Es hätte noch so viel gegeben, was ich sagen wollte. Was ich ihm sagen musste. Aber ich spürte auch, dass ich den Bogen bereits überspannt hatte. Bach hatte wenigstens in einem Punkt die Wahrheit gesagt: Er war kein besonders großmütiger Mensch. So starrte ich ihn nur noch einen Moment lang wütend an, dann fuhr ich auf dem Absatz herum und ging. Als ich die Tür hinter mir zuzog, rief Bach mir noch nach:

»Und kommen Sie nie wieder hierher, John.«


Mitternacht war vorbei, als ich nach Hause kam. Ich hatte mich nicht wieder verfahren, aber ich hatte auch nicht den direkten Weg nach Hause gewählt, sondern ganz bewusst einen Umweg gemacht und auch noch einen Zwischenstopp in einem kleinen Imbiss eingelegt, um zwei Tassen starken Kaffee zu trinken. Ich brauchte einfach Zeit, um mich zu beruhigen - und so ganz nebenbei hatte ich weder Lust, den Rest der Nacht auf einer Polizeiwache zu verbringen, noch, meinen Führerschein zu verlieren.

Trotzdem war ich nach der zweiten Tasse Kaffee nicht mehr ganz sicher, ob es nicht klüger gewesen wäre, mit Scotch weiter zu machen. Ich wurde langsam wieder nüchtern, und im gleichen Maße wurde mir auch klar, dass ich schon wieder einen Fehler gemacht hatte.

Diesmal vielleicht einen zu viel.

Ich hatte die Beherrschung verloren, und vor allem: Ich hatte Bach bedroht. Und Frank Bach war kein Mensch, der sich ungestraft bedrohen ließ. Auch nicht von mir. Er hatte zwar gesagt, dass er unser Gespräch vergessen würde, aber ich wusste, dass es nicht stimmte. Es würde Konsequenzen für mich haben. Vielleicht nicht direkt. Bach würde sich keine Strafe für mich einfallen lassen, aber er würde mich in Zukunft mit Sicherheit sehr viel aufmerksamer im Auge behalten. Und das war im Moment so ziemlich das Letzte, was ich gebrauchen konnte.

Nicht bei dem, was ich vorhatte.

Ich hatte nicht nur heute einen Fehler begangen. Seit Monaten schien alles, was ich tat, nur noch aus einer Aneinanderreihung von Fehlern und falschen Entscheidungen zu bestehen. Und die schlimmsten von allen würde ich jetzt rückgängig machen. Ich würde tun, was ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen, und Kimberley endlich die ganze Geschichte erzählen. Noch in dieser Nacht.

Jetzt.

Ich zahlte meinen Kaffee, verließ das Restaurant und fuhr auf dem schnellstmöglichen Weg nach Hause. Ich fuhr schnell, aber nicht zu schnell. In Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit herrschte in der Stadt noch erstaunlich viel Betrieb: Auf den Straßen waren fast so viele Wagen wie tagsüber, und ich sah mehr als eine Gruppe von Männern und Frauen, die beieinander standen und aufgeregt miteinander diskutierten. Ich war wohl nicht der Einzige, dem die schlechten Nachrichten den Schlaf geraubt hatten. Das Radio in meinem Wagen ließ ich allerdings ausgeschaltet. Ich brauchte nicht noch mehr Hiobsbotschaften.

Was nicht hieß, dass ich sie nicht bekam.

Als ich in unsere Straße einbog, nahm mir ein schwarzer Mercury die Vorfahrt. Ich trat im letzten Moment auf die Bremse, entging mit kreischenden Reifen einem Auffahrunfall und hob wütend die Hand, um auf die Hupe zu schlagen.

Aber ich tat es nicht, denn in diesem Moment erkannte ich den Wagen.

Genauer gesagt: seinen Fahrer.

Es war Pratt.

Kongressabgeordneter Charles Pratt. Ich sah sein Gesicht nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber ich erkannte ihn trotzdem ohne den geringsten Zweifel. Von seiner rücksichtslosen Fahrweise hatte ich schon gehört, aber es war das erste Mal, dass ich sie erlebte - und so ganz nebenbei auch das erste Mal, dass er sie einsetzte, um möglichst schnell zu dem Haus zu gelangen, in dem ich wohnte.

Nichts anderes war sein Ziel.

Ich wäre Pratt um ein Haar nun doch noch in den Wagen gefahren, als er warnungslos abbremste, und den Mercury mit einem brutalen Ruck am Lenkrad unmittelbar vor unserem Apartmenthaus zum Stehen brachte. Mit einer fast verzweifelten Bewegung wich ich ihm aus, drehte hastig das Gesicht nach links, damit Pratt nicht im Vorbeifahren seinerseits nun mich erkannte, und gab instinktiv wieder Gas. Der Wagen rasierte um Haaresbreite an Pratts Mercury vorbei, aber ich sah im Rückspiegel, wie Pratt ausstieg und sich herumdrehte, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Stattdessen umkreiste er den Wagen und ging mit festen Schritten auf den Eingang des Apartmenthauses zu.

Ich widerstand im letzten Moment dem Impuls, anzuhalten und zurückzusetzen.

Tatsächlich fuhr ich sogar wieder ein wenig schneller und betätigte den Blinker, um an der nächsten Kreuzung rechts abzubiegen. Pratt hatte mich bisher nicht bemerkt und so sollte es auch bleiben. Trotzdem behielt ich ihn natürlich aufmerksam im Rückspiegel im Auge. Pratt verschwand im Eingang unseres Apartmenthauses, als ich die Kreuzung erreichte und abbog.

Ich gab mehr Gas und holte aus dem altersschwachen Chevy heraus, was ich nur konnte, während ich den Block umrundete. Was um alles in der Welt suchte Pratt in unserer Wohnung, und noch dazu mitten in der Nacht? Seit unserem Zusammenstoß waren Wochen vergangen. Pratt hatte in dieser Zeit das Einzige getan, was ihm noch übrig blieb - mich mit Missachtung gestraft. Wieso tauchte er ausgerechnet heute hier auf? Konnte es sein, dass der eingetretene Notfall ihm endlich die notwendigen Vollmachten beschert hatte, um mit mir abzurechnen? Und wenn ja, hatte er in einer Nacht wie dieser tatsächlich nichts Besseres zu tun, als seine gekränkte Eitelkeit zu rächen?

Es gab noch eine andere Erklärung. Aber sie war so absurd, dass ich mich im ersten Moment einfach weigerte, sie auch nur in Betracht zu ziehen.

Doch der Gedanke war nun einmal da, und er bohrte sich wie ein vergifteter Stachel immer tiefer in mein Bewusstsein. Pratt war unterwegs zu meiner Wohnung, während ich nicht Zuhause war. Wer sagte mir, dass er das das erste Mal tat? Kimberley hatte sich verändert, seit sie mit Pratt gesprochen hatte, und vielleicht war das kein Zufall.

Ich versuchte vergeblich, mir einzureden, dass ich ein Narr war, und nur grundlos eifersüchtig. Es nutzte nichts. Das Gefühl war einmal da, und es wurde mit jeder Sekunde stärker.

Trotzdem war ich noch geistesgegenwärtig genug, den Wagen wieder auf dreißig Meilen die Stunde herunterzubremsen, ehe ich den Block ganz umrandet hatte. Ich parkte nicht unmittelbar vor der Tür, sondern ein Stück weit entfernt und so, dass der Wagen von unserer Wohnung aus nicht gesehen werden konnte, und zwang mich, die wenigen Schritte zur Haustür langsamer als eigentlich notwendig zurückzulegen. Als ich vor der Tür unseres Apartments stand, waren ungefähr drei Minuten vergangen, seit Pratt das Haus betreten hatte.

Als ich den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, zitterten meine Hände so stark, dass ich für einen Moment innehalten musste. Ich war aufgebracht, aber mich selbst in der Rolle des wütenden Ehemannes zu sehen, der außer sich vor Wut die Tür eintrat, erschien mir selbst in diesem Augenblick noch zu lächerlich. So wartete ich, bis sich meine zitternden Hände wieder einigermaßen beruhigt hatten, schob den Schlüssel lautlos ins Schloss und schob die Tür ebenfalls lautlos auf.

Pratt war in der Wohnung.

Ich konnte seine und Kimberleys Stimmen aus dem Wohnzimmer hören. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber immerhin den Tonfall - und was ich belauschte, das war ganz bestimmt kein Liebesgeflüster.

Ebenso lautlos, wie ich die Tür geöffnet hatte, schloss ich sie hinter mir wieder, wandte mich um und schlich zum Wohnzimmer. Ich widerstand der Versuchung, einen Blick hinein zu werfen. Stattdessen presste ich mich dicht neben der Tür gegen die Wand und lauschte mit geschlossenen Augen.

»... frage Sie noch einmal, Mister Pratt«, sagte Kimberley gerade. »Was wollen Sie hier? Es ist Mitternacht! John ist nicht hier, und er kommt auch heute nicht mehr!«

»Sie sind durcheinander, Kimberley«, antwortete Pratt. »Aber das ist nur zu verständlich. Ich werde Ihnen alles erklären.«

»Für Sie immer noch Mrs. Sayers, Mister Pratt. Und Ihre Erklärungen interessieren mich nicht. Gehen Sie!«

Pratt lachte. Jedenfalls glaubte ich, dass es ein Lachen war. Ganz sicher war ich nicht.

»Ich muss Ihnen ein paar Dinge erklären, Kimberley. Sind Sie bereit dafür?«

Ich konnte hören, dass er mit irgendetwas hantierte; ein metallischer, raschelnder Laut, als hätte er irgendetwas ausgepackt, das in eine Aluminiumfolie eingehüllt war. Kimberley sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Was ist das? Es ... es soll aufhören! Dieses Geräusch! Machen Sie, dass es aufhört!«

Ich lauschte angestrengt, konnte aber absolut nichts hören. Die Verlockung, mich aus meinem Versteck zu lösen und ins Wohnzimmer zu stürmen, wurde immer stärker, aber noch widerstand ich ihr. Vielleicht musste ich nur eine oder zwei weitere Minuten abwarten, um Pratt ein für alle Mal loszuwerden.

»Es tut mir leid, Kimberley«, sagte er, »aber das kann ich nicht. Glauben Sie mir, auch ich hätte es vorgezogen, dieses Gespräch mit John zu führen, statt mit Ihnen. Aber unglücklicherweise war John nicht hier, als meine ... Kameraden Sie besuchten.«

»Dieses Geräusch!« wimmerte Kim. »Schalten Sie es ab! Schalten Sie es ab, Pratt!«

Ich hörte immer noch nichts, aber es fiel mir immer schwerer, reglos dazustehen und zu lauschen. Der gequälte Ton in Kimberleys Stimme war echt. Sie litt Höllenqualen. Noch eine Minute, dachte ich, keine Sekunde länger.

»Sie werden gleich alles verstehen, Kimberley«, sagte Pratt. »Es ist bedauerlich. Eigentlich mag ich Sie nämlich. Sie sind ein nettes Mädchen, und Sie haben mit dieser ganzen Geschichte nun wirklich nichts zu tun. Aber manchmal entwickeln sich die Dinge nun einmal nicht ganz so, wie man will. Das Problem ist John. Wir können Ihrem Mann nicht mehr länger trauen, Kim. Er entwickelt sich allmählich zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung. Für uns alle, Kim. Auch für Sie.«

»Dieses Geräusch!« wimmerte Kim. Der Schmerz in ihrer Stimme ließ auch mich innerlich aufstöhnen. »Schalten Sie es ab! Ich ertrage es nicht mehr!«

Dasselbe galt auch für mich. Ich wusste nicht, was Pratt ihr antat, aber was immer es war, ich würde es beenden. Jetzt!

Doch als ich mich von der Wand abstieß und ins Wohnzimmer stürmen wollte, sah ich ein sonderbares, flackerndes Licht. Ein Licht in Farben und von einer flackernden Art, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte, und so blieb ich noch einmal stehen und lauschte.

»Berühren Sie das Licht, Kim«, sagte Pratt. »Es ist ganz einfach, Sie werden es sehen. Strecken Sie die Hand aus, und berühren Sie das Licht. Es wird alle Ihre Fragen beantworten.«

»Nein«, wimmerte Kim. »Bitte!«

»Sie kämpfen dagegen«, sagte Pratt. »Das ist nur natürlich. Aber es ist sinnlos. Berühren Sie das Licht, und alles wird gut. Klaar Si Su Haar.«

Die letzten Worte hatte er mit veränderter, unheimlicher Stimme gesprochen; eine Stimme, die kaum noch wie die eines Menschen klang ...

... und es auch nicht war!

Endlich begriff ich. Pratt war nicht hier, um sich an mir für irgendetwas zu rächen.

Er war auch nicht hier, weil Bach ihn geschickt hatte.

Pratt gehörte zu ihnen!

Mit einem Ruck löste ich mich von meinem Platz, stürmte ins Wohnzimmer - und blieb wieder stehen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber das nicht. Es gibt Dinge, auf die man sich nicht vorbereiten kann, ganz gleich, wie sehr man es auch versucht.

Das Zimmer war in ein Meer tanzender Farben getaucht, die ihren Ursprung in einem fußballgroßen Etwas hatten, das schwerelos einen halben Meter über dem Boden schwebte. Ich konnte nicht sagen, was es war, nicht einmal genau, wie es aussah, denn es schien seine Form und seine Größe ununterbrochen zu ändern, wie ein Prisma, in dem sich nicht nur das Licht, sondern auch die Formen brachen.

Kimberley und Pratt standen inmitten dieses Ozeans aus Licht, und irgendwie schienen sie selbst zu einem Teil der ständig wechselnden Farben und Formen geworden zu sein, so dass ich im ersten Moment fast Schwierigkeiten hatte, sie überhaupt zu erkennen. Kim lehnte an der Wand neben dem Fenster, in verkrümmter Haltung, mit schmerzverzerrtem Gesicht und beide Hände gegen die Ohren gepresst, und Pratt drehte sich genau in diesem Moment zu mir herum und sah mich an. Auf seinem Gesicht erschien nicht die mindeste Spur von Überraschung.

»Hallo, John«, sagte er.

Ich ignorierte ihn, überwand endlich meine Überraschung und war mit einem einzigen Satz bei Kimberley. »Kim! Liebling! Was ist los? Was ist mit dir?«

Kimberley zitterte am ganzen Leib. Sie antwortete nicht. Wahrscheinlich konnte sie es nicht einmal. Wütend fuhr ich zu Pratt herum.

»Pratt! Verdammt noch mal, was tun Sie hier?«

Angesichts dessen, was ich sah, kam mir diese Frage beinahe selbst lächerlich vor, und Pratt antwortete auch ganz genau so darauf. Er lächelte.

»John, John, John«, sagte er kopfschüttelnd. »Das wissen Sie doch ganz genau. Ich weiß wirklich nicht, was ich von Ihnen halten soll. Ich glaube, ich hätte nicht so lange hinter der Tür gestanden und meine Frau leiden lassen - wenn ich eine Frau hätte, heißt das.«

»Warum sie, Pratt?« fragte ich. »Warum Kimberley? Warum nicht ich?«

»Nur Geduld, John. Ihre Zeit wird noch kommen«, antwortete Pratt lächelnd.

»Sie verdammter Mistkerl«, murmelte ich. »Sie widerlicher, elender ...«

Pratt unterbrach mich mit einem Kopfschütteln und der Andeutung eines spöttischen Lächelns.

»Ihr seid ein seltsames Volk«, sagte er. »Ich habe niemals begriffen, wieso so viele von euch so großen Gefallen daran finden, ihre Mitmenschen zu beleidigen. Ist das ein Ausdruck eurer Hilflosigkeit?«

»Was wollen Sie, Pratt?« fragte ich mit zitternder Stimme.

»Sie, John«, antwortete Pratt. »Ganz einfach: Sie.«

»Und im Gegenzug lassen Sie Kimberley gehen?«

Pratt nickte. »Und Scrooge Duck wird der nächste Präsident der USA. Keine Chance, John.«

»Dann lassen Sie mir keine andere Wahl«, sagte ich und stürzte mich auf ihn.

Ich war schnell - ich meine, wirklich schnell - und die Wut und vor allem die Angst um Kimberley ließen mich im wahrsten Sinne des Wortes über mich hinauswachsen.

Trotzdem hatte ich keine Chance.

Pratt sah meinen Angriff rechtzeitig genug kommen, um etwas dagegen zu tun, aber er machte sich nicht einmal die Mühe. Er blieb einfach ruhig stehen und wartete darauf, dass ich mit ausgebreiteten Armen gegen ihn prallte.

Vielleicht hatte er mich unterschätzt, aber vielleicht hatte ich auch einfach nur Glück. Es gelang mir jedenfalls, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, so dass wir aneinander geklammert ein paar Schritte weit durch das Zimmer stolperten und schließlich über die Couch stürzten.

Es war nur Glück, und es hörte damit auch schlagartig auf. Noch während wir stürzten, packte mich Pratt mit einer Hand im Nacken und riss mich ohne die geringste Mühe von sich herunter. Mit beinahe noch weniger Mühe sprang er wieder hoch, riss mich mit sich in die Höhe und schleuderte mich quer durch das Zimmer. Irgendwie brachte ich es fertig, nicht zu stürzen, aber ich prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde und ich für einen Moment nur Sterne sah.

»John, John, John«, seufzte Pratt. »Warum machen Sie es sich und mir nur so unnötig schwer?«

Wie durch einen Nebel aus grauer Watte und Blut sah ich Pratt (Pratt? Das Pratt-Ding!) auf mich zukommen. Ich kämpfte verzweifelt um mein Bewusstsein. Der Anprall war unvorstellbar hart gewesen. Pratt musste so stark sein wie zehn normale Männer - und dabei hatte er bisher im Grunde nur mit mir gespielt. Es war vollkommen sinnlos, gegen diese Kreatur kämpfen zu wollen.

Aber dann hörte ich Kimberley schreien, und dieser Schrei löste etwas in mir aus, von dem ich selbst nicht mehr gewusst hatte, dass ich es noch besaß: Den verzweifelten Instinkt, zu überleben, die gleiche Kraft, die Menschen seit einer Million Jahre immer wieder dazu gebracht hatte, auch in den ausweglosesten Situationen immer noch weiterzukämpfen. Wenn ich aufgab, dann würde nicht nur ich sterben, sondern auch Kimberley. Als Pratt nach mir griff, duckte ich mich blitzschnell unter seiner Hand hindurch und packte gleichzeitig seinen Arm.

Es war Pratts eigene, übermenschliche Kraft, die ihm zum Verhängnis wurde.

Er versuchte, sich aus meinem Griff loszureißen, aber ich stemmte mich nicht dagegen, sondern sprang im Gegenteil plötzlich auf ihn zu, verlagerte mein Gleichgewicht und drehte mich gleichzeitig halb um meine eigene Achse, und Pratt wurde vom Schwung seiner eigenen Bewegung an mir vorbei gerissen, prallte hilflos gegen das Fenster und stürzte in einem Scherbenregen hinaus.

Keuchend und fast krampfhaft um Atem ringend taumelte ich zu Kim hinüber. Sie hockte noch in der gleichen verkrümmten Haltung da und hatte die Hände gegen die Schläfen gepresst. Ich bezweifelte, dass sie überhaupt mitbekommen hatte, was geschehen war.

Unten auf der Straße wurden Schreie laut, aufgeregte Stimmen und näher hastende Schritte. Mit einem einzigen Satz war ich am Fenster und sah hinaus.

Pratt lag mit verrenkten Gliedern drei Stockwerke unter mir auf der Straße. Er rührte sich nicht, und ich bezweifelte auch, dass selbst das unglaubliche Etwas, in das er sich verwandelt hatte, diesen Sturz überlebt haben konnte.

Aber ich hatte ein anderes Problem. Auf der Straße unter mir waren mindestens ein Dutzend Menschen zusammengelaufen, und die meisten von ihnen starrten jetzt geradewegs nach oben und mir ins Gesicht.

»Das Geräusch!« wimmerte Kim hinter mir. »Es soll aufhören! Bitte, John, mach, dass es aufhört!«

Ich drehte mich rasch vom Fenster weg - und erlebte einen Anblick, der mir schier das Blut in den Adern gefrieren ließ!

Kim saß nicht mehr neben dem Fenster. Ihr Gesicht war immer noch schmerzverzerrt, aber sie hatte sich auf Hände und Knie erhoben und kroch wimmernd auf die flackernde Lichtkugel zu.

»Aufhören!« wimmerte sie immer wieder. »Mach, dass es aufhört!«

Wimmernd vor Schmerz streckte sie die linke Hand nach der Lichtkugel aus, dem Licht, in dem alle Antworten waren.

»Nein!« schrie ich. »Kim! Nicht!«

Ihre Hand bewegte sich weiter. Noch ein paar Zentimeter, und ihre ausgestreckten Finger würden das Licht berühren. Ich war keine zwei Schritte von ihr entfernt, aber ich wusste, dass ich sie nicht mehr rechtzeitig erreichen würde, um sie zurückzureißen.


So tat ich das Einzige, was mir spontan einfiel: Ich packte einen Stuhl, schwang ihn hoch über den Kopf und schmetterte ihn mit aller Gewalt auf die Lichtkugel.

Sie explodierte. Es gab keinen Knall, keine Hitze oder Druckwelle, aber für eine Sekunde erstrahlte das Zimmer in einem so unerträglich grellen, gleißenden Licht, als blickte ich direkt ins Herz einer explodierenden Sonne.

Schreiend taumelte ich zurück, schlug die Hände vors Gesicht und prallte gegen die Wand. Ich war blind. Vor meinen Augen tanzten flackernde Lichtpunkte, und zwei dünne Pfeile aus rot glühendem Schmerz schienen sich direkt in mein Gehirn zu bohren.

Es dauerte lange, bis ich wieder halbwegs klar sehen konnte.

Als ich die Augen öffnete, war die Lichtkugel, aber auch der Stuhl, den ich hineingeschleudert hatte, spurlos verschwunden. Bach würde mich umbringen.

Kim hatte aufgehört zu stöhnen und war halb auf die Seite gesunken. Sie hielt die Hände noch immer gegen die Schläfen gepresst, als wäre sie in dieser Haltung erstarrt und nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Aber sie zitterte am ganzen Leib, und als ich sie an den Schultern berührte, fuhr sie wie unter einem elektrischen Schlag zusammen und stieß einen halblauten, kläglichen Schrei aus.

»Es ist alles in Ordnung, Schatz«, sagte ich, während ich sie an mich presste und ihr tröstend mit der Hand über das Haar strich. »Keine Angst mehr. Es ist vorbei. Es ist alles in Ordnung.«

Die Worte kamen mir selbst wie der pure Hohn vor. Alles in Ordnung? Nichts war in Ordnung, das wusste sie so gut wie ich.

»Was ist passiert?« fragte ich. »Erzähl es mir. Was wollte er von dir?«

»In meinem Kopf«, flüsterte Kim. Sie schluchzte so heftig, dass ich alle Mühe hatte, die Worte überhaupt zu verstehen. »Es ist ... in meinem Kopf, John.«

»Du meinst Pratt«, vermutete ich. »Er ist ... irgendwie in deine Gedanken eingedrungen, nicht wahr. Aber keine Sorge. Er kann dir nichts mehr tun. Er ist tot.«

»Nicht Pratt«, antwortete Kim. »Es. Es ist in meinem Kopf, John. Es ... es bewegt sich. Es bewegt sich in meinem Kopf!«

Ich starrte sie an; zwei, drei, fünf Sekunden, aber es verging noch einmal dieselbe Zeitspanne, bis ich endlich begriff, was ihre Worte wirklich bedeuteten.

Es bewegt sich in meinem Kopf, John!

Es waren nicht Pratts Gedanken gewesen, die sie spürte.

Kimberley war von einem Ganglion besessen.


Doktor Hertzog schien zu jenen seltenen Menschen zu gehören, die keine Nachrichten hörten, denn als ich zwanzig Minuten später mit beiden Fäusten gegen seine Haustür hämmerte, dauerte es eine geraume Weile, bis hinter einem Fenster im ersten Stock ein trübes Licht aufflammte, und dann noch einmal endlose, quälende Sekunden, bis sich schlurfende Schritte der Tür näherten. Jemand lugte durch den Spion, dann hörte ich das Klirren von mindestens zwei Sicherheitsketten und die Tür wurde geöffnet. Ich hatte Hertzog wirklich aus dem tiefsten Schlaf gerissen. Sein Gesicht war mindestens genauso zerknittert wie der alte Pyjama, den er trug, und ganz wach schien er noch nicht zu sein, denn er blinzelte mich eine Sekunde lang verständnislos an, ehe er fragte: »John?«

»Ich brauche Ihre Hilfe, Doc«, sagte ich. »Jetzt gleich.«

Ich konnte regelrecht sehen, wie etwas hinter Hertzogs Stirn Klick machte und er den Rest seiner Benommenheit schlagartig abschüttelte. Vielleicht war es der Arzt in ihm, der den alarmierten Tonfall in meiner Stimme richtig deutete. Seine Müdigkeit war von einem Sekundenbruchteil zum anderen wie weggeblasen.

»Was ist passiert?« fragte er. »Sind Sie verletzt?«

»Kim«, antwortete ich mit einer Geste zum Wagen zurück. Kimberley saß auf dem Beifahrersitz und starrte blicklos geradeaus. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte ich sehen, wie totenbleich sie war. »Sie müssen uns begleiten. Wir müssen sie zu Majestic bringen.«

Hertzog blinzelte. »Majestic? Was ist passiert, verdammt noch mal?« Er wirkte mit einem Male sehr wach.

»Sie haben Sie«, sagte ich. »Sie ist von einem Ganglion besessen.«

Hertzogs Gesicht, ohnehin nicht viel dunkler als sein Schlafanzug, verlor noch mehr an Farbe. »Sind Sie sicher?«

»Hundertprozentig«, antwortete ich. »Kommen Sie, Doc. Wir müssen zu Majestic! Das Mittel, von dem Sie mir erzählt haben ...«

»Das ist unmöglich«, antwortete Hertzog.

Ich ignorierte ihn und wedelte ungeduldig mit beiden Händen. »Wir haben keine Zeit zu verlieren, Doc. Ich weiß, dass das Zeug noch nie getestet wurde, aber wir haben keine Wahl!« Ich versuchte, ihn an den Schultern zu ergreifen, aber Hertzog entwand sich mit einer erstaunlich schnellen Bewegung und wich gleichzeitig einen Schritt zurück.

»Sie verstehen mich nicht, John«, sagte er ernst. »Wenn wir Ihre Freundin zu Majestic bringen, dann bedeutet das ihren Tod.«

»Wie?«

»Ich habe ganz klare Anweisungen«, antwortete Hertzog. »Das Sammeln lebender Exemplare hat im Moment allerhöchste Priorität. Wenn ich sie ins Labor bringe, muss ich sie operieren.«

»Operieren?« Ich starrte ihn an. »Sie meinen, Sie wollen ... das Ding aus ihr herausschneiden?«

»Ich will nicht, ich muss«, sagte Hertzog. Seine Stimme klang noch immer so ruhig und sachlich wie bisher, aber mit einem Mal fand ich diese Sachlichkeit nicht mehr bewunderungswürdig, sondern fast abstoßend. Ich musste mich mit aller Kraft beherrschen, um ihn nicht anzuschreien.

»Diese Anordnung gilt doch nicht für Kimberley«, antwortete ich. »Sie ist meine Freundin. So gut wie meine Frau.«

»Diese Anordnung gilt sogar ganz besonders für Ihre Freundin, John«, antwortete er ruhig. »Bach war in diesem Punkt sehr deutlich.« Er lachte, aber es klang nicht besonders amüsiert. »Ihnen ist doch wohl klar, dass Mitarbeiter von Majestic und ihre Angehörigen ganz oben auf der Abschussliste unserer Freunde stehen. Ganglions, die einen von uns befallen, interessieren Bach ganz besonders.«

»Das wird er nicht tun«, murmelte ich. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

Hertzog antwortete nicht einmal, und wozu auch? Wir beide kannten Bach gut genug.

»Dann ... dann müssen wir es hier tun.«

»Was? Sie töten?« Hertzog schüttelte heftig den Kopf. »Einmal ganz davon abgesehen, dass ich hier rein zufällig nicht über einen komplett ausgestatteten Operationssaal verfüge, würde das am Ergebnis nichts ändern. Sie wissen das, John. Ich habe mehr als zwei Dutzend Ganglions extrahiert. Keiner der Träger hat den Eingriff überlebt.«

»Ich rede nicht von einer Operation!« antwortete ich. »Was ist mit dem Mittel? Haben Sie es hier?«

»A.R.T.?« Hertzog nickte und schüttelte praktisch in der gleichen Bewegung den Kopf. »Wie lange ist es her?«

»Was? Dass sie den Ganglion bekommen hat?« Ich hatte nicht die geringste Ahnung. »Ich weiß es nicht. Ein paar Tage. Vielleicht Wochen.«

»Warum nicht gleich Monate?« Hertzog schüttelte erneut den Kopf. »Es hat keinen Sinn, John. Das Zeug ist noch nicht erfolgreich getestet. Und selbst wenn, hätte es nur innerhalb der ersten vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden Aussicht auf Erfolg. Ich kann die Verantwortung nicht übernehmen.«

»Das müssen Sie auch nicht«, antwortete ich. »Ich übernehme sie. Ich mache es selbst. Geben Sie mir das Zeug und erklären Sie mir genau, was ich tun muss, das ist alles, was ich von Ihnen verlange.«

Hertzog seufzte. Es klang fast wie ein kleiner Schrei. »Bitte, John«, sagte er. »Ich kann Sie verstehen. Aber es hat keinen Sinn. Glauben Sie mir: Es gibt nichts, was ich für Kimberley tun könnte; oder sonst irgendjemand auf der Welt.«

»Geben Sie es mir!« verlangte ich.

Hertzog starrte mich an. »Bringen Sie mich nicht in diese Lage, John, ich bitte Sie!«

»Ich könnte Sie zwingen, Doktor«, sagte ich. »Muss ich?«

»Nein«, antwortete Hertzog. Er wirkte kein bisschen erschrocken, oder gar eingeschüchtert. Nur traurig. »Aber Sie können es nicht hier tun. Ich muss ...«

»Bach benachrichtigen, ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Ich brauche das Mittel und fünf Minuten Vorsprung, mehr nicht.«

»Warum quälen Sie sich so, John?« fragte Hertzog. Er deutete auf den Wagen. »Und sie?«

Als ich nicht antwortete, drehte er sich achselzuckend herum und verschwand im Haus. Er kehrte bereits nach Wenigen Augenblicken zurück und trug eine kleine, weiße Plastikflasche ohne Etikett oder irgendeine Beschriftung in der Hand. Wortlos reichte er sie mir und schloss die Tür, ohne noch ein einziges weiteres Wort zu sagen.

Ich drehte mich herum und rannte zum Wagen zurück.

Meine Frist lief.


»Was ... ist das hier?« Kimberleys Stimme zitterte. Ich wusste nicht, ob vor Kälte oder Furcht; vermutlich vor beidem. »Ich dachte wir ... wir gehen dorthin, wo du ... arbeitest. Majestic!«

»Majestic?« Ich konnte mich nicht erinnern, dieses Wort jemals in ihrer Gegenwart benutzt zu haben, und sah sie mit einer Mischung aus Überraschung und einer Spur von Misstrauen an.

»Du hast es ein- oder zweimal erwähnt«, antwortete Kimberley, nickend und in fast beiläufigem Ton. Dann zog sie die Schultern hoch, rieb sich fröstelnd über die nackten Oberarme und sah sich demonstrativ in der Runde um. »Aber ich hätte es mir ... anders vorgestellt.«

In diesem Punkt konnte ich ihr nicht widersprechen. Ich meine: Sie hatte nicht den geringsten Anlass, sich Majestic irgendwie vorzustellen, denn ich war mittlerweile vollkommen sicher, dieses Wort niemals in ihrer Gegenwart benutzt zu haben.

Ich hatte das Haus schon mehrmals gesehen, während ich mit dem Wagen durch die Gegend gefahren war, mich aber nicht bewusst daran erinnert: Es war ein einstöckiges, weitläufiges Einfamilienhaus mit Doppelgarage, Pool und fast obligatorischem Vorgarten, das irgendwann einmal wirklich schön gewesen sein musste, jetzt aber dem allmählichen Verfall anheim gegeben war. Das ›zu Verkaufen‹-Schild stand schon so lange im Vorgarten, wie ich in Washington war; und vermutlich schon sehr viel länger. Mein Unterbewusstsein aber schien das Gebäude sorgsam gespeichert zu haben, vielleicht, um es später im Notfall als sicheren Unterschlupf zu benutzen, denn als ich wieder zu Kim in den Wagen stieg, fiel mir das Haus, das nur wenige Blocks entfernt war, schlagartig wieder ein.

Wir brauchten dringend einen sicheren Unterschlupf. Ich kannte weder das Haus noch irgendeinen anderen Ort, den Bach kannte - und ich zweifelte nicht daran, dass Bach jeder Ort bekannt war, den ich in den letzten drei oder vier Monaten aufgesucht hatte.

»Das ist nicht Majestic«, sagte ich. »Wir ... können nicht dorthin. Bach würde dich umbringen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Kimberley leichthin. »Ich meine: Er ist vielleicht kein besonders liebenswerter Mensch, aber auch kein Mörder.«

Sie fuhr fort, sich mit den Handflächen die Oberarme zu massieren, als friere sie. Dabei war es hier drinnen eigentlich nicht kalt. »Lass uns nach Hause gehen, John«, bat sie.

»Das können wir nicht, Schatz«, antwortete ich leise. »Der Doc hat jetzt bestimmt schon angerufen. Ich bin sicher, dass Bachs Leute bereits nach uns suchen.«

»Sollen sie«, antwortete Kim. »Mir fehlt nichts, John. Wirklich. Ich bin nur ... ein bisschen durcheinander, das ist alles.«

»Und was ist mit dem ... Ding, das sich in deinem Kopf bewegt?« Ich zitierte sie ganz bewusst wörtlich, obwohl es mich alle Kraft kostete, die Worte auch nur auszusprechen.

»Aber das war doch nur so dahingesagt«, behauptete sie leichthin. »Vorhin als ... als Pratt in meine Gedanken eingedrungen ist. Aber du bist ja gerade noch rechtzeitig gekommen. Es ist nichts passiert. Erinnerst du dich nicht? Ich habe das Licht nicht berührt.«

»Dann spricht ja nichts dagegen, das hier zu trinken.«

Ich zog die Flasche mit dem Mittel, das Hertzog mir gegeben hatte. »Es ist vollkommen harmlos, weißt du, es bewirkt nichts anderes, als den pH-Wert in deinem Blut anzuheben. Der Doc meint, dass die Ganglions das hassen wie die Pest.«

Das war blühender Unsinn. Hertzog hatte mir absolut nichts über das Mittel erzählt, aber das konnte Kim schließlich nicht wissen. Und mir kam es auch nur auf ihre Reaktion auf diese Behauptung an, nicht auf den Wahrheitsgehalt.

Sie fiel so aus, wie ich zugleich gehofft als auch gefürchtet hatte. Sie wirkte misstrauisch, ein ganz kleines bisschen aber auch erleichtert. Nach ein paar Augenblicken schüttelte sie den Kopf. In ihrem Blick war etwas, das nicht dort hineingehörte.

»Ich glaube, ich möchte das nicht«, sagte sie. »Wer weiß, ob Hertzog die Wahrheit gesagt hat?«

Ich hatte auch Hertzogs Namen niemals erwähnt, sondern immer nur von Doc gesprochen. Selbst heute Nacht. Etwas in meinem Inneren schien sich zu einem harten Knoten zusammenzuziehen.

»Lass uns nach Hause gehen«, bat sie noch einmal. »Mir ist kalt, und ich bin sehr müde.«

»Keine Chance«, sagte ich kopfschüttelnd und hielt ihr abermals die Flasche hin. »Trink das.«

»Aber ich ...«

Ich trat ganz auf sie zu, drückte sie sanft an meine Brust und strich mit der linken Hand über ihr Haar. Kim zitterte am ganzen Leib. Ihr Atem beschleunigte sich, und ich konnte fühlen, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper anzuspannen begann.

»Kämpfe dagegen, Schatz«, flüsterte ich. »Ich weiß, es ist stark. Aber du bist stärker. Du kannst es besiegen. Ich weiß das.«

»Ich ... ich habe Angst«, flüsterte Kim. »Es ... es ist da, John. Es bewegt sich. In mir. Es ... es denkt in meinen Gedanken. Ich kann es hören.«

»Ich weiß, Liebling«, flüsterte ich. »Aber wir werden es besiegen.«

Ich trat einen Schritt zurück und hielt ihr die Flasche hin. »Trink das.«

Wieder regte sich trotziger, nicht menschlicher Widerstand in ihren Augen, aber noch war sie stärker als das Ding in ihr. Sie hob die Hand, aber sie führte die Bewegung nicht einmal ganz zu Ende, sondern starrte plötzlich ihre gespreizten Finger an.

»Ich ... kann nicht, John«, flüsterte sie. »Ich kann meine Hand nicht mehr bewegen!«

»Warte.« Ich steckte die Flasche wieder ein, sah mich suchend im Raum um und bückte mich schließlich nach der Fußleiste. Während ich an dem morschen Elektrokabel riss, das darunter zum Vorschein kam, schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Strom in diesem Haus auch wirklich abgeschaltet war.

Er war es, und das Kabel war noch morscher, als ich gehofft hatte; vielleicht sogar zu morsch für meine Zwecke. Ich riss zwei oder drei Fuß davon ab, schnappte mir im Vorbeigehen einen wackeligen Stuhl und drückte Kim mit sanfter Gewalt darauf.

»Was hast du vor, John?« fragte Kim. Ihre Stimme klang ängstlich, aber es war auch eine Spur von Feindseligkeit darin, die mich noch weiter alarmierte. Das Ding in ihr wurde stärker. Ich tat gut daran, mich zu beeilen. Wenn es erst vollkommen Gewalt über sie erlangt hatte, dann hatte ich wahrscheinlich keine Chance mehr. Ohne zu antworten, band ich ihre Handgelenke hinter der Lehne zusammen und fesselte Kim mit dem Rest des Kabels hinter dem Stuhl. Dann griff ich wieder nach der Flasche.

»Jetzt trink das!« sagte ich. »Schnell, so lange du es noch kannst.«

Sie konnte es nicht mehr. Was immer den Menschen in ihr ausgemacht hatte, war aus ihrem Blick verschwunden. Ich starrte in ein Paar dunkler, von unvorstellbarer Bosheit und einer kalten, lauernden Intelligenz erfüllter Augen.

»Lass mich gehen, John«, sagte sie.

»Du weißt genau, dass ich das nicht kann«, antwortete ich. »Es ist in dir. Du weißt das.«

»Ich kann damit leben«, beharrte Kim. »Es wird mich töten, wenn du versuchst, es aus mir herauszuholen.«

Ich hielt ihr die Flasche hin. »Trink.«

Kim starrte mich an. »Du kannst mich nicht zwingen.«

»Ich fürchte, das muss ich«, antwortete ich.

Wie sich zeigte, konnte ich es nicht. Als ich mich über sie beugen wollte, trat sie warnungslos zu. Ihr Fuß traf mich mit so grausamer Wucht, dass ich glaubte, meine Kniescheibe splittern zu hören, und der Schmerz war entsetzlich. Ich schrie vor Qual, sank auf das unverletzte Knie herab und umklammerte das andere Bein mit beiden Händen, und Kimberley trat abermals zu.

Diesmal trafen mich ihre Füße vor der Brust, schleuderten mich nach hinten und zu Boden und ließen mich quer durch den Raum schlittern.

Der Schmerz war so grausam, dass mir für einen Moment schwarz vor Augen wurde und ich das Bewusstsein zu verlieren drohte. Einzig der Gedanke, dass ich vermutlich nie wieder aufwachen würde, wenn ich jetzt in Ohnmacht fiel, hielt mich wach.

Während ich mich stöhnend auf die Seite drehte und irgendwie auf die Beine zu kommen versuchte, begann Kimberley vollends zu toben. Sie sprang mitsamt des Stuhles auf, begann schrille, unartikulierte Laute auszustoßen und zerrte mit solcher Kraft an ihren Fesseln, dass der altersschwache Stuhl jeden Moment einfach auseinander fallen musste.

Wenn das geschah, war ich so gut wie tot.

Und sie auch.

Der Gedanke gab mir noch einmal die Kraft, mit zusammengebissenen Zähnen auf sie zuzutaumeln und das Einzige zu tun, was überhaupt noch möglich war: Ich versetzte ihr einen Kinnhaken, der sie auf der Stelle das Bewusstsein verlieren ließ.


Sie erwachte zehn Minuten später, und es war das Schrecklichste, was ich bis zu diesem Moment erlebt hatte. Ich hatte sehr hart zugeschlagen, und ihr Gesicht begann langsam anzuschwellen. Ihre Lippen waren aufgeplatzt, aber ich war nicht sicher, ob das von meinem Schlag kam, oder ob ich ihr diese Verletzung zugefügt hatte, als ich versuchte, ihr Hertzogs Gegenmittel einzuflößen.

Obwohl sie bewusstlos gewesen war, hatte es meine ganze Kraft gekostet. Das Ding in ihr wehrte sich noch immer. Wenn Hertzogs Mittel wirkte, dann nicht so schnell, wie es gut gewesen wäre. Kim murmelte und stöhnte ununterbrochen vor sich hin; unartikulierte, furchtbare Laute, die etwas in mir sich zusammenziehen ließen.

Was das Stöhnen anging, bildeten wir allerdings ein Duett. Der Schmerz in meinem Knie hatte nicht nachgelassen, sondern schien ganz im Gegenteil noch schlimmer geworden zu sein. Ich hatte mir eine alte Kiste herangezogen und mich ihr gegenüber darauf niedergelassen, aber nicht nur, um in ihrer Nähe zu sein. Ich war nicht vollkommen sicher, ob ich überhaupt stehen konnte.

Plötzlich hörte sie auf zu wimmern. Für einen Moment war sie fast unheimlich still, dann begann sie in regelmäßigen, fast spastisch wirkenden Bewegungen den Kopf hin und her zu werfen.

Ihre Lippen formten die gleichen, schrecklichen Geräusche, die ich schon aus Pratts Mund gehört hatte:

Klaar Si Su Haar. Klaar Si Su Haar, Klaar Si Su Haar! Immer und immer wieder diese gleichen, fürchterlichen Worte.

»Kimberley!« keuchte ich. »Kim! Hör auf!«

Sie reagierte nicht. Ihr Körper begann zu beben, dann wie in Krämpfen zu zucken. Sie schrie die Worte jetzt: Klaar Si Su Haar!

Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen: Ich versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Ihr Kopf flog in den Nacken und blieb dort. Ihre Augen standen offen, aber für einen Moment waren sie matt und glanzlos wie die eines Toten. Aber sie hatte aufgehört, diese furchtbaren Worte auszustoßen.

Trotz der noch fast unerträglichen Schmerzen in meinem Bein sprang ich auf und zog sie an mich. »Alles in Ordnung, Liebling«, flüsterte ich. »Ich bin es, John. Es wird alles gut. Keine Angst mehr. Wir schaffen das. Wir beide zusammen werden es besiegen!«

»Bring mich nach Hause, John«, wimmerte Kim. »Ich will nicht an diesem furchtbaren Ort bleiben. Bitte bring mich nach Hause!«

Etwas in ihr bewegte sich. Es war noch nicht vorbei. Ich sprach immer noch nicht mit Kimberley, sondern mit dem Ganglion, der ihre Gedanken beherrschte. Vielleicht mehr.

»Bald, Liebling«, sagte ich. »Bald. Kämpfe dagegen. Du kannst es besiegen.«

Kimberley verlangte noch zwei- oder dreimal in fast befehlendem Ton von mir, sie nach Hause zu bringen, aber dann verlegte sie sich aufs Bitten.

»Bitte, John!« flehte sie. »Bitte bring mich nach Hause! Ich habe Angst! Ich will nicht an diesem furchtbaren Ort bleiben!«

Ihre Stimme wurde zu einem Schluchzen. Sie begann zu weinen, flehte, bettelte und bat immer verzweifelter darum, von hier fortgebracht zu werden. Jeder Schrei, jedes Flehen, trafen mich wie ein Fausthieb. Ich fühlte jedes bisschen Schmerz, das sie spürte, wie meinen eigenen. Alles in mir schrie danach, sie loszubinden, um ihrer entsetzlichen Qual ein Ende zu machen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, drehte mich mit einem Ruck herum und schlug die Hände über die Ohren, ohne ihr schreckliches Betteln und Wimmern damit aussperren zu können.

Kimberley begann zu husten. Ihre Schreie gingen in einem qualvollen Würgen unter, und dann schüttelten schlimmere Krämpfe denn je ihren Körper. Sie warf den Kopf in den Nacken, verdrehte auf schreckliche Weise die Augen und rang vergeblich nach Atem. In ihrem Hals ... bewegte sich etwas.

Blitzschnell trat ich hinter sie, drückte ihren Kopf nach vorne und versuchte verzweifelt, irgendetwas zu tun, um ihr zu helfen. Aber was?

Kim atmete immer qualvoller. Sie war dabei, zu ersticken. Plötzlich würgte sie, beugte sich so weit nach vorne, dass der Stuhl ächzte - und erbrach etwas Kleines, Schleimig-Glitzerndes, das auf einem Dutzend wirbelnder Tentakel davonzuhuschen begann.

Es war unglaublich schnell, aber ich war schneller. Mit einem einzigen Schritt setzte ich ihm nach, stampfte es mit dem Fuß in den Boden und drehte den Absatz vier-fünf-sechsmal hin und her, bis nur noch ein schmieriger, rotbrauner Fleck von dem Ganglion geblieben war.

Kimberley hatte das Bewusstsein verloren, als ich mich zu ihr herumdrehte. Aber ... sie lebte. Hastig hob ich ihr Kinn an, überzeugte mich davon, dass sie zumindest äußerlich nicht schwer verletzt war, dann löste ich ihre Fesseln und hob sie auf die Arme. Mein verletztes Bein schrie protestierend auf, aber ich spürte ihr Gewicht trotzdem kaum, als ich sie hinaus und zum Wagen trug. So behutsam ich konnte, bettete ich sie auf den Rücksitz, schloss die Tür - und sah mich Captain Bach gegenüber, als ich mich herumdrehte. Ich war nicht einmal überrascht. Vermutlich war ich einfach zu erschöpft dazu.

»Ist sie tot?« fragte er.

»Nein«, antwortete ich müde. »Sie lebt.«

Hinter Bach bewegten sich weitere Gestalten in der Dunkelheit. Als ich eine von ihnen als Hertzog identifizierte, fügte ich hinzu: »Ihr Wundermittel funktioniert, Doc.«

»Soll das heißen, es ist ... heraus?« fragte Hertzog ungläubig.

»Wo ist es?« schnappte Bach.

»Im Haus.«

Bach machte eine befehlende Geste. »Steel. Holen Sie es!«

»Aber nehmen Sie ein Glas mit«, riet ich Steel. »Und eine ganz feine Pipette.«

Steel sah mich irritiert an, aber dann wiederholte Bach seine befehlende Geste, und Steel verschwand mit schnellen Schritten im Haus.

»Sie haben es tatsächlich geschafft«, sagte Bach. Er zündete sich eine Zigarette an und schnippte das Streichholz zu Boden. »Das freut mich für Sie. Und ganz besonders natürlich für Kimberley. Trotzdem ... Sie hätten zu mir kommen sollen, John.«

»Hätten Sie mir erlaubt, das Experiment durchzuführen?« fragte ich.

Bach sog an seiner Zigarette, blies eine Rauchwolke in meine Richtung und drehte sich um. »Kommen Sie, John. Wir haben viel zu besprechen.«


Kimberley war eingeschlafen, und ihre tiefen, ruhigen Atemzüge verrieten, dass es nun ein ganz normaler Schlaf war, keine Bewusstlosigkeit, kein von Fieberfantasien geplagter Alptraum. Sie war sehr blass. Ihr Gesicht war weiter angeschwollen, und manchmal bewegte sie im Schlaf die Hände. Die dicke Glasscheibe, die den Beobachtungsraum vom Behandlungszimmer trennte, verschluckte jeden Laut, aber ich konnte sehen, wie sich ihre Lippen bewegten. Vielleicht war ihr Schlaf doch nicht ganz so entspannend, wie ich dachte.

»Sie kommt durch.« Hertzog zog die Tür zum Behandlungsraum hinter sich zu und atmete hörbar ein. »Sie scheint nicht einmal schwer verletzt zu sein. Ich meine: Sie hat eine Menge mitgemacht, und sie wird sich bestimmt nicht besonders gut fühlen, wenn sie aufwacht, aber sie schwebt nicht in Lebensgefahr.«

»Wann kann ich mit ihr reden?« wollte Bach wissen. »Sobald sie sich erholt hat«, antwortete ich, ehe Hertzog etwas sagen konnte. »Und sobald sie es will.«

Bach sagte nichts dazu, was mich einigermaßen überraschte. Ich hatte ihn selten so duldsam erlebt wie in dieser Nacht. Aber vermutlich hatte er mich umgekehrt auch selten so aggressiv erlebt wie heute.

»Wie lange wird sie schlafen, Doktor?« fragte er nach einer Weile.

Hertzog hob die Schultern. »Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt«, sagte er. »Vier, fünf Stunden. Kaum länger. Mit ein bisschen Glück erinnert sie sich hinterher vielleicht nicht einmal mehr, was passiert ist.«

»Ich will doch schwer hoffen, dass sie sich erinnert«, sagte Bach und zog die linke Augenbraue hoch. »Die Aussagen dieser jungen Frau könnten von enormer Wichtigkeit für uns sein. Vor allem jetzt, wo wir den Ganglion nicht mehr haben, der sie befallen hatte.«

Bei diesen Worten warf er mir einen schrägen Seitenblick zu, den ich mit einem vollkommen humorlosen Grinsen quittierte. »Ich hatte ihn höflich gebeten, zu bleiben«, antwortete ich. »Aber er hat mich wohl nicht richtig verstanden.«

»Überspannen Sie den Bogen nicht, John«, sagte Bach.

»Also gut. Dann im Ernst.« Ich ging zum Tisch, nahm mir eine von Bachs Zigaretten und warf einen langen Blick durch die Scheibe hindurch auf Kim, ehe ich mich wieder zu ihm herumdrehte. »Ich will, dass Sie sie in Ruhe lassen. Ich möchte nicht, dass sie in diese Geschichte hineingezogen wird.«

»Hineingezogen?« Bach klang fast amüsiert. Nach einer Sekunde lachte er auch tatsächlich, wenn auch nicht sehr lang, und nicht sehr echt. »Sie steckt schon so tief drinnen, wie es nur geht, John. Ihre Verlobte ist im Moment vielleicht die wichtigste Mitarbeiterin, die Majestic hat.«

»Das ist sie nicht«, antwortete ich heftig. »Sie werden sie in Ruhe lassen!«

»Selbst wenn ich das wollte ...« Bach schüttelte den Kopf. »Sie wird fragen, sobald sie wieder zu Bewusstsein gekommen ist. Sie wird eine Menge Fragen stellen, John, und Sie werden sie beantworten müssen. Falls Sie das nicht schon getan haben, heißt das.«

Ich verstand die Anspielung sehr wohl, und sie machte mich wütend. »Ich habe ihr nichts gesagt, Captain. Was sie weiß, das weiß sie nicht von mir, sondern von Pratt. Und wenn wir schon einmal dabei sind: Seit wann haben Sie gewusst, dass Pratt zu ihnen gehört?«

Es war ein Schuss ins Blaue, aber er traf. Bachs Gesicht blieb unbewegt, doch ich las in seinen Augen, dass ich Recht hatte.

»Der Ganglion, den ich aus Kim geholt habe, war für mich bestimmt«, fuhr ich fort. »Haben Sie gewusst, dass sie mich haben wollten, Captain?«

Bach schwieg weiter.

»War das Ihr Plan?« fuhr ich fort. Es war fast, als wollte ich das gar nicht sagen. Die Gedanken nahmen erst in meinem Kopf Gestalt an, als ich die Worte aussprach, und der Verdacht war so ungeheuerlich, dass meine Stimme beinahe versagte.

»Sie wussten es, nicht wahr? Das ist der einzige Grund, aus dem Sie mich ausgesucht haben. Sie haben mich auf Pratt angesetzt. Ich war nicht mehr als ein Köder für Sie.«

»John«, sagte Hertzog, aber ich brachte ihn mit einer wütenden Geste zum Schweigen.

»Was haben Sie vor?« fuhr ich wütend fort. »Wollen Sie abwarten, bis sie mir auch so ein ... Ding eingesetzt haben, um mich dann in aller Ruhe zu beobachten, wie eine Ratte im Glaskasten? Oder sollte der gute Doktor mich aufschneiden, damit Sie ein weiteres Exemplar für Ihre Sammlung haben?«

»Das reicht jetzt, John«, sagte Bach ruhig.

»Ja, da sind wir ausnahmsweise mal derselben Meinung!« Ich schrie jetzt wirklich. »Es reicht! Wissen Sie was, Captain? Ich steige aus! Ich gehe zurück an meinen Schreibtisch und verbringe den Rest meines Lebens damit, langweilige Akten zu sortieren!«

»Wenn Sie jetzt aus dieser Tür gehen«, sagte Bach ruhig, »dann verbringen Sie den Rest Ihres Lebens im Gefängnis.«

»Sie können mich nicht erpressen!«

»Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Bach. »Es ist nur so, dass Sie vor einem Dutzend Zeugen einen Kongressabgeordneten der Vereinigten Staaten umgebracht haben. Haben Sie das vergessen?«

»Sie bringen das in Ordnung«, sagte ich. »Schon aus eigenem Interesse. Außerdem schulden Sie es mir.«

»Ich schulde niemandem etwas«, antwortete Bach. »Aber Sie haben Recht: Ich bringe die Sache in Ordnung. Und Sie bleiben bei uns. Genau wie Kimberley. Normalerweise behalte ich mir das Privileg vor, neue Mitarbeiter selbst einzustellen, aber in diesem Falle werde ich eine Ausnahme machen.«

Ich hatte nicht übel Lust, ihm mit sehr deutlichen Worten zu sagen, wohin er sich seinen Humor schieben konnte, aber ich beherrschte mich. Für seine Verhältnisse hatte Bach in dieser Nacht eine wahre Engelsgeduld an den Tag gelegt, und ich tat vielleicht wirklich besser daran, den Bogen nicht vollends zu überspannen.

»Lassen Sie uns raus, Captain!« bat ich. »Sie brauchen uns nicht mehr. Ich bin niemand. Ein fünfundzwanzig Jahre alter Niemand, der Ihnen zu nichts mehr Nutze ist. Lassen Sie Kim und mich gehen und in Ruhe ein langweiliges Leben leben.«

»Sie wissen, dass ich das nicht kann, John«, antwortete Bach. »Niemand verlässt Majestic. Als Sie bei uns eingetreten sind, haben Sie eine Lebensstellung angenommen. Selbst wenn ich wollte, ich kann Ihnen nicht erlauben, zu gehen. Nicht mit alledem, was Sie wissen.«

»Aber ...«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, John«, fuhr Bach fort. »Sie haben heute viel mitgemacht. Kim und Sie brauchen eine Weile, um sich zu erholen. Warum nehmen Sie nicht zwei, drei Wochen Urlaub und fahren zusammen in ein kleines Hotel irgendwo auf dem Land? Nach der Geschichte mit Pratt ist es sowieso besser, wenn Sie für eine Weile nicht in der Stadt sind.«


Wir taten, was Bach mir geraten hatte, und verließen die Stadt. Kimberley erholte sich erstaunlich schnell. Ihre Verletzungen heilten innerhalb einer einzigen Woche, und noch bevor die zweite zu Ende war, schien unser Leben wieder ganz normal zu verlaufen.

Aber das schien nur so.

Es sollte nie wieder so werden, wie es einmal gewesen war.

Es begann damit, dass wir Gefangene waren. Gefangen in einem goldenen Käfig, möglicherweise, und noch dazu in einem, dessen Gitterstäbe so gut wie unsichtbar waren, aber nichtsdestotrotz Gefangene. Bach hatte uns in ein kleines, aber äußerst komfortables Hotel hundertfünfzig Meilen vor Washington eingenistet; einem jener Hotels, die vorzugsweise von frisch verheirateten jungen Paaren (oder solchen, die behaupteten, es zu sein) bevorzugt wurden, und in denen man auch damals schon wenig Wert auf ordnungsgemäß ausgefüllte Meldezettel legte und noch weniger Fragen stellte. Unser Zimmer hatte allen erdenklichen Luxus, und rings um das Hotel erstreckten sich meilenweite Wälder, in denen man stundenlang spazieren gehen konnte, ohne auf einen einzigen Menschen zu treffen.

Was nicht hieß, dass wir allein gewesen wären. Oh, Bachs Männer waren gut. Wenn sie uns beobachteten, dann nicht so direkt, dass wir einen von ihnen jemals zu Gesicht bekamen. Aber Kim und ich spürten, dass sie da waren. Unsichtbar, lautlos und vollkommen unauffällig, aber sie waren da. Ich konnte ihre Anwesenheit fühlen; wie ein übler Geruch, der in der Luft lag und jeden Atemzug verpestete. Und Kimberley schien es wohl ganz ähnlich zu ergehen. Sie sagte niemals auch nur ein einziges Wort in diese Richtung, ja, sie machte nicht einmal eine versteckte Andeutung, aber ich wusste, dass es so war.

Die Botschaft, die uns dieser goldene Käfig übermittelte, war eindeutig: Genießt es und haltet die Klappe.

Wir schwiegen, und wir versuchten wenigstens, es zu genießen. Natürlich gelang es uns nicht - niemand schläft wirklich ruhig unter einem Damoklesschwert, nicht einmal, wenn es an einem Faden aus purem Gold hängt, aber Gewohnheit ist eine seltsame Sache. Wir vergaßen unsere wirkliche Situation nicht eine Sekunde lang, aber wir begannen sie zu akzeptieren, und wir versuchten, dass Beste daraus zu machen. Wir verbrachten unsere Tage mit endlosen Spaziergängen im Wald oder am Ufer des nahen Sees, und unsere Abende vor dem Kamin oder dem Fernseher.

Es dauerte knapp drei Wochen, dann klopfte das Schicksal wieder bei uns an. Bach schickte uns ein Telegramm. Die Wogen in der Stadt hatten sich geglättet. Ich sollte am nächsten Morgen wieder im Büro erscheinen und meine Arbeit aufnehmen.

»Kein Wort von mir«, sagte Kim, nachdem sie das Telegramm gelesen hatte. »Glaubst du, er hat mich ...«

»Vergessen?« Ich schüttelte heftig den Kopf. »Bach vergisst niemals etwas. Oder jemanden.« Ich knüllte das Telegramm zu einem Ball zusammen und warf ihn wütend in den Kamin.

»Vielleicht ist es ganz gut so«, sagte Kim.

»Gut?« Ich blinzelte. »Was um alles in der Welt ist daran gut?«

Kim schüttelte den Kopf. »Wir können nicht den Rest unseres Lebens davonlaufen. Oder so tun, als wäre nichts passiert. Bach wird Antworten von uns wollen, und ich glaube fast, ich ... ich will sie ihm geben.«

»Bist du sicher?« Dieser plötzliche Gesinnungswechsel kam für meinen Geschmack ein bisschen zu überraschend. Natürlich verstand ich selbst damals schon genug von psychologischen Zusammenhängen, um zu wissen, dass es fast immer half, über ein Trauma zu sprechen. Aber sie hatte in den vergangenen beiden Wochen nicht einmal eine Andeutung gemacht.

»Er hat ein Recht dazu, nicht wahr? Ich meine: Ich finde ihn bestimmt nicht sympathisch, aber letzten Endes steht er auf der richtigen Seite.«

Es fiel mir allmählich schwer, zu glauben, was ich da hörte. Kimberley war der liebenswerteste Mensch, den ich kannte, aber nach dem, was wir erlebt hatten, hätte es eher zu ihr gepasst, wenn sie mir mit ruhiger Stimme erklärt hätte, dass sie Bach bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit die Augen auskratzen würde.

Kimberley lächelte, dann hob sie die Hand und legte den Zeigefinger über die Lippen, und endlich verstand ich. Offenbar hatte ich sie wieder einmal unterschätzt. Ich sollte ernsthaft anfangen, darüber nachzudenken, wer von uns beiden hier der Profi war.

»Vielleicht hast du Recht«, antwortete ich. »Aber es gefällt mir trotzdem nicht.«

»Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser«, sagte Kim. »Und jetzt vergiss Bach und alles andere. Heute ist unser letzter Tag hier. Lass ihn uns genießen. Ich ... nehme eine Dusche. Begleitest du mich?«

Einen Moment lang war ich vollkommen verwirrt. Wie konnte sie jetzt an ...

Aber das tat sie auch gar nicht. Wieder ein Punkt für sie. »Gerne«, antwortete ich. »Du hast vollkommen Recht. Wir sind hier. Es gibt keinen Grund, das Geld der amerikanischen Steuerzahler gänzlich zu verschwenden.«

Wir gingen ins Bad. Kimberley schlug die Tür lautstark hinter uns zu, riss noch lautstärker den Duschvorhang zur Seite und drehte beide Wasserhähne bis zum Anschlag auf.

»Bist du sicher, dass das funktioniert?« flüsterte sie.

»Ganz sicher«, antwortete ich, allerdings nicht im Flüstern, sondern in normaler Lautstärke. »Ich habe mindestens zweihundert Folgen FBI gesehen.«

»Das ist nicht witzig, John«, sagte Kim.

»Ich weiß«, antwortete ich. »Und um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, ob es funktioniert. Angeblich stört das Geräusch von fließendem Wasser selbst die besten Richtmikrofone und Abhörgeräte, aber es kann genauso gut sein, dass das nur ein Gerücht ist, das sie absichtlich in die Welt gesetzt haben.« Ich zuckte mit den Schultern, ging zum Waschbecken und drehte auch dort beide Hähne auf. Das Rauschen des fließenden Wassers war nun so laut, dass wir beinahe Mühe hatten, uns überhaupt noch zu verständigen. »Aber es kann nicht schaden.«

Kim schmiegte sich mit solcher Kraft an mich, dass ich beinahe Mühe hatte, zu atmen. Sie zitterte am ganzen Leib, aber sie weinte nicht, oder wenn, dann ohne Tränen.

»Er wird uns niemals gehen lassen, nicht wahr?« flüsterte sie.

Wie leicht wäre es gewesen, zu lügen. Und wie gerne hätte ich es getan, und sei es nur, um ihr für einen Moment wenigstens die Illusion von Zuversicht zu vermitteln. Und wie wenig Sinn hätte es gehabt.

»Nein«, sagte ich.

»Dieser Mann ist ein Monster, John«, flüsterte Kim. »Er wird uns niemals unser eigenes Leben leben lassen.«

»Es ist alles meine Schuld«, murmelte ich. »Gott verfluche den Tag, an dem ich Majestic beigetreten bin.«

Kimberley löste sich aus meiner Umarmung, trat zwei Schritte zurück und sah mich auf eine seltsame Art an.

»Mein Gott, John, glaubst du denn wirklich, du hättest je eine Wahl gehabt? Sie haben dich geholt, weil sie dich brauchten, nicht, weil du es wolltest. Du warst von Anfang an nichts anderes als ein Köder für Pratt!«

»Ich weiß«, antwortete ich, zögerte einen Moment und fügte mit einem schiefen Lächeln hinzu: »Aber lass mir doch wenigstens die Illusion, für eine kleine Weile wichtig gewesen zu sein.«

Kim blieb ernst. »Dieser Mann spielt mit Menschen wie mit Schachfiguren, John. Er benutzt uns. Und nicht nur uns, John. Er ... er belügt die ganze Welt. Wir müssen ihn aufhalten.«

»Aufhalten? Bach? Nur du und ich?«

»Wir haben keine andere Wahl«, sagte Kim. »Er wird uns niemals gehen lassen, John. Es sei denn, wir erzählen der ganzen Welt, was wirklich geschieht. Ein Geheimnis, das keines mehr ist, muss auch nicht mehr beschützt werden.«

»Eine hübsche Idee«, sagte ich. »Und wie willst du sie in die Tat umsetzen?«

»Wir besitzen das Einzige, was Bach wirklich fürchtet, John«, sagte Kimberley. »Die Wahrheit.«

»Das Problem ist nur, dass sie uns niemand glauben wird«, antwortete ich ernst. »Denkst du, ich hätte nicht auch schon daran gedacht? Niemand wird uns glauben. Bach wird sich zurücklehnen, die Arme vor der Brust verschränken und grinsend den Kopf schütteln, und wir beide landen im Irrenhaus. Oder verschwinden einfach.«

»Das ist doch nicht der John Loengard, den ich kenne!« empörte sich Kim. »Seit wann gibst du so schnell auf?«

»Wenn ich weiß, dass ich keine Chance habe. Ich kämpfe gerne gegen Drachen, wenn es sein muss. Selbst gegen Windmühlen. Aber nicht gegen ein Phantom.«

Kimberley schwieg einen Moment. Sie sah wütend aus, fast ein bisschen zornig, aber auch nachdenklich. Langsam wandte sie sich um, begann in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen und setzte sich auf den Badewannenrand. »Jackie«, murmelte Kim. »Ich könnte mit der First Lady reden.«

»Damit sie ihrem Mann beim nächsten Frühstück erzählt, dass sie von ihrer neuen Hilfssekretärin etwas von einer weltweiten Verschwörung erfahren hat, in der es um UFOs geht, eine Bedrohung aus dem Weltall und die mögliche Invasion außerirdischer Ungeheuer?« Ich lachte böse. »Und wo arbeitest du in Zukunft?«

»Wir bräuchten einen Beweis«, murmelte Kim. »Nur einen einzigen Beweis, John. Ich bin ganz sicher, dass ich dem Präsidenten eine Nachricht zuschmuggeln kann. Es passiert nicht oft, aber manchmal komme ich bis in sein Vorzimmer. Du weißt alles über Majestic, John. Glaubst du, du kannst es auf zwei oder drei Blättern zusammenfassen?«

»Kein Problem«, antwortete ich. »Aber was uns fehlt, ist immer noch ...«

»Ja?« machte Kim, als ich nicht weitersprach, sondern nur einen Moment lang an ihr vorbei ins Leere starrte.

»Der Beweis«, flüsterte ich. »Aber wir haben ihn! Verdammt, er war die ganze Zeit direkt vor meiner Nase, und ich habe ihn nicht einmal gesehen!«

Plötzlich war ich sehr aufgeregt. »Hör zu«, begann ich. »Es ist gefährlich, aber es könnte funktionieren. Wir müssen Folgendes tun ...«


Die nächsten Wochen waren die Hölle. Kim und ich kehrten äußerlich zu unserem normalen Leben zurück, aber uns war jede einzelne Sekunde über klar, dass wir nicht aus dem unsichtbaren Käfig entkommen waren. Bach ließ uns weiter überwachen, und wir konnten auch davon ausgehen, dass er unsere Wohnung abhören ließ, so dass wir uns angewöhnten, nur an wirklich sicheren Orten darüber zu reden: im Wagen, in Restaurants oder auf dem Bahnsteig der U-Bahn, und selbst dann nur im Hüsterton. Es war gelebte Paranoia, aber etwas sehr Seltsames geschah. Obwohl die Situation an unseren Nerven zerrte, gab sie uns gleichzeitig auch die Kraft, sie durchzustehen.

Und wir arbeiteten weiter an unserem Plan.

Bach hatte uns unmissverständlich klargemacht, dass es nur einen einzigen Weg gab, Majestic zu verlassen, nämlich als Toter, und ich begriff im Laufe der nächsten Wochen ebenso unmissverständlich, dass die Sicherheitsmaßnahmen von Majestic viel zu perfekt waren, um auch nur ein Stäubchen aus dem unterirdischen Labyrinth hinauszuschaffen. Ich konnte nicht sagen, ob sie mir vorher nur nicht so extrem aufgefallen waren, oder ob Bach mir einfach nur nicht mehr traute, aber ich ging zur Vorsicht von Letzterem aus.

Doch jedes System hat eine schwache Stelle, und wir fanden sie in Bachs Netz. Drei Tage später saßen Kim und ich zusammen im Wagen in der Straße, in der Bach wohnte, und beobachteten sein Haus. Ich war nervös, und ich hatte Angst. Keine gute Kombination.

»Bist du ganz sicher, dass du es tun willst?« fragte ich.

»Ich bin ganz sicher, dass ich es nicht tun will«, sagte Kim. »Leider steht hier nicht zur Debatte, was ich will.«

Bachs Haustür wurde geöffnet. Wir hatten den Wagen so geparkt, dass wir das Haus im Auge behalten konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Ich fuhr zwar noch in dem gleichen Wagen, mit dem wir nach Washington gekommen waren - ein Allerweltsauto, wie es ungefähr alle fünf Minuten an einem vorbeifährt - aber er war ein sehr aufmerksamer Beobachter. So rutschten wir auch beide tiefer in die Sitze, während wir zusahen, wie Bachs Frau einen Schritt aus dem Haus tat und dann ihre beiden Kinder verabschiedete, die in fünf Minuten in den Schulbus steigen würden, der unten an der Ecke hielt.

»Unglaublich, dass dieser Mann verheiratet ist und sogar Kinder hat«, murmelte Kim.

»Die hatte Dschinghis Khan auch«, antwortete ich. »Sogar ein Dutzend, glaube ich.« Ich sah auf die Uhr im Armaturenbrett. »Er müsste jetzt oben im Bad sein, wenn er sich an seinen gewohnten Rhythmus hält. Hoffentlich nimmt er das Ding nicht mit unter die Dusche. Bist du so weit?«

»Nein«, antwortete Kim. »Also, worauf warten wir noch?«

Wir stiegen aus. Kimberley bewegte sich mit langsamen Schritten auf Bachs Haus zu, während ich selbst wesentlich schneller in die entgegengesetzte Richtung ging und an der nächsten Ecke abbog. Wir hatten die Straße in den letzten beiden Tagen so gründlich in Augenschein genommen, wie es ging, und so wussten wir, dass Bachs Garten an ein unbebautes Grundstück grenzte und es nur einen niedrigen, allenfalls symbolisch gemeinten Zaun gab.

Ich brauchte zwei Minuten, um ihn zu erreichen. Kim musste mittlerweile an der Tür sein und geklingelt haben, aber ich gab ihr noch weitere dreißig Sekunden, um Bachs Frau in ein Gespräch zu verwickeln, ehe ich über den Zaun stieg und mich gebückt und sehr schnell der Rückseite des Hauses näherte. Mir war nicht wohl dabei. Mein Herz klopfte so schnell und hart, als hätte ich einen Hundert-Meter-Sprint hinter mir, und als ich die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, zögerte ich noch ein letztes Mal. Wenn ich diese Tür öffnete, dann überschritt ich mehr als nur eine Türschwelle. Bisher hatten Kim und ich nur geplant, Bach zu verraten. Trotz allem war es nicht mehr als ein Spiel gewesen.

Wenn ich dieses Haus betrat, wurde aus dem Spiel Ernst.

Aber wir waren schon viel zu weit gegangen, um jetzt noch zurück zu können.

Ich brachte die immer lauter schreiende Stimme meiner Vernunft mit einem ärgerlichen Gedanken zum Verstummen, drehte den Türknopf und registrierte erleichtert, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Ich hatte auch nicht wirklich damit gerechnet. In einer Gegend wie dieser schließen die Leute ihre Hintertüren nicht ab; wenigstens damals nicht.

Aber vielleicht hatte ich gehofft, dass sie abgeschlossen war ...

Sie war es nicht. Ich huschte hindurch, drückte die Tür lautlos wieder hinter mir ins Schloss und sah mich mit klopfendem Herzen um. Ich befand mich in einer kleinen, penibel aufgeräumten Küche, die gleich zwei weitere Türen hatte. Eine war geschlossen, die andere nur angelehnt. Gedämpfte Stimmen drangen hindurch. Eine davon identifizierte ich als die Kims.

Ich schlich hin, spähte durch den Spalt und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass Bachs Frau an der Haustür stand und mit Kimberley sprach. Um die Treppe nach oben zu erreichen, musste ich das weitläufige Wohnzimmer nicht nur durchqueren, sondern praktisch unmittelbar an ihr vorbeigehen.

Ich hatte keine Wahl.

Mit angehaltenem Atem verließ ich die Küche, schlich durch das Wohnzimmer und näherte mich der Treppe. Ich befürchtete nicht, ich war hundertprozentig sicher, dass Bachs Frau mich bemerken musste, denn ich kam so dicht an ihr vorbei, dass sie beinahe den Luftzug hätte spüren können, den ich verursachte. Aber Kim lenkte sie perfekt ab. Das Wunder geschah. Ich erreichte die Treppe und Augenblicke später unbehelligt die erste Etage.

Mit klopfendem Herzen sah ich mich um. Es gab gleich ein halbes Dutzend Türen, die nicht nur allesamt geschlossen waren, sondern auch vollkommen identisch aussahen. Ich hatte nicht viel Zeit. Kimberley würde Bachs Frau nicht endlos hinhalten können, und so ganz nebenbei war auch noch Bach selbst hier oben.

Ich musste improvisieren.

Wenn dieses Haus so aufgeteilt war wie die meisten anderen, die ich kannte, dann war das Badezimmer entweder hinter der ersten oder der letzten Tür auf dem Flur. Ich presste das Ohr gegen die erste Tür und lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören; weder das Rauschen von Wasser noch andere Laute, die auf die Anwesenheit eines Menschen dahinter hingewiesen hätten. Also schlich ich auf Zehenspitzen über den Flur und nahm mir die letzte Tür hier oben vor. Das Ergebnis war dasselbe, doch noch bevor ich mich wieder herumdrehen konnte, wurde eine Tür hinter mir geöffnet, und Bachs Stimme schrie mir praktisch ins Ohr:

»Wer ist denn da an der Tür, Liebling?«

Mein Herz schien für einen Schlag auszusetzen. Millimeter für Millimeter drehte ich mich herum und starrte auf Bachs breiten, nackten Rücken. Er trug nur eine Pyjamahose und Badelatschen und dampfte, als käme er gerade aus der Sauna. Ich war ihm so nahe, dass ich ihm die Hand schütteln konnte, wenn er sich herumdrehte.

»Nur eine nette junge Lady von der Schulbehörde, Frank«, rief seine Frau von unten herauf. »Sie sammelt Unterschriften für eine Elterninitiative.«

»Ich komme gleich herunter«, antwortete Bach. Er machte Anstalten, ins Badezimmer zurückzutreten - wobei er mich unweigerlich gesehen hätte - zuckte dann mit den Schultern und trat ganz auf den Flur heraus. Ohne die Tür zu schliessen, ging er zu einem der anderen Räume, wobei er eine Spur feuchter Fußabdrücke auf dem Teppichboden hinterließ.

Das war meine Chance. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, huschte ich ins Bad. Der Raum war von grauem Wasserdampf und dem intensiven Geruch von Bachs Rasierwasser erfüllt. Bachs Pyjamajacke lag, zu einem unordentlichen nassen Ball zusammengeknüllt auf dem Boden, und im Waschbecken befanden sich noch Reste seines Rasierschaums.

Ich wurde auf Anhieb fündig. Bachs Amulett lag auf dem Waschbeckenrand.

Ich nahm es auf, öffnete den Deckel und nahm mit spitzen Fingern das zusammengefaltete Blatt UFO-Material heraus. Kaum hatte ich es getan, begann es sich zwischen meinen Fingern zu bewegen, wie ein lebendes Wesen, das meinem Griff zu entkommen versuchte. Ich griff fester zu, zog mit der anderen Hand den mitgebrachten Briefumschlag aus der Manteltasche und schob das lebende Metall hinein. Sofort faltete es sich auseinander. Der Umschlag beulte sich aus wie ein Luftballon, der sehr schnell aufgeblasen wurde, so dass ich fast Mühe hatte, ihn wieder in die Manteltasche zu bekommen.

Sehr langsam verschloss ich das Amulett wieder und versuchte auch die Kette so über den Beckenrand zu drapieren, wie ich es in Erinnerung hatte. Und kaum hatte ich es getan, da hörte ich, wie draußen auf dem Flur eine Tür zufiel, und schnelle Schritte näher kamen.

Für einen Moment drohte mich Panik zu übermannen. Ich war allerhöchstens seit zehn Sekunden hier drinnen - Bach musste sich mit Lichtgeschwindigkeit umgezogen haben.

Und wenn ich nicht im gleichen Tempo reagierte, dann würde er in ungefähr drei Sekunden vor mir stehen und mich ziemlich verdutzt fragen, was ich in aller Herrgottsfrühe in seinem Badezimmer tat. Falls er mich nicht gleich über den Haufen schoss, hieß das.

Ich tat das überhaupt Einzige, was ich noch tun konnte: Ich wich mit zwei blitzschnellen Schritten unter die Dusche zurück und zog den Vorhang zu, und buchstäblich im gleichen Sekundenbruchteil kam Bach herein, trat ans Waschbecken und griff nach seinem Anhänger. Offensichtlich hatte er ihn wirklich nur abgelegt, um zu duschen, und hätte Kims Erscheinen ihn nicht abgelenkt, dann hätte ich wahrscheinlich niemals eine Chance gehabt, auch nur in seine Nähe zu kommen. Bach streifte sich die Kette über den Kopf und warf seinem eigenen Konterfei im Spiegel einen argwöhnischen Blick zu. Er nahm sich diese Nachlässigkeit übel. Offenbar war es wirklich so, wie er damals behauptet hatte: Er trennte sich so gut wie nie davon.

Bach ging; übrigens gerade noch rechtzeitig, denn ich konnte nun ein hörbares Keuchen nicht mehr unterdrücken. Bach hatte zwei schlechte Angewohnheiten: In seinem Privatleben war er ein wesentlich weniger ordentlicher Mensch als in seinem Beruf. Einer der zum Beispiel nicht den Stöpsel aus der Duschtasse zieht, bevor er die Dusche verlässt; was zur Folge hatte, dass ich bis zu den Waden im Wasser stand.

Die andere war, dass er offenbar ein Gesundheitsfanatiker war. Das Wasser war so kalt, dass ich mit den Zähnen klapperte.

Vorsichtig trat ich aus der Dusche heraus, betrachtete stirnrunzelnd die unübersehbaren, nassen Schuhabdrücke, die ich auf den Fliesen hinterließ, und überlegte angestrengt. Auch ohne diese Spuren hätte ich es nicht gewagt, das Haus auf dem gleichen Wege wieder zu verlassen, auf dem ich es betreten hatte. Kim war mittlerweile wahrscheinlich nicht mehr unten an der Tür, denn sie musste Bachs Stimme gehört haben, und selbst, wenn es anders gewesen wäre: Ich hatte mein Glück schon mehr als genug auf die Probe gestellt, und ich habe noch nie etwas davon gehalten, meine Kosten zu sehr zu überreizen.

Der einzige Weg, der mir blieb, war der aus dem Fenster. Auch das war nicht ganz ungefährlich - welche Rolle Bach in seiner spießigen Nachbarschaft auch immer spielte, dass in blaue Trenchcoats gekleidete junge Männer morgens um acht aus seinem Badezimmerfenster kletterten, gehörte nicht dazu. Aber ich konnte auch nicht hier bleiben. Bach würde zwar in dreißig Minuten das Haus verlassen, aber seine Frau war nicht berufstätig, doch da sie die Eigenarten ihres Mannes kannte, würde sie spätestens zehn Sekunden später hier auftauchen, um hinter ihrem Göttergatten aufzuräumen. Also stieg ich aus dem Fenster.

Das Glück blieb mir weiter hold. Bachs Scheinexistenz war tatsächlich spießig genug, dass es genau unter dem Badezimmerfenster das obligate Rosengitter gab, an dem ich einigermaßen bequem hinunterklettern konnte. Fünf Minuten später war ich wieder im Wagen und ließ mich mit einem erleichterten Seufzer in den Fahrersitz fallen.

»Du hast lange gebraucht«, begrüßte mich Kim. »Ist irgendetwas passiert?«

»Passiert? Nein. Wie kommst du darauf? Es ist alles in Ordnung.«

»Hast du es?«

»Selbstverständlich«, antwortete ich. »Das Ding sollte ausreichen, um Kennedys Neugier zu wecken.«

Als ich den Kopf drehte, sah ich, dass sie nicht mich anblickte, sondern wie hypnotisiert auf meine tropfnassen Hosenbeine starrte.

»Frag bloß nicht«, sagte ich.

Kim fragte nicht.


Der Rest des Tages wurde zum längsten in meinem Leben. Kim und ich fuhren zur Arbeit und versuchten uns ganz normal zu benehmen, aber natürlich blieb es bei dem Versuch. Ich war nervös, ich war fahrig und ich hatte solche Angst, dass ich ein paarmal erschrocken zusammenfuhr, als die Tür aufging und jemand hereinkam. Wir hatten unseren Plan wieder und wieder durchgesprochen, und es konnte im Grunde nichts schief gehen, Bach hatte uns, ohne es zu ahnen, selbst den Weg gezeigt, wie wir ihn besiegen konnten. Es stellte für Kimberley kein Problem dar, unter einem Vorwand bis ins Vorzimmer des Präsidenten vorzudringen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihm einen Briefumschlag mit einem Liebesbrief überbrachte, den die First Lady ihm spontan geschrieben hatte, und der nicht für die Augen seiner Sekretärinnen bestimmt war.

Nur, dass der Umschlag heute keinen Liebesbrief enthielt, sondern drei eng maschinegeschriebene Seiten, auf denen ich die wichtigen Fakten, Namen und Hintergründe niedergeschrieben hatte, die mit Majestic zu tun hatten; und das Blatt UFO-Metall. Kim war hundertprozentig sicher, dass sie ihm den Umschlag zuspielen konnte. Es konnte gar nichts schief gehen.

Aber das war nur die Theorie. Mit narrensicheren Plänen, bei denen gar nichts schief gehen konnte und die trotzdem in einer Katastrophe geendet hatten, ließen sich vermutlich ganz Bibliotheken füllen, und so steigerte sich meine Nervosität im Laufe des Tages bis zu einem Grad, dass ich es einfach nicht mehr aushielt. Ich machte eine Stunde früher als gewöhnlich Schluss und fuhr zum Weißen Haus, um Kimberley von der Arbeit abzuholen.

Als ich den Wagen auf den Parkplatz fuhr und ausstieg, kam mir Bach entgegen.

Mein Herz machte einen erschrockenen Satz bis in meinen Hals hinauf und hämmerte dort so schnell weiter, dass Bach es einfach sehen musste, und ich konnte fühlen, wie mir nicht nur alles Blut aus dem Gesicht wich, sondern in meinen Augen auch noch in grellen Buchstaben das Wort Verräter aufleuchtete. Eine Sekunde lang war ich einfach in Panik, und für einen noch kürzeren Moment wollte ich nichts anderes, als auf dem Absatz herumzufahren und davonzustürmen. Gottlob war ich vor Schrecken einfach wie erstarrt, so dass ich es gar nicht konnte.

Bach war jedoch mindestens genauso überrascht wie ich - entweder das, oder er war der weitaus talentiertere Schauspieler von uns beiden. »John«, sagte er. »Was tun Sie denn hier?«

»Ich ... ich wollte Kim vom Büro abholen«, antwortete ich stockend. Ich zog eine Grimasse, von der ich wenigstens hoffte, dass sie als verlegenes Grinsen durchging. »Sie haben mich erwischt, Captain.«

»Erwischt?« Bach legte den Kopf schräg.

»Ich habe ein paar Stunden blaugemacht«, gestand ich. »Ich ... ich fühle mich nicht besonders.«

Das war die Untertreibung des Jahres. Ich fühlte mich hundsmiserabel. Mein Magen revoltierte, meine Knie zitterten und mein Herz jagte immer schneller. Außerdem begann ich mich allmählich zu fragen, was Bach hier eigentlich tat.

»Sie sehen auch nicht besonders gut aus«, bestätigte Bach. »Sie sollten mehr auf Ihre Gesundheit achten, John. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Als ich in Ihrem Alter war, habe ich mich auch für unverwundbar gehalten.« Er schüttelte den Kopf, bedachte mich einen Moment lang mit einem fast väterlich-besorgten Blick - für den ich ihm die Zähne hätte einschlagen können - und fuhr in verändertem Tonfall fort:

»Aber vielleicht habe ich etwas, um Sie aufzumuntern, John. Ich habe nämlich gerade mit Doktor Hertzog gesprochen. Er glaubt, einen Weg gefunden zu haben, um Menschen zu identifizieren, die von einem Ganglion besessen sind.«

»So?« fragte ich nervös.

Bach nickte heftig. »Das ist nicht zuletzt Ihr Verdienst, John. Und Kimberleys, natürlich. Ohne Ihren kleinen ... Alleingang wüssten wir bis heute nicht, dass das Mittel funktioniert. Trotzdem sollten Sie aus so etwas keine schlechte Angewohnheit machen.«

Bei den letzten Worten lachte er; etwas, was bei Bach nun wirklich höchst selten vorkam. Trotzdem konnte ich mich nur zu einem neuerlichen, sehr nervösen Grinsen zwingen. »Ganz bestimmt nicht«, versprach ich.

»Da kommt Kimberley.« Bach deutete mit einer Kopfbewegung auf einen Punkt hinter mich. Als ich seinem Blick folgte, erkannte ich Kim, die mit schnellen Schritten auf uns zukam.

»Richten Sie ihr aus, dass Hertzog noch einmal mit ihr reden möchte«, sagte Bach. »Heute oder morgen, wenn es geht. Machen Sie es gut, John. Und erholen Sie sich.«

Er ging. Ich starrte ihm verdutzt nach - ich wusste noch immer nicht, was er eigentlich hier gesucht hatte - und wagte erst, erleichtert aufzuatmen, als er nicht nur außer Hör -, sondern auch außer Sichtweite war. Meine Knie zitterten immer noch. Hätte er auch nur eine einzige entsprechende Bemerkung gemacht, hätte ich mich wahrscheinlich verplappert. Ich war für solche Sachen nicht gemacht.

Kimberley auch nicht, denn als sie neben mir anlangte und ich mich zu ihr herumdrehte, sah ich, dass auch sie kreidebleich geworden war. »War das ... Bach?« fragte sie stockend.

Ich nickte.

»Was wollte er?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, es war nur Zufall.« Ich atmete hörbar ein. »Wie ist es gelaufen?«

»Ich habe den Brief abgegeben«, sagte Kim. »Mehr weiß ich nicht.« Sie zögerte einen Moment, dann: »Aber ich habe gehört, dass Kennedy heute Nachmittag ziemlich viel telefoniert haben soll. Und es kamen eine Menge unangemeldeter Besucher.«


Trotz allem löste Kims Nachricht bei uns fast so etwas wie - gedämpfte - Euphorie aus, die sich natürlich als vollkommen verfrüht erwies. Ich weiß nicht, was wir erwarteten; wir waren jung, naiv und voller Enthusiasmus, und natürlich unterstellten wir ganz selbstverständlich, dass der Rest der Welt ebenso funktionierte. Was er natürlich nicht tat.

Der Tag verstrich, ohne dass irgendetwas geschah. Damit hatten wir gerechnet. Auch, dass sich am nächsten Tag weder der Himmel auftat, um uns zu verschlingen, noch ein Helikopter des Präsidenten in unserem Vorgarten landete, um Kim und mich zu einer Privataudienz bei den Kennedys abzuholen.

Doch auch der dritte, der vierte und noch eine ganze Reihe weiterer Tage verstrichen, ohne dass unser Alleingang auch nur die allergeringste Wirkung zu zeigen schien: Kim und ich gingen weiter ganz normal in unsere Büros, ich hatte mehr oder weniger regelmäßige Treffen mit Bach oder anderen Majestic-Mitarbeitern, und unser Leben verlief weiter nach den Regeln praktizierter Paranoia. Mit jedem Tag, der verstrich, erschien es mir zwar weniger wahrscheinlich, dass Bach irgendetwas gemerkt hatte, oder er sich gar die Mühe machte, unsere Wohnung abhören zu lassen, aber wir blieben vorsichtig. Was zur Folge hatte, dass unser Leben zur Hölle wurde. Nach einer Woche gab es mit Ausnahme Kimberleys niemanden mehr, dem ich wirklich traute, und kurz vor Ablauf der zweiten ertappte ich mich dabei, den Salzstreuer in einem Restaurant herumzudrehen und nachzusehen, ob auch kein Mikrofon darunter verborgen war. Weder Kimberley noch ich hätten es damals zugegeben, aber Tatsache war, dass wir unter dem Druck zu zerbrechen begannen. Wir stritten uns immer öfter, und längst nicht mehr alle dieser Streitigkeiten waren für die - möglicherweise realen, möglicherweise auch nur eingebildeten - Mikrofone in unserer Wohnung bestimmt. Auch, wenn ich es damals selbst vor mir selbst verleugnete, aber heute ist mir klar, dass wir den Druck allerhöchstens noch eine oder zwei weitere Wochen ausgehalten hätten.

Sechzehn Tage nach meinem Einbruch in Bachs Haus und Kimberleys Alleingang im Oval Office legte sie mir beim Frühstück schweigend eine zusammengefaltete Ausgabe der Washington Post vor. Eine der Kleinanzeigen war mit einem roten Kringel markiert:

62er Chevy, Cabriolet, weiß/rot,

guter Zustand, Weißwandreifen, Radio

nur an Liebhaber abzugeben. Preis VB

Tel.: 555-7569 Mr. Robert

»Das ... klingt interessant«, sagte ich, zögernd, aber trotzdem laut und in Richtung der potenziellen Mikrofone.

»Das ist doch genau der Wagen, den du immer wolltest, oder?« fragte Kimberley. »Warum rufst du nicht einfach an?«

»Es steht kein Preis dabei.« Ich sah Kimberley fragend, aber auch misstrauisch an. Sie nickte, allerdings nur andeutungsweise. »So etwas stimmt mich immer misstrauisch.«

»Das kannst du mit einem Anruf herausfinden«, antwortete sie. Sie lachte. »Komm schon. Du hast mir noch nie etwas vormachen können. Ich weiß doch, wie sehr du dir so einen Wagen wünschst. Und jetzt, wo du den neuen Job hast, verdienst du auch genug.«

»Kein Grund, es aus dem Fenster zu werfen, oder?«

»Aber genug für ein Telefongespräch«, erwiderte Kimberley lachend. »Nun mach schon. Ich habe keine Lust, mir die nächsten sechs Monate dein langes Gesicht anzusehen, jedes Mal, wenn ein solcher Wagen bei uns vorbeifährt.«

Ich seufzte, ließ noch eine Schamsekunde verstreichen und gab dann auf. Lautstark mit der Zeitung raschelnd, ging ich zum Telefon, wählte die Nummer und lauschte drei- oder viermal auf das Freizeichen, ehe sich ein Gebrauchtwagenladen im Süden der Stadt meldete.

»Guten Morgen«, meldete ich mich. »Ich rufe wegen des Wagens an. Könnten Sie mich mit Mister Robert verbinden?«

»Geht es um den Chevy?« fragte eine Frauenstimme. Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ich verbinde Sie mit Mister Robert. Wie war noch gleich Ihr Name?«

»Loengard«, antwortete ich. »John Loengard.«

»Einen Moment bitte.«

Kim sah mich durchdringend an, während ich mit konzentriertem Gesichtsausdruck in den Hörer lauschte. Sie beherrschte sich meisterhaft und gab weder einen Laut von sich, noch gestikulierte sie herum oder tat sonst irgendetwas Auffälliges. Aber hinter ihrer Stirn arbeitete es sichtbar. Sie war mindestens so aufgeregt wie ich, wenn nicht mehr.

Nach einer Ewigkeit - die vermutlich nicht einmal eine Minute gedauert hatte - meldete sich die Frauenstimme erneut. »Mister Loengard? Es tut mir leid. Mister Robert ist im Moment nicht zu sprechen. Aber er lässt Ihnen ausrichten, dass Sie in einer halben Stunde vorbei kommen könnten, um sich den Wagen selbst anzusehen.«

»Eine halbe Stunde? Ich muss ...«

»Leider ist das der einzige Termin, den wir heute noch haben«, unterbrach sie mich. »Sie verstehen - bei einem solchen Wagen gibt es eine Menge Interessenten. Kann ich Sie also in Mister Roberts Terminkalender eintragen?«

Ich tat so, als müsse ich überlegen, dann seufzte ich mit gespielter Resignation. »Also gut. Ich komme dann zwar zu spät ins Büro, aber vielleicht lohnt es sich ja.«

»Ganz bestimmt, Mister Loengard.«

Ich notierte mir die Adresse, die mir die Sekretärin durchgab, hängte ein und drehte mich zu Kim herum, während ich den Zettel in der Jackentasche verschwinden ließ. »Ich fürchte, ich kann dich heute nicht ins Weiße Haus fahren«, sagte ich. »Ich soll in einer halben Stunde da sein. Ansonsten gibt es andere Interessenten.«

»Dann musst du das wohl«, antwortete Kimberley. »Ich kann mit der U-Bahn fahren. Das ist kein Problem.«

»Wenn ich mich auf diese Erpressung einlasse, habe ich schon verloren«, antwortete ich übellaunig. »Dann weiß er, dass ich jeden Preis zahle.«

»Untersteh dich!« Kim drohte mir spielerisch mit dem Zeigefinger. »Und untersteh dich genauso, nicht dorthin zu gehen. Nach allem, was du mitgemacht hast, hast du ein Recht auf ein bisschen Spaß. Sieh ihn dir wenigstens an.«

Sie stand auf, schob lautstark ihren Stuhl zurück und ging ebenso lautstark in die Diele, um sich ihren Mantel zu holen. »Und jetzt muss ich los. Schließlich ist es nicht nötig, dass wir beide das Geld der Steuerzahler verschwenden, indem wir zu spät kommen.«

Sie ging ohne ein weiteres Wort, und wieder konnte ich nicht anders, als ihre Kaltblütigkeit zu bewundern. Kims Fähigkeit, auch in wirklich verfahrenen Situationen noch immer einen kühlen Kopf zu bewahren, war schon immer einer der Punkte gewesen, die mich am meisten an ihr beeindruckt hatten. Aber plötzlich war ich sehr froh, dieses Mädchen, das so harmlos aussah, nicht zum Feind zu haben ...

Nicht, dass es mir daran gemangelt hätte.


Ich verscheuchte den Gedanken, fischte im Vorbeigehen mein Jackett von der Stuhllehne und verließ ebenfalls das Apartment. Die Adresse, die mir die Sekretärin genannt hatte, befand sich am anderen Ende der Stadt, und auch, wenn der Berufsverkehr damals nicht einmal annähernd mit dem Alptraum zu vergleichen ist, der sich heute hinter dem Wort Rushhour verbirgt, so musste ich mich doch sputen, um in einer halben Stunde dorthin zu gelangen. Zumal ich mich in dieser Gegend nicht auskannte.

Exakt achtundzwanzig Minuten später lenkte ich meinen eigenen, altersschwachen Chevy auf den Hof eines mittelgroßen, nicht allzu vertrauenerweckend aussehenden Gebrauchtwagenladens, auf dem sich ganze Legionen von Gebrauchtwagen in unterschiedlichsten Stadien des Verfalls reihten. Keine der Rostlauben, an denen ich vorbeifuhr, schien mir mehr wert als hundert Dollar - und auch das nur mit vollem Tank und einem zweiten Ersatzrad - aber als ich das Ende der traurigen Parade erreicht hatte und mich dem lang gestreckten, flachen Gebäude näherte, das gleichzeitig als Werkstatt, Büro und Verkaufsraum zu dienen schien, erblickte ich tatsächlich den Wagen, der in der Zeitungsannonce angeboten worden war: einen rotweißen Chevrolet, keine zwei Jahre alt und mit prachtvollen roten Ledersitzen und so viel Chrom, dass man ihn wahrscheinlich kaum ansehen konnte, wenn die Sonne ein wenig heller vom Himmel schien.

Ich parkte unmittelbar daneben, stieg aus und hatte nicht einmal genug Zeit, die Wagentür hinter mir zuzuwerfen, da flog die Werkstattür auch schon auf, und ein dürres Kerlchen in Cowboyhut, Westernstiefeln und einem braunen Fransenlederanzug stürmte auf mich zu. Der Kerl sah aus, als wäre er einer Persiflage über Gebrauchtwagenverkäufer entsprungen.

»Mister ... Robert?« fragte ich zögernd. Es fiel mir schwer, ernst zu bleiben. Wer immer diese Farce inszeniert hatte, hatte es kräftig übertrieben, meiner Meinung nach.

»Nelson«, verbesserte mich der John-Wayne-Verschnitt. Seine Stimme klang genauso ölig, wie der ganze Kerl wirkte. »Mein Name ist Nelson T. Bennet. Ich sehe, Sie interessieren sich für unser Prachtstück? Daran erkennt man den wirklichen Autokenner, nicht wahr? Ein einziger Blick, und Sie haben das beste Fahrzeug auf dem Platz gefunden.«

Dazu gehörte nun wirklich nicht viel. Aber ich war nicht hier, um einen Wagen zu kaufen, und so schluckte ich die entsprechende bissige Bemerkung herunter und sagte stattdessen: »Ich hatte einen Termin, Mister Bennet. Ich glaube, mit einem Mister Robert.«

»Dann müssen Sie John sein«, sagte Bennet triumphierend. »John Longard, richtig?«

»Fast. Loengard. Aber Mister Robert ...«

»... ist unser Geschäftsführer. Er wird in ein paar Minuten zu Ihrer Verfügung stehen, keine Sorge. Warum nutzen wir die Zeit nicht, und Sie sehen sich dieses kleine Baby hier in aller Ruhe an? So etwas bekommt man nicht alle Tage zu Gesicht, müssen Sie wissen. Und ich verkaufe es auch nicht jedem. O nein. So etwas ist etwas Besonderes, müssen Sie wissen. Es wäre ein Frevel, es einer dicken Hausfrau zu verkaufen, die damit in den Supermarkt fährt, oder irgendeinem sechzehnjährigen Schnösel, der mit Daddys Geld um sich wirft. Da macht Nelson Bennet nicht mit. Kommen Sie. Nur keine Scheu, John. Er beißt nicht.«

Er wedelte aufgeregt mit den Händen und ignorierte sowohl meinen gemurmelten Protest als auch meine schwächliche Gegenwehr, während er mich auf den Wagen zuzerrte und schließlich mit schon etwas mehr als sanfter Gewalt hinter das Steuer stieß. Noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, drehte er den Schlüssel herum, startete den Motor und brachte irgendwie das Kunststück fertig, praktisch im gleichen Sekundenbruchteil auf dem Beifahrersitz neben mir aufzutauchen.

»Na, wie klingt das?« fragte er. Gleichzeitig trat er grinsend das Gaspedal bis zum Boden durch. Der Motor heulte auf, dass ich damit rechnete, die Kolben durch die Kühlerhaube schießen zu sehen. »Das ist doch Musik in den Ohren, wie? So etwas hört man nicht alle Tage!«

»Mister Bennet, wir haben noch nicht einmal über den Preis ...«

»Oh, keine Sorge, da werden wir uns schon einig«, unterbrach mich Bennet. »Schauen Sie ihn sich doch erst einmal in Ruhe an. Sehen Sie nur diese prachtvollen Lederbezüge. So etwas wird heute kaum noch hergestellt. Und das ...«

Ich hörte kaum noch hin, und vermutlich hätte ich es nicht einmal mehr gekonnt, wenn ich es wirklich gewollt hätte. Bennet redete wie ein Wasserfall. Er plapperte, schwatzte, schwafelte und pries mir die Vorzüge des Chevrolet in immer höheren Tönen an, so dass ich schon nach wenigen Augenblicken nicht mehr wusste, ob ich nun lachen oder weinen sollte. Eines aber wurde mir sehr schnell und ohne den geringsten Zweifel klar: Mein anfänglicher Verdacht war falsch gewesen. Bennet spielte kein Theater. Er war ein Gebrauchtwagenverkäufer, und zwar einer, der das, was er tat, mit Leib und Seele tat. Nach kaum fünf Minuten war ich nicht einmal mehr in der Lage, zu widersprechen, und nach weiteren zehn war ich so weit, dass ich mir ernsthaft überlegte, den Wagen tatsächlich zu kaufen.

»Nun«, schloss er seine oscarverdächtige Vorstellung. »Was sagen Sie - ist das ein Prachtstück?«

Ich nickte, allein vom Zuhören erschöpft. In meinem Kopf summte es. »Einfach wunderbar«, bestätigte ich matt. »Aber leider haben Sie mir immer noch nicht gesagt, was dieses Prachtstück denn nun kostet.«

Bennet zwinkerte mir verschwörerisch zu. »So eine wunderschöne Gelegenheit ist natürlich nicht ganz billig«, sagte er, hob aber hastig die Hand, als ich Luft zu einer Anwort holte. »Aber auch nun wieder nicht so teuer, dass sie sich ein Mann wie Sie nicht leisten könnte.«

»Und was bedeutet das?« fragte ich.

Bennet grinste und öffnete den Wagenschlag. »Ich bin nur der Techniker hier«, sagte er. »Über den Preis müssen Sie sich mit Mister Robert unterhalten. Aber ich bin sicher, Sie werden sich einig. Unser Geschäft bietet auch großzügige Teilzahlungsvereinbarungen an, müssen Sie wissen.«

Ich stieg ebenfalls aus und folgte ihm, als er eine einladende Geste zum Büro hin machte. Bennet hatte mich so eingelullt, dass ich beinahe schon vergessen hatte, warum ich wirklich hierhergekommen war - nämlich ganz bestimmt nicht, um einen Gebrauchtwagen zu kaufen.

Auch, wenn er mir mittlerweile wirklich gefiel ...

Wir betraten das Gebäude und gingen einen kurzen Flur entlang. Nach dem hellen Sonnenlicht draußen war ich im ersten Moment beinahe blind, so dass ich heftig blinzelte, damit sich meine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnten. Trotzdem erkannte ich Bennet nur noch als Schatten vor mir. Mehr tastend und lauschend als ihn wirklich sehend folgte ich ihm in ein kleines, unaufgeräumtes Büro, das neben einer großen Fensterfront nur noch einen überquellenden Aktenschrank und einen mächtigen Schreibtisch aufwies. Hinter diesem Monstrum von Möbel saß eine ebenfalls nur schemenhaft erkennbare Gestalt.

»Mister Robert«, sagte Bennet. Er deutete mit einer einladenden Geste auf den einzigen freien Stuhl vor dem Schreibtisch, ging wieder zur Tür und blinzelte mir im Hinausgehen zu. »Ich suche dann schon einmal die Schonbezüge heraus«, sagte er. »Sagen Sie, John - welche Farbe mag Ihre Frau am liebsten?«

»Es ist gut, Nelson«, mischte sich eine Stimme aus den Schatten jenseits des Schreibtischs ein. »Ich rufe Sie dann, wenn wir uns handelseinig werden.«

Bennet ging ohne ein weiteres Wort. Die Gestalt hinter dem Schreibtisch lachte ganz leise, dann beugte sie sich vor - ich war sicher, nicht durch Zufall so, dass ihr Gesicht dabei weiter unsichtbar blieb - und schob mir ein eng maschine-geschriebenes Blatt über die Tischplatte zu.

»Lesen Sie das, Mister Loengard. Oder tun Sie wenigstens so, als ob Sie es lesen.«

Ich griff gehorsam nach dem Blatt, versuchte aber trotzdem weiter, die Schatten auf der anderen Seite des Raumes mit Blicken zu durchdringen. Meine Augen gewöhnten sich allmählich an das Halbdunkel, das hier drinnen herrschte. Die Jalousien waren halb zugezogen, so dass der Großteil des Tageslichtes ausgesperrt blieb. Wer immer von draußen hereinzusehen versuchte, konnte unmöglich die Gesichter der Menschen erkennen, die sich hier drinnen aufhielten.

»Mister ...?«

»Robert«, sagte die Gestalt. »Robert reicht vollkommen. Mein Bruder konnte leider nicht persönlich kommen, Mister Loengard. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür.« Er wedelte mit der Hand. »Lesen Sie den Kaufvertrag, John. Und regen Sie sich ein bisschen auf. Der Preis ist der reine Wucher.«

Endlich erkannte ich die Stimme. Ich hatte sie unzählige Male gehört - im Radio, im Fernsehen, aber auch schon wirklich. Robert Kennedy war kein Stammgast im Capitol, aber dann und wann sah man ihn doch. Mein Herz begann zu klopfen, und meine Hände wurden feucht.

»Mister Kennedy?« fragte ich fast ehrfürchtig.

»Der Besitzer dieses Ladens heißt tatsächlich Robert«, antwortete Kennedy. »Einer der Gründe, aus dem ich diesen Treffpunkt vorgeschlagen habe. Der andere ist natürlich Nelson. Der Kerl ist einfach unglaublich!« Er lachte leise, dann fügte er hinzu: »Glauben Sie es, oder nicht, aber er hat es tatsächlich geschafft, selbst mir einen Wagen anzudrehen. Ich habe meinem Bruder bereits vorgeschlagen, ihn ins Außenministerium zu berufen. Ich bin sicher, er würde den Russen binnen eines Jahres die Rote Armee abschwatzen und sie dazu überreden, alle ihre ICBMs gegen Toaster und Stereo-Radios einzutauschen. Was sagen Sie zu dem Vertrag?«

Ich warf tatsächlich einen Blick darauf und stellte fest, dass Kennedy die Wahrheit gesagt hatte: Der Preis war Wucher.

»Glauben Sie, dass wir beobachtet werden?« fragte ich.

Kennedy zuckte mit den Schultern und zündete sich eine Zigarette an, die er in den Aschenbecher vor sich legte und während des gesamten übrigen Gesprächs nicht mehr anrührte. »Ehrlich gesagt, nein«, antwortete er. »Aber man kann nicht vorsichtig genug sein. Vor allem nicht nach dem, was Sie zu berichten haben. Das ist unglaublich.«

»Aber es ist die Wahrheit«, versicherte ich. »Ich weiß, wie meine Geschichte klingen muss, aber ich schwöre Ihnen ...«

»John!« Kennedy unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Ich habe nicht gesagt, dass ich Ihnen nicht glaube. Es fällt mir schwer, zu glauben, dass so etwas wirklich geschieht, aber das ist etwas anderes.« Er schüttelte den Kopf. »Ich muss mich entschuldigen, dass es eine Weile gedauert hat, bis wir uns bei Ihnen melden konnten. Aber Sie werden verstehen, dass wir gewisse ... Nachforschungen anstellen mussten.«

»Selbstverständlich.«

»Wir haben einige unserer besten Wissenschaftler auf dieses sonderbare Stück Metall angesetzt, das Sie meinem Bruder zugespielt haben«, fuhr Kennedy fort. »Natürlich sind die Untersuchungen bisher noch nicht abgeschlossen, aber wie es aussieht, kann niemand sagen, woraus das Zeug besteht. Ich weiß nicht, ob es von einem anderen Planeten stammt oder vielleicht aus Russland oder der Mongolei - aber wir haben es nicht hergestellt.«

»Bach hat ein ganzes Schiff aus diesem Material«, sagte ich. »Und vielleicht nicht nur eines.«

»Das ist der zweite Punkt«, seufzte Kennedy. »Captain Frank Bach ... Ist Ihnen eigentlich klar, wen Sie da belasten, John? Der Mann ist ein Held. Vorsichtig ausgedrückt.«

»Er ist ein Wahnsinniger«, antwortete ich. »Und er ist ein Verräter.«

»So, wie alle anderen auch, deren Namen auf der Liste stehen, die Sie dem Präsidenten zugespielt haben?«

Kennedys Gesicht blieb im Schatten weiter unsichtbar, aber ich konnte fast körperlich spüren, wie er mich anstarrte. Mein Herz schlug schneller, und ich konnte plötzlich nicht mehr still sitzen und begann unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen. Trotzdem nickte ich. »Es ist die Wahrheit.«

Robert Kennedy schwieg fast zehn Sekunden. Eine Ewigkeit. Dann seufzte er. »Wissen Sie, was das Schlimmste an der ganzen Situation ist, John?« fragte er. »Ich glaube Ihnen.«

»Sie ...«

»Ich sagte Ihnen doch: Wir haben gewisse ... Nachforschungen angestellt. Nicht nur, was dieses angebliche UFO-Metall angeht. Natürlich konnten wir in der Kürze der Zeit nicht alles überprüfen, aber einige Punkte schon. Die Ergebnisse, zu denen wir gekommen sind, sind ... beunruhigend.«

»Es ist ungeheuerlich«, sagte ich.

»So kann man es auch ausdrücken, ja«, pflichtete mir Kennedy bei. »Um so wichtiger ist es, dass wir jetzt richtig reagieren. Mein Bruder hat mich gebeten, mich selbst um die Angelegenheit zu kümmern, weil er einfach nicht mehr weiß, wem er noch vertrauen kann, und wem nicht. Ehrlich gesagt, geht es mir nicht viel anders. Noch vor einer Woche hätte ich einem Mann wie Frank Bach mein Leben anvertraut. Johnson, Rockefeller, General Brown ... wie viele mögen es noch sein?«

»Ich habe nur die wichtigsten Namen aufgeschrieben, Sir«, antwortete ich. »Ich kann die Liste aus dem Gedächtnis komplettieren. Natürlich kenne ich nicht alle Mitarbeiter von Majestic. Ich bin nur ein kleines Rädchen. Sie hatten mich nur als Köder vorgesehen. Ich glaube nicht, dass sie mir alles erzählt haben.«

»Aber vielleicht werden sie das noch«, sagte Kennedy.

Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, was er meinte. »Sir?«

»Ich weiß, dass Sie raus wollen, John«, fuhr Kennedy fort. »Und ich kann das verstehen - vor allem nach dem, was Ihnen und Ihrer Verlobten zugestoßen ist.«

Ich starrte ihn an. Von dem Zwischenfall mit Kimberley hatte in meinem Bericht kein Wort gestanden.

»Aber es geht nicht«, fuhr Kennedy fort. »Noch nicht. Das begreifen Sie doch, oder?«

»Ehrlich gesagt, nein«, antwortete ich zögernd - obwohl ich natürlich sehr genau verstand, was er meinte.

»Hier ist weder der richtige Ort, noch haben wir die Zeit, alle Details zu besprechen. Wir werden das in kürzester Zeit nachholen, das verspreche ich Ihnen. Mein Bruder wird selbst mit Ihnen reden - zusammen mit einigen anderen Leuten, die wir ins Vertrauen ziehen werden. Noch haben wir es nicht getan. Wie gesagt: Wir wissen selbst nicht, wem wir noch trauen können, und wem nicht. Bisher wissen nur John, ich selbst und ein einziger Eingeweihter von der Geschichte, und ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir uns die, die wir noch einweihen werden, sehr, sehr gründlich ansehen. Aber wir brauchen noch ein wenig Zeit. Und wir brauchen Sie, John, und zwar genau dort, wo Sie jetzt sind. Bach vertraut Ihnen.«

Ich starrte ihn an, und obwohl ich mir Mühe gab, mir meine wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen, mussten sie sich wohl recht deutlich auf meinem Gesicht abzeichnen, denn nach ein paar Sekunden seufzte Kennedy tief und fügte in verändertem Tonfall hinzu: »Ich weiß, was ich Ihnen da zumute, John. Aber Sie sind unglaublich wichtig für uns. Wichtiger, als Sie vielleicht selbst ahnen.«

»Wissen Sie das wirklich?« fragte ich bitter. Großer Gott, ich hatte Bach verraten, weil ich aus dieser Geschichte heraus wollte, nicht, um die Fronten zu wechseln und das gleiche, üble Spiel unter einer anderen Fahne weiterzuspielen!

»O ja«, antwortete Kennedy. »Auch ich musste schon Dinge tun, die ich nicht wollte. Dinge, für die ich mich selbst gehasst habe. Ich bin ganz ehrlich zu Ihnen, John: Wir könnten Sie zwingen, weiterzumachen. Sie wissen das. Aber wir werden es nicht tun. Wenn Sie wirklich darauf bestehen, dann werden sich noch heute zwei FBI-Agenten bei Ihnen melden, die Kimberley und Sie wegbringen und Ihnen eine neue Identität verschaffen. Ich weiß nicht, ob das reicht, um Sie vor Bach zu schützen, aber was wir tun können, das werden wir tun.«

Er legte eine Kunstpause ein.

»Aber ich bitte Sie, weiterzumachen, John. Wenn das, was Sie uns erzählt haben, wirklich wahr ist, dann sollten wir verdammt gut vorbereitet sein, bevor wir gegen Bach und die anderen losschlagen. Von der Bedrohung durch die Grauen und die Ganglions gar nicht zu reden.«

Das Schlimme war, dass er Recht hatte. Es war ziemlich naiv gewesen, im Ernst anzunehmen, dass es ausreichte, diesen Brief an den Präsidenten zu schreiben, um damit ein für alle Mal aus der Geschichte raus zu sein.

Vielleicht würde das niemals passieren.

»Kann ich ... darüber nachdenken?« fragte ich zögernd.

Ich konnte Kennedys Kopfschütteln nicht sehen, aber hören. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Wie ich schon sagte: Unsere Zeit ist sehr knapp. Wir müssen schnell handeln, ob mit oder ohne Sie. Aber es wäre mir lieber, mit Ihnen.«

»Dann bleibt mir wohl keine andere Wahl«, antwortete ich niedergeschlagen.

»Ich hatte gehofft, dass Sie so antworten«, sagte Kennedy. Die Erleichterung in seiner Stimme klang echt.

»Und was ... geschieht jetzt?« fragte ich.

Kennedy deutete lachend auf das Vertragsformular vor mir auf dem Schreibtisch. »Zuallererst werden Sie diesen Vertrag nehmen und damit äußerst empört aus dem Geschäft stürmen. Und dann warten Sie auf einen Anruf. Er wird heute noch kommen. Sie erfahren dann alles weitere.«

Ich stand auf, klaubte das Blatt vom Tisch hoch und wartete darauf, dass er noch etwas sagte, aber er schwieg. Nach zwei oder drei Sekunden drehte ich mich herum und ging zur Tür. Als ich sie öffnete, rief mich Kennedy noch einmal zurück. »John.«

»Sir?«

»Sie und Kimberley können aufhören, Versteck zu spielen«, sagte er. »Bach lässt Ihre Wohnung nicht abhören.«

Diesmal verspürte ich eine ehrliche, tiefe Erleichterung. Aber nur für eine Sekunde. Dann fragte ich: »Woher wissen Sie, dass wir Versteck gespielt haben?«

Kennedy lachte leise. »Weil wir in den vergangenen zehn Tagen Ihre Wohnung abgehört haben, John. Und Ihr Telefon auch.«


Ich kam an diesem Abend später nach Hause als gewohnt. Bach rief eine Stunde vor Feierabend im Büro an und zitierte mich ins Hauptquartier von Majestic; wie sich herausstellte wegen einer Lappalie, die wir ebenso gut am nächsten Morgen oder auch in einer Woche hätten klären können. Aber ich starb tausend Tode, bevor ich Majestic wieder verließ. Ich war nervös, ich verhaspelte mich andauernd, plapperte sinnloses Zeug und stellte mich so ungeschickt an, dass die zwei Stunden, die ich in Bachs Nähe verbrachte, ungewollt zugleich zu einer Art Feuerprobe wurden: Hätte Bach auch nur die Spur eines Verdachts gehabt, dann hätte ich ihm mit meinem Benehmen an diesem Abend den unumstößlichen Beweis geliefert, dass er gerechtfertigt war.

Es wurde nicht besser, als ich endlich nach Hause fuhr. Ich hätte erleichtert sein müssen, und im Grunde hatte ich das erste Mal seit Wochen einen wirklichen Anlass, ganz beruhigt zu sein, aber das genaue Gegenteil war der Fall.

Allein die Tatsache, dass ich in der Lage war, den Wagen durch den abendlichen Berufsverkehr Washingtons zu steuern, bewies ja, dass Bach nichts gemerkt hatte; trotzdem sah ich öfter in den Rückspiegel als auf die Straße, und dass ich schließlich unbeschadet ankam, das war wohl mehr dem fahrerischen Können und der Reaktionsschnelligkeit der anderen Verkehrsteilnehmer zuzuschreiben.

Und ich vermutete, dass es Kim nicht anders erging. Wahrscheinlich schlimmer. Ich hatte versucht, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, dass ich später nach Hause kam, aber keine Gelegenheit dazu gefunden. Ich war seit mehr als zwei Stunden überfällig. Kimberley musste Höllenqualen ausstehen.

Immerhin hatte sie sich gut genug in der Gewalt, um nicht am Fenster zu stehen und ungeduldig auf die Straße hinab zu blicken. Und sie kam mir auch nicht an der Wohnungstür entgegen, als ich das Apartment betrat, obwohl ich ganz sicher war, dass sie seit Stunden nichts anderes getan hatte, als mit angehaltenem Atem auf meine Schritte zu lauschen. Ja, ihre Stimme klang sogar beinahe noch normal, als sie sich mit einer Frage an mich wandte:

»Hast du ihn gekauft?«

In der allerersten Sekunde verstand ich nicht einmal wirklich, wovon sie sprach, dann aber schüttelte ich den Kopf und sagte: »Es war nicht meine Preisklasse. Und der Verkäufer hat mich doch ziemlich überrascht.«

»Wieso?« Auf Kimberleys Gesicht malte sich ein unausgesprochener Schrecken ab, und ihre Augen wurden ein wenig weiter.

»Mr. Robert«, sagte ich erklärend, während ich aus dem Mantel schlüpfte und ihn achtlos über eine Stuhllehne warf. »Sein voller Name lautet: Robert Kennedy, weißt du?«

Kimberley starrte mich fassungslos an, vor allem, als ich fortfuhr:

»Der Präsident hat deine Nachricht erhalten. Sie haben bis jetzt gebraucht, um unsere Geschichte zu überprüfen, aber offensichtlich glauben sie uns.« Ich weidete mich noch zwei, drei Sekunden an der Mischung aus fassungsloser Verblüffung und noch tieferem Schrecken, die sich allmählich auf Kimberleys Zügen auszubreiten begann, dann sagte ich: »Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Unsere Wohnung wird nicht abgehört.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber ich hatte mich entschieden, Kimberley nichts davon zu sagen, dass jedes Wort, das wir in den vergangenen zwei Wochen gesprochen hatten, belauscht worden war. Natürlich konnte ich diese Vorsichtsmaßnahme verstehen; ich selbst hätte vermutlich nicht anders gehandelt, trotzdem: Bei aller Vernunft war ein Rest von Empörung geblieben, und sei es nur, weil Kennedys Bemerkung mir klargemacht hatte, wie schmal der Grat war, auf dem wir uns bewegten. Der Unterschied zwischen Gut und Böse war vielleicht nicht so groß, wie ich bisher immer angenommen hatte. Zumindest bedienten sich beide Seiten der gleichen Mittel.

Es vergingen einige weitere Sekunden, dann endlich begann sich so etwas wie Erleichterung auf Kims Zügen breit zu machen. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie aufstehen, führte sie aber nicht zu Ende, sondern sank fast kraftlos zurück, seufzte tief und schien für einen kleinen Moment fast mit den Tränen zu kämpfen. Ich ging rasch zu ihr hin, schloss sie in die Arme und drückte sie an mich, und wir standen eine ganze Weile einfach so da. Ich weiß nicht, wie es Kimberley erging, doch das Gefühl der Erleichterung, auf das ich den ganzen Tag über vergebens gewartet hatte, wollte sich auch jetzt nicht einstellen. Da war eine unsichtbare Zentnerlast, die von mir genommen worden war, doch ich hatte das Gefühl, als ob sie vielleicht nur gegen etwas anderes, nicht weniger Schweres, eingetauscht worden wäre.

Während wir einfach so dastanden, uns festhielten und jeder nichts mehr als schützende Nähe und Berührung des anderen suchte, fragte ich mich, wie sie reagieren würde, wenn ich ihr jetzt von meinem Gespräch mit Kennedy berichtete. Ich verspürte immer noch einen letzten Rest von Enttäuschung. Ganz gleich, wie sehr ich mir auch selbst sagte, dass es naiv gewesen war anzunehmen, wir könnten einfach so aus dieser Geschichte wieder aussteigen, so hatte sich dieser Gedanke in den letzten Wochen doch so in mir festgesetzt, dass ich ihm noch immer nachtrauerte.

Das Telefon klingelte. Kimberley löste sich aus meinen Armen und hob ab, wechselte aber nur ein paar Worte und hängte dann wieder ein. Ich blickte sie fragend an.

»Jeanette«, sagte sie. »Eine der Frauen aus dem Büro.« Sie lächelte nervös. »Nichts Wichtiges ... Hast du einen Anruf erwartet?«

»Sieht man mir das so deutlich an?«

»Man vielleicht nicht«, antwortete Kim. »Aber ich.«

»Kennedy sagte, dass wir einen Anruf bekommen werden«, erwiderte ich. »Heute noch.«

Kim sah auf die Uhr. »Heute ist fast vorbei. Und jetzt erzähl mir: Was war los? Wie hat der Präsident reagiert?«

Ich setzte mich, fand wenigstens teilweise zu meiner gewohnten Ruhe zurück und begann, ihr von meinem morgendlichen Treffen mit dem Bruder des Präsidenten zu berichten. Kimberley hörte schweigend zu. Sie unterbrach mich kein einziges Mal, aber ihre Gedanken spiegelten sich deutlich auf ihrem Gesicht. Auch sie wirkte erleichtert und auf die gleiche Weise enttäuscht und frustriert wie ich. Sie verlor auch hinterher kein einziges Wort darüber, doch mir war klar, dass sie, gegen jede Logik, genau wie ich tief in sich gehofft hatte, dass es irgendwie vorbei sein würde.

»Bist du enttäuscht, dass ich sein Angebot nicht angenommen habe?« fragte ich, als ich zu Ende gekommen war.

»Sein Angebot?«

»Uns in Sicherheit zu bringen. Du weißt, dass das FBI dieses ... Zeugenschutzprogramm hat ...«

»... das noch nie richtig funktioniert hat«, unterbrach mich Kimberley mit einem Kopfschütteln. »Außerdem will ich nicht den Rest meines Lebens auf der Flucht verbringen.« Sie lächelte, nicht ganz überzeugend, aber ich spürte den guten Willen dahinter, griff über den Tisch nach meiner Hand und fügte etwas leiser hinzu: »Wir stehen das durch. Immerhin haben wir den mächtigsten Mann der Welt auf unserer Seite. Was soll uns da schon passieren?«

Ich schwieg. Ihre Worte klangen zu überzeugend, und der Wunsch darin zu verzweifelt, als dass ich es fertig brachte, ihr zu widersprechen, aber ich war nicht mehr sicher, ob John F. Kennedy wirklich der mächtigste Mann der Welt war. Vielleicht war auch er letzten Endes nur eine Marionette, die nicht einmal spürte, dass sie an Fäden hing, an denen andere zogen.

Ich wollte etwas sagen, aber Kimberley brachte mich mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen, stand auf und ging in die Küche. Ich hörte sie eine Weile mit Gläsern hantieren, dann kam sie zurück und reichte mir eine Flasche Sekt.

»Haben wir einen Grund zum Feiern?« fragte ich, während ich bereits begann, den Korken zu öffnen.

»Und ob«, antwortete Kimberley aufgeräumt - eine Spur zu fröhlich, wie ich meinte. »Ich weiß nicht, wie lange ich es noch durchgehalten hätte, mir jedes Wort überlegen zu müssen, das ich ausspreche. Die letzten beiden Wochen waren ...«

Sie sprach nicht weiter, aber ich wusste, was sie meinte. Ich musste es ihr sagen. Vermutlich lief auch jetzt irgendwo, nicht weit entfernt von hier, ein Tonbandgerät, auf dem jedes einzelne Wort, das wir sprachen, jeder Laut, den wir verursachten, aufgezeichnet wurde. Und erst in diesem Moment wurde mir wirklich klar, wie klein der Unterschied war. Es spielte gar keine Rolle, ob diejenigen, die uns belauschten, uns wohlgesonnen waren oder unsere Feinde. Es waren Fremde, die in unser intimstes Privatleben eindrangen, das allein zählte. Ich setzte dazu an, ihr endlich die ganze Wahrheit zu sagen - aber dann sah ich in ihr Gesicht, und was ich darin erblickte, das ließ mich alles andere schlagartig vergessen.

Kimberley hatte die beiden Gläser auf den Tisch gestellt und die Hand ausgestreckt, um sich einen Stuhl heranzuziehen, aber sie war plötzlich und mitten in der Bewegung wie erstarrt. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck abgrundtiefen Schreckens und ihre Augen waren weit und fast schwarz vor Furcht. Sie atmete nicht.

Ich sprang auf und stellte die Sektflasche auf den Tisch. Der Korken flog mit einem Knall heraus, gefolgt von einem sprudelnden Sekt-Geysir, aber ich bemerkte es nicht einmal. »Kim! Was ist los mit dir?«

Kimberley begann zu zittern. Sie stand immer noch in der gleichen, fast grotesken, erstarrten Haltung da, aber ihre Hände und Knie zitterten immer stärker, ihre Lippen bebten, und der Ausdruck von Angst in ihren Augen wurde zu etwas anderem, Schlimmerem.


»Pratt«, flüsterte sie. »Es ist ... Pratt.«

»Was?« fragte ich verwirrt.

»Er ist ... hier.«

Ich trat auf sie zu, streckte die Hände aus, um sie in die Arme zu schließen, aber ich führte die Bewegung nicht zu Ende. »Pratt ist tot, Kim«, sagte ich. »Er kann nicht hier sein.«

»Ich spüre ihn«, flüsterte sie. »Er ...«

Jemand klopfte gegen die Tür. Ein lautes, herrisches Geräusch, dem nach einer Sekunde ein zweites, fordernderes Klopfen folgte. Kimberley taumelte einen halben Schritt zurück, unterdrückte im letzten Moment einen Schrei und schlug die Hand vor den Mund, und auch ich spürte, wie mich ein eisiger Schrecken durchfuhr. Hastig fuhr ich auf dem Absatz herum und starrte die Tür an.

»Mach nicht auf«, flüsterte Kimberley. »Er ist es.«

»Unsinn«, antwortete ich. Natürlich war es Unsinn. Mein Verstand und meine Logik sagten mir, dass es nicht Pratt sein konnte - und doch: Für einen Moment war auch ich felsenfest davon überzeugt, dass etwas Schreckliches passieren würde, wenn ich die Tür öffnete. Dann verscheuchte ich den Gedanken, wandte mich noch einmal zu Kim um, machte eine beruhigende Geste und ging langsam zur Tür.

Mein Herz klopfte, als ich den Knauf herumdrehte und sie öffnete. Aber draußen stand nicht der Geist des verstorbenen Congressmans, sondern niemand anderes als Steel. Er hatte gerade die Hand gehoben, um zum dritten Mal zu klopfen, als ich die Tür öffnete. Und ich las in seinen Augen, dass er sich nur noch mit aller Mühe beherrschte, um nicht so zu tun, als hätte er zu spät reagiert und mir kräftig mit der Faust auf die Nase zu schlagen.

»Na, das wurde ja auch Zeit«, sagte er. Ein hämisches Grinsen breitete sich auf seinen Zügen aus. »Komme ich gerade unpassend?«

»Du kommst immer unpassend«, antwortete ich. »Was ist los?«

»Ich soll euch abholen.« Steel versuchte, an mir vorbei einen Blick in die Wohnung zu werfen, aber ich trat rasch ein kleines Stück zur Seite. Es war nicht nötig, dass er Kimberley in ihrem momentanen Zustand sah.

»Uns?«

Steel zuckte mit den Achseln und trat einen halben Schritt zurück. »Dich und deine Kleine«, bestätigte er. »Bach will euch sehen.«

»Wieso?« fragte ich misstrauisch. »Ich war doch gerade erst bei ihm.«

Steel hob abermals die Schultern. »Frag mich nicht«, erwiderte er. »Ich soll euch abholen.« Nach einer winzigen Pause und in leicht verändertem Ton fügte er noch hinzu: »Und er hat noch gesagt, dass ich keine Ausrede gelten lassen soll. Er will euch beide sehen. Sofort.«

Meine Gedanken begannen zu rasen. Hatte ich mich zu sicher gefühlt? Was, wenn Bach doch alles wusste? »Es ist ... im Moment nicht so passend«, sagte ich zögernd. »Warum wartest du nicht einen Moment hier draußen und ich rufe ihn an und ...«

»Er hat gesagt, ich soll euch zu ihm bringen«, unterbrach mich Steel kopfschüttelnd. »Keine Anrufe. Das Telefon ist nicht sicher.« Er grinste. »Du weißt ja: Man weiß nie, wer so alles mithört.«

Ich spürte selbst, dass ich mich nicht mehr ganz in der Gewalt hatte. Ich fuhr sichtbar zusammen und vermutlich entgleisten auch meine Züge für einen Moment, denn Steels Grinsen wurde noch breiter und war jetzt eindeutig schadenfroh.

»Ich kann ihm natürlich sagen, dass du dich geweigert hast, mitzukommen«, sagte er feixend. »Allerdings möchte ich dann nicht in deiner Haut stecken. Ich weiß ja nicht, was los ist, aber er hat nicht unbedingt die beste Laune.«

Ich starrte ihn noch eine Sekunde lang an, dann trat ich wieder ganz in die Wohnung zurück, machte aber eine abwehrende Bewegung, als Steel mir folgen wollte. »Also gut«, sagte ich. »Wir brauchen zehn Minuten.«

»Bach wird ...«

»So viel Zeit wird er schon haben«, fuhr ich mit leicht erhobener Stimme fort. »Warte unten im Wagen. Wir sind gleich da.« Ich schloss die Tür, noch bevor er Gelegenheit fand, erneut zu widersprechen, legte - ganz instinktiv und eigentlich, ohne selbst genau zu wissen, warum - die Kette vor und wandte mich wieder an Kimberley. Sie hatte natürlich gesehen, wer an der Tür stand und auch jedes Wort gehört, trotzdem sagte ich: »Es war nur Steel.«

Kim hatte sich mittlerweile einigermaßen beruhigt. Sie zitterte nicht mehr wie Espenlaub, aber sie war immer noch kreidebleich und in ihren Augen stand immer noch dieses Entsetzen geschrieben, das ich nicht verstand, das aber auch mich zutiefst erschreckte.

»Steel?« murmelte sie.

Ich ging zu ihr, legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm und fühlte selbst durch den Stoff der Bluse hindurch, wie ihr Puls immer noch raste. Das war keine eingebildete Furcht, kein Schrecken, der aus einem Missverständnis oder einem Irrtum entstanden war. Sie hatte Todesangst!

»Was ist los mit dir?« fragte ich beunruhigt.

Kim sah mich an, aber ihr Blick schien geradewegs durch mich hindurch zu gehen, war auf einen Punkt im Nichts oder in der Vergangenheit gerichtet, an dem er etwas durch und durch Grauenerweckendes sah. »Ich erinnere mich jetzt«, sagte sie.

»Woran?«

»Es war in der Nacht, in der wir uns gestritten hatten«, antwortete sie. »An dem Abend, als Walt starb. Du warst weggegangen und ich dachte, es wäre eine andere Frau oder vielleicht ... irgendetwas anderes.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Und es war mein Fehler. Ich hätte dir viel früher sagen müssen, was ...«

Sie hörte mir gar nicht zu, sondern fuhr, immer noch leise, fast flüsternd, aber mit bebender Stimme und ins Leere gerichtetem Blick fort: »Ich war so unglücklich. Ich dachte, es wäre meine Schuld. Und so zornig. Auf dich, auf mich und auf die ganze Welt. Und dann sind sie gekommen.«

»Sie? Wen meinst du mit sie?«

»Diese ... Wesen«, flüsterte Kim.

Es dauerte eine Sekunde, bis ich überhaupt begriff. Auch das war etwas, das ich hätte wissen müssen - nein, was ich tief in mir gewusst hatte - aber einfach verdrängt hatte.

»Die Grauen?«

»Sie waren furchtbar«, antwortete Kim. »Da war plötzlich dieses Licht. Das Fenster flog auf. Ich dachte, es wäre die Katze vom Nachbarn und wollte es schließen, aber dann ... dann war da plötzlich dieses Licht. Es war unvorstellbar hell. Es tat weh. Plötzlich waren sie da. Zwei ... Kreaturen.«

»Sie waren hier?« fragte ich ungläubig. »Hier in unserer Wohnung?«

»Sie traten aus dem Licht heraus«, flüsterte Kim. »Ihre Augen ... Sie hatten furchtbare Augen. Schwarz und so voller Bosheit, so viel Hass. Sie haben ... irgendetwas mit mir getan. Da war eine Flüssigkeit, ein grauer Schleim. Ich wollte weglaufen, aber ich konnte mich nicht rühren, und er hüllte mich völlig ein. Es tat weh. Und dann war ich ... an einem anderen Ort.«

»Ein anderer Ort? Was für ein anderer Ort?«

»Ich erinnere mich nicht«, sagte Kim. »Aber er war groß und dunkel. Da waren viele von ihnen. Diese Wesen und ... andere Geschöpfe. Sie taten etwas mit mir.«

»Was?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber es tat weh und ich hatte so furchtbare Angst. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht einmal schreien.«

Ich schloss sie in die Arme, drückte sie fest an mich. Sie zitterte wieder am ganzen Leib. Ihr Atem ging schnell und ihr Herz hämmerte so laut, als wollte es zerspringen. »O Liebling, es tut mir so leid«, flüsterte ich. »Du musst in ihrem Schiff gewesen sein. Warum war ich nicht hier, um dir zu helfen?«

»Ich habe es vergessen«, murmelte Kimberley. »Es ... es war so furchtbar, aber ich, ich habe es einfach vergessen. Bis jetzt.«

Ich löste mich langsam von ihr, schob sie ein ganz kleines Stück von mir fort und sah zur Tür. Da war plötzlich ein Gedanke hinter meiner Stirn, der so grotesk schien, dass ich ihn im ersten Moment einfach von mir schob.

»Als Pratt dann kam«, fuhr Kim nach vielen, vielen Sekunden voller lastender Stille fort, »da war es genauso. Ich ... ich konnte das Ding spüren, das in ihm war. Ich konnte fühlen, dass sie es waren.«

Ich war nicht einmal überrascht. Auch ich hatte - obwohl ich nur die toten Grauen gesehen hatte - dasselbe, unheimliche Empfinden gehabt, wenn auch vermutlich nicht annähernd so stark wie sie. Die Fremdartigkeit dieser Geschöpfe war so total, dass vielleicht schon ihre bloße Nähe einem Menschen Unbehagen bereitete. »Und jetzt gerade ...«, murmelte ich.

»... war es genauso«, sagte Kimberley. Sie sah mich an. Die Furcht in ihren Augen erlosch nicht, aber sie änderte sich. Es war jetzt nicht mehr dieses absolute Grauen, dass ich gerade darin gelesen hatte, sondern ganz normale, wenn auch sehr tief empfundene Angst. »Er gehört zu ihnen, John«, sagte sie.

»Steel?«

»Ich weiß es«, beharrte Kimberley. »Er gehört zu ihnen. Ich kann es spüren, genau wie bei Pratt.«

Tief in mir spürte ich, dass sie Recht hatte. Trotzdem weigerte ich mich für einen Moment immer noch, ihr zu glauben. Nicht, weil ich es nicht konnte, sondern weil ich es einfach nicht wollte.

»Wir dürfen nicht mit ihm gehen«, sagte Kim. »Er ... wird uns nicht zu Bach bringen. Er ...«

Ich brachte sie mit einer beruhigenden Geste zum Schweigen, versuchte - vermutlich vergebens - so etwas wie Ruhe und Selbstbewusstsein auf mein Gesicht zu zwingen und deutete zum Telefon. »Ich rufe Bach an«, sagte ich. »Es dauert zwei Minuten und ich weiß, ob er Steel geschickt hat oder nicht.«

Kimberley widersprach nicht. Meine Idee begeisterte sie nicht, das sah ich ihr an, aber sie sagte nichts, sondern sah mir nur schweigend zu, während ich mit raschen Schritten zum Telefon ging und Bachs Nummer wählte. Er hob so schnell ab, als hätte er mit dem Finger auf der Gabel auf meinen Anruf gewartet.

»Ja?«

»Loengard«, meldete ich mich. »Captain Bach, was ...«

»Ich sagte kein Telefon«, unterbrach mich Bach scharf. Es musste wohl so sein, wie Steel behauptet hatte: Seine Stimme klang, als wäre er übelster Laune. »Hat Steel Ihnen das nicht gesagt?«

»Doch«, erwiderte ich. »Aber er hat nicht gesagt, warum wir zu Ihnen kommen sollen. Es ist mitten in der Nacht.«

»Das weiß ich selber«, erwiderte Bach unfreundlich. »Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen. Mit Ihnen beiden. Es ist wichtig. Aber nicht am Telefon.«

»Also gut«, seufzte ich. »Wir kommen.« Ich hängte ein und wandte mich wieder zu Kim um. »Bach hat ihn geschickt«, sagte ich. »Du brauchst dich nicht aufzuregen.«

Meine Worte beruhigten sie nicht. Ganz im Gegenteil. Sie wirkte noch nervöser als zuvor. Bevor ich weiterreden konnte, klopfte es erneut an der Tür. Ich gestikulierte ihr hastig zu, still zu sein, ging hin und rief durch das Holz hindurch und ohne die Tür zu öffnen: »Ja, verdammt. Ich sagte: zehn Minuten.«

»Ich an deiner Stelle würde mich beeilen, Jonny-Boy«, antwortete Steel hämisch. »Der Captain hat gesagt, dass ich euch nötigenfalls auch mit Gewalt mitbringen soll. Gibst du mir einen Grund, es zu tun?«

Wütend zog ich die Kette zurück, riss die Tür auf und trat herausfordernd einen Schritt auf Steel zu. Er rührte sich nicht. Grinsend und mit in die Hüften gestemmten Händen stand er da und sah mir entgegen, und ich las in seinen Augen, dass er tatsächlich nur auf eine Gelegenheit wartete, auf mich loszugehen.

»Also gut«, sagte ich. »Wir kommen mit. Aber ich warne dich: Wenn es nicht wirklich so ist, wie du gesagt hast, möchte ich nicht in deiner Haut stecken.«

Steels Antwort bestand nur in einem noch breiteren, hämischen Grinsen. Als ich die Tür diesmal wieder schließen wollte, machte er einen schnellen Schritt und stellte den Fuß dazwischen. Ich starrte ihn noch eine Sekunde lang wütend an, aber ich gab ihm nicht die Genugtuung, wirklich die Beherrschung zu verlieren, sondern drehte mich nur mit einem Ruck um und ging zu dem Stuhl, über den ich vor kaum einer Viertelstunde meinen Mantel geworfen hatte.

Auch Kimberley hatte sich gerade ihre Jacke geholt, doch als sie zur Tür gehen wollte, klingelte das Telefon erneut. Sie hob ab, meldete sich und lauschte einige Sekunden wortlos. Ich stellte mich so hin, dass Steel ihr Gesicht nicht sehen konnte, beobachtete sie aber sehr aufmerksam. Ich sah, dass sie erschrocken zusammenfuhr und sich auf die Lippen biss, doch sie sagte immer noch nichts, sondern nickte nach einigen Sekunden und sagte schließlich: »Ja. Ich habe verstanden. Übermorgen dann.«

Sie hängte grußlos ein, drehte sich zu mir herum und ließ ihre Handtasche fallen, als sie genau neben mir war. Wir bückten uns beide gleichzeitig danach, so hastig, dass wir fast mit den Köpfen zusammengestoßen wären, und während wir für eine halbe Sekunde ganz dicht beieinander waren, flüsterte sie:

»Das war Mr. Robert. Wir müssen verschwinden. Bach weiß alles.«

Ich konnte spüren, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Kimberley stand mit einer fließenden Bewegung wieder auf, aber ich blieb noch einen kurzen Moment erstarrt und reglos hocken, ehe ich mich ungeschickt ebenfalls aufrichtete und sehr viel langsamer zu Steel herumdrehte, als notwendig gewesen wäre.

Er betrachtete Kimberley und mich weiter mit hämischem Blick und aus Augen, in denen eine boshafte Vorfreude loderte. Diesmal war ich sicher, mich nicht zu täuschen.

Vielleicht hatte ich mich nie in ihm getäuscht. Vielleicht war das Unbehagen, das ich in seiner Nähe spürte, gar nicht darin begründet, dass ich Steel einfach nicht leiden konnte. Vielleicht hatte es einen ganz anderen, viel schlimmeren Grund.

Meine Gedanken rasten, während wir die Wohnung verließen und Kimberley sorgsam hinter sich abschloss. Wir mussten weg. Ich musste handeln. Jetzt, sofort, hier! Steel war garantiert nicht allein gekommen. Ich war lange genug bei Majestic um zu wissen, wie Bachs Agenten vorgingen. Unten vor dem Haus würde ein Wagen mit mindestens zwei weiteren Männern warten, und mit großer Wahrscheinlichkeit stand ein weiterer Trupp vor der Hintertür, falls wir auf diesem Wege zu entkommen versuchten.

Aber ich wusste auch, dass ich es nicht allein mit Steel aufnehmen konnte. Er war nicht nur ohnehin stärker und brutaler als ich, er war noch dazu von einem Ganglion besessen, und ich hatte bereits zweimal am eigenen Leibe gespürt, welch übermenschliche Kräfte die Wirte dieser außerirdischen Parasiten zu entfesseln in der Lage waren. Und ich war nicht einmal bewaffnet.

»Hast du die Wagenschlüssel?« fragte ich, während ich neben Kim und vor Steel die Treppe hinunterging. Kimberley nickte, und Steel sagte:

»Die braucht ihr nicht. Ihr fahrt mit uns.«

Ich blieb stehen und sah zu ihm hoch. »Uns?«

Wenn Steel seinen Versprecher bedauerte, dann verbarg er es gut. Er zuckte nur mit den Schultern, deutete nach unten und machte eine einladende Geste, weiterzugehen, und ich griff nach seiner ausgestreckten Hand, riss mit aller Kraft daran und warf ihn die Treppe hinunter.

Steels übermenschliche Kraft nutzte ihm nichts. Er reagierte blitzschnell und riss sich los, aber seine wedelnden Arme griffen ins Leere. Er schlug einen grotesken halben Salto, prallte mit furchtbarer Wucht auf die Stufen und schlitterte hilflos und ohne auch nur den mindesten Laut von sich zu geben, bis zum nächsten Treppenabsatz hinab. Sofort setzte ich ihm nach. Steel reagierte so, wie ich es befürchtet hatte: Er zeigte keine Spur von Schmerz oder Benommenheit, sondern stemmte sich sofort wieder in die Höhe, aber ich war bereits bei ihm. Als Steel noch im Aufstehen die Arme in die Höhe riss, um den erwarteten Schlag abzufangen, trat ich ihm mit aller Macht gegen die Brust. Er wurde in die Höhe katapultiert, prallte gegen die Wand und war für einen kurzen Moment nun doch benommen; vielleicht auch nur überrascht. Ich gab ihm keine Gelegenheit, seine Überraschung zu überwinden, sondern setzte ihm abermals nach, boxte ihm zwei-, dreimal mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, in den Magen und riss das Knie hoch, als er sich krümmte.

Meine Kniescheibe traf ihn genau unter das Kinn und das war selbst für ihn zu viel. Steel verdrehte die Augen, ließ ein sonderbares, seufzendes Geräusch hören und kippte bewusstlos zur Seite.

Kimberley wollte weiterlaufen, aber ich schüttelte den Kopf. »Warte. Hilf mir.«

Mit vereinten Kräften drehten wir Steel auf den Rücken. Ich griff unter seine Jacke, nahm seine Waffe an mich und gab Kim dann mit Gesten zu verstehen, mir dabei zu helfen, ihm den Mantel auszuziehen.

»Was hast du vor?« fragte sie verwirrt.

»Unten vor der Tür warten garantiert noch mehr Männer«, sagte ich. »Wir brauchen eine Tarnung.«

Kimberley half mir, aber sie sah mich mit wachsender Verwirrung an, während ich Steel den Mantel auszog, mich aufrichtete und in ihr auffordernd hinhielt. »Das ist nicht dein ernst«, sagte sie.

»Ich weiß, es ist lächerlich, aber es kann funktionieren«, antwortete ich ungeduldig. »Setz seinen Hut auf. Und geh genau hinter mir. Der Wagen steht direkt vor der Tür. Wenn sie für zwei oder drei Sekunden darauf hereinfallen, haben wir eine Chance.«

Kimberley sah mich auf eine Art an, als zweifle sie an meinem Verstand, schlüpfte aber trotzdem gehorsam in den Mantel und bückte sich nach dem schwarzen Hut, den Steel getragen hatte. Mit einiger Mühe gelang es ihr, ihr blondes Haar darunter zu verbergen. Ich nahm ihre Handtasche an mich, stopfte sie unter meine Jacke und reichte ihr Steels Pistole. Kimberley riss die Augen auf.

»Was soll ich damit?«

»Sie mir in den Rücken drücken«, antwortete ich. »Unauffällig, aber so, dass sie es sehen können.«

»Das ist Wahnsinn«, murmelte Kim.

»Ich weiß«, antwortete ich. »Wir müssen schnell sein. Sobald ich zu rennen beginne, läufst du zum Wagen. Wenn mir etwas passiert, verschwindest du.« Ich hob die Stimme, als sie antworten wollte. »Keine Widerrede! Es nutzt weder dir noch mir, wenn sie uns beide kriegen.« Ich deutete auf Steel. »Komm jetzt, bevor er wach wird.«

Wir gingen weiter, blieben aber vor der Haustür noch einmal stehen. Ich versuchte, einen Blick durch das Glas auf die Straße hinaus zu werfen, aber die eingeschaltete Treppenhausbeleuchtung und die Dunkelheit draußen verwandelten es in einen Spiegel, auf dem ich nur unsere eigenen, verzerrten Schatten sah. Immerhin glaubte ich, einen Schemen wahrzunehmen, der sich auf der anderen Straßenseite bewegte. »Bist du so weit?« fragte ich. Ich konnte hören, wie sie den Kopf schüttelte.

»Nein, aber wir müssen es wohl trotzdem tun.«

Die Angst war fast völlig aus ihrer Stimme verschwunden. Sie klang angespannt, aber nicht einmal sehr nervös und wieder spürte ich für einen winzigen Moment so etwas wie Bewunderung für ihre Kaltblütigkeit. Ich selbst starb innerlich fast vor Angst. Unser Plan war kein Plan, sondern einfach grotesk. Trotz der Dunkelheit draußen würde Kims Verkleidung allerhöchstens zwei oder drei Sekunden vorhalten. Aber diese Zeit musste eben reichen!

Ich öffnete die Tür, trat langsamer als notwendig hinaus und sah mich rasch nach beiden Seiten um. Vielleicht hatten wir doch Glück. Der Wagen war da, wie ich erwartet hatte, aber er parkte nicht unmittelbar vor dem Haus, sondern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Gesichter der beiden Männer darin waren als helle Flecken in unsere Richtung gewandt, aber sie würden Zeit brauchen, um uns zu erkennen. Zeit, um zu reagieren und vor allem Zeit, um auszusteigen. Vielleicht nur einige Sekunden, doch unser eigener Chevy stand kaum zehn Meter entfernt, und ich hatte den Wagenschlüssel bereits in der Hand. Etwas Hartes berührte mich im Rücken und versetzte mir einen sachten Stoß, der mich einen halben Schritt weit aus der Tür stolpern ließ; Steels Pistole, die Kim mir zwischen die Schulterblätter drückte.

Ich machte eine Bewegung, die die Männer drüben im Wagen glauben lassen sollte, dass ich Steel einen wütenden Blick zuwarf, trat zwei, drei Schritte weit auf den Bürgersteig hinaus - und fuhr dann herum. Plötzlich ging alles rasend schnell.

Kim und ich rannten im gleichen Moment los, in dem die Türen des schwarzen Wagens auf der anderen Straßenseite aufflogen. Die zehn Meter bis zum Chevy schienen zur Ewigkeit zu werden, und die halbe Sekunde, die ich brauchte, um die Tür zu öffnen und mich hinter das Lenkrad zu werfen, zu einer Stunde. Hastig beugte ich mich über den Beifahrersitz, öffnete die Tür und versuchte den Schlüssel ins Schloss zu rammen, noch während ich mich aufrichtete. Meine Hände zitterten. Ich verlor eine weitere, kostbare halbe Sekunde und hätte den Schlüssel um ein Haar fallen gelassen.

Kim warf sich neben mich auf den Sitz, zog die Tür zu und drückte den Knopf herunter und ich bekam endlich den Schlüssel ins Schloss. Der Motor sprang auf Anhieb an, aber ich war so aufgeregt, dass mein Fuß von der Kupplung rutschte und ich ihn abwürgte. Während ich den Schlüssel fluchend zurück und wieder vor drehte und auf das Mahlen des Anlassers lauschte, warf ich einen Blick in den Rückspiegel und sah zwei Gestalten auf uns zu hetzen, und im gleichen Moment flog auch die Haustür auf, und eine dritte Gestalt taumelte heraus. Steel!

Der Motor sprang endlich an. Ich setzte mit durchdrehenden Reifen ein Stück zurück, um aus der Parklücke herauszukommen, rammte den Gang herein und gab wieder Gas. Zu viel. Die Reifen drehten durch und der Wagen kam kaum von der Stelle. Jemand begann wütend an der Beifahrertür zu rütteln. Faustschläge trafen das Dach und plötzlich erschien Steels Gestalt wie aus dem Nichts unmittelbar vor dem Kühler. Ich reagierte ganz instinktiv. Trotz allem wollte ich Steel nicht töten, ebenso wenig wie die beiden anderen Männer, die mittlerweile lauthals fluchend und mit aller Kraft an beiden Türen des Wagens rüttelten. Ich rammte den Rückwärtsgang wieder herein, ließ den Wagen zwei Meter nach hinten schießen, und die beiden Agenten brachten sich hastig in Sicherheit, um nicht von den Füßen gerissen zu werden.

Etwas krachte. Ein harter Schlag ließ den Chevy erbeben, als ich gegen den hinter uns geparkten Wagen krachte und um ein Haar den Motor erneut abgewürgt hätte. Mit fahrigen Bewegungen legte ich den ersten Gang wieder ein, trat Kupplung und Gas gleichzeitig durch und starrte Steel an, der breitbeinig unmittelbar vor uns stand.

»Ich habe dich gewarnt, Jonny-Boy!« schrie er. »Aber du wolltest es ja nicht anders!« Er griff unter die Jacke. Kim hielt die Pistole, die ich ihm abgenommen hatte, immer noch in der rechten Hand, trotzdem waren seine Hände nicht leer, als sie wieder zum Vorschein kamen, sondern hielten eine zweite Waffe, mit der er in aller Ruhe auf mich anlegte.

»John!« schrie Kim.

Ich wusste, dass er schießen würde. Ich konnte es in seinen Augen lesen. Und es war nicht das Ding in ihm, das ihn dazu brachte. Es spielte keine Rolle, ob ich Steel oder dem Ganglion gegenüberstand - jeder der beiden hatte nur auf einen Vorwand gewartet.


Die Zeit schien stehen zu bleiben. Ich konnte sehen, wie Steel die Waffe sorgfältig auf mein Gesicht richtete und sich sein Zeigefinger dem Abzug näherte. Die Situation kam mir ... unwirklich vor. Eine Szene aus einem Alptraum, erschreckend und grotesk zugleich. Mein Leben war schon vor Monaten zu einer Achterbahnfahrt geworden, in der Tod und Gewalt eine weitaus größere Rolle spielten, als ich bis jetzt hatte wahrhaben wollen. Und trotzdem erschien es mir in diesem Moment einfach absurd, dass Steel mich töten würde. Dann schrie Kim ein zweites Mal und noch gellender auf, und ich reagierte endlich. Im gleichen Sekundenbruchteil, in dem Steel den Abzug durchdrückte, ließ ich die Kupplung springen und riss das Lenkrad nach rechts. Der Wagen schoss mit qualmenden Reifen auf Steel zu. Die Kugel prallte gegen den Fensterrahmen neben meinem Gesicht und flog Funken sprühend davon, und ich trat das Gaspedal noch weiter durch und kurbelte gleichzeitig verzweifelt am Lenkrad. Steel machte eine unglaublich schnelle Bewegung zur Seite, um dem Chevy auszuweichen. Er schaffte es nicht. Der Kotflügel des Wagens traf ihn mit einem dumpfen Geräusch, riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn in die Luft.

Steels Waffe flog davon. Mit wirbelnden Armen prallte er auf die Motorhaube und rutschte ein Stück darauf empor. Der Anprall hätte jeden normalen Menschen getötet oder zumindest so schwer verletzt, dass er das Bewusstsein verloren hätte, Steel nicht. Im Gegenteil: Er klammerte sich mit aller Kraft fest und schaffte es sogar irgendwie, nicht abgeschüttelt zu werden, als ich das Lenkrad mit einem Ruck in die entgegengesetzte Richtung riss und der Wagen kreischend über die Straße schlingerte.

»Gib auf!« brüllte er. »Du hast keine Chance, Jonny-Boy! Wir kriegen dich!«

»John!« schrie Kim. »Tu etwas!«

Ich riss das Lenkrad wieder nach rechts, trat hart auf die Bremse und gab fast gleichzeitig wieder Gas, doch Steel ließ seinen Halt nicht los. Er wurde hin und her geschleudert, aber er klammerte sich mit einer Hand weiter fest, während seine linke Faust auf die Windschutzscheibe einzuschlagen begann. Das Glas hielt den Schlägen stand, aber ich wusste nicht, wie lange. Steels Knöchel platzten auf; Blut lief über die Scheibe, aber er schlug und drosch weiter darauf ein, als spürte er den Schmerz gar nicht.

Ein schrilles Hupen erklang. Ein Scheinwerferpaar huschte an uns vorbei, und ich hörte Bremsen hinter mir quietschen, dann Metall kreischen. Wir fuhren immer schneller, doch ich war so gut wie blind. Ich sah nur Steels Gesicht, das riesig und wutverzerrt vor mir die ganze Windschutzscheibe auszufüllen schien, und seine Faust, die immer und immer wieder auf das Glas krachte. Er schrie ununterbrochen:

»Wir kriegen dich!«

»John!« schrie Kim. Sie hob die Pistole.

»Nein!« brüllte ich. Gleichzeitig trat ich hart auf die Bremse und riss das Steuer mit einem Ruck so weit nach rechts, wie ich konnte. Steel wurde herumgewirbelt. Seine rechte Hand verlor ihren Halt. Ich sah, wie er über die Motorhaube nach vorne zu rutschen begann - und in diesem Moment prallte der Chevy mit beiden Vorderrädern gegen den Bürgersteig und machte einen gewaltigen Satz. Steel wurde zum zweiten Mal binnen weniger Augenblicke in die Luft gewirbelt, und als er zurückfiel, prallte sein Gesicht mit grausamer Wucht gegen den Fensterholm; genau dort, wo dreißig Sekunden zuvor seine Kugel abgeprallt war.

Ein furchtbarer, knirschender Laut erscholl. Die Windschutzscheibe war plötzlich voller Blut, und ich sah nur noch, wie Steels Körper wie eine lebensgroße Gliederpuppe davonwirbelte und meterweit entfernt auf den Asphalt fiel.

Der Motor ging aus. Instinktiv streckte ich die Hand aus und griff nach dem Schlüssel, aber ich führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern starrte wie betäubt in den Spiegel. Steel war drei, vier Meter entfernt niedergestürzt und rührte sich nicht mehr. Er musste tot sein.

»Mein Gott«, flüsterte ich. »Das ... das wollte ich nicht.« Es war ehrlich gemeint. Dieser Mann - das Ding, in das er sich verwandelt hatte - hatte uns beide töten wollen, aber ich spürte keinen Triumph, nicht einmal Erleichterung, sondern nur ein tiefes, kaltes Entsetzen.

Rings um uns herum gingen bereits erloschene Lichter hinter Fenstern wieder an, wurden Türen geöffnet und erschienen neugierige Gesichter. Und weiter entfernt glaubte ich bereits eine Polizeisirene zu hören, aber das alles kam mir immer unwirklicher vor. Ich hatte immer noch das Gefühl, in einem Alptraum gefangen zu sein, aus dem ich nur nicht erwachen konnte.

Es war Kimberley, die mich halbwegs in die Wirklichkeit zurückriss. Ihre Hand berührte mich an der Schulter, sie sagte nichts, aber sie machte eine Geste nach hinten, und als ich ihr mit Blicken folgte, sah ich zwei Gestalten mit wehenden Mänteln auf uns zu hasten. Beide hatten Pistolen in den Händen und ich zweifelte nicht daran, dass sie ihre Waffen benutzen würden.

Das Heulen der Polizeisirene war näher gekommen. Ich nickte stumm, startete den Motor und fuhr los.


Der Highway schimmerte wie ein silbernes Band vor uns in der Nacht. Es war sehr dunkel. Am Himmel stand kein Mond, und die Wolkendecke hatte sich im Laufe der letzten Stunden fast geschlossen und das Sternenlicht verschluckt, so dass ich den Eindruck hatte, durch einen Tunnel aus Schwärze zu fahren, der das Licht der voll aufgeblendeten Scheinwerfer verzehrte. Wir hatten Washington vor einer halben Stunde verlassen, und ich konnte mich nicht erinnern, seither auch nur einen einzigen anderen Wagen gesehen zu haben, der uns entgegenkam.

Doch es war mehr als eine Reise in die Nacht. Die schwarze Unendlichkeit, die vor uns vor dem Licht der Scheinwerfer floh und sich hinter uns wieder schloss, erschien mir wie ein Abbild der Zukunft, die uns erwarten mochte. Eine düstere, unendliche Leere voller unsichtbarer Gefahren und lauernder Feinde, in der es keine Ruhe gab, keinen Frieden, sondern nur eine nicht enden wollende Flucht.

Kimberley und ich hatten kein Wort gesprochen, seit wir die Stadt verlassen hatten, und die Stille schien allmählich selbst zu etwas Körperlichem, Drohendem zu werden, das sich im Wagen einnistete und ihn mit erstickender Schwere füllte.

»Sie werden uns jagen«, sagte ich schließlich. »Bach wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um uns zu kriegen.«

Kimberley antwortete nicht. Ich wandte rasch den Kopf, blickte sie an und sah, dass ihr Blick nach draußen gerichtet war und dass darin wieder dieser unheimliche, angstmachende Ausdruck loderte, den ich vorhin schon einmal darin gelesen hatte. Sie sah nicht die vorüberhuschende Straße oder die Nacht, sondern etwas anderes, Schlimmeres.

Etwas, das ihr angetan worden war.

Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht dagewesen war, um sie zu beschützen, aber ich sprach auch das nicht aus.

Ich fühlte mich immer noch so leer und ausgebrannt wie in dem Moment unmittelbar nach unserer Flucht, und ich verspürte immer noch keine Zufriedenheit, wenigstens darüber, Steel und den anderen entkommen zu sein. Aber zu dem Gefühl der Niedergeschlagenheit und des Entsetzens, einen Menschen getötet zu haben, gesellte sich allmählich etwas anderes. Ein Empfinden, das nur langsam heranwuchs, aber stärker und stärker wurde, und das mich auf eine gewisse Weise nie wieder im Leben ganz loslassen sollte: einen tiefen, brennenden Hass auf die Wesen, die mich dazu gebracht hatten, all dies zu tun. Die über unvorstellbare Abgründe von Raum und Zeit hinweg zu uns gekommen waren, und die mit Menschen und Schicksalen spielten, wie unsere Forscher mit wehrlosen Laborratten.

Und in gewisser Weise konnte ich Bach plötzlich verstehen. Seine Methoden und Mittel waren falsch, aber ich wusste plötzlich zum ersten Mal, warum er den Kampf gegen die Fremden mit solcher Verbissenheit führte. Und vielleicht war dies der Moment, in dem auch ich ihn wirklich aufnahm.

Er war nicht vorbei. Wir hatten die Seiten gewechselt, möglicherweise mehr; vielleicht gab es jetzt keine Seite mehr, auf der wir standen. Vielleicht waren wir ganz allein. Und trotzdem wusste ich mit unerschütterlicher Sicherheit, in diesem Moment, dass ich niemals aufhören würde, gegen die Grauen und ihre Verbündeten zu kämpfen ... Selbst, wenn ich es mit bloßen Händen tun musste!

»Hast du genug Geld bei dir?« fragte Kimberley plötzlich.

Ich sah sie wieder an und erkannte, dass die Dunkelheit sich wieder aus ihren Augen zurückgezogen hatte. Vielleicht hatte sie die Zeit einfach gebraucht, um auf ihre Weise mit dem Schrecken des Erlebten fertig zu werden.

Ich warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Der Tank war gut zur Hälfte voll. Trotzdem schüttelte ich den Kopf. »Wir können noch nicht anhalten«, sagte ich. »Sie werden alle Motels im Umkreis von hundert Meilen kontrollieren.« Ich griff in die Jacke, zog meine Brieftasche hervor und überschlug unsere Barschaft. »Für zwei oder drei Tage wird es reichen, danach sehen wir weiter.«

»Wir haben einen weiten Weg vor uns«, sagte Kimberley.

Ich antwortete kopfschüttelnd: »Wir können nicht zu deinen Verwandten oder meinen Eltern, wenn du das meinst. Dort werden sie uns zuerst suchen.«

»Das wäre auch die falsche Richtung«, antwortete Kimberley.

Ich sah sie fragend an.

Kim fuhr sich müde mit beiden Händen durch das Gesicht, dann machte sie eine Kopfbewegung auf das silbergraue Asphaltband, das sich vor dem Wagen abspulte. »Und wir brauchen auch kein Geld für ein Zimmer. Wir haben eine lange Fahrt vor uns. Wenn du müde wirst, löse ich dich ab. Ich fürchte, dass wir kaum zum Schlafen kommen werden.«

»Warum?« fragte ich.

»Der Anruf vorhin«, antwortete Kimberley. »Es war Robert Kennedy selbst, der angerufen hat. Ich bin nicht dazu gekommen, es dir zu sagen.«

»Woher wusste er, dass Bach informiert ist?« fragte ich.

Kimberley zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Er war sehr aufgeregt. Er sagte nur, dass wir auf der Stelle verschwinden sollten, und dass wir in großer Gefahr wären.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, antwortete ich. »Immerhin haben wir wenigstens noch einen Verbündeten.«

Ich schwieg eine Sekunde, dann: »Hat er dir eine Telefonnummer genannt, unter der wir ihn erreichen können?«

Kimberley schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das war auch nicht nötig. Wir haben eine Verabredung mit seinem Bruder.«

Ich sah sie überrascht an. »Wie?«

»Sie haben sich offenbar entschlossen, uns wirklich zu glauben«, bestätigte Kimberley. »Der Präsident will mit uns reden. Wir haben einen Termin bei ihm. Übermorgen Nachmittag, in Dallas.«

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