darwinia und Alt-Asien. Scharmützel mit den Arabern und Türken. Die Bombardierung von Jerusalem, dieser neue Krieg mit den Japanern, im Norden die Krawalle gegen die allgemeine Wehrpflicht.
Und noch so viel unerschlossenes Land. Unermessliche Weiten an Wäldern und Prärien, in denen man untertauchen — geradezu verschwinden konnte.
Abby hatte den Fremden zum Frühstück eingeladen. Er saß am Tisch und arbeitete sich durch einen kleinen Berg an Pfannkuchen. Messer und Gabel handhabte er wie ein Fünfjähriger. In dem Gestrüpp von Bart glitzerte ein Tropfen Kornsirup.
Guilford stierte den Mann an, ein Sturzbach von Empfindungen brach über ihn herein: Schreck, Erleichterung, alte Ängste.
Der Grenzer spießte den letzten Bissen auf die Gabel und sah auf. »Guilford«, sagte er lakonisch. »Lange her.«
»Lange her, Tom.«
»Was dagegen, wenn ich rauche?«
Eine neue Bruyere. Ein ramponierter Kleidersack aus Flussried.
Guilford sagte: »Gehn wir an die frische Luft.«
Abby berührte ihn fragend am Arm. »Bezirkspolizei und Feuerwehr wollen, dass du zurückrufst. Und wir müssen mit der Versicherung reden.«
»Schon gut, Abby. Tom ist ein alter Freund. Alles andere hat Zeit. Was verbrannt ist, ist verbrannt. Wozu die Eile?«
Ihre Augen drückten ernsten Vorbehalt aus. »Wie du meinst.«
»Nick soll heute im Haus bleiben.«
»Und vielen Dank für die Bewirtung, Mrs. Law«, sagte Tom Compton. »Hat prima geschmeckt.«
Der Grenzer hatte sich in fünfundzwanzig Jahren nicht verändert. Er war stämmiger geworden seit jenem schrecklichen Winter — sah gesünder aus — der Bart war gestutzt. Aber alles Wesentliche war unverändert. Das Gesicht war ein bisschen gegerbter, aber gealtert — nein.
Wie bei mir, dachte Guilford.
»Gut siehst du aus, Tom.«
»Wir haben die Gesundheit von Pferden, warum, müsste dir eigentlich klar sein. Was sagst du den Leuten, Guilford? Schwindelst du, wenn sie dich fragen? Für mich war das nie ein Problem — ich war nie lange an einem Ort.«
Sie saßen auf der knarrenden Veranda vor dem Haus. Morgenluft strich von der Bucht bergauf, frisch wie kühles Wasser und nach sprießenden Dingen duftend. Tom stopfte sich die Pfeife, zündete sie aber nicht an.
Guilford sagte: »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Yeah, du weißt es. Du weißt auch, dass ich nur hier bin, weil es wichtig ist. Reden wir nicht lange um den heißen Brei, okay?«
»Es ist fünfundzwanzig Jahre her, Tom.«
»Nicht, dass ich nicht kapiert hätte, was auf dem Spiel steht. Unter uns, ich hab zehn Jahre gebraucht, bis ich in die Knie ging und mir gesagt hab, okay, die Welt geht den Bach runter und dich haben sie ausgeguckt, um zu helfen, dass sie das nicht tut. So was willst du einfach nicht wahrhaben. Wenn es stimmt, dann hab ich die Hosen gestrichen voll, und wenn nicht, dann gehören wir alle in die Klapsmühle.«
»Wir alle?«
Der Grenzer hielt das Streichholz an den Pfeifenkopf. »Es gibt einen ganzen Haufen von uns — Hunderte. Komisch, dass du das nicht weißt.«
Guilford saß eine Zeit lang schweigend in der Morgensonne. Er hatte zu wenig geschlafen. Seine Glieder taten weh, die Augen brannten. Vor knapp zwölf Stunden war er noch in Fayetteville gewesen und hatte vor dem ausgebrannten Laden gestanden. Er sagte: »Ich will ja nicht ungastlich sein, aber ich habe eine Menge zu erledigen.«
»Du musst damit aufhören.« Die Stimme des Grenzers klang beinah salbungsvoll. »Jesus, Guilford, sieh dich doch an, du lebst wie ein gewöhnlicher Sterblicher, bist verheiratet und hast auch noch ein Kind im Haus. Das soll kein Vorwurf sein. Ich hätte mir auch ein andres Leben gewünscht. Aber wir sind nun mal, was wir sind. Du und Sullivan, ihr habt euch doch für so verdammt aufgeschlossen gehalten, nicht wie der alte Finch, der sich die Weltgeschichte aus frommen Wünschen zusammenflickt. Aber du bist Guilford Law, der ehrbare Bürger, egal was alles dagegenspricht, und wehe, wer nicht mitspielt.«
»Sieh mal, Tom…«
»Mach selbst die Augen auf. Dein Laden ist abgebrannt. Du hast Feinde. Deine Frau ist in Gefahr, dein Kind. Wegen dir. Dir, Guilford. Besser, du siehst einer verdammt heiklen Wahrheit ins Auge als dem Tod deiner Familie.«
»Vielleicht wärst du besser nicht hergekommen.«
»Entschuldige meinen Arsch auf deinem Stuhl.« Er schüttelte den Kopf. »Ach übrigens, Lily ist in der Stadt. Sie wohnt in einem Hotel in Oro Delta. Sie möchte dich treffen.«
Guilfords Herz tat einen Sprung. »Lily?«
»Deine Tochter. Falls du dich noch erinnerst.«
Abby wusste nicht, was der stämmige Hinterwäldler mit ihrem Mann zu bereden hatte, aber Guilford stand die Furcht ins Gesicht geschrieben, als er wieder ins Haus kam.
»Abby«, sagte er, »ich finde, du solltest ein paar Sachen zusammenpacken und mit Nick für eine Woche zu deinem Vetter nach Palaepolis ziehen.«
Sie kam in seine Arme, fasste sich, sah zu ihm auf. »Warum?«
»Für alle Fälle. Bis wir wissen, was wirklich los ist.«
Wenn man so lange mit einem Mann zusammenlebt, dachte Abby, dann liest man zwischen den Worten. Es gab keine Diskussion. Guilford hatte Angst, große Angst.
Die Angst war ansteckend, doch sie verschloss sie in einem Knoten direkt unter ihrem Brustbein: Nicholas durfte nichts davon mitbekommen.
Sie kam sich vor wie eine Schauspielerin, die versuchte, sich an einen alten Text zu erinnern. Jahrelang hatte sie es kommen sehen — na ja, nicht das jetzt, aber irgendeinen Bruch, irgendeine Krise in ihrem Leben. Denn Guilford war kein gewöhnlicher Mann.
Nicht nur, dass er so jugendlich blieb, was ihr seit zwei, drei Jahren geradezu ins Auge sprang. Nicht nur wegen seiner Vergangenheit, über die er selten redete und eifersüchtig wachte. Es war mehr als das. Guilford war wie abgetrennt vom gewöhnlichen Lauf der Dinge, und er wusste das, und es war ihm peinlich.
Sie hatte Geschichten gehört. Geschichten, die von Mund zu Mund gingen. Sie erzählten von den Alten Männern, womit die altehrwürdigen Grenzer gemeint waren, die hin und wieder hier durchzogen. (Dieser Tom Compton war ein Paradebeispiel.) Geschichten, die in den langen Nächten zwischen Weihnachten und Ostern erzählt wurden: Die Alten Männer wussten mehr als sie sagten. Die Alten Männer bewahrten Geheimnisse.
Die Alten Männer waren keine richtigen Menschen.
Auf derlei hatte Abby nie etwas gegeben. Sie hatte zugehört, und sie hatte still in sich hineingelächelt.
Aber vor zwei Wintern, da war Guilford beim Holzhacken gewesen, draußen hinter dem Haus, als ihm der Stiel des alten Beils aus der Hand gerutscht und die Schneide tief ins Fleisch unter dem linken Knie gefahren war.
Die bleiche Sonne war noch am Himmel gewesen. Abby hatte am frostgerahmten Fenster gestanden und alles ganz deutlich gesehen. Sie hatte gesehen, wie die Schneide ins Bein fuhr — er hatte zerren müssen, als hätte das Beil in einem nassen Stück Holz festgesessen — und Abby hatte das Blut auf der Schneide gesehen und das Blut auf dem hart gefrorenen Boden. Ihr Herz schien stillzustehen. Guilford, plötzlich weiß im Gesicht, ließ die Axt los und fiel…
Abby rannte zur Hintertür, doch bis sie bei ihm war, da hatte er tatsächlich wieder auf den Füßen gestanden. Sie hatte es nicht fassen können. Er hatte ganz merkwürdig dreingesehen, wie ein geprügelter Hund. Oder jemand, der sich schämt.
»Ist noch mal gutgegangen«, sagte er. Abby war bestürzt. Aber dann zeigte er ihr die Wunde: Sie war bereits geschlossen — wo die Schneide eingedrungen war, war nur mehr eine hauchzarte rote Linie zu sehen.
So etwas gibt es nicht, hatte Abby gedacht.
Es sei nicht der Rede wert. Es sei nur ein Kratzer, beteuerte er; und wenn sie mehr gesehen habe, dann weil ihr die tief stehende Sonne einen Streich gespielt habe.
Und am nächsten Morgen, als er sich anzog, da hatte nicht einmal mehr eine Narbe an den Vorfall erinnert.
Und Abby hatte den Vorfall auf sich beruhen lassen, weil Guilford es so wollte und weil sie einfach nicht verstand, was sie da gesehen hatte — vielleicht hatte er ja Recht, vielleicht hatte sie sich getäuscht, obgleich das Blut am Boden und das an der Axt etwas ganz anderes sagten.
Wenn man so etwas erlebt hat, dachte Abby, kann man es nicht wieder vergessen.
Von da an weiß man, dass nicht alles so ist, wie es den Anschein hat. Dass Guilford mehr war, als sie wissen durfte; und dass sie beide folglich nie ein ganz normales Leben führen würden. Eines Tages, hatte Abby sich gesagt, wird die Wahrheit uns einholen.
War das der Tag?
Sie wusste es nicht. Aber die Haut des Anscheins hatte einen Riss bekommen. Und diese Wunde heilte vielleicht nie mehr.
Hinter der Ulme, die Guilford vor zehn Jahren gepflanzt hatte, saßen die beiden Männer im abschüssigen Gras.
Abby packte. Nick packte auch, der Junge freute sich auf den Ausflug, merkte aber, dass etwas nicht stimmte. Guilford sah ihn in der Haustür stehen und herüberspähen. Die bärtige Erscheinung neben seinem Vater gab dem Jungen sichtlich zu denken.
»Ich hab das auch nicht gewollt«, sagte Tom Compton. »Wer lässt sich schon gerne sein Leben von einem Gespenst vermasseln. Aber früher oder später, da muss man den Tatsachen ins Auge sehen.«
»Dinge und Handlungen sind, was sie sind, und ihre Folgen werden sein, was sie sein werden; warum also sollten wir hoffen, uns getäuscht zu haben?«
»Hat Sullivan das nicht gepredigt?«
»Tja, das waren seine Worte.«
»Ich vermisse den Dummkopf.«
Statt auf seine Mutter zu warten, kam Nick mit einem Baseball und einem Handschuh aus dem Haus und fing an, mit sich selbst ›Fangen‹ zu spielen, wobei er den Ball hoch in die Luft warf und losrannte, um ihn aufzufangen. Das aschblonde Haar fiel ihm immerzu in die Augen.
Ein Haarschnitt ist fällig, dachte Guilford. Sonstkann er sich das Centerfield aus dem Kopf schlagen.
»Fand mich zum Kotzen in diesem schmierigen Soldatenzeug«, sagte der Grenzer. »Zum Kotzen, dieses Gespenst, das dir auf Schritt und Tritt folgt und dir Sachen erzählt, die du nicht hören willst. Du weißt, wovon ich rede.« Er ließ Guilford nicht aus den Augen. »Das ganze Zeug mit diesem Archiv und so viel Millionen Jahre dies und so viel das. Du hörst eine Zeit lang zu und willst ihm jeden Moment das Maul stopfen. Aber dann hab ich mit Erasmus geredet, die alte Flussratte, du weißt schon, und er hat mir dasselbe verdammte Zeug erzählt.«
Nicks Baseball stieg in den blauen Himmel, kreuzte den blassen Mond. Abbys Silhouette durchquerte ein Fenster im oberen Stock.
»Jede Menge von uns sind in diesem Weltkrieg krepiert. Die Gespenster haben nicht bei jedem angeklopft. Nur bei denen, die sie kannten. Sie haben einfach die Chance gesehen, dass wir vielleicht mitmachen, vielleicht ein paar Leben retten. Sie wollen einfach nur Leben retten.«
»Sagen sie.«
»Und diese anderen Arschlöcher, ihre Feinde und die Scheißkerle, die sie sich unter den Nagel reißen, die sind verdammt gefährlich. Fast so schwer zu töten wie wir, und sie bringen Männer, Frauen und Kinder um, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Und das weißt du ganz sicher?«
»Hundertprozent. Ich hab dazugelernt — ich hab den Kopf seit zwanzig Jahren aus dem Sand. Wer, meinst du, hat deinen Laden abgefackelt?«
»Weiß nicht.«
»Sie müssen gedacht haben, du wärst noch drin. Das sind keine Scharfschützen, wenn du weißt, was ich meine. Die schießen mit Schrot. Pech, wer ihnen in die Quere kommt.«
Abby kam in die Sonne und pflückte Wäsche von der Leine. Vom Meer wehte eine Brise herauf. Laken, die sich wie Großsegel blähten.
»Die Leute, gegen die wir antreten sollen, sind Werkzeuge der Psionen. Man hat sie aus demselben Grund rekrutiert, wie man uns rekrutiert hat — weil sie mitmachen werden. Das sind keine anständigen Leute. Die ticken anders. Manche sind nur Ganoven, manche sind Killer.«
»Kannst du mir sagen, was Lily in Oro Delta macht?«
Der Grenzer stopfte sich eine neue Pfeife. Abby faltete Wäsche in einen Weidenkorb und warf ab und zu einen Blick herüber.
Entschuldige Abby, dache Guilford. Das hab ich nicht gewollt. Entschuldige, Nick.
»Sie will sich mit dir treffen.«
»Dann weiß sie, dass ich lebe.«
»Seit gut zwei Jahren. Sie fand deine Notizen, sie waren unter den Sachen ihrer Mutter.«
»Dann ist Caroline… tot?«
»Fürchte ja. Lily ist eine starke Frau. Sie fand heraus, dass ihr Vater womöglich nicht bei der Finch-Expedition ums Leben kam, vielleicht noch am Leben ist und ihr diese verrückte kleine Geschichte über Geister, Mörder, eine verfallene Stadt… Guilford, der Punkt ist, sie hat dir geglaubt. Sie fing an, Fragen zu stellen. Und damit zog sie sich diese Typen auf den Hals.«
»Weil sie Fragen gestellt hat?«
»Weil sie diese Fragen zu öffentlich gestellt hat. Sie ist nicht bloß gescheit, sie ist Journalistin. Sie wollte deine Notizen veröffentlichen, sobald sie sicher sein konnte, dass sie nicht zusammengesponnen waren. Kam nach Jeffersonville und grub diese alten Geschichten aus.«
Abby zog sich ins Haus zurück. Nick war den Baseball leid, pfefferte den Handschuh ins Gras. Er flitzte in den Schatten der Ulme, blickte zu Tom und Guilford hinüber, neugierig und wohlwissend, dass er näher nicht herandurfte. Wenn Erwachsene etwas zu bereden hatten, taten sie immer gewichtig und benahmen sich komisch.
»Sie wollten ihr was tun?«
»Wollten«, sagte Tom Compton.
»Du hast sie aufgehalten?«
»Ich hab sie aus der Schusslinie genommen. Dein Geschreibsel, sie hat mich wiedererkannt. Ich war wie der Heilige Gral für sie — der Beleg, dass nicht alles Unsinn war.«
»Und du hast sie hergebracht?«
»Nach Fayetteville hat sie sowieso gewollt. Im Grunde sucht sie doch nur ihren Vater.«
Abby trug einen Koffer zum Auto, hob ihn in den Kofferraum, warf einen Blick herüber und ging zum Haus zurück. Das dunkle Haar wehte im Wind. Der Rock tanzte um die Konturen ihrer Beine.
»Ich finde das nicht gut«, sagte Guilford. »Ich will sie da nicht mit reinziehen.«
»Verdammt, Guilford, alle werden da mit reingezogen. Es geht nicht um dich und mich und ein paar hundert Kerle, die mit Gespenstern reden. Es geht um deine Kinder und Kindeskinder, ob sie ein für alle Mal krepieren oder schlimmer noch von diesen Monstern aus der anderen Welt versklavt werden.«
Eine Wolke überquerte die Sonne.
»Du hast eine Zeit lang nicht mitgespielt«, sagte der Grenzer, »aber das Spiel geht weiter. Auf beiden Seiten wurden Leute getötet, auch wenn wir nicht so leicht umzubringen sind. Dein Name ist gefallen und du kannst nicht so tun, als sei nichts gewesen. Kapier doch, denen ist egal, ob du den Krieg aussitzen willst, was zählt, ist, dass du eine Zeitbombe bist und sie wollen dich von der Liste streichen. Du kannst hier nicht bleiben.«
Guilford blickte unwillkürlich den ausgefahrenen Weg hinunter, hielt Ausschau nach Feinden. Nichts zu sehen. Nur ein Sandteufelchen, das sich in die trockene Luft erhob.
Er sagte: »Welche Wahl habe ich?«
»Keine, Guilford. Du musst da durch. Bleibst du, verlierst du alles. Lässt du dich woanders nieder, passiert früher oder später dasselbe. Also… warten wir.«
»Wir?«
»Die alten Soldaten. Wir kennen uns inzwischen, persönlich oder durch unsere Geister. Die eigentliche Schlacht steht noch bevor. Die richtige Schlacht findet da oben statt, ein paar Jahre in der Zukunft. Also halten wir uns möglichst fern von den Menschen. Haben keinen festen Wohnsitz, keine Familie, keine festen Jobs, treiben uns draußen im Busch herum, oder in der Stadt, wo wir nicht greifbar sind, halten die Augen offen, behalten die Typen im Auge und… warten.«
»Worauf?«
»Die Entscheidungsschlacht. Das Wiedererwachen der Dämonen. Warten, bis wir gerufen werden, mehr können wir nicht tun.«
»Wie lange?«
»Wer weiß? Zehn Jahre, zwanzig Jahre, dreißig Jahre…«
»Das ist unmenschlich.«
»Wir sind keine Menschen, Guilford. Wach endlich auf!«
Er kam an der Seite Tom Comptons die Treppe des Oro Delta herauf und betrat den Speisesaal. Er war groß, hatte ein unauffälliges Gesicht, sah aber nicht langweilig aus und schien kaum älter als sie — im nächsten Moment hatte Lily alles vergessen, was sie sich zurechtgelegt hatte.
Stattdessen ertappte sie sich bei dem Versuch, sich ihren Daddy in Erinnerung zu rufen — den Guilford Law ihrer frühen Kindheit, der vielleicht noch irgendwo in ihrem Gedächtnis schlummerte, ganz unberührt von ihren Nachforschungen oder dem, was Mutter erzählt hatte. Aber da waren nur ein paar Schemen. Ein Schemen an ihrem Bett. Die Oz-Bücher, die Art wie er ›Dorothy‹ aussprach, in runden, behäbigen Silben. Dorothy.
Er würde sich natürlich erinnern. Er stand an ihrem Tisch, neben dem Grenzer, Scheu und Zweifel im Gesicht und — es sei denn, sie bildete sich das nur ein — den Schatten eines uralten Bedauerns. Ihr Herz hämmerte. Sie sagte idiotischerweise: »Ah, du musst Guilford Law sein.«
»Du bist Lily«, sagte er heiser.
»Ihr redet«, sagte Tom, »ich brauch jetzt einen Drink.«
»Du behältst den Eingang im Auge«, sagte Lily.
Es lief nicht reibungslos, nicht gleich. Er schien alles und jedes wissen und erklären zu wollen: stellte Fragen, fiel ihr ins Wort, brach ab und griff Erinnerungen auf und verlor sich in Schweigen. Er stieß den Kaffee um, fluchte, wurde rot und entschuldigte sich für seine Sprache.
Sie sagte: »Ich bin nicht aus Porzellan. Und ich bin keine fünf mehr. Ich glaube, ich weiß, was du durchmachst. Für mich ist es auch nicht einfach, wie wär’s, wenn wir einen neuen Anfang machen? Zwei erwachsene Menschen?«
»Zwei Erwachsene. Klar. Es ist nur…«
»Was?«
Er drückte das Kreuz durch. »Es ist so schön, dich wiederzusehen, Lily.«
Sie biss sich auf die Lippe und nickte.
Dastut weh, dachte Lily, zumal ich weiß, was er ist. Er sitzt da wie ein gewöhnlicher Mensch, fingert an seinen Manschetten herum, trommelt mit dem Finger auf den Tisch. Dabei war er genausowenig ein gewöhnlicher Mensch wie es dieser Tom Compton war: Beide waren in etwas verwickelt worden, das so ungeheuerlich war, dass es jeder Beschreibung spottete.
Ihr halbmenschlicher Vater.
Sie erzählte ihm in groben Zügen ihr Leben. Sie fragte sich, ob er ihre Arbeit billigte — kuriose Jobs für eine Zeitung in Sydney, Recherchen, ein paar Artikel in Zeitschriften, ihre eigene Kolumne. Sie war eine dreißigjährige, ledige Karrierefrau, keine schmeichelhafte Bezeichnung. Die Worte ließen selbst Lily an eine spröde Jungfer mit schlechtem Make-up und Miezekatzen im Wohnzimmer denken. War es das, was er in seinem Gegenüber sah?
Er schien eher um ihre Sicherheit besorgt. »Lil, es tut mir Leid, dass du da hineingestolpert bist.«
»Ich bereue keinen Schritt. Es ist erschreckend, ja. Aber es ist auch die Antwort auf viele Fragen. Lange bevor ich auch nur einen blassen Schimmer hatte, war ich von Darwinia fasziniert, von der bloßen Vorstellung, schon als Kind. Ich belegte Seminare an der Uni -Geologie, Evolutionsbiologie, so genannte ›Implizite Geschichtsschreibung‹, Darwinische Fossilkunde und Ähnliches. Es gibt so viel zu lernen über den Kontinent, aber das eigentliche Rätsel bleibt. Und niemand hat auch nur den Schatten einer Antwort, abgesehen von den Theologen. Als ich auf deine Notizen stieß — und später dann Tom kennen lernte —, na ja, da gab es dann auf einmal eine Antwort, auch wenn sie ziemlich verrückt klang, auch wenn es schwerfällt, sich darauf einzulassen.«
»Vielleicht wär es besser gewesen, du hättest nie davon erfahren.«
»Unkenntnis ist keine Lebensversicherung.«
»Ich habe Angst um dich, Lil.«
»Ich habe Angst um die Menschen. Trotzdem mach ich weiter.«
Er lächelte. Lily setzte hinzu: »Das ist kein Scherz.«
»Nein, natürlich nicht. Du hast mich für eine Sekunde an jemanden erinnert.«
»Oh, an wen denn?«
»An meinen Vater. Deinen Großvater.«
Sie zögerte. »Ich würde gern mehr über ihn wissen.«
»Und ich würde es dir gern erzählen.«
In Wahrheit hatte sie viel von ihrer Mutter. Sie war heller, ja, aber sie hätte Caroline sein können — sie schien genauso eigenwillig wie Caroline, ja, aber ohne diesen harten Kern aus Angst und Argwohn. Caroline hatte immer dazu geneigt, sich von der Welt abzuwenden. Lily wollte sie bei den Hörnern packen.
Der Saal begann sich um diese Abendzeit zu füllen und Tom hielt es für sicherer, Guilford und Lily an den Steinstrand weiter unten, nördlich der Docks, zu bringen.
Die Abendsonne warf ein Flickenmuster aus Licht und Schatten über die Kiesel. Bänder von Seetang schlangen sich um ein verrottendes Holzgerüst. Ein leuchtend blauer Salzwurm schlängelte hastig in die Ebbe hinaus.
Lily pflückte eine Sandbeere vom Gestrüpp oberhalb der Flutgrenze. »Die Bucht ist wunderschön«, sagte sie.
»Die Bucht ist eine einzige Sauerei, Lil. Alles wird hier angespült. Kienteer, Abwasser, Maschinenöl, Dieselöl. Mit Nicholas gehn wir nur an die Strände nördlich von Fayetteville, da ist noch sauberes Wasser.«
»Tom hat mir von Nicholas erzählt. Ich möchte ihn gern kennen lernen.«
»Das wär schön, ja. Aber ob es vernünftig ist, ich weiß nicht. Wenn Tom Recht hat, dann hast du dich in eine gefährliche Lage gebracht. Das kann ich nicht allein entscheiden, Lil. Warum bist du eigentlich hier?«
»Wegen dir vielleicht?«
»Ist das der Grund?«
»Ja.«
»Aber das ist nicht alles.«
»Nein. Das ist nicht alles.«
Sie setzten sich auf ein niedriges, rissiges Betonwehr.
»Du hast Recht behalten. Meine Mutter hielt dich für verrückt — oder war einfach schockiert, dass du noch am Leben warst, was sie — na ja — zu einer Art Ehebrecherin stempelte. Sie redete nicht gerne von dir, auch nicht, als er sie längst verlassen hatte.«
»Dieser Colin Watson, meinst du?«
»Ja.«
»War er gut zu dir?«
»Er war kein schlechter Mensch. Er war eben nicht glücklich. Vielleicht stand er in deinem Schatten. Vielleicht taten wir das alle drei.«
»Er hat sie verlassen?«
»Nach ein paar Jahren. Aber wir kamen zurecht.«
»Wie ist Caroline gestorben?«
»Grippe, in dem Jahr war es besonders schlimm. Nichts Dramatisches, sie hat sich einfach… nicht mehr erholt.«
»Das tut mir Leid.«
»Du hast sie geliebt, oder?«
»Ja.«
»Aber du hast dich nie blicken lassen.«
»Ich hätte euch kein Glück gebracht.« Eher das Gegenteil, dachte Guilford. Siehe Abby. Siehe Nick. »Was hast du vor? Du darfst kein Wort von alledem veröffentlichen. Das ist dir hoffentlich klar.«
»Ich mag ja sterblich sein, aber ich bin nicht machtlos. Tom meint, in den Staaten gäb es Arbeit für mich. Nichts Gefährliches. Nur beobachten. Den Leuten berichten, was ich sehe.«
»Du setzt dein Leben aufs Spiel.«
»Wir haben Krieg«, sagte Lily.
»Tokio hält das nicht mehr lange durch.«
»Nicht der Krieg. Du weißt, was ich meine.«
Den Krieg im Himmel. Psileben, das Archiv, das geheimnisvolle Herz der Weltmaschine. Jahre der Vergeblichkeit schäumten in ihm auf. »Um deinetwillen, Lil, halt dich da raus. Geister, Götter und Dämonen — das ist ein Albdruck aus dem finstren Mittelalter.«
»Eben nicht!« Ihr Blick war umwölkt. Ein bisschen wie bei Nick. »John Sullivan hatte Recht: Es ist kein Albtraum. Wir leben in einer richtigen Welt — auch wenn sie vielleicht nicht das ist, was sie zu sein scheint, aber sie ist real und sie hat eine reale Geschichte. Was mit Europa passiert ist, das war kein Wunder. Es war ein Angriff.«
»Also sind wir Ameisen in einem Ameisenhaufen und irgendjemand ist auf die Idee gekommen, ihn breitzutreten.«
»Wir sind keine Ameisen! Wir sind denkende Wesen…«
»Was immer das heißt.«
»Und wir können uns zur Wehr setzen.«
Er erhob sich steifbeinig. »Ich habe eine Familie. Ich habe einen Sohn. Ich möchte mein Atelier betreiben und mein Kind großziehen. Ich möchte keine Hundert werden. Ich möchte nicht gevierteilt werden.«
»Aber du gehörst zu den Pechvögeln«, sagte Lily sanft. »Du hast keine Wahl.«
Guilford wünschte sich nichts mehr als die Zeit zurückdrehen zu können, so lange bis alles wieder im Lot war. Abby und Nick und der Photoladen und das Haus auf der Landspitze sollten wieder so sein wie immer, Status quo ante, die Illusion, die er so inbrünstig geliebt hatte.
Er buchte ein Zimmer im Oro Delta. Er zahlte bar und benutzte einen falschen Namen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.
Abbys Vetter wohnte außerhalb von Palaepolis. Guilford rief bei Antonio an, um sich zu vergewissern, dass Abby und Nick wohlauf waren. Tony hob ab. Tony unterhielt einen kleinen Weinberg und besaß in der Nähe ein weitläufiges Backsteinhaus, in dem reichlich Platz war für Abby und Nick, auch wenn seine beiden Rangen die unumschränkten Herrscher waren. »Guilford!«, sagte Tony. »Was ist es denn diesmal?«
»Diesmal?«
»Zwei Anrufe in fünfzehn Minuten. Ich komm mir vor wie eine Telefonzentrale. Vielleicht klärst du mich mal auf. Aus Abby war nicht schlau zu werden.«
»Tony, vorhin das war ich nicht.«
»Nein? Dann weiß ich nicht, mit wem ich gesprochen habe. Er hörte sich an wie du und hat sich mit deinem Namen gemeldet. Hast du heute Abend schon getrunken, Guilford? Nicht dass mich das was angeht. Sollte es zwischen dir und Abby kriseln, bin ich sicher, du kriegst es wieder hin…«
»Ist Abby da?«
»Abby und Nick sind wieder nach Hause. Genau das wolltest du doch. Guilford?«
Guilford hängte auf.
Die Nacht war finster, die Landstraßen unbeleuchtet. Die Lichtkegel der Scheinwerfer bestrichen Weizenfelder und Steinmauern. Sie sind da draußen in der Finsternis, dachte Guilford: gesichtslose Feinde, Schemen aus einer unwirklichen Vergangenheit oder einer unmöglichen Zukunft.
Tom hatte darauf bestanden mitzukommen und Lily mitzunehmen, wider alle Einwände, die Guilford gemacht hatte: Sie sei in der Stadt kein bisschen sicherer, meinte der Grenzer. »Bei uns ist sie jetzt besser aufgehoben.«
Und Lily setzte hinzu: »Ich bin eine Farmerstochter. Ich kann mit dem Gewehr umgehen, wenn es sein muss.«
Guilford nahm eine scharfe Kurve und spürte wie das Heck des Wagens weit ausschwingen wollte. Er umklammerte grimmig das Lenkrad. Kaum Verkehr auf der Küstenstraße um diese Nachtzeit, Gott sei Dank. »Wie viele sind es?«
»Mindestens zwei. Wahrscheinlich mehr. Wer auch immer deinen Laden angezündet hat, war bestimmt nicht von hier, sonst hätten sie dich erwischt. Aber sie lernen schnell.«
»Der Anruf bei Toni, es war meine Stimme.«
»Yeah, so was können die.«
»Dann sind sie… wie hast du gesagt? Von Dämonen besessen?«
»Könnte man sagen.«
»Und man kann sie nicht umbringen?«
»Oh doch«, sagte Tom. »Man muss sich nur Mühe geben.«
»Warum sind sie hinter Abby und Nick her?«
»Sie sind nicht hinter Abby und Nick her. Wenn sie was von Abby und Nick wollten, dann wären sie raus zu eurem Vetter und hätten sie massakriert. Abby und Nick sind Köder. Weshalb diese Teufel im Vorteil sind, es sei denn, wir sind ihnen früher als erwartet auf die Schliche gekommen.«
Guilford trat das Gaspedal durch. Der Motor des Ford brüllte auf; die Hinterräder schleuderten Staub in die Nacht.
Tom langte nach dem Seesack, den er auf die Rückbank geworfen hatte. »Zwei Pistolen hätten wir. Werd die Dinger mal scharf machen. Guilford, sonst noch Waffen im Haus?«
»Eine Jagdflinte. Nein, zwei — in der Mansarde liegt noch die alte Remington.«
»Munition?«
»Haufenweise. Lily, wir sind gleich da. Nimm besser den Kopf runter.«
Sie nahm Tom eine Pistole aus der Hand. »Wie soll ich da treffen?«, sagte sie gefasst.
Tonys Auto parkte vor dem Haus, der alte Roadster war kaum zu erkennen im Streulicht der Scheinwerfer. Tonys Auto: Abby musste es ausgeliehen haben. Wie lange waren Abby und Nick schon hier? Nicht lange. Wenn sie gleich losgefahren waren in Palaepolis, höchstens fünfundvierzig Minuten, eine Stunde vielleicht.
Doch das Haus war dunkel.
»Stell den Motor ab«, sagte Tom. »Wir müssen Zeit gewinnen. Lass ihn rollen — ohne Licht.«
Guilford nickte und drehte den Zündschlüssel. Der Ford glitt durch die samtschwarze Nacht, lautlos bis auf das Knirschen des Kies. Der Wagen rollte aus und stand.
Die Haustüre flog auf, ein flackerndes Licht: Abby stand auf der Schwelle, in der Hand eine Kerze.
Guilford sprang aus dem Wagen und drängte sie ins Haus zurück. Lily und der Grenzer folgten.
»Das Licht geht nicht«, sagte Abby eben. »Auch das Telephon nicht. Was ist los? Warum sind wir hier?«
»Abby, ich habe nicht angerufen. Das war irgendein Trick.«
»Ich habe doch mit dir geredet!«
»Nein«, sagte er. »Hast du nicht.«
Abby nahm die Hand vor den Mund. Hinter ihr auf dem Sofa saß Nick, verschlafen und durcheinander.
»Vorhänge zuziehen«, sagte Tom. »Alle Türen und Fenster verriegeln.«
»Guilford…?«, sagte Abby, die Augen geweitet.
»Es hat sich ein Problem ergeben, Abby.«
»Oh nein… Guilford, er hörte sich an wie du, es war deine Stimme…«
»Keine Bange. Wir müssen nur eine Zeit lang in Deckung gehen. Nick, du rührst dich nicht von der Stelle.«
Nicholas nickte feierlich.
»Nimm dein Gewehr, Guilford«, sagte der Grenzer. »Mrs. Law, haben Sie noch mehr von diesen Kerzen?«
»In der Küche«, sagte sie wie betäubt.
»Gut. Lily, mach den Seesack auf.«
Guilford erhaschte einen Blick auf Munition, ein Fernglas und ein Jagdmesser mit Lederscheide.
Abby sagte: »Können wir nicht einfach — wegfahren?«
»Jetzt, wo wir hier sind«, erwiderte der Grenzer, »werden sie uns nicht wieder fortlassen, Mrs. Law. Aber wir sind mehr, als sie erwartet haben, und wir sind besser bewaffnet. Die Chancen stehen nicht schlecht. Morgen früh sehen wir weiter.«
Abby erstarrte. »O Gott… es tut mir so Leid!«
»Nicht Ihre Schuld.«
Aber meine, dachte Guilford.
Abby lenkte sich ab, indem sie sich Nick widmete: ihn beruhigte, ihm auf dem Sofa ein richtiges Bett machte. Guilford hatte das Sofa von der Tür weg und mit dem Rücken zum Zimmer in eine Ecke geschoben. »Ein Fort«, sagte Nick dazu. »Ein schönes Fort«, ergänzte Abby.
Sie zog die Luft durch die zusammengebissenen Zähne und zählte die Stunden bis zum Morgen. Draußen sind Leute, die uns etwas antun wollen, und sie haben den Strom gekappt und die Telefonleitung. Wir können nicht aus dem Haus und wir können niemanden um Hilfe bitten und wir können uns nicht zur Wehr setzen…
Guilford nahm sie beiseite zusammen mit der jungen Frau, die Tom Compton mit ins Haus gebracht hatte. So ungerne Guilford über seine Vergangenheit sprach, wusste Abby doch von seiner Tochter, die er vor fünfundzwanzig Jahren in London zurückgelassen hatte. Abby erkannte sie, noch ehe Guilford sagte: »Das ist Lily.« Ja, es war nicht zu übersehen. Lily hatte die Law-Augen, wintermorgenblau, und dieselben steilen Fältchen zwischen den Brauen.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Abby und wusste sofort, wie sich das anhören musste. »Ich meine, ich wünschte… nicht unter diesen Umständen.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Lily ernst. »Danke, Mrs. Law.«
Und Abby dachte: Was weißt du über die Alten Männer? Wer hat dich in ihre Geheimnisse eingeweiht? Wie viel weiß Guilford? Wer lauert da draußen in der Finsternis und will meinen Mann, mein Kind töten?
Jetzt war nicht die Zeit dazu. Solche Dinge waren Luxus geworden: Angst, Zorn, Grübelei und Kummer.
Guilford deckte Nicholas zu. Der Junge besah sich das Gesicht seines Vaters.
Im Kerzenlicht sah alles so fremd aus. Das Haus schien größer — leerer —, als hätte es sich da, wo es dunkel war, ausgedehnt. Türen und Fenster waren verriegelt. Nick spürte, dass sie in Gefahr waren. »Banditen«, hatte er Tom Compton sagen hören. Was Nick an die Filme denken ließ. Landbesetzer, Wollschlangendiebe, stämmige Burschen mit dunklen Augenringen. Killertypen.
»Schlaf, wenn du kannst«, sagte sein Vater. »Morgen früh kommt alles wieder in Ordnung.«
Der Schlaf lag in weiter Ferne. Nick blickte in das Gesicht seines Vaters und hatte plötzlich das Gefühl, ihn zu verlieren. Es war wie ein Dolchstoß.
»Gute Nacht, Nick«, sagte sein Vater und strich ihm übers Haar.
Für Nicholas klang es wie »Lebewohl«.
Lily übernahm die Küche.
Das Haus hatte zwei Zugänge, die Haustür im Wohnzimmer und den Hintereingang in der Küche. Die Küche war sicherer, es gab nur ein einziges, kleines Fenster und die Tür war schmal. Die Tür war verriegelt. Das Fenster war auch verriegelt, doch Lily war klar, dass weder Tür noch Fenster einem wild entschlossenen Feind standhalten würden.
Sie saß auf einem Holzstuhl, Guilfords alte Remington quer über dem Schoß. Weil der Raum dunkel war, hatte Lily den Rolladen einen Spaltweit aufgezogen und war mit dem Stuhl näher ans Fenster gerückt. Die Nacht war mondlos, nur ein paar helle Sterne standen am Himmel, aber da waren die Lichter der Frachtschiffe, die in der Bucht lagen, ein Sternbild von Menschenhand.
Das Gewehr war beruhigend. Auch wenn sie noch nie etwas Größeres als ein Kaninchen geschossen hatte.
Willkommen in Fayetteville, dachte Lily. Willkommen in Darwinia.
Ihr ganzes Leben lang hatte Lily über Darwinia gelesen und von Darwinia geredet — von Darwinia geträumt bei Nacht und bei Tag — zum Leidwesen ihrer Mutter. Sie fand ihn faszinierend, den Kontinent. Von Kindesbeinen an hatte sie sein Geheimnis ergründen wollen. Und hier war sie nun: allein im Dunkel, um sich gegen Dämonen zu verteidigen.
Weißt du überhaupt, worauf du dich da einlässt, Mädchen?
Sie wusste praktisch alles, was die Naturwissenschaft über Darwinia herausgefunden hatte, und das war ziemlich wenig. Eine Fülle von Einzelheiten freilich und auch ein bisschen Theorie. Doch die große, zentrale Frage, das schlichte, menschliche, brennende Warum, war bisher unbeantwortet geblieben. Interessant allerdings, dass zumindest noch ein anderer Planet des Sonnensystems von diesem Phänomen betroffen schien. Sowohl das Royal Observatory in Capetown als auch das National in Bloemfontein hatten Photographien des Mars veröffentlicht, auf denen jahreszeitliche Veränderungen und Hinweise auf große Wassermassen zu sehen waren. Eine neue Welt am Himmel, ein Darwinia von planetarem Ausmaß.
Die Briefe ihres Vaters hatten Licht in das Dunkel gebracht, obwohl er selbst kaum durchzublicken schien. Guilford und Tom und alle die Alten Männer hatten getan, was Guilfords Freund Sullivan nicht gekonnt hatte: nämlich das Wunder in profanen Kategorien zu erklären. Es war eine exotische Hypothese, sicher, und ihr fiel kein Experiment ein, das sie hätte erhärten können. Aber diese ganze abwegige Theographie mit ihren Archiven und Engeln und Dämonen war an so vielen Orten entstanden und stimmte in so vielen Details überein, dass sie nur auf Tatsachen beruhen konnte.
Anfangs war sie skeptisch gewesen — hatte Guilfords Notizen und Briefe als die Wahnvorstellungen eines halb verhungerten Überlebenden abgetan. Jeffersonville hatte ihre Meinung geändert. Tom Compton hatte ihre Meinung geändert. Die Alten Männer hatten sie ins Vertrauen gezogen, und das hatte nicht bloß Lilys Meinung geändert, es hatte sie auch davon überzeugt, dass es sinnlos war, darüber zu schreiben. Man würde es nicht zulassen und selbst wenn es ihr gelang, man würde ihr nicht glauben. Weil da natürlich gar keine Ruinenstadt in den Alpen war. Diese Stadt war nirgends verzeichnet, nie photographiert oder überflogen oder von weitem gesichtet worden — nur die verschollene Finch-Expedition wollte mitten in dieser Stadt gewesen sein. Die Dämonen, meinte Tom, hätten sie vernäht — wie man einen zerrissenen Ärmel näht. Sie verstünden sich auf so was.
Doch die Stadt war noch immer da, auf irgendeine vage, unstoffliche Weise.
Lily hielt sich wach, indem sie sich diese Stadt tief im darwinischen Hinterland ausmalte: den uralten, seelenlosen Nabel der Welt. Die Achse der Zeit. Den Ort, wo die Toten den Lebenden begegnen. Sie wünschte sich, sie könnte die Stadt sehen, obwohl ihr klar war, wie absurd der Wunsch war; selbst wenn sie die Stadt finden würde (und sie würde sie nicht finden; sie war nur eine Sterbliche), dann war es gefährlich dort, die Stadt war womöglich der gefährlichste Ort auf der ganzen Erde. Doch sie wurde von diesem mysteriösen Ort auf eine Weise angezogen, wie sie sich als Kind in bestimmte Namen auf der Landkarte verliebt hatte: Mount Kosciusko, das Große Artesische Becken, die Tasman-See. Der Reiz des Exotischen, und gottlob war das kleine Wollongong-Mädchen[43] so und nicht anders gewesen. Und da hocke ich nun, dachte Lily, mit dieser Flinte auf den Knien.
Sie würde die Stadt nie zu Gesicht bekommen. Aber Guilford würde sie wiedersehen. Das hatte Tom ihr gesagt. Guilford würde da sein, wenn die große Schlacht… es sei denn, seine zähe Liebe zur Welt hielt ihn zurück.
»Guilford hängt an dieser Welt«, hatte Tom ihr erzählt. »Er liebt sie, als ob sie die Wirklichkeit war.«
»Ist sie das nicht?«, hatte sie gefragt. »Selbst wenn die Welt nur aus Zahlen und Maschinen besteht… man kann sie doch trotzdem lieben?«
»Sie schon, Mrs. Law«, hatte Tom eingeräumt. »Unsereins darf so nicht denken.«
Die Hindus sprechen von Erlösung, oder waren es die Buddhisten? Der Welt entsagen. Dem Begehren entsagen. Wie schrecklich, dache Lily. Schrecklich, so etwas von einem Menschen zu verlangen, zumal von Guilford Law, der die Welt nicht nur liebte, sondern auch wusste, wie zerbrechlich sie war.
Das alte Gewehr auf ihren Knien wog so schwer, als sei es eingeschlafen. Nichts regte sich da draußen bis auf die Sterne über der Bucht, ferne Sonnen, die durchs All glitten.
Abby kauerte unbewaffnet in einer Ecke, die vom Schein der Kerzen kaum erhellt wurde. Irgendwann nach Mitternacht kam Guilford und hockte sich neben sie. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihre Haut lag kühl unter der heißen Handfläche.
Sie sagte: »Hier werden wir nie mehr zu Ruhe kommen.«
»Wenn es sein muss, Abby, gehen wir weg von hier. Weiter nach Norden, unter einem anderen Namen…«
»Ach ja? Auch wenn wir woanders hingehen, wo uns keiner kennt — was dann? Willst du zusehen, wie ich alt werde? Zusehen, wie ich sterbe? Zusehen, wie Nicholas alt wird? Willst du auf das Wunder warten, das dich hierher verschlagen hat, damit es dich wieder fortnimmt?«
Er setzte sich erschrocken auf den Boden.
»Du kannst mir nichts mehr vormachen. Du siehst immer noch aus als wärst du keine dreißig.«
Er schloss die Augen. Du stirbst nicht, hatte sein Geist ihm verraten, und er hatte erlebt, wie seine Wunden auf wundersame Weise verheilt waren, erlebt, wie die Grippe ihm nichts anhaben konnte, während seine kleine Tochter daran gestorben war. So oft hatte er sich dafür gehasst.
Doch die meiste Zeit hatte er sich verstellt. Und was Abby betraf, Abby, die älter wurde, Abby, die sterben würde…
Seine Verletzungen verheilten rasch, aber das hieß nicht, dass er nicht getötet werden konnte. Manche Wunden waren unwiderruflich, dessen war sich auch Tom bewusst. Eine Zukunft jenseits von Abby konnte er sich nicht vorstellen, da würde er sich lieber von einer Klippe stürzen oder sich den Lauf einer Schrotflinte in den Mund schieben. Jeder hatte ein Recht aufs Sterben. Keiner verdiente ein Jahrhundert voller Gram.
Abby schien seine Gedanken zu lesen. Sie nahm seine Hand und hielt sie fest. »Du tust, was du tun musst, Guilford.«
»Ich lasse nicht zu, dass sie euch etwas antun, Abby.«
»Du tust, was du tun musst«, sagte sie noch mal.
Der erste Schuss legte ein Wohnzimmerfenster in Scherben.
Nicholas, der gedöst hatte, saß kerzengerade und fing an zu heulen. Abby lief hin und drückte ihn aufs Sofa zurück. »Roll dich zusammen«, sagte sie. »Roll dich zusammen, Nick, und halt dir die Ohren zu!«
»Bleib bei ihm«, schrie Guilford. Weitere Schüsse kamen durchs Fenster, peitschten wie Sturmböen in die Vorhänge, rissen faustgroße Löcher in die gegenüberliegende Wand.
»Du bewachst dieses Zimmer«, sagte Tom. »Lily, mit nach oben.«
Er brauchte ein Fenster nach Osten und eine höhere Position. Es waren nur noch zwanzig Minuten bis zur Morgendämmerung. Im Osten musste es schon aufhellen.
Guilford hockte hinter der Haustür. Er feuerte zweimal blind durch den Briefschlitz in der Hoffnung, jemanden abzuschrecken.
Die Antwort war ein Kugelhagel, der das Moscheeholz über ihm zerfetzte. Guilford duckte sich unter dem Splitterregen.
Kugeln zerfetzten Holz, Putz, Polster, Vorhänge. Eine von Abbys Küchenkerzen erlosch. Der beißende, durchdringende Geruch von verkohltem Holz hing in der Luft.
»Abby?«, rief er nach hinten. »Seid ihr okay?«
Das Ostzimmer gehörte Nick. Auf dem Wandbrett lauter Flugzeugmodelle aus Balsaholz, das Detektorradio und die Muschelsammlung.
Tom Compton riss die Vorhänge auf und trat die untere Glasscheibe nach draußen.
Das ganze Haus klingelte von berstendem Glas.
Der Grenzer duckte sich unter die Fensterbank, hob kurz den Kopf und duckte sich wieder.
»Ich sehe vier Leute«, sagte er. »Zwei hinter den Autos und mindestens zwei bei der Ulme. Kannst du gut schießen, Lil?«
»Ja.« Wozu bescheiden sein? Sie hatte noch nie mit einer Remington geschossen.
»Schieß auf den Baum«, sagte er. »Ich kümmere mich um die Nahziele.«
Keine Zeit zum Nachdenken. Er zögerte nicht, packte einfach mit der Linken in den Rahmen, hob die Pistole und feuerte rasch und regelmäßig nach unten.
Der perlmuttfarbene Himmel spendete kaum Licht. Lily trat ans Fenster, blieb so gut es ging in Deckung und zielte auf die Ulme und dann auf den dunklen Schemen daneben. Sie drückte ab.
Das war kein Kaninchen. Doch sie tat so. Sie dachte an die Farm außerhalb von Wollongong, wo sie mit Colin Watson, als sie ihn noch ›Daddy‹ genannt hatte, auf Kaninchenjagd gegangen war. Damals war ihr das Gewehr größer und schwerer vorgekommen. Doch sie hatte es halten können. Er hatte ihr beigebracht, sich auf den Knall und den Rückstoß einzustellen.
Ihr war speiübel gewesen, wenn die Kaninchen verendeten und sich wie zerrissene Tüten über die trockene Erde wälzten. Aber die Kaninchen waren Schädlinge, eine Plage; sie hatte gelernt, ihr Mitleid zu unterdrücken.
Und hier war noch eine Plage. Sie zielte und drückte ab. Der Kolben schlug in die Schulter. Eine Patronenhülse klapperte über den Holzboden und kam unter Nicks Bett zur Ruhe.
War die Gestalt gestürzt? Vermutlich, es war einfach nicht hell genug…
»Nicht aufhören«, sagte Tom beim Nachladen. »Die lassen sich nicht mit einem Schuss erledigen. So leicht sind die nicht umzubringen.«
Guilford fühlte sein linkes Bein nicht mehr. Als er hinsah, gewahrte er die dunkle Nässe über dem Knie, es roch nach Blut und Fleisch. Die Wunde heilte bereits, aber irgendein Nerv musste durchtrennt sein; das konnte dauern.
Er zog eine Blutspur, als er zum Sofa kroch.
»Abby?«, sagte er.
Wieder prasselten Kugeln durch Tür und Fenster. Drüben im Zimmer begannen Abbys Stoffvorhänge zu schwelen und gaben dunklen Rauch ab. Etwas rumste immer wieder gegen die Küchentür.
»Abby?«
Keine Antwort hinter dem Sofarücken.
Oben schossen Tom und Lily, draußen Schmerzensschreie und aufgeregte Stimmen.
»Sag was, Abby!«
Der Sofarücken war mehrmals getroffen worden. Wie schmutziger Schnee tanzten Fussel aus Rosshaar und Baumwolle in der Luft.
Seine Hand fasste in ein Pfütze aus Blut, es war nicht seins.
»Ich zähle vier am Boden«, sagte Tom Compton, »aber die bleiben da nicht, es sei denn wir geben ihnen den Rest. Und hinten könnten noch mehr sein.« Aber kein Fenster hier oben blickte nach hinten.
Er lief die Treppe hinunter. Lily blieb dicht hinter ihm. Ihre Hände hatten zu zittern begonnen. Das Haus stank nach Schießpulver und Rauch und Männerschweiß und Schlimmerem.
Hinunter ins Wohnzimmer, wo der Grenzer jählings in dem gewölbten Durchgang stehenblieb und sagte: »Oh, Jesus!«
Jemand war durch die Hintertür gekommen.
Ein dicker Mann in der grauen Uniform der Bezirkspolizei.
»Sheriff Carlyle«, sagte Guilford. Er war offenbar verwundet und benommen, hatte es aber fertiggebracht aufzustehen. Eine Hand umklammerte den blutigen Oberschenkel. Die andere streckte er flehentlich aus. Die Pistole hatte er fallenlassen…
Am blutgetränkten Sofa.
»Hier sind Schwerverletzte«, klagte Guilford. »Sie müssen mir helfen, sie in die Stadt zu bringen. Ins Krankenhaus.«
Doch der Sheriff lächelte nur und hob seine Pistole.
Sheriff Carlyle: einer von diesen Teufeln.
Lily mühte sich, ihre Flinte in Anschlag zu bringen. Ihr Herz hämmerte, doch ihr Blut hatte sich in Eisschmelze verwandelt.
Der Sheriff feuerte zweimal, ehe Tom einen Schuss abgeben konnte, der den anderen zur Wand herumriss.
Der Grenzer trat dicht an den gestürzten Sheriff heran. Er pumpte ihm aus nächster Nähe drei Kugeln in den Schädel, bis er so rot und formlos war wie Colin Watsons Kaninchen.
Guilford lag am Boden, Blut sprudelte aus einer Brustwunde.
Abby und Nicholas lagen hinter der unnützen Festung des Sofas, unsäglich tot.
Guilford erwachte im Schatten der Ulme, im hohen Gras, inmitten falscher, gletscherblauer Anemonen. Eine sanfte Brise kühlte die Haut. Diffuses Tageslicht ließ alle Dinge gleichermaßen deutlich erscheinen, als sei die Wahrnehmung von allen Makeln befreit.
Doch der Himmel war schwarz und voller Sterne. Das war seltsam.
Er drehte den Kopf und sah ein paar Schritte entfernt den Wachsoldaten stehen. Den Schatten seines Ichs. Seinen Geist.
Eigentlich hätte er Angst haben müssen. Aber er hatte keine. Auch das war seltsam.
»Du«, brachte er heraus.
Der Wachsoldat — immer noch jung, immer noch in der zerlumpten Uniform — lächelte mitfühlend. »Hallo, Guilford.«
»Hallo.«
Er setzte sich auf. In einem Winkel seines Verstandes nagte das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, ganz und gar falsch war, auf tragische Weise falsch. Doch sein Gedächtnis stellte sich taub. »Ich glaube«, sagte er langsam, »ich bin…«
»Ja. Aber das spielt im Moment keine Rolle.«
Dieser Himmel, ein Himmel voller Sterne, die armweit entfernt waren und knisterten wie elektrische Funken, er gab ihm auch zu denken. »Warum bin ich hier?«
»Um zu reden.«
»Und wenn ich nicht will?«
»Du kannst dir ja die Ohren zuhalten und einen Dixie trällern… Ich würde mir anhören, was ich zu sagen habe.«
»Aus dir sprudelt nichts Erquickliches.«
»Lass uns ein Stück gehen, Guilford.«
»Du gehst zu viel.«
»Beim Gehen denkt sich’s besser«, sagte der Wachsoldat.
Damals im ausgebrannten London, vor einem Vierteljahrhundert, da hatte ihn schon einmal eine so unnatürliche Ruhe beherrscht. Er hätte entsetzt sein müssen: Alles war falsch… schlimmer als falsch, ließ sein Gedächtnis durchblicken. Konnte es sein, dass der Wachsoldat eine emotionale Amnesie über ihn verhängt hatte? Um seine Panik zu ersticken?
Panik wäre befreiend gewesen. Weil sie angebracht war?
»Hier entlang«, sagte der Wachsoldat.
Sie gingen den Pfad hinter dem Haus hinauf, zwischen Gestrüpp und windschiefen Bäumen. Guilford sah sich nach seinem Haus um, das klein und verloren auf der grasbewachsenen Landspitze stand, sah das Meer dahinter, glasflach, ein Spiegelbild des Himmels.
»Bin ich tot?«
»Jein«, sagte der Wachsoldat.
»Geht es ein bisschen klarer?«
»Es kann so oder anders kommen.«
Trotz der unirdischen Ruhe streifte ihn ein Hauch des Grauens. »Und wovon soll das abhängen?«
»Schicksal. Ratschluss. Von dir.«
»Ist das ein Rätsel?«
»Nein. Nur schwer zu erklären.«
Es ging pausenlos bergan. Normalerweise wäre Guilford längst außer Atem gewesen, doch seine Lunge funktionierte besser als sonst — oder die Luft war hier dichter — oder er war so unanfechtbar wie eine Traumfigur. Bald erreichten sie den höchsten Punkt des Hügels. Der Wachsoldat sagte: »Setzen wir uns.«
Sie ließen sich unter einem Moscheebaum nieder, den Rücken an den Stamm gelehnt, so wie Guilford und Nick in manchen Sommernächten dagesessen und die Sterne betrachtet hatten. Die Sterne im Meer und die Sterne am Himmel. Unvorstellbar viele Sterne. Man konnte sie kreisen sehen — nicht um den Polarstern, sondern um einen Punkt direkt über ihnen.
»Diese Sterne«, sagte er, »gibt es sie wirklich?«
»Wirklich ist ein Wort, das mehr bedeutet als du ahnst, Guilford.«
»Aber das ist doch nicht wirklich der Hügel hinter meinem Haus?«
»Nein. Nur ein Fleck zum Ausruhen.«
Dasist sein Territorium, dachte Guilford. DasReich der Geister. »Wie fühlt man sich als Gott?«
»Ich bin kein Gott.«
»Wo ist der Unterschied?«
»Wenn du das elektrische Licht anknipst, bist du deswegen schon ein Gott? Vielleicht in den Augen deiner Vorfahren.«
Guilford blinzelte in das Himmelsgewölbe. »Tolle Glühbirnen.«
»Wir sind im Innern des Archivs«, sagte der Wachsoldat. »Genauer gesagt, wir sind Teil eines logischen Knotens, einer Datenpaketierung, die mit den Betriebsprotokollen der terrestrischen Ontosphäre verbunden ist.«
»Das erklärt alles«, meinte Guilford.
»Tut mir Leid. Was ich meine, ist, wir sind nach wie vor innerhalb des Archivs — wir können es nicht verlassen, noch nicht zumindest —, wir sind jedenfalls nicht auf der Erde.«
»Ich glaube dir aufs Wort.«
»Ich kann dich nicht aus dem Archiv bringen, aber ich kann dir zeigen, wie das Archiv von außen aussieht.«
Guilford war sich nicht sicher, was ihm da angetragen wurde — und das verschüttete Gefühl von Dringlichkeit nagte immer noch an ihm —, doch dann nickte er gottergeben. »Lass sehen.«
Im selben Augenblick begann sich der Himmel zu verändern. Er hörte auf, sich zu drehen. Die Sterne bewegten sich in eine andere Richtung, von Süden nach Norden, der südliche Horizont sank mit schwindelerregender Geschwindigkeit. Guilford hielt den Atem an und seine Hände sprangen unwillkürlich an den Boden, obwohl er keine Bewegung empfand. Vom Meer her wehte nach wie vor ein warmer und sanfter Wind.
»Was sehe ich da?«
»Guck einfach«, sagte der Wachsoldat.
Immer mehr Sterne stiegen aus dem Horizont, unzählige Sterne, und dann zogen sie sich mit atemberaubendem Tempo zurück, verwischten zu Lichtbändern… die Arme, die Scheibe einer Galaxie. Das Sternenlicht stabilisierte sich zu einem gewaltigen, leuchtenden Rad am Himmel.
»Die Ontosphäre des Archivs«, sagte der Wachsoldat leise. »Die Musik.«
Guilford fand keine Worte. Das Band um seinen Brustkorb zog sich zusammen. Es war Ehrfurcht.
Jetzt schmolz die Galaxie zu einer undifferenzierten Kugel aus Licht.
»Die Ontosphäre in vier Dimensionen.«
Und plötzlich verblasste auch dieses Bild. Der Himmel war jetzt eine Unermesslichkeit aus regenbogenfarbenen parallelen Linien auf schwarzem Samt, die sich nach allen Richtungen ins Unendliche erstreckten, bis er nicht mehr hinsehen konnte, bis das Hinsehen ihm den Verstand zu rauben drohte…
»Die Higgs-Struktur des Archivs«, sagte der Wachsoldat, »sichtbar gemacht und vereinfacht.«
Vereinfacht!, dachte Guilford.
Auch dieses Bild verblasste.
Einen Moment lang war der Himmel absolut schwarz.
»Wenn du außerhalb des Archivs wärst«, sagte der Wachsoldat, »würde es so aussehen.«
Das Archiv: eine naht- und fugenlose Kugel aus düster orangefarbenem Licht, die den westlichen Horizont beherrschte und sich im stillen Wasser der Bucht spiegelte.
»Es enthielt alles, was die Galaxie einmal war«, sagte der Wachsoldat leise. »Bis es von den Psionen infiziert wurde. Da drüben, der rote Lichtfleck über den Hügeln, Guilford, das ist alles, was von der ursprünglichen Galaxie noch übrig ist, mit all ihren Sternen und Zivilisationen und Stimmen und Möglichkeiten — ein gigantisches Schwarzes Loch, das ein bisschen leblose Schlacke verschlingt.«
»Schwarzes Loch?«, brachte Guilford heraus.
»Eine Singularität. Materie, so dicht, dass ihr nichts mehr entkommen kann, nicht einmal Licht. Was du siehst ist Sekundärstrahlung.«
Guilford schwieg. Eine tiefe Angst pochte an den Kokon aus Ruhe, der ihn umgab. Wenn das stimmte, was der Wachsoldat ihm erklärt hatte, dann enthielt diese Masse da am Himmel seine ganze Vergangenheit und Zukunft; zerbrechliche, provisorische, verwundbare Zeit. Diese schwelende Schlacke war die Tafel, auf der die Götter Welten geschrieben hatten. Ein Atom am falschen Fleck und Sterne kollidierten.
Und auf dieser Tafel standen auch Lily und Caroline und Abby und Nicholas geschrieben… und Guilford. Er war eine Art Zitat auf Zeit, eine Zahl, die zwischen Null und Eins schwankte.
Seelen wie Kreidestaub, dachte Guilford. Er blickte den Wachsoldaten an. »Was willst du von mir?«
»Hast du es vergessen?«
»Du willst, dass ich in deinen Krieg ziehe. Dass ich Soldat spiele.«
»So merkwürdig das vielleicht klingt, es gibt Dinge in der Ontosphäre, die du bewerkstelligen kannst und ich nicht. Ich brauche deine Hilfe.«
»Meine Hilfe!« Er starrte auf das glanzlose Bild des Archivs. »Ich bin kein Gott! Selbst wenn ich tue, was du willst, was würde das ändern?«
»Nichts, aber du bist nicht der einzige. Es gibt Millionen andere auf Millionen anderen Planeten, und es werden Millionen dazukommen.«
»Da kommt es doch auf mich nicht an.«
»Es kommt genauso gut auf dich an, Guilford, wie auf all die anderen. Es kommt auf dich an, weil es auf jedes Leben ankommt.«
»Dann schaff mich nach Hause, damit ich mich um Abby und Nick kümmern kann.«
Es fehlte ihnen doch nichts, oder? Er schlug sich mit vagen, Besorgnis erregenden Ahnungen herum. Sein Gedächtnis lag in Scherben…
»Das geht nicht«, sagte der Wachsoldat. »Ich bin nicht allmächtig. Du irrst dich, wenn du das glaubst.«
»Was für eine Art Gott bist du dann?«
»Gar kein Gott. Ich hatte sterbliche Eltern, Guilford, genau wie du.«
»Vor einer Million Jahren.«
»Nein, das ist länger her. Aber so, wie du meinst, kann ich die Ontosphäre trotzdem nicht manipulieren. Ich kann nicht deine Vergangenheit überschreiben… und deine Zukunft kannst nur du beeinflussen.« Der Wachsoldat stand vom Boden auf. In seiner Haltung lag eine Würde, die Guilford fremd war. Einen Moment lang schien Guilford durch ihn hindurchsehen zu können — nein, nicht durch ihn hindurch, in ihn hinein — auf etwas, das unter seiner unscheinbaren Oberfläche gleißte, etwas, das so heiß und gewaltig war wie die Sonne.
Das ist kein menschliches Wesen, dachte Guilford. Mag sein, dass es vor undenklichen Zeiten eines gewesen ist, vielleicht ist es sogar einmal Guilford Law gewesen. Doch jetzt ist es etwas anderes. Ein Wesen, das zwischen den Sternen wandelt, wie unsereins durchs hohe Gras.
»Bedenke, was auf dem Spiel steht. Wenn diese Schlacht verloren ist, wird deine Tochter versklavt und deine Enkel werden zu Brutkästen für etwas völlig Seelenloses. Sie werden buchstäblich aufgefressen, Guilford. Das ist ein Tod, von dem es kein Erwachen gibt.«
Nick, dachte Guilford. Etwas war mit Nick. Nick hatte sich hinter dem großen Sofa im Wohnzimmer verschanzt…
»Und wenn alle Schlachten verloren sind«, sagte der Wachsoldat, »dann wird die ganze Vergangenheit, die ganze Zukunft, alles, was dir lieb und teuer war oder hätte werden können, von diesen Heuschrecken vertilgt.«
»Verrat mir eins«, sagte Guilford. »Warum bitte hängt das alles ausgerechnet von mir ab? Ich bin nichts Besonderes — du weißt das, wenn du wirklich bist, wer du sein willst. Such dir doch jemand anderen. Jemand Gescheiteren. Jemanden, der sich nichts draus macht, wenn er zusehen muss, wie seine Kinder alt werden und sterben. Jesus! Ich will doch nichts weiter als leben, so wie Menschen nun mal leben. Mich verlieben, Kinder zeugen, eine Familie haben, die mich anständig unter die Erde bringt…«
»Du stehst mit jedem Fuß in einer anderen Welt. Ein Teil von dir ist nichts anderes als ein Teil von mir, dem Guilford Law, der in Frankreich umgekommen ist. Und ein anderer Teil von dir ist neu: Das ist der Guilford Law, der das Wunder erlebt hat. Nur deshalb ist dieses Gespräch überhaupt möglich.«
Guilford senkte den Kopf. »Was sind denn neunzehn oder zwanzig gemeinsame Jahre von Abermillionen? Das fällt doch gar nicht ins Gewicht.«
»Ich bin ungemein viel älter als du. Aber ich habe nicht vergessen, wie es war, mit dem Gewehr in einem Schlammloch zu liegen. Um mein Leben zu bangen und nach dem Sinn des Ganzen zu fragen, die Kugel zu spüren, den Schmerz, den Tod. Ich verlange nur ungerne von dir, in einen noch scheußlicheren Krieg zu ziehen. Aber die Wahl ist auf uns gefallen.« Er neigte den Kopf. »Ich habe den Feind nicht erfunden.«
Nick hinter dem Sofa. Abby über ihm, ihn beschützend. Rosshaar- und Baumwollflusen und der Geruch von Schießpulver und… und…
Blut.
»Außer Schmerz habe ich dir nichts zu bieten«, sagte der Wachsoldat unerbittlich. »Es tut mir Leid. Wenn du zurückgehst, nimmst du mich mit. Meine Erinnerungen. Bouresches, die Gräben, die Angst.«
»Ich habe einen Wunsch«, sagte Guilford. Der Gram begann zu lodern. »Wenn ich tue, was du willst…«
»Ich habe nichts zu bieten.«
»Möchte ich sterben. Nicht ewig leben. Möchte ich alt werden und sterben wie ein normaler Mensch. Ist das zu viel verlangt?«
Der Wachsoldat schwieg eine Zeit lang.
Turingmaschinen arbeiteten unermüdlich, die zerbröselnden Fundamente des Archivs abzufangen. An unzähligen Fronten rückte Psileben vor, zog sich zurück, um wieder vorzurücken.
Eine zweite Welle an virtuellen Codes wurde in das Archiv geworfen mit dem Ziel, die schwer gepanzerten Taktsequenzen der Psionen zu knacken.
Die Noosphären wollten das Timing der Psionen stören, sie vom Higgs-Taktgeber der Ontosphäre trennen. Der Plan war verwegen, aber nicht ungefährlich; der Feind konnte den Spieß umdrehen.
Das Bewusstsein harrte aus: äußerst geduldig, wenn auch zutiefst besorgt.