Prolog

In der unterirdischen Zentrale von Majestic 12 herrschte gespanntes Schweigen. In dem großen, tief unter dem gewachsenen Granitfundament Washingtons gelegenen Raum war es meist unnatürlich still; die Geräte und Apparaturen entsprachen dem neusten Stand der Technik und arbeiteten größtenteils elektronisch und somit nahezu lautlos. Es gab hier keine hektisch tickenden Fernschreiber, keine klingelnden Telefone, kein Türenschlagen oder das Trappeln von Schritten auf dem Flur. Selbst die Männer und Frauen, die hier in dem arbeiteten, was Bach manchmal das Allerheiligste nannte, senkten instinktiv ihre Stimmen, sobald sie diesen Raum betraten. Vielleicht, weil an diesem Ort zwei seltene Faktoren zusammenkamen: das fast körperliche Begreifen der vielen hunderttausend Tonnen Felsgestein, die sich über dem halbrunden Raum türmten und ihm zugleich etwas fast Heiliges wie auch Bedrückendes gaben, und das Bewusstsein, sich an einem Ort konzentrierter Macht zu befinden.

Mit alledem hatte das atemlose Schweigen, das sich jetzt in dem abgedunkelten Raum ausbreitete, jedoch nichts zu tun. Das für einen Außenstehenden sinnverwirrende Durcheinander von Linien, Ziffern, kryptischen Buchstabenkombinationen und blinkenden Punkten auf dem zwei Meter großen Wandschirm unterschied sich in nichts von dem, was an einem normalen Tag darauf zu sehen gewesen wäre. Das große Leuchtschild an der Wand neben dem Bildschirm signalisierte ein beruhigendes DEFCON 5, und auch das rote Telefon auf dem Pult vor Bach war stumm geblieben.

Trotzdem, dachte Bach, war es gut möglich, dass dieser Raum in den nächsten Minuten zu etwas wurde, das sich seine Erbauer niemals hätten träumen lassen: nämlich zur Bühne, auf der sich das Schicksal der Welt entschied. Und er zum Regisseur, der den Ablauf bestimmte.

»Lieutenant Powers!« Die Stimme des jungen Mannes am Funkgerät riss Bach aus seinen Gedanken. In dem atemlosen Schweigen, das sich in den vergangenen Minuten hier ausgebreitet hatte, klang sie unangenehm laut, und eine Spur von Nervosität schwang in ihr mit. Alle hier waren nervös.

»Lieutenant Powers!« sagte der junge Mann noch einmal. »Sie haben keine Erlaubnis, ich wiederhole: keine Erlaubnis, die Verfolgung über die Grenze hinaus fortzusetzen. Bestätigen!«

Wie immer, wenn Bach unter Anspannung stand, glitt seine linke Hand in einer unbewussten Geste nach oben und tastete nach dem rechteckigen Amulett, das er an einer dünnen Kette um den Hals trug, sicher verborgen unter seiner Uniform, metallisch kalt und trotzdem beruhigend auf der nackten Haut.

Heute beruhigte es ihn nicht.

Bachs Gesichtsausdruck blieb so undurchschaubar und versteinert wie immer, aber hinter seiner Stirn jagten sich die Gedanken. Der sichtlich überforderte junge Mann am Funkgerät war nicht der Einzige hier, der nervös war. Sie alle waren nervös, aber er, Bach, hatte regelrecht Angst. Vielleicht zum ersten Mal, seit all dies begonnen hatte, spürte er eine tief bohrende Angst in sich. Er musste eine Entscheidung treffen, und er wusste einfach nicht, was richtig war, und was falsch. Dies war - vielleicht - der Moment, auf den sie alle so lange gewartet hatten, und nun, als er da war, wusste er einfach nicht, was er tun sollte. Wenn er einen Fehler beging, konnten die Folgen katastrophal sein; im wortwörtlichen Sinn.

»Lieutenant Powers!« sagte der Mann am Funkgerät noch einmal. Seine Stimme bebte vor Anspannung. »Brechen Sie ab. Ich wiederhole ...«

Bach hatte seine Entscheidung getroffen. Mit einem raschen Schritt trat er neben den jungen Mann, nahm ihm das Mikrofon aus der Hand und sagte: »Lieutenant Powers? Hier Bach.«

Powers' Antwort drang erst nach zwei oder drei Sekunden aus den Lautsprechern, leise, verrauscht und auf eine sonderbare Art verzerrt, was nur zu einem geringen Teil daran lag, dass sie den halben Erdball umrundet hatte. Zusätzlich wurde das Gespräch über ein kompliziertes System von Verzerrern, Zerhackern und anderen Codierungsmaschinen geleitet, die jeden Versuch, es abzuhören, zum Scheitern verurteilten.

»Majestic? Hier Lieutenant Powers. Ich nähere mich dem sowjetischen Luftraum.«

»Kontakt zum Zielobjekt?« fragte Bach.

»Positiv«, antwortete Powers. »Aber ich weiß, zum Teufel noch mal, noch immer nicht, was es ist. Das Ding ist schnell.«

»Wie ist Ihre genaue Position?« fragte Bach. Sein Blick wanderte zum Monitor und versuchte den blinkenden Leuchtpunkt zu identifizieren, der Powers' Maschine darstellte. Es gelang ihm nicht, aber im Grunde war dieser Blick ebenso überflüssig wie seine Frage. Er wusste nur zu gut, wo sich Powers befand.

»Westpakistan«, antwortete Powers. »Noch zwanzig Sekunden bis zum sowjetischen Luftraum. Was soll ich hin? Abbrechen?«

»Negativ«, antwortete Bach. »Sie haben die Erlaubnis, die Verfolgung fortzusetzen.«

Nicht nur der junge Mann am Funkgerät riss überrascht die Augen auf und starrte Bach an. Jedermann in der unterirdischen Zentrale starrte ungläubig oder erschrocken in seine Richtung. Auf dem einen oder anderen Gesicht glaubte Bach auch echtes Entsetzen zu erkennen. Er konnte dieses Gefühl verstehen. Der Befehl, den er gerade erteilt hatte, hatte durchaus das Potential, einen Krieg auszulösen. Trotzdem fuhr er fort: »Sie haben Ihre Befehle, Lieutenant. Befolgen Sie sie.«

»Roger, Sir«, antwortete Powers. »Noch zehn Sekunden, bevor ich den sowjetischen Luftraum verletze.«

Der letzte Satz war überflüssig und entsprach ganz und gar nicht dem militärischen Protokoll. Wahrscheinlich hatte Powers ihn nur gesagt, um sich selbst abzusichern; vielleicht auch, um ihm noch eine letzte Chance zu geben, seinen Befehl zu überdenken und zurückzunehmen.

Stattdessen sagte er: »Können Sie den Kontakt sehen, Lieutenant?«

»Nein«, antwortete Powers, verbesserte sich aber praktisch in der gleichen Sekunde selbst: »Doch. Es ist ... großer Gott! Es ist unglaublich schnell!«

»Bleiben Sie dran, Lieutenant«, sagte Bach. »Ganz egal, was geschieht, Ihre Mission hat Vorrang.«

»Vorrang vor was?« fragte eine Stimme aus Richtung Tür.

Bach widerstand dem Impuls, sich zur Tür herumzudrehen. Er wusste auch so, wer hereingekommen war. Er erkannte die Stimme ebenso wie den typischen, schweren Schritt Gouverneur Humphreys. Er wusste sogar, welchen Anblick Humphrey in diesem Moment bieten würde: Er stürmte mit leicht nach vorne gebeugten Schultern heran, den linken Arm angewinkelt, um entweder seine Aktentasche oder den Trenchcoat zu halten, ohne den er niemals das Haus verließ, unabhängig von Witterung und Jahreszeit. Und in der rechten Hand hielt er gewiss die schwere Hornbrille. Bach bezweifelte, dass Humphrey überhaupt eine Brille brauchte. Sie war nichts als ein Utensil, das er im passenden Moment auf- oder absetzte, um Wirkung zu erzielen. Humphrey war ein Idiot, aber gefährlich.

Bach verscheuchte den Gedanken und rief sich seine eigenen Worte in Erinnerung: Ihre Mission hatte Vorrang.

»Sichtkontakt!« meldete Powers. »Es ist ... o mein Gott!«

»Was ist los?« fragte Bach. »Powers!«

Powers schwieg gerade lange genug, um Bachs Sorge einen spürbaren Schub zu versetzen. Als er schließlich antwortete, waren Schrecken und Überraschung aus seiner Stimme verschwunden. Aber sie hatten nur einer erzwungenen Ruhe Platz gemacht, die fast noch schlimmer war.

»Majestic, Sie hatten recht«, sagte er. »Identifizierung eindeutig positiv. Ich wiederhole: Es handelt sich zweifelsfrei um einen positiven Kontakt. Führe die Verfolgung fort.«

»Wer verfolgt was?« fragte Humphrey. Er war neben Bach getreten und wedelte erwartungsgemäß mit seiner Brille herum, während er den Bildschirm ansah und sich redliche Mühe gab, so zu tun, als verstünde er tatsächlich, was er da sah.

»Lieutenant Gary Powers«, antwortete Bach. »U2-Aufklärungsflug. Er hat einen.«

Humphrey riss ungläubig die Augen auf, und aus dem Lautsprecher drang Powers' jetzt wieder aufgeregte Stimme: »Diese Manövrierfähigkeit ist unvorstellbar! Er fliegt doppelt so schnell wie ich, und ... großer Gott! Aber das ... im rechten Winkel!«

»Definitiv«, murmelte Bach. »Wir haben ihn!«

»Wo?« fragte Humphrey.

»Im Osten«, antwortete Bach widerwillig. Offenbar hatte Humphrey auf dem Monitor doch mehr erkannt, als ihm lieb war.

»Wo?« fragte Humphrey noch einmal.

»Tausend Meilen jenseits der sowjetischen Grenze«, sagte Bach. »In der Nähe von Sverdlowsk.«

Humphrey fuhr auf dem Absatz herum und setzte mit einem Ruck seine Brille auf. »Wie bitte?!«

»Sie waren nicht hier, Gouverneur«, sagte Bach kühl. »Ich musste eine Entscheidung treffen.«

»Sind Sie wahnsinnig geworden?« keuchte Humphrey. »Wissen Sie eigentlich, was ...«

Aus dem Lautsprecher des Funkgeräts drang ein Laut, der wie eine Mischung aus einem Keuchen und einem Schrei klang, dann Powers' aufgeregte Stimme: »Es hat angehalten! Es kommt auf mich zu! Das Licht ...«

Der Rest seiner Worte wurde von einem unheimlichen Heulen und Brausen verschluckt, das plötzlich aus den Lautsprechern des Funkgerätes drang, binnen Sekunden an Lautstärke zunahm und dann ebenso plötzlich, wie es entstanden war, wieder abbrach.

»Powers!« schrie Bach. Er drückte die Sprechtaste des Mikrofons so fest, dass das Blut aus seinen Fingern wich. »Lieutenant! Melden Sie sich!«

Powers antwortete nicht. Aus den Lautsprechern drang nur noch monotones statisches Rauschen, und nach einigen weiteren Sekunden sagte einer der anderen Männer leise: »Kontakt verloren. U2 ist nicht mehr auf dem Schirm, Sir.«

Bach schloss für einen Moment die Augen. Er fühlte ... im allerersten Moment nichts. Kaum mehr als eine tiefe, saugende Leere, an deren Grund eine Enttäuschung lauerte, die ihn hätte aufschreien lassen, hätte er sie schon jetzt in ihrem vollen Umfang gespürt.

Vorbei. Fünfzehn Jahre Arbeit. Fünfzehn Jahre, in denen er sich auf diesen einen, entscheidenden Moment vorbereitet hatte, und jetzt war es vorbei, in einem einzigen, kurzen Moment. Sie waren so nahe daran gewesen! So verdammt nahe!

»Sie sind ein verdammter Dummkopf, Bach«, sagte Humphrey. »Wie konnten Sie es wagen, den Piloten ...«

»Halten Sie den Mund!« unterbrach ihn Bach.

Humphrey riss ungläubig die Augen auf. Ganz gleich, wer Bach auch sein mochte, ein solcher Ton stand ihm einem Gouverneur der Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber einfach nicht zu. Niemand konnte ihn zwingen, sein Gegenüber zu respektieren, wohl aber dessen Amt. Doch Humphrey schien auch zu spüren, was in diesem Moment in ihm vorging, denn er sagte nichts, sondern nahm nur mit einer langsamen Bewegung die Brille wieder ab und schüttelte den Kopf. Er sah müde aus. Auf seine Weise musste er ebenso enttäuscht sein wie Bach. Sie waren oft über ihre Methoden uneins, aber sie verfolgten die gleichen Ziele.

Plötzlich drang ein Schwall knisternder Stör- und Statikgeräusche aus den Lautsprechern des Funkpults, und dann wieder Powers' Stimme: »Majestic? Majestic, empfangen Sie mich?«

Bach verschwendete keine Zeit dafür, den Piloten nach seinem Befinden zu fragen oder sich zu erkundigen, was geschehen war. Er fragte nur knapp: »Wo sind Sie?«

»Wir steigen«, antwortete Powers. Seine Stimme war jetzt viel undeutlicher als zuvor, als störe etwas die Verbindung. Oder als entferne er sich rasend schnell. »Irgendwie hat er mich ... mitgenommen.«

Bach warf einen raschen Blick zum Radar, aber der Mann, der das Gerät bediente, schüttelte nur den Kopf. Weder Powers noch das Objekt, dem er gefolgt war, waren auf dem Schirm zu sehen.

»Höhe?« fragte Bach.

»Fünfzigtausend Fuß, rasch steigend«, antwortete Powers. »Jetzt fast sechzig. Ich kann nicht viel sehen. Über mir ist ein sehr helles Licht.«

Bach biss sich auf die Unterlippe. Die U2 war für Flüge in extremer Höhe gebaut, aber selbst diese Wundermaschine kannte Grenzen. Wenn Powers sich weiter so schnell nach oben bewegte, würde er in wenigen Augenblicken die Erdatmosphäre verlassen und den russischen Sputniks Gesellschaft leisten.

»Fünfundsechzigtausend Fuß«, meldete Powers. »Weiter steigend. Das Licht ist immer noch da ... halt. Jetzt kann ich etwas erkennen ... Jesus!«

»Was ist los, Lieutenant?« fragte Bach. »Was sehen Sie?«

»Majestic«, antwortete Powers, »wir haben ein großes Problem hier oben.«

Bach und Humphrey tauschten einen nervösen Blick. Viel schlimmer als das, was Powers gesagt hatte, war der Ton in seiner Stimme gewesen. »Was meinen Sie damit, Lieutenant?« fragte Bach. »Reden Sie Klartext. Es spielt keine Rolle, wenn jemand mithört.«

»Es ist gigantisch!« flüsterte Powers.

»Was ist gigantisch?« schrie Bach. »Lieutenant!«

Und plötzlich war das Heulen wieder da, lauter und irgendwie ... zorniger als zuvor. Powers begann zu schreien. »Das Licht! Mein Gott, sämtliche Instrumente spielen verrückt! Die Maschine bricht auseinander!«

»Lieutenant!« rief Bach. »Meldung! Was haben Sie gesehen?!«

Für zwei oder drei Sekunden drang nur dieses furchtbare Heulen und Brausen aus den Lautsprechern, aber dann hörten sie noch einmal Powers schrille, sich fast überschlagende Stimme: »Ich stürze ab! Triebwerk und sämtliche anderen Geräte ausgefallen! Ich betätige den Schleudersitz!«

Das Pfeifen und Heulen erlosch. Für eine halbe Sekunde drang noch ein schwaches, statisches Rauschen aus den Lautsprechern, dann verstummte auch dieses letzte Geräusch.

Ganz langsam stellte Bach das Mikrofon auf das Pult zurück, schloss für eine Sekunde die Augen und wandte sich dann wieder zu Humphrey. Der Gouverneur hatte seine Brille wieder aufgesetzt, und er sah sehr bleich aus und sehr erschrocken. Bach fragte sich, was er wohl empfand: vielleicht Entsetzen über das Gehörte, vielleicht auch Bedauern bei dem Gedanken an den jungen Piloten, der dort oben vermutlich gerade den Tod gefunden hatte, und garantiert dachte er mit einem Teil seines verdrehten Politikerhirns bereits darüber nach, wie er aus Bachs Eigenmächtigkeit am meisten Kapital schlagen konnte.

Bach dachte an nichts von alledem. Er konnte an nichts anderes denken als an jenen einen Satz, den Powers geflüstert hatte:

»Es ist gigantisch!«

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