»Wenn der Abendhimmel rot ist, dann sagt ihr: ›Morgen gibt es schönes Wetter‹, und wenn der Morgenhimmel rot und verhangen ist, dann sagt ihr: ›Es wird regnen.‹ Ihr könnt also das Aussehen des Himmels beurteilen und schließt daraus, wie das Wetter wird. Warum versteht ihr dann nicht, was die Ereignisse dieser Zeit ankündigen?«
Die Crews der Dampfschiffe, die überlebt hatten, erfanden ihre eigenen Legenden. Große Geschichten, die offenkundig gesponnen waren, und Guilford Law hatte die meisten schon gehört, als die Odense den fünfzehnten Längenkreis passierte.
Ein betrunkener Deck-Steward hatte ihm von der Gegend erzählt, wo sich die beiden Ozeane trafen: der Alte Atlantik von Amerika und der Neue Atlantik von Darwinia. Die Niemandssee, so der Steward, war so flach wie ein Böengürtel und doppelt so tückisch. Die eine See war dickflüssiger als die andere, wie Öl, und Lebewesen, die von der einen in die andere wollten, waren dem Tod geweiht. Folglich wimmelte es in dieser Zone von den Kadavern bekannter und unbekannter Tiere: Delphine, Haie, Finnwale, Blauwale; Aale, Seewalzen, Ölfische, Fahnenfische. Sie trieben auf der Stelle, aufgerissene, milchige Augen, Seite an Seite und Maul an Afterflosse. Das eisige Wasser hatte sie außergewöhnlich gut konserviert, ein düsteres Omen für jedes Schiff, das so unklug war, sich seinen Weg durch das dichte und stinkende Treibgut zu bahnen.
Guilford wusste ganz genau, dass diese Geschichte erfunden war, eine Gruselgeschichte, um Leichtgläubige abzuschrecken. Doch zur richtigen Zeit nahm man solche Geschichten allzu gerne für bare Münze. Kurz vor Sonnenuntergang mitten auf dem Atlantik lehnte er an der fleckigen Reling der Odense. Der Wind blies Gischtfetzen von der wogenden See, doch gen Westen war die Wolkendecke aufgerissen, und die Sonne tastete mit langen Fingern über das Wasser. Irgendwo hinter dem östlichen Horizont lag die Bedrohung und die Verheißung der neuen Welt, das verwandelte Europa, der Wunderkontinent, wie die Zeitungen Darwinia immer noch nannten. Dort mochte es keine Glasfische geben, die den Kiel belagerten, und an allen Gestaden leckte das gleiche Salzwasser, doch Guilford wusste, er überschritt eine wirkliche Grenze, als sein Schwerpunkt aus dem Vertrauten ins Unbekannte driftete.
Er wandte sich ab, die Hände so kalt wie das Messing der Reling. Er war zweiundzwanzig und bis letzten Freitag noch nie zur See gefahren. Zu groß und zu hager, um einen guten Seemann abzugeben, manövrierte Guilford sich nur ungern durch die gefährlich engen Labyrinthe der Odense, die in den Jahren vor dem Wunder einer dänischen Passagier-Linie treue Dienste geleistet hatte. Die meiste Zeit verbrachte er in der Kajüte bei Caroline und Lily oder, wenn die Kälte es zuließ, hier auf Deck. Der fünfzehnte Längenkreis war die äußerste Grenze des großen Kreises, der in den Globus gekerbt war, und dahinter hoffte Guilford einen ersten flüchtigen Eindruck der Wasserfauna von Darwinia zu bekommen. Nicht unzählige tote Aale, ›verschlungen wie das Haar einer Ertrunkenen‹, sondern eher eine Seewalze, die an die Oberfläche kam, um ihre Wasserlungen zu füllen. Er war gespannt auf jeden Vorboten des neuen Kontinents und sei es nur ein Fisch. Wohlwissend, dass seine Ungeduld naiv war, gab er sich alle Mühe, sie vor den anderen Mitgliedern der Expedition zu verbergen.
Unter Deck war es feucht und eng. Guilford und seine Familie hausten in einer winzigen Kajüte mittschiffs; Caroline verließ sie nur selten. Am ersten Tag nach dem Auslaufen aus Boston Harbour war sie seekrank gewesen. Jetzt gehe es ihr besser, beteuerte sie, doch Guilford wusste, dass sie nicht glücklich war. Sie hatte sich nicht für diese Reise erwärmen können, aber unbedingt mitfahren wollen.
Trotzdem, immer wenn er in die Kajüte kam und Caroline sah, schien er sich Hals über Kopf in sie zu verlieben. Sie saß auf der Bettkante, den Rücken gebeugt, und kämmte ihr Haar mit einer Perlmuttbürste, die Bürste folgte immerzu bedächtig dem Schwung ihres Nackens. Die großen Augen waren nur halb offen. Sie sah aus wie ein Prinzessin im Opiumtraum: abwesend, träumend und unausgesetzt traurig. Sie war, dachte Guilford, ganz einfach schön. Er verspürte nicht zum ersten Mal das Verlangen, sie zu photographieren. Kurz vor der Hochzeit hatte er ein Portrait von ihr gemacht, war aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden gewesen. Bei Trockenplatten gingen die Feinheiten des Ausdrucks verloren, die Pracht ihres Haars, sieben Graustufen.
Er setzte sich neben sie und widerstand dem Wunsch, ihre bloßen Schultern über dem Mieder zu berühren. In letzter Zeit schien sie seinen Berührungen eher auszuweichen.
»Du riechst wie das Meer«, sagte sie.
»Wo ist Lily?«
»Sie folgt dem Ruf der Natur.«
Er wollte sie küssen. Sie sah ihn an, dann hielt sie ihm die Wange hin. Die Wange war kühl.
»Wir sollten uns zum Dinner zurechtmachen«, sagte sie.
Finsternis umhüllte das Schiff. Das spärliche elektrische Licht verengte die Korridore zu Fuchsbauten. Guilford brachte Caroline und Lily zu der trübe erhellten Kammer, die als Esszimmer diente, und gesellte sich zu einer Handvoll Wissenschaftler am Tisch des Schiffsarztes, eines korpulenten und trinkfesten Dänen.
Die Naturwissenschaftler diskutierten die Klassifikationslehre. Der Arzt redete über Käse.
»Aber wenn wir ein ganz neues Linnesches System entwickeln…«
»Wie es die Sachlage erfordert!«
»… laufen wir Gefahr, einen Zusammenhang der Abstammung zu suggerieren, die Familienzugehörigkeit zu ansonsten wohldefinierten Spezies…«
»Gjedsar-Käse! Damals gab es Gjedsar-Käse sogar zum Frühstück. Apfelsinen, Schinken, Wurst, Roggenbrot mit Rotem Kaviar. Jede Mahlzeit eine Frokost.[10] Nicht so ein Armutszeugnis wie das hier. Aha!« Der Arzt hatte Guilford erspäht. »Unser Photograph. Und seine Familie. Gnädige Frau! Das kleine Fräulein!«
Die Speisenden erhoben sich und rückten zusammen. Guilford hatte sich mit einigen Naturwissenschaftlern angefreundet, besonders mit dem Botaniker Sullivan. Caroline, obwohl gern gesehen bei Tisch, hatte kaum Zugang zu den Gesprächen. Aber Lily hatte die Runde für sich gewonnen. Lily war kaum vier Jahre alt, doch ihre Mutter hatte ihr die einfachsten Regeln des Anstands beigebracht, und die Wissenschaftler ließen sich durch ihre Neugierde nicht stören… mit einer Ausnahme vielleicht; Preston Finch, der älteste Naturwissenschaftler der Expedition, konnte mit Kindern nichts anfangen. Doch der saß am anderen Ende des langen Tisches und belegte einen Harvard-Geologen mit Beschlag. Lily saß neben ihrer Mutter und faltete methodisch ihre Serviette auseinander. Ihr Näschen guckte gerade mal über die Tischkante.
Der Arzt strahlte — leicht alkoholisiert, wie Guilford feststellte. »Klein Lilian sieht hungrig aus. Magst du ein Schweinekotelett, Lily? Ja? Mager aber essbar. Und Apfelmus?«
Lily nickte und gab sich Mühe, nicht mit den Augen zu plimpern.
»Gut. Gut. Lily, das große Meer haben wir halbwegs hinter uns. Das große Europa winkt. Freust du dich?«
»Ja«, sagte sie artig. »Aber wir fahren nach England. Nur Daddy fährt nach Europa.«
Wie die meisten Leute machte Lily einen Unterschied zwischen England und Europa. Obwohl England von dem Wunder genauso betroffen war wie Deutschland oder Frankreich, hatten die Überlebenden ihre territorialen Ansprüche erfolgreich durchgesetzt, bauten London und die Seehäfen wieder auf und wachten eifersüchtig über ihre Flotte.
Preston Finch wurde hellhörig. Vom Fußende des Tisches blickte er stirnrunzelnd über seinen buschigen Schnauzbart hinweg. »Ihre Tochter trifft da eine falsche Unterscheidung, Mr. Law.«
Die Tischgespräche auf der Odense waren nicht so lebhaft, wie Guilford gedacht hatte. Ein Teil des Problems war Preston Finch, der Verfasser von Appearance and Revelation,[11] dem Urtext Noachitischer Naturwissenschaft noch vor dem Wunder von 1912. Finch war groß, grau, humorlos und strotzte vor Selbstbewusstsein. Sein Leumund war makellos; er hatte zwei Jahre am Colorado und Rouge River zugebracht, um Beweise für eine globale Überschwemmung zu sammeln, und war seit dem Wunder eine treibende Kraft in der Noachitischen Renaissance gewesen. Alle anderen benahmen sich mehr oder weniger wie bekehrte Sünder, bis auf den Botaniker Dr. Sullivan, der älter als Finch und so selbstsicher war, diesen gelegentlich mit einem Zitat von Wallace oder Darwin zu ärgern. Bekehrte Anhänger der Evolutionslehre mit weniger Autorität mussten vorsichtiger sein. Alles lief auf ein angespanntes und verhaltenes Tischgespräch hinaus.
Guilford selbst hörte meist nur zu. Vom Photographen der Expedition erwartete man nicht, dass er wissenschaftliche Meinungen von sich gab, und das war vielleicht gut so.
Der Schiffsarzt bedachte Finch mit einem bösen Blick und bemühte sich um Carolines Aufmerksamkeit. »Haben Sie schon ein Unterkommen in London, Mrs. Law?«
»Lily und ich werden bei Verwandten wohnen«, sagte Caroline.
»Ach was! Der englische Cousin? In London gibt es nur Soldaten, Waldläufer und Ladenbesitzer.«
»Ja, Sie haben Recht. Die Familie führt ein Eisenwarengeschäft.«
»Sie sind eine tapfere Frau. Das Leben im Grenzland…«
»Es ist ja nicht für ewig, Doktor.«
»Während die Männer Snarks jagen!« Etliche Männer sahen ihn fragend an. »Lewis Carroll! Ein Engländer! Wo bleibt Ihre Bildung, Gentlemen?«[12]
Schweigen. Schließlich sagte Finch: »Europäische Schriftsteller werden in Amerika kaum zur Kenntnis genommen, Doktor.«
»Natürlich. Tut mir Leid. Der Mensch vergisst. Wenn er Glück hat.« Der Arzt sah Caroline herausfordernd an. »London war einst die größte Stadt der Welt. Wussten Sie das, Mrs. Law? Nicht so primitiv wie jetzt. Baracken und Abtritte und Morast. Aber ich wünschte, ich könnte Ihnen Kopenhagen zeigen. Das war eine Stadt! Eine so kultivierte Stadt.«
Guilford kannte Menschen wie den Schiffsarzt. Einen fand man in jeder Hafenkneipe in Boston. Entwurzelte Europäer, die grimmige Toasts auf London oder Paris oder Prag oder Berlin ausbrachten und einen Club suchten, dem sie beitreten konnten, irgendeinen Heimatverein, ein Plätzchen, wo ihre Sprache gesprochen wurde, als sei sie nicht schon tot oder zum Tode verurteilt.
Caroline aß still vor sich hin, und selbst Lily war merkwürdig ruhig, der ganze Tisch gewahrte, dass man die Mitte überschritten hatte und den bedrohlichen Rätseln mit einem Mal näher war als den grauen Gewissheiten von Washington oder New York. Nur Finch schien ungerührt und diskutierte hitzig die Bedeutung von Hornfeuerstein mit jedem, der es hören wollte.
Guilford war ihm zum ersten Mal in den Büros von Atticus and Pierce begegnet, einem Bostoner Lehrbuchverlag. Liam Pierce hatte sie miteinander bekannt gemacht. Im Jahr zuvor war Guilford im Westen unterwegs gewesen, und zwar mit Walcott, dem offiziellen Photographen für die Landvermessungen am Gallatin River und Deep Creek Canyon. Finch war dabei, eine Expedition zu organisieren, um das Hinterland des südlichen Europas kartographisch zu erfassen, und er hatte gut betuchte Hintermänner und die Unterstützung des Smithsonian Instituts. Er suchte noch einen erfahrenen Photographen. Guilford erfüllte die Bedingungen, weshalb Pierce ihn wahrscheinlich mit Finch bekannt gemacht hatte; vielleicht hing es aber auch damit zusammen, dass Pierce zufällig Carolines Onkel war.
Tatsächlich wurde Guilford den Verdacht nicht los, Pierce habe ihn lediglich ein weiteres Mal loswerden wollen. Der erfolgreiche Verleger und sein angeheirateter Neffe waren nicht immer einer Meinung, auch wenn jeder von ihnen Caroline ins Herz geschlossen hatte. Nichtsdestoweniger war Guilford den Umständen dankbar, mit Finch in die neue Welt zu dürfen. Die Bezahlung war verhältnismäßig gut, und die Arbeit würde ihn bekannt machen. Der Kontinent faszinierte ihn nun mal. Er hatte nicht bloß die Berichte der Donnegan-Expedition gelesen (1918, am Rand der Pyrenäen entlang, von Bordeaux nach Perpignan), sondern (was er für sich behielt) auch die ganzen Geschichten über Darwinia in den Abenteuermagazinen Argosy und All-Story Weekly, besonders die von Edgar Rice Burroughs.
Womit Pierce nicht gerechnet hatte, war Carolines Hartnäckigkeit. Sie wollte kein zweites Mal mit Lily allein bleiben, auch nicht für ein, zwei Monate, egal wie viel es kostete und egal wie oft ihr ein Dienstmädchen versprochen wurde. Nicht dass Guilford sie besonders gern allein gelassen hätte, aber die Expedition war der Angelpunkt seiner Karriere, womöglich der Unterschied zwischen Armut und Sorglosigkeit. Doch Caroline lenkte nicht ein. Sie drohte, ihn zu verlassen (obwohl das ein Widerspruch war). Guilford ging ruhig und geduldig auf all ihre Einwände ein und sie gab nicht einen Zoll nach.
Schließlich stimmte sie einem Kompromiss zu, demzufolge Pierce ihr die Reise nach London bezahlte, wo sie mit Lily im Schoß der Familie blieb, derweil Guilford seine Reise fortsetzte. Zur Zeit des Wunders waren ihre Eltern zu Besuch in London gewesen und sie wollte unbedingt sehen, wo sie gestorben waren.
Selbstverständlich war es verpönt zu sagen, das Wunder habe jemanden umgebracht: Die Menschen waren ›heimgeholt‹ worden, oder sie waren ›heimgegangen‹, als seien sie von einem Augenblick auf den anderen in die Ewige Glückseligkeit entrückt worden. Wer weiß, dachte Guilford. Vielleicht war es ihnen tatsächlich so ergangen. Fest stand, dass etliche Millionen Menschen einfach von der Bildfläche verschwunden waren, zusammen mit ihren Gehöften und Städten und ihrer Flora und Fauna, und Caroline fand nichts Versöhnliches an dem Wunder; sie fand es grausam.
Es war schon ein komisches Gefühl, der Einzige an Bord der Odense zu sein, der Frau und Kind im Schlepptau hatte; aber bisher hatte es keine Anspielungen gegeben und Lily hatte schon ein paar Herzen erobert. Warum war er nicht einfach glücklich?
Nach dem Dinner ging man auseinander: Der Schiffsarzt verdrückte sich, um einem Flachmann mit kanadischem Roggenwhisky zuzusprechen, die Wissenschaftler trieb es in den Rauchersalon, um über zerschlissenen Filztischen Karten zu spielen, Guilford suchte seine Kajüte auf, um Lily ein Kapitel aus einem guten amerikanischen Märchen vorzulesen, The Land of Oz. Die Oz-Bücher waren allgegenwärtig, seit die Gebrüder Grimm und Andersen in Ungnade gefallen waren, weil sie den Nachgeschmack von Old Europe hatten. Lily hatte gottlob keine Ahnung, dass Bücher etwas mit Politik zu tun hatten. Sie liebte Dorothy ganz einfach. Inzwischen hatte auch Guilford das Mädchen aus Kansas liebgewonnen.
Schließlich legte Lily den Kopf zurück und machte die Augen zu. Während er zusah, wie sie schlief, bekam Guilford plötzlich Gewissensbisse. Es war schon komisch, wie das Leben alles durcheinanderbrachte. Wie kam er nur dazu, an Bord eines Dampfschiffes zu sein, das nach Europa fuhr? Vielleicht hatte er sich doch nicht richtig entschieden.
Aber es gab kein Zurück mehr.
Er breitete die Decke über Lilys Koje, drehte das Licht aus und legte sich zu Caroline ins Bett. Caroline schlief, ihr Rücken ein einziger Bogen menschlicher Wärme. Er kuschelte sich an und ließ sich vom Wummern der Maschinen einlullen.
Kurz nach Sonnenaufgang wachte er unruhig auf; zog sich an und schlüpfte aus der Kajüte, ohne seine Frau oder Lily zu wecken.
Die Luft an Deck war rau, der Morgenhimmel blau wie Porzellan. Nur ein paar hohe Wolkenkritzel am östlichen Horizont. Guilford lehnte sich in den Wind und dachte an nichts Besonderes, als ein junger Offizier zu ihm an die Reling kam. Der Seemann verriet weder Rang noch Namen, er lächelte bloß, die beiläufige Kameraderie zwischen zwei Männern, die sich in bitterkalter Frühe begegneten.
Sie starrten in den Himmel. Nach einer Weile wandte der Seemann den Kopf und sagte: »Es ist nicht mehr weit. Der Wind trägt den Geruch.«
Guilford zog eine krause Stirn und erwartete die nächste große Geschichte. »Welchen Geruch?«
Der Seemann war Amerikaner; die träge Aussprache erzählte vom Mississippi. »Ein bisschen wie Zimt. Ein bisschen wie Wintergrün. Ein bisschen wie etwas, das man noch nie gerochen hat. Wie ein staubiges altes Gewürz aus einer Gegend, in die noch kein Weißer den Fuß gesetzt hat. Man riecht es besser, wenn man die Augen schließt.«
Guilford schloss die Augen. Er gewahrte die eisige Kälte der Luft, als er sie in die Nase sog. Ein kleines Wunder, wenn man bei dem Wind überhaupt etwas roch. Und dennoch…
Gewürznelke, fragte er sich. Kardamom? Weihrauch?
»Was ist das?«
»Die neue Welt, mein Lieber. Jeder Baum, jeder Fluss, jeder Berg, jedes Tal. Der ganze Kontinent reist mit dem Wind über den Ozean. Riechen Sie ihn?«
Guilford glaubte ihn zu riechen.
Eleanor Sanders-Moss entsprach genau den Erwartungen von Elias Vale: eine dralle Aristokratin aus dem Süden, die die besten Jahre hinter sich hatte, Wirbelsäule kerzengrade, Kinn hoch, der Regen troff vom seidenen Schirm, Würde besiedelte die Ruinen der Jugend. Sie stieg aus einem Hansom,[13] der am Rinnstein stand: Offenbar war die Renaissance des Automobils an Mrs. Sanders-Moss vorübergegangen. Die Jahre waren es nicht. Sie litt an Krähenfüßchen und Argwohn. Die Falten waren nicht mehr zu vertuschen; den Argwohn zu verbergen, war sie sichtlich bemüht.
Sie sagte: »Elias Vale?«
Er lächelte, erwiderte ihre Reserviertheit, focht um einen Vorteil. Jede Pause eine Waffe. Darin war er gut. »Mrs. Sanders-Moss«, sagte er. »Treten Sie bitte ein.«
Sie trat in den Türrahmen, schloss den Schirm und ließ ihn ohne Umschweife in den hohlen Elefantenfuß fallen. Sie blinzelte, als er die Tür schloss. Vale bevorzugte gedämpftes Licht. An trüben Tagen wie heute stellte sich das Auge nur träge um. Das war gefährlich für die Navigation, doch die Atmosphäre zählte: Er betrieb schließlich das Geschäft des Unsichtbaren.
Und die Atmosphäre tat ihre Wirkung bei Mrs. Sanders-Moss. Vale versuchte, sich die Szene aus ihrer Perspektive vorzustellen, den verblassten Glanz dieses gemieteten Reihenhauses auf der falschen Seite des Potomac. Regale mit viktorianischen Bronzen: griechische Ringkämpfer, Romulus und Remus nuckelten an den Zitzen einer Wölfin. Japanische Drucke, die sich im Schatten versteckten. Und Vale selbst, vorzeitig weißes Haar (zweifellos ein Pluspunkt), korpulent, das Jackett mit Samt besetzt, unscheinbares Gesicht aufgewogen durch lebhafte und scharfe Augen. Grüne Augen. Er war ein Glückskind: Haar und Augen waren überzeugend, stellte er immer wieder fest.
Er wob ein Gespinst aus Schweigen. Mrs. Sanders-Moss wurde nervös und sagte schließlich: »Wir haben einen Termin…?«
»Natürlich.«
»Mrs. Fowler hat Sie…«
»Ich weiß. Bitte kommen Sie in mein Studio.«
Er lächelte wieder. Was sie wollten, diese Frauen, war jemand Outriertes, Unirdisches… ein Monster, aber ihr Monster; ein domestiziertes Monster, aber nicht handzahm. Er führte Mrs. Sanders-Moss durch Samtvorhänge in ein kleineres Zimmer, in dem ringsherum Bücher standen. Die Bücher waren alt, schwer und imposant, es sei denn, man machte sich die Mühe, die verblasste Goldprägung auf dem abgewetzten Rücken zu entziffern: Sammlungen von Predigten aus dem neunzehnten Jahrhundert, die Vale auf der Versteigerung einer Farm erstanden hatte, für ein paar Pfennige. Das Arkanum[14] schlechthin, wie die Leute glaubten.
Er dirigierte Mrs. Sanders-Moss in einen Lehnstuhl und nahm hinter der polierten Tischplatte Platz. Sie sollte nicht merken, dass er auch nervös war. Mrs. Sanders-Moss war keine gewöhnliche Klientin. Sie war die Beute, an die er sich seit mehr als einem Jahr herangepirscht hatte. Sie hatte gute Beziehungen. Auf ihrem Landsitz in Virginia unterhielt sie einen monatlichen Salon, zu dem viele intellektuelle Leuchten der Stadt kamen — zusammen mit ihren Frauen.
Er wollte unbedingt Eindruck schinden.
Sie faltete die Hände im Schoß und fixierte ihn mit ernstem Blick. »Mrs. Fowler hat Sie mir wärmstens empfohlen, Mr. Vale.«
»Doktor«, stellte er richtig.
»Dr. Vale.« Sie war immer noch argwöhnisch. »Ich bin keine leichtgläubige Frau. Normalerweise konsultiere ich keine Spiritisten. Aber Mrs. Fowler war sehr beeindruckt von ihren Auslegungen.«
»Ich lege nicht aus, Mrs. Sanders-Moss. Hier gibt es keine Teeblätter. Ich will ihre Hand gar nicht sehen. Keine Kristallkugel. Keine Tarotkarten.«
»Ich wollte Sie nicht…«
»Ich bin nicht gekränkt.«
»Nun, sie hält viel von Ihnen. Mrs. Fowler, meine ich.«
»Ich erinnere mich an die Lady.«
»Was Sie ihr über ihren Gatten gesagt haben…«
»Freut mich, dass es ihr gefallen hat. Und Sie? Was führt Sie zu mir?«
Sie legte die Hände in den Schoß. Selbstbeherrschung vielleicht, der Drang wegzulaufen.
»Ich habe etwas verloren«, flüsterte sie.
Er wartete.
»Eine Haarlocke…«
»Von wem?«
Die Würde schmolz dahin. Jetzt das Geständnis. »Von meiner Tochter. Meiner ersten Tochter. Emily. Sie starb mit zwei Jahren. Diphtherie, wissen Sie. Sie war ein vollkommenes kleines Mädchen. Als sie krank war, nahm ich ihr die Locke ab und verwahrte sie mit anderen Dingen. Eine Rassel, das Taufkleidchen…«
»Alles weg?«
»Ja! Aber die Locke… das ist wohl am schlimmsten. Die Locke ist doch alles, was ich von Emily noch habe.«
»Und ich soll Ihnen helfen, die Sachen zu finden?«
»Wenn es Ihnen nicht zu trivial ist.«
Er gab seiner Stimme einen weichen Klang. »Ich finde das überhaupt nicht trivial.«
Ihr Blick verriet überschwängliche Erleichterung: Sie hatte sich eine Blöße gegeben, und er hatte nichts getan, um sie zu verletzen; er hatte sie verstanden. Es ist immer das gleiche Spiel, dachte Vale, dieser Ringelreigen von Scham und Erlösung. Ob es Ärzten, die Geschlechtskrankheiten behandelten, auch so erging?
»Können Sie mir denn helfen?«
»Offengestanden, ich weiß es nicht. Ich kann es versuchen. Aber Sie müssen mir helfen. Nehmen Sie meine Hand?«
Mrs. Sanders-Moss langte vorsichtig über den Tisch. Ihre Hand war schmal und kühl, und er umschloss sie mit seinem breiteren, festeren Griff.
Ihre Blicke begegneten sich.
»Sollten Sie etwas sehen oder hören, erschrecken Sie nicht.«
»Sprachrohre etwa?«
»Nichts Vulgäres. Wir sind nicht auf dem Jahrmarkt.«
»Ich wollte Sie nicht…«
»Schon gut. Und vergessen Sie nicht, Sie müssen Geduld haben. Die Verbindung mit der anderen Welt braucht ihre Zeit.«
»Ich habe keine weiteren Termine, Mr. Vale.«
Jetzt waren die Vorbereitungen getroffen und er brauchte sich nur noch zu konzentrieren und zu warten, dass aus seinem tiefsten Inneren die Gottheit stieg — aus dem, was die indischen Mystiker die ›niederen Chakras‹ nannten. Er tat es nicht eben gerne. Es war immer wieder eine schmerzliche, demütigende Erfahrung.
Alles hatte seinen Preis, dachte Vale.
Die Gottheit: Er allein konnte sie sprechen hören (es sei denn, er verlieh ihr seine eigene, rein körperliche Stimme); und wenn die Gottheit sprach, konnte er nichts anderes hören. Zum ersten Mal hatte er sie im August 1914 gehört.
Vor dem Wunder hatte er sein Brot mit einer Wanderschau verdient. Vale und zwei Partner befuhren mit einer mumifizierten Leiche das Hinterland — einer Leiche, die sie an der Hintertür einer Leichenhalle in Racine erstanden hatten und als den Leichnam von John Wilkes Booth[15] ausgaben. Das beste Geschäft machten sie in diesen gottverlassenen Nestern, in die nie ein Zirkus kam, abseits der Eisenbahn, wo es meilenweit nichts als Baumwolle, Weizen oder Kentucky-Hanf gab. Vale war zufrieden, er war der Anpreiser und Scharfmacher. Seine Stärke war das Wort. Doch das Wunder machte kurzen Prozess mit einem Gewerbe, das ohnehin in den letzten Zügen lag. Die ländlichen Einkommen stürzten ab; und wer noch ein bisschen Taschengeld hatte, wollte sich nicht von seinen Pennies trennen, nur um einen Blick auf den ledrigen Leichnam eines Attentäters zu werfen. Der Bürgerkrieg war die Apokalypse einer anderen Generation. Die jetzige hatte ihre eigene. Vales Partner setzten Mr. Booth in einem Kornfeld in Iowa aus.
In der sengenden Augusthitze jenes Jahres war Vale selbständig und pilgerte mit einem abgewetzten Musterkoffer voller Bibeln von Haus zu Haus; nicht selten reiste er im geschlossenen Güterwaggon. Zweimal wurde er von Räubern attackiert. Er hatte sich gewehrt, konnte seine Bibeln retten, büßte aber seinen Vorrat an sauberen Stehkragen ein und einseitig einen Teil seiner Sehkraft; das Grün der Iris trübte ein, nur leicht, aber endgültig (aber auch das zahlte sich aus).
Seine Füße hatten an jenem Tag schon eine Menge hinter sich. Es war ein heißer Ohio-Valley-Tag. Die Luft war feucht, der Himmel weiß getüncht, das Geschäft flau. Im Olympia Diner (in irgendeiner namenlosen Stadt, wo der Fluss sich wie träger Rauch nach Westen schlängelt), da behauptete die Kellnerin, sie höre es donnern. Vale gab sein letztes Geld für ein Chicken-and-Gravy Sandwich aus und machte sich auf die Suche nach einem Plätzchen für die Nacht.
Nach Sonnenuntergang fand er am Rand der Stadt eine verlassene Ziegelei. Die Luft in dem riesigen Gebäude war stickig und feucht, es roch nach Moder und Maschinenöl. Die Dunkelheit machte aus herrenlosen Brennöfen schuppige Götzenbilder. Ganz oben im Strebwerk, wo er sich sicher wähnte, richtete er sich ein, zerrte eine fleckige Matratze von der Müllhalde und legte sich schlafen. Doch er fand keinen Schlaf. Obwohl ein Nachtwind durch die leeren Rahmen der Fabrikfenster strich, blieb die Luft stickig und heiß. Später, viel später, setzte Regen ein. Er lauschte dem Rinnen und Tröpfeln aus unzähligen Rissen und Spalten, das sich am schmutzstarrenden Boden sammelte. Erosion, dachte er, die Löcher in Eisen und Stein bohrt.
Vielleicht eine Stunde nach Mitternacht meldete sich unversehens die Stimme — noch nicht die eigentliche Stimme, aber ihre Bugwelle, wie Donnerrollen.
Sie fesselte ihn ans Lager. Er konnte sich buchstäblich nicht rühren. Als ob ihn ein gewaltiges Gewicht niederdrücke, aber das Gewicht war elektrisch, durchpulste ihn, sprühte Funken aus seinen Fingerspitzen. Er fragte sich, ob ihn ein Blitz getroffen hatte. Musste er jetzt sterben?
Dann sprach die Stimme, und sie sprach keine Worte, sondern Bedeutungen oder Sinn; die entsprechenden Worte, so er sie versuchsweise absteckte, blieben eine farblose Annäherung. Sie weiß, wer ich bin, dachte Vale.
Sie nennt mich nicht mit Namen, aber sie weiß, für wen ich mich insgeheim halte.
Die Elektrizität klappte ihm die Lider auf. Unfreiwillig und voller Furcht sah er die Gottheit über sich stehen. Die Gottheit war monströs. Sie war hässlich, uralt, der insektenartige Leib von durchscheinendem Grün, der Regen troff durch sie hindurch. Die Gottheit stank, der Geruch erinnerte an eine Mischung aus Farbverdünner und Kreosot.
Wie sollte er zusammenfassen, was er in jener Nacht erfahren hatte? Es war unbeschreiblich, unsäglich; er konnte sich kaum überwinden, es mit Sprache zu besudeln.
Dennoch, wenn es denn sein musste, würde er vielleicht sagen:
Ich erfuhr, dass mein Leben einen Zweck hat.
Ich erfuhr, dass ich eine Bestimmung habe.
Ich erfuhr, dass ich auserwählt bin.
Ich erfuhr, dass es mehrere Gottheiten gibt und dass sie mich kennen.
Ich erfuhr, dass es eine Welt unter der Welt gibt.
Ich erfuhr, dass ich mächtige Freunde habe.
Ich erfuhr, dass ich Geduld haben muss.
Ich erfuhr, dass ich für meine Geduld belohnt werde.
Und ich erfuhr — dies vor allem — dass ich vielleicht nicht zu sterben brauche.
»Sie haben ein Dienstmädchen«, sagte Vale. »Eine Negerin.«
Mrs. Sanders-Moss saß kerzengerade, die Augen geweitet, wie ein Schulmädchen, das von einem autoritären Lehrer aufgerufen wird. »Ja. Olivia… sie heißt Olivia.«
Er wusste nicht, dass oder was er sprach. Er hatte sich einer anderen unsichtbaren Existenz ausgeliefert. Ihm kam die gummiartige Peristaltik von Lippen und Zunge wie etwas Fremdes und Abstoßendes vor, als sei ihm eine Nacktschnecke in den Mund gekrochen.
»Sie ist schon lange bei Ihnen — diese Olivia.«
»Ja; sehr lange schon.«
»Sie war schon bei Ihnen, als Ihre Tochter geboren wurde.«
»Ja.«
»Und sie hat sich um das Mädchen gekümmert.«
»Ja.«
»Und geweint, als das Mädchen starb.«
»Wir haben alle geweint. Alle.«
»Aber Olivia hegte tiefere Gefühle.«
»Wirklich?«
»Sie kennt das Kästchen. Die Haarlocke, das Taufkleidchen.«
»Ganz bestimmt. Aber…«
»Sie haben es unter Ihrem Bett verwahrt.«
»Ja!«
»Olivia macht sauber unter dem Bett. Sie merkt, ob Sie das Kästchen geöffnet haben. Sie erkennt es an den Spuren in der Staubschicht. Sie achtet auf Staub.«
»Schon möglich, aber…«
»Sie haben das Kästchen schon lange nicht mehr berührt. Es ist über ein Jahr her.«
Mrs. Sanders-Moss schlug den Blick nieder. »Aber ich habe an Emily gedacht. Ich habe sie nicht vergessen.«
»Für Olivia ist dieses Kästchen wie ein Schrein. Sie verehrt es. Sie macht es auf, wenn Sie nicht da sind. Sie passt auf, dass der Staub sie nicht verrät. Sie betrachtet es als ihr Eigentum.«
»Olivia…«
»Sie findet, dass Sie Emily vernachlässigen.«
»Das ist nicht wahr!«
»Aber sie glaubt das.«
»Olivia hat das Kästchen an sich genommen?«
»Kein Diebstahl, so wie sie es sieht.«
»Bitte — Dr. Vale — wo ist das Kästchen? Ist es in Sicherheit?«
»Ganz und gar.«
»Wo?«
»Im Zimmer des Mädchens, hinter einem Schrank.« (Einen Moment lang sah Vale es vor seinem geistigen Auge, das hölzerne Kästchen sah aus wie ein winziger in uralte Leinenwäsche gewickelter Sarg. Vale roch Kampfer und Staub und einsamen Schmerz.)
»Ich habe ihr vertraut!«
»Sie hat Emily geliebt, Mrs. Sanders-Moss. Sehr sogar.« Vale holte tief und stockend Luft; kam allmählich wieder zu sich, die Gottheit zog sich in die Welt unter der Welt zurück. Die Erleichterung war köstlich. »Holen Sie sich, was Ihnen gehört. Aber seien Sie bitte nicht zu streng zu ihr.«
Mrs. Sanders-Moss blickte ihn an, ihre Miene zeugte von einer erfreulichen Portion Ehrfurcht.
Sie dankte ihm überschwänglich. Ein Honorar wies er zurück. Ihr zögerndes Lächeln und ihre in den Grundfesten erschütterte Haltung waren ermutigend und wirklich sehr vielversprechend. Aber man wusste natürlich nie…
Als sie samt ihrem Schirm gegangen war, öffnete er eine Flasche Brandy und zog sich damit ins Obergeschoss zurück. Der Regen prasselte ans überfrorene Fenster, die Gaslampen waren voll aufgedreht und das einzige Buch im Zimmer war ein ramponierter Schundroman, His Mistress’ Petticoat.
Seiner äußeren Erscheinung war kaum anzumerken, was die Manifestation der Gottheit in ihm angerichtet hatte. Innerlich war er erschöpft, beinahe verletzt. Es tat nicht wirklich weh, aber er war wund — bis in die Finger- und Zehenspitzen. Die Augen brannten. Der Alkohol half, doch es würde morgen früh werden, ehe er wieder ganz er selbst war.
Wenn er Glück hatte, konnte der Brandy die Träume besänftigen, die einer Manifestation folgten. Diese Träume versetzten ihn unausweichlich in eine kalte Wildnis, eine grenzenlose, graue Wüste, und wenn er aus unangebrachter Neugier oder einfach nur aus Langeweile irgendeinen Stein aufhob, dann war darunter ein Loch, aus dem zahllose Insekten einer unbekannten, scheußlichen Art quollen, vielbeinig, mit Beißwerkzeugen bewaffnet, giftig, und seinen Arm hinaufschwärmten, um in seinen Schädel einzudringen.
Er war kein religiöser Mensch. Er hatte nie an Geister geglaubt, an Tischrücken, Astrologie oder die Wiederauferstehung Christi. Er war sich nicht sicher, ob er jetzt an so etwas glaubte. Alles woran er glaubte, hatte mit dieser einen Gottheit zu tun, die ihn mit solch schrecklicher, unwiderstehlicher Intimität berührt hatte.
Er hatte das Zeug zum Gauner und hatte gewiss nichts gegen einen profitablen Diebstahl, doch im Falle von Mrs. Sanders-Moss, nur um ein Beispiel zu nennen, war nichts dergleichen im Spiel gewesen; sie war ein Mysterium für ihn, ebenso Olivia, das Dienstmädchen, und das Memento mori in der Schuhschachtel. Solche Prophezeiungen überrumpelten ihn. Die Worte, nicht seine eigenen, waren ihm von den Lippen gefallen wie reife Früchte von einem Baum.
Wohlgemerkt, diese Worte leisteten ihm gute Dienste. Doch sie dienten noch einem anderen Zweck.
Diebstahl wäre unendlich viel leichter gewesen.
Doch er genehmigte sich noch ein Glas Brandy und tröstete sich: Der Weg zur Unsterblichkeit ist kein Zuckerschlecken.
Eine Woche verstrich. Er machte sich schon Sorge.
Dann ein Briefchen mit der Nachmittagspost.
Dr. Vale
Die Kostbarkeiten sind wieder da. Ich bin Ihnen grenzenlos dankbar.
Für kommenden Donnerstag um sechs Uhr lade ich Gäste zum Dinner und Gesprächskreis ein. Sollten Sie es einrichten können, wären Sie ein äußerst gern gesehener Gast.
u.A.w.g.
Sie hatte mit Eleanor unterzeichnet.
Die Odense ging im provisorischen Hafen der sumpfigen Themsemündung vor Anker, einem Irrgarten aus Kohlenschiffen, Öltankern, Frachtern und Segelschiffen, die von den Außenposten des Empire kamen. Guilford Law, seine Familie, die ganze Finch-Expedition mit ihren Bussolen, Alhidaden, ihrer Trockennahrung und allem Drum und Dran mussten auf die Fähre, die themseauf nach London fuhr. Guilford überwachte höchstpersönlich das Verladen seiner photographischen Ausrüstung — die 8“ 0“-Glasplatten, die Kamera, die Objektive und das Stativ, alles sorgsam in Kisten verpackt.
Die Fähre war ein kaltes und lärmendes, aber mit großzügigen Fenstern ausgestattetes Dampfschiff. Caroline tröstete Lily, die die harten Holzbänke nicht leiden konnte, derweil Guilford sich ganz dem vorüberziehenden Ufer widmete.
Er sah die neue Welt zum ersten Mal mit eigenen Augen. Die Themsemündung und London waren die einzigen dicht besiedelten Territorien des Kontinents: die bekanntesten und meist gesehenen, oft photographiert, aber immer noch wild — beinah arrogant, dachte Guilford. Das Ufer war eine Wand aus fremder Vegetation, Flötenbäume und Ried verschwammen im Dämmer des kühlen Nachmittags. Die Fremdheit glühte wie ein Stück Kohle in Guilford. Nach allem, was er gelesen und geträumt hatte, war diese unmögliche Wirklichkeit nun zum Greifen nahe; das war keine Illustration in einem Buch, sondern ein lebendiges Mosaik aus Licht und Schatten und Wind. Der Fluss war grün von falschem Lotos, Kolonien gewölbter Schwimmblätter, die im Wasser trieben: eine Gefahr für die Schifffahrt, wie er gehört hatte, vor allem im Sommer, wenn die Blüten in dichten Schwärmen von den Cotswold Hills kamen und die Schrauben der Dampfschiffe abwürgten. Auf dem verglasten Promenadendeck erhaschte er einen flüchtigen Blick auf John Sullivan. Sullivan war 1918 in Europa gewesen und hatte Sammlungen im Rhein-Delta veranstaltet, eine Strapaze, von der er sich offenbar gut erholt hatte; die Augen des Botanikers verrieten eine derart scharfe Beobachtungsgabe, dass eine Unterhaltung mit ihm undenkbar erschien.
Nicht lange, und das Ufer trug die Handschrift des Menschen: improvisierte Hütten, eine verlassene Farm, eine schwelende Müllgrube und schließlich die Ausläufer des Londoner Hafens. Jetzt interessierte sich auch Caroline.
Die Stadt war ein buntes Durcheinander am Nordufer des Flusses. Von Lord Kitchener aus den Kolonien abberufene Soldaten und königstreue Freiwillige hatten sie in die Wildnis hineingeschnitten, und sie erinnerte nicht einmal entfernt an das London eines Christopher Wren: Für Guilford sah sie wie jede andere qualmende Grenzstadt aus, eine Ansammlung von Sägewerken, Hotels, Docks und Lagerhäusern. Er erkannte die Silhouette des einzigen berühmten Monuments der Stadt, eine Säule aus südafrikanischem Marmor, errichtet zur Erinnerung an die Verluste von 1912. Das Wunder war nicht eben freundlich zu den Menschen gewesen. Es hatte Fels durch Fels ersetzt, Pflanzen durch fremdere Pflanzen und Tiere durch entfernt ähnliche Geschöpfe — doch von der menschlichen Bevölkerung oder sonst einer höheren Spezies fehlte bis jetzt jede Spur.
Höher als die Gedächtnissäule waren die baggernden und bauenden Eisenkräne in den Hafenanlagen. Dahinter, das Imposanteste von allem, thronte auf dem ursprünglichen Ludgate Hill das Skelett der neuen St. Paul’s Cathedral. Es führte keine Brücke über die Themse, aber es gab Pläne, eine zu bauen; etliche Fähren besorgten den Transfer.
Lily zupfte an seinem Ärmel. »Daddy«, sagte sie feierlich. »Ein Monster.«
»Wie meinst du?«
»Ein Monster! Guck!«
Seine Tochter hatte die Augen aufgerissen und zeigte links vom Bug weg, flussaufwärts.
Als Guilford ihr den Namen des Monsters erklärte, schlug sein Herz schneller: Schlammschlange sagten die Siedler dazu, auch Flussschlange. Caroline umklammerte den anderen Arm, als das Geplapper an Deck versiegte. Die Schlammschlange hob den Kopf über den Bug; sie tat das auf eine verblüffend graziöse Weise — immerhin hatte der Schädel die Form eines stumpfen Keils von der Größe eines Kindersargs und saß auf einem zwanzig Fuß langen Hals. Guilford wusste, die Kreatur war harmlos — friedlich, buchstäblich ein Lotosesser —, aber sie war furchterregend groß.
Unter Wasser hatte sie sich im Schlamm verankert. Die Beine der Schlammschlange waren knochenlose, knorpelige Sporne, mit denen sie sich gegen die Strömung stemmte. Die Haut war ölig weiß, stellenweise algengrün gesprenkelt. Die Kreatur schien fasziniert von der Geschäftigkeit am Ufer. Sie richtete ihre gegenständigen Augen nacheinander auf die Kräne im Hafen, blinzelte und öffnete stumm das Maul. Dann erspähte sie eine treibende Lotosinsel und schöpfte das Grün mit einer einzigen geschickten Bewegung ab und tauchte wieder in die Themse.
Caroline barg den Kopf an Guilfords Schulter. »Gott steh uns bei«, sagte sie leise. »Hier ist die Hölle.«
Lily wollte wissen, ob das stimmte. Guilford versicherte ihr, dass dem nicht so sei; hier sei lediglich London, das neue London in der neuen Welt — obwohl der Vergleich angesichts des feurigen Sonnenuntergangs, des rasselnden Hafens und des Flussmonsters und allem anderen nicht ganz von der Hand zu weisen war.
Stevedores übernahm das Entladen der Fähre. Finch, Sullivan und der Rest der Expedition stiegen beim Imperial ab, dem größten Londoner Hotel. Guilford blickte wehmütig auf die bleigefassten Fenster und die schmiedeeisernen Balkone des Gebäudes, als er mit Caroline und Lily aus dem Hafen fuhr. Sie hatten sich ein Londoner Taxi genommen, im Grunde ein Pferdekarren mit Tuchverdeck und schlechter Federung; sie fuhren zu Carolines Onkel, Jered Pierce. Ihr Gepäck würde morgen früh folgen.
Menschen lärmten durch die dämmrigen Straßen, dazwischen war ein Lampenanzünder unterwegs. Vom legendären englischen Benehmen war nicht viel geblieben, dachte Guilford, wenn denn dieser Mob von Seeleuten und lauten Frauenzimmern überhaupt typisch war für London.
Aber London war schlicht und einfach eine Grenzstadt, seine Bevölkerung eine Auslese der raueren Elemente der Königlichen Flotte. Kohle und Öl mochten knapp sein, aber die Schnapsbuden schienen ein glänzendes Geschäft zu machen.
Lily legte den Kopf auf Guilfords Schoß und schloss die Augen. Caroline war hellwach. Sie nahm Guilfords Hand und drückte sie. »Liam sagt, es wären gute Leute, aber ich hab sie noch nie gesehen.« Sie meinte ihre Tante und ihren Onkel.
»Sie gehören zur Familie, Caroline. Sie sind bestimmt nett.«
Der Pierce-Laden lag in einer hell erleuchteten Marktstraße, wirkte aber so improvisiert und klapprig wie alles in der Stadt. Carolines Onkel Jered stürmte aus der Tür und umarmte seine Nichte, schüttelte Guilford kräftig die Hand, schnappte sich Lily und begutachtete sie wie einen besonders erfreulichen Mehlsack. Dann lud er die drei ins Haus und brachte sie eine Eisentreppe hinauf in die Wohnung über dem Laden. Die Zimmer waren klein und spärlich möbliert, doch ein Holzofen machte es heimelig warm und die Umarmungen von Jereds Frau Alice taten ein Übriges. Guilford lächelte und überließ Caroline das Wort. Jetzt, wo er endlich festen Boden unter den Füßen hatte, meldete sich die Erschöpfung. Jered legte ein hohles Holzscheit nach, und Guilford stellte fest, dass in Darwinia sogar brennendes Holz nicht so roch wie es sollte: Der Rauch war süß und stechend, wie indischer Hanf oder Rosenöl.
Die Pierce-Familie war weit zerstreut gewesen, als das Wunder passierte; Caroline war in Boston bei Jereds Bruder Liam; ihre Eltern in England bei Carolines sterbendem Großvater. Jered und Alice waren in Capetown und blieben dort bis zu den Unruhen von 1916; im August fuhren sie mit dem Schiff nach London, in der Tasche ein üppiges Darlehen von Liam sowie Pläne für ein Textil- und Eisenwarengeschäft. Jered und Alice waren zähe Typen, stämmig und kräftig. Guilford mochte sie auf Anhieb.
Zuerst ging Lily zu Bett, in einer Art Gästezimmer, das kaum größer war als eine Abstellkammer. Guilford und Caroline mussten den Flur hinunter. Ihr Bett war ein Himmelbett aus Messing, himmlisch bequem. Die Pierce-Familie legte mehr Wert auf die Qualität einer Matratze als die knickerigen Ausstatter der Odense. Guilford ging davon aus, so bald nicht wieder in einem anständigen Bett zu schlafen, und wollte die Gelegenheit genießen; doch kaum hatte er die Augen geschlossen, übermannte ihn der Schlaf, und dann, viel zu schnell, war es schon wieder Morgen.
Die Finch-Expedition wartete in London auf eine zweite Ladung an Vorräten und Ausrüstungsgegenständen, dazu gehörten fünf achtzehn Fuß lange Stone-Galloway-Flachboden-Boote mit Außenbordmotor; alles sollte mit dem nächsten Schiff von New York kommen. Guilford verbrachte zwei Tage in einem düsteren Zollgebäude, um eine Bestandsliste aufzustellen, derweil Preston Finch verschiedene Fehlposten ergänzte und Schadhaftes ersetzte — einen Flaschenzug, eine Persenning, eine Blattpresse.
Danach hatte Guilford Zeit für seine Familie. Er half im Laden, sah zu, wie Lily Eier frühstückte und abends Wurst vertilgte und viel zu viele Kekse über Tag verfutterte. Er bestaunte Jereds Urkunde, die von Lord Kitchener persönlich unterzeichnet war und den Inhaber als Freiwilligen Helfer des Empire auswies. Sie hatte einen Ehrenplatz im Wohnzimmer. Jeder Engländer, der ins Mutterland zurückkehrte, bekam eine solche Urkunde, doch Jered nahm seine Pflichten ernst, und wenn er vom Wiederaufbau des Dominion redete, dann ohne ironischen Unterton.
Das alles war ganz interessant, aber es betraf nicht das Europa, um das es Guilford ging — die raue neue Welt, an die noch kein Mensch Hand angelegt hatte. Er sagte Jered, er wolle einen Tag damit verbringen, sich die Stadt anzusehen.
»Da gibt’s nicht viel zu sehen, fürchte ich. Von Candlewick nach St. Paul’s ist bei Sonne ein hübscher Spaziergang, oder die Uferstraße hinter den Kais. Weiter östlich sind die Straßen ein einziger Morast. Und halt dich von den Rodungen fern.«
»Mit Morast muss ich leben«, sagte Guilford. »Die nächsten paar Monate sind voller Morast.«
Jered runzelte besorgt die Stirn. »Ja, da könntest du Recht haben.«
Guilford marschierte an den Marktständen vorbei und ließ den klirrenden Hafen hinter sich. Die Sonne strahlte an diesem Morgen, die Luft war herrlich kühl. Ihm begegneten viele Pferdekarren, aber kaum Automobile und die städtischen Tiefbauarbeiten konnten kaum Schritt halten. Durch die jüngeren Viertel liefen offene Abwasserkanäle; ein stinkender Klärkarren ratterte die Candlewick Street hinunter, gezogen von zwei lendenlahmen Gäulen. Ein paar Stadtbewohner hatten sich weiße Taschentücher über Nase und Mund gebunden, was Guilford bereits beim Andocken der Fähre verstanden hatte: Die Stadt roch manchmal entsetzlich, eine Mischung aus menschlichen und tierischen Exkrementen, Kohlenrauch und dem Gestank der Papiermühle auf der anderen Seite der Themse.
Aber die Stadt war auch lebendig und gutmütig und Guilford wurde von anderen Fußgängern freundlich gegrüßt. Er lunchte in einem Ludgate-Pub und trat gestärkt wieder ins Freie. Hinter der neuen St. Paul’s Cathedral verlor sich die Stadt in Teerpappenhütten, Farmrodungen und unberührten Waldbeständen. Die Straße ging in einen ausgefahrenen Erdweg über. Die grünen Kuppeln der Moscheebäume spendeten Schatten und die Luft war mit einem Mal viel frischer.
Die allgemein anerkannte Erklärung des Wunders war, dass es genau das war: ein kolossaler Akt göttlichen Eingreifens. Das glaubte auch Preston Finch, und Finch war kein Idiot. Und auf den ersten Blick war diese Hypothese unanfechtbar. Ein Ereignis hatte stattgefunden, das allen Naturgesetzen Hohn sprach; es hatte in einer einzigen Nacht einen beträchtlichen Teil der Erdoberfläche grundlegend verwandelt. Von solchen Ereignissen wusste nur die Bibel zu berichten. Wie konnte man nach der Verwandlung Europas noch an der Sintflut zweifeln, insbesondere wenn Naturwissenschaftler wie Finch in der geologischen Literatur nach Belegen für dieses biblische Ereignis fischten? Der Mensch plant und Gott tut es einfach; Gottes Beweggründe mochten im Dunkel bleiben, doch sein Werk war unverkennbar.
Guilford aber konnte nicht unter diesen sanft schwankenden, fremdartigen Pflanzen stehen und glauben, dass sie nicht ihre ureigene Geschichte hatten.
Fest stand, 1912 war Europa neu geschaffen worden; fast so sicher war, dass diese Bäume hier in einer einzigen Nacht aufgetaucht waren, acht Jahre jünger als sie es jetzt waren. Aber sie machten nicht den Eindruck, als wären sie neu erschaffen worden. Sie erzeugten Samen (Sporen genau genommen oder germinae nach der neuen Nomenklatur), was unter anderem Erbgut, Geschichte, Abstammung und vielleicht sogar Evolution bedeutete. Der Stamm eines gefällten Baumes würde weit mehr als acht Jahresringe zeigen. Die Jahresringe mochten mal größer mal kleiner sein, je nach Temperatur und Sonneneinstrahlung in dem betreffenden Jahr… einem Jahr, das es gegeben hatte, bevor diese Pflanzen auf der Erde erschienen waren.
Woher also kamen sie?
Am Rand des Weges wuchsen beinah schulterhohe Gullyblumen. In einer kelchförmigen Knospe krabbelte zwischen blauen stachelartigen Staubgefäßen eine ›Nähnadel‹. Jede Bewegung des Insekts bestäubte die laue Frühlingsluft mit winzigen Keimwölkchen. So etwas ›über‹natürlich zu nennen, dachte Guilford, war ein Widerspruch in sich.
Andererseits, welche Grenzen waren einem göttlichen Eingriff gesetzt? Keine vermutlich. Wenn der Schöpfer seiner Schöpfung den falschen Anschein von Evolution geben wollte, dann tat er es einfach; menschliche Logik war bestimmt seine geringste Sorge. So gesehen hatte Gott die Welt vielleicht erst gestern erschaffen, sie aus Sternenstaub und göttlichem Willen zusammengefügt, komplett mit unserer täuschend echten Erinnerung. Konnte man es wissen? Hatten Cäsar und Cleopatra jemals gelebt? Und was war mit den Millionen, die in jener Nacht von der Bildfläche verschwanden? Hätte das Wunder den ganzen Planeten verschlungen und nicht bloß einen Teil, dann wäre die Antwort ein klares Nein gewesen — kein Guilford Law, kein Woodrow Wilson,[16] kein Edison und kein Marconi; kein Rom, kein Griechenland, kein Jerusalem; kein Neandertaler. Und schließlich auch kein Adam und auch keine Eva.
Und wenn dem so ist, überlegte Guilford, dann leben wir in einem Irrenhaus. Niemand könnte je etwas wirklich verstehen… außer Gott, wenn er wollte.
In dem Fall sollten wir einfach aufgeben. Dann war Wissen bestenfalls ein Provisorium und Wissenschaft ein sinnloses Konzept. Dagegen aber sträubte er sich.
Der Geruch von Rauch lenkte ihn von den Gullyblumen und seinem philosophischen Exkurs ab. Er folgte dem sanft ansteigenden Weg bis zu einem offenen Feld, wo man Moschee- und Glockenbäume gefällt, mit trockenem Unterholz beschichtet und in Brand gesetzt hatte. Rußgeschwärzte Arbeiter standen am Rand des Weges und bewachten das Feuer.
Ein stämmiger Kerl in Latzhose und Seemannspullover — der Boss vermutlich — winkte ihn ungeduldig heran. »Fürchte, der Brand ist gelegt. Besser sie bleiben hinter den Treibern oder kehren um. Ein paar könnten durchkommen.«
Guilford sagte: »Ein paar was?«
Das löste bei den Männern Gelächter aus, von denen etwa ein halbes Dutzend dicke Holzknüppel trugen, die an einem Ende stumpf waren.
Der Boss sagte: »Sind Sie Amerikaner?«
Guilford bestätigte.
»Neu hier?«
»Ziemlich neu. Worauf soll ich aufpassen?«
»Stumpfläufer, Herrgott noch mal. Sehen Sie sich doch an, Sie tragen ja nicht mal Kniestiefel! Machen Sie einen Bogen um die Rodungen, wenn Sie nicht das Richtige am Leib haben. Wenn gefällt und geschichtet wird, kann wenig passieren, aber das Feuer lockt sie raus. Bleiben Sie hinter den Treibern, bis die Hitze vorbei ist, dann passiert Ihnen nichts.«
Guilford stellte sich, wo der Boss ihn hinstellte. Die Arbeiter bildeten eine Schützenlinie zwischen dem Weg und dem gerodeten Flecken. Die Sonne wärmte, jedes Mal wenn der Wind drehte, bekam Guilford den dicken, beizenden Qualm ins Gesicht. Er fragte sich schon, ob das Warten den ganzen Nachmittag dauern würde, als ein Arbeiter »Aufpassen!« schrie und in die Lichtung starrte und bei gespreizten Knien den Knüppel wog.
»Die Viecher leben im Boden«, sagte der Boss. »Das Feuer kocht sie raus. Man darf ihnen nicht in die Quere kommen. Und Sie schon gar nicht.«
Am verkohlten Boden der Lichtung rührte sich etwas. Stumpfläufer waren, wenn Guilford sich recht erinnerte, staatenbildende, unterirdisch lebende Insekten, etwa so groß wie Maikäfer; normalerweise lebten sie im Wurzelwerk älterer Moscheebäume. Unproblematisch für den, der vorbeikam, aber aggressiv, wenn sie gereizt wurden. Und ungemein giftig.
Von der Rodung musste ein Dutzend üppiger Nester betroffen sein.
Wie schwarzes Öl sprudelten die schimmernden Insekten aus der Erde und füllten die schwelenden Lücken zwischen den Feuern. Die Lichtung spuckte mehrere, deutlich getrennte Schwärme aus, die kollidierten, kehrtmachten und Strudel bildeten.
Die Treiber droschen den Boden ein. Sie schlugen zu wie auf Kommando, wirbelten Staub und Asche auf und schrien wie die Verrückten. Der Boss packte Guilfords Arm. »Keine Bewegung!«, brüllte er. »Hier sind Sie in Sicherheit. Wenn die könnten, wie sie wollten, aber die haben nur eins im Kopf: Weg mit den Eiern.«
Die Treiber in ihren Schaftstiefeln droschen unverdrossen auf den Boden ein, bis die Stumpfläufer aufmerkten. Die Schwärme quirlten um die Reisigfeuer wie lebende Zyklone, drängten sich zusammen, bis sie eine geschlossene, lückenlose Masse bildeten, dann wandten sie sich vom Tumult der Treiber ab und flohen wie ein auslaufender Ölpfuhl ins Schattenreich des Waldes.
»Ein Schwarm allein hat keine Chance. Wäre leichte Beute für Schlangen, Springmäuse und Billyfalken, alles was mit ihrem Gift klarkommt. Wir stochern noch ein, zwei Tage in den Feuern. Kommen Sie in einer Woche, Sie werden staunen.«
Die Arbeit ging weiter, bis auch der letzte Stumpfläufer Reißaus nahm. Die Treiber stützten sich keuchend auf ihre Knüppel, erschöpft, aber erleichtert. Die qualmige Luft trug die Duftmarke der Insekten, eine Mischung aus Moder und Salmiak. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und stellte fest, dass er voller Ruß war.
»Wenn Sie noch mal die Stadt verlassen, dann nicht in dieser Montur. Wir sind nicht in New York City.«
Guilford lächelte dünn. »Ich begreife allmählich.«
»Bleiben Sie länger?«
»Ein paar Monate. Hier und auf dem Festland.«
»Das Festland! Eine einzige Wildnis und ein paar verrückte Amerikaner, entschuldigen Sie, wenn ich das so sage.«
»Ich gehöre zu einer wissenschaftlichen Expedition.«
»Tja, ich hoffe nur, sie wollen nicht allzu lange in solchen Halbstiefeln laufen. Das Viehzeug bringt Sie erst um, dann verdaut es Ihre Beine.«
»Ich pass schon auf«, sagte Guilford.
Er war heilfroh, als er ins Haus der Pierce zurückfand, sich waschen konnte und den Abend im buttrigen Licht der Öllampen verbringen durfte. Nach einem großzügigen Abendessen verschwanden Caroline und Alice in der Küche, Lily wurde zu Bett geschickt und Jered nahm einen in Leder gebundenen Atlas vom Bücherbord, der Atlas war von 1910, ein politischer Atlas von Europa, dem alten Europa der Kaiser und Könige. Wie banal das jetzt war, dachte Guilford; noch vor acht Jahren war der Kontinent von diesem Muster der Machtverteilung geprägt gewesen. Das war nicht die Schnapsidee eines spleenigen Gottes gewesen. Um diese Grenzen war erbittert gekämpft worden. Was blieb, waren Farben und Linien, ein Mosaik aus Träumen.
»Es ist mehr geblieben als man meinen möchte«, sagte Jered. »Nationalgefühle haben ein zähes Leben. Da sind diese Partisanen, du weißt schon.«
Die Partisanen waren Banden von Nationalisten — raue Gesellen, die aus den Kolonien kamen, um Territorien zu reklamieren, die sie nach wie vor für deutsch oder spanisch oder französisch hielten. Die meisten verschwanden im darwinischen Busch, kämpften ums bloße Überleben oder fielen den Tieren zum Opfer. Andere praktizierten eine Art Banditentum, machten Jagd auf die Siedler, die sie als Eindringlinge betrachteten. Die Partisanen waren natürlich eine potentielle Bedrohung — Küstenpiraterie, angestiftet durch europäische Exil-Nationen, erschwerte den Nachschub. Doch wie die anderen Siedler, so mussten auch die Partisanen ins unwegsame Innere des Kontinents.
»Das muss nicht stimmen«, meinte Jered. »Sie sind gut bewaffnet, einige, und es gibt Gerüchte von Überfällen auf illegale Minenbetreiber an der Saar. Sie haben nicht viel übrig für Amerikaner.«
Guilford war zuversichtlich. Die Donnegan-Expedition war lediglich ein paar zerlumpten Partisanen begegnet, die im Tiefland von Aquitanien[17] das Leben von Wilden führten. Die Finch-Expedition würde am Rhein-Delta anlegen, einem amerikanisch besetzten Territorium, und dem Rhein solange folgen, wie er befahrbar war, vorbei an Rheinfelden bis zum Lake Constance,[18] falls irgend möglich. Dann würde man in den Alpen, da wo einst die Römerstraßen verliefen, nach einem befahrbaren Pass suchen.
»Ehrgeizig«, sagte Jered unbeeindruckt.
»Wir sind gut ausgerüstet.«
»Es gibt immer Gefahren, mit denen man nicht rechnet…«
»Das ist der springende Punkt. Jahrhunderte lang haben Menschen die Alpen überquert. Aber nicht diese Alpen. Wer weiß, was sich alles verändert hat? Genau das wollen wir herausfinden.«
»Gerade mal fünfzehn Männer«, sagte Jered.
»Wir dampfen, soweit wir können, den Rhein hinauf. Weiter geht es mit Flachboden-Booten oder zu Fuß.«
»Ihr braucht jemanden, der den Kontinent kennt. Und wer kennt ihn schon?«
»In Jeffersonville am Rhein gibt es Trapper und Waldläufer. Männer, die sich gleich nach dem Wunder da niedergelassen haben.«
»Du bist der Photograph, sagt Caroline.«
»Jawoll, Sir.«
»Zum ersten Mal auf Expedition?«
»Zum ersten Mal auf dem Kontinent, aber ich war mit Walcott am Gallatin River, letztes Jahr. Ich bin nicht unerfahren.«
»Liam hat dich finanziell unterstützt?«
»Ja.«
»Er wollte bestimmt das Beste. Aber Liams Blick ist durch den Atlantik verstellt, und durch sein Geld. Vielleicht weiß er nicht, in welche Lage er dich gebracht hat. Es geht heiß her auf dem Kontinent. Oh, ich kenne die Wilson-Doktrin, Europa eine Wildnis, die allen Siedlern offensteht, und so weiter, und die Idee ist auf ihre Weise ja auch nobel — obwohl ich froh bin, dass England in der Lage war, sich durchzusetzen. Aber man musste schon ein paar französische und deutsche Kanonenboote versenken, bis diese maroden Exil-Regierungen kapitulierten. Und trotzdem…« Er stauchte die Glut im Pfeifenkopf. »Du begibst dich in Gefahr. Ich bin mir nicht sicher, ob Liam sich das klarmacht.«
»Ich habe keine Angst vor dem Kontinent.«
»Caroline braucht dich. Lily braucht dich. Es hat überhaupt nichts mit Feigheit zu tun, wenn man sich und seine Familie schützt.« Er lehnte sich vor. »Du darfst gerne bleiben, solange es nötig ist. Ich kann Liam schreiben, ihm alles erklären. Überleg’s dir, Guilford.« Er senkte die Stimme. »Ich will nicht, dass meine Nichte Witwe wird.«
Die Küchentür ging auf, und Caroline kam ins Zimmer. Sie sah Guilford ernst an, das schöne Haar ein bisschen verrutscht, dann drehte sie die Gaslampen auf, eine um die andere, bis das Zimmer in Licht gebadet war.
Elias Vale kam sich kastriert vor. So war ihm immer zumute, wenn er auf dem Landsitz von Mrs. Sanders-Moss weilte. Von den Frauen wurde er gehätschelt; für die Männer war er ein Eunuche.
Nicht sehr schmeichelhaft, überlegte er, aber wohl nicht anders zu erwarten. Er betrat das Haus als Eunuche, weil ihm anders kein Zutritt gewährt wurde. Über kurz oder lang würden ihm die Türen offenstehen. Wenn ihm danach war, würde er den Palast im Sturm nehmen. Der Harem würde ihm gehören und die Prinzen würden um seine Gunst buhlen.
Die Soiree heute Abend feierte irgendein Ereignis, das er schon wieder vergessen hatte: irgendeinen Geburtstag, einen Jahrestag. Da er keinen Toast ausbringen musste, war es egal. Was zählte, war die Tatsache, dass ihn Mrs. Sanders-Moss wieder einmal eingeladen hatte, einen ihrer Anlässe zu schmücken; und dass sie sich darauf verließ, in ihm einen annehmbar exzentrischen, charmanten aber taktvollen Mann gefunden zu haben, der sich weder betrank, noch zudringlich wurde oder gar die Einflussreichen wie seinesgleichen behandelte.
Zum Dinner nahm er Platz, wo man ihn hindirigierte, und unterhielt die Tochter eines Kongressabgeordneten und einen frischgebackenen Verwaltungsbeamten des Smithsonian-Instituts[19] mit Geschichten über Tischerücken und Geistererscheinungen, alle wohlweislich aus zweiter Hand und ziemlich schräg. Spiritismus war Ketzerei in diesen neo-frommen Tagen, aber eben nur amerikanische Ketzerei, verzeihlicher als beispielsweise der Katholizismus mit seinen lateinischen Messen und abhanden gekommenen europäischen Päpsten. Und als er seine Schuldigkeit als Kuriosum getan hatte, lächelte er bloß noch und lauschte der Konversation, die ihn umspülte wie der Fluss den Stein.
Vor allem anfangs war es ihm nicht leicht gefallen, angesichts von so viel Luxus Haltung zu bewahren. Nicht dass ihm Luxus völlig fremd gewesen wäre. Er stammte aus einem wohlsituierten Haus in New England — von dem er sich wie ein rebellischer Engel losgesagt hatte. Er wusste eine normale Gabel von einer Kuchengabel zu unterscheiden. Aber seither hatte er unter vielen Brücken geschlafen und dieses Ambiente überstieg alles, was er je zu Gesicht bekommen hatte. Elektrisches Licht und Domestiken; Rindfleisch, in papierdünne Scheiben geschnitten; Hammelfleisch mit Minzsoße.
Olivia bediente, eine hübsche und scheue Negerin, deren Häubchen grundsätzlich schief saß. Vale hatte Mrs. Sanders-Moss gedrängt, das Mädchen nach dem Wiederauffinden des Taufkleidchens nicht zu bestrafen, womit er einmal seine Herzensgüte bewies und sich zum anderen bei dem Mädchen einschmeichelte, was nicht schaden konnte. Doch Olivia ging ihm beharrlich aus dem Weg; sie schien ihn für einen bösen Geist zu halten. Was nicht ganz falsch war, auch wenn Vale das Adjektiv so nicht stehen lassen würde. Die Ärmste ahnte ja nicht, wie viele Dimensionen das Universum hatte.
Sie servierte den Nachtisch. Das Tischgespräch wandte sich der Finch-Expedition zu, die England erreicht hatte und sich anschickte, über den Ärmelkanal zu setzen. Für die Tochter des Kongressabgeordneten, die links von Vale saß, war es ein kühnes und interessantes Unterfangen. Der junge Verwaltungsbeamte (sagen wir) für die Erforschung der Mollusken fand, der Kontinent sei bestimmt nicht so gefährlich wie England.
Die Tochter des Kongressabgeordneten war da anderer Meinung. »Eigentlich ist es ja Europa, wovor sie Angst haben sollten.« Sie runzelte artig die Stirn. »Alles, was da kreucht und fleucht, soll hässlich sein, das meiste sogar tödlich.«
»Nicht so tödlich wie Menschen.« Der junge Beamte rechts von Vale gab sich zynisch. Vielleicht weil er reifer erscheinen wollte.
»Sei nicht anstößig, Richard.«
»Und selten so hässlich.«
»Sie sind mutig.«
»Sehr mutig, aber ich an ihrer Stelle hätte mehr Angst vor den Partisanen. Oder vor den Engländern.«
»Dazu war kein Anlass.«
»Noch nicht. Aber die Engländer sind nicht gut zu sprechen auf uns. Immerhin beliefert Kitchener die Partisanen mit Lebensmitteln.«
»Das ist ein Gerücht, und Sie sollten es nicht wiederkäuen.«
»Sie gefährden unsere Europapolitik.«
»Wir sprachen doch über die Finch-Expedition, nicht über die Engländer.«
»Preston Finch kann einen Fluss benutzen, aber es werden mehr Leute durch Kugeln sterben als durch Stromschnellen. Oder Monster.«
»Sag nicht Monster, Richard.«
»Strafen Gottes.«
»Nur schon der Gedanke lässt mich schaudern. Partisanen sind wenigstens Menschen.«
»Liebes Mädel. Ich nehme an, Dr. Vale wäre arbeitslos, wenn Frauen nicht dazu neigen würden, alles zu romantisieren. Hab ich Recht?«
Vale setzte sein bestes und öligstes Lächeln auf.
»Frauen fällt es leichter, die Unendlichkeit zu sehen. Vielleicht sind sie unerschrockener.«
»Siehst du!« Die Tochter des Kongressabgeordneten errötete vor Glück. »Die Unendlichkeit, Richard.«
Vale hätte ihr zu gerne die Unendlichkeit gezeigt. Es würde ihr die hübschen Augen zu Asche verbrennen, dachte er. Eswürde ihr das Fleisch vom Schädel schälen.
Nach dem Dinner zogen sich die Männer mit ihren Brandys in die Bibliothek zurück, und Vale blieb bei den Frauen. Es wurde auffallend viel über Neffen beim Militär geredet und deren unbedachte Äußerungen, über Gatten, die Überstunden im Außenministerium machten. Vale spürte eine gewisse Resonanz in diesen Omen, konnte aber die Bedeutung nicht ergründen. Krieg? Krieg mit England? Krieg mit Japan? Nichts davon erschien ihm plausibel… doch Washington war seit Wilsons Tod ein glitschiger Brunnen, finster und leicht zu vergiften.
Dringend um Rat ersucht, beschränkte Vale sich auf Salon-Prophezeiungen. Verschollene Katzen und Kinder in der Fremde; die Angst vor Gelbfieber, Polio und Grippe. Seine Visionen waren freundlich und nicht übernatürlich. Intimere Fragen bedurften eines Termins, und tatsächlich war seine Klientel in den zwei Monaten, seit er Eleanor begegnet war, um ein Beträchtliches angewachsen. Er war auf dem besten Wege, der Beichtvater für eine Generation alternder Erbinnen zu werden. Er machte sich ausführliche Notizen.
Der Abend schleppte sich dahin und machte keine Anstalten, besonders rentabel zu werden: Nicht eben viel, was er diese Nacht ins Tagebuch schreiben konnte, dachte Vale. Dennoch, hier war sein Terrain. Nicht nur, um sein Einkommen aufzubessern, obwohl das sicherlich ein willkommener Nebeneffekt war. Er folgte einem tieferen Instinkt, der vielleicht nicht einmal ganz der seine war. Seine Gottheit wollte, dass er hier war.
Und man tut, was eine Gottheit will, weil das ihrer Natur entspricht, überlegte Vale: Gehorsam zu verlangen. Das vor allem.
Als er sich anschickte, den Heimweg anzutreten, bugsierte ihm Eleanor einen offensichtlich betrunkenen Mann in die Arme. »Dr. Vale? Das ist Professor Randall. Ich habe Sie doch sicher miteinander bekannt gemacht.«
Vale schüttelte der weißhaarigen Eminenz die Hand. Wer von Eleanors gesammelten Akademikern und unbedeutenden Staatsdienern war das? Randall, ach, wohl jemand vom Museum für Naturgeschichte, ein Kurator… etwa Paläontologie? Die verwaiste Wissenschaft?
»Bringen Sie ihn zu seinem Auto«, sagte Eleanor. »Seien Sie so nett, ja? Eugene, geh mit Dr. Vale. Ein paar Schritte durch den Park werden dir gut tun.«
Die Nacht duftete nach Blüten und Tau, zumindest wenn der Professor Rückenwind hatte. Vale musterte seinen Begleiter, bildete sich ein, blasse Strukturen unter der Oberfläche von Randalls Körper zu sehen. Korallenartige Wucherungen von Alter (Haut wie Pergamentpapier, arthritische Gelenkknoten), die den Blick auf die Seele verstellten. Falls denn Paläontologen eine solche hatten.
»Finch ist verrückt«, murmelte Randall, der irgendeinem Gespräch nachhing, »wenn er meint… wenn er meint, er könnte beweisen…«
»Heute Abend gibt es nichts zu beweisen, Sir.«
Randall schüttelte den Kopf und blinzelte Vale an, den er womöglich jetzt erst wahrnahm. »Sie? Ach. Sind Sie nicht der Wahrsager?«
»Wie man es nimmt.«
»Sie sehen die Zukunft, stimmt’s?«
»Durch ein Fernglas«, sagte Vale. »Verschwommen.«
»Die Zukunft der Welt?«
»Mehr oder weniger.«
»Wir reden über Europa«, sagte Randall. »Europa, das korrupte Sodom kopfüber ins Fegefeuer gestürzt. Also rupfen wir die Keimlinge des Europäerturns aus dem Boden, wo immer sie uns auffallen, was immer das soll. Maßlose Heuchelei natürlich. Eine politische Torheit. Möchten Sie Europa sehen?« Mit einem Schlenker der Hand deutete er auf die weißen Säulen des Landsitzes. »Da ist es! Der Hof von Versailles. Das könnte er sein.«
Die Sterne waren hell und klar in dieser Frühlingsnacht. Seit kurzem gewahrte Vale eine gewisse Tiefe im Sternenhimmel, eine Staffelung, ein Zurücktreten, wie es Wälder und Wiesen taten, verschlungenes Dickicht, in dem Raubtiere lauerten. Wie da oben, so hier unten. »Dieser Schöpfer, von dem Männer wie Finch dauernd reden«, sagte Randall. »Man möchte ja daran glauben. Aber auf den Fossilien sind keine Fingerabdrücke. Eine Folge der Sintflut vermutlich.«
So etwas hätte Randall nicht sagen dürfen. Im Kielwasser des Wunders hatte sich die öffentliche Meinung geändert und Männer wie Randall waren selbst so etwas wie lebende Fossilien — wollige Mammuts, eingesperrt im ewigen Eis. Natürlich konnte Randall als Knochensammler nicht ahnen, dass Vale Unbesonnenheiten sammelte.
Wem würde es wie viel wert sein, was Randall über Preston Finch dachte? In welcher Währung würde er zahlen und wann?
»Tut mir Leid«, sagte Randall. »Das wird Sie kaum interessieren.«
»Im Gegenteil«, sagte Vale, während er mit seiner Beute in die taufrische Nacht hinausging. »Ich brenne vor Neugier.«
Die Flachboden-Boote aus New York waren eingetroffen und wurden auf den Kanaldampfer Argus verladen. Guilford, Finch, Sullivan und Chuck Hemphill, der Landvermesser, beaufsichtigten das Beladen und nervten den Lademeister des Dampfers so lange, bis sie an den Pier verbannt wurden. Die Frühlingssonne badete die Holzplanken und weichte den Teer auf; am Pfahlwerk faulten Klumpen aus falschem Lotos; Möwen zogen ihre Kreise.
Die Möwen waren die ersten terrestrischen Einwanderer auf Darwinia gewesen, gefolgt von Menschen, Weizen, Gerste, Kartoffeln, Wildblumen (Weiderich, Winde) und Ratten, Rindvieh, Schafen, Läusen, Flöhen und Kakerlaken — der ganze biologische Eintopf der Küstensiedlungen.
Preston Finch stand am Pier, die riesigen Hände nach hinten verschränkt, das Gesicht vom Tropenhelm überschattet.
Der Mann war ein Widerspruch in sich, überlegte Guilford: ein robuster Mann, kräftig trotz seines Alters, ein vom Wetter gegerbter Flussfahrer, dessen Urteilsvermögen und Mut außer Zweifel standen. Aber seine Noachitische Geologie, so sehr sie in den nervösen Zeiten nach dem Wunder zur Mode geworden war, blieb in Guilfords Augen ein Konglomerat aus Halbwahrheiten, zweifelhaften Schlussfolgerungen und nostalgischem Protestantismus. Nicht überzeugend, egal wie sehr Finch die Sache mit Theorien über Sedimentation und Zitaten von Berkeley[20] garnierte. Außerdem lehnte Finch jede Diskussion dieser Ideen ab und duldete keine Kritik von Kollegen, und schon gar nicht von einem Photographen. Wie war jemandem zumute, der sich ein solch barockes Bauwerk von Theorie in den Schädel gepfercht hatte? So eine spleenige Kathedrale, so gut verstrebt, so gut abgesichert?
John Sullivan, die zweite graue Eminenz der Expedition, lehnte an einem Piergebäude, die Arme vor der Brust verschränkt, ein mattes Lächeln unter dem breiten Strohhut. Zwei alternde Männer, Finch und Sullivan, aber Sullivan lächelte — das war der Unterschied.
Die letzte Kiste verschwand im Laderaum der Argus. Finch unterzeichnete eine Liste für den schwitzenden Lademeister. Dieser Akt hatte etwas Endgültiges. Morgen früh sollte die Argus ablegen.
Sullivan tippte an Guilfords Schulter. »Haben Sie ein paar Minuten Zeit, Mr. Law? Es gibt etwas, das Sie vielleicht interessiert.«
Museum of Monstrosities verkündete das Schild über der Tür.
Das Gebäude war nicht viel mehr als eine Baracke, aber es war alt, so alt wie Gebäude in diesem London sein konnten, wahrscheinlich gehörte es zu den ersten dauerhaften Bauten, die man am sumpfigen Ufer der Themse errichtet hatte. Auf Guilford machte es den Eindruck, als sei es immer wieder aufgegeben und neu benutzt worden.
»Hier?«, fragte Guilford. Vom Pier gleich hinter den Spelunken aus Ziegelstein war es nur ein kurzer Weg in diese hoffnungslose Gegend mit ihrer abgestandenen Luft.
»Zwei Pence Eintritt«, sagte Sullivan. Seine schleppende Sprechweise war unverbesserliches Arkansas, doch aus seinem Mund hörte es sich wie Oxford an. Zumindest wie das, was Guilford dafür hielt. »Der Besitzer ist ein Säufer. Aber er hat da ein interessantes Stück.«
Der ›Besitzer‹, ein mürrischer Mann, der nach Gin roch, öffnete auf Sullivans Klopfen, schloss die schmutzige Hand um Sullivans Geld und verschwand wortlos hinter einem Vorhang aus Segeltuch und ließ die Besucher in dem engen Raum zurück. Guilford und Sullivan konnten sich ungestört den präparierten Trophäen widmen, die ringsum in den primitiven Regalen standen. Die kleineren Exponate waren echt, es handelte sich um erkennbare darwinische Tiere, schlampig ausgestopft und montiert: ein Knopfnasenvogel, ein Sammelsurium von sechsbeinigen Aasfressern, eine Leopardenschlange mit aufgesperrtem Rachen. Sullivan lüftete ein Rollo, doch das zusätzliche Licht war eher störend, fand Guilford. Glasaugen glitzerten und schielten in die komischsten Richtungen.
»Das da«, sagte Sullivan.
Er meinte das aufrechte Skelett, das in einer Ecke vor sich hin schmachtete. Guilford trat skeptisch näher. Auf den ersten Blick sah es wie das Skelett eines Bären aus — ein plumper Zweifüßer, der Brustkorb war an einer ventralen[21] Wirbelsäule befestigt, der furchterregende Schädel war lang und aus mehreren Stücken zusammengesetzt, mit Zähnen, die wie Faustkeile aussahen. Fürchterlich. »Aber echt ist das Skelett nicht«, sagte Guilford.
»Wie kommen Sie darauf, Mr. Law?«
Hatte Sullivan keine Augen im Kopf? »Ich sehe eine Menge Fäden und Verpackungsdraht. Manche Knochen sind frischer als andere. Das da sieht aus wie der Oberschenkel einer Kuh — die Gelenke passen nicht.«
»Sehr gut. Das Auge eines Photographen.«
»Dazu muss man nicht Photograph sein.«
»Sie haben natürlich Recht. Die Anatomie ist ein Witz. Aber was mich interessiert, ist der Brustkorb, er ist korrekt zusammengesetzt, und vor allem der Schädel.«
Guilford sah wieder hin. Die Rippen und die ventrale Wirbelsäule waren unverkennbar darwinisch; es war das übliche von-hinten-nach-vorne Schema, Wirbelsäule U-förmig mit einer tiefen Chordalkerbe. Der Schädel selbst war lang, ein bisschen wie bei Rindern, der Überbau hoch und geräumig: ein kluger Fleischfresser. »Halten sie das für authentisch?«
»Das sind echte Knochen, das ist kein Pappmaché, und sie gehören keinem Säugetier. Der Hausherr hat sie angeblich einem Siedler abgekauft, der sie weiter oben an der Lea[22] in einem Sumpfloch gefunden hat — auf der Suche nach Brennmaterial, das billiger als Kohle ist.«
»Dann sind sie relativ jung.«
»Relativ, ein lebendiges Exemplar wurde allerdings noch nicht gesichtet — auch nichts entfernt Ähnliches. Große Raubtiere sind selten auf dem Kontinent. Donnovan berichtet von einem leopardengroßen Fleischfresser im Zentralmassiv, Größeres scheint nicht vorzukommen. Was stellt dieser Bursche also dar, Mr. Law? Das ist die eigentliche Frage. Ein großer, vor kurzem ausgestorbener Jäger?«
»Hoffentlich. Er sieht gewaltig aus.«
»Gewaltig und, wenn es nach dem Schädel geht, intelligent. Soweit man bei Tieren von Intelligenz sprechen kann. Sollten von seiner Art noch welche leben, wären wir auf die Pistolen angewiesen, auf die Finch so großen Wert legt. Und wenn nicht…«
»Wenn nicht?«
»Na ja, was sagt uns eine ausgestorbene Art, wenn der Kontinent erst acht Jahre alt ist?«
Guilford blieb vorsichtig. »Sie gehen also davon aus, dass der Kontinent eine Geschichte hat.«
»Ich gehe nicht davon aus, ich komme zu dem Ergebnis. Oh, die Streitfrage ist nicht neu — ich wollte einfach nur wissen, wo Sie stehen.«
»Das Problem ist, wir haben zwei Vergangenheiten. Einen Kontinent, zwei Vergangenheiten. Wie soll man das in Einklang bringen?«
Sullivan lächelte. »Gute Frage. Müssen Sie jetzt raten, Mr. Law? Welche Vergangenheit ist die richtige? Elisabeth die Erste oder unser knochiger Freund?«
»Natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber…«
»Nicht ausweichen. Sie oder er?«
»Beide«, sagte Guilford kategorisch. »Irgendwie… beide.«
»Ist das nicht unmöglich?«
»Anscheinend nicht.«
Aus Sullivans Lächeln wurde ein Grinsen. »Glückwunsch.«
Also war Guilford getestet worden, obwohl die Motive des Älteren im Dunkel blieben. Das ging in Ordnung: Guilford mochte den Botaniker, es gefiel ihm, dass der ihn wie seinesgleichen behandelte. Und noch mehr gefiel ihm der Augenblick, als er aus der Baracke des Präparators ins Freie trat. Nicht dass Londons Hafenviertel sehr viel besser gerochen hätte.
In dieser Nacht schlief er zum letzten Mal bei Caroline.
Dasletzte Mal bis Herbst, dachte Guilford, aber dieser Gedanke spendete wenig Trost. Caroline blieb abweisend diese Nacht.
Sie war die einzige Frau, mit der er jemals geschlafen hatte. Sie waren sich in den Büros von Atticus und Pierce begegnet, als er dabei war, die Platten für Rocky Mountain Fossil Shales zu retuschieren. Guilford hatte sich spontan in das reservierte und stirnkrause Pierce-Mädchen verliebt. Ihr Onkel hatte sie kurz einander vorgestellt und Guilford war in den folgenden Wochen darauf erpicht gewesen, sie abzupassen: Jeden Mittwoch, verriet ihm eine Sekretärin, würde Miss Caroline gegen zwölf Uhr mit ihrem Onkel zum Lunch gehen. Guilford hatte sie nach einem solchen Lunch abgefangen und ihr angeboten, sie bis zur Straßenbahn zu bringen. Sie hatte eingewilligt, unter ihrer Haarkrone aber wie eine argwöhnische Prinzessin dreingeschaut.
Wie eine verletzte Prinzessin. Caroline hatte den Verlust ihrer Eltern nicht verwunden, doch mit diesem Leid stand sie weiß Gott nicht allein da. Guilford stellte fest, dass er sie zu einem Lächeln provozieren konnte, manchmal zumindest. Damals hatte ihre Schweigsamkeit eher Verbundenheit als Distanzierung bedeutet; sie pflegten eine subtilere Kommunikation. In dieser lautlosen und unsichtbaren Sprache hatte sie gesagt: Ich bin verletzt, aber zu stolz, um es zuzugeben — hilfst du mir? Und er hatte erwidert: Ich biete dir Geborgenheit. Ein Zuhause.
Jetzt lag er wach, die nächtliche Stille wurde hin und wieder durch die Geräusche eines Fuhrwerks gestört und zwischen ihm und der Frau, die er liebte, hatte das Bett eine tiefe Kuhle. Konnte man ein unausgesprochenes Versprechen brechen? In Wahrheit hatte er Caroline gar keine Geborgenheit gegeben. Er war zu weit und zu oft gereist: gen Westen und nun hierher. Er hatte eine süße Tochter gezeugt, um sie und ihre Mutter hierher in diese wildfremde Gegend zu bringen, wo er sie zurücklassen wollte… im Namen der Geschichte oder der Wissenschaft oder seiner eigenen verwegenen Träume.
Er redete sich ein, dass Männer so handelten, dass Männer Jahrhunderte lang so gehandelt hatten und dass, wenn sie es nicht getan hätten, die Menschen noch immer in den Bäumen hocken würden. Doch die Wahrheit war komplizierter, betraf Dinge, die Guilford verdrängte, die womöglich mit seinem Vater zu tun hatten, dessen sturer Pragmatismus ihn früh unter die Erde gebracht hatte.
Caroline schlief bereits oder so gut wie. Er legte ihr die Hand auf die Hüfte, ein sanfter Druck, der sagen sollte: Aber ich komme zurück. Sie reagierte mit einem verschlafenen Räkeln, fast wie ein Achselzucken, nicht ganz gleichgültig. Vielleicht.
Am Morgen waren sie einander fremd.
Caroline und Lily fuhren mit ihm zum Hafen, wo die Gezeiten an der Argus zerrten. Kühle Nebelschwaden rankten sich um den von Rostpocken befallenen Rumpf.
Guilford umarmte Caroline, er fand keine Worte, er kam sich vor wie ein Grobian; dann hangelte Lily sich in seine Arme, drückte ihre weiche Wange an die seine und sagte: »Komm bald wieder.«
Guilford versprach es.
Lily glaubte ihm.
Dann ging er die Gangway hinauf, drehte sich an der Reling um und winkte zum Abschied, aber Frau und Tochter waren bereits untergegangen in der Menschenmenge, die sich unten am Pier drängte. So rasch geht das, dachte Guilford. So rasch.
Die Argus überquerte den Kanal bei dichtem Nebel. Guilford grübelte unter Deck, bis die Sonne durchbrach und John Sullivan von ihm verlangte, hoch zu kommen, um den Kontinent bei Morgenlicht zu sehen.
Was sich seinen Augen bot, war dichtes, grünes Sumpfland, in dem ein Westwind fächelte — das salzige Marschland des weiten Rhein-Deltas. Die Stromatolithen[23] nahmen sich aus wie unirdische Monumente und die Flötenbäume hatten sich überall dort angesiedelt, wo der Schlick tief genug war, um ihren spinnenartigen Wurzeln Halt zu bieten. Das Postschiff folgte einer seichten aber pflanzenfreien Fahrrinne — langsam, weil die Lotung nur grob war und Stürme den Treibsand nicht selten verlagerten. Sie dampften auf eine dichtere, grünere Ferne zu. Jeffersonville war eine blasse Rauchfahne am flachen, grünen Horizont, dann ein Fleck, dann eine schmutzigbraune Ansammlung von Hütten zwischen Schilfrohrbuckeln oder auf Pfählen, wenn der Grund es erlaubte, und überall primitive Anlegestellen und kleine Boote und der Gestank nach Salz, Fisch, Abfall und Kloake. Caroline fand London primitiv; Guilford war froh, dass sie Jeffersonville nicht zu Gesicht bekam. Der Ort wirkte wie eine Wamtafel: Hier endet die Zivilisation. Hier beginnt die Anarchie der Natur.
Es gab eine Unmenge Fischerboote, Kanus und aus darwinischem Holz zusammengeschusterte Fahrzeuge, die wie Flöße aussahen, und alle klumpten sich an den mit Netzen drapierten Anlegestellen. Es gab nur ein Fahrzeug, das so groß war wie die Argus: Ein amerikanisches Kanonenboot lag mit wehender Flagge vor Anker. »Damit fahren wir den Fluss hinauf«, sagte Sullivan, der neben Guilford an der Reling stand. »Hier bleiben wir nicht lange. Finch wird der Navy seine Aufwartung machen, während wir uns nach einem Führer umsehen.«
»Wir?«, fragte Guilford.
»Sie und ich. Danach können Sie ihre Kamera zusammenbauen und eine Gruppenaufnahme am Pier machen. Verladung in Jeffersonville. Die Photographie wird Emotionen wecken.« Sullivan klopfte ihm auf die Schulter. »Kopf hoch, Mr. Law. Das ist die richtige neue Welt, und Sie stehen kurz davor, sie zu betreten.«
Doch hier im Marschland musste man seine Schritte mit Bedacht wählen. Man hielt sich an die Plankenwege oder lief Gefahr, verschlungen zu werden. Guilford fragte sich, wie viel von Darwinia sich so ausnahm — blauer Himmel, fächelnder Wind, die stille Bedrohung.
Sullivan ließ Finch wissen, er und Guilford seien unterwegs, um einen Führer anzuheuern. Sobald die Piers außer Sicht waren, verborgen hinter Fischerhütten und einem hohen Gehölz aus Moscheebäumen, verlor Guilford jede Orientierung. Doch Sullivan schien sich auszukennen. 1918 sei er hiergewesen, erklärte er, um Tierarten des Marschlandes zu katalogisieren. »Ich kenne die Stadt, auch wenn sie jetzt größer ist, und ich kenne ein paar alte Hasen hier.«
Die Leute, an denen sie vorbeikamen, sahen grobschlächtig und gefährlich aus. Nicht lange nach dem Wunder hatte die Regierung versucht, durch so genannte Homestead grants[24] und kostenlose Schiffspassagen Freiwillige für die Besiedlung von Darwinia zu gewinnen; das Leben in Amerika war nicht eben leicht und doch ging nur ein besonderer Menschenschlag auf das Angebot ein. Darunter etliche, die sich so der Strafverfolgung entzogen.
Sie waren Fischer und Fallensteller und schlugen sich mehr oder weniger ehrlich durchs Leben. So wie sie aussahen, mussten Süßwasser und Seife ein rares Gut sein. Männer wie Frauen trugen grobe Kleidung und langes, verfilztes Haar. Und trotzdem waren unter diesen schäbigen Individuen nicht wenige, die Sullivan und Guilford mit einem verhaltenen Grinsen begegneten — die Verachtung des Eingeborenen für den Touristen.
»Wir besuchen einen Mann namens Tom Compton«, sagte Sullivan. »Der beste Spurenleser in Jeffersonville, vorausgesetzt er lebt noch und ist nicht draußen im Busch.«
Tom Compton wohnte in einer Holzhütte abseits des Wassers. Sullivan klopfte nicht an, sondern platzte einfach durch die halb offene Tür — darwinische Gepflogenheit vielleicht. Guilford folgte ihm vorsichtig. Nachdem sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, entpuppte sich das Innere der Hütte als spartanisch und sauber, auf dem Bretterboden lag ein Baumwollläufer, an den Wänden hingen Geräte zum Fischen und Jagen. Tom Compton saß seelenruhig in einer Ecke des einzigen Raums, direkt neben einem Tisch, ein großer Mann mit einem gewaltigen, verfilzten Bart. Die dunkle Haut wies ihn als Mischling aus. Um den Hals trug er eine Kette aus Klauen. Das Hemd war aus einer derben, einheimischen Faser gewebt, die Hose schien aus konventionellem Köper, halb verdeckt durch hohe Wasserstiefel. Er blinzelte die Besucher nicht gerade begeistert an und nahm eine langstielige Pfeife vom Tisch.
»Bisschen früh dafür, oder?«, meinte Sullivan.
Tom Compton riss ein hölzernes Zündholz an und hielt die Flamme über den Pfeifenkopf. »Nicht, wenn du mir unter die Augen kommst.«
»Du weißt, warum ich hier bin, Tom?«
»Hab es läuten hören.«
»Wir wollen ins Landesinnere.«
»Interessiert mich nicht.«
»Ich hätte dich gerne dabei.«
»Geht nicht.«
»Wir überqueren die Alpen.«
»Egal.« Er reichte Sullivan die Pfeife, der sie ihm aus der Hand nahm und den Rauch inhalierte. Kein Tabak, dachte Guilford. Sullivan reichte die Pfeife weiter und Guilford war bestürzt. Durfte er freundlich ablehnen oder war das wie bei einem Häuptlingstreffen der Cherokees, ein Zug aus der Pfeife statt eines Händedrucks?
Tom Compton lachte. Sullivan sagte: »Das sind die getrockneten Blätter einer Flusspflanze. Ein bisschen berauschend, aber kein Opium.«
Guilford nahm ihm die knorrige Bruyere aus der Hand. Der Rauch schmeckte so, wie ein Rübenkeller riecht. Das meiste fiel einem Hustenanfall zum Opfer.
»Neuling«, sagte Tom Compton. »Er kennt das Land nicht.«
»Er wird es kennen lernen.«
»Das tun sie alle«, sagte der Grenzbewohner. »Jeder lernt es kennen. Falls ihn das Land nicht vorher umbringt.«
Der Rauch aus Tom Comptons Pfeife bewirkte, dass Guilford sich leichter und unbeschwerter fühlte. Das Geschehen verlangsamte sich zu einem Kriechen oder schnellte ohne Zäsur voran. Als er in seine Koje auf der Argus kletterte, erinnerte er sich an den Tag nur bruchstückhaft.
Er war mit Dr. Sullivan und Tom Compton in einer Kneipe an den Piers gewesen, wo braunes Bier in Krügen serviert wurde, die man aus getrockneten Flötenriedstämmen geschnitten hatte. Die Krüge waren porös und schwitzten das Bier aus, wenn man es zu lange stehen ließ. Das förderte eine Art zu trinken, die klarem Denken nicht zuträglich war. Es hatte auch zu essen gegeben, einen darwinischen Fisch, der sich auf dem Teller wie ein schlaffer, schwarzer Stechrochen ausgenommen hatte. Er schmeckte nach Salz und Schlamm; Guilford hatte nur wenig gegessen.
Man hatte über die Expedition diskutiert. Der Grenzer hatte gespottet und war nicht davon abzubringen, dass diese Reise nur ein Vorwand war, um Flagge zu zeigen und Amerikas Anspruch auf das Hinterland zu unterstreichen. »Ihr sagt doch selbst, dass dieser Finch ein Idiot ist.«
»Er ist Kleriker, kein Wissenschaftler; er kennt nicht mal den Unterschied. Aber er ist kein Idiot. Im Cataract Canyon hat er drei Männer vor dem Ertrinken gerettet — hat einen Mann mit doppelter Rippenfellentzündung wohlbehalten nach Lee’s Ferry gebracht. Das war vor zehn Jahren, aber ich wette, er würde es morgen wieder tun. Er hat diese Expedition geplant und vorbereitet und ich würde ihm mein Leben anvertrauen.«
»Folgt ihm ins Hinterland, und ihr vertraut ihm tatsächlich euer Leben an.«
»Genau das tue ich. Ich wüsste keinen besseren Kameraden. Einen besseren Wissenschaftler könnte ich mir vorstellen — aber selbst da hat Finch seine Vorteile. In Washington herrscht ein Klima, in dem die Wissenschaft nicht gut wegkommt: Wir konnten das Wunder nicht voraussehen, und erklären können wir es auch nicht, und für gewisse Leute ist das gleichbedeutend mit Verantwortung. Göttern mit Schwächen ergeht es schlecht im Haushaltsplan. Aber mit Finch können wir dem Kongress ein Unterpfand für, sagen wir, eine ehrfurchtsvolle Wissenschaft präsentieren, die keine Bedrohung für Vaterland und Klerus ist. Wir gehen ins Hinterland, wir lernen dazu — und offengestanden, je mehr wir dazulernen, umso wackliger wird sein akademischer Ruf.«
»Du wirst benutzt. Genau wie Donnegan. Klar, ihr sammelt ein paar Proben. Aber die Geldgeber wollen wissen, welche Fortschritte die Partisanen gemacht haben, ob es im Ruhrtal Kohle gibt oder Eisenerz in Lothringen…«
»Lass uns die Partisanen auskundschaften oder ein Anthrazitlager finden — na und? Das passiert sowieso, ob wir nun die Alpen überqueren oder nicht. So fallen wenigstens noch ein paar Fakten ab.«
Tom Compton wandte sich an Guilford. »Sullivan hält den Kontinent für ein Rätsel, das er lösen kann. Das ist eine trotzige und dumme Idee.«
Sullivan ließ nicht locker. »Du bist tiefer ins Land gekommen als die meisten Trapper, Tom.«
»Längst nicht so tief, wie ihr das vorhabt.«
»Du weißt, was uns erwartet.«
»Geht man weit genug, weiß keiner, was ihn erwartet.«
»Trotzdem, du hast Erfahrung.«
»Mehr als du.«
»Deine Erfahrung ist unbezahlbar.«
»Ich hab was Besseres zu tun.«
Sie schwiegen und tranken eine Zeit lang. Eine neue Runde Bier gab dem Gespräch eine philosophische Wendung. Der Grenzer stellte Guilford zur Rede, das verwitterte, braune Gesicht so grimmig wie eine Bärenschnauze: »Warum sind Sie hier, Mr. Law?«
»Ich bin Photograph«, sagte Guilford. Er bedauerte, keine Kamera dabei zu haben; er hätte zu gerne Tom Compton photographiert. Dieses von der Sonne zerknitterte und im Bart ertrinkende Konterfei eines wilden Tieres.
»Ich weiß, was sie tun«, sagte der Grenzer. »Warum Sie hier sind?«
Weil es gut war für seine Karriere. Um sich einen Namen zu machen. Um Bilder mit nach Hause zu bringen, eingefangen in Glas und Silber, Bilder von Flussbecken und Bergwiesen, die noch keines Menschen Auge gesehen hatte. »Ich weiß nicht«, hörte er sich sagen. »Neugier vermutlich.«
Tom Compton blickte ihn so scheel an, als habe Guilford soeben seine Lepra eingestanden. »Die Leute kommen hierher, weil sie vor etwas davonlaufen, Mr. Law. Oder weil sie hinter etwas her sind. Um ein bisschen Geld zu machen oder auch, wie unser Sullivan, um etwas zu lernen. Aber die Ich-weiß-nichte — vor denen muss man sich in Acht nehmen.«
Als die Flut stieg und das Schaukeln der Argus ihn einlullte, erinnerte Guilford sich noch an etwas anderes: Sullivan und Tom Compton unterhielten sich über das Hinterland, der Grenzer warnte und warnte… Die Flüsse des neuen Kontinents hätten sich ihren eigenen Weg gebahnt, der nicht immer den alten Karten entsprach; die Fauna sei gefährlich, die Nahrungssuche so schwierig, dass man sich ohne Proviant wie in einer Wüste vorkomme. Es gebe namenloses Fieber, nicht selten mit tödlichem Ausgang. Und was das Überqueren der Alpen anging: Na ja, meinte Tom, ein paar Trapper und Jäger hätten überlegt, die alte Sankt-Gotthard-Route zu nehmen; keine neue Idee. Dann seien wieder Geschichten aufs Tapet gekommen, Gespenstergeschichten, Gerüchte — völliger Blödsinn, so Sullivan verächtlich —, aber doch genug, um einen normalen Menschen zögern zu lassen… womit du aus dem Schneider bist, sagte Sullivan, und Tom hatte mit einem breiten Grinsen gesagt: Du auch, du alter Blödmann, was Guilford darüber im Unklaren ließ, zu welcher unausgesprochenen Übereinkunft es zwischen den beiden Männern gekommen war und was im tiefen Innern dieses riesigen, unwegsamen Landes auf sie lauerte.
Endlich England, dachte Colin Watson: Aber eigentlich war das ja gar nicht England, oder? Der kanadische Frachter dampfte die breite Flussmündung der Themse hinauf, der Bug zerteilte das Wasser, das den Gezeiten unterworfen war und die Farbe von grünem Tee hatte; das Ambiente war tropisch, zumindest um diese Jahreszeit. Eher wie Bombay oder Bihar, gar nicht wie zu Hause.
Er dachte an die Fracht, die unten in den Laderäumen schaukelte. Kohle aus Südafrika, Indien und Australien, ein kostbares Gut in diesen rebellischen Zeiten, da das Empire zerbröselte. Werkzeuge und Gussformen aus Kanada. Und Hunderte von Kisten mit Lee-Enfield-Gewehren[25] aus der Waffenschmiede in Alberta, alle für Kitcheners Spleen bestimmt, aus New London einen sicheren Hort in der Wildnis zu machen, wo bald wieder ein englischer König den Thron besteigen konnte.
Für die Gewehre trug Watson die Verantwortung. Gleich nachdem das Schiff am primitiven Pier festgemacht hatte, befahl er seinen Leuten — einer Handvoll Sikhs und ein paar mürrischen Kanadiern — die Paletten zu sichern und hoch zu hieven; er selbst ging inzwischen an Land, um die Formalitäten bei der Hafenbehörde zu erledigen. Es war stickig heiß und die plumpe, unfertige Holzstadt widersprach allem, was man sich unter London vorstellte. Und doch, erst dieser Anblick führte einem die Verwandlung Europas vor Augen, ein Ereignis, das für Watson bislang in weiter Ferne gelegen hatte, so abwegig und von Grund auf unglaubwürdig wie ein Märchen, ungeachtet der Tatsache, dass es so viele Menschen dahingerafft hatte.
Jedenfalls war das nicht das Land, das er vor zehn Jahren verlassen hatte. Er hatte die Public School ohne Auszeichnung absolviert und die Offiziersschule in Woolwich besucht: hatte eine Kaserne gegen die andere getauscht, lateinische Deklinationen gegen Artillerie-Manöver. In seiner Naivität hatte er G. A. Henry[26] erwartet, ein achtbares Heldentum, Ndebele-Rebellen,[27] die vor seinem Bajonett flohen. Stattdessen fand er sich in einer trostlosen Kaserne in Kairo wieder, um einen Mob von gelangweilten Infanteristen zu beaufsichtigen — bis zu jenem Abend, da schillernde Lichter den Himmel erhellten und die bebende Erde nicht nur das Britische Protektorat in Ägypten in Schutt und Asche legte. Ein ziemlich zielloses Leben, doch nicht ohne die Tröstungen von Freundschaft und Alkohol oder, feiner gesagt, von Gott und Vaterland — bis das Jahr 1912 klarmachte, dass Gott eine Chiffre war, und Er, wenn er denn überhaupt existierte, die Engländer zweifellos verachtet haben musste.
Britanniens Militärmacht hatte sich darauf konzentriert, die Besitzungen in Indien und Südafrika zu stützen. Südrhodesien war gefallen, Salisbury brannte wie ein Herbstfeuer; Ägypten und Sudan fielen an die Moslemrebellen. Watson war aus den feindlichen Trümmern von Kairo befreit und auf einem schrecklich überfüllten Truppentransporter nach Kanada verschifft worden. Er verbrachte Monate in einem Auffanglager in den unbewohnten Wäldern von British Columbia und wurde schließlich in eine Präriestadt verlegt, wo Kitcheners Exilregierung eine Fabrik für Handfeuerwaffen unterhielt.
Vor 1912 war er kein außergewöhnlicher Offizier gewesen. Hatte er sich geändert, oder hatte sich das Militär geändert? Er tat sich als eine Art Vertrauensmann des Offizierskorps hervor; lebte wie ein Mönch, überstand mit erstaunlichem Gleichmut bitterkalte Winter und kraftzehrende, trockene Sommer. Der Gedanke, dass nicht viel gefehlt hatte und er wäre in Kairo von Mahdisten enthauptet worden, erlegte ihm eine gewisse Bescheidenheit auf. Schließlich, als der Wiederaufbau in Schwung kam, wurde er nach Ottawa beordert, wo man dringend Militäringenieure suchte.
Offiziell sprach man von ›Wiederaufbau‹, weniger offiziell von ›Kitcheners Spleen‹: die Errichtung eines neuen London an den Ufern eines Flusses, der nur annähernd die Themse war. Jerusalem mitten in einem grünen und unfreundlichen Land. Nur eine Geste, meinten Kritiker, doch selbst diese Geste war nur möglich, weil es die geschundene, aber immer noch mächtige Royal Navy gab. Die Vereinigten Staaten propagierten die arrogante Forderung, Europa müsse ›frei und offen für eine Wiederbesiedlung ohne Grenzen‹ sein — die sogenannte Wilson-Doktrin, die de facto eine amerikanische Hegemonie, eine amerikanische Neue Welt bedeutete. Die deutsche und die französische Rumpfregierung, gelähmt durch Streitereien um die gegenseitige Anerkennung und den Verlust ihrer europäischen Ressourcen, gaben nach dem ersten Scharmützel auf. Kitchener war es inzwischen gelungen, eine Sonderregelung für die Britischen Inseln zu verhandeln, was noch mehr Protest auslöste. Doch die verschmähten Überbleibsel des Old Europe konnten ohne industrielles Standbein nichts gegen die geballte Macht der Royal Navy und der White Fleet ausrichten.
Also eine Art Burgfriede. Aber kein stabiler, dachte Watson. Dieser zivile Frachter zum Beispiel und seine militärische Ladung. Watson hatte den geheimen Auftrag, eine Waffenladung von Halifax[28] nach London zu begleiten. Vermutlich sollte das Zeughaus aufgestockt werden, aber das war nicht die erste Ladung dieser Art, die Kitchener auf den Weg gebracht hatte, und bestimmt nicht die letzte. Watson konnte nur vermuten, wozu die Neue Welt so viele Gewehre und Maxim-MGs (Sir Hiram S. Maxim (geb. 1840), in Amerika geborener, britischer Erfinder.) und Mörser benötigte… dann aber war der Friede nicht so friedlich, wie er sich ausnahm.
Die Reise war ohne Zwischenfälle verlaufen. Das Meer war ruhig gewesen, die Tage so hell, als hätte man sie in blaues Metall gehämmert. Watson hatte die viele freie Zeit genutzt, um sein Leben Revue passieren zu lassen. Die Tragödie von 1912 hatte er relativ ungeschoren überstanden. Seine Eltern hatten die Verwandlung nicht mehr erlebt und Geschwister, Frau oder Kinder, die er hätte verlieren können, gab es nicht. Er hatte nur ein Leben zu verlieren. Einen Koffer voller Erinnerungen, die langsam aber sicher verblassten. Die Vergangenheit war wie abgeschnitten und die Jahre ohne Kompass und ohne Ballast waren entsetzlich rasch verflogen. Vielleicht war es ja richtig, dass er sich wieder nach England aufgemacht hatte: diesem neuen England, diesem aufregenden Pseudo-England. Dieser stickigen, schmucklosen Londoner Hafenbehörde in ihrem grau verstaubten Backsteinhaus. Er wies sich aus, wurde in ein Hinterzimmer geführt und einem korpulenten, südafrikanischen Kaufmann vorgestellt, der sich bereit erklärt hatte, das Waffenmaterial einzulagern, bis das Zeughaus zur Aufnahme bereit war. Pierce hieß der Mann. Jered Pierce.
Watson streckte die Hand aus. »Erfreut, Sie kennen zu lernen, Mr. Pierce.«
Der Südafrikaner umschloss Watsons Hand mit seiner riesigen Pranke. »Ganz meinerseits, Sir.«
London machte Caroline Angst, doch der enge, verwinkelte Laden ihres Onkels ging ihr auf die Nerven. Von Zeit zu Zeit hatte sie Tante Alice die Hausarbeit abgenommen, doch sie musste sich auch um Lily kümmern. Caroline wollte nicht, dass Lily alleine draußen spielte, wo sich der Kehricht sammelte und die Gosse unbeschreiblich war, und drinnen war Lily eine Landplage, jagte die Katze oder hielt Teekränzchen mit den Porzellanfiguren. Jedes Mal, wenn Alice sich anbot, auf Lily aufzupassen, während Caroline das Lunchpaket für Jered zum Hafen brachte, war Caroline erleichtert. Sie fühlte sich befreit und genoss das Alleinsein.
Sie hatte sich vorgenommen, heute Nachmittag nicht an Guilford zu denken, und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Eine Schar schmutziger englischer Kinder rannte vorbei — nicht auszudenken, das Jüngste könnte hier in diesem Albtraum geboren sein! Der Junge zerrte den Buschhüpfer an einer Schnur hinter sich her; die sechs blassgrünen Beine des Tiers überschlugen sich fast und die dunklen Augen rollten vor Angst. Warum nicht? Gut, wenn in dieser halb menschlichen Welt nicht bloß die Menschen Angst hatten. Solche Gedanken hätte sie nie mit Guilford teilen können.
Aber Guilford war fort. Siehst du, dachte Caroline, du kannst nicht anders. Nur Unheil konnte ihn vorzeitig zurückbringen, aber selbst das stand in den Sternen.
Vermutlich war er schon im Hinterland von Darwinia, das noch unheimlicher war als dieser grausige Schatten von London.
Sie hatte es aufgegeben, sich nach dem Warum zu fragen. Er hatte es ihr ein Dutzend mal geduldig auseinandergelegt und seine Antworten erschienen auf den ersten Blick auch plausibel. Doch Caroline ahnte andere Beweggründe, unterschwellige, so mächtig wie die Gezeiten. Die Wildnis hatte gerufen und Guilford folgte ihrem Ruf, egal wie wild die Tiere, wie tückisch die Flüsse und wie tödlich das Fieber und wie gefährlich die Banditen waren. Wie ein unglücklicher kleiner Junge war er von zu Hause ausgerissen.
Und hatte sie hier zurückgelassen. Sie hasste dieses England, hasste es sogar, dieses Land so zu nennen. Sie hasste seine Geräusche, den Lärm der Menschen und mehr noch die Stimmen der Natur, die nachts durchs Fenster sickerten, Laute, deren Herkunft ihr völlig schleierhaft war, ein Geklapper wie von Insekten; ein Klagen wie von einem kleinen verletzten Hund. Sie hasste den Gestank dieses Englands und sie hasste seine giftigen Wälder und die spukenden Flüsse. London war ein Gefängnis, das von Monstern bewacht wurde.
Sie bog in die Uferstraße ein. Aus Gräben und Kanälen sickerten die Abwässer in die Themse; Möwen schossen mit heiseren Rufen übers Wasser. Caroline starrte unbeteiligt auf den Schiffsverkehr. Weit weg tauchte eine Schlammschlange aus dem Fluss, der gesprenkelte Hals stand wie ein Fragezeichen über dem schmutzig braunen Wasser. Caroline sah zu, wie Lastkräne ein Segelschiff löschten — der Kohlepreis ließ das gute alte Segel wieder aufleben, obwohl diese speziellen Segel in einer ungemein komplizierten Takelage saßen. Barhäuptige Männer und solche mit Turban kutschierten Kisten auf großen Frachtkarren und rollenden Plattformen; sonnenbeschienene Lastwagen dösten an schattigen Laderampen. Sie trat in das schattige Gebäude der Hafenbehörde, wo die Luft zwar zum Schneiden dick, aber eine Spur kühler war.
Jered kam auf sie zu und nahm ihr die Dose aus der Hand. Er bedankte sich auf seine fahrige Weise und sagte: »Sag Alice, ich komme zum Abendessen. Und sie soll ein Gedeck mehr auflegen.« Hinter ihm stand ein groß gewachsener Mann in einer sauberen aber fadenscheinigen Uniform, der sie frei heraus ansah. Jered bemerkte den Blick. »Oberleutnant Watson? Das ist Caroline Law, meine Nichte.«
Der Oberleutnant mit dem hageren Gesicht nickte ihr zu. »Miss«, sagte er gesetzt.
»Mrs.«, stellte sie richtig.
»Mrs. Law.«
»Oberleutnant Watson wird für eine Weile im Hinterzimmer des Ladens wohnen.«
Caroline dachte: Ach, wirklich? Sie besah sich den Lieutenant genauer.
»Die Kaserne ist überfüllt«, sagte Jered. »Wir nehmen ab und zu Gäste auf. Zu Ehren von König und Vaterland.«
Das ist nicht mein König, dachte Caroline. Und auch nicht mein Land.
»Wissen Sie«, sagte Randall, »ich glaube, ich bevorzuge den altmodischen Gott; der braucht keine Wunder.«
»Und die Wunder in der Bibel?«, erinnerte Vale den Professor. Wenn Randall trank, was er meistens tat, neigte er zu einer verdrossenen Theologie. Heute saß er in Vales Studio und entwickelte seine Gedanken, die Knöpfe drohten von der Weste zu springen und auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
»Da gehören sie auch hin.« Randall nippte von dem teuren Bourbon. Vale hatte ihn nicht zuletzt für den Professor gekauft. »Soll Gott doch die Sodomiten heimsuchen. Die Belgier heimzusuchen ist irgendwie lächerlich.«
»Seien Sie auf der Hut, Dr. Randall. Er könnte Sie heimsuchen.«
»Das hätte er längst getan, wenn er gewollt hätte. Habe ich eine Blasphemie begangen, Mr. Vale? Dann begehe ich jetzt die nächste. Ich bezweifle, dass der Exitus von Europa eine göttliche Intervention war, egal was uns der Klerus weismacht.«
»Diese Meinung ist nicht beliebt.«
Randalls Blick huschte über die zugezogenen Vorhänge und den Schutzwall aus Büchern. »Hört jemand mit?«
»Nein.«
»Ich halte es für eine Naturkatastrophe. Das Wunder, meine ich. Offensichtlich eine Katastrophe der besonderen Art, aber wer noch nie, sagen wir, einen Tornado erlebt hat und noch nie von einem gehört hat, muss der ihn nicht für ein Wunder halten?«
»Naturkatastrophen wurden immer als Eingriff Gottes betrachtet.«
»Auch wenn der Tornado nichts weiter als ein Unwetter ist, genauso übernatürlich wie ein Frühlingsregen?«
»Vielleicht ist der Frühlingsregen ja übernatürlich. Nein, Sie sind ein Skeptiker, Dr. Randall.«
»Jeder ist ein Skeptiker. Hat Gott sich gebückt und trägt die Erde seitdem seinen Daumenabdruck? William Jennings Bryan[29] lag viel an der Antwort, mir nicht.«
»Nein?«
»Es ist das Motiv. Sehen Sie, eine Menge Leute haben politisches Kapital aus Frömmigkeit und Fremdenfeindlichkeit geschlagen, doch das trägt nicht. Es gibt nicht genug Ausländer und Wunder, um die Krise in Gang zu halten. Die eigentliche Frage ist, wie viel wir bis dahin zu leiden bereit sind. Ich rede von politischer Intoleranz, unzumutbaren Steuern, ja sogar von Krieg.«
Vale weitete ein klein wenig die Augen, das einzige Zeichen der Erregung, die in ihm aufloderte. Die Götter spitzten die Ohren. »Krieg?«
Vielleicht wusste Randall ja etwas. Er war Kurator am Smithsonian, gehörte aber auch zu den Kapitalbeschaffern des Instituts. Er hatte vor Kongressausschüssen geredet und hatte Freunde im Senat.
War das der Grund, warum sich die Gottheit für Randall interessierte? Einer Gottheit zu dienen, brachte es ironischerweise mit sich, dass man entweder das Wie oder das Wozu nicht verstand. Oft genug jedenfalls. Er ahnte lediglich, dass hier etwas auf dem Spiel stand, das seine eigenen Ambitionen zur Bedeutungslosigkeit verblassen ließ. Der ewige Ratschluss sah vor, dass er diesen beleibten Zyniker ins Vertrauen zog, und das genügte. Ich werde belohnt, dachte Vale. Das hatte die Gottheit versprochen. Ewiges Leben vielleicht. Und bis dahin ein gutes Auskommen.
»Krieg«, sagte Randall, »zumindest aber ein paar martialische Manöver, um die Briten in ihre Schranken zu weisen. Die Finch-Expedition… Sie haben davon gehört?«
»Aber sicher.«
»Sollte die Finch-Expedition von Partisanen attackiert werden, wird der Kongress Krach schlagen und den Engländern die Hölle heiß machen. Die Säbel werden nur so rasseln. Junge Männer werden sterben.« Randall lehnte sich vor, die Halslappen zerknittert und fleischig. »Das ist doch das Blaue vom Himmel. Ich meine, dass Sie mit den Toten reden können. Oder?«
Als öffne sich eine Tür. Vale lächelte nur. »Was glauben Sie?«
»Was ich glaube? Ich halte Sie für einen Hochstapler, der wie Seife duftet und weiß, wie man einer Witwe schmeichelt. Nichts für ungut.«
»Warum fragen sie dann?«
»Weil… weil die Umstände sich geändert haben. Sie wissen schon.«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Ich glaube nicht an Wunder, aber…«
»Aber?«
»So viel hat sich geändert. Politik, Geld, Mode — die Landkarte vor allem —, aber das ist nicht alles. Ich beobachte Leute, gewisse Leute, und da ist etwas in diesen Augen, diesen Gesichtern. Etwas Neues. Als hätten sie ein Geheimnis, das sie vor sich selbst hüten müssten. Und das macht mir Sorge. Ich begreife das nicht. Sehen Sie, Mr. Vale, eben noch war ich Skeptiker und jetzt bin ich Mystiker. Schieben Sie es auf den Bourbon. Aber ich frage Sie noch einmal. Reden Sie mit den Toten?«
»Ja. Ich rede mit ihnen.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Und was sagen Ihnen die Toten, Mr. Vale? Worüber reden die Toten?«
»Über das Leben. Das Schicksal der Welt.«
»Irgendwelche Einzelheiten?«
»Oft.«
»Tja, das ist mir ein Rätsel. Meine Frau ist tot, müssen Sie wissen. Letztes Jahr. Eine Lungenentzündung.«
»Ich weiß.«
»Kann ich mit ihr reden?« Er setzte sein Glas auf den Schreibtisch. »Ist das tatsächlich möglich, Mr. Vale?«
»Vielleicht«, sagte Vale. »Wir werden sehen.«
Die Navy hatte in Jeffersonville ein Kanonenboot mit geringem Tiefgang liegen, das die Finch-Expedition so weit ins Landesinnere bringen sollte, bis der Rhein nicht mehr befahrbar war; doch die Abfahrt musste verschoben werden, als der Lotse und ein Großteil der Mannschaft an Kontinentalfieber erkrankten. Guilford wusste nur ganz wenig über die Krankheit. »Ein Sumpffieber«, erklärte Sullivan. »Strapaziös, aber nur selten tödlich. Die Verzögerung wird sich in Grenzen halten.«
Ein paar schwüle Tage später war das Dampfboot zur Abfahrt bereit. Guilford baute auf dem schwankenden, hölzernen Pier seine Kameras auf, die sperrige Trockenplattenkamera und die Rollfilmkamera. Die Photographie hatte seit dem Wunder keine großen Fortschritte gemacht; die langen Arbeitskämpfe von 1915 hatten Eastman Kodak für den größten Teil des Jahres lahmgelegt und die Hawk-Eye-Werke in Rochester waren bis auf den Boden abgebrannt. Dafür hatten beide Kameras ein modernes und elegantes Design. Guilford hatte etliche Platten von der Montana-Expedition koloriert und wollte mit der Ausbeute von Darwinia genauso verfahren, und daher machte er sich genaue Notizen:
Vierzehn Mitglieder der Expedition, Pier in Jeffersonville, Europa: v.l.n.r. stehend Preston Finch, Charles Curtis Hemphill, Avery Keck, Tom Gillvany, Kenneth Donner, Paul Robertson, Emil Swensen; v.l.n.r. kniend Tom Compton, Christopher Tuckman, Ed Betts, Wilson W. Farr, Marion (›Diggs‹) Digby, Raymond Burke, John W. Sullivan.
H’grund: Navy-Boot ›Weston‹, Rumpf graublau; J’ville-Hafen, Wasser türkis unter tiefblauem Himmel; Rhein-Marsch bei leichtem Nordwind, gold & grün & Wolkenschatten, 8 Uhr vormittags. Wir fahren ab.
Und so nahm die Reise unter einem rauen, blauen Himmel ihren Anfang (es schien immer Anfang zu sein, dachte Guilford; Anfang und schon wieder Anfang), wie Weizen tanzten die Spinnenbinsen auf der Marsch. Guilford hatte alle Hände voll zu tun, um aus dem winzigen, fensterlosen Kabuff, das man ihm zugewiesen hatte, ein Photolabor zu machen. Dann ging er an Deck, um nichts zu verpassen.
Bei Einbruch der Dunkelheit wich das Marschland einem trockeneren, sandigeren Uferstrich und die Salzwassergräser wurden von Pagodenbüschen und Orgelhalmen abgelöst, denen der Wind unmelodische Töne entlockte. Nach einem prächtigen Sonnenuntergang wurde aus dem Land eine einzige grenzenlose Finsternis. Zu groß, dachte Guilford, zu leer und zu unscheinbar, um es dem indifferenten Räderwerk Gottes zuzuschreiben.
Er schlief unruhig und wachte fiebernd auf. Er kletterte aus der Hängematte und torkelte — die Bodenplatten tanzten Walzer — und die Gerüche aus der Kombüse erstickten jeden Appetit. Gegen Mittag war er so krank, dass er den Expeditionsarzt kommen ließ. Dr. Wilson Farr diagnostizierte Kontinentalfieber.
»Werde ich sterben?«, fragte Guilford.
»Klopfen Sie ruhig mal an«, meinte Farr und schielte über den Kneifer, dessen Gläser kaum größer waren als die Banderole einer Zigarre. »Ich bezweifle, dass man Ihnen aufmacht.«
Im Laufe des Abends, während das Fieber immer noch stieg und auf Armen und Beinen ein rosiges Erythem blühte, suchte Sullivan ihn auf. Guilford hatte Mühe, die beiden Sullivans zur Deckung zu bringen, und die Unterhaltung driftete wie ein führerloses Schiff. Der Ältere versuchte ihn mit Hypothesen über die darwinische Fauna zu zerstreuen, mit der Anatomie der hiesigen Wirbellosen. Schließlich sagte Sullivan: »Ich glaube, Sie sind jetzt müde…« Und wie müde Guilford war: unsäglich müde. »Nur eins noch, Mr. Law. Wie kommt es Ihrer Meinung nach, dass sich eine rein darwinische Krankheit, eine wundersame Mikrobe, in normalen Sterblichen wie unsereinem pudelwohl fühlt und vermehrt? Sieht das nach einem Zufall aus?«
»Weiß nicht«, murmelte Guilford und drehte das Gesicht zur Wand.
Als die Krankheit ihren Höhepunkt erreichte, träumte er, er sei ein Soldat, der den Rand irgendeines stickigen, staubigen Schlachtfeldes abschritt: eine Feldwache der Toten, die auf einen verborgenen Feind wartet und sich ab und zu hinkniet, um aus einer lauen Wasserpfütze zu trinken — im Angesicht ihres Spiegelbildes, das unsäglich alt war — alt und voller schläfriger Geheimnisse.
Der Traum versank in einer langatmigen Leere, die immer wieder von Blitzen aus Brechreiz und Ekel erhellt wurde, doch am Montag war Guilford über dem Berg, das Fieber ging zurück, er nahm wieder feste Nahrung zu sich und machte sich wieder in seinem Kabuff zu schaffen, derweil die Weston landeinwärts dampfte. Farr brachte ihm eine neue Ausgabe von Finchs Diluvian and Noachian Geognosy,[30] woraufhin Guilford eine Zeit lang mit den verschiedenen Erdzeitaltern befasst war und nicht zuletzt mit der Sintflut, die ihre Spuren in kataklysmischen[31] Umbildungen des Erdmantels hinterlassen hatte, zu denen auch der Grand Canyon gehörte… Sofern, wie Finch zu bedenken gab, diese Formationen keine ›vorherigen Eingriffe waren, die ihr Urheber lediglich mit dem Anschein großen Alters ausgestattet habe‹.
Die Schöpfung, durcheinandergewirbelt von einer weltweiten Flutwelle, die Fossilien in verschiedenen Höhenlagen abgelegt oder — wie es Eden selbst ergangen sein musste — unter Schlamm und Treibsand begraben hatte. Vieles war Guilford nicht neu, obwohl Finch seine Argumente mit einer Fülle von Details untermauerte: die unzähligen Klassifikationen durch Strömung und Ablagerung; ein geologisches Instrumentarium, um ausgestorbene Arten fein säuberlich in getrennte Kategorien einzuordnen. Diese eine Ausdrucksweise aber — ›Anschein von Alter‹ — machte ihm Kopfzerbrechen. Dadurch wurden alle Fakten zu einem Provisorium. Die Welt war ein Bühnenbild, das vielleicht gestern erst entstanden war, frisch ausgestattet mit Gebirgen und Mastodonknochen und menschlichen Erinnerungen — was dem Schöpfer unterstellte, seine menschlichen Ebenbilder nach Belieben zu täuschen, und was eine verlässliche Unterscheidung zwischen dem Zahn der Zeit und einem Wunder unmöglich machte. Das kam Guilford unnötig kompliziert vor — warum aber, wenn man es recht bedachte, sollte die Welt einfach sein? Vielleicht war es nur menschlicher Größenwahn zu glauben, man könne das ganze Universum mit all seinen Sternen und Planeten in eine einzige Gleichung packen (wie man es dem europäischen Mathematiker Einstein nachsagte).
Eben darum hat Gott uns die Heilige Schrift gegeben, würde Finch sagen — um Sinn zu stiften in einer konfusen Welt. Und Guilford kam nicht umhin, Gewicht und Poesie von Finchs Werk zu bewundern, und die darin eingerollte Logik. Er verstand zu wenig von Geologie, um Position zu beziehen… obwohl er sich nicht des Eindrucks erwehren konnte, hier sei eine erhabene Kathedrale auf ein paar knirschenden Pfählen erbaut worden.
Auch Sullivans Frage ging ihm nicht aus dem Kopf. Wie konnte man einen darwinischen Bazillus fangen, wenn der neue Kontinent wirklich eine isolierte Schöpfung war? Und mehr noch: Wieso konnten Menschen gewisse darwinische Pflanzen und Tiere verdauen? Manche waren giftig — viel zu viele —, aber manche waren nicht nur nahrhaft, sondern regelrechte Leckerbissen. Wies das nicht auf eine verborgene Ähnlichkeit hin, auf einen, wenn auch entfernt, gemeinsamen Ursprung?
Na ja, zumindest auf einen gemeinsamen Schöpfer. Sullivan hatte an gemeinsame Vorfahren gedacht. Was aber auf den ersten Blick unmöglich schien. Darwinia existierte kaum länger als eine Dekade… oder existierte vielleicht schon viel länger, dann aber im Verborgenen, völlig unbemerkt von Mensch und Erde.
Das war das Paradoxe am Neuen Europa. Man tippte auf ein Wunder und stieß auf Gemeinsamkeiten; man tippte auf eine gemeinsame Geschichte und schlug sich den Kopf an der stumpfen Kante eines Wunders.
Die Expedition wurde anderthalb Tage von Regen verfolgt, das Tiefland glitzerte unter einem feinen, silberhellen Nebel. Der Rhein wälzte sich durch wilde Wälder, darwinische Wälder von tiefem Moosgrün, die schließlich einem weiten, grünen Teppich aus einer großblättrigen Pflanze wichen, die Tom Compton Fingerkraut nannte. Das Fingerkraut hatte zu blühen begonnen, die winzigen, goldenen Blüten verliehen den Wiesen einen verfrühten Anstrich von Herbst. Für darwinische Verhältnisse ein einladender Anblick — ging man aber ins Fingerkraut, so der Grenzer, dann nicht ohne kniehohe Stiefel, sonst kam man unweigerlich mit dem aggressiven, gelben Saft der Pflanze in Kontakt und zog sich einen unangenehmen Nesselausschlag zu. Schwebende Insekten, so genannte Nesselfliegen, standen tagsüber in Schwärmen über der Ebene, doch trotz ihres martialischen Aussehens hatten sie keinerlei Appetit auf Menschen und mochten sich, wenn man sie ließ, sogar auf die Fingerkuppe setzen, der kleine, lichtdurchlässige Körper eine einzige feine Filigranarbeit, die an gläsernen Weihnachtsschmuck erinnerte.
Die Weston ging mitten im Fluss vor Anker. Guilford, wieder einigermaßen bei Kräften, ging an Land, um Sullivan beim Sammeln von Fingerkraut und einem Dutzend anderer Wiesenpflanzen zu helfen. Die Proben kamen in Sullivans Pflanzenpresse, die gepressten und getrockneten Exemplare kamen in eine Dose, die in Wachstuch eingeschlagen war. Sullivan zeigte ihm eine besonders auffällige, orangefarbene Blume, die überall am sandigen Ufer wuchs: »Ihrer ganzen Struktur nach könnte sie mit dem englischen Mohn verwandt sein. Aber diese hier sind männlich, Mr. Law. Insekten verbreiten die Pollen, indem sie die Staubgefäße regelrecht verschlingen. Die weibliche Blume — hier ist eine, sehen Sie? —, das ist eigentlich gar keine Blume, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Eher ein Docht, den man in Honig getaucht hat. Ein immenser Stempel von wimperiger Struktur, damit die männlichen Pollen zum Gynäzeum gelangen. Insekten bleiben oft daran kleben und mit ihnen die Pollen. Dieses Schema ist typisch für ganz Darwinia und kommt bei terrestrischen Pflanzen nicht vor. Die äußere Ähnlichkeit ist verblüffend, eine Koinzidenz. Als ob derselbe Evolutionsprozess zwei verschiedene Kanäle benutzt hätte — wie der Fluss hier, der dem Rhein ziemlich ähnlich sieht, aber eben nur ziemlich. Er entwässert ungefähr dasselbe Hochland und fließt ungefähr in denselben Ozean, aber die Haken, die er schlägt, sind unberechenbar.«
Und die Strudel, dachte Guilford, und die Stromschnellen, obwohl der Fluss bislang ganz friedlich gewesen war. Ob der Strom der Evolution auch so launisch war?
Sullivan, Gillvany, Finch und Robertson nahmen den Tag in Beschlag — Digby, der Koch der Expedition, nannte das Kollektiv ›Plants and Ants, Stones and Bones‹. Die Nacht gehörte Keck, Tuckman und Burke, den Landvermessern und Navigatoren mit ihren Sextanten und Sternen und Karten bei Lampenlicht. Guilford konnte es nicht lassen, Keck nach der genauen Position zu fragen, denn seine Antworten waren jedes Mal so urkomisch: »Wir fahren in die Kölner Bucht ein, Mr. Law, und wenn noch alles beim Alten wär, könnten wir bald Düsseldorf sehen.«
Die Weston liegt in einer breiten, trägen Flusskehre vor Anker, die T. Compton ›Cathedral Pool‹ nennt. Der Rhein kommt aus einem friedlichen Senkungsgraben, östlich von uns das hügelige Bergische Land, irgendwo vor uns die Rheinschlucht. Üppig bewaldetes Gebiet: Moscheebäume (größer als die englische Spezies), riesige khakifarbene Salbeikiefern, dichtes Unterholz. Vielleicht Brandgefahr bei anhaltender Trockenheit. Im anderen Europa war das ein Braunkohlenrevier; laut Compton wurden hier Prospektoren gesichtet, auch Stollen & flache Minen (selten), und wir haben primitive Straßen & ein paar Boote und Flöße gesehen. Finch sucht Beweise für verkokbareKohle, behauptet, aus dieser Region würde eines Tages ein Eisen- und Stahlzentrum. So Gott will, mit Roheisen aus den Oolithböschungen der Côtes de Moselle, falls die USA einen Kontinent ›fenced with borders‹ verhindern.
Für Sullivan ist Kohle ein weiterer Beleg für ein urzeitliches Darwinia, eine stratigraphische Konsequenz aus der tertiären Aufwölbung des Rheinplateaus. Die eigentliche Frage sei, ob die darwinische Geologie mit der des alten Europas identisch sei und Unterschiede nur auf andere Witterungseinflüsse & Flussverläufe zurückzuführen sind; oder ob die darwinische Geologie nur ungefähr die gleiche ist, also Abweichungen zeigt — was wichtig für unsere Alpenüberquerung ist: Eine unerwartete Schlucht am Mont Genevre oder Brenner würde uns ernüchtert nach J’ville zurückschicken.
Wetter schön, blauer Himmel, Strömung stärker inzwischen.
Das würde so nicht bleiben, wusste Guilford: diese gemütliche Kreuzfahrt mit gut versorgter Kombüse, diese sorglosen Tage mit Kamera und Pflanzenpresse, die Kiesstrände ohne lästige Insekten oder sonstiges Getier, die sternklaren Nächte, wie er sie nur aus Montana kannte. Die Weston dampfte weiter den Senkungsgraben hinauf und die Felswände wurden immer steiler, die Trümmer immer dramatischer, bis es Guilford nicht mehr schwerfiel, sich das alte Europa vorzustellen, die verschwundenen Burgen (»Eberbach«, würde Keck jetzt loslegen, »Marksburg, Burg Sooneck, Kaiserpfalz…«), Scharen von teutonischen Kriegern mit Stacheln und Quasten auf dem Helm…
Doch das war nicht das alte Europa, man merkte es auf Schritt und Tritt: die rastlosen Dornfische in den Untiefen, der Zimtgeruch der Salbeikieferwälder (weder Salbei noch Kiefer, große Bäume, das Geäst eine einzige wendeiförmig ansteigende Rampe), die Nachtrufe von namenlosen Kreaturen. Hier gab es Menschen — Guilford sah ab und zu ein Floß, auch Treidelleinen, Trapperhütten, Rauch von Holzfeuern, Fischreusen —, aber diese Menschen waren erst seit kurzem hier.
Und so fand er eine Art Trost in der Menschenleere dieses Landes, in der eigenen erschreckenden Anonymität, Fußabdrücke hinterlassend, wo bislang noch keine gewesen waren, wohl wissend, dass das Land sie bald wieder tilgen würde. Das Land verlangte nichts und gab nichts als sich selbst.
Doch die sorglosen Tage waren gezählt. Die Weston näherte sich Rheinfelden. Dann musste sie kehrtmachen. Und dann, dachte Guilford, werden wir erst wissen, was es heißt, allein zu sein in dieser Wildnis aus Fels und Wald.
Die Rheinfelden-Kaskade oder der Rheinfall, Endstation für die Schifffahrt. Bis hier war Tom Compton gekommen. Ein paar Trapper, so Compton, wollen mit ihren Kähnen bis zum Lake Constance gekommen sein. Aber Trapper neigen zur Prahlerei.
Die Wasserfalle sind nicht so spektakulär wie die Niagarafälle, aber sie sind eine gebieterische Barriere für alles, was auf dem Wasser fährt. Dichter Nebel über dem Fluss, eine große, bleiche Gewitterwolke hängt über den schwitzenden Felsen & bewaldeten Hügeln. Das Wasser eine einzige rasche, grüne Strömung, Regenwolken verdunkeln den Himmel, auf jedem Felsen und in jedem Spalt ein moosartiges Gewächs mit zierlichen, weißen Blüten.
Habe die Kaskade studiert & photographiert. Fahren zu einer Stelle zurück, die sich als Portage eignet: Wir brauchen Packtiere. Tom Compton weiß von einem ansässigen Pelztierzüchter, der uns vielleicht Tiere verkauft.
PS an Caroline & Lily: Vermisse euch sehr, kommt mir vor, als würde ich mit euch reden auf diesen Seiten, auchwenn ich sehr weit weg bin — tief im verlorenen (oder Neuen) Kontinent, eine seltsame Fremdheit, wohin man auch sieht.
Der Pelztierzüchter entpuppte sich als starrköpfiger Deutsch-Amerikaner, der sich ›Erasmus‹ nannte und auf einer Farm abseits vom Fluss seine Wollschlangenzucht betrieb.
Die Wollschlange, so Sullivan, war zur Zeit der ergiebigste Rohstoff des Kontinents. Pflanzenfressende Herdentiere, die auf den Hochlandwiesen lebten und vermutlich die ganze östliche Steppe bevölkerten; Donnegan war ihnen am Fuß der Pyrenäen begegnet, was nahelegte, dass sie weit verbreitet waren. Guilford war fasziniert und verbrachte fast den ganzen restlichen Tag am Kral dieses Erasmus, und das trotz des penetranten Geruchs, der das bei weitem Unerfreulichste an diesen Tieren war.
Eigentlich, dachte Guilford, erinnerten sie weniger an Schlangen als an Larven — aufgedunsene, bleiche ›Gesichter‹ mit Kuhaugen, walzenförmige Körper auf sechs Beinen, die hinter einem Vorhang aus verfilzten Haarsträngen verschwanden. Als Ressource waren sie ein Sears-Roebuck-Katalog:[32] Wolle für Kleidung, Haut für Leder, Fett für Talg und das milde Fleisch war genießbar. Schlangenwolle war der Hauptwirtschaftsfaktor am Rhein und Schlangenwolle, so Sullivan, habe bereits ihr Debüt in New Yorker Modekreisen gehabt. Entweder, überlegte Guilford, überstand der üble Geruch das Scheren nicht oder niemand würde so etwas anziehen, auch nicht in einem New Yorker Winter.
Und nicht zu vergessen, die Wollschlange war ein zuverlässiges Packtier, das die Erkundung der Alpen enorm erleichtern würde. Preston Finch saß bereits mit Erasmus in dessen Torfhütte und feilschte um fünfzehn oder zwanzig Tiere. Und Erasmus schien hart zur Sache zu gehen, denn als Diggs das Kantinenzelt aufgestellt hatte, verhandelten die beiden immer noch und es ging laut her in der Hütte.
Schließlich stürmte Finch ins Freie und ignorierte das Essen. »Ein schrecklicher Mensch«, knurrte er. »Sympathisiert mit den Partisanen. Zwecklos.«
Der Navy-Lotse und die Crew blieben an Bord der Weston und trafen Vorbereitungen, um mit Proben, Sammlungen, Feldnotizen und Post den Rückweg anzutreten. Guilford, Sullivan, Keck und Tom Compton saßen auf einer Klippe über dem Fluss, labten sich an Digbys aufgewärmtem Corned Beef und sahen zu, wie die Sonne gen Westen sank.
»Das Dumme an Finch ist«, sagte Sullivan, »dass er nicht ein Jota nachgeben kann.«
»Das kann Erasmus auch nicht«, sagte Tom Compton. »Er ist kein Partisan, nur ein brauchbarer Dummkopf. Verbrachte drei Jahre in Jeffersonville und makelte mit Häuten, aber keiner hielt es lange bei ihm aus. Er kann nicht unter Menschen leben.«
»Die Tiere sind interessant«, sagte Guilford. Wie die Thoats in dem Roman von Burroughs. Marsianische Maultiere.
»Dann würde ich sie doch gleich mal photographieren«, sagte Tom Compton und verdrehte die Augen.
Am Morgen war klar, dass die Verhandlungen gescheitert waren. Finch wollte nicht mehr mit Erasmus reden, wenngleich er den Lotsen der Weston bat, noch bis morgen zu warten. Sullivan, Gillvany und Robertson streiften durch die Gehölze in der Nähe der Erasmus-Weiden und sammelten Proben, offenbar in der Hoffnung, die Sache würde sich durch irgendein Wunder zum Guten wenden. Und Guilford baute am Kral seine Kamera auf.
Was Erasmus veranlasste, sich wie ein Giftzwerg aus seiner windschiefen Torfhütte zu stürzen. Guilford hatte selbst noch keine Bekanntschaft mit dem Züchter gemacht und versuchte, nicht mit der Wimper zu zucken.
Erasmus — kaum größer als fünf Fuß, das Gesicht in einem biblisch gelockten Bart versteckt, angezogen mit einem geflickten Köperoverall und einem Umhang aus Wollschlangenhaut, blieb schwer atmend stehen und funkelte Guilford aus sicherem Abstand an. Guilford nickte freundlich und fuhr fort, sein Stativ zu justieren. Sollte dieser Sam Hawkins doch den ersten Schritt tun.
Erasmus brauchte Zeit, bis er den Mund aufmachte: »Können Sie mir sagen, was Sie da machen?«
»Ich photographiere die Tiere, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Da hätte ich doch erst mal gefragt.«
Guilford reagierte nicht. Erasmus atmete schwer, dann: »Dann ist das also eine Kamera?«
»Ja, Sir«, sagte Guilford, »eine Kodak-Plattenkamera.«
»Sie machen Platten-Photos? Wie im National Geographic?«
»Kann man so sagen.«
»Sie kennen das Magazin — National Geographic?«
»Ich habe dafür gearbeitet.«
»Häh? Wann?«
»Letztes Jahr. Deep Creek Canyon, Montana.«
»Das waren Ihre Bilder? Dezember 1919?«
Guilford besah sich den Mann genauer. »Sind Sie Mitglied der National Geographic Society, Mr…, äh… Erasmus?«
»Sagen Sie einfach Erasmus. Und Sie?«
»Guilford Law.«
»Tja, Mr. Guilford Law, ich bin kein Mitglied dieser ehrenwerten Gesellschaft, aber das Magazin kommt hin und wieder den Fluss herauf. Ich nehme es in Zahlung. Lesestoff ist schwer zu bekommen. Ich kenne Ihre Photographien.« Er zauderte. »Diese Bilder von meiner Herde — werden sie veröffentlicht?«
»Vielleicht«, sagte Guilford. »Das entscheiden andere.«
»Verstehe.« Erasmus überlegte. Dann sog er lange und kräftig von der strengen Kralluft. »Hätten Sie Lust, in meine Hütte zu kommen, Guilford Law? Jetzt wo Finch fort ist, könnten wir plaudern.«
Guilford bestaunte die Sammlung auf dem Wandbrett, alles in allem fünfzehn Ausgaben des National Geographic, die meisten mit Wasserflecken und Eselsohren, ein paar wurden durch Bindfaden zusammengehalten, darunter ramponierte, obszöne Postkarten, billige Wildwestromane und ein noch relativ junges Argosy, das er noch nicht kannte.
Er sprach sich anerkennend über die dürftige Bibliothek aus und schwieg über den festgetretenen Erdboden, den Gestank nach gepökelten Fellen, die brütende Hitze, das trübe Licht und den schmutzigen Tisch mit alten Essensspuren.
Angeregt durch Erasmus, erging Guilford sich eine Weile in Erinnerungen an Deep Creek Canyon, den Gallatin River, Walcotts winzige, versteinerte Krustentierchen: Flusskrebse aus dem Kieselschiefer, unvorstellbar alt — wenn man sich über Finchs Vorbehalt hinwegsetzte. Ironischerweise fand Erasmus, ein alter darwinischer Fuchs, der in Milwaukee geboren war und flussab von Rheinfelden lebte, die Idee von Montana-Flussbetten ungemein exotisch.
Die Unterhaltung lief dann doch auf das Anliegen von Preston Finch hinaus. »Nichts für ungut«, sagte Erasmus, »aber er ist ein großspuriger Angeber, damit das klar ist. Will zwanzig Tiere für zehn Dollar das Stück, stellen Sie sich vor?«
»Der Preis ist nicht fair?«
»Oh, der Preis ist fair — mehr als das, wirklich; das ist es nicht.«
»Sie wollen keine zwanzig verkaufen?«
»Sicher will ich. Zwanzig Tiere zu dem Preis brächten mich über den Winter.«
»Und wo, wenn ich fragen darf, liegt dann das Problem?«
»Finch! Finch ist das Problem! Er kommt in meine Hütte, trägt die Nase in der Luft und behandelt mich wie ein Kind. Preston Finch! Dem werd ich keinen Rossapfel verkaufen, und wenn er mir ein Vermögen bietet. Lieber würde ich verhungern.«
Guilford suchte nach einem Ausweg. »Erasmus«, sagte er schließlich, »mit diesen Tieren erreichen wir mehr, mit diesen Tieren kommen wir weiter voran. Je erfolgreicher die Expedition, umso wahrscheinlicher werden Sie meine Photographien gedruckt sehen. Vielleicht sogar im Geographic.«
»Meine Tiere?«
»Ihre Tiere und Sie selbst, wenn Sie sich photographieren lassen.«
Der Viehzüchter strich sich über den Bart. »Na ja. Na ja. Ich würde mich ja photographieren lassen. Aber nein. Ich bleibe dabei. Ich verkaufe nicht an Finch.«
»Einverstanden. Und wenn ich Sie nun bitte, die Tiere mir zu verkaufen?«
Erasmus blinzelte und lächelte träge. »Dann kämen wir womöglich ins Geschäft. Aber hören Sie, Guilford Law, so einfach ist das nicht. Die Tiere werden eure Boote über den Rheinfall tragen und ihr könntet wahrscheinlich bis zum Bodensee fahren, aber wenn ihr Packtiere in den Alpen braucht, dann müsst ihr sie vom Rheinfall bis ans Seeufer treiben.«
»Sie wären der richtige Mann dafür.«
»Jaja, das wäre nicht das erste Mal. Viele Herden überwintern dort. Von da hab ich die meisten Tiere. Für Sie würde ich es tun, klar — umsonst natürlich nicht.«
»Ich habe keine Vollmacht zu verhandeln, Erasmus.«
»Blödsinn. Bereden wir die Einzelheiten. Und dann machen Sie damit, was Sie können.«
»In Ordnung… nur eins noch.«
»Was?«
»Könnten Sie sich von dem Argosy trennen?«
»Äh? Nein. Glaube nicht. Es sei denn, Sie könnten etwas in Zahlung geben.«
Guilford fragte sich, ob Dr. Farr seine Diluvian and Noachian Geognosy überhaupt vermissen würde.
Unterhalb von Rheinfelden die Farm von Erasmus. Der Kral, die Wollschlangen. Erasmus bei seiner Herde. Sturmwolken im NW; Tom Compton sagt, es gibt Regen.
PS. Mit Hilfe der ›marsianischen Maultiere‹ können wir die zusammenlegbaren Motorbarkassen an den Kaskaden vorbeischaffen — raffinierte Leichtkonstruktionen aus weißer Eiche und Michigan-Kiefer, sechzehn Fuß lang, mit wasserdichtem Stauraum und abnehmbarem Schwert — und dann wahrscheinlich bis zum Lake Constance fahren (Erasmus nennt ihn Bodensee). Die Weston bringt alles, was wir bis jetzt gesammelt und notiert haben, nach J’ville.
Preston Finch scheint mir das Gespräch mit Erasmus übelzunehmen — er guckt mich an wie ein zürnender Jehova mit Tropenhelm —, nur Tom Compton scheint beeindruckt: Immerhin spricht er neuerdings mit mir und nimmt mich nicht mehr nur Sullivan zuliebe in Kauf. Bot mir sogar einen Zug aus seiner notorischen & speichelnassen Pfeife an, was ich höflich abgelehnt habe, auch wenn uns das wieder zurückwarf — er ist dazu übergegangen, mir mit seinem Wachstuchbeutel getrockneter Blätter zu winken & dabei auf eine Weise zu lachen, die nicht gerade schmeichelhaft ist.
Wenn das Wetter mitspielt, marschieren wir morgen früh los. Die Heimat war noch nie so weit entfernt wie jetzt und das Land wird mit jedem Tag fremder.
Caroline passte sich dem seltsamen Rhythmus von Onkel Jereds Haushalt an. Wie London und der größte Teil der heutigen Welt hatte auch das Haus ihres Onkels den Charakter eines Provisoriums. Er ging zu ungewöhnlichen Zeiten schlafen und stand zu ebenso ungewöhnlichen Zeiten auf. Häufig überließ er Alice den Laden (und immer häufiger Caroline). Sie kannte sich zunehmend besser mit Schrauben, Muttern, Winden und Nägeln und gelöschtem Kalk aus. Und dann war da noch das mäßig unterhaltsame Rätsel namens Colin Watson, das auf einem Feldbett im hinteren Teil des Ladens schlief und sich wie ein ruheloses Gespenst hinaus- und hereinschlich. In regelmäßigen Abständen nahm er am Abendessen der Pierce teil, war tadellos höflich und etwa so gesprächig wie ein Backstein. Er war hager, aß nicht viel und errötete leichter als Caroline es von einem Soldaten erwartet hätte. Obwohl die Tischgespräche von Onkel Jered manchmal ziemlich derb waren.
Lily hatte sich erstaunlich gut an die neuen Verhältnisse gewöhnt, weniger gut an die Abwesenheit ihres Vaters. Von Zeit zu Zeit fragte sie immer noch nach ihrem Daddy. »Dein Vater hat den englischen Kanal überquert«, erklärte ihr Caroline. »Er ist jetzt da, wo vor ihm noch kein Mensch war.«
»Ist er auch vorsichtig?«
»Sehr vorsichtig. Und sehr tapfer.«
Lily fragte meistens vor dem Einschlafen. Es war Guilford, der ihr immer vorgelesen hatte, ein Ritual, auf das Caroline gegen alle Vernunft ein bisschen eifersüchtig gewesen war. Guilford las Lily mit einer Ernsthaftigkeit vor, die Caroline nicht aufbrachte, weil sie mit den Büchern haderte, die Lily so gern hatte und in denen es immer nur um Feen und Monster ging. Doch Caroline übernahm die Aufgabe und brachte so viel Enthusiasmus auf, wie sie irgend konnte. Lily brauchte einfach den guten Ausgang einer Geschichte, bevor sie sich richtig entspannen, ihre Wachsamkeit aufgeben und einschlafen konnte.
Caroline fand dieses Ritual beneidenswert einfach. Allzu oft trug sie die Bürde aus Ungewissheit und Sorge bis weit in die Morgenstunden hinein.
Trotzdem, die Sommernächte waren warm, und die Luft trug einen Duft, der fremd aber nicht unangenehm war. Gewisse hiesige Pflanzen, so Jered, blühten nur bei Nacht. Caroline malte sich fremdartige Mohnblumen aus, mit schweren Blüten und betäubender Wirkung. Sie gewöhnte sich an, das Schlafzimmerfenster offen und die blumige Brise über ihr Gesicht fächeln zu lassen. Mit jeder Sommernacht fand sie leichter in den Schlaf.
Als der Juli zur Neige ging, war es Lilys Schlaflosigkeit, die darauf hindeutete, dass sich in Jereds Haus etwas verändert hatte.
Lily hatte dunkle Ränder unter den Augen. Lily stocherte wie betäubt in ihrem Frühstück herum. Lily schweigsam und verbissen am Mittagstisch, sich von Carolines Onkel wegduckend.
Caroline wollte der Sache nicht auf den Grund gehen — wollte nicht wahrhaben, dass etwas nicht stimmte, hasste die Vorstellung, es könne noch schlimmer kommen, als es ohnehin schon war. Eines warmen Abends, als Lily immer noch unruhig war, obgleich sie ihr zwei Kapitel aus ›Dorothy‹ vorgelesen hatte, wie Lily diese ewig gleichen Märchen nannte, da nahm sie all ihren Mut zusammen.
Das kleine Mädchen zog sich die Decke übers Kinn. »Ich werde immer wach, wenn sie kämpfen.«
»Wenn wer kämpft, Lily?«
»Tante Alice und Onkel Jered.«
Caroline wollte es nicht glauben. Lily musste andere Stimmen hören, von der Straße vielleicht.
Doch Lilys Zimmerchen hatte nicht mehr als ein Guckloch, das auf ein Seitengässchen ging und nicht auf die geschäftige Marktstraße. Es war tatsächlich eine ausgebaute Abstellkammer im hinteren Flur; Jered hatte daraus ein winziges aber gemütliches Schlafzimmer für seine Nichte gemacht. Genug Platz für ein Mädchen, seinen Teddy und seine Mutter, die ein Weilchen sitzenblieb und vorlas.
Doch das Zimmerchen teilte sich eine Wand mit dem Schlafzimmer von Jered und Alice, und diese Wände waren nicht besonders dick. Stritten Jered und Alice zu später Stunde, wenn sie sich allein wähnten? Die beiden schienen ganz glücklich zu sein… ein bisschen reserviert vielleicht, jeder in seiner eigenen Welt, wie es bei älteren Paaren keine Seltenheit war, aber zufrieden eben. Sie konnten sich noch nicht lange so streiten oder Lily hätte sich beklagt oder zumindest Symptome gezeigt.
Die Streiterei musste begonnen haben, nachdem Colin Watson hier angekommen war.
Caroline riet Lily, die Stimmen einfach zu überhören. Tante Alice und Onkel Jered seien nicht wirklich böse miteinander, sie hätten nur Meinungsverschiedenheiten. Sie würden einander wirklich sehr lieb haben. Lily schien das zu akzeptieren, nickte und schloss die Augen. Im Laufe der nächsten Tage besserte sich ihr Verhalten ein wenig, obwohl sie ihrem Onkel nach wie vor aus dem Weg ging. Caroline verdrängte die Sache, und dachte nicht mehr daran bis zu jener Nacht, da ihr über einem Kapitel von ›Dorothy‹ die Augen zufielen und sie irgendwann nach Mitternacht verkrampft und mit Gliederschmerzen neben Lily aufwachte.
Jered war außer Haus gewesen. Das Türgeräusch hatte sie aufgeweckt. Lieutenant Watson war mit von der Partie gewesen; Jered sagte etwas, das sie nicht verstehen konnte, bevor sich der Lieutenant nach hinten in den Laden zurückzog. Dann erreichten Jereds schwere Tritte den Flur und Caroline zog aus einem unerfindlichen Grund Lilys Türe ins Schloss.
Es war schon absurd, in dieser lichtlosen und mehr als klaustrophobischen Enge hellwach in Nachthemd und Schneidersitz zu hocken. Lilys regelmäßiger Atem, sanft wie ein Seufzer. Jered polterte den Flur hinunter, gefolgt von einer gewaltigen Fahne aus Tabakrauch und Bier.
Jetzt hörte Caroline, wie Alice ihn begrüßte, die leise Stimme war fast so tief wie eine Männerstimme und Jereds Stimme war ganz Brustkorb und Bauch. Erst konnte Caroline nichts verstehen und dann auch nicht mehr als den einen oder anderen Satzfetzen, auch dann nicht, als die Stimmen lauter wurden. Aber was sie aufschnappte, war bedrückend.
… weiß nicht, wie du da reingeraten bist… (Stimme von Alice)
…tue meine gottverdammte Pflicht… (Jered)
Dann wachte Lily auf und brauchte Trost, und Caroline streichelte das goldblonde Köpfchen und beschwichtigte sie.
…es könnte ihn das Leben kosten…
… nichts dergleichen!
… Carolines Mann! Lilys Vater!
… ich stelle nicht die Weichen… hab ich nie… werd ich nie…
Und dann urplötzlich verstummten die Stimmen. Sie malte sich aus, wie Jered und Alice ihr großes Bett in Territorien einteilten, mit Schultern und Hüften Grenzen markierten, so wie sie und Guilford es manchmal taten, wenn sie gestritten hatten.
Sie wissen etwas, überlegte sie. Und es hat mit Guilford zu tun, und sie wollen es mir nicht sagen.
Etwas Schlimmes. Etwas Schreckliches.
Aber sie war zu müde, zu bestürzt, um sich einen Reim zu machen. Sie gab Lily das übliche Küsschen und zog sich in ihr Zimmer zurück, wo das Fenster offenstand und die Gardinen tändelten und die Brise das eigenartige Parfüm der englischen Nacht ins Zimmer trug. Sie glaubte, nicht schlafen zu können, und sie schlief trotzdem; sie wollte nicht träumen und träumte unzusammenhängend von Jered, von Alice und von dem jungen Lieutenant mit dem melancholischen Blick.
Der Sommer des Jahres 1920 war ein kalter Sommer, zumindest in Washington. Die Leute gaben den russischen Vulkanen die Schuld, der feuerspeienden Linie geologischer Störungen, die das Wunder im Osten begrenzte. Glaubte man den Flüchtlingen, die Wladiwostok vor den japanischen Unruhen verließen, brachen diese Vulkane seit 1912 sporadisch aus. Gebt den Vulkanen die Schuld, dachte Elias Vale, oder den Sonnenflecken, Gott oder den Göttern — es läuft alles auf das Gleiche hinaus. Er war einfach nur froh, aus dem tristen Regen heraus- und in die noch tristere Main Hall des National Museum zu kommen, die gegenwärtig renoviert wurde — eine Arbeit, die man 1915 und dann jedes Jahr hinausgeschoben hatte, für die Eugene Randall aber schließlich Bundesmittel herausgekitzelt hatte.
Randall entpuppte sich als Administrator, der seine Arbeit ernst nahm, als Flegel übelster Sorte also. Und als einsamer Mann, der seine Laster zufriedenstellte. Er hatte darauf bestanden, Vale ins Museum zu bringen, ganz so wie Mütter darauf bestehen, ihre Säuglinge zu zeigen: Man rechnet mit Bewunderung, und bliebe sie aus, wäre man beleidigt.
Ich bin nicht dein Freund, dachte Vale. Demütige dich nicht selbst.
»So viel ist immer und immer wieder hinausgeschoben worden«, hörte er Randall sagen. »Aber dann geht es auf einmal doch voran. Nicht was uns fehlt, ist das Problem, sondern was wir haben — das schiere Volumen der Sache — wie wenn man packen will und der Schrankkoffer erweist sich als zu klein. Walskelette in die Südhalle, zweiter Stock, Westflügel, und das bedeutet, wirbellose Meeresbewohner in die Nordhalle, was bedeutet, die Bildergalerie muss vergrößert werden, die Main Hall renoviert…«
Vale starrte verdutzt auf das Gerüst, die Zeltbahnen, die den marmorierten Boden schützten. Heute war Sonntag. Die Arbeiter waren zu Hause. Das Museum war düster wie eine Leichenhalle, der zu besichtigende Leichnam war der Mensch und seine Werke. Regen verschlierte die bleigefaßten Fenster.
»Nicht dass wir reich wären.« Randall führte ihn eine Treppe hinauf. »Es gab eine Zeit, da kamen wir aus mit dem Geld — damals —, aber heute? Hinterlassenschaften so groß wie Fliegenschisse. Das Vermögen ist nur noch ein Schatten seiner selbst, nur noch ein paar lächerliche Erbschaften, nutzlose Eisenbahnobligationen, ein dünnes Rinnsal an Zinsen. Was uns bleibt, sind Bewilligungen durch den Kongress, und der ist zurückhaltend seit dem Wunder, obschon man für die Reparaturen aufkommt, für die Stahlregale in der Bücherei…«
»Und die Finch-Expedition«, sagte Vale, wobei er einer inneren Eingebung folgte, die womöglich von seiner Gottheit kam.
»Ja richtig, und so wie die Dinge liegen, bete ich, dass ihnen nichts zustößt. Wir haben sechs Kongressmitglieder im Aufsichtsrat, aber ich bezweifle, ob wir politisch d’accord sind, wenn es um die Englische Frage oder die Japanische geht. Mag sein, dass ich Mr. Cabot Lodge unrecht tue.«
Seit Wochen hatte Vales Gottheit ihren Probanden mehr oder weniger in Frieden gelassen, und das war gut so: Vale hatte sich auf simple, menschliche Belange konzentrieren können, seine ›Schwächen‹, zu denen er Trinken und Huren zählte. Nun sah es so aus, als sei die göttliche Aufmerksamkeit wieder einmal provoziert worden. Er spürte ihre Gegenwart im Bauch. Aber warum gerade jetzt? Warum in diesem Gebäude? Warum Eugene Randall?
Genauso gut hätte er sich fragen können: Warum eine Gottheit? Warum ausgerechnet ich? Wenn etwas mysteriös war, dann das.
Auf ins Labyrinth, zu Randalls eichenvertäfeltem Büro, wo es sicher Zeitungen zu lesen gab, eine Haltestelle zwischen dem jüngsten Nachmittagssalon bei Mrs. Sanders-Moss und einer Seance am Abend, letztere absolut vertraulich, so vertraulich wie der Termin mit einem Engelmacher.
»Ich weiß, es gibt Spannungen mit den Engländern, es geht um die Bewaffnung der Partisanen. Ich hoffe inbrünstig, dass Finch nichts zustößt, so unsympathisch er sein mag. Sehen Sie, Elias, es gibt religiöse Splittergruppen, die wollen, dass Amerika sich total aus dem Neuen Europa heraushält, und die haben keine Scheu, sich schriftlich an den Bewilligungsausschuss zu wenden… Ah, da sind wir ja.« Er zog die gelbbräunliche Akte aus dem Schreibtisch. »Mehr brauche ich nicht. Nun aber ab in die Unendlichkeit… nein, darüber macht man keine Witze.« Scheu: »Ich will ihnen ja nicht zu nahe treten, Elias, aber ich komme mir vor wie ein Narr, wirklich.«
»Ich kann Sie beruhigen, Dr. Randall, Sie sind kein Narr.«
»Verzeihen Sie, wenn ich skeptisch bin. Noch jedenfalls. Ich…« Er hielt inne. »Elias, Sie sehen blass aus. Ist Ihnen nicht gut?«
»Ich brauche…«
»Was?«
»Etwas Luft.«
»Na ja, ich — Elias?«
Vale verließ fluchtartig den Raum.
Er floh, weil seine Gottheit sich erhob, und es sah böse aus, das war offensichtlich, eine ausgewachsene Heimsuchung, er spürte es, und die Manifestation verstopfte ihm den Hals und übersäuerte den Magen.
Er wollte zum Büro zurück — hörte Randall rufen —, doch Vale nahm eine falsche Biegung und fand sich in einer lichtlosen Galerie, wo das Skelett eines fremdartigen Fisches, irgendeines darwinischen Tiefseemonsters, von der Decke hing.
Reiß dich zusammen. Er zwang sich stillzustehen. Mit theatralischen Gebärden durfte er Randall nicht kommen.
Aber er musste allein sein, einen Moment lang wenigstens. Die Desorientierung würde sich geben, die Gottheit würde Arme und Beine übernehmen und Vale zu einem passiven, halbwachen Zuschauer in der Hülse seines Körpers machen.
Die Todesangst würde verebben und schließlich ganz vergessen sein. Aber im Augenblick war sie zu frisch, zu überwältigend. Er war noch er selbst — schmerzempfindlich und verängstigt — und doch schon mitten in einer astralen Existenz, einem virulenten, bedrohlichen anderen Ego.
Er sank zu Boden, bettelte um Erlösung; doch die Gottheit war träge, die Gottheit war beharrlich.
Sein gepeinigtes Hirn stellte die unvermeidlichen Fragen:
Warum ich? Warum bin ausgerechnet ich auserkoren für diese Aufgabe, was immer es damit auf sich hat? Und zu Vales Überraschung hielt die Gottheit diesmal Antworten bereit: wortlose Gewissheiten, für die Vale nur unzulängliche Worte fand.
Weil du gestorben bist, sagte die Phantom-Gottheit.
Das ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ich bin nicht tot, protestierte Vale.
Weil du im Atlantik ertrunken bist, 1917, als ein amerikanischer Truppentransporter von einem deutschen Torpedo getroffen wurde.
Die Stimme der Gottheit klang wie die seines Großvaters, es war der gewichtige Ton, den der alte Mann immer angeschlagen hatte, wenn er von der Stierhatz erzählte. Die Stimme der Gottheit speiste sich aus Erinnerungen. Seinen, Elias Vales Erinnerungen. Doch die Worte waren falsch. Das war Unsinn. Das war Irrsinn.
Du bist an dem Tag gestorben, als ich von dir Besitz ergriff.
In einer verlassenen Ziegelei am Ohio River. Wie passte das zusammen? Ein verfallenes Backsteingebäude am Ohio und ein gewaltsamer Tod im Atlantik?
»Ich bin gestorben?«, flüsterte er.
Marternde Stille bis auf Randalls ängstliche Schritte im Dunkel hinter dem aufgehängten Skelett.
»Dann«, fragte Vale, »ist das mein Leben nach dem Tode?«
Er erhielt keine Antwort, nur eine Vision: das Museum in Flammen und dann eine rußgeschwärzte Ruine und widerliche, grüne Götter, die wie insektenähnliche Eroberer zwischen den eingestürzten Mauern und den erkalteten Trümmern spazierten.
»Mr. Vale? Elias?«
Er blickte zu Randall auf und brachte den Umriss eines Lächelns zustande. »Tut mir Leid, ich…«
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Ja. Ein bisschen.«
»Vielleicht sollten wir den… äh… Termin heute Abend verschieben.«
»Nicht nötig.« Vale spürte, wie er aufstand. Er blickte Randall an. »Berufsrisiko. Ich brauche eine Prise frische Luft. Konnte die Tür nicht finden.«
»Hätten Sie doch einen Ton gesagt. Nun ja, kommen Sie mit.«
Hinaus in die Kälte des frühen Abends. Hinaus auf eine regnerische, menschenleere Straße. Hinaus ins Jenseits, dachte Elias Vale. Irgendwo ganz tief in seinem Innern kauerte ein Schrei.
Keck und Tuckmann konnten keine konkreten Warnungen aussprechen. Nach ihren Instrumenten lag das jetzige Rheinfelden etwa an der gleichen Stelle wie die alt-europäische Kaskade, aber die Messungen waren grob und die Stromschnellen, die früher einmal unterhalb der Fälle geschäumt hatten, fehlten entweder oder lagen in einem tieferen, langsameren Rhein begraben. Sullivan sah darin einen weiteren Beleg für ein Darwinia, das sich irgendwie parallel zum alten Europa entwickelt hatte und in dem vor Urzeiten ein einziger stürzender Felsblock den Flusslauf verändert hatte — im Detail zumindest. Finch dagegen führte das Phänomen auf fehlende menschliche Intervention zurück: »Der Rhein wurde abgefischt, gestaut, befahren und über tausend Jahre lang ausgebeutet. Natürlich musste er da seinen Lauf ändern.« Während dieses Europa unberührt war, wie der Garten Eden.
Guilford behielt seine Meinung für sich. Beide Erklärungen erschienen plausibel (oder gleichermaßen unplausibel). Er wusste nur eins: Er war es leid, die Vorräte auf die primitiven Satteltaschen der Wollschlangen zu verteilen; er war es leid, die großen Stone-Galloway-Boote zu schleppen, deren vielgerühmte ›Leichtigkeit‹ sich als etwas sehr Relatives erwies; er war es leid, die Wollschlangen samt Last zu gängeln, während man Rheinfelden in einem elenden Nieselregen umgehen musste.
Endlich tat sich ein Steinstrand auf, an dem sie die Boote sicher zu Wasser lassen konnten. Die Vorräte wurden gleichmäßig auf die wasserdichten Stauräume und die Satteltaschen der Wollschlangen verteilt. Erasmus würde die Tiere zu ihren Sommerweiden am östlichsten Ausläufer des Lake Constance bringen und wollte dort wieder zur Expedition stoßen.
Das Aussetzen der Boote musste bis zum Morgen warten. Es war noch hell genug, um die Zelte aufzuschlagen, die geschundenen Glieder zu hätscheln, Konservendosen zu öffnen und dem angeschwollenen Fluss zuzusehen, der grün wie ein Insekt und breit wie die Boston Bay den Wasserfällen entgegeneilte.
Guilford waren die Boote suspekt.
Preston Finch hatte sie bestellt und getauft: die Perspicacity,[33] die Orinoco, die Camille (nach Finchs verstorbener Frau) und die Ararat. Die Motoren waren Prototypen, klein aber stark, die Schwerter schützten die Schrauben vor Steinen, und eine Reihe von Abschirmungen aus Segeltuch schützte die Motoren vor Wassereinbrüchen. Sofern der Rhein bis Lake Constance so friedlich blieb, überlegte Guilford, würden die Boote schon durchhalten. Wildwassertauglich waren sie jedenfalls nicht. Und die Leichtbauweise wurde durch die vielen Kanister voll Benzin aufgewogen, eine sperrige Last für Mensch und Tier und die reine Platzvergeudung.
Am Bodensee sollten die Boote versteckt werden. Auf der Rückreise würde man sich der Strömung überlassen, dann waren die von Motoren und Benzin befreiten Boote mehr als komfortabel. Und am ersten Tag auf Wasser funktionierten sie auch leidlich, obwohl der Motorenlärm betäubend war und die Auspuffgase fürchterlich stanken. Die Nähe zum Wasser gefiel Guilford mehr als ›hoch zu Ross‹ darüberzugleiten — ein Teil des Flusses zu sein, den Widerstand der Strömung zu spüren und von den Strudeln geschaukelt zu werden, ein winziges Etwas in einem weiten Land. Es hörte auf zu regnen, der Tag hellte sich auf und an den Steilhängen prangten rebenähnliche Gewächse und obenauf standen knorrige Pagodenbäume. Bestimmt haben wir Erasmus und seine Herde längst abgehängt, dachte Guilford, und Erasmus mochte abgesehen von ihnen und ein paar versprengten Partisanen das einzige menschliche Wesen weit und breit sein. Das Land hat uns vereinnahmt, dachte Guilford. Das Land, das Wasser und die Luft.
Wir kampieren, wo ein namenloser Bach in den Rhein fließt. Ein Teich aus ruhigem Wasser, Keck angelt Dorn und blaue Zappler. Kleinwüchsige Salbeikiefern zwischen den Steinbrocken, Laubwerk beinah türkis, verkümmert durch Wind & steinigen Boden.
PS. Fisch im Überfluss, das Abendessen wird schmackhaft, obwohl Diggs beim Ausnehmen stöhnt. Abfall wandert in den Fluss — lockt die Billyfliegen flussab. (Die Billyfliegen beißen, wenn sie gereizt werden; wir schlafen heute Nacht unter Moskitonetzen. Sonstige Insekten nicht besonders lästig oder giftig, obwohl sich ein krabbenartiges Geschöpf mit einem von Kecks Fischen davongemacht hat — hat ihn von einem nassen Felsen geschnappt & ist damit ins Wasser geflitzt. »Scheren wie ein Hummer«, strahlt Keck. »Zählt eure Zehen, Gentlemen!«)
Am nächsten Tag waren sie gezwungen, eine felsige Stromschnelle zu umgehen, ein bitteres Unterfangen ohne Packtiere. Die Boote wurden an Land gehievt und die Route ausgekundschaftet; zum Glück blieb der steinige Uferstreifen breit genug und auch Treibholz war reichlich vorhanden — trockene, hohle Flötenstämme, von Hochwasser an die Steilhänge getragen — bestens geeignet, um als Gleitrollen zu dienen. Trotzdem war die Portage eine einzige Strapaze und nahm einen ganzen Tag in Anspruch; gegen Sonnenuntergang war Guilford nur noch imstande, seine schmerzenden Knochen unter das Moskitonetz zu schleppen und einzuschlafen.
Am Morgen belud Guilford die Perspicacity und half dabei, sie zu Wasser zu lassen; mit von der Partie waren Sullivan, Gillvany und Tom Compton. Die anderen Boote warteten bereits; bis die Perspicacity die Flussmitte erreicht hatte, war das Leitboot, die Ararat mit Finch, bereits hinter der nächsten Biegung verschwunden. Der Fluss war schnell und flach und Guilford saß ganz vorne und hielt nach Felsblöcken Ausschau, immer bereit, das Boot mit dem Ruder von einem Hindernis abzulenken.
Eben noch beharrlich gegen die Strömung arbeitend, begann der Motor plötzlich zu stottern und gab auf.
Die jähe Stille erschreckte Guilford. Er hörte die Camille brummen, vielleicht hundert Yards weiter vorne, das Wasser plätscherte, Sullivan fluchte leise in sich hinein, während er die Abdeckung aus Segeltuch aufschlug und das Motorgehäuse öffnete.
Ohne Antrieb wurde die Perspicacity sofort langsamer, die Strömung zehrte den Schwung auf. Die Rheinschlucht stand mit einem Mal still. Nur das Wasser war in Bewegung. Niemand sagte ein Wort.
Dann sagte Tom Compton: »Die anderen Ruder, Mr. Gillvany. Wir müssen zurück und ans Ufer.«
»Nur ein bisschen Wasser im Gehäuse«, sagte Sullivan. »Ich kann den Motor wieder starten. Na ja.«
Doch Tom Gillvany, dem die Flussreise ohnehin nicht geheuer war, nickte nervös und schnallte die Ruder los.
Guilford benutzte sein Ruder, um das Boot zu drehen.
Er nahm sich einen Augenblick Zeit, um der Camille zu winken, das Problem zu signalisieren, und Keck winkte zur Bestätigung und wendete. Aber die Camille war schon alarmierend weit weg. Und jetzt nahm das Ufer Fahrt auf. Die Perspicacity gehörte dem Rhein.
Das Steinufer, von dem sie abgelegt hatten, flog vorbei. »Oh, Jesus«, stöhnte Gillvany hektisch paddelnd. Sullivan, weiß im Gesicht, ließ den Motor Motor sein und schnappte sich ein Ruder. »Schön regelmäßig rudern«, sagte Tom Compton, die tiefe Stimme klang fast wie das Tosen des Wassers. »Wenn wir nahe genug sind, fang ich uns ab. Her mit der Bugleine!«
Guilford dachte an die Stromschnellen. Vermutlich dachten allmählich alle daran. Er konnte sie jetzt sehen, eine weiße Linie, die den Fluss verschlang. Das Ufer schien kein bisschen näher zu sein.
»Regelmäßig!«, schrie der Grenzer. »Verdammt, Gillvany, Sie sind keine Nähmaschine! Schaufeln sollen Sie!«
Gillvany war ein kleiner Mann und die harschen Worte taten ihre Wirkung. Er biss sich auf die Lippe und stieß das Ruder in den Fluss. Guilford ruderte wortlos, die Arme schmerzten. Schweiß rann ihm von der Stirn, er schmeckte Salz. Der Tag war jetzt nicht mehr kühl. Darwinische Ufervögel, die aussahen wie kohlschwarze Spatzen, flogen Kapriolen über dem Boot.
Der Flussgrund war jetzt zerklüftet, Felsen wie Haifischflossen hinterließen eine weiße Gichtspur, während sich die Perspicacity dem Ufer näherte. Achtern tat es einen raschen, hohlen Schlag. »Das war ein Schwert«, sagte Sullivan atemlos. »Rudern!«
Der nächste Schlag schickte ein knirschendes Zittern durchs Boot — die Schraube, vermutete Guilford. Gillvany riss den Mund auf, aber niemand sagte ein Wort. Das Wasser donnerte immer lauter.
Das Ufer wurde zu einem Wirrwarr aus Felsblöcken, die näher kamen und gefährlich schnell vorüberflogen.
Tom Compton stieß Verwünschungen aus und grapschte nach dem Bugseil, stand auf und sprang aus dem Boot. Er landete verteufelt hart auf einem glitschigen, abgeflachten Felsen, das Seil neben Guilford entrollte sich wie eine wütende Schlange, während er vergeblich gegen die Strömung paddelte. Der Grenzer richtete sich hastig auf und schlang das Seil um einen Granitvorsprung, gerade als die Perspicacity es straff zog. Das Seil schnurrte und peitschte aus dem Wasser. Guilford verankerte sich, als das Boot bockte und wie wild auf die Felsen zukreiselte. Sullivan fiel gegen den Motorblock. Gillvany wusste nicht, wie ihm geschah, als er über Steuerbord ging.
Guilford warf eine Seilschlinge ins Wasser, wo Gillvany verschwunden war, aber der Entomologe war nicht mehr da — auf und davon im schnellen, grünen Wasser, keine Gischtspur, kein Strudel markierte seinen Weg.
Dann schlug die Perspicacity an die Felsen und bäumte sich auf unter dem wütenden Ansturm des Rheins, Guilford klammerte sich mit letzter Kraft an eine Riemendolle.
Oberhalb der namenlosen Stromschnellen gestrandet, zwei Tage inzwischen. Die Perspicacity wird repariert. Für Schwert und Schraube haben wir Ersatz.
Nicht für Gillvany.
PS. Ich kannte Gillvany nicht gut. Er war ein stiller, gelehriger Mensch. Laut Dr. Sullivan ein angesehener Wissenschaftler auf seinem Gebiet. Ertrunken im Fluss. Wir haben flussab gesucht, konnten ihn aber nicht finden. Ich werde mich an sein scheues Lächeln erinnern, seine Ernsthaftigkeit und seine unverhohlene Faszination für den Neuen Kontinent.
Wir trauern alle um ihn. Die Stimmung ist gedrückt.
Ein Hohlraum, wo die Rheinschlucht felsig und steil ist, so etwas wie eine natürliche Höhle, nicht tief aber hoch wie ein Kirche: ›Cathedral Cavern‹ hat Preston Finch sie getauft. Ein Kegel aus Steinen zu Ehren von Dr. Gillvany. Eine Tafel aus Treibholz, in die Keck mit dem Steinhammer eine Inschrift geschlagen hat: ›In Memory of Dr. Thomas Markland Gillvany‹ und das Datum.
PS. So schweigsam, wie wir sind, gibt es nicht viel zu hören: der Fluss, der Wind (es regnet schon wieder), Diggs summt ›Rock of Ages‹, während er das Feuer schürt.
Das Land hat uns zur Ader gelassen.
Morgen, wenn alles gut geht, lassen wir das Boot wieder zu Wasser. Und weiter geht’s. Ich vermisse Frau und Kind.
Weil er nicht schlafen konnte, verließ Guilford nach Mitternacht sein Zelt und ging an der Glut des Feuers vorbei zum Eingang der Höhle, den das Mondlicht aus dem Felsen meißelte. Dort saß Sullivan und spähte mit einem kleinen Messingteleskop in den Nachthimmel. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Mond schmückte sich mit Zirruswolken. Der Himmel über der Rheinschlucht war zum größten Teil sternenklar. Guilford räusperte sich, suchte sich ein Plätzchen zwischen Sand und Steinen und ließ sich nieder.
Der Ältere blickte ihn kurz an. »Hallo Guilford. Nehmen Sie sich in Acht. Billyfliegen mögen zwar keinen Wind, aber ein paar sind immer unterwegs.«
»Sind Sie auch Astronom, Dr. Sullivan? Astronom und Botaniker?«
»Eigentlich nur ein Sterngucker. Aber ich sehe mir einen Planeten an, keinen Stern.«
»Darf man wissen, welchen?«
»Mars«, sagte der Botaniker.
»Der rote Planet«, sagte Guilford, was schon fast alles war, was er über diesen Himmelskörper wusste. Er wusste noch, dass der Mars zwei Monde hatte und Burroughs und der Engländer Wells Fabelhaftes über ihn geschrieben hatten.
»Nicht mehr so rot wie früher«, sagte Sullivan. »Der Mars ist dunkler seit dem Wunder.«
»Dunkler?«
»Der Mars hat Jahreszeiten, so wie die Erde. Im Sommer ziehen sich die Eiskappen zurück und die dunkleren Bereiche dehnen sich aus. Der Planet erscheint rötlich, weil er höchstwahrscheinlich eine Wüste aus oxidiertem Eisen ist. Aber seit einiger Zeit erscheint das Rot gedeckter. Seit einiger Zeit«, sagte er und stützte das Teleskop aufs Knie, »gibt es bläuliche Töne. Man hat die Veränderung spektrographisch gemessen; das Auge ist nicht ganz so empfindlich.«
»Und das heißt?«
Sullivan zuckte die Achseln. »Das weiß keiner.«
Guilford spähte in den vom Mond versilberten Himmel. Die Verwandlung von Europa war mysteriös genug. Nicht auszudenken, wenn noch ein weiterer Planet betroffen wäre. »Darf ich, Dr. Sullivan? Ich würde gerne mal den Mars sehen.«
Er würde dem Mysterium ins Auge blicken: So mutig war er.
Doch der Mars war nur ein tanzendes Lichtfleckchen am darwinischen Firmament, und der Wind war kalt und Dr. Sullivan nicht sehr gesprächig und nach einer Weile kehrte Guilford in sein Zelt zurück und schlief bis zum Morgen. Allerdings unruhig.
Angst, nicht gegenstandslose Angst, sondern Angst ohne greifbaren Gegenstand, mündet letztlich in einer Art Narkose, in Taubheit. Jedes neue Omen macht alles noch freudloser, bis die Freudlosigkeit zu einer Landschaft wird, durch die man sich quält, mit Scheuklappen vor den Augen, nichts mehr aufnehmend. Oder so wenig wie möglich. So erging es Caroline.
Sie erzählte ihrer Tante von Lilys Schlafstörungen. Alice wandte sich ab und blickte geistesabwesend in die Tiefe des Textilladens, vorbei an den Stapeln aus gesteppten, weißen Getreidesäcken und auf ein Lochmuster aus Sonnenstrahlen, das aus dem rückwärtigen Oberlicht fiel.
Sie wischte sich die Hände an der Schürze. »Jered kommt manchmal spät nach Hause. Vielleicht hat er sie gestört, wenn er durch den Flur kommt. Ich werde mit ihm reden.«
Das Geheimnis wurde nicht gelüftet, Caroline wurde nicht eingeweiht und war insgeheim erleichtert. Lily schlief ab jetzt besser, obwohl sie ein paar nervöse Ticks bekommen hatte: zog an der Unterlippe, bis sie wund war; wickelte sich das Haar um den Finger. Sie wollte auf keinen Fall allein sein.
Colin Watson ging weiter aus und ein, ein undurchsichtiger Mann.
Caroline versuchte ihn ins Gespräch zu ziehen, erfuhr aber nur wenig über sein Leben und seine Arbeit; nur dass die Army ihn offenbar vergessen habe; dass er, abgesehen von seinem routinemäßigen Wachdienst im Zeughaus, so gut wie keine Aufgabe habe: Er schien anzudeuten, sich für eine Fehlbesetzung in Kitcheners neurotischem Theater zu halten. Auf die Frage, warum es neuerdings so viele Soldaten in London gab, wusste er keine Antwort. »Die Soldaten sind eine richtige Landplage«, sagte Caroline, doch der Lieutenant ließ sich nicht aus der Reserve locken. Er lächelte nur.
Soldaten und Kriegsschiffe. Caroline hasste es, zum Hafen zu gehen; in den letzten Wochen schien sich die ganze britische Navy hier zu versammeln, lauter ramponierte, vor Kanonen strotzende Schlachtschiffe. Die Frauen in der Marktstraße redeten von Krieg.
Krieg mit wem und wozu? Caroline konnte sich keinen Reim machen. Vielleicht hatte es mit den Partisanen zu tun, dem heimgekehrten Abschaum Europas, ihren lächerlichen Ansprüchen und Drohungen; oder mit den Amerikanern oder den Japanern oder — sie schob alles beiseite.
»Ich vermisse Daddy«, verkündete Lily. Es war Sonntag. Der Textilladen war geschlossen; Jered und Alice machten Inventur und Caroline war mit Lily zur Themse gegangen, einem blauen Fluss unter sengend blauem Himmel, um Segelschiffe anzugucken und eventuell ein Flussmonster zu sehen. Lily mochte die Schlammschlangen so sehr wie Caroline sie verabscheute. Der mächtige Hals, die kalten, schwarzen Augen.
»Daddy kommt bald«, erklärte sie ihrer Tochter, aber Lily zog nur eine krause Stirn, sie war immun gegen Trost. Redlichkeit ist eine Tugend, dachte Caroline, aber nichts ist sicher. Nichts. Wir tun so, den Kindern zuliebe.
Wie perfekt Lily war: Sie saß mit gespreizten Beinen auf der klobigen Holzbank, die Puppe im Schoß. ›Lady‹ hieß die Puppe. »Lady, Lady«, sang Lily vor sich hin, ein Lied aus zwei Noten. Unter dem fleischfarbenen Anstrich der Puppe brach an Wangen und Stirn das Knochenporzellan durch. »Tanz, Lady, tanz«, sang Lily.
Genau in diesem Augenblick, diesem trügerischen Frieden, der so kurz war wie das Läuten einer Glocke, sah Caroline, wie Jered hastig eine holzbefestigte Böschung herunterkam. Ihr Herz tat einen Sprung. Irgendetwas stimmte nicht. Sie sah es ihm an, seinen Augen, seinem Gang. Unwillkürlich packte sie Lily bei den Schultern. »Das tut weh!«, sagte Lily.
Jered stand atemlos vor ihr. »Caroline, ich wollte mit dir reden«, sagte er, »reden, bevor du die Times siehst.«
Er war geduldig und einfühlsam, doch als er fertig war, meinte sie, es in der brutalen Manier einer Schlagzeile zu lesen:
Partisans Attack U.S. Steamer
›Weston‹ Returns Damaged to Jeffersonville,
und dann das Schrecklichste:
Fate of Finch Expedition Unknown.
Das waren aber nur die nackten Tatsachen. Viel schlimmer war, dass Guilford so weit weg war, dass sie überhaupt nichts für ihn tun konnte, vielleicht war er verletzt, vielleicht tot. Guilford tot in der Wildnis und Caroline und Lily allein.
Sie stellte ihrem Onkel die furchtbare Frage: »Ist er tot?«, flüsterte sie, während die Erde unter ihren Füßen schwankte und Lily zur Bank lief, wo Lady zurückgeblieben war, die Augen halb zu und das Kleidchen bis über den Kopf gerutscht.
»Caroline, das weiß niemand. Aber die Schiffe wurden erst angegriffen, nachdem man die Expedition bei Rheinfelden abgesetzt hatte. Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass Guilford etwas zugestoßen ist.«
Ab jetzt werden sie mich alle belügen, dachte Caroline. Machen mich zur Witwe, und er soll wohlauf sein. Sie hob das Gesicht gen Himmel, und das Sonnenlicht fiel blutrot durch ihre Lider.
Die Seance sollte bei Eugene Randall stattfinden, also fuhren sie zu seinem Apartment in Virginia. Es war die traurige Bleibe eines Witwers, die Wand ein einziger Altar für seine verstorbene Gattin Louisa Ellen. Man hatte das Gefühl, ein archäologisches Museum zu betreten, Jahrzehnte eines Lebens reduziert auf Gefäßscherben und Tontäfelchen. Randall ließ die Beleuchtung gedämpft und steuerte zielstrebig auf die Hausbar zu.
»Ich möchte nicht betrunken sein«, erklärte er. »Ich möchte aber auch nicht nüchtern sein.«
»Ich könnte auch einen Schluck vertragen«, sagte Elias Vale.
Es war unvermeidlich, dass Vale sich an seine Gottheit verlor.
Während Vale meinte, die Gottheit ›herbeizurufen‹, war er es, der gerufen wurde, es war Vale, der gebraucht wurde. Er hatte sich nie von sich aus gemeldet. Er hatte nie eine Wahl gehabt. Wenn er sich widersetzt hätte… nicht auszudenken.
Randall wollte mit seiner geliebten Louisa Ellen sprechen, der Frau mit dem Pferdegesicht auf den Photographien, und Vale tat so, als rufe er sie über die große Kluft hinweg, die Augen verdreht, um die eigene Todesangst zu kaschieren. In Wahrheit wich er in sich selbst zurück, ging der Gottheit aus dem Weg und wurde passiv. Er atmete nicht, er wurde beatmet, er war ein Spielball der Gezeiten aus Galle und Blut.
Wie aus weiter Ferne hörte er die halbherzigen Fragen von Randall, obwohl der emotionale Kern peinlich offen zu Tage trat. Randall, der eingefleischte Rationalist, wollte mit der Kraft der Verzweiflung glauben, er könne mit Louisa Ellen sprechen, die vor weniger als einem Jahr an einer tückischen Lungenentzündung gestorben war; doch es fiel ihm schwer, seine eingefleischte Denkungsart aufzugeben. Also stellte er Fragen, die nur Louisa Ellen beantworten konnte, wollte Beweise und litt schreckliche Angst, sie nicht zu bekommen.
Und Vale spürte zum ersten Mal eine andere zusätzliche Präsenz. Eine gequälte, partielle Entität — eine Hülse aus Leid, die durchaus einmal Louisa Ellen Randall gewesen sein mochte.
Ihre Stimme würgte sich aus seinem Kehlkopf. Die Gottheit modulierte den Klang.
Ja, sagte Vale, sie erinnere sich an den Sommer in Maine lange vor dem Neuen Europa, das kleine Ferienhaus am Meer, und es hatte geregnet, so war es doch, den ganzen kühlen Juli hindurch hatte es geregnet, aber darunter habe sie nicht gelitten, sie sei vielmehr dankbar gewesen für jeden Spaziergang am Strand, wann immer die Wolken sich verzogen hatten, und für das Kaminfeuer am Abend, für ihre Sammlung von kreideweißen Muscheln und Schneckenhäusern, für die Patchwork-Steppdecke und das Federbett.
Und so weiter und so fort…
Und als Randall, gerötet vom Pulsschlag in seinen verengten Adern, fragte: »Louisa, du bist es tatsächlich, hab ich Recht?« — da sagte Vale »ja«. Als Randall fragte: »Geht es dir gut?« — da sagte Vale »natürlich«. Hier schwankte seine Stimme ein wenig, weil ihm Louisa Ellen Randall ihre Pein ins Hirn schrie und ihren Hass auf diese Gottheit, die sie entführt hatte, die sie gegen ihren Willen aus… aus…
Aber so sind die Mysterien.
Die Stimme hörte sich nur noch an wie die von Louisa Ellen, als Randalls Skepsis aus der Betäubung erwachte und Vales Gottheit einen Coup de Grâce landete, ein Orakel, eine Prophezeiung: eine Warnung an Randall, die Finch-Expedition sei zum Scheitern verurteilt und er, Randall, solle sich gegen die politischen Folgen wappnen. »Die Partisanen haben die Weston bereits beschossen«, sagte Vale, und Randall erbleichte.
Das war eine knappe und wundersame Prophezeiung. Am Abend des nächsten Tages kamen die Nachrichtenagenturen groß damit heraus. Die Zeitungen in Washington brachten es in Balkenschrift.
Hätte Vale davon gewusst, es hätte ihn nicht gekümmert. Die Gottheit hatte ihn verlassen, das war das Einzige, was zählte. Sein gepeinigter Leib gehörte wieder ihm, und es gab genug Alkohol im Haus, um die Labsal des Vergessens herbeizutrinken.
Lake Constance.
Geographisch gesehen war der Bodensee nicht mehr als eine Erweiterung des Flusses. Doch im Morgennebel hätte er ein weites, friedliches Meer sein können, sanft wie Seide, die junge Sonne stellte silbrige Segel in den Nebel. Das Nordufer, gerade noch zu erkennen, war eine felsige, dicht bewaldete Ungewissheit, Moscheebäume und Salbeikiefern und Bestände eines breitblättrigen, weißstämmigen Baums, für den nicht einmal Tom Compton einen Namen hatte. Kreiselnde Schwärme von Nachtfalken fegten über das schimmernde Wasser.
»Vor mehr als tausend Jahren«, sagte Avery Keck, »gab es an diesen Ufern ein römisches Fort.« Keck hatte in der Perspicacity den Platz von Gillvany eingenommen, er ließ sich durch die holprigen Synkopen des kleinen Motors nicht stören. »Im Mittelalter war Konstanz eine der mächtigsten Städte in Europa. Eine lombardische Stadt auf der Handelsroute zwischen Deutschland und Italien. Jetzt sieht es aus, als hätte sie nie existiert. Nur Wasser. Nur Felsen.«
Guilford wunderte sich laut. Was bloß mit den Europäern passiert sei? Waren sie einfach gestorben? Oder zu einer spiegelbildlichen Erde ausgewandert, auf der Europa intakt geblieben und die übrige Welt verwandelt worden war?
Keck war ein ausgemergelter Mann um die Vierzig mit dem Gesicht eines Leichenbestatters aus der Provinz. Er bedachte Guilford mit einem trübseligen Blick. »Dann haben die Europäer ihre eigene, unberührte Wildnis, die sie auf den Kopf stellen und sich gegenseitig streitig machen können. So wie wir, Gott stehe ihnen bei.«
Lager am Bodensee. Diggs an seiner Feuerstelle. Sullivan, Betts & Hemphill an ihren Zelten. Wiese grün mit einer kleinen, um sich greifenden Blattpflanze, die an türkisfarbenen Klee erinnert. Hohe Wolkendecke, frischer, böiger Wind.
PS. Vielleicht sollte ich aufhören, diese Notizen als ›Postscriptum‹ zu bezeichnen & zugeben, dass es sich um Zeilen an Caroline handelt. Caroline, ich hoffe, du bekommst sie bald zu sehen.
Seit dem tragischen Tod von Gillvany verlief die Reise ohne größere Zwischenfalle, aber dieser eine Zwischenfall hängt wie eine düstere Wolke über uns. Besonders Finch ist verdrossen und wortkarg geworden. Ich glaube, er macht sich Vorwürfe. Er schreibt unentwegt in sein Notizbuch & redet kaum.
Wir kampieren im Weideland, das Erasmus beschrieben hat. Habe riesige Herden von wilden Wollschlangen gesehen, die über Land ziehen wie Wolkenschatten an ’ einem sonnigen Tag. Der findige Tom Compton hat sich angepirscht und ein Exemplar erlegt. Heute ist Schlangenfleisch angesagt — fettige Steaks, die wie wildes Geflügel schmecken, endlich mal keine Konserven. Die Boote sind sicher verstaut, ein gutes Stück über dem Wasserpegel, gut versteckt unter Zeltplanen & einem bemoosten Granitsims & nur zu finden, wenn man weiß, wonach man sucht. Doch wer sollte das sein in diesem menschenleeren Land?
Wir warten auf Erasmus und die Packtiere mit unserem Proviant. Tom Compton ist immer noch der Meinung, wir hätten die Tiere umsonst haben können — sie sind (nichtselten buchstäblich) allgegenwärtig — aber Erasmussens Tiere sind an Gepäck und Zaumzeug gewöhnt und haben uns viel Arbeit abgenommen.
Immer vorausgesetzt, Erasmus kommt wie verabredet.
Wir kennen uns inzwischen ganz gut — mit all unseren Marotten & Vorlieben — und ich hatte sogar ein paar lohnende Gespräche mit Tom Compton, der mich seit dem Beinaheverlust der Perspicacity mit mehr Respekt behandelt. In seinen Augen bin ich zwar immer noch der verwöhnte Oststaatler, der sich seine Donuts mit einem Photo-Kasten verdient (wie er es nennt), hatte aber genug Initiative bewiesen, um ihn zu beeindrucken.
Seine Skepsis kommt nicht von ungefähr. Geboren in San Francisco, ein Mischling, der von der Hand in den Mund lebte, nach eigenen Angaben ein Abkömmling von Sklaven, Indianern & gescheiterten Goldsuchern —, brachte er sich selbst das Lesen bei und fand eine Anstellung in der Handelsmarine und landete schließlich in Jeffersonville, einer rauen Siedlung, wo seine Talente gefragt waren und seine Manieren nicht weiter auffielen.
Ich weiß, du würdest ihn grob finden, Caroline, aber er hat einen guten Kern & man kann sich auf ihn verlassen. Ich bin froh, dass er bei uns ist.
Wir warten nun schon eine Woche auf Erasmus und werden, wenn nötig, noch länger warten. Zum Glück habe ich das Argosy, das ich für Finchs Geo-Wälzer bekommen habe. Das Magazin enthält eine Folge von E. R. Burroughs’ ›Lost Kingdom of Darwinia‹, Neues aus dem fiktiven ›ancient hinterland‹ mit seinen Dinosauriern, seinen edlen Wilden und seiner Dynastie aus bösartigen Junkern, die das Sagen haben. Eine Prinzessin muss gerettet werden. Ich weiß, wie sehr du diese Art von ›Literatur‹ verachtest, Caroline, und ich muss zugeben, dass selbst das wilde Darwinia von Burroughs vor der Wirklichkeit verblasst: diese allzu massiven Felsen und die dunklen, kühlen Wälder. Aber das Magazin ist eine wunderbareAblenkung & die anderen beneiden mich, denn ich leihe es nur ungern aus.
Ich stelle fest, dass ich mich wieder auf die Zivilisation freue — die hohen Gebäude, die Zeitungskioske und das alles.
Erasmus und die Packtiere sind eingetroffen, Finch hat ihm angeboten, den Scheck auf eine Bank in Jeffersonville auszustellen und Erasmus war einverstanden. Er verbrachte den Abend im Lager und brachte, was Gillvanys Tod anging, zwar sein Beileid zum Ausdruck, zeigte sich aber nicht überrascht.
Doch seine Ankunft wurde von einer Entdeckung überschattet. Avery Keck und Tom Compton waren wieder auf Jagd gewesen und Keck hatte zweierlei im Auge gehabt: die geographischen Gegebenheiten und die Methoden des Grenzers. Nicht dass die Jagd auf Wollschlangen viel Geschick erfordere, wie Keck am Lagerfeuer erklärte. Sie hatten einfach ein Tier von der Herde getrennt und Tom Compton hatte es mit einem einzigen Schuss aus seiner Flinte erlegt. Die Beute zum Lager zu schaffen, sei das eigentliche Problem.
Interessanter allerdings, sagte Keck, sei das Insektennest gewesen, an dem man vorbeigekommen war — das Nest und die dazugehörige Abfallhalde.
Diese Insekten waren zehnbeinige, wirbellose Fleischfresser, entfernt verwandt mit den Stumpfläufern, denen Guilford schon begegnet war. Sie untertunnelten sumpfige Flachlandbereiche, wo der Boden locker und nass war. Verirrte sich ein größeres Tier in ihr Territorium, wurde es wiederholt von den giftigen Drohnen der Kolonie gebissen, dann von Schwärmen überfallen und ausgeschlachtet. Die sauber abgenagten Knochen wurden akribisch an den Rand der Kolonie geschafft — die besagte Abfallhalde.
»Je älter die Kolonie, umso größer die Halde«, sagte Keck. »Im Rheinischen Tiefland habe ich ein Nest gesehen, das wie ein Feenkreis gewachsen war, gut hundert Meter im Durchmesser. Das Nest, das Tom und ich gefunden haben, gehört schon zu den größeren. Ein perfekter Kreis aus porösen, ausgebleichten Knochen. Hauptsächlich von Wollschlangen, aber…« — Keck nahm etwas in Wachstuch Verpacktes und schlug das Wachstuch auseinander — »… wir haben auch das gefunden.«
Es war ein langer, hoch gewölbter Schädel mit spitzen Zähnen. Er war weiß wie poliertes Elfenbein und schimmerte im Schein der Flammen.
»Na, Scheiße!«, rief Diggs und erntete einen konsternierten Blick von Preston Finch.
Guilford sah Sullivan an. Der nickte: »Sieht aus wie der Schädel, den wir in London gesehen haben.« Er schilderte das Museum für Monstrositäten. »Interessant. Sieht mir nach einem großen Raubtier aus, das weit verbreitet war, früher jedenfalls.«
»Früher?«, fragte Finch verächtlich. »Meinen Sie 1913 oder 1915?«
Sullivan ließ sich nicht beirren. »Wie alt schätzen sie diesen Fund, Mr. Keck?«
»Schwer zu sagen. Keine Spuren von Fossilisation oder Verwitterung, also — relativ jung.«
»Was heißt, dass wir dieser Bestie bequem in die Arme laufen könnten«, warf Ed Betts ein. »Dann sollten die Pistolen geladen sein.«
Allerdings hatte Tom Compton bei all seinen Streifzügen noch nie ein lebendiges Exemplar zu Gesicht bekommen, auch nicht Erasmus, der Wollschlangenzüchter: »Obwohl es Leute gibt, die nicht mehr aus dem Busch zurückkommen.«
»Sieht aus wie ein Bär«, meinte Diggs. »Wie ein ausgewachsener kalifornischer Grizzly. Unsere Abfälle könnten ihn anlocken. Wie wär’s, wenn wir das Lager ab sofort ein bisschen schärfer bewachten?«
»Vielleicht meiden sie Menschen«, sagte Sullivan. »Vielleicht haben sie Angst vor uns.«
»Kann sein«, sagte Tom. »Aber dieses Maul verschlingt ein halbes Bein und kann es bestimmt auch abbeißen. Wenn die Angst vor uns haben, dann sollten wir auch Angst vor denen haben.«
»Wir verdoppeln die Nachtwache«, entschied Finch.
Auch Eden hat seine Schlange, dachte Guilford.
Im Morgengrauen brachen sie nach Süden auf, vor sich das sanft gewellte Grasland, dahinter die Berge. Die Wollschlangen gaben passable Reittiere ab — den Tieren war es gleich, welche Last sie trugen, und sie waren selbst mit primitivem Zaumzeug gut zu führen —, doch die Leiber waren einfach zu breit, als dass man es rittlings darauf ausgehalten hätte (ganz abgesehen von den fettigen Absonderungen und dem penetranten Gestank); auch war bis jetzt noch kein vernünftiger Schlangensattel erfunden.
Guilford zog es vor, zu Fuß zu gehen, auch noch am dritten Tag, als der Marsch so mörderisch wurde, dass Waden, Knöchel und Oberschenkel wie mit einer Stimme protestierten.
Die grasbewachsenen Hügel klommen ständig bergan. Trinkwasser war jetzt schwerer zu finden, obwohl die Wollschlangen einen Bach oder Teich aus einer Meile Entfernung witterten. Und das Gebirge am Horizont, Gegenstand von Kecks beharrlichen Triangulationen, war eine allzu deutliche Barriere: Ende der Straße, selbst wenn Finch und Genossen da, wo Brenner oder Mont Genevre gewesen waren, einen geeigneten Pass fanden.
Dann machen wir kehrt, dachte Guilford, und bringen die gepressten Pflanzen und aufgespießten Insekten nach Amerika zurück, und die Leute werden sagen, wir hättendazu beigetragen, den Kontinent zu ›zähmen‹, obwohl das ein Witz ist: Was wir hier in Erfahrung bringen, ist ein Fliegenschiss auf einem einzigen riesigen weißen Fleck.
Aber er war stolz auf ihre Leistung. Wir sind, erklärte er dem Grenzer, da gewesen, wo vor uns noch keiner war, und haben Darwinia ein paar Geheimnisse entlockt.
»Wir haben Darwinia nicht entjungfert«, räumte Tom Compton ein, »aber wir haben ihr unter den Rock geguckt.«
Guilford stapfte zusammen mit Compton und Sullivan und ihren Packtieren durch den kühlen Nachmittag. Tiefe Wolken trieben über den Himmel, grellweiß an den Rändern, flauschig grau dazwischen. Guilfords Stiefel hinterließen kurzlebige Abdrücke in der schwammartigen Grasnarbe. In einer Senke hatte Keck wieder eine Abfallhalde dieser Insekten ausgemacht, einen Ring aus Knochen rings um ein täuschend friedliches Fleckchen Wiese. Wie das Gärtchen eines Trolls, dachte Guilford. Sie machten einen weiten Bogen um die Stelle.
Tom Compton hatte ein anderes Problem. »Seit zwei Nächten gibt es Lagerfeuer«, sagte er. »Fünf, sechs Meilen hinter uns. Keine Ahnung, was das bedeutet.«
»Partisanen?«, fragte Sullivan.
»Wahrscheinlich nur Jäger, die uns über Rheinfelden gefolgt sind — die eher noch Erasmus gefolgt sind, um in seinen Weidegründen zu wildern. Partisanen, die meisten sind Küstenpiraten aus irgendwelchen Schurkennestern. Die kommen doch nur ins Innere, um zu jagen oder zu buddeln. Bestimmt nicht, um Politik mit der Waffe zu machen.«
»Trotzdem«, sagte Sullivan. »Es wär mir lieber, wir wären unter uns.«
»Mir auch«, sagte der Grenzer.
Hügelcamp an einem namenlosen Bach. Es geht bergan. In der Ferne die schneebedeckten Gipfel einer alpinen Bergkette. Gehölze hauptsächlich aus Moscheebäumen & einer neuen Pflanze: ein kleiner Busch mit harten & ungenießbaren, gelben Beeren. (Keine richtigen Beeren, sagt Sullivan, aber genauso sehen sie aus.) Ein steifer und erfrischender Wind vertreibt die Billy fliegen — oder es ist einfach nicht mehr ihre Höhenlage.
PS. Als ich zur Mittagszeit nach Norden blicke, da ist mir, als sähe ich ganz Darwinia vor mir: ein wunderschöner, melancholischer Gobelin aus Licht & Schatten, während die Sonne gen Westen sinkt. Erinnert mich an Montana — genauso weit & leer, aber nicht so kahl; eingehüllt in mildes Grün, ein fruchtbares und lebendiges Land, aber fremd.
Caroline, ich weiß, dass ich deine Geduld auf eine harte Probe stelle: Du musst dich um Lily kümmern, den launischen Jered und die verschlossene Alice ertragen. Ich weiß, wie sehr du meine Reise nach Westen gehasst hast, und da hattest du noch den Komfort von Boston, um dich zu trösten. Ich hoffe, die Sache ist den ganzen Verdruss wert und meine Arbeit wird in Zukunft mehr gefragt sein und schließlich und endlich auch meinen beiden Ladies zugute kommen.
Habe in letzter Zeit merkwürdige Träume, Caroline. Ich träume wiederholt, ich trüge eine Militäruniform und irre allein über ein verödetes Schlachtfeld, das in Rauch und Morast versinkt. So real! Fast wie eine wirkliche Erinnerung, obwohl ich so was noch nie erlebt habe & die Bürgerkriegsgeschichten am Familientisch gingen längst nicht so unter die Haut.
Vielleicht eine Expeditionsneurose? Auch Dr. Sullivan berichtet von seltsamen Träumen & selbst Tom Compton räumt widerwillig ein, Probleme mit dem Schlaf zu haben.
Aber wie sollte ich auch ruhig schlafen, ohne dich an meiner Seite zu wissen? Wie dem auch sei, das Tageslichtverscheucht die Träume. Bei Tag träumen wir nur von dem Gebirge, die blauweißen Gipfel sind unser Horizont.
Tom Compton hielt Wache, als die Partisanen angriffen.
Als der Morgen dämmerte, saß er mit Ed Betts an der Glut des Feuers, einem rundlichen Mann, dem das Kinn unaufhaltsam auf die Brust sank. Betts wusste nicht, wie man sich wach hielt. Tom schon. Der Grenzer, meist allein auf Jagd, hatte schon oft Wache gehalten, um sich vor Räubern und Grubenschmarotzern zu schützen, besonders im Kohlerevier. Man musste sich selbst überlisten und den Schlaf auf später verschieben. Das war ein Kniff. Und Betts beherrschte ihn nicht.
Trotzdem gab es keine Vorwarnung, als die ersten Schüsse fielen, sie kamen von Osten, aus einem düsteren Gehölz. Der Tag hatte gerade mal die Farbe von blauer Ausziehtusche. Vier oder fünf Gewehre bellten mehr oder weniger gleichzeitig. »Was, zum Teufel…?«, entfuhr es Betts, dann kippte er mit einem Loch im Hals vornüber; sein Blut verzischte in der Glut.
Der Grenzer ließ sich fallen, rollte sich und feuerte mit seiner Flinte auf den Waldrand, mehr um das Camp zu wecken und weniger, um zu treffen. Der Feind war nicht auszumachen.
Die Wollschlangen kreischten vor Angst, dann starben die ersten Tiere in der zweiten Salve.
Guilford schlief, als der Angriff begann — träumte schon wieder von der Feldwache, seinem Alter Ego in Khakiuniform, das irgendeine dringende aber unverständliche Nachricht überbringen wollte.
Der Marsch am Vortag war eine Strapaze gewesen. Die Expedition war ein paar schütter bewaldeten Bergkämmen und Schluchten gefolgt; sie hatten alle Hände voll zu tun gehabt, um die störrischen Tiere unter die Gewölbe der Moscheebäume zu bekommen, es war bergauf und bergab gegangen. Die Tiere fühlten sich durch den Wald beengt und brachten ihr Unbehagen durch Quäken, Rülpsen und Furzen zum Ausdruck. Die Luft stand still, und es stank fürchterlich und daran änderte auch der permanente Nieselregen nichts (wenn man davon absah, dass die Wolle der Tiere, wenn sie nass war, noch den Geruch von saurer Milch beisteuerte).
Schließlich wurde das Land ebener. Der Regen hatte die Hochgebirgswiesen zum Blühen gebracht, falscher Klee öffnete die weißen Sternblüten, Schneeflocken im Sommer. Bei Sprühregen Zelte aufzuschlagen war eine Sisyphusarbeit, und das Essen kam aus der Büchse. Nach Einbruch der Dunkelheit brannte in Finchs Zelt noch eine Laterne — schrieb er noch, wie Guilford annahm, an seinen Theorien und suchte die Ereignisse des Tages mit der Dialektik seiner Neuen Schöpfungsgeschichte zu vereinen, während alle anderen zu Tode erschöpft in ihr Bettzeug krochen und sich der Stille überließen.
Der östliche Horizont war matt blau, als die ersten Schüsse fielen. Guilford wachte von den Schreien und Salven auf. Er fingerte nach der Pistole, sein Herz hämmerte. Seit Keck diesen Monsterschädel gefunden hatte, trug er die Waffe geladen am Körper, aber er war kein guter Schütze. Er wusste, wie man sie abfeuerte, hatte aber noch nichts damit erlegt.
Er rollte sich aus dem Zelt ins Chaos hinein.
Der Angriff kam aus dem Gehölz im Osten, das als finstre Silhouette vor der Dämmerung stand. Keck, Sullivan, Diggs und Tom Compton bildeten eine Art Schützenlinie hinter den aufgehäuften Leibern von drei toten Wollschlangen. Sie feuerten sporadisch auf den Wald und suchten verzweifelt nach einem Ziel. Die übrigen Wollschlangen kreischten und rissen vergebens an ihren Stricken. Guilford sah zu, wie eines der Tiere zu Boden ging.
Die anderen Mitglieder der Expedition stürzten kopflos aus ihren Zelten. Ed Betts lag tot neben dem heruntergebrannten Feuer, das Hemd scharlachrot vor Blut. Chuck Hemphill und Ray Burke krochen auf Händen und Füßen und schrien: »Auf den Boden! Runter mit dem Kopf!«
Guilford krabbelte durch den Kreis aus zerfetzten Zeltplanen, um sich Sullivans Gruppe anzuschließen. Sie nahmen keine Notiz von ihm, bis er sich vorduckte und mit der Pistole in das düstere Gehölz feuerte. Tom Compton legte ihm die Hand auf den Arm. »Was man nicht sieht, kann man nicht treffen. Und wir sind zahlenmäßig unterlegen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Die Mündungsfeuer.«
Guilfords Schuss wurde mit einer ganzen Salve beantwortet. Die toten Tiere bebten unter den Einschlägen.
»Jesus!«, sagte Diggs. »Was sollen wir tun?«
Guilford warf einen Blick über die Schulter. Preston Finch war eben auf der Bildfläche erschienen, ohne Tropenhelm und Stiefel, die Brille mit den flaschenglasdicken Gläsern aufsetzend und mit der elfenbeinfarbenen Pistole in die Luft ballernd.
»Wir geben Fersengeld«, sagte Tom Compton.
»Unser Proviant«, sagte Sullivan. »Die Proben, die…«
Das nahe Greinen einer Kugel unterbrach ihn.
»Scheiß drauf!«, sagte Diggs.
»Gebt den anderen ein Zeichen«, sagte Tom. »Mir nach!«
Die Partisanen — wenn es denn welche waren — hatten das Camp umzingelt, aber auf dem unbewaldeten, westlichen Hang lauerten nur wenige, und die waren leichter außer Gefecht zu setzen. Guilford zählte mindestens zwei tote Gegner, Chuck Hemphill und Emil waren tot und Sullivan hatte eine Fleischwunde am Arm. Der Rest folgte Tom Compton in den Nebel der Schlucht, wo noch die Dunkelheit nistete. Es war ein zäher und qualvoller Weg, auf dem es nur eine Orientierung gab: die lauten Kommandos des Grenzers. Guilford rang nach Luft, seine Lungen brannten. Dunkelheit und Nebel boten keine sichere Deckung, und er glaubte die Verfolger nur Schritte hinter sich. Und wohin sollten sie sich wenden? Ein Gletscherbach teilte das Tal und die Wand dahinter war steil und felsig.
»Hier entlang«, befahl Tom. Nach Süden, parallel zum Bach. Der Boden wurde morastig und tückisch. Vor sich im wallenden Nebel konnte Guilford Keck erkennen, weiter konnte er nicht sehen. Bleib dran, sagte er sich.
Dann blieb Keck plötzlich stehen und starrte auf seine Stiefel. »Gott sei uns gnädig«, sagte er leise. Die Beschaffenheit des Bodens hatte sich geändert. Guilford näherte sich dem Landvermesser. Etwas knisterte unter seinen Stiefeln.
Zweige. Hunderte von dürren Zweigen.
Nein: Knochen.
Eine Abfallhalde.
»Sie haben gewusst, was uns hier erwartet!«, schrie Keck dem Grenzer hinterher.
»Ruhe!« Der wuchtige Schemen war Tom Compton, der Schemen daneben konnte Sullivan sein. »Ruhig Blut. Dahin treten, wo ich hintrete. Jeder behält den Vordermann im Auge. Gänsemarsch!«
Guilford bekam von hinten einen Schubs. »Los Mann«, sagte Diggs. »Mach, dass du weiterkommst!«
Nur weiter, Keck nach, Tom nach. Diggs hatte Recht. Eine Kugel greinte aus dem Nebel.
Die Stiefel zermalmten Knochen. Tom folgte vermutlich der Abfallhalde und schlug so einen knappen Bogen um das Insektennest, ein falscher Schritt und…
Vor ein paar Tagen hatte Keck eins von diesen Tierchen mit ans Lagerfeuer gebracht. Der Körper hatte die Größe eines Holzfällerdaumens, zehn lange und kräftige Beine und Mandibeln, die an chirurgisches Besteck erinnerten. Nicht auszudenken.
Diggs schrie auf, als er von einem unsichtbaren Schädel abrutschte, das Gleichgewicht verlor und auf die weiche Grasnarbe des Nestes zutorkelte. Guilford bekam den wild rudernden Arm zu packen und riss den Koch zurück.
Als sie die gegenüberliegende Seite der ringförmigen Halde erreichten, brach der Tag durch. Pech, dachte Guilford. Den Partisanen fiel das Nest womöglich auf. Aber dann mussten sie es umgehen — entweder zwischen Nest und Schluchtwand, wie es die Expeditionsteilnehmer getan hatten, oder zwischen Nest und Bach — in beiden Fällen waren sie leichter zu treffen.
»Genau an diesen Bäumen bilden wir eine Linie«, sagte der Grenzer. »Nachladen und Munition sparen. Auf jeden schießen, der das Nest umgehen will, aber nicht drauflosballern — jeder Schuss muss treffen.«
Doch die Partisanen waren zu versessen auf ihre Beute, um auf den Boden zu achten. Guilford besah sich die Männer ganz genau, als sie aus dem niedrigen Nebel in den Bereich traten, den sie wahrscheinlich mit einer Felsader oder einem Moospolster verwechselten. Er zählte sieben Männer: Militärgewehre, hohe Stiefel, Schlapphüte. Sie grinsten, waren sich ihrer Sache sicher.
Die Stiefel boten Schutz — kurz wenigstens. Der Anführer hatte vielleicht drei Viertel des grünen Polsters durchmessen, bevor er nach unten blickte und sah, wie die Insekten an ihm hochschwärmten. Das schmale Grinsen verschwand; seine Augen weiteten sich, als er begriff. Er machte kehrt, kam aber nicht mehr vom Fleck; die Insekten klammerten sich so hartnäckig aneinander, dass sie stachelige Stränge bildeten, die ihn festhielten und nach unten zerrten.
Er verlor das Gleichgewicht und ging schreiend zu Boden. Die Insekten waren im Nu über ihm — ihm und den Männern, die ihm gefolgt waren, deren Schreie ganz kurz die Oberhand hatten, dann ein einziges schwarzes, wogendes Leichentuch.
»Schießt auf die Nachzügler«, sagte Tom. »Jetzt.«
Guilford feuerte so oft wie die anderen, doch es war meistens die Flinte des Grenzers, die ihr Ziel fand. Drei weitere Partisanen fielen; die anderen flohen vor den Schreien.
Das Schreien dauerte zum Glück nicht lange. Der Körper des Anführers, starr vor Gift, bäumte sich wie der Bug eines sinkenden Schiffes. Der Glanz von Knochen brach hier und da aus dem schwarzen Schwarm. Dann verschwand der ganze Mann unter dem brodelnden, feuchten Erdreich.
Guilford stand wie versteinert. Die Knochen der Partisanen würden in die Halde eingehen, dachte er. Wie lange würde es dauern, bis der Boden ihre Schädel und Rippen erbrach? Stunden? Tage? Ihm war speiübel.
»Guilford«, raunte Keck drängend.
Keck blutete heftig aus einer Wunde am Oberschenkel. Verbinden, dachte Guilford. Das Blut muss gestillt werden. Wo ist der Verbandskasten?
Doch Keck meinte etwas anderes.
»Guilford!« Kecks Augen traten aus den Höhlen, er zog eine Grimasse. »Ihr Bein!«
Da krabbelte etwas.
Vielleicht war das Insekt durch die verzweifelte Bewegung eines Partisanen aus dem Nest geschleudert worden. Ehe Guilford reagieren konnte, war es am Stiefel hochgehuscht und bohrte seine Mandibeln durch die Hose.
Guilford riss den Mund auf und taumelte. Keck griff ihm unter die Arme. Sullivan streifte das Insekt mit dem Pistolenknauf ab und Keck zermalmte es mit dem Absatz.
»Zu dumm«, sagte Guilford ruhig. Dann erreichte das Gift die Arterie, eine subkutane Prise Feuer, und er schloss die Augen und fiel in Ohnmacht.
Das trug sich kurz vor dem Zeitenende zu, als die Milchstraße zu ihrer ureigenen Singularität kollabierte — zu einer Zeit, da die wenigen Sterne, die es noch gab, erkaltet waren; einer Zeit, da sich die Galaxien selbst so sehr verdünnt hatten, dass selbst Verwerfungen im Higgs-Feld ihre Zeit brauchten, um sich bemerkbar zu machen.
Anderswo im Universum wurden die Stimmen der galaktischen Noosphären[34] leiser; die einen fanden sich mit ihrer Auflösung ab, andere stampften gewaltige epigalaktische Redouten aus dem Boden, Festungen gegen den Sirenengesang der Schwarzen Löcher und die Abkühlung des Universums. Zu einer Zeit, da sich die Weißen Zwerge und selbst die Neutronensterne auflösten und starben, sollten diese Hochburgen des Geistes die einzige kohärente Materie im Universum sein.
Ein Billionen Jahre währender Herbst war verstrichen. Noosphären, riesige Konstrukte, die die Reste planetarer Zivilisationen beherbergten, trieben seit Äonen zwischen den fossilen Sternen in den Spiralarmen der Milchstraße. Sie hatten sich entflochten und zergliedert und begegneten sich in Millionen Jahre währenden Zyklen, um Wissen auszutauschen und hybride Nachkommen zu zeugen, Metakulturen, eingebettet in kindliche Noosphären, die so dicht waren wie Neutronensterne. Sie folgten den Verwerfungslinien des Higgs-Feldes, riefen über ihren Ereignishorizont hinweg und sangen ihre Namen. Sie kannten sich auf das Innigste. Krieg hatte es seit einer Ewigkeit nicht mehr gegeben — nicht mehr seit dem Freitod des Violet-Imperiums, der letzten Biotischen Präfektur, vor 109 Jahren.
Doch der Herbst ging zur Neige und die raue Wirklichkeit des thermischen Winters zeichnete sich ab.
Es war Zeit, sich bei der Hand zu nehmen. Zeit zu bauen, zu restaurieren und zu sichern und sich zu entsinnen. Zeit, die Ernte des Sommers einzufahren; Zeit, die Wärme zu konservieren.
Die Noosphären der Milchstraße teilten Erinnerungen, die zurückreichten bis ins Eklektische Zeitalter, als der Tod abgeschafft wurde, lange bevor es die Erde oder ihr Muttergestirn gab. Nun war es Zeit, diese Erinnerungen zu vereinen — ein physisches Archiv zu schaffen, das selbst den Niedergang der freien Energie überdauern würde; ein Archiv, das auf isostatische Weise mit anderen Archiven im Universum vernetzt war; ein Archiv, das den Geist wohlbehalten in den Wärmetod trug, um irgendwann, wenn irgend möglich, einen künstlichen Kontext zu erschaffen, in dem neue Bewusstseinsträger gedeihen konnten.
Zu diesem Zweck versammelten sich die Noosphären über der Ekliptik der sterbenden Milchstraße und speisten ihre gewaltigen Anstrengungen aus den Antimateriewolken, die aus dem Pol der zentralen Singularität dampften. Das fertige Archiv sollte alles enthalten, was die Milchstraße seit dem Eklektischen Zeitalter gewesen war.
Zeitalter um Zeitalter wuchs das Archiv heran, ein physisches Objekt so groß wie ein Dutzend Sonnensysteme, das sich mit systematischen Raumverzerrungen gegen die Gezeiten der eigenen Masse verstrebte. Eine Maschine, die bei stellaren Temperaturen arbeitete und ein brüniertes, bernsteinfarbenes Licht in die sich verfinsternde Leere sandte — und auch diese Reststrahlung sollte im Laufe von Jahrmillionen erlöschen.
Das Archiv war ein Zeit-Teleskop, eine Aufzeichnung, ein Gedächtnis — im Grunde genommen ein Buch. Es war das ultimate Geschichtsbuch, genährt und aufgefrischt durch temporale Diskontinuitäten, die in die Matrix eingebaut waren, ein Protokoll aller bekannten bewussten Handlungen und Gedanken seit Anbruch des Eklektischen Zeitalters. Es war unabänderlich, aber grenzenlos empfänglich, abgesondert und anti-entropisch.
Nie hatte galaktisches Bewusstsein Größeres in Angriff genommen. Es stieß an die Grenze des Machbaren und schien sie nicht selten zu überschreiten. Die Noosphären und ihre Bewusstseinsknoten, die Turingmaschinen, große und kleine, und die virtuellen Maschinen im isostatischen Netzwerk der Realität — sie alle hatten schier Unendliches zu leisten, eine Aufgabe, die mehr als zehn Millionen Jahre in Anspruch nehmen sollte.
Doch schließlich war es vollbracht, das Ergebnis war eine holistische Bibliothek der galaktischen Geschichte und eine Festung gegen die Verflüchtigung der Materie. Die Noosphären tanzten einen orbitalen Reigen um ihr Werk. Wer weiß, vielleicht brüteten ja die Singularitäten hinter ihren heiligen Grenzen schon wieder neue Universen aus. Diese Alternative wurde gründlich erwogen; zwischen diesem Archiv und anderen wurden schwache Signale ausgetauscht, Konzepte für neue Universen, Ideen, die selbst das Bewusstsein verzagen ließen. Vielleicht war es eines Tages…
Aber das war Spekulation. Vorerst ergötzte sich das Bewusstsein an dem, was es geschaffen hatte.
Monofilamente aus Higgs-Verzerrung fluteten das Archiv und wickelten die Geschichte folgerichtig auf.
Bewusstseinsknoten erster und zweiter Ordnung machten sich ein Vergnügen daraus, die Vergangenheit zu erkunden — ein-, zwei-, dreimal, wobei das Archiv immer wieder gelesen wurde. Das Wissen rollte sich ein, lernte sich selbst kennen; Philosophen unter den Noosphären debattierten den Unterschied zwischen Wissen und Gewusstem.
Unversehens offenbarte sich einige 103 Jahre nach Fertigstellung die Tragödie.
Das Archiv, so entdeckten die Noosphären, war klammheimlich unterwandert und korrumpiert worden. Quasi-bewusste Entitäten — sich selbst reproduzierend und parasitären Code erzeugend, der sich im Netzwerk der Higgs-Signale zwischen den Galaxien versteckte — sie hatten sich der Strukturprotokolle des Archivs bemächtigt. Information ging verloren, unwiderruflich, von Minute zu Minute.
Schlimmer noch: Information wurde verfälscht.
Das Archiv wurde nach und nach entstellt. Quasi-bewusste virtuelle Entitäten, Relikte eines Krieges, der lange vor dem hiesigen Eklektischen Zeitalter eine ferne Galaxie verwüstet hatte, benutzten das Archiv als Plattform, um ihre Algorithmen vor dem Wärmetod zu retten. Sie empfanden nur Verantwortung für ihresgleichen, wussten aber sehr wohl um die Erbauer und den Zweck des Archivs. Sie hatten das Archiv nicht einfach gekapert, sie benutzten es sozusagen als Geisel.
Aus statischen Erinnerungen, die als Aufzeichnungen in das Archiv eingebettet waren, entstanden praktisch neue Saat-Bewusstseine: neue Lebewesen, gefangen in einer Epistruktur, die sie nicht wahrnehmen konnten, und manipuliert durch Entitäten, die ihr Begriffsvermögen überstiegen. Diese neuen Lebewesen, gleichwohl Produkte eines verfälschten Archivs, durften weder aufgehalten noch gelöscht werden. Das wäre eine unverzeihliche Sünde gewesen. Rein theoretisch hätte man das Archiv leeren, säubern und neu beschicken können… das aber wäre einem gigantischen Genozid gleichgekommen.
Außerdem mussten diese Lebewesen gespeichert, erinnert werden. Eine Aufgabe, der sich das Bewusstsein seit jeher verschrieben hatte — um seinem Tod zu entgehen. Diese neue und seltsame Quasi-Geschichte, die sich im Archiv entwickelte, durfte nicht einfach aufgegeben werden.
Aus Angst vor Ansteckung gingen die Noosphären auf Distanz; das Bewusstsein ging mit sich zu Rate und Tausende von Jahren verstrichen.
Fest stand, das Archiv musste wiederhergestellt werden. Die Eindringlinge mussten vertrieben werden. Wenn nichts unternommen wurde, gingen die jungen Saat-Bewusstseine irgendwann verloren und mit ihnen das ganze Archiv. Diese Viren würden nicht eher ruhen, bis das erkaltende Universum nur mehr ihren eigenen, rücksichtslosen Code enthielt. Die Säuberung des Archivs würde viel problematischer sein als seine Errichtung, weil sie innerhalb des Archivs beginnen musste. Milliarden von individuellen Bewusstseinsknoten mussten das Archiv betreten, und zwar physisch wie virtuell. Und sie würden auf listenreichen Widerstand stoßen.
Individuen — Geister praktisch —, deren Identität längst mit den Noosphären verschmolzen war, begaben sich ihrer äonenlangen Verklärung und wurden nahezu wieder sterblich, nur um in das korrumpierte Archiv zu können.
Unter diesen Milliarden von Bewusstseinsknoten war ein uralter terrestrischer, der einmal Guilford Law geheißen hatte. Dieses Saat-Bewusstsein, kaum komplex genug, um sein uraltes Gedächtnis zu bewahren, stürzte sich mit unzähligen anderen in die fraktale Tiefe des Archivs.
Der letzte Krieg nahm seinen Anfang.
Guilford Law wusste, was Krieg war. Immerhin war er im Krieg gefallen.