»Sir?« Ich verstand nicht, wovon er überhaupt sprach.

»Was haben Sie Ihrer Freundin gesagt, wohin Sie abgereist sind?«

»Nichts«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Die Zeit war zu knapp. Ich konnte nicht mehr selbst mit ihr reden. Ich habe ihr nur eine Nachricht zukommen lassen.«

»Eine Nachricht?«

»Sie wird keinen Verdacht schöpfen«, versicherte ich. »Es ist nicht das erste Mal, dass Pratt mich praktisch von einer Minute auf die andere wegschickt. Ich glaube, er kann mich nicht leiden.«

»Und im Büro haben Sie hinterlassen, dass Ihr Onkel gestorben ist, und Sie für ein paar Tage fort müssen, um Ihre Familienangelegenheiten zu regeln.«

Warum war ich eigentlich nicht überrascht? »Wird eigentlich irgendwo in Washington ein Wort gesprochen, das Sie nicht hören - Sir?«

»Ich halte es Ihrer Nervosität zugute«, sagte Bach unbeeindruckt. »Aber ein solcher Fehler darf nicht noch einmal vorkommen. Wenn Sie lügen, dann denken Sie sich eine überzeugende Geschichte aus. Simpel und überzeugend. Und bleiben Sie dabei, ganz egal, was passiert.«

»Ich habe nicht sehr viel Erfahrung im Lügen, Captain«, sagte ich kühl.

»Dann lernen Sie es«, erwiderte Bach. »Unsere Aufgabe ist zu wichtig. Es ist mir gleich, ob Sie es hassen, zu lügen, oder nicht. Niemand darf von unserer Existenz erfahren. Ich habe die Sache für Sie in Ordnung gebracht - diesmal. Beim nächsten Mal bekommen Sie Probleme.«

»Es wird kein nächstes Mal geben, Sir«, sagte ich steif.

»Das hoffe ich, John«, erwiderte Bach. »Für Sie.«


Brandons Farm war total heruntergekommen. Man sah ihr an, dass sie bessere Zeiten gesehen hatte und dass diese besseren Zeiten noch nicht allzu lange zurücklagen.

Sowohl das Wohnhaus als auch die Scheune (Walt würde zufrieden sein. Sie bestand nicht aus Wellblech, sondern aus gutem altmodischem Holz) waren frisch gestrichen, und der kleine Gemüsegarten neben dem Haus war mit großer Liebe angelegt worden, jetzt aber total verwildert. So wie das ganze Anwesen. Überall auf dem Hof standen landwirtschaftliche Geräte herum. Ein paar Hühner liefen frei umher, und direkt vor dem Wohnhaus parkte ein Wagen, dessen Türen offen standen.

»Ich steige jetzt aus«, sagte ich. Ich war allein im Wagen, aber Walt und sein Funkempfänger befanden sich kaum eine halbe Meile entfernt. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Der Hof macht einen ... seltsamen Eindruck. Fast, als wäre er verlassen.«

Ich stieg aus, ging ein paar Schritte und rief laut Brandons Namen. Ich bekam keine Antwort, aber in der Scheune begann ein Hund zu kläffen, und einen Augenblick später klapperte etwas.

»Alles ist völlig heruntergekommen«, sagte ich, leiser und jetzt wieder nur für das Mikrofon unter meinem Hemd und Walts Tonband bestimmt. »Wenn hier noch jemand ist, dann scheint er sich nicht mehr besonders für den Hof zu interessieren.«

Und das war noch freundlich formuliert. Ich rief erneut Brandons Namen, drehte mich einmal im Kreis und sah mich dabei aufmerksam um. Mein erster Eindruck verstärkte sich noch. Überall lagen Abfälle und achtlos liegen gelassene Dinge herum. Die meisten Fenster des Hauses standen offen, und hier und da hatte der Wind eine Gardine ergriffen und herausgezerrt. Nur ein paar Meter entfernt lag ein toter Vogel auf dem Boden. Vielleicht eine Krähe - ich war nicht ganz sicher, denn er musste schon vor Tagen in Verwesung übergegangen sein.

»Mister Branden?« rief ich noch einmal. Ich bekam auch jetzt keine Antwort, aber aus der Scheune ertönte wieder schrilles Hundegebell. Ich beschloss, erst sie zu untersuchen, bevor ich mich dem Wohnhaus zuwandte.

»Ich gehe jetzt in die Scheune«, erklärte ich Walts Tonband. »Das Tor steht offen, und das Stroh scheint zu verfaulen. Es scheint hereingeregnet zu haben.«

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nicht von einem Farmer gehört, der vergisst, sein Scheunentor zu schließen, sobald sich Regenwolken am Himmel zeigen. Aber ich hatte auch noch nie einen Hof wie diesen gesehen.

Direkt hinter dem Tor stand ein rostiger roter Pick-Up, dessen Motorhaube offen stand. Der Hund, dessen Gebell ich gehört hatte, war an der Stoßstange des Wagens festgebunden. Im allerersten Moment knurrte er drohend, aber dann kam er mir schwanzwedelnd entgegen.

Der Anblick des Tieres brach mir fast das Herz. Es war total abgemagert, und der Gestank, den es verströmte, drehte mir fast den Magen herum. Der Hund musste seit Tagen hier angebunden sein, ohne dass sich irgendjemand um ihn gekümmert hatte. Kurz entschlossen ließ ich mich in die Hocke sinken und knotete den groben Strick auf, der an seinem Halsband befestigt war. Das Tier jaulte befreit auf und raste mit Riesensätzen an mir vorbei aus der Scheune heraus.

»Was tun Sie da?« fragte eine Stimme hinter mir.

Erschrocken richtete ich mich auf und fuhr herum. Ein Mann war hinter dem Wagen hervorgetreten. Im Halbdunkel der Scheune konnte ich ihn nicht genau erkennen, doch schon das wenige, was ich sah, überzeugte mich davon, Brandon gegenüberzustehen. Er war ebenso heruntergekommen und verdreckt wie sein Anwesen, und er roch nicht sehr viel besser als sein Hund.

»Mister Brandon?« fragte ich.

»Wer will das wissen?« erwiderte er. Erst als er einen Schritt auf mich zu kam, bemerkte ich, dass er einen Schraubenzieher in der Hand hielt; allerdings auf die Art, auf die man ein Messer oder eine andere Waffe hielt, nicht ein Werkzeug. Sein Blick taxierte mich misstrauisch und blieb dann für eine Sekunde am Ende des Strickes hängen, an dem der Hund angebunden gewesen war. Aber er machte keine entsprechende Bemerkung.

»Wer sind Sie?« fragte er schleppend. »Was haben Sie hier zu suchen?« Seine Stimme klang sonderbar, fast wie die eines Betrunkenen.

»Mein Name ist Frank Gaber«, antwortete ich. »Sie sind Mister Brandon?«

»Und wenn?«

»Ich komme vom Landwirtschaftsministerium«, sagte ich.

»Ich habe Sie nicht gerufen«, antwortete Brandon feindselig. »Verschwinden Sie!«

»Ich werde Sie nicht lange belästigen, Mister Brandon«, versicherte ich. »Aber sehen Sie, das Büro hat mich hergeschickt, um Ihnen ein paar Fragen über das zu stellen, was mit Ihrem Feld geschehen ist. Jemand hat dort ziemlichen Schaden angerichtet.«

»Das ist meine Sache«, antwortete Brandon. Er kam mit sonderbar schleppenden Schritten näher und hob gleichzeitig seinen Schraubenzieher höher. Ich konnte seine Feindseligkeit deutlich spüren. Aber da war auch noch etwas ... Furcht?

Irgendwie brachte ich es fertig, nicht vor ihm zurückzuweichen, sondern ihm fest in die Augen zu sehen und sogar ein schüchternes Lächeln auf mein Gesicht zu zwingen. »Selbstverständlich, Mister Brandon. Es geht auch nur um ein paar Informationen.«

»Ich rede mit niemandem«, antwortete Brandon. Ich war jetzt sicher, dass er Angst hatte. Ich fragte mich nur, wovor. »Hauen Sie ab!«

»Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung ja«, sagte ich. »Sehen Sie, Mister Brandon, es ist Ihnen vielleicht nicht klar, aber ich bin hier, um über eine mögliche Entschädigung mit Ihnen zu reden.«

»Entschädigung?« Brandon wiederholte das Wort, als hätte er Mühe, seine Bedeutung zu erfassen.

»Nun ja ... die Sache ist nicht ganz so einfach. Es sieht so aus, als ob die Schäden in Ihrem Feld entweder auf Vandalismus oder durch ein tieffliegendes Flugzeug verursacht worden wären. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Mister Brandon. Ihr Feld ist nicht das erste, das einem Kampfpiloten der Air Force zum Opfer fällt, der glaubt, es mit den Vorschriften nicht so genau nehmen zu müssen. Wir versuchen schon seit einer geraumen Weile, diesen Rowdies das Handwerk zu legen, aber dazu brauchen wir natürlich Beweise.«

»Ich habe kein Flugzeug gesehen«, sagte Brandon.

»Vielleicht hat es nicht wie ein Flugzeug ausgesehen«, antwortete ich. »Es gibt da diese Air-Force-Bases, auf der anderen Seite des Tales. Wir wissen, dass sie dort neue Prototypen testen, aber Sie kennen ja das Militär: ohne stichhaltige Beweise oder einen Gerichtsbeschluss sagen sie Ihnen ja nicht einmal die Uhrzeit.«

Brandon lachte nicht. Ich bezweifelte, dass er den ironischen Unterton in meinen Worten verstanden hatte.

»Sie meinen, Sie ... wollen mir ... Geld zahlen?« fragte er schließlich. Ich war sicher, dass er alle Mühe hatte, die Worte zu formulieren. Er sprach schleppend, und in seinen Augen war etwas, das mich zutiefst erschreckte.

»Ja«, antwortete ich. »Falls wir beweisen können, dass die Air Force dahinter steckt. Wie gesagt, Mister Brandon: Das Landwirtschaftsministerium ist sehr daran interessiert, diesen Rowdies das Handwerk zu legen. Ich bin sicher, dass eine eventuelle Entschädigung entsprechend großzügig ausfallen wird.«

Brandon überlegte. Ich konnte fast sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete; als hätte er Mühe, die Worte, die er sein Leben lang benutzt hatte, in die richtige Reihenfolge zu bringen.

»Also gut«, sagte er. »Wir nehmen meinen Truck.«

»Ich bin mit dem Wagen da, Mister Brandon«, sagte ich.

Brandon hörte mir gar nicht zu. Mit einer unsicheren Bewegung schlug er die Motorhaube zu, schlurfte um den Wagen herum und öffnete die Tür auf der Fahrerseite.

»Also gut«, erklärte ich Walts Tonband. »Dann fahren wir jetzt mit Ihrem Wagen hinaus auf das Feld, um uns die Schäden anzusehen.«

Brandon reagierte auch jetzt nicht, sondern nahm umständlich hinter dem Steuer Platz, zog den Schlüssel aus der Tasche und starrte ihn eine geschlagene Sekunde lang an, ehe er ihn ins Zündschloss steckte. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geschworen, dass dieser Mann in seinem ganzen Leben noch nicht hinter dem Steuer eines Wagens gesessen hatte.

Der Motor sprang zu meinem Erstaunen auf Anhieb an. Er klang ungesund, und als sich der Wagen in Bewegung setzte, schaukelte er wild hin und her. Offensichtlich hatten die Reifen viel zu wenig Luft. Aber wir fuhren, und nachdem der Truck erst einmal rollte, schienen sich Brandons Hände und Füße ganz von selbst daran zu erinnern, was sie zu tun hatten. Als wir den Hof verließen, rammte Brandon einen Zaunpfahl und riss ihn um; anscheinend, ohne es auch nur zu bemerken.

Die Strecke bis zu den geheimnisvollen Kreisen im Feld betrug knappe fünf Meilen. Uns blieben noch etwa anderthalb Stunden Tageslicht, obwohl Brandon alles andere als schnell fuhr, würde mir Zeit genug bleiben, die unheimlichen Kornkreise zu inspizieren.

Aber deshalb war ich nicht hier. Ich war im Gegenteil sicher, dass Bachs Leute das bereits erledigt hatten, gründlicher und besser, als ich es jetzt konnte. Ich war hier, um Informationen von Mister Brandon zu erhalten, und wahrscheinlich saß Bach jetzt bereits im Wagen, hatte den Kopfhörer aufgesetzt und brodelte innerlich vor Wut, weil ich bisher rein gar nichts herausbekommen hatte.

Dabei blieb es auch. Ich versuchte fünf- oder sechsmal, ein Gespräch in Gang zu bringen, doch es war zwecklos. Brandon reagierte entweder überhaupt nicht oder nur mit einem verständnislosen Grunzen, bis ich schließlich begriff, dass er seine gesamte Konzentration brauchte, um den Wagen zu fahren. Oder sich an den Weg zu erinnern.

Ich blieb äußerlich ruhig, erwähnte jedoch von Zeit zu Zeit im Plauderton, wo wir uns gerade befanden, und warf manchmal einen verstohlenen Blick in den Rückspiegel. Von Bachs Wagen war keine Spur zu sehen. Ich war ein wenig beunruhigt, wenn auch weit davon entfernt, Angst zu verspüren. Trotz der fast unheimlichen Umstände, unter denen ich Brandon begegnet war, glaubte ich mittlerweile nicht mehr, dass von ihm wirklich eine Gefahr ausging.

Nichtsdestoweniger konnte ich ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken, als wir unser Ziel endlich erreichten und Brandon anhielt.

Wir stiegen aus. Brandon blieb beim Wagen zurück, während ich mich zögernd der Stelle näherte, an der die Verbindungslinie zwischen den beiden Kreisen die Straße kreuzte.

Aus dem Helikopter heraus hatte ich angenommen, dass die Markierung aus ausgerissenen Ähren und Halmen bestünde, aber das stimmte nicht. Auf dem rissigen Asphalt lag eine dünne Schicht aus weißer, grobkörniger Asche. Sie musste sehr schwer sein, viel schwerer, als es die Überreste verbrannter Halme sein konnten, denn der Wind hatte sie noch nicht nennenswert verweht, und als ich mit dem Fuß darin herumstocherte, knirschte es, als stünde ich auf fein gemahlenem Glas.

Ich sah zu Brandon zurück. Er war beim Wagen stehen geblieben, und ein schwer zu deutender Ausdruck hatte sich auf seinem Gesicht breit gemacht. Er gefiel mir nicht besonders.

Langsam näherte ich mich dem Straßenrand und damit dem Feld. Das symmetrische Muster, das ich aus dem Hubschrauber heraus gesehen hatte, war hier unten nicht zu erkennen - ich sah nur eine breite, schnurgerade Schneise, die an beiden Seiten der Straße in die Felder hineinführte. Es gab einen Zaun aus Stacheldraht, der aus der Luft heraus nicht zu sehen gewesen war. Auch er war durchbrochen, und als ich mich der Lücke näherte, erblickte ich etwas, das fast noch erstaunlicher war als die Ascheschicht auf der Straße.

Der Zaun war nicht zerrissen. Wo die Schneise ins Feld hineinführte, war der Draht einfach verschwunden. Die gekappten Enden waren brüchig und hatten sich weiß gefärbt; das Metall war zu Schlacke zusammengeschmolzen. Hier mussten gewaltige Temperaturen geherrscht haben. Eigentlich war es ein Wunder, dass nicht das gesamte Feld in Flammen aufgegangen war.

Langsam ging ich weiter, blieb nach ein paar Schritten wieder stehen und tastete mit der Hand über den Boden. Er kam mir wärmer vor, als er sein sollte, aber der Mais war hier nicht verbrannt, nur niedergewalzt.

»Wann haben Sie das zum ersten Mal gesehen, Mister Brandon?« rief ich zu dem Farmer zurück.

Zu meiner Überraschung bekam ich eine Antwort. »Vor einer Woche. Ich komme nicht sehr oft hierher, in dieser Jahreszeit.«

Überrascht sah ich zu ihm zurück. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, aber seine Stimme klang viel kräftiger als bisher und vor allem klarer.

»Ist Ihnen in den letzten Wochen sonst noch irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?« fragte ich. »Vielleicht irgendwelche ... seltsamen Erscheinungen? Lichter am Himmel zum Beispiel?«

»Lichter am Himmel?« Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

Ich ging weiter, bis ich die Mitte des Kornkreises erreicht hatte. Die Halme waren auch hier niedergedrückt, aber auf eine andere Art: nicht einfach wie von der Hand eines Riesen gegen den Boden gepresst, sondern verwirbelt.

»Unglaublich!« murmelte ich. »Es ... es sieht aus, als hätte jemand das Stroh geflochten. Das müsst ihr euch ansehen, sobald wir fort sind.«

Ich ließ mich in die Hocke sinken, fuhr mit der Hand über das niedergedrückte Stroh - und stutzte.

»Da ist etwas«, sagte ich. »Ich habe irgendetwas gefunden. Etwas Hartes, das - mein Gott!«

Die beiden letzten Worte hatte ich nur noch geflüstert. Was unter dem niedergewalzten Mais zum Vorschein kam, war eine dreieckige, schimmernde Platte, auf deren Oberfläche das gleiche Symbol eingraviert war, das jemand in größerer Ausführung in das Feld gestanzt hatte. Ich versuchte die Platte anzuheben, aber es gelang mir nicht.

»Eine Platte«, sagte ich. »Sie sieht aus, als wäre sie aus purem Gold. Und es ist ein Symbol darauf, das ...«

Ich hörte, wie auf der Straße hinter mir ein Motor gestartet wurde, und sah überrascht hoch. Branden war wieder in den Wagen gestiegen und hatte den Motor angelassen. Jetzt stieß er ein paar Meter zurück, legte dann knirschend wieder den ersten Gang ein und fuhr durch die Lücke im Stacheldrahtzaun. Der Wagen schaukelte wild hin und her, wurde aber allmählich schneller.

»Was, zum Teufel ...?« murmelte ich.

Der altersschwache Truck gewann noch mehr an Geschwindigkeit. Das Getriebe knirschte so laut, dass ich in Gedanken die Späne der Zahnräder fliegen sah, und ich konnte hören, wie der Motor schrill aufheulte.

Trotzdem begriff ich die Gefahr beinahe zu spät. Der Wagen schoss regelrecht auf mich zu, aber ich stand einfach wie gelähmt da und starrte ihm entgegen.

Erst im allerletzten Moment warf ich mich zur Seite. Der Truck rauschte so dicht an mir vorbei, dass ich den Luftzug spüren konnte. Ungeschickt (und ziemlich schmerzhaft) stürzte ich zu Boden, rollte mindestens noch zwei, drei Meter weiter und kam endlich halb benommen zur Ruhe. Während ich mich aufrichtete, kam Brandons Truck schlitternd und auf blockierenden Reifen zum Stehen.

Im ersten Moment war ich so schockiert, dass ich nicht einmal Schrecken empfand, geschweige denn Furcht. Alles, was ich empfand, war ... Fassungslosigkeit. Vollkommene, absolute Fassungslosigkeit. Ich war noch nie zuvor im Leben in einer solchen Situation gewesen. Niemand hatte je zuvor versucht, mich umzubringen, nicht einmal Bachs Männer in jener Nacht im Wald. Sie hatten mich gejagt, aber die Gefahr war irgendwie von anderer Qualität gewesen; eine fast allumfassende Furcht, die keinen Platz für klare Gedanken ließ oder gar eine so eindeutig formulierte Erkenntnis wie diese: Brandon versuchte mich umzubringen. Ich war eher empört als erschrocken.

Der Wagen setzte zurück, drehte mit durchdrehenden Reifen nahezu auf der Stelle und bewegte sich rumpelnd wieder auf mich zu. Ich konnte Brandons Gesicht hinter der Windschutzscheibe erkennen. Es wirkte vollkommen ausdruckslos, nicht hassverzerrt oder voller grimmiger Entschlossenheit, und vielleicht war es gerade die Leere in seinem Blick, die mir endgültig klarmachte, in welcher Situation ich mich befand. Brandon würde mich töten. Ich hatte keine Gnade von ihm zu erwarten, weil er mich gar nicht wirklich zur Kenntnis nahm.

Ich sprang auf, rannte verzweifelt los und schlug einen Haken, als Brandon das Lenkrad herumriss. Erneut verlor ich das Gleichgewicht und stürzte, sprang aber diesmal sofort wieder auf die Füße und rannte weiter.

»Walt!« schrie ich. »Bach! Hilfe! Er will mich umbringen!« Brandons Truck beschrieb eine so enge Wende, dass ich einen Moment lang hoffte, er würde sich überschlagen. Natürlich tat er mir den Gefallen nicht. Stattdessen machte er einen regelrechten Satz und schoss so schnell auf mich zu, dass er mich diesmal wirklich fast erwischt hätte: der Kotflügel streifte mein Bein. Ich schrie vor Schmerz und Schrecken auf, wurde zu Boden geschleudert und überschlug mich ein halbes Dutzend Mal.

»Walt!« brüllte ich verzweifelt. »Bach!«

Brandons LKW schleuderte schon wieder herum und pflügte ein neues, weit weniger kunstvolles Muster in das Feld.

Ich sprang hoch, rannte ein paar Meter und blieb wieder stehen. Mein Herz jagte, und ich zitterte am ganzen Leib, und trotzdem ging plötzlich eine erstaunliche Veränderung mit mir vor: Ich zeigte alle körperlichen Anzeichen beginnender Panik, aber in meinen Gedanken machte sich eine schon fast unnatürliche Ruhe breit. Nicht jene Art von Paralyse, die oft mit der Angst einhergeht und einen hilf- und wehrlos zurücklässt, sondern etwas anderes, Neues, das ich mir selbst niemals zugetraut hätte. Ich begriff die Gefahr, in der ich mich befand, durchaus, aber ich begriff auch zugleich, dass ich nur eine einzige Chance hatte, sie zu überleben - indem ich die Nerven behielt. Brandons Lastwagen war plump, nicht besonders wendig und alles andere als schnell, aber wir befanden uns im wahrsten Sinne des Wortes auf freiem Feld; wenn ich mich auf ein Wettrennen mit ihm einließ, würde er mich jagen wie einen Hasen und über kurz oder lang erwischen.

Brandons Wagen schlingerte schon wieder auf mich los. Ich rannte vor ihm davon, deutete eine Bewegung nach links an und warf mich dann mit aller Kraft in die entgegengesetzte Richtung. Wie ich gehofft hatte, riss Brandon das Steuer nach links und fuhr weit an mir vorbei. Unter den Reifen seines Trucks schössen Erdreich und abgerissene Halme in die Höhe, als er auf die Bremse trat, aber ich war bereits wieder auf den Füßen, noch bevor er den Wagen ganz zum Stehen bringen konnte.

»Bach!« schrie ich. »Walt! Verdammt, wo bleibt ihr?!«

Brandon wendete seinen Laster und gab so heftig Gas, dass die Räder auf der Stelle durchdrehten und der altersschwache Motor aufheulte, als wolle er auseinander fliegen. Diesmal lief ich jedoch nicht vor ihm davon, sondern rannte dem Wagen ganz im Gegenteil entgegen und warf mich im letzten Moment zur Seite. Ich entkam ihm auch diesmal mit Leichtigkeit, aber ich machte mir nichts vor: Ich würde dieses Spiel nur noch wenige Minuten durchstehen. Meine Kräfte ließen bereits rapide nach.

Endlich tauchte der gemietete Lincoln am südlichen Ende der Straße auf. Der Wagen raste heran, so schnell es nur ging, aber mir kam es quälend langsam vor; Brandon versuchte noch zweimal, mich plattzuwalzen, ehe der Lincoln endlich auf unserer Höhe war und nahezu im rechten Winkel von der Straße abbog.

Der letzte dieser Versuche wäre beinahe von Erfolg gekrönt gewesen. Ich wich dem Truck mit einem waghalsigen Sprung aus, aber ich hatte meine Kräfte wohl überschätzt. Ich fiel, überschlug mich zwei-, dreimal und als ich wieder hochsprang, verspürte ich einen stechenden Schmerz im Knöchel. Ich konnte stehen, aber nur mit Mühe, und an Rennen war nicht zu denken. Als Brandon das nächste Mal heranschoss, rannte ich nicht mehr vor ihm davon, sondern humpelte.

Irgendwie gelang es mir trotzdem, ihm auszuweichen, doch diesmal war es so knapp, dass ich sein Gesicht hinter der verdreckten Windschutzscheibe erkennen konnte, und was ich darin las, das erschreckte mich zutiefst: Leere.

Es war nicht das Gesicht eines Tobsüchtigen, in das ich blickte. Keine Spur von Raserei oder Mordlust. Brandons Züge waren erschlafft, und in seinen Augen schien kein Leben mehr zu sein. In gewissem Sinne kam er mir selbst wie eine Maschine vor.

Ich entging dem heranrasenden Wagen erneut, aber ich hatte das sichere Gefühl, dass es das letzte Mal gewesen war. Der Schmerz in meinem Bein war schlimmer geworden. Ich konnte kaum noch stehen.

Brandons Wagen wendete schon wieder mit durchdrehenden Reifen, aber ich hatte nicht mehr die Kraft, vor ihm davonzulaufen.

Ich musste es auch nicht. Bach musste gesehen haben, wie es um mich stand; entweder das, oder er war auf seine Art genauso verrückt wie Brandon. Der Lincoln schoss heran, schleuderte fast auf der Stelle herum und kam genau zwischen mir und dem heranrasenden Truck zum Stehen. Einen Moment lang sah es so aus, als würde Brandon einfach weiterfahren und den Wagen rammen, dann aber riss er das Steuer herum und wich dem Hindernis im letzten Moment aus.

Der Lincoln gab Gas, raste in einem engen Bogen herum und setzte sich hinter den Truck. Die beiden hinteren Fenster waren heruntergekurbelt, und Steel und Walt hatten sich herausgebeugt und schossen, was das Zeug hielt. Die meisten Kugeln gingen ins Leere, aber ich sah auch zwei- oder dreimal Funken aus den Kotflügeln des Trucks schlagen; offensichtlich wollten sie Brandon nicht töten, sondern seinen Wagen nur zum Stehen bringen.

Erschöpft ließ ich mich auf die Knie sinken, stützte die Handflächen auf meinen Oberschenkeln auf und musste für Sekunden mit aller Kraft darum kämpfen, nicht vollends nach vorne zu sinken. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorüber war, schlug die Angst mit aller Macht zu. Vielleicht war ich doch nicht so tapfer, wie ich mir selbst eingeredet hatte.

Plötzlich ertönte ein gewaltiges Krachen und Bersten. Erschrocken riss ich die Augen auf und sah, wie Brandons Truck in einer gewaltigen Explosion aus Staub, fliegenden Trümmern und Glassplittern auseinanderbarst; offenbar, nachdem er sich überschlagen hatte. Der Lincoln wich dem Wagen in respektvollem Bogen aus und umkreiste ihn zwei- oder dreimal, wie ein Raubtier, das eine Beute geschlagen hat, aber nicht ganz sicher ist, ob es sich seinem Opfer wirklich gefahrlos nähern kann.

Mit klopfendem Herzen stand ich auf und näherte mich den beiden Wagen, langsam und auf zitternden Knien. Der Lincoln hielt endlich an. Alle vier Türen wurden geöffnet, und Bach und seine drei Begleiter näherten sich dem Truck; vorsichtig und mit gezückten Waffen. Der Staub hatte sich mittlerweile gelegt, und ich konnte erkennen, dass der Kleinlaster wieder auf den Rädern stand. Ein Teil der Ladefläche war weggerissen und das Dach eingedrückt. Die Windschutzscheibe war geborsten und Brandon reglos über dem Steuer zusammengesunken.

Bach näherte sich dem Wagen als erster. Ich sah, wie er die Tür öffnete und blitzschnell einen Schritt zurücktrat. Die Gestalt hinter dem Lenkrad rührte sich nicht. Brandon war bewusstlos oder tot. Seltsamerweise empfand ich nicht einmal Erleichterung. Ich fühlte mich immer noch wie betäubt. Als ich den Wagen erreichte und Steel auf mich zutrat, musste er mich dreimal ansprechen, ehe ich überhaupt reagierte.

»Ist er ...?«

»Tot«, bestätigte Steel. Er sicherte seine Pistole, steckte sie ein und fuhr mit einem Achselzucken fort: »Keine Angst, Kleiner. Der tut dir nichts mehr.«

Ich schluckte die wütende Bemerkung herunter, die mir auf der Zunge lag, und trat dichter an den Wagen heran. Brandon war über dem Steuer zusammengesunken. Er blutete aus einer winzigen Wunde über dem linken Auge, die vermutlich von einem Splitter der zerborstenen Scheibe stammte. Sein Kopf war auf eine so unmögliche Weise verdreht, dass an der Todesursache kein Zweifel bestand. Auf seinem Gesicht und in den weit geöffneten, gebrochenen Augen lag noch immer dieser schreckliche, leere Ausdruck.

»Das war verdammt knapp, wie?« fragte Bach hinter mir. »Was ist passiert? Was haben Sie getan? Normalerweise reagieren sie nicht so aggressiv.«

»Ich habe nichts getan. Ich habe lediglich ...« Ich stockte, drehte mich auf dem Absatz herum und starrte Bach an. »Was soll das heißen: normalerweise reagieren sie nicht so? Wer - sie?«

Bach überging meine Frage; wie immer, wenn ihm irgendetwas unangenehm war. Stattdessen scheuchte er mich mit einer angedeuteten Handbewegung zur Seite und beugte sich in den Wagen, um Brandons Leiche zu untersuchen.

Wütend trat ich ein paar Schritte zurück und funkelte abwechselnd ihn und Steel an. Bach bemerkte es nicht einmal, aber Steel grinste plötzlich so breit, dass ich beinahe Lust verspürte, ihm die Zähne einzuschlagen.

»Was wird hier gespielt?« fragte ich.

Steels Grinsen wurde noch breiter. »Nichts, worüber du dich aufregen müsstest, Kleiner«, sagte er. »Im Gegenteil. Du hast dich verdammt gut gehalten, für das erste Mal. Du hast deine Feuertaufe bestanden.«

»Das erste Mal?« wiederholte ich. »Soll das heißen, ihr habt gewusst, was passieren wird?«

»Natürlich nicht«, sagte Bach, ohne sich zu mir herumzudrehen. »Wir wollten sehen, wie er reagiert. Aber damit hat niemand gerechnet. Ich bringe meine Leute nicht unnötig in Gefahr.«

Was mich zu der Frage brachte, wann er es für nötig hielt, seine Leute in Gefahr zu bringen. Aber das sprach ich vorsichtshalber nicht aus.

»Was ist mit dieser Platte, von der Sie gesprochen haben?« fuhr Bach fort.

Ich drehte mich herum und ließ meinen Blick über das Feld schweifen. Von dem symmetrischen Muster war nichts mehr geblieben. Die beiden Wagen hatten das Maisfeld regelrecht umgepflügt. »Es muss ... irgendwo dort hinten liegen«, sagte ich zögernd.

»Dann suchen Sie es«, antwortete Bach. »Um das hier kümmern wir uns.«


Noch in der gleichen Nacht kehrten wir nach Washington zurück. Wir hatten keine Linienmaschine genommen, sondern waren eine Stunde nach Sonnenuntergang in ein Transportflugzeug der Air Force gestiegen, das uns nach Washington brachte. Vom Airport aus fuhren wir in einem geschlossenen Militärlaster direkt zur unterirdischen Zentrale von Majestic, die wir diesmal allerdings nicht durch die Gerätekammer im Bahnhof betraten.

Wir wurden bereits erwartet. Nach der unvermeidlichen Prozedur am Eingang, von der auch Bach nicht ausgenommen wurde, eskortierte uns ein halbes Dutzend Soldaten durch einen weiteren der scheinbar endlosen Korridore, die das unterirdische Labyrinth von Majestic bildeten. Ich versuchte mit den anderen Schritt zu halten, was mir angesichts meines verknacksten Knöchels nicht ganz leicht fiel. Aber ich beschloss, mir nichts anmerken zu lassen; es hätte sowie nichts genutzt.

Auf halbem Wege kam uns ein grauhaariger, älterer Mann in einem zerknitterten Anzug und mit einem fast ebenso zerknitterten Gesichtsausdruck entgegen. Er trug einen nicht mehr ganz sauberen weißen Kittel über dem linken Arm und fuhr Bach ohne weitere Vorrede und in einem Ton an, für den er mich vermutlich auf der Stelle erschossen hätte. »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«

»Die korrekte Formulierung wäre: wie früh«, antwortete Bach ungerührt. »Guten Morgen, Doktor Hertzog.«

Hertzog maß ihn mit einem kühlen Blick, bedachte Steel, Walt und mich selbst mit noch weniger Interesse und musterte dann die verchromte Bahre mit Brandons Leichnam, den die Soldaten zwischen uns her schoben. »Wer ist das?«

»Ich muss Sie schon wieder korrigieren, Doc«, sagte Bach. »Die Frage lautet: was. Und um genau das herauszufinden, habe ich Sie zu dieser gotteslästerlichen Zeit aus dem Bett holen lassen.«

Hertzog seufzte auf eine ganz bestimmte, beredte Art, die mir sagte, dass die beiden Männer dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten. Außerdem war er der erste Mensch, den ich bei Majestic traf, der eindeutig keine Angst vor Bach zu haben schien.

»Also gut«, sagte er. »Bringt ihn ins Labor.«

Während wir weitergingen und Hertzog umständlich in seinen schmuddeligen Kittel schlüpfte, wandte ich mich in halblautem Ton an Bach. »Brauchen Sie mich noch, Captain?«

»Ich fürchte, ja«, antwortete Bach. »Warum?«

»Ich habe am Flughafen versucht, meine Freundin anzurufen«, antwortete ich. »Sie ist nicht ans Telefon gegangen.«

»Um vier Uhr morgens?« Bach schüttelte den Kopf. »Seien Sie nicht albern, John. Außerdem habe ich Ihnen gesagt, dass ich mich um die Angelegenheit kümmere. Sie sollten ein wenig mehr Vertrauen zu mir haben.«

Ich wollte antworten, fing aber im letzten Moment einen warnenden Blick aus Steels Augen auf und hielt den Mund. Seit meinem ersten Besuch bei Majestic hatte ich Bach nicht wiedergesehen und infolgedessen auch nicht mehr mit ihm gesprochen, aber ich hatte nach dem heutigen Tag den Eindruck gewonnen, dass er normalerweise nicht in einem so vertrauensvollen Ton mit seinen Untergebenen sprach. Vielleicht war es besser, wenn ich den Bogen nicht überspannte.

Die Soldaten blieben hinter uns zurück, als wir das Labor betraten, aber mir fiel etwas auf, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte: Als die Tür hinter uns zufiel, hörte ich, wie ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Wir waren gefangen.


»Legt ihn auf den Tisch«, sagte Hertzog. Walt und Steel hoben Brandons Leichnam auf den verchromten Obduktionstisch und begannen unaufgefordert, ihn auszuziehen, während Hertzog an einen Schrank trat und mit lieblosen Bewegungen die verschiedensten Operationsinstrumente in eine verchromte Schale warf. »Na, dann wollen wir mal.« Hertzog trat an den Tisch heran, musterte Brandon mit einem kurzen, aber sehr professionellen Blick und wandte sich dann an Bach.

»Woran ist er gestorben?«

»Ein Unfall«, antwortete Bach. »Er hat sich das Genick gebrochen.«

»Ja, das dachte ich mir«, sagte Hertzog säuerlich. »Es ist ja auch die edelste Pflicht eines Arztes, um vier Uhr nachts aufzustehen, um sich ein bedauernswertes Unfallopfer anzusehen. Ich hoffe, Sie haben noch nicht gefrühstückt.«

Mir blieb ungefähr eine halbe Sekunde, um mich über diesen Satz zu wundern. Dann verstand ich ihn, denn Hertzog setzte die Spitze eines Skalpells an Brandons Schambein an und öffnete seinen Körper mit einem einzigen, sauberen Schnitt.

Was folgte, war eindeutig der unappetitliche Teil. Ich hatte noch niemals zuvor eine Obduktion miterlebt, mir aber natürlich vorgestellt, wie so etwas aussehen mochte.

Allerdings war ich damit meilenweit hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben. Hertzog weidete Brandons Körper regelrecht aus, und es war nicht zu übersehen, dass ihm diese Arbeit zumindest ein gewisses Vergnügen bereitete. Immerhin lenkte mich die grausame Vorstellung so ab, dass ich die Schmerzen in meinem Knöchel kaum noch bemerkte. Dafür versuchte mein Magen mindestens ein halbes Dutzend Mal, in meiner Kehle emporzukriechen, und selbst Steel wurde ein bisschen blass um die Nase herum, auch wenn er sich alle Mühe gab, weiterhin unerschütterlich zu grinsen.

»Also, was hätten wir denn da?« fragte Hertzog. »Ein männlicher Leichnam. Weißer, Kaukasischer Typ. Alter ... etwa fünfzig Jahre. Der Körper befindet sich äußerlich in gutem Zustand, wenn ich auch Anzeichen mangelnder Hygiene feststelle.«

Er schüttelte den Kopf. »Keine sichtbaren Operationsnarben. Keine offensichtlichen Anzeichen schwerer Krankheiten. Kein Krebs. Herz, Lungen, Nieren ...« Er griff wieder nach dem Skalpell, führte zwei rasche Schnitte aus und nahm einen braunroten Fleischlappen aus Brandons Bauchhöhle, bei dessen Anblick mein Magen schon wieder in meiner Speiseröhre emporzukriechen versuchte.

»Die Leber ist ziemlich vergrößert. Ihr Freund scheint gerne einen über den Durst getrunken zu haben. Aber davon abgesehen ... ein ganz normaler Mann.«

»Ganz normale Männer versuchen eigentlich nicht, Wildfremde mit ihren Pick-Ups über den Haufen zu fahren«, sagte Bach.

»Möglich«, antwortete Hertzog. »Aber das scheint mir dann doch eher ein kriminalistisches Problem zu sein, kein medizinisches.«

»Um das herauszufinden, sind wir hier«, sagte Bach. »Öffnen Sie seine Schädeldecke.«

Hertzog blinzelte.

»Vielleicht hatte er einen Gehirnrumor, oder so etwas«, sagte Bach.

»Ganz wie Sie meinen.« Hertzog zuckte eindeutig missbilligend mit den Schultern, nahm aber trotzdem eine kleine, motorbetriebene Knochensäge und brachte mich dazu, meinen Gedanken von gerade zu revidieren: der unangenehme Teil kam erst.

Offenbar erging es nicht nur mir so. Walt würgte, schlug die Hand vor den Mund und stürmte zur Tür. Er musste zwei-, dreimal mit der flachen Hand dagegenschlagen, ehe sie von außen geöffnet wurde; und auch dann erst, nachdem Bach mit erhobener Stimme sein Okay gegeben hatte.

Steel grinste schadenfroh, vor allem, als auch ich mich herumdrehte und einen Schritt in Richtung Tür machte. »Macht dein Magen nicht mit?« fragte er.

»Lassen Sie ihn, Lieutenant«, sagte Bach streng. »Sie können draußen warten, John. Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.«

Ich nickte dankbar. Hinter mir heulte Hertzogs Knochensäge schriller auf, und plötzlich hatte auch ich es eilig, den Raum zu verlassen. Normalerweise bin ich nicht besonders empfindlich, aber ich war der Meinung, dass ich mir für einen Tag hinlänglich genug selbst bewiesen hatte, wie tapfer ich doch war.

Walt stand auf der anderen Seite des Ganges und versuchte mit zitternden Fingern, sich eine Zigarette anzuzünden. Er war sehr blass.

»Alles in Ordnung?« fragte ich.

»Sicher.« Walt nahm die zweite Hand zu Hilfe, um das Feuerzeug ruhig zu halten, und sog gierig an seiner Zigarette. »Mir geht es großartig. Warum?«

Das Kreischen der Knochensäge drang selbst durch die geschlossene Labortür. Ich sparte mir eine Antwort, und schluckte ein paarmal, um die bittere Galle loszuwerden, die sich unter meiner Zunge angesammelt hatte.

»Kommt so etwas öfter vor?« fragte ich.

»Obduktionen?«

»So etwas wie gestern Abend«, antwortete ich.

Walt schüttelte den Kopf, sog nervös an seiner Zigarette und nickte praktisch gleichzeitig. »Nicht so«, sagte er. »Wir haben ein paar ... getroffen. Aber sie haben nie versucht, jemanden umzubringen.«

»Sie?«

Walt sah hoch, blickte einen Moment lang mich und einen etwas längeren Moment die Tür zum Labor an und sagte dann halblaut: »Frag ihn.«

Da war ein Ton von Verbitterung in seiner Stimme, der mir nicht gefiel. Dass Bach Geheimnisse vor seinen Leuten hatte, überraschte mich nicht. Selbst in einer Organisation, die sich mit weitaus weniger brisanten Themen beschäftigte, wäre das ganz normal gewesen. Aber ich fragte mich, ob Bach vielleicht den schmalen Grat zwischen Geheimnissen und kränkendem Misstrauen kannte.

»Was wolltest du vorhin von ihm?« fragte Walt plötzlich.

»Vorhin?«

»Auf dem Weg hierher.« Walt machte eine Kopfbewegung den Gang hinunter. »Ihr habt geflüstert. Worüber?«

Ich fand, dass ihn das im Grunde nichts anging. Aber Walt war mir irgendwie sympathisch. Obwohl sich die beiden Männer nicht im geringsten ähnelten, erinnerte er mich an Mark. »Ich wollte Kim anrufen, aber der große Meister erlaubt es nicht.«

»Mach dir keine Sorgen. Man kann eine Menge über Bach sagen, aber er kümmert sich um seine Leute. Manchmal sogar ein bisschen zu sehr.«

Diese letzte Bemerkung irritierte mich, aber Walt wandte sich mit einer demonstrativen Bewegung um und sog heftig an seiner Zigarette, so dass ich keine entsprechende Frage mehr stellte. Stattdessen drehte ich mich ebenfalls herum und ging ins Labor zurück.

Das Kreischen der Knochensäge hatte aufgehört, aber ich war trotzdem nicht lange genug draußen geblieben, um das Schlimmste zu verpassen. Hertzog hatte einen sauberen Schnitt rings um Brandons Kopf ausgeführt und war gerade dabei, seine Schädeldecke abzuheben wie das obere Drittel einer geöffneten Kokosnuss. Die Gehirnmasse, die darunter zum Vorschein kam, war voller Blut, aber das schien Hertzog nicht zu irritieren; wahrscheinlich war es nur eine Folge des Eingriffes, den er selbst ausgeführt hatte.

»Na, dann wollen wir mal sehen, was wir da haben«, sagte Hertzog in - meiner Meinung nach - völlig unangemessen fröhlichem Tonfall. »Das sieht ja eigentlich ganz normal ...«

Er blinzelte, beugte sich weiter vor und begann mit einem Skalpell in Brandons Gehirn herumzustochern. »Was ist denn das?« murmelte er. »Es - mein Gott!«

Hertzog prallte so überrascht zurück, dass auch Bach einen hastigen Schritt zur Seite tat, um nicht unliebsame Bekanntschaft mit seinem Skalpell zu machen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Steels rechte Hand unter die Jacke glitt.

»Was ist los?« fragte Bach alarmiert.

»Es ... es bewegt sich«, stammelte Hertzog. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. »Sein Gehirn. Etwas darin ... bewegt sich!«

»Vielleicht nur ein ... ein Nervenzucken oder so etwas«, sagte Steel nervös. »So etwas soll es doch geben. Wie bei einem Huhn, das ohne Kopf weiterläuft.«

Bach würdigte ihn nicht einmal eines Blickes. Er drückte mit einer übertrieben ausholenden Bewegung Hertzogs Hand herunter, die immer noch nervös mit dem Skalpell herumfummelte, und wies mit dem anderen Arm auf Brandon.

»Doktor, ist dieser Mann nun tot oder nicht?« fragte er.

Wäre die Situation nicht so grausam gewesen, hätte ich schallend gelacht. Brandon war aufgeschlitzt wie eine Weihnachtsgans, die fürs Stopfen vorbereitet ist. Die Hälfte seiner Organe lag in verschiedenen Schalen und Behältnissen auf dem Tisch, und seine Schädeldecke lag neben seinem Gesicht. Der Mann war so tot, wie es nur ging.

Trotzdem sah Hertzog Bach nur eine Sekunde lang nervös an, dann nahm er sein Stethoskop, horchte Brandons geöffnete Brust ab und leuchtete ihm anschließend mit einer winzigen Taschenlampe in die Pupillen.

»Keine Lebenszeichen«, sagte er. Dann schüttelte er den Kopf. »Trotzdem ... die Leichenstarre hätte längst eintreten müssen. Und der Körper scheint mir ... zu warm.«

»Sein Gehirn, Doktor«, erinnerte Bach.

Hertzog nickte nervös, legte die Taschenlampe mit einer übertrieben pedantischen Bewegung auf den Tisch zurück und ging dann mit langsamen Schritten an Bach und mir vorbei, um sich wieder Brandons geöffnetem Schädel zuzuwenden. Es war offensichtlich, dass er um jeden Preis Zeit gewinnen wollte, und seien es nur ein paar Sekunden.

»Geben Sie mir das Endoskop, Mister ...«

»Loengard«, antwortete ich. »John.«

Hertzog nickte. »John. Der schwarze Schlauch, dort auf dem Schrank.«

Ich reichte ihm das Instrument, ein knapp zwei Fuß langes, kleinfingerdickes Kabel mit einer winzigen, aber sehr starken Lichtquelle an einem Ende und einer Art Okular am anderen. Hertzog schaltete die Lampe ein, presste das linke Auge gegen das Okular und kniff das andere zu, während er den Schlauch vorsichtig in Brandons Schädel hineinschob. Mein Magen begann schon wieder zu revoltieren, aber ich war viel zu aufgeregt, um darauf zu achten. Hertzog wirkte hypernervös, und auch Steel trat unbewusst immer wieder von einem Fuß auf den anderen, aber Bachs Reaktion stimmte mich sehr nachdenklich. Auch er war sehr angespannt, aber zugleich hatte ich auch den Eindruck, dass er nicht besonders überrascht war. Ganz im Gegenteil, schien er ... auf etwas zu warten.

»Nichts«, murmelte Hertzog. »Wahrscheinlich habe ich mich getäuscht. Nur ein geplatztes Blutgefäß, oder ...«

Der Schlauch zuckte. Hertzog schrie auf, ließ das Gerät fallen und prallte mit einem entsetzten Laut zurück, aber das Endoskop fiel nicht zu Boden, sondern zuckte wild weiter hin und her wie eine schwarze, peitschende Schlange. Erst nach endlosen Sekunden hörte die Bewegung auf.

»O mein Gott!« wimmerte Steel. »Was ...«

»Halten Sie den Mund, Steel«, sagte Bach. »Also gut. Ab sofort gilt Alarmstufe eins. Der gesamte Sektor wird abgeriegelt. Gehen Sie hinaus und schaffen Sie die Leute aus dem Korridor, und dann gehen Sie in die Kältekammer und bringen Specimen A3 hierher. Und jetzt schließen Sie die Tür, Lieutenant - von außen!«

Steel hatte es plötzlich sehr eilig, das Labor zu verlassen. Ich hätte eine Menge darum gegeben, mit ihm gehen zu können, aber ich musste Bach nicht einmal ansehen, um die Antwort auf diese Frage zu kennen. Ich hörte, wie die Tür wieder abgeschlossen wurde, dann erklangen draußen auf dem Gang trappelnde, sehr hastige Schritte. Noch nicht einmal eine Minute später drang das dünne Winseln einer Alarmsirene durch die Tür.

»Was bedeutet das?« fragte Hertzog nervös.

Bachs Stimme blieb so unbewegt und kühl, wie sie es die ganze Zeit über gewesen war. »Eine reine Vorsichtsmaßnahme, Doktor.« Er deutete auf Branden. »Bitte.«

Hertzog schluckte. Er glaubte Bach die Geschichte von der reinen Vorsichtsmaßnahme so wenig wie ich, aber noch viel mehr Angst schien ihm das zu machen, was er in Brandons Schädel entdeckt hatte.

»Ich bin doch nicht verrückt!« keuchte er. »Da ist irgendetwas in ihm drin, und ...«

»... und ich möchte, dass Sie es herausholen, Doktor«, unterbrach ihn Bach. »Unbeschädigt.«

Einen Moment lang starrte Hertzog Bach fast trotzig an, sichtbar hin und her gerissen zwischen der Angst vor dem Etwas in Branden und der Furcht vor Bach. Dann drehte er sich mit fest zusammengepressten Lippen herum, trat an einen Schrank und nahm ein verchromtes Instrument heraus, das wie eine zu groß geratene Barbecue-Zange aussah.

Bach gab mir einen Wink mit den Augen, ein paar Schritte zurückzutreten, und griff unter die Jacke. Ich selbst war nicht bewaffnet, aber zum ersten Mal wünschte ich mir, ich hätte eine Waffe - auch wenn es weit und breit nichts zu geben schien, auf das sich zu schießen lohnte.

Hertzog griff mit der Zange in Brandons Schädel. Im ersten Moment geschah nichts, bis auf eine Anzahl schmatzender, widerwärtiger Laute, die zum Großteil wahrscheinlich nur in meiner Einbildung existierten - und plötzlich schoss Brandons rechte Hand blitzartig nach oben und schloss sich um Hertzogs Kehle!

Hertzog keuchte, ließ seine Zange fallen und griff mit beiden Händen nach Brandons Fingern. Er zerrte mit aller Kraft, aber die tödliche Umklammerung lockerte sich nicht.

»John!«

Bach hatte seine Waffe gezogen, feuerte jedoch nicht, sondern war mit einem Satz neben Hertzog und griff ebenfalls mit beiden Händen zu, um den mörderischen Griff zu lockern, und sein Schrei riss auch mich aus meiner Erstarrung. Obwohl ich vor Entsetzen am liebsten laut aufgeschrien hätte, war ich mit einem Satz am Tisch, griff nach Brandons Handgelenk und zerrte ebenfalls daran. Gleichzeitig blockierte ich mit dem Knie Brandons anderen Arm, der ebenfalls zu zucken begonnen hatte.

Selbst zu dritt gelang es uns kaum, den Griff des Toten zu sprengen. Bach musste Brandons Finger brechen, ehe sie sich von Hertzogs Kehle lösten. Hertzog taumelte würgend zurück, fiel auf die Knie und rang qualvoll hustend um Atem. Brandons Finger hatten tiefe, dunkelrote Abdrücke auf seiner Kehle hinterlassen.

Mir blieb jedoch keine Zeit, ihm irgendwie zu helfen. Brandons Leichnam bewegte sich noch immer. Bach und ich pressten seine Arme mit aller Gewalt gegen den Tisch, aber ich wusste nicht, wie lange wir ihn noch halten konnten. Der auf so furchtbare Weise wieder zum Leben erwachte Körper entwickelte unvorstellbare Kräfte.

»Hertzog!« brüllte Bach. »Holen Sie es raus!«

Der Arzt rang immer noch verzweifelt nach Atem und war mehr bewusstlos als wach, und trotzdem schien er die Gefahr instinktiv zu begreifen. Taumelnd stemmte er sich in die Höhe, griff nach der Zange und packte ein zweites Mal zu. Brandons Bewegungen steigerten sich zu purer Raserei - und hörten dann wie abgeschaltet auf, als Hertzog die Zange mit einem Ruck zurückzog.

Etwas zappelte darin. Ich konnte nicht genau erkennen, was es war; ein faustgroßes, rotbraunes Ding, das nur aus peitschenden Tentakeln und langen, beweglichen Fühlern zu bestehen schien, aber es wehrte sich mit erstaunlicher Kraft.

»Verletzen Sie es nicht!« schrie Bach. Mit einem Satz war er neben Hertzog und half ihm, die immer heftiger zuckende Zange zu halten. Auch ich wollte hinzuspringen, aber Bach schüttelte hastig den Kopf und rief:

»Holen Sie ein Gefäß, John! Irgendetwas mit einem Deckel!«

Ich sah mich wild um, musterte und verwarf binnen einer einzigen Sekunde drei oder vier verschiedene Behältnisse und nahm schließlich einen dickwandigen Glasbehälter mit einem schweren Schraubdeckel zur Hand. Hastig öffnete ich ihn, trug ihn zu Bach und Hertzog hin und hielt instinktiv die Luft an, als Hertzog das Ding in seiner Zange hineinfallen ließ. Blitzartig legte ich den Deckel auf und schraubte ihn zu. Ich hätte es kaum geschafft. Das Ding sprang mit einem so wütenden Satz gegen den Deckel, dass er mir fast aus der Hand geschlagen worden wäre. Das Glas knirschte bedrohlich, hielt dem Wüten des Monsters jedoch stand.

Hastig stellte ich das Glas ab und schob es ein Stück weit von mir weg. Das Ding in seinem Inneren tobte und wütete immer heftiger, und ich glaubte, so etwas wie ein dünnes, sehr hohes Pfeifen zu hören.

Ich konnte das Ding jetzt deutlicher erkennen. Sein Körper war nicht größer als eine Babyfaust, aber die Unzahl von Tentakeln, Fühlern und peitschenden Fäden ließ es weit größer erscheinen. Ich konnte keinerlei Sinnesorgane oder Körperöffnungen erkennen, aber eines spürte ich sofort: Diese Kreatur verströmte den gleichen Odem von Fremdartigkeit und Gefahr, der auch den Leichnam des Alien in Bachs Kühlkammer umgab.

»Was ... ist ... das?« krächzte Hertzog. Er hatte Mühe, zu sprechen. Seine Atemzüge wurden von einem pfeifenden Laut begleitet, und ich fragte mich, woher er überhaupt noch die Kraft nahm, auf den Beinen zu stehen.

Bevor Bach antworten konnte, stellte das Ungeheuer seine Attacken gegen den Deckel ein - und warf sich mit aller Kraft gegen das Glas.

Ein helles Splittern erklang. Ein gezackter Riss erschien in dem fast daumendicken Glas, und ein Schauer winziger Splitter schlitterte über den verchromten Tisch.

»Der Kühlschrank!« Bach hetzte mit zwei, drei gewaltigen Schritten um den Tisch herum, riss die Kühlschranktür auf und fegte den Inhalt eines der Fächer achtlos zu Boden, und im gleichen Moment warf sich das Ungeheuer ein zweites Mal von innen gegen das Glas. Der Riss wurde länger, und diesmal flog ein fast daumengroßes Stück aus dem Glas. Einen dritten Angriff würde der Behälter nicht mehr aushalten.

»John!« schrie Bach.

Ich war wie gelähmt. Ich wollte Bachs Befehl ausführen, aber ich konnte es nicht. Schon die bloße Vorstellung, dass dieses Ding mich berühren könnte, war mehr, als ich ertrug.

Es war Hertzog, der zuerst seine Überraschung überwand. Er taumelte zum Tisch, packte das halb zerbrochene Glas mit beiden Händen und raste damit zum Kühlschrank. Bach warf die Tür zu, und praktisch in der gleichen Sekunde erscholl aus dem Kühlschrank ein lautstarkes Splittern und Bersten, dann prallte etwas mit einem dumpfen Knall gegen die Innenseite der Tür. Bach wich instinktiv einen halben Schritt zurück, und auch ich wäre nicht einmal mehr erstaunt gewesen, hätte das außerirdische Monster den Schrank aufgesprengt.

Natürlich geschah das nicht. Ein zweiter, noch heftigerer Schlag traf die Tür, dann begann ein lang anhaltendes Splitern und Klirren; wahrscheinlich randalierte die winzige Bestie im Inneren des Kühlschrankes und zertrümmerte dabei alles, was ihr in den Weg kam.

»Es ... es kann doch nicht heraus, oder?« fragte Hertzog nervös. »Ich meine, es ... ist nicht so stark, dass es die Tür aufbekommt?«

Bach zögerte einen Sekundenbruchteil zu lange, um sein Kopfschütteln noch wirklich überzeugend wirken zu lassen. »Nein«, sagte er. »Es hört gleich auf. Die Kälte wird es betäuben, keine Sorge.«

Das war im Grunde keine wirkliche Antwort auf Hertzogs Frage, aber der Arzt stellte sie nicht noch einmal, sondern wankte zum Tisch zurück und ließ sich dagegensinken. Dass er Brandons Leichnam dabei fast herunterwarf, bemerkte er nicht einmal. Stöhnend schloss er die Augen, presste die Hände gegen seinen misshandelten Kehlkopf und wankte leicht hin und her.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Doktor?« fragte Bach. Die Sorge in seiner Stimme klang echt. Aber er trat nicht zu Hertzog hin, um ihm zu helfen, sondern behielt weiter den Kühlschrank im Auge. Der Lärm darin hatte nicht aufgehört.

»Nein«, antwortete Hertzog mühsam. »Nichts ist in Ordnung, Sie ...«

»Soll ich einen Arzt rufen?« fragte Bach gelassen.

Hertzog ächzte. »Ich bin der Arzt hier.«

Bach lächelte flüchtig und wandte den Kopf, aber er sah nicht Hertzog an, sondern mich. »John?«

»Ich bin okay«, antwortete ich. Es war eine Lüge. Ich war ganz und gar nicht okay. Nichts war okay, weder ich, noch Bach oder Hertzog, oder gar das Ding dort im Kühlschrank. Und Bach sah mir das natürlich an.

»Sie lügen, John«, sagte er. »Tun Sie das nicht. Ich mag es nicht, wenn man mich anlügt.«

Ich sagte einige Sekunden lang gar nichts, aber dann deutete ich auf den Kühlschrank und fragte: »Dieses ... Ding dort drinnen, Captain.«

»Der Ganglion?«

»Nennt man sie so?«

»Ich nenne sie so«, antwortete Bach. Er zuckte die Achseln. »Ich habe mir die Freiheit genommen, unseren Feinden einen Namen zu geben. Ich fand die Bezeichnung passend.«

»Und besonders originell dazu«, sagte Hertzog.

Bach ignorierte ihn. »Es ist leichter, einen Feind zu bekämpfen, wenn er einen Namen hat«, fuhr er fort.

»Das heißt, es ist nicht das erste Mal, dass Sie so ein ... Ding sehen«, stellte Hertzog fest. Er hatte die Augen wieder geöffnet und massierte mit den Fingerspitzen seinen Kehlkopf. Spätestens Morgen würde er einen gewaltigen Bluterguss haben, dachte ich. Es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte.

»Es ist das erste Mal, dass wir eines lebend erwischen«, antwortete Bach.

Die Tür wurde geöffnet, und Walt, Steel und der dritte Majestic-Agent, der mit uns in Ohio gewesen war, traten ein. Steel trug einen rechteckigen Aluminiumkoffer in beiden Händen, der sehr schwer zu sein schien. Ächzend lud er ihn auf dem Tisch ab, trat einen Schritt zurück und öffnete ihn dann, als Bach ihm einen entsprechenden Wink gab. Weißer Dampf entwich zischend aus dem Deckel, und ich spürte eine Welle intensiver Kälte, obwohl ich mindestens drei oder vier Schritte entfernt stand.

»Nehmen Sie es heraus, Lieutenant«, sagte Bach.

Steel nickte nervös, sah sich einen Moment suchend um und nahm ein Paar schwarzer Gummihandschuhe von einem Regal, das er sorgsam überstreifte. Bach runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Steel beugte sich über den Koffer, griff hinein und zog einen Glasbehälter heraus, der in Grösse und Form dem ähnelte, in den wir den Ganglion gesperrt hatten, aber wesentlich dickwandiger war. Hastig stellte er ihn auf den Tisch, trat zurück und riss sich die Handschuhe herunter. Er sagte nichts, aber sein Gesicht zuckte. Normale Gummihandschuhe waren offensichtlich kein hinlänglicher Schutz gegen die enorme Kälte, die das Glas ausstrahlte.

Niemand von uns sprach ein Wort, während wir darauf warteten, dass sich die dünne Reifschicht auflöste und das Glas durchsichtig wurde. Es dauerte lange; mehrere Minuten. Aber ich wusste schon lange vorher, was wir sehen würden. Ich konnte es spüren. Trotzdem begann mein Herz schneller zu schlagen, als ich den toten Ganglion sah, der in einer gelblichen Konservierungsflüssigkeit im Inneren des Glases schwamm.

Das Geschöpf war wesentlich größer als das, das wir in den Kühlschrank gesperrt hatten, und sah auch nicht ganz genauso aus. Auf eine schwer in Worte zu fassende Art wirkte es noch fremdartiger.

»Woher haben Sie das?« fragte Hertzog.

»Roswell«, antwortete Bach. »Es stammt aus einem der toten Grauen, die wir in dem Wrack gefunden haben.«

»Das ist fünfzehn Jahre her!« sagte Hertzog. »Warum hat mir niemand etwas davon gesagt? Wieso wusste ich nichts davon?«

»Weil Sie es nicht zu wissen brauchten«, antwortete Bach.

»Fantastisch!« sagte Hertzog wütend. »Ihre Geheimniskrämerei hätte mich fast umgebracht!«

»Sie leben ja noch, oder?« erwiderte Bach ruhig. »Außerdem wusste ich nicht, was passieren würde. Ich hatte keine Ahnung, dass sie ...« Er warf einen kurzen Blick auf Brandons Leichnam. »... Tote aufwecken können.«

Steel und Walt tauschten einen erstaunten Blick, aber Bach machte wie üblich keinerlei Anstalten, seine Worte zu erklären. »Wir wissen so wenig über sie«, murmelte er kopfschüttelnd. »Und sie wahrscheinlich so viel über uns ...«

»Roswell ...«, murmelte ich. Bach sah mich fragend an, und ich fuhr nach einer Sekunde fort: »Sie ... Sie haben dieses Ding in einem Alien gefunden?«

Bach nickte. Ich las in seinen Augen, dass er wusste, worauf ich hinauswollte. Er selbst stellte sich die gleiche Frage vermutlich schon die ganze Zeit. Vielleicht war es das, was ihm solche Angst machte.

»Und jetzt haben wir eines in einem Menschen gefunden«, fuhr ich fort. »Wie ... wie ist das möglich?«

»Das ist nicht die Frage, John«, sagte Bach leise. »Die Frage ist: Wie viele sind noch da draußen?«

Niemand antwortete. Bach sprach nicht weiter, aber ich konnte das, was er nicht mehr aussprach, deutlich in seinen Augen lesen: Wie viele sind mitten unter uns?


Ich musste keine Müdigkeit heucheln, als ich die Treppe zu unserem Apartment hinaufhumpelte und in meiner Manteltasche nach dem Schlüssel grub. Ich fand ihn nicht auf Anhieb, und nachdem ich ihn endlich herausgezogen hatte, hatte ich Mühe das Schloss zu öffnen. Draußen wurde es allmählich hell; wir hatten noch mehr als zwei Stunden zusammengesessen und diskutiert - natürlich ohne zu irgendeinem Ergebnis zu kommen - und ich war mittlerweile seit fast dreißig Stunden ununterbrochen auf den Beinen. Ich wollte nur noch schlafen. Trotzdem hatte ich einen Umweg von einer guten halben Stunde gemacht, ehe ich nach Hause gegangen war. Ich wollte Kim nicht begegnen. Nicht jetzt. Bach hatte mir noch einmal die Geschichte eingeschärft, die er ihr erzählt hatte - sie war simpel und gerade deshalb überzeugend -, aber ich war nicht sicher, ob ich überzeugend war. Nicht in dem Zustand, in dem ich mich befand. Übermüdung und Nervosität sind nicht unbedingt hilfreich dabei, den Menschen zu belügen, der einem auf der ganzen Welt am meisten bedeutet. Ich war nicht einmal sicher, dass es mir am Abend gelingen würde, wenn Kim zurückkam.

Ich warf die Tür hinter mir zu, schälte mich aus dem Mantel - und blieb überrascht stehen. Die Wohnung war nicht dunkel. Das Radio lief. In der Küche brannte Licht, und Kimberley saß am Tisch, rauchte eine Zigarette und hielt eine Tasse Kaffee in der linken Hand. Sie musste mich gehört haben; schließlich hatte ich mir keine Mühe gegeben, sonderlich leise zu sein. Trotzdem sah sie nicht einmal hoch, als ich die Küche betrat.

»Guten Morgen, Schatz«, sagte ich.

Sie hob nun doch den Blick, lächelte mir müde und nicht sonderlich überzeugend zu und nippte an ihrem Kaffee. Mir fiel auf, dass sie sich ziemlich herausgeputzt hatte: Sie trug ihr bestes Kostüm, war offensichtlich beim Frisör gewesen und hatte sich sorgfältig geschminkt. Was nicht dazu passte, war der übervolle Aschenbecher auf dem Tisch vor ihr, die schlechte Luft im Raum und ihr müder Gesichtsausdruck. Vielleicht war ich nicht der einzige, der in der vergangenen Nacht nicht besonders viel Schlaf bekommen hatte.

»Was ist los?« fragte ich geradeheraus.

Kimberley nahm einen Zug aus ihrer Zigarette, inhalierte tief und starrte auf einen Punkt irgendwo hinter mir. »Ich dachte, das könntest du mir sagen.«

»Ich?« Ich versuchte zu lachen, aber das Geräusch, das ich zu Stande brachte, hörte sich wohl mehr nach dem Gegenteil an. »Es tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe. Aber ich musste ganz überraschend weg - hast du meine Nachricht nicht bekommen?«

»Welche?« fragte Kimberley.

»Die, dass Pratt dich auf eine wichtige Mission geschickt hat, oder die, dass dein Onkel gestorben ist. Nebenbei: herzliches Beileid.«

»Du hast ...«

»Mark hat aus dem Büro angerufen«, fiel mir Kimberley ins Wort. »Um mir sein Beileid auszudrücken.«

»Was hast du ihm gesagt?« entfuhr es mir. Meine Stimme klang erschrockener, als mir recht war.

»Keine Angst«, sagte Kimberley kühl. »Ich habe mitgespielt. Er hat nichts gemerkt. Ich nehme an, das war in deinem Sinne?«

»Bitte, Kim«, sagte ich. »Ich kann dir alles erklären, aber ...«

»... nicht jetzt?« unterbrach sie mich. »Brauchst du noch ein bisschen Zeit, um dir eine überzeugende Geschichte auszudenken?«

»Ich muss mir nichts ausdenken«, antwortete ich. »Ich war in Pratts Auftrag unterwegs. Aber niemand im Büro darf etwas davon wissen. Deshalb die Geschichte von meinem Onkel. Es war Pratts Idee.«

»Wieso?«

Ich versuchte es noch einmal, und diesmal brachte ich tatsächlich ein fast überzeugendes Lächeln zu Stande; oder zumindest so etwas wie ein Grinsen. »Es geht um eine Frau«, sagte ich. »Genauer gesagt, um ein Mädchen. Ich kann nicht darüber sprechen.«

»Ein Mädchen?« Kimberleys Misstrauen war nicht besänftigt, aber ich glaubte doch auch eine Spur von Neugier in ihrem Blick zu erkennen.

»Sie ist minderjährig«, sagte ich. »Nicht viel. Es geht nur um ein paar Monate, aber du weißt, wie die Presse ist. Pratt wäre erledigt, wenn die Sache herauskäme. Also hat er mich gebeten, nach Ohio zu fliegen und die Angelegenheit für ihn zu regeln.«

»Wieso ausgerechnet dich?«

»Vielleicht hat er einen Narren an mir gefressen«, sagte ich scherzhaft. »Aber vielleicht bin ich auch einfach nur unwichtig genug, um kein Interesse zu wecken.«

»Und was hast du getan? Ihr die Füße in Beton eingegossen und sie in einen Fluss geworfen?«

»Das alte Wundermittel«, antwortete ich. »Geld.«

»Und dafür hast du dich hergegeben?«

»Ich hatte keine große Wahl«, sagte ich achselzuckend. »Außerdem könnte ein kleiner Gefallen dann und wann meiner Karriere ganz nützlich sein.«

»War es diese Art von Karriere, die dir damals vorgeschwebt hat, als wir nach Washington gekommen sind?« Kimberley schüttelte traurig den Kopf und drückte ihre Zigarette aus. »Ich möchte nicht, dass du solche Dinge tust, John. Weder für Pratt noch für sonst wen.«

»Ich hatte keine Wahl«, beteuerte ich. »Vielleicht war es ein Fehler, aber Pratt ist niemand, der ein Nein als Antwort akzeptiert. Bitte, lass uns heute Abend darüber reden, Schatz. Ich bin todmüde. Hast du die ganze Nacht auf mich gewartet?«

»Ja.« Sie leerte ihren Kaffee, griff nach der Zigarettenschachtel und legte sie nach einem Blick auf den überquellenden Aschenbecher wieder weg, ohne sich bedient zu haben. »Ich nehme an, du gehst heute nicht ins Büro?«

»Erst am Montag wieder«, antwortete ich. »Ein kleiner Extrabonus von Pratt.« In Wahrheit stammte dieser Bonus von Bach. Es wäre nicht besonders glaubhaft gewesen, wenn ich behauptet hätte, die Beisetzung meines Onkels an einem einzigen Tag abgewickelt zu haben.

»Dann geh und leg dich schlafen.« Kimberley stand auf. »Ich muss jetzt los.«

»Du kommst meinetwegen zu spät ins Büro.«

»Nein«, antwortete Kim. »Ich habe einen Vorstellungstermin.«

»Du ... bewirbst dich um einen neuen Job?« fragte ich überrascht.

Kim ging langsam zur Tür und griff im Vorbeigehen nach ihrer Handtasche. Sie drehte sich nicht zu mir herum, als sie antwortete: »Es ist ein bisschen komplizierter. Ich erzähle dir alles, wenn ich zurück bin.«

Ich hatte selbst nicht damit gerechnet, aber ich schlief nicht nur praktisch auf der Stelle ein, kaum dass Kimberley die Wohnung verlassen hatte, ich schlief auch wie das sprichwörtliche Murmeltier und erwachte erst spät am Nachmittag wieder, ausgeruht und ohne die leiseste Erinnerung an einen Alptraum. Ich hatte fest damit gerechnet, ja, ich spürte sogar für einen kurzen Moment so etwas wie eine absurde Enttäuschung: Immerhin hatte ich in der zurückliegenden Nacht den Beweis für eine so ungeheuerliche Bedrohung erhalten, dass ich ihre wahre Größe bisher vielleicht noch gar nicht begriffen hatte.

Meinem Unterbewusstsein schien das herzlich egal zu sein. Ich hatte nicht nur geschlafen wie ein Baby, ich fühlte mich ausgeglichen und entspannt; fast schon heiter.

Möglicherweise war es ja nur Hysterie. Immerhin erfährt man nicht jeden Tag, dass die Welt, auf der man lebt, seit Jahren aus dem Weltall heraus beobachtet wird; und dass diese Beobachter allem Anschein nach alles andere als freundlich sind ...

Ich hörte ein Geräusch, setzte mich überrascht auf und sah mich um. Ich hatte die Vorhänge nicht zugezogen, aber es war trotzdem dunkel im Zimmer. Ich musste den ganzen Tag verschlafen haben. Kein Wunder, dass ich mich so frisch und ausgeruht fühlte wie schon lange nicht mehr. Vielleicht hatte ich sogar noch länger geschlafen, als mir klar war, denn offensichtlich war Kimberley bereits zurück. Unter der Tür drang ein blassgelber Lichtschimmer hindurch, und ich roch das Aroma von frisch aufgebrühtem Kaffee. Vielleicht war es sogar dieser Geruch gewesen, der mich aufgeweckt hatte.

Ich stand auf, und ohne mehr als nur noch ein leichtes Ziehen im verknacksten Knöchel zu spüren, ging ich zur Tür. Als ich sie öffnete, hörte ich Kimberley irgendwo in der Küche hantieren. Das Licht flackerte. Der blassgelbe Schein kam daher, dass das Wohnzimmer nur von zwei Kerzen erhellt wurde, die auf einem festlich gedeckten Tisch standen; direkt neben unseren beiden einzigen Sektgläsern und einer Flasche, deren Etikett ich bei der blassen Beleuchtung zwar nicht erkennen konnte, von der ich aber irgendwie sicher war, dass sie Champagner enthielt.

Verblüfft musterte ich das Arrangement einen Moment, dann setzte ich meinen Weg fort und ging in die Küche. Kimberley stand am Herd und drehte mir den Rücken zu. Sie war so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie mich gar nicht bemerkte, obwohl ich mir keine besondere Mühe gegeben hatte, besonders leise zu sein, und ich beließ es noch für einen Moment dabei. Kimberley trug eine Schürze und dicke Topflappenhandschuhe, aber auch ihre besten Schuhe, Nylonstrümpfe und ein Kleid, das ich noch nie an ihr gesehen hatte.

»Warum hast du mich nicht geweckt?« fragte ich.

Kimberley fuhr erschrocken zusammen und hätte um ein Haar den Topf fallen gelassen, den sie in den Händen hielt. Hastig setzte sie ihn auf die Herdplatte zurück, drehte sich zu mir herum und sah mich mit einem Ausdruck komisch übertriebenen Entsetzens an.

»Mein Gott, John!« stöhnte sie. »Willst du mich umbringen?«

»Das kommt darauf an«, antwortete ich. »Hast du vielleicht noch die eine oder andere Versicherungspolice, von der ich nichts weiß?« Ich trat einen Schritt in die Küche hinein und blieb wieder stehen. »Haben wir einen Grund zum Feiern?«

»Möglicherweise«, antwortete Kimberley geheimnisvoll. »Aber jetzt verschwinde. Männer haben in der Küche nichts zu suchen. Das Essen ist gleich fertig.«

Ich war viel zu verwirrt, um zu widersprechen, und bevor ich meine Überraschung weit genug überwunden hatte, klingelte das Telefon.

»Gehst du bitte mal ran, Schatz?« bat Kimberley. »Wenn es Marybeth ist, dann sag ihr, dass ich in einer halben Stunde zurückrufe.«

Ich wandte mich ganz automatisch um und ging zum Telefon. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Noch während ich nach dem Hörer griff, hatte ich das Gefühl, dass ich es besser nicht tun sollte.

Vielleicht hätte ich besser darauf gehört. Die Stimme, die aus dem Hörer drang, gehörte weder Marybeth noch einer von Kimberleys anderen Freundinnen, sondern Mark Simonson.

»John?« Mark klang ehrlich überrascht; aber nicht unbedingt auf angenehme Weise. »Aber ich dachte, du bist in ...« Er stockte, schwieg geschlagene fünf Sekunden und fuhr dann in verändertem Tonfall fort: »Schade. Ich hatte wirklich gehofft, dass ich mich irre.«

»Irren? Womit?«

»Du musst völlig verrückt geworden sein«, sagte Mark. »John, was ist in dich gefahren? Pratt läuft allmählich Amok! Ich hätte dich für klüger gehalten. Du bist nicht mehr auf der High School, wo du nach Belieben blaumachen kannst!«

»Würdest du mir verraten, wovon du überhaupt sprichst?« fragte ich.

»Wovon ich spreche?« Mark schrie fast. »Davon, dass ich jetzt mit dir rede, obwohl du doch eigentlich tausend Meilen weit weg sein solltest, um deinen Onkel zu beerdigen!«

»Es ging schneller, als ich dachte«, antwortete ich. Das war vielleicht nicht besonders klug, aber auch das einzige, was mir im Augenblick überhaupt einfiel. Meine Gedanken rasten. Ich stand kurz davor, in Panik auszubrechen. Verdammt, Bach hatte versprochen, die Sache in Ordnung zu bringen!

»Dein Onkel ist nicht gestorben«, sagte Mark. »Du hast gar keinen Onkel in Ohio.«

Ich warf einen raschen Blick in Richtung Küche, ehe ich antwortete. Kimberley war immer noch damit beschäftigt, das Abendessen vorzubereiten. »Wie kommst du darauf?«

»Pratt ist darauf gekommen«, antwortete Mark. »Frag mich bitte nicht, warum, aber er hat deine Geschichte überprüft. Es hat ihn keine fünf Minuten gekostet, um herauszufinden, dass es diesen Onkel in Ohio gar nicht gibt.«

»Pratt?« murmelte ich verblüfft. Natürlich war es für einen Mann wie Pratt kein Problem, meine Geschichte zu überprüfen - aber warum um alles in der Welt sollte er das tun?

»Pratt«, bestätigte Mark. »Ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Pratt spuckt Gift und Galle. Er mag es gar nicht, wenn man ihn belügt. Also wo, zum Teufel, warst du?«

»Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete ich.

»Das solltest du aber«, sagte Mark. »Weißt du, John, ich mag dich. Deshalb rufe ich dich auch an, um dich zu warnen. Du solltest eine verdammt gute Ausrede haben, wenn du am Montag wieder ins Capitol kommst. Andernfalls kannst du dir gleich einen neuen Job suchen.«

»Jetzt übertreibst du«, sagte ich.

Ich konnte Marks Kopfschütteln regelrecht hören.

»Kaum. Ich konnte Pratt gerade noch davon abhalten, höchstpersönlich zu dir nach Hause zu kommen. Also denk dir besser bis Montag eine gute Ausrede aus.«

»Das werde ich«, antwortete ich. »Und ... vielen Dank für die Warnung, Mark.«

Simonson hängte ein, aber ich legte den Hörer nicht auf die Gabel zurück, sondern drückte sie nur kurz herunter, warf noch einmal einen sichernden Blick zur Küchentür hin und wählte dann die Telefonnummer, die Bach mir für Notfälle gegeben hatte. Er hatte mir eingeschärft, sie wirklich nur in Notfällen zu benutzen, aber ich fand, dass diese Voraussetzung im Moment durchaus gegeben war.

Bach meldete sich nach dem fünften oder sechsten Klingeln. Seine Stimme klang müde, aber nicht verschlafen. »Ja?«

»Loengard hier«, antwortete ich mit gesenkter Stimme.

»John. Was ist passiert?«

»Pratt ist passiert«, antwortete ich, wobei ich mir Mühe gab, redlich empört zu klingen, aber trotzdem nicht so laut zu werden, dass Kimberley mich in der Küche hören konnte. »Er hat herausgefunden, dass ich nicht auf der Beerdigung meines Onkels war.«

»Wie konnte das passieren?« fragte Bach. Er klang kein bisschen erschrocken oder alarmiert, sondern einfach nur sachlich; eben ganz wie der Bach, den ich kannte.

»Das frage ich Sie«, antwortete ich. »Sie hatten versprochen, sich darum zu kümmern.«

»Das werde ich«, sagte Bach. »Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Sie haben gut reden!« antwortete ich aufgebracht. »Sie müssen nicht ...«

Bach unterbrach mich. »Ich sagte, ich werde mich darum kümmern, John. Und ich schätze es gar nicht, wenn meine Worte in Zweifel gezogen werden. Sie bleiben Zuhause, wie wir es besprochen haben, und gehen am Montagmorgen ganz normal ins Büro. Um alles andere werde ich mich kümmern. Und jetzt machen Sie sich einen schönen Abend mit Ihrer Freundin. Ich hoffe, sie findet Gefallen an unserem kleinen Geschenk. Und rufen Sie nicht mehr an, wenn es nicht wirklich nötig ist.«

»Ihrem Geschenk?«

Bach antwortete nicht. Er hatte bereits wieder aufgelegt. Einige Sekunden lang starrte ich den Telefonhörer in meiner Hand noch mit einer Mischung aus Zorn und Frustration an, ehe auch ich ihn wieder auf die Gabel legte.

Kimberley kam aus der Küche. Sie balancierte einen Teller mit köstlich duftendem Braten vor sich her, schüttelte aber den Kopf, als ich danach greifen wollte, um ihn ihr abzunehmen.

»Setz dich hin und genieße es einfach, nach Strich und Faden bedient zu werden«, sagte sie. »Es ist vielleicht für eine ganze Weile das letzte Mal. Wer war das gerade am Telefon? Marybeth?«

»Pratt«, antwortete ich kopfschüttelnd. »Er wollte nur wissen, ob alles klargegangen ist. Was soll das heißen: Es ist vielleicht für lange Zeit das letzte Mal?«

Kimberley lachte, lud ihr Tablett auf dem Tisch ab und verschwand schon wieder in der Küche, um den Rest des Abendessens zu holen. Wahrscheinlich ließ sie mich ganz bewusst zappeln. Unter normalen Umständen hätte ich dieses Spiel liebend gerne mitgespielt, aber heute war ich nervös, und so gereizt, dass ich an mich halten musste, um sie nicht anzufahren.

Ich starrte das Telefon an, fuhr mir nervös mit dem Handrücken übers Kinn und zwang mich mit aller Kraft, wenigstens äußerlich ruhig zu bleiben. Was um alles in der Welt hatte Bach mit Geschenk gemeint?

»Also?« fragte ich, als Kimberley zurückkam und ihr Tablett mit aufreizend ruhigen Bewegungen auf dem Tisch ablud.

»Mach die Flasche auf«, sagte Kimberley lächelnd.

Ich schluckte die scharfe Antwort herunter, die mir auf der Zunge lag, und griff stattdessen nach der Flasche. Es war tatsächlich Champagner, und kein billiger, wie ein Blick auf das Etikett bewies.

»Verkraftet unser Haushaltsetat eine solche Ausgabe?« fragte ich.

»Keine Ahnung«, antwortete Kimberley. »Er wird es wohl müssen. Schließlich müssen wir in Zukunft wenigstens halbwegs standesgemäß leben.«

»Standesgemäß?«

»Wir haben einen Grund zum Feiern.« Kim griff nach dem Glas, das ich eingeschenkt hatte. »Du erinnerst dich an gestern Morgen?«

»Dein Vorstellungsgespräch?«

»Ich habe einen neuen Job.« Sie nickte. »Sie dürfen mir gratulieren, Mister Loengard. Seit heute Morgen sind wir sozusagen Kollegen.«

»Mach es nicht so spannend«, sagte ich. »Was ist los?«

Kim wirkte ein bisschen enttäuscht, und ich spürte einen leisen Anflug von schlechtem Gewissen. Vermutlich hatte sie diese Szene genau geplant, sich jedes Wort zurechtgelegt, das sie mir sagen wollte, und nun verdarb ich ihr den Spaß.

»Entschuldige«, sagte ich. »Also - was ist deine große Überraschung? Und wieso bekomme ich in Zukunft nichts mehr zu essen?«

»Von nichts mehr war nicht die Rede«, antwortete Kimberley lächelnd. »Aber vielleicht nicht mehr so oft. Und möglicherweise nicht immer pünktlich. Ich werde in Zukunft viel zu tun haben. Ich habe einen neuen Job!« Sie sah mich erwartungsvoll an, aber ich hatte ein wenig Angst, schon wieder das Falsche zu sagen und schwieg, und so fuhr Kim nach einer Sekunde fort: »Einen äußerst gut bezahlten Job.«

Ich tat ihr den Gefallen. »Und welchen?« fragte ich.

Kimberley zuckte mit den Schultern. »Oh, nichts Besonderes«, sagte sie in beiläufigem Ton. »Ein bisschen Telefonieren, Aktenablage, ein paar Briefe schreiben ... das übliche eben.«

»Beim YMCA?« fragte ich scherzhaft.

»Nein«, antwortete Kimberley. »Im Büro der First Lady.«

Ich starrte sie an. »Wie?«

Kim antwortete eine ganze Weile gar nicht, sondern sah mich nur lächelnd an und weidete sich dabei sichtlich an meinem fassungslosen Gesichtsausdruck. »Du hast richtig verstanden«, sagte sie schließlich. »Ich arbeite ab Montag im Vorzimmer von Jackie Kennedy.«

Ich war immer noch vollkommen fassungslos - allerdings nicht unbedingt aus den Gründen, die Kimberley vermuten mochte. Plötzlich verspürte ich ein eisiges Frösteln, und für eine Sekunde glaubte ich wieder Bachs Stimme zu hören, so deutlich, als stünde er hinter mir und wiederhole seine Worte von gerade noch einmal. Ich hoffe, Sie finden Gefallen an unserem kleinen Geschenk.

»Was ist los?« fragte Kimberley blinzelnd. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Und ich dachte, du freust dich.«

»Aber das tue ich«, sagte ich hastig. »Ich ... ich war nur so überrascht, das ist alles. Wie ... wie bist du denn ...?«

»Das Wohltätigkeitsessen, vorgestern Abend«, antwortete Kimberley aufgeregt. »Du erinnerst dich? Ich habe dir doch erzählt, dass wir hohen Besuch erwarten.«

»Jackie?«

»Die First Lady«, verbesserte mich Kimberley betont. »Mit ihrem ganzen Stab. Sie waren wirklich begeistert von dem Fest - und vor allem von meinem Zwiebelkuchen.«

»Und da hat sie dich vom Fleck weg als Köchin engagiert«, vermutete ich.

Kimberley lachte. »Wir kamen ins Gespräch. Sie ist eine wirklich nette Frau, weißt du? Wir haben über dies oder das gesprochen. Über das College, über dich - da wusste ich noch nicht, dass du neuerdings als Aushilfs-Mafioso für Pratt arbeitest - über mich und meine Arbeit ...«

Sie fuhr fort, so hastig auf mich einzureden, dass die Worte nur so aus ihr heraussprudelten. Wahrscheinlich hatte sie den ganzen Tag über Höllenqualen ausgestanden, mir ihre große Neuigkeit nicht mitteilen zu können. Trotzdem hatte ich Mühe, ihren Worten zu folgen. Ich hoffe, Sie finden Gefallen an unserem Geschenk ...

»Hörst du mir eigentlich zu?« fragte Kimberley plötzlich. Ich schrak ein wenig zusammen. Tatsächlich war ich zwei oder drei Sekunden so abgelenkt gewesen, dass ich nicht mehr gehört hatte, was sie sagte. »Natürlich«, sagte ich hastig. »Entschuldige bitte. Ich war nur so überrascht.«

»Na, und ich erst«, sagte Kimberley aufgeregt. »Ich habe es im ersten Moment gar nicht geglaubt, als der Anruf kam.«

»Welcher Anruf?«

»Aus ihrem Büro«, antwortete Kim. »Ein unglaublicher Zufall. Eine ihrer Sekretärinnen hat ganz plötzlich gekündigt, stell dir vor! Von einem Moment auf den anderen. Und da hat sie sich wohl an unser Gespräch erinnert und mich einfach fragen lassen, ob ich an dem Job interessiert wäre.«

»Du hast natürlich abgelehnt«, sagte ich.

»Natürlich«, antwortete Kimberley ernst. »Aber sie hat so gebettelt, dass mir fast das Herz gebrochen wäre. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen.«

»Jackie Kennedy vor dir auf den Knien ...«

»... und in Tränen aufgelöst«, fügte sie nickend hinzu. »Es ist mir zwar schwer gefallen, aber schließlich habe ich nachgegeben.«

Sie beherrschte sich noch eine knappe Sekunde, aber dann prustete sie vor Lachen heraus, und auch ich sprang auf, lachte, so laut ich konnte, und schloss sie in die Arme. Ich freute mich so sehr für sie, dass es mir kaum möglich war, das Gefühl in Worte zu fassen.

Und trotzdem. In meinen Gedanken blieb etwas wie ein schlechter Nachgeschmack zurück. Ich hoffe, Sie finden Gefallen an unserem kleinen Geschenk. Plötzlich hatte ich wieder Angst vor Bach. Wozu um alles in der Welt war dieser Mann noch fähig?

Und plötzlich hatte ich das Gefühl, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben.

Damals wusste ich noch nicht, wie Recht ich mit diesem Gedanken hatte.

Aber es sollte nicht mehr lange dauern, bis ich es begriff.


Als ich am Montagmorgen - wie gewohnt pünktlich zehn Minuten vor Dienstbeginn - ins Büro kam, erlebte ich eine Überraschung: Mein Schreibtisch war nicht mehr da. Das hieß: Natürlich war er noch da; er stand, zerschrammt und unansehnlich wie eh und je an seinem Platz. Aber es war nicht mehr mein Schreibtisch. Jemand hatte ihn vollkommen leer geräumt. Sämtliche Schubladen standen auf, und auch das kleine Messingschildchen mit meinem Namen, das ich auf eigene Kosten angeschafft hatte und auf das ich so stolz gewesen war, war verschwunden.

Der Anblick traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte gehofft, dass Bach Wort hielt und mich gegen Pratt in Schutz nahm; ich hatte mir sogar mit einigem Erfolg eingeredet, davon überzeugt zu sein, dass mir nichts passieren konnte - aber tief in mir war ich keineswegs überzeugt davon gewesen. Ich hätte nicht überrascht sein dürfen. Ich wäre es nicht einmal gewesen, hätte ich auf meinem Schreibtisch eine Notiz gefunden, dass ich mich unverzüglich bei Pratt zu melden hätte, oder möglicherweise auch gleich einen Briefumschlag mit meiner Kündigung. Ja, selbst Pratts Anblick, der mit vor der Brust verschränkten Armen an meinem Schreibtisch lehnte und bereits voller Ungeduld darauf wartete, mich vor versammelter Mannschaft in den Boden zu stampfen, hätte mich nicht so getroffen wie dieser leere Schreibtisch. Der Anblick hatte etwas Endgültiges, und was noch schlimmer war, er machte mir klar, wie bedeutungslos ich war. Pratt hatte es nicht nötig, mich zu sich zu zitieren. Er hatte Tatsachen geschaffen.

»John?«

Ich erkannte Marks Stimme, aber irgendwie hatte ich nicht die Kraft, mich zu ihm herumzudrehen, sondern starrte weiter den leer geräumten Schreibtisch an. »Was ... ist passiert?« fragte ich mühsam.

»Das fragst du mich?« Mark trat mit zwei schnellen Schritten an mir vorbei und sah abwechselnd mich und die leer geräumte Tischplatte an. »Verdammt, John, was um alles in der Welt hast du getan?«

Ich konnte immer noch nicht antworten. Ich verstand nicht einmal wirklich, was er meinte. »Ich nehme an, Pratt will mich sprechen«, sagte ich lahm.

Mark nickte. »Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte er. »Verdammt, John, wo bist du gewesen? Was um alles in der Welt hast du angestellt? Pratt schäumt seit drei Tagen vor Wut! Ich habe ihn noch nie so außer sich erlebt. Wo bist du gewesen?«

»Darüber kann ich nicht reden«, antwortete ich lahm.

»Das wirst du aber müssen«, erwiderte Mark. In seinen Augen stand ein Ausdruck ehrlich empfundener Sorge. Wäre die Situation auch nur eine Winzigkeit anders gewesen, hätte ich sicher Dankbarkeit empfunden. Aber alles, was ich spürte, war Verwirrung.

»Weißt du, wohin sie meine persönlichen Sachen gebracht haben?« fragte ich.

»Da, wo auch alles andere ist.«

»In einem Pappkarton im Keller? Oder hat Pratt gleich alles verbrannt?«

»Das würde er wahrscheinlich liebend gerne tun«, sagte Mark. Er wirkte ein bisschen verwirrt, und er sah mich auf eine fragende Art an, die ich nicht verstand. »Ich soll ihm Bescheid sagen, sobald du da bist. Komm.«

Er wedelte aufgeregt mit beiden Händen, ihm zu folgen, und ich gehorchte ganz automatisch. Wie in Trance folgte ich ihm, wobei ich mich vergeblich bemühte, die neugierigen, aber auch mitleidigen Blicke zu ignorieren, die mir meine Kollegen zuwarfen. Falsch: nicht meine Kollegen. Meine Ex-Kollegen.

Mark führte mich auf den Gang hinaus, wandte sich aber nicht nach links, in die Richtung, in der Pratts Büro lag, sondern in die entgegengesetzte Richtung. »Wohin gehen wir?« fragte ich. »Ist das Erschießungskommando unten im Hof angetreten?«

Mark schien mit meinem Galgenhumor nicht allzu viel anfangen zu können, denn er antwortete gar nicht, sondern ging im Gegenteil ein wenig schneller. Vor einer geschlossenen Milchglastür am Ende des Korridors blieben wir stehen.

»Was sollen wir hier?« fragte ich.

Mark antwortete immer noch nicht, aber er deutete auf die Tür, und als ich seiner Geste folgte, hatte ich die Antwort.

Nicht, dass ich sie verstanden hätte.

Auf der Tür stand mein Name. Groß, deutlich lesbar und in tiefschwarzen, frisch aufgemalten Buchstaben: John Loengard.

»Ich hole jetzt Pratt«, sagte Mark. »Ich bin in zwei Minuten zurück. Und bis dahin solltest du dir ein paar gute Antworten einfallen lassen.«

Er ging, aber ich bemerkte es kaum. Ich starrte noch immer die Glasscheibe mit meinem Namen an.

Es dauerte fast eine Minute, ehe ich auch nur die Kraft fand, die Tür zu öffnen und hindurchzutreten.

Dahinter lag ein kleines, einfach eingerichtetes Büro, das nur einen einzigen Schreibtisch enthielt. Auf der lederbezogenen Platte stand ein großer Pappkarton mit meinem persönlichen Besitz, und daneben das kleine Messingschildchen, das vergangene Woche noch auf einem anderen Schreibtisch gestanden hatte.

Langsam, als würde mich jeder Schritt gewaltige Anstrengung kosten, trat ich an den Schreibtisch heran, stellte meine Aktentasche darauf ab und sah mich um. Das Büro hatte ein eigenes Fenster, das auf den Garten des Capitols hinausführte.

Mein Büro.

Ich hatte davon geträumt, ein solches Büro zu haben. Vielleicht in fünf, sechs Jahren, realistisch gesehen in zehn. Eines konnte man Bach nicht nachsagen: dass er nicht großzügig gewesen wäre.

»Gefällt es Ihnen?«

Ich drehte mich zu Pratt herum, ohne zu antworten. Er war unter der Tür stehen geblieben und sah mich kalt an. Ich erblickte Mark hinter ihm, der nicht mit hereingekommen war, aber die Ohren gespitzt hatte. Pratt folgte meinem Blick, trat einen Schritt weiter in den Raum hinein und schloss die Tür. »Eigentlich bin ich ja nur gekommen, um Ihnen mein Beileid auszudrücken, John. Aber das wäre unpassend - schließlich ist niemand gestorben, wie wir beide wissen. Und schon gar nicht Ihr Onkel, John ... ich darf doch noch John sagen? Oder legen Sie Wert auf Mister Loengard?«

»Sir?« fragte ich.

Pratt lächelte dünn. »Sir? Sie beschämen mich, John.«

»Sir, vielleicht lassen Sie mich ...«

»Erklären?« unterbrach mich Pratt. Kopfschüttelnd kam er näher, fuhr mit den Fingerspitzen über die Kante meines Schreibtisches und schüttelte erneut den Kopf. »O nein, John, Sie müssen mir nichts erklären. Die Dinge haben sich geändert. Vor zwei Tagen wollte ich Sie noch feuern - ich nehme an, dass Ihr Freund Simonson Ihnen das bereits erzählt hat?«

»Nicht so direkt«, antwortete ich.

»Sie nehmen es mir doch nicht übel, oder?« fragte Pratt. »Ich meine: Wie konnte ich wissen, wer Sie wirklich sind?«

»Sir?« fragte ich erneut. Ich war vollkommen verwirrt. Ich verstand nicht einmal ansatzweise, wovon Pratt überhaupt sprach. Wäre der Aufwand nicht ein wenig zu groß gewesen, dann hätte ich geargwöhnt, dass all das hier nur sorgsam von Pratt inszeniert worden war, um mich zu demütigen. Aber der Namenszug an der Glastür sprach ebenso deutlich dagegen wie die verhaltene Wut, die in Pratts Augen loderte.

Pratt griff in seine Jacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, das er mir wortlos reichte. Hastig faltete ich es auseinander und überflog seinen Inhalt.

Es war die Fotokopie eines Einweisungsbescheides. Pratts Namen war mit Schreibmaschine darauf eingetragen.

»Was ... ist das?« fragte ich verständnislos.

»Lesen Sie«, sagte Pratt. Seine Stimme bebte jetzt leicht. Ich spürte, wie schwer es ihm fiel, sich noch zu beherrschen. Und als ich das Dokument ein zweites Mal und aufmerksamer las, konnte ich ihn durchaus verstehen. Aus dem Papier ging eindeutig hervor, dass Charles Pratt wegen eines nervösen Nervenzusammenbruches in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen und nach sechs Monaten unter Vorbehalt entlassen worden war.

»Das ist ...«

»Eine Fälschung«, unterbrach mich Pratt. »Aber es ist auch echt. Verstehen Sie?«

»Nein«, sagte ich ehrlich.

»Ich war niemals in dieser Klinik«, sagte Pratt. »Weder in dieser noch in irgendeiner anderen. Trotzdem ist dieses Dokument echt. Die Klinik hat eine komplette Akte über mich. Eine fünfjährige Krankengeschichte, ärztliche Befunde, Briefe meiner Familie und Freunde ...« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe es überprüft. Vom Chefarzt hin bis zu den Pflegern und einem Dutzend Patienten können sich alle an mich erinnern. Es hätte überhaupt keinen Sinn, zu leugnen. Meinen Glückwunsch, John.«

»Ich verstehe das nicht, Sir«, sagte ich.

»Drehen Sie das Blatt herum«, sagte Pratt.

Ich tat, was er verlangte. Auf der Rückseite der Fotokopie standen mit Schreibmaschine geschrieben drei Worte:

Loengard ist unberührbar

»Man hat mich wissen lassen, dass dieses Dokument an die Öffentlichkeit gelangen könnte, wenn ich Ihnen zu nahe trete, John«, sagte Pratt. »Sie können sich vorstellen, wie sich das in meinem nächsten Wahlkampf machen würde.«

»Damit habe ich nichts zu tun!« sagte ich.

»Womit?« Pratts Augen wurden schmal. »Mit einer gemeinen Erpressung? Sprechen Sie das Wort ruhig aus, John.«

»Ich wusste nichts davon!«

Pratt verzog die Lippen. »Oh, natürlich nicht«, sagte er. »Sie machen sich doch nicht selbst die Finger schmutzig, wie? Ich nehme an, für so etwas haben Sie Ihre Freunde.«

»Sir, ich ...«

Pratt unterbrach mich mit einer wütenden Handbewegung. »Wer steckt dahinter, John? Was hat das alles zu bedeuten? Wer sind Ihre Freunde, und wer, zum Teufel, sind Sie?«

Ich antwortete nicht sofort, sondern sah ihn einen Moment lang schweigend an und reichte ihm die Kopie zurück. Pratt riss mir das Blatt aus der Hand, knüllte es zu einem Ball zusammen und rammte es regelrecht in seine Jackentasche. »Ich warte.«

»Ich ... kann Ihnen diese Frage nicht beantworten, Sir«, sagte ich. Wie auch? Ich wusste die Antwort ja selbst nicht. »Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich meinem Land diene.«

»Indem Sie mich wie einen dummen Jungen vorführen?« Pratt schnaubte. Dann wurde sein Blick hart. »Ich weiß nicht, wer Ihre so genannten Freunde sind, John. Sie mögen mächtig sein, aber fühlen Sie sich nur nicht zu sicher. Es gibt Kräfte dort draußen, die noch viel mächtiger sind.«

Ich antwortete nicht, obwohl ich deutlich spürte, dass Pratt auf eine Antwort wartete. Einige Sekunden lang starrten wir uns nur an. Irgendwie gelang es mir, seinem Blick standzuhalten, aber es kostete mich alle Kraft, die ich aufbringen konnte. Ich fühlte mich miserabel. Niemand in diesem Büro hatte sich nicht gewünscht, Pratt eines Tages vor seinen Schreibtisch zitieren und genüsslich heruntermachen zu können, und ich machte da keine Ausnahme. Aber nicht so. Ich empfand keinen Triumph, nicht einmal Schadenfreude. Ich fühlte fast so etwas wie ... Scham. Bachs Geschenke waren vielleicht großzügig, aber sie waren nicht von der Art, an der man lange Freude hat.

»Die Sache ist noch nicht vorbei, John«, sagte Pratt schließlich. »Glauben Sie das ja nicht.«

Damit ging er.

Ich blieb hinter dem Schreibtisch stehen und starrte ihm nach, auch, als er die Tür schon längst hinter sich geschlossen hatte. Das ungute Gefühl, das mich während des Gespräches mit Pratt beschlichen hatte, blieb; wie ein schlechter Geschmack, den man einfach nicht von der Zunge bekam, ganz egal, was man auch tat. Es war nicht Pratts Drohung. Pratt wäre nicht Pratt gewesen, wenn er einfach kopflos das Feld geräumt hätte; aber ich fürchtete ihn nicht. Nicht mehr.

Langsam setzte ich mich, streckte die Hand nach dem Messingschildchen mit meinem Namen aus und zog den Arm wieder zurück, ohne die Bewegung zu Ende zu führen. Und plötzlich hatte ich Angst. Ich wusste jetzt, was dieses Büro war. Ich hatte es für eine Belohnung gehalten, aber das stimmte nicht. Es war eine Botschaft. An Pratt, an mich, und an alle anderen, die sie verstehen konnten. Sie lautete: Majestic fürchtet niemanden. Weder einen Kongressabgeordneten aus Idaho, noch seine Regeln. Wir machen die Regeln.


Ich sah Bach drei Tage später wieder. Diesmal erreichte mich seine Einladung auf weitaus weniger verschwörerische Weise als vor meiner Abreise nach Idaho, und wir trafen uns auch nicht am anderen Ende des Landes, sondern nur ein paar hundert Schritte vom Capitol entfernt, allerdings zwanzig oder dreißig Meter unter der Erde: Steel hatte mich angerufen und mir mitgeteilt, dass mich Bach in seinem Büro bei Majestic erwartete.

»Setzten Sie sich, John«, sagte Bach, als ich den winzigen, fast spartanisch eingerichteten Raum betrat. Er sah nicht hoch, sondern blätterte in einer Akte voller eingeschriebener Blätter und Hochglanzfotos. Während ich mich setzte, zündete er sich eine Zigarette an und schob mir die Packung über den Tisch hinweg zu. »Auch eine?«

»Danke.« Ich schüttelte den Kopf. Das Büro hatte zwar eine Klimaanlage, die aber nicht eingeschaltet war. Ich hatte schon Mühe, zu atmen, auch ohne zu rauchen.

»Eine vernünftige Einstellung. Rauchen ist wirklich ungesund. Eine schreckliche Angewohnheit.« Bach hob endlich den Blick von seinen Papieren, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und sah mich zwei oder drei Sekunden lang durchdringend an.

»Wie geht es Ihnen, John?«

»Gut«, antwortete ich. Worauf wollte er hinaus?

»Pratt macht keine Schwierigkeiten?«

»Er ist nicht begeistert, aber ich schätze, er hat die Botschaft verstanden«, antwortete ich. »Sie war ja auch deutlich genug.«

Bach zog erneut an seiner Zigarette. Ich hätte das nicht sagen sollen, das wusste ich. Schließlich sagte er: »Ihre Freundin ist zufrieden mit ihrer neuen Tätigkeit?«

»Ich denke schon«, antwortete ich. »Allerdings sehe ich sie kaum noch. Sie hat eine Menge zu tun.«

»Nun, es gibt ein paar Unterschiede zwischen der Arbeit beim YMCA und der im Vorzimmer der First Lady«, sagte Bach. »Sie wird sich schon daran gewöhnen. Und wahrscheinlich hat sie eine Menge interessanter Dinge zu erzählen, wenn sie abends nach Hause kommt.«

Ich starrte ihn an. »Sir?«

»Sie haben mich schon verstanden, John«, sagte Bach. »Und vergessen Sie den Sir. Jeder hier nennt mich Captain.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie verstanden habe, Captain«, antwortete ich betont. »Sie möchten, dass ich für Sie spioniere?«

»Nein«, antwortete Bach. Er klang nicht verärgert. »Ganz im Gegenteil. Ich möchte nicht, dass Sie auch nur eine einzige Frage stellen, John. Halten Sie einfach nur die Ohren offen. Und von Zeit zu Zeit werden wir uns unterhalten, und ich erfahre so den neusten Klatsch und Tratsch aus dem Weißen Haus. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?«

»Zu viel verlangt? Wofür?«

Bach seufzte. »Sehen Sie, John, das ist einer der Gründe, aus denen ich Sie mag. Sie sind immer für ein offenes Wort, nicht? Also gut, dann reden wir Klartext. Niemand bekommt bei Majestic etwas geschenkt. Sie ebenso wenig wie ich. Ich verlange nichts Unmögliches von Ihnen. Nicht einmal viel. Sie werden mir berichten, was Kimberley erzählt, und dafür halte ich Ihnen Pratt vom Hals. So einfach ist das.«

»Ich weiß nicht, ob mir das gefällt«, sagte ich.

»Das muss es auch nicht«, erwiderte Bach ungerührt. »Tun Sie es einfach.«

Er drückte seine Zigarette aus, schnippte sofort eine neue aus der Packung und schob sie dann wieder zurück, ohne sie anzuzünden. »Wir arbeiten noch nicht sehr lange zusammen, John«, sagte er. »Aber trotzdem kenne ich Sie schon gut genug. Sie sind anders als die meisten, die für mich arbeiten. Sie glauben an das, was Sie tun. Das ist einer der Gründe, aus denen ich Sie mag. Der andere ist, dass Sie ein Gewissen haben.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Captain?« fragte ich.

»Wie gesagt, immer offen und direkt aufs Ziel zu.« Bach schüttelte den Kopf und zündete sich jetzt doch eine Zigarette an. »Aber gut. Im Klartext: Es gibt eine Menge Dinge, die ich an Ihnen schätze. Für mich arbeiten viele Menschen, ganz unterschiedliche Typen - aber nur wenige von ihnen sind wie Sie. Ich brauche gute Leute. Wenn Sie erst einmal verstehen, worum es bei unserer Arbeit wirklich geht, dann werden Sie auch begreifen, wie dringend ich Sie brauche.«

»Ich dachte, das wüsste ich bereits.«

»Sie wissen gar nichts, John«, sagte Bach ruhig. »Sie haben einen Kieselstein gesehen, aber was in Wahrheit da ist, ist ein Berg. Nicht einmal ich weiß, wie groß er wirklich ist. Ich kann Ihre Bedenken verstehen. Sie glauben, dass der Preis für das, was ich Ihnen geschenkt habe, vielleicht zu hoch ist. Und wissen Sie was? Er ist es.«

»Sir?«

»Captain«, verbesserte mich Bach automatisch. »Wir alle müssen Dinge tun, die wir nicht wollen, John. Sie, ich ... alle hier. Es geht nicht darum, was wir wollen, John. Es geht darum, was wir tun müssen. Und es steht nicht zur Debatte, ob es Ihnen oder mir gefällt. Dazu steht zu viel auf dem Spiel.«

»Das weiß ich, Captain«, sagte ich. »Aber ich kann Kim nicht bitten, den Präsidenten auszuspionieren!«

»Weil Sie ein Patriot sind?« Bach lachte. »Kim und Sie werden heiraten, nehme ich an?«

»Irgendwann sicher«, antwortete ich verwirrt, »aber was ...«

»Und Sie möchten Kinder haben?«

»Wir haben noch nicht konkret darüber gesprochen, aber ... sicher. In ein paar Jahren.«

Bach zog an seiner Zigarette, klappte den Aktendeckel vor sich auf und zog drei Schwarzweißfotografien einer fliegenden Untertasse heraus. »Was würden Sie tun, um Ihre Kinder zu beschützen, John? Würden Sie um ihre Leben kämpfen? Würden Sie lügen? Ihre Freunde verraten - vielleicht töten? Antworten Sie ehrlich, John. Wenn das Leben Ihrer eigenen Kinder bedroht wäre, würden Sie dann nicht alles tun, um sie zu beschützen? Und ich meine wirklich alles?«

»Vermutlich schon«, antwortete ich, »aber ...«

»Und warum gestehen Sie mir nicht dasselbe Recht zu, wenn es um das Leben der gesamten Menschheit geht?« unterbrach mich Bach. »Denn darüber reden wir. Um nichts weniger. Diese ... Kreaturen sind nicht hier, um uns einen Freundschaftsbesuch abzustatten, John, das ist es, was Sie endlich begreifen müssen. Sie töten Menschen. Sie entführen Männer, Frauen und Kinder und tun ihnen unaussprechliche Dinge an. Sie sind irgendwo dort oben, John. Sie beobachten uns, wie Ameisen in einem Terrarium, und sie warten auf ihre Chance.«

»Das wissen wir nicht genau, oder?« fragte ich.

»Nein«, gestand Bach. »Aber solange ich keinen Beweis für das Gegenteil habe, gehe ich davon aus, dass es so ist. Dass wir um unsere nackte Existenz kämpfen, John. Ich kann keine Rücksicht auf Ihre Gefühle als Patriot nehmen, oder auf Ihr Gewissen; ebenso wenig wie auf meines. Dafür steht zu viel auf dem Spiel.«

»Sie meinen: Der Zweck heiligt die Mittel? Immer und unter allen Umständen?«

»In diesem Falle, ja«, antwortete Bach ernst. »Ich habe Dinge tun müssen, die mir nicht gefallen. Sie werden vielleicht Dinge tun müssen, die Ihnen nicht gefallen. Vielleicht werde ich Dinge von Ihnen verlangen, für die Sie mich hassen werden. Vielleicht Dinge, für die Sie sich selbst hassen. Aber es muss sein. Wir haben keine Wahl. Sie nicht, ich nicht ... niemand.«

»Und Sie würden Ihr Land verraten?«

»Um es zu retten?« Bach nickte. »Sicher.«

»Ich werde ... darüber nachdenken«, sagte ich.

»Dazu ist es zu spät, John«, sagte Bach.

»Weil Sie mir keine Wahl lassen?«

»Weil Ihnen die Umstände keine Wahl lassen«, verbesserte mich Bach. »Ich verstehe Ihre Gefühle, John. Ich war einmal in der gleichen Situation wie Sie. Irgendwie ... bin ich es noch. Glauben Sie nicht, dass es mir Freude bereitet, Majestic zu leiten. Die meisten Menschen denken, dass es ein erhebendes Gefühl ist, Macht zu haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass es nicht stimmt. Es ist eine Last. Eine unerträgliche Last, John. Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch alleine tragen kann. Manchmal hasse ich mich für das, was ich tue.«

»Warum tun Sie es dann?«

»Ich habe die Grauen nicht gebeten, hierherzukommen«, antwortete Bach. »Keiner von uns tat das. Aber sie sind nun einmal da. Wir führen einen Krieg, John, und es ist ein verdammt ungleicher Kampf, denn wir wissen weder, wer unsere Feinde sind, noch, was sie wollen oder wozu sie wirklich fähig sind. Alles, was ich weiß, ist, dass sie gnadenlos sind. Und dass wir kein Mitleid von ihnen zu erwarten haben.«

»Haben Sie je versucht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen?« fragte ich.

»Sie verstehen immer noch nicht, worum es hier geht«, sagte Bach leise. »Das ist kein Krieg zwischen zwei verfeindeten Staaten. Ich spreche nicht von den Kommunisten oder den Gelben, John! Es geht hier nicht um Politik oder eine andere Weltanschauung! Wenn es zu einem offenen Kampf kommt, dann wird es ein Kampf ohne Gnade sein. Es wird keine Kompromisse geben, keine Friedensverhandlungen; nicht einmal eine Kapitulation. Sie oder wir. So einfach ist das.«

»Woher wissen Sie das?« fragte ich.

Bach machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten. Ich wusste, dass er Recht hatte. Ich hatte die ... Fremdartigkeit der Aliens ebenso deutlich gespürt wie er und jeder andere, der jemals in die Nähe eines Grauen gekommen war, ganz gleich, ob lebend oder tot. So sehr ich Bach auch widersprechen wollte, ich konnte es nicht. Er hatte Recht. Es ging nicht um eine andere Nationalität oder Hautfarbe. Die Grauen waren Produkte einer vollkommen anderen Schöpfung. Vielleicht war kein Platz für sie und uns zusammen auf dieser Welt.

»Denken Sie darüber nach, John«, sagte Bach. »Lassen Sie sich Zeit. Mir ist klar, dass ich die vielleicht schwerste Entscheidung Ihres Lebens von Ihnen verlange, aber ich muss es tun.«

Ich stand auf. Bach drückte seine Zigarette in den Aschenbecher und widmete sich wieder seinem Schnellhefter.

»Captain?«

Bach zögerte einen Moment, ehe er aufsah. »Ja? War noch etwas?«

»Ich ...« Ich suchte eine Sekunde lang nach Worten, schüttelte schließlich den Kopf und sagte nur: »Nein. Entschuldigen Sie. Ich ... werde über alles nachdenken, was Sie gesagt haben.«

»Tun Sie das, John«, sagte Bach. »Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich habe noch eine Menge zu tun.«

Ich ging, aber innerlich verfluchte ich mich für meine Feigheit. Wahrscheinlich hatte Bach Recht gehabt, als er behauptete, dass wir einen Krieg führten, wie ihn diese Welt noch nicht gesehen hatte. Aber ich hatte einfach nicht den Mut gehabt, die Frage zu stellen, die mir die ganze Zeit im Kopf herumgegangen war.

Die Frage, wer diesen Krieg angefangen hatte.


In dem aufgewühlten Zustand, in dem ich mich befand, wagte ich es nicht, nach Hause zu gehen. Ich hätte nicht die Kraft gehabt, ihr in die Augen zu sehen. Bach hatte mich nicht wirklich vor eine Entscheidung gestellt. Die Frage, über die ich nachdenken sollte, hatte er in Wahrheit längst für mich entschieden. Ich hatte die Wahl, aus voller Überzeugung für ihn zu arbeiten oder widerwillig, aber nicht die, sein Angebot auszuschlagen. Aber so lange ich Kimberley nicht gegenübertrat, konnte ich mir wenigstens noch einreden, ich hätte sie.

Statt zum Aufzug zu gehen, schlenderte ich ziellos durch die unterirdischen Gänge von Majestic - jene Teile der Anlage, die ich betreten durfte, heißt das. Obwohl ich nun seit Monaten dabei war und Bachs Vertrauen in einem Maß genoss, das ich mir selbst nicht völlig erklären konnte, waren große Teile des unterirdischen Labyrinthes für mich noch immer tabu; ich wusste weder, wie groß diese Anlage war, noch, was sie alles enthielt. Ich war auch nicht ganz sicher, ob ich es wirklich noch wissen wollte.

Beinahe ohne mein Zutun hatten mich meine Schritte in den Labortrakt gerührt. Ich blieb stehen und wollte mich gerade wieder herumdrehen und gehen, als ich eine bekannte Stimme vernahm.

Sie gehörte Walt. Von allen hier war er vielleicht der Mensch, mit dessen Namen ich den Begriff Freund noch am ehesten verbunden hätte; zumindest war er eindeutig nicht gegen mich, und das war bei Majestic vielleicht schon mehr, als man erwarten konnte. Und im Moment hatte ich das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Also ging ich weiter und öffnete nach kurzem Zögern die Tür, unter der Walts Stimme hervordrang.

Einen Moment später bedauerte ich es fast schon wieder.

Walt war nicht allein. Steel und er saßen an einem kleinen Tisch und spielten Karten. Als sie das Geräusch der Tür hörten, sahen beide auf; Walt lächelte, während Steel auf eine Art die Stirn runzelte, die mir nicht gefiel. Aber streng genommen gefiel mir an Steel überhaupt nichts. Möglicherweise lag das ja daran, dass ich unser erstes Zusammentreffen noch nicht vergessen hatte.

»Hi, John«, begrüßte mich Walt. »Ich wusste gar nicht, dass du Dienst hast.«

»Habe ich auch nicht«, antwortete ich. »Ich war bei Bach.«

»Hat er dir einen Heiratsantrag gemacht?« fragte Steel.

Ich ignorierte ihn, schloss nach einem letzten Zögern die Tür hinter mir und trat ganz an den Tisch heran. »Wer gewinnt?« fragte ich.

Steel deutete mit einer Kopfbewegung auf zwei unterschiedlich große Stapel Streichhölzer, die vor Walt und ihm auf dem Tisch lagen. »Das siehst du doch. Dieser kleine Zocker hat mich fast ausgeplündert. Wenn es so weitergeht, bin ich bald ruiniert.« Er gähnte, dann sah er auf die Armbanduhr und gähnte erneut. »Noch drei Stunden. Großer Gott, diese Schicht nimmt kein Ende!«

»Drei Stunden?«

»Bis ich abgelöst werde«, sagte Steel.

Ich überlegte nur eine Sekunde. Kimberley war jetzt vielleicht schon zu Hause, und wenn nicht, dann würde sie es bald sein. Ich konnte an diesem Abend nicht mit ihr reden. Nicht, bevor ich nicht mit mir selbst ins Reine gekommen war. Wenn ich ihr jetzt in die Augen sehen musste, dann würde ich ihr alles erzählen, wenn sie auch nur eine einzige Frage stellte.

»Warum gehst du nicht nach Hause?« fragte ich. »Ich übernehme den Rest deiner Schicht.«

Steel blinzelte. »Im Ernst?«

»Ich habe nichts vor«, antwortete ich. »Meine Freundin ist noch im Büro, und den Film im Fernsehen kenne ich schon.«

»Du willst dich bei mir einschmeicheln, wie?« fragte Steel. Trotzdem warf er die Karten auf den Tisch und stand auf. »Das wird dir nichts nutzen.«

»Hau schon ab.« Ich wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte, dann nahm ich auf seinem frei gewordenen Stuhl Platz, griff nach seinen Spielkarten und drehte sie herum. Steel hatte einen Royal Flush auf der Hand gehabt.

»Pech für ihn«, sagte ich. »Damit hätte er alle seine Streichhölzer zurückgewinnen können.«

»Glaube ich nicht«, antwortete Walt grinsend. »John ist der miserabelste Pokerspieler, dem ich jemals begegnet bin. Er würde selbst mit fünf Assen noch verlieren.«

Walt begann die Spielkarten einzusammeln und deutete zugleich mit einer Kopfbewegung auf ein kleines Schränkchen neben der Tür, auf dem eine Kaffeemaschine vor sich hinblubberte. »Du hättest mir dasselbe Angebot machen können wie ihm«, sagte er.

»Und die nächsten drei Stunden in Steels Gesellschaft verbringen?« Ich schüttelte heftig den Kopf und stand wieder auf; allerdings nicht, um mir einen Kaffee einzuschenken. Seinem Geruch nach zu urteilen, musste er seit Stunden auf der Warmhalteplatte stehen. Stattdessen trat ich an die große Glasscheibe in der gegenüberliegenden Wand und öffnete die Jalousien, die den Raum dahinter vor neugierigen Blicken abschirmten.

»Was bewacht ihr hier eigentlich?« fragte ich.

Walt lachte. »Ein Mitglied von Steels Familie.«

Das Labor hatte sich seit meinem letzten Besuch verändert. Eine ganze Anzahl neuer, imposant aussehender Geräte waren aufgestellt worden, und unmittelbar hinter der Scheibe stand eine 16-mm-Filmkamera mit einem Weitwinkelobjektiv, die die ganze Szenerie aufnahm. Doktor Hertzog stand mit dem Rücken zur Scheibe über einen massiven Gitterkäfig gebeugt da, in dem sich das befand, was Walt als Steels Familienmitglied bezeichnet hatte: ein kleiner Schimpanse.

»Was tut er da?« fragte ich.

»Frag ihn selbst«, antwortete Walt. »Irgendwelche Experimente. Ich habe ihn gefragt, aber er hat nicht geantwortet. Vielleicht weiht er dich ja in sein großes Geheimnis ein.«

In seiner Stimme war ein Unterton von Bitterkeit, der mich dazu bewog, mich wieder zu ihm herumzudrehen und ihn anzublicken. »Wie meinst du das?«

Bevor Walt antworten konnte, ging die Zwischentür auf, und Hertzog kam herein. Er trug eine kleine Glasphiole mit einer dunkelroten Flüssigkeit in der Hand. Als er mich sah, wirkte er ein bisschen überrascht, lächelte aber. »Loengard! Ich wusste gar nicht, dass Sie heute Nacht hier sind!«

»Bin ich auch nicht«, antwortete ich. »Wenigstens nicht offiziell.«

»Ich verstehe. Sie waren neugierig. Aber ich muss Sie enttäuschen. Es ist noch zu früh, um etwas zu sagen. Ich habe ihm die Probe erst vor zweiunddreißig Stunden injiziert.«

»Die Probe?«

»Hat Ihnen Bach nichts ...« Hertzog schüttelte ärgerlich den Kopf. »Natürlich hat er nicht. Typisch Bach. Wenn es möglich wäre, würde er wahrscheinlich auch noch die genaue Uhrzeit zum Staatsgeheimnis erklären.«

Er schüttelte den Kopf, schloss pedantisch die Tür hinter sich ab und wies auf den Gitterkäfig mit dem Schimpansen. »Wir haben Cheeta hier einige Körperzellen des Ganglions injiziert. Die Ergebnisse sind erstaunlich.«

»Sie haben was?« krächzte ich.

»Eine einmalige Gelegenheit«, sagte Hertzog. Den entsetzten Unterton in meiner Stimme hatte er gar nicht zur Kenntnis genommen. »Wir wissen seit fünfzehn Jahren von diesen Biestern, aber es ist das erste Mal, dass wir ein lebendes Exemplar in die Hände bekommen haben.«

»Soll das heißen, dieses ... Ding lebt noch?« fragte ich schaudernd.

»Es ist ein zähes kleines Miststück«, bestätigte Hertzog. »Beunruhigend zäh, wenn ich ehrlich sein soll. Wir haben ihm einige Dinge angetan, die jedes lebende Wesen auf dieser Welt umgebracht hätten. Aber es lebt noch immer.«

»Und trotzdem experimentieren Sie damit herum?« fragte ich schaudernd. Mein Blick blieb dabei fest auf dem Schimpansen im Käfig gerichtet. Das Tier saß ruhig da und schien meinen Blick zu erwidern; auf eine Art und Weise, die nicht so recht zu einem Tier zu passen schien.

»Gerade deshalb, John«, antwortete Hertzog ernst. »Man muss seinen Gegner kennen, um ihn bekämpfen zu können. Sehen Sie sich diesen Schimpansen an. Irgendetwas ... geschieht mit ihm.«

Der Affe wandte den Kopf und sah nun Hertzog an. Sicher war es nur ein Zufall. Die Glasscheibe, die das Labor vom Vorraum trennte, war absolut schalldicht. Es konnte nur ein Zufall sein.

Hertzog seufzte und hob die Hand mit dem Glasröhrchen. »Ich muss diese Blutprobe untersuchen«, sagte er. »Und danach werde ich mich vielleicht für eine oder zwei Stunden hinlegen, Sie rufen mich, wenn sich irgendetwas dort drinnen tut?«

»Sicher«, antwortete ich.

»Und vergessen Sie nicht, den Film zu wechseln«, fügte Hertzog noch hinzu. »Ich möchte, dass jede Sekunde aufgenommen wird. Wahrscheinlich ist es Verschwendung, aber man weiß nie ...«

Er ging. Walt wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann sagte er: »Das habe ich gemeint.«

»Was?«

»Ich bin seit zwei Jahren dabei«, sagte Walt mürrisch. »Er hat in dieser ganzen Zeit zusammengerechnet nicht so viel mit mir gesprochen wie jetzt gerade mit dir. Was ist so Besonderes an dir, dass alle hier einen Narren an dir gefressen haben?«

»Vielleicht bin ich besonders leicht zu beeinflussen«, antwortete ich. »Oder sie glauben, sie könnten mir ruhig alles anvertrauen, weil ich sowieso nicht begreife, was sie sagen.«

Walt blieb ernst, aber er sagte nichts mehr, sondern stand auf und trat mit langsamen Schritten neben mich. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, als er den Schimpansen ansah, der noch immer reglos in einer Ecke seines Käfigs hockte.

»Armes Vieh«, murmelte er. »Es wird dieses Experiment nicht überleben, oder?«

»Ich schätze nicht«, antwortete ich. Die ehrliche Antwort auf seine Frage wäre gewesen: Ich hoffe nicht. Das Tier tat mir leid, aber ich hatte weder die eisige Kälte in Brandons Augen vergessen, noch das, was während der Obduktion seines Leichnams geschehen war.

»Ich liebe Tiere«, sagte Walt. »Warum tun sie dieser wehrlosen Kreatur so etwas an?«

»Weil sie es sonst einem Menschen antun müssten, und ich schätze, die Auswahl an Freiwilligen ist im Moment nicht besonders groß. Oder möchtest du dich zur Verfügung stellen?«

»Bestimmt nicht.« Walt schüttelte sich. Der Schimpanse in seinem Käfig blickte abwechselnd ihn und mich sehr aufmerksam an, und wieder hatte ich das Gefühl, dass das Tier nicht einfach nur dasaß und uns anstarrte, sondern jedes Wort verstand, das wir sprachen.

»Ob sie dasselbe auch all diesen Leuten angetan haben?« fragte Walt leise. »All diesen Männern und Frauen, die sie entführt haben?«

»Brandon und die Hills?«

»Oh, es waren noch sehr viel mehr«, antwortete Walt. »Alles hat Bach dir noch nicht erzählt, wie? Brandon und die Hills waren längst nicht die einzigen. Selbst wenn wir alle Wichtigtuer und Spinner abziehen, bleiben noch genug übrig, um mir Angst zu machen. Ich frage mich, ob sie alle einen solchen ... Gast haben.«

»Genau das versucht Hertzog herauszufinden«, antwortete ich.

»Es ist trotzdem nicht richtig«, sagte Walt. »Dieses arme Tier kann nichts dafür.«

Der Affe hörte auf, abwechselnd ihn und mich durch die Glasscheibe hindurch anzustarren. Er stand auf, schlurfte zur Tür seines Käfigs und rüttelte daran. Nur einmal, und nicht besonders kräftig. Statt weiter an den Gitterstäben zu rütteln, wie es jeder normale Affe getan hätte, streckte er die Hand durch die Stäbe hindurch und fuhr prüfend mit den Fingern über das Zahlenschloss, das die Tür sicherte.

»Zehn Dollar, dass er die Kombination herausfindet«, sagte Walt. Es sollte ein Scherz sein, aber sein Lachen klang nicht einmal echt genug, um ihn selbst zu überzeugen. Nach ein paar Sekunden drehte er sich mit einem Ruck herum und ging schnell zu seinem Platz zurück.

»Hast du Lust auf eine Partie Karten?«

»Ich fürchte, mir sind die Streichhölzer ausgegangen«, antwortete ich. Ich sah immer noch den Affen an. Die Finger des Schimpansen fuhren fort, über das Zahlenschloss zu streichen, in einer prüfenden, beunruhigend menschlich wirkenden Geste. Eine Sekunde lang dachte ich ernsthaft daran, Hertzog zu benachrichtigen, entschied mich aber dann dagegen. Schließlich ging auch ich zum Tisch zurück und setzte mich.

»Wohin ist eigentlich die Tafel gekommen?« fragte ich.

»Die Symboltafel von Brandons Feld?« Walt hob die Schultern. »Dahin, wo das meiste verschwindet, nehme ich an.« Er machte eine flatternde Handbewegung. »Majestic ist groß. Ich glaube, nicht einmal Bach weiß noch, wo er all seine kleinen Schätze hingelegt hat.«

»Weißt du es?«

Walt machte eine Geste, die alles oder auch gar nichts bedeuten konnte. »Frag Bach. Er mag es nicht, wenn wir zu viel reden.«

»Du magst ihn nicht besonders, wie?«

»Niemand mag Bach«, antwortete Walt ernsthaft. »Nicht einmal Bach selbst. Böse Zungen behaupten, er am allerwenigsten.«

»Warum bist du dann hier?«

»Der Job wird gut bezahlt«, antwortete Walt.

»Blödsinn.«

»Ich war dabei«, sagte Walt nach einer Weile. »In Roswell.«

»Du hast es gesehen?« fragte ich aufgeregt. »Ich meine, nicht nur auf Fotos, sondern wirklich?«

»Ich habe mitgeholfen, das Wrack zu bergen«, bestätigte Walt. »Ich war damals ein junger Air-Force-Soldat. Wir hatten nicht die geringste Ahnung, was wir überhaupt taten - aber ich kann dir versichern, dass es ganz bestimmt kein Wetterballon war, wie die Zeitungen behauptet haben.«

»Aber das ist fünfzehn Jahre her«, sagte ich. »Gerade hast du gesagt, du wärst seit zwei Jahren dabei.«

»Wie gesagt: Ich war ein junger Soldat. Ich habe gehorcht und getan, was man mir gesagt hat, und im übrigen die Klappe gehalten. Aber irgendwann fing ich an, unbequeme Fragen zu stellen.«

»Und da hat Bach dir ein Angebot gemacht ...«

»... das ich nicht ausschlagen konnte.« Walt zog eine Grimasse. »Er hat ziemlich überzeugende Methoden, seinen Willen durchzusetzen. Es gab noch ein, zwei andere aus dem Bergungstrupp von damals, die nicht länger schweigen wollten. Ihnen hat Bach auch ein Angebot gemacht, aber sie haben es abgelehnt.«

»Und?«

»Niemand hat jemals wieder von ihnen gehört.«

Ich starrte ihn an. »Du willst damit sagen ...«

»Ich will gar nichts sagen«, fiel mir Walt ins Wort. »Ich sage nur, dass ich mich entschieden habe, für Majestic zu arbeiten.« Er sah auf die Uhr. »Der Film muss gleich gewechselt werden. Holst du eine neue Rolle aus dem Lager?«

»Sicher.« Ich war enttäuscht, und ich machte keinen Hehl daraus. Walt hatte im Grunde nur ausgesprochen, was ich insgeheim schon lange argwöhnte, aber es war eben etwas ganz anderes, etwas zu vermuten, oder es zu wissen. Aber ich versuchte nicht, ihn weiter zu bedrängen. Vermutlich hatte er ohnehin schon mehr gesagt, als er eigentlich gewollt hatte. Ich verließ das Labor, ging ins Lager und holte eine neue Filmrolle; ein Unternehmen, das weitaus länger dauerte, als ich angenommen hatte. Majestic mochte eine der geheimnisvollsten und fantastischsten Organisationen sein, die es gab, aber selbst hier herrschte die Bürokratie: Ich musste ungefähr ein halbes Dutzend Formulare und Anträge ausfüllen, um eine neue Filmrolle zu bekommen, und es dauerte fast zwanzig Minuten, ehe ich wieder ins Labor zurückkam.

Zu lange für Walt. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, die Füße auf den Tisch gelegt und war eingeschlafen. Ich lächelte, legte die Filmrolle auf den Tisch ...

... und erstarrte mitten in der Bewegung.

»Walt.«

Walt schnarchte lautstark zur Antwort.

»Walt!« rief ich noch einmal. »Verdammt, wach auf!«

Walt öffnete blinzelnd die Augen, nahm die Füße vom Tisch und sah mich mit verschleiertem Blick an. »Was ... oh, ich bin wohl ...«

»Der Affe ist weg«, unterbrach ich ihn.

Walt starrte mich noch eine weitere halbe Sekunde lang völlig verständnislos an, aber dann wachte er schlagartig auf und sprang so hastig in die Höhe, dass sein Stuhl nach hinten flog und umkippte. Mit einem einzigen Satz war er neben mir und starrte die offen stehende Tür des Affenkäfigs an.

»Aber wie ... wie ist das möglich?« stammelte er. »Verdammt noch mal, wie lange habe ich geschlafen?!«

»Keine zehn Minuten«, antwortete ich. »Es sieht so aus, als ob ich dir zehn Dollar schulde.«

Walt fuhr sich nervös mit der Hand über das Gesicht. Wir standen beide vor der geschlossenen Glastür, aber das Licht im Labor war hell genug, um das kleine Zahlenschloss zu erkennen, das neben der Käfigtür lag.

»Hertzog muss vergessen haben, es zuzumachen«, sagte Walt nervös.

Das war eine Möglichkeit. Aber ich glaubte nicht daran.

»Wir müssen ihn wieder einfangen«, fuhr Walt fort. »Er muss noch dort drinnen sein.«

»Das mache ich«, sagte ich rasch. »Geh und sag Hertzog Bescheid.«

Walt zögerte. »Keine Sorge«, sagte ich. »Er kann nicht weit sein. Ich fange ihn ein, bevor du mit Hertzog zurück bist.«

Mein Blick glitt aufmerksam durch den Raum auf der anderen Seite der Glasscheibe. Das Labor war nicht besonders groß, aber so vollgestopft mit Schränken, Tischen und Geräten, dass sich ein ganzes Dutzend Schimpansen darin verstecken konnte. Ich war nicht begeistert von der Vorstellung, jetzt dort hineinzugehen und nach dem Tier zu suchen. Aber alles in mir schrie mir zu, mich zu beeilen, bevor es zu spät war. Zu spät für was? schoss es mir durch den Kopf. Mühsam drängte ich den Gedanken beiseite.

»Verschwinde schon«, herrschte ich Walt an. »Und mach die Tür hinter dir zu.«

Ich wartete, bis er den Raum verlassen und die Tür hinter sich zugezogen hatte, ehe ich das eigentliche Labor betrat. Ich war nervös, aber ich hatte keine Angst. Ganz gleich, was in ihm war, letzten Endes hatte ich es nur mit einem Affen von der Größe eines fünfjährigen Kindes zu tun.

Vorsichtig näherte ich mich dem Käfig, ging in die Hocke und hob das Schloss auf. Es war nicht aufgebrochen, sondern sorgsam geöffnet worden - und ich war verdammt sicher, dass Hertzog nicht vergessen hatte, es zu schließen.

Sein Experiment war wohl erfolgreicher gewesen, als er selbst angenommen hatte. Wie es aussah, schuldete ich Walt einen Zehner.

Der Gedanke jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Zweiunddreißig Stunden! Und er hatte dem Affen nur ein paar Zellen des Ganglions injiziert!

Langsam ließ ich das Zahlenschloss in die Jackentasche gleiten, stand auf ...

... und stürzte haltlos nach vorne, als etwas mit der Wucht eines Hammerschlages zwischen meine Schultern traf!

Irgendwie gelang es mir, meinen Sturz abzufangen, aber ich prellte mir dabei beide Handgelenke, und der Schmerz war so schlimm, dass ich laut aufschrie. Irgendetwas hing auf meinem Rücken. Kleine, aber unglaublich starke Hände hatten sich um meinen Hals geschlossen und versuchten mir die Luft abzuschnüren. Mühsam kam ich auf die Füße, griff mit beiden Händen hinter mich und spürte borstiges Fell.

Ich bekam keine Luft mehr. Der Affe war ungeheuer stark; viel kräftiger, als ich es bei einem Tier dieser Größe jemals für möglich gehalten hätte. Und er kämpfte ganz und gar nicht so, wie ich es von einem Tier erwartete. Statt auf mich einzuschlagen, mir das Gesicht zu zerkratzen oder mich zu beißen, klammerte er sich mit verbissener Wut an mich und drückte weiter auf meine Kehle. Meine Luft wurde allmählich knapp.

Die Vorstellung, vielleicht von einem kleinkindergroßen Schimpansen erwürgt zu werden, war so grotesk, dass ich im ersten Moment nicht einmal Angst verspürte. Ich griff erneut hinter mich, bekam irgendwie den Arm des Affen zu fassen und zerrte mit aller Kraft daran.

Er rührte sich nicht, aber der Druck auf meinem Kehlkopf nahm noch weiter zu. Ich hätte geschrien, hätte ich noch die Luft gehabt, die dazu nötig gewesen wäre. Verzweifelt bäumte ich mich auf, taumelte durch den Raum und prallte gegen ein Regal voller Flaschen und Gläser, die klirrend zerbrachen. Der Affe hing noch immer auf meinem Rücken. Er gab keinen Laut von sich.

Die Atemnot wurde allmählich unerträglich. Meine Lungen brannten wie Feuer, und vor meinen Augen begannen sich schwarze Nebelfetzen zu drehen. Ich stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Hilflos taumelte ich durch das Labor, prallte gegen Schränke und Wände, riss die Kamera und andere Geräte um und zerrte verzweifelt weiter an den Armen des Schimpansen, ohne dass sich der Griff seiner winzigen Hände auch nur um einen Deut lockerte. Das Labor begann vor meinen Augen zu verschwimmen. Alles drehte sich um mich. Meine Lungen schienen explodieren zu wollen, und ich konnte spüren, wie die Kraft aus meinem Körper zu weichen begann. Noch ein paar Sekunden, und es war aus. Ich würde das Bewusstsein verlieren, und irgendetwas sagte mir, dass es der Schimpanse nicht dabei belassen würde. Er würde mich töten. Das Ding in ihm würde mich töten.

Mit letzter Kraft taumelte ich auf den Glasschrank zu, gegen den ich schon einmal geprallt war, drehte mich im letzten Moment herum und warf mich mit aller Gewalt nach hinten. Wieder splitterte Glas. Ich spürte einen brennenden Schmerz in der Schulter, und zum ersten Mal überhaupt gab der Affe einen Laut von sich: einen schrillen, fast menschlich klingenden Schmerzensschrei. Sein Griff lockerte sich. Ich rang keuchend nach Atem, warf mich ein zweites Mal und noch heftiger nach hinten und wurde mit dem erneuten Bersten von Glas und einem noch schrilleren Schmerzensschrei belohnt. Der Griff der Schimpansenhände lockerte sich noch mehr. Mit einer allerletzten, verzweifelten Anstrengung packte ich seinen linken Arm, riss das Tier von meinem Rücken und schleuderte es davon. Der Affe flog quer durch das Labor, prallte gegen die Wand und rutschte hilflos daran hinab. Aus seinem Rücken ragten ein halbes Dutzend scharfkantiger Glasscherben, und sein Fell war dunkel und nass von Blut.

Meine Kräfte versagten endgültig. Hilflos fiel ich zu Boden. Meine Kehle schmerzte unerträglich, und ich hatte immer noch entsetzliche Mühe, zu atmen. Ich verlor nicht das Bewusstsein, aber ich konnte nur noch verschwommen sehen, und ich war nicht in der Lage, mich nennenswert zu bewegen; geschweige denn, aufzustehen.

Der Schimpanse hatte weit weniger Schwierigkeiten. Jeder einzelne des guten Dutzends gläserner Dolche, die sich in seinen Rücken gebohrt hatten, hätte ausreichen müssen, um ihn umzubringen, aber er blieb nur einen Moment lang benommen liegen, ehe er sich wieder aufrichtete und mit pendelnden Armen näher kam. In seinen Augen stand etwas geschrieben, das selbst den Schleier aus beginnender Ohnmacht durchbrach, der sich über mein Bewusstsein legen wollte. Er würde es zu Ende bringen.

Ich versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. Ich bekam noch immer kaum genug Luft, um bei Bewusstsein zu bleiben. Hilflos tastete ich über den Boden, bekam eine gezackte Glasscherbe zu fassen und schloss die Finger darum, obwohl ich mir die Handfläche dabei zerschnitt.

Der Schimpanse blieb stehen. Sein Blick glitt über die Glasscherbe in meiner Hand, dann über mein Gesicht, und dann wieder über meine improvisierte Waffe, als versuche er, meine Chancen einzuschätzen, ihm damit ernsthaften Schaden zuzufügen.

Der Gedanke kam mir selbst beinahe absurd vor. Nach dem, was dieses Tier bereits überstanden hatte, war ich nicht einmal sicher, ob ich ihm mit einem Maschinengewehr ernsthaften Schaden zufügen konnte.

Trotzdem griff er nicht abermals an, sondern zog sich ein kleines Stück weit zurück, sah sich aufmerksam um - und begann dann mit geschickten Bewegungen zur Decke hinaufzuklettern.

Im allerersten Moment begriff ich nicht, was er tat. Aber es wurde mir sehr schnell klar.

Unter der Decke des Labors zog sich ein ganzes Gewirr von Rohrleitungen und Kabeln dahin. Der Schimpanse schwang sich auf eines dieser Rohre, packte ein anderes mit beiden Händen und begann mit der gleichen, unheimlichen Kraft daran zu zerren, die ich gerade am eigenen Leib gespürt hatte.

Das Rohr war gute zwei Zoll dick und mit massiven Schrauben befestigt, aber es hielt dem wütenden Zerren des Schimpansen trotzdem nur wenige Augenblicke stand. Drei, vier kräftige Rucke, und der Affe hielt eine meterlange, eiserne Keule in der Hand.

Ich versuchte erneut aufzustehen und fiel auch diesmal kraftlos zurück. Ich konnte immer noch nicht richtig atmen. Die Todesangst hätte eigentlich meine letzten Kraftreserven mobilisieren müssen, aber sie tat es nicht. Im Gegenteil. Selbst die Glasscherbe in meiner Hand schien plötzlich Zentner zu wiegen.

Der Schimpanse blickte kalt auf mich herab. Sein Gesicht und seine Haltung blieben die eines Tieres, aber in seinen Augen stand eine boshafte, berechnende Intelligenz, die nicht tierisch war. Aber auch nicht menschlich, sondern ... fremd.

Die Augen, die auf mich herabsahen, stammten nicht von dieser Welt. Ihr Blick war so anders, dass ich nicht einmal zu erahnen vermochte, welche Art von Bewusstsein sich dahinter verbarg, doch was ich um so deutlicher spürte, das war der unbändige, gnadenlose Hass, der in diesem Bewusstsein lauerte; ein Hass, der keinen Grund brauchte und durch nichts zu besänftigen war. Und plötzlich wusste ich mit vollkommener Sicherheit, dass Bach in einem Punkt Recht hatte: Diese Geschöpfe und wir würden niemals gemeinsam auf dieser Welt leben können. Sie oder wir. So einfach war das.

Der Schimpanse hob das Metallrohr, als hätte er meine Gedanken gelesen und wolle mir zur Bestätigung zuwinken. Ich sah, wie sich seine Muskeln zum Sprung spannten und versuchte den Punkt abzuschätzen, an dem er aufkommen würde. Ich hatte eine winzige Chance. Meine Glasscherbe war seinem Rohr nicht ebenbürtig, ebenso wenig wie meine Muskelkraft der seinen, aber ich würde nicht kampflos aufgeben.

Die Tür flog auf. Walt stürmte herein, sah mich am Boden liegen und zog in einer instinktiven Bewegung seine Waffe, und der Schimpanse auf den Rohrleitungen unter der Decke drehte sich blitzschnell herum und sprang.

»Walt! Pass auf!«

Meine Warnung kam zu spät. Der Schimpanse landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Aktenschrank neben der Tür und schwang seine Rohrkeule. Walt registrierte die Bewegung im letzten Augenblick und versuchte zurückzuweichen. Er entging dem Hieb nicht, aber das Rohr streifte nur seine Schläfe, statt ihm den Schädel zu zertrümmern. Trotzdem taumelte er zurück, ließ seine Waffe fallen und stürzte benommen zu Boden.

Der Schimpanse sprang mit einem kraftvollen Satz vom Aktenschrank herunter. Aus seinem Rücken lösten sich zwei Glasscherben, und der Blutstrom, der sein Fell tränkte, wurde breiter. Trotzdem verloren seine Bewegungen nichts von ihrer Kraft und Schnelligkeit. Er huschte auf Walt zu, blieb plötzlich wieder stehen und ließ dann das Rohr fallen. Stattdessen hob er Walts Pistole auf.

»Nein«, murmelte ich. »Nicht! Walt! Pass auf!«

Walt war vermutlich bewusstlos oder zu benommen, um meine Worte zu hören, aber der Affe reagierte darauf. Langsam drehte er den Kopf und sah zu mir zurück. In seinen Augen loderte blanker Hass, aber auch fast so etwas wie Triumph - und ein düsteres Versprechen.

Walt regte sich stöhnend. Mit unsicheren Bewegungen stemmte er sich auf die Ellbogen hoch, hob die linke Hand an den Kopf und verzog das Gesicht. Aus einer Platzwunde an seiner Schläfe floss Blut, aber sie sah vermutlich schlimmer aus, als sie war.

»Verschwinde!« rief ich. »Verdammt noch mal, Walt, hau ab! Hol Hilfe!«

Meine Kraft kehrte allmählich zurück. Irgendwie gelang es mir, mich in die Höhe zu stemmen, und auch Walt überwand seine Benommenheit und stand auf. Seine Augen wurden rund vor Staunen, als er die Waffe sah, die der Schimpanse in den Händen hielt.

»Was -?!«

Der Schimpanse hob die Pistole. Sein Blick glitt zwischen Walt und mir hin und her, als überlege er, wer von uns der gefährlichere Gegner war. Dann hob er ganz langsam die Pistole, zielte auf Walt und zog mit dem Daumen den Hahn zurück.

Walt machte einen Schritt nach hinten. Aus dem Ausdruck vollkommenen Unverstehens auf seinem Gesicht wurde Schrecken, dann pures Entsetzen.

»Nein«, keuchte ich. »Nein!«

Der Affe drückte ab. Die Pistole entlud sich mit einem Knall, der in der Enge des Raumes wie ein Kanonenschlag widerhallte und die Fensterscheibe zum Klirren brachte. Walt wurde in die Höhe und zurückgeschleudert, prallte gegen die Tür und sprengte sie auf, während er leblos daran hinunterrutschte. Gleichzeitig wirbelte der Affe mit einer unglaublich schnellen Bewegung herum und legte auf mich an. Er schoss, ohne zu zögern.

Wäre ich nicht noch immer halb benommen gewesen, hätte er mich zweifellos getroffen.

Als er auf Walt abdrückte, hatte ich dazu angesetzt, mich auf ihn zu stürzen. Aber meine Knie waren immer noch weich; ich stolperte, wäre um ein Haar wieder gestürzt und entging durch mein ungeschicktes Taumeln der Kugel, die an mir vorüberpfiff und in die Wand einschlug.

Er kam nicht dazu, noch einmal abzudrücken. Draußen auf dem Flur begann eine Alarmsirene zu heulen, und praktisch im gleichen Moment hörte ich aufgeregte Stimmen und das Geräusch rennender Schritte, die schnell näher kamen. Der Schimpanse verlor schlagartig das Interesse an mir, fuhr herum und war mit einem Satz draußen auf dem Flur. Nicht einmal zwei Sekunden, nachdem er verschwunden war, stürmten zwei bewaffnete Soldaten an der Tür vorbei. Schüsse peitschten.

Hastig kniete ich neben Walt nieder. »Walt! Was ist passiert! Wo hat er dich erwischt, verdammt!«

Walt stöhnte. Draußen auf dem Gang peitschten wieder Schüsse, und dann hörte ich das schmerzerfüllte Kreischen des Affen. Sie hatten ihn erwischt. Gut.

»Er ... hat mich erwischt«, stöhnte Walt. »Dieses verdammte kleine Mistvieh ... hat mich erwischt!«

»Red keinen Unsinn«, antwortete ich. »Du kommst wieder auf die Beine.«

Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Die Kugel hatte Walt dicht unterhalb des Herzens getroffen. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. »Doktor Hertzog!« schrie ich. »Doktor! Schnell!«

Walts Finger krallten sich so fest in meinen Arm, dass mir der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. »Sag ... niemandem ... wie es ... passiert ... ist«, flüsterte er. »Sie sollen nicht ... erfahren, dass ich ... von einem beschissenen ... Affen ... erledigt worden bin.«

»Red keinen Quatsch!« antwortete ich. »Er hat dich nicht erledigt. Der Doc ist in ein paar Sekunden hier.«

Ich sprach bereits mit einem Toten. Walts Blick war weiter auf mich gerichtet, aber in seinen Augen war kein Leben mehr.

»Ich verspreche es, Walt«, sagte ich leise. »Niemand wird es erfahren.«

Behutsam ließ ich seinen leblosen Körper wieder zu Boden gleiten, stand auf und trat auf den Flur hinaus. Walts Mörder hatte sein Opfer nicht lange überlebt. Vier oder fünf Soldaten standen nur wenige Schritte entfernt um den reglosen Körper des Schimpansen herum. Der Geruch von Pulverdampf und Blut lag in der Luft, und unter dem kleinen Körper bildete sich allmählich eine dunkelrote Lache. Trotzdem hielten die Soldaten einen respektvollen Abstand. Einer der Männer berührte den Kadaver vorsichtig mit dem Gewehrlauf und sprang dann hastig einen Schritt zurück, als hätte er Angst, dass das Tier selbst im Tode noch gefährlich sein könnte. Eine Angst, die nicht ganz unberechtigt war.

»Rührt ihn nicht an! Ich brauche den Körper unversehrt!«

Ich blieb stehen und sah zurück. Doktor Hertzog, Bach und ein weiteres halbes Dutzend Soldaten kamen im Sturmschritt herbeigeeilt. Hertzog wedelte aufgeregt mit beiden Armen. »Nicht anfassen!« brüllte er immer wieder.

Ich hatte nicht vor, den Affen anzufassen. Langsam ging ich weiter, blieb dicht vor dem reglosen Kadaver stehen und sah auf ihn herab. In dem zerfetzten Bündel vor mir war kein Leben mehr. Er musste von mindestens vier oder fünf Kugeln getroffen worden sein. Trotzdem.

Ich bückte mich, griff nach Walts Pistole, die in der immer noch größer werdenden Blutlache neben dem Schimpansen lag, und setzte den Lauf auf seinen Hinterkopf.

»Loengard!« brüllte Hertzog. »Sind Sie wahnsinnig! Haltet ihn auf!«

Keiner der Männer in meiner unmittelbaren Nähe rührte sich, als ich das gesamte Magazin in den Schädel des toten Affen hineinfeuerte.

»Loengard! Sie ... Sie Wahnsinniger! Was haben Sie getan?!« Hertzog kam schwer atmend auf uns zu und sah mit einer Mischung aus Entsetzen und Unglauben auf das herab, was von dem Schimpansen übrig geblieben war. »Sie ... Sie Idiot! Ich hätte seinen Körper gebraucht! Wissen Sie überhaupt, was Sie da zerstört haben?!«

Ich ließ die leer geschossene Pistole fallen, richtete mich auf und sah in Bachs Gesicht. Seine Miene war ausdruckslos und versteinert wie immer, aber auch er hielt eine Waffe in der rechten Hand, und sein Atem ging schwer.

»Er hat Walt umgebracht!« sagte ich.

Hertzog blinzelte. »Er hat ... was?«

»Der Affe.« Das Ding in ihm. »Er hat Walt erschossen.«

Hertzog wollte etwas sagen, aber Bach brachte ihn mit einer schnellen Bewegung zum Schweigen. »Sind Sie verletzt?« fragte er.

Ich hob zwar die Hand an meinen schmerzenden Hals, schüttelte aber den Kopf. »Ein Kratzer.«

»Gut«, sagte Bach. »Dann machen Sie sich sauber, und dann gehen Sie nach Hause. Wir reden morgen über alles.«

»Moment!« sagte Hertzog. »Ich muss wissen, was passiert ist! Wie konnte das Tier ...«

»Ich sagte: morgen, Doktor«, unterbrach ihn Bach. Er sah ihn nicht einmal an. »Gehen Sie jetzt nach Hause, John.«


Mitternacht war vorbei. Aus dem Lautsprecher des Plattenspielers plärrten die ersten Takte von Bobby Darrins neuestem Hit »Mack, the Knife«, aber ich hörte es kaum, obwohl die Platte zum fünften oder sechsten Mal lief. Vielleicht auch zum fünfzigsten Mal. Ich wusste es nicht; ebenso wenig, wie ich wusste, wie oft ich die Teile des Puzzlespiels, die vor mir auf dem Tisch lagen, schon durcheinandergemischt und neu sortiert hatte. Ich war in einem Zustand zwischen Betrunkensein und Betäubung, aber es war keine angenehme Betäubung. Ich hatte gewusst, dass der Alkohol mir nicht helfen würde, schon bevor ich die Flasche aus dem Schrank nahm und mir das erste Glas einschenkte. Er machte es nur schlimmer. Meine Hände zitterten sichtbar, und ich vermutete, dass ich schon nicht mehr in der Lage sein würde, ohne Schwierigkeiten zu sprechen.

Allerdings gab es niemanden, mit dem ich hätte reden können. Kim war nicht zu Hause gewesen, als ich das Apartment betrat, und sie war auch nicht gekommen, während ich duschte und mich umzog. Ich hatte mir eingeredet, darüber erleichtert zu sein, denn so musste ich ihr wenigstens nicht erklären, woher der hässliche Kratzer an meinem Hals stammte oder das Blut auf meiner Jacke und meinem Hemd, die nun zusammengerollt ganz unten in der Mülltonne in der Küche lagen. Aber das stimmte nicht. Die Flasche Jack Daniels auf dem Tisch vor mir war halb leer und ich war mehr als halb betrunken, aber jede Sekunde, die verging, machte es schlimmer. Ich hatte Angst vor dem Moment, in dem Kimberley nach Hause kam, und trotzdem wünschte ich mir nichts mehr.

Ich legte das Puzzleteil an seinen Platz. Es passte nicht, so dass ich mit Gewalt nachzuhelfen versuchte. Als Ergebnis bekam es einen hässlichen Knick.

Ein weiteres Opfer, dachte ich. Unwichtig. Nur ein winziges Teil in einem gewaltigen Bild, dessen Schicksal keine Rolle spielte; so, wie auch Walt nur ein unwichtiges Puzzleteil gewesen war. So wie ich. Wir alle waren unwichtig. Austausch- und ersetzbar, ohne dass es irgendjemandem auch nur auffallen würde.

Ich versuchte den Gedanken zu vertreiben, der wohl weniger aus mir selbst als vielmehr aus der halb leeren Flasche neben mir stammte, aber es gelang mir nicht. Dabei war ein Teil meines Bewusstseins durchaus klar genug geblieben, um mich meinen Zustand deutlich analysieren wie verstehen zu lassen. Ich befand mich in der Lage eines Soldaten nach der Schlacht; der zweiten binnen weniger Tage. Aber anders als auf Brandons Feld in Boisy hatten diesmal beide Seiten Verluste davongetragen. Trotz allem, trotz Pratt, trotz Bach und all der erstaunlichen und unglaublichen Dinge, die ich erlebt und gesehen hatte, war der Kampf gegen die außerirdischen Invasoren für mich bisher nichts als ein großes, spannendes Abenteuer gewesen.

Aber das Spiel war vorbei. Walts Blut hatte das Gefühl der Unverwundbarkeit, in dem ich mich tief in mir drinnen noch immer gewähnt hatte, ein für alle Mal zerstört. Aus dem Spiel war tödlicher Ernst geworden.

Ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, aber ich sah nicht einmal auf, sondern griff mit zitternden Händen nach dem Glas und trank einen weiteren Schluck. Ich hatte Kimberleys Rückkehr herbeigesehnt wie nichts anderes auf der Welt, aber plötzlich hatte ich fast panische Angst davor, ihr in die Augen zu sehen.

Ihre Schritte kamen näher. Sie betrat das Wohnzimmer, ging zum Plattenspieler und schaltete ihn aus. Die Stille, die für ein paar Sekunden einkehrte, hatte etwas Erstickendes. »Hallo«, sagte ich leise.

Kim drehte sich herum und sah mich wortlos an. Sie wirkte ... zornig. Auf eine Art, die ich mir nicht erklären konnte. Sie trug noch ihren Mantel, an dessen Revers die in Plastik eingeschweißte Zugangskarte des Weißen Hauses prangte. Sie vergaß oft, sie abzunehmen, und natürlich vergaß sie es ganz absichtlich. Sie war so stolz auf ihre neue Position, dass sie es am liebsten in die ganze Welt hinausgeschrien hätte.

Ich konnte ihr nicht sagen, wem sie dieses unscheinbare weiße Stück Papier wirklich verdankte.

»Seit wann trinkst du?« fragte sie mit einer Kopfbewegung auf die Flasche.

Noch bevor ich antwortete, spürte ich, dass das Gespräch in eine Richtung gehen würde, die wir beide nicht wollten. Die Dinge hatten begonnen, sich selbständig zu machen. Sie bestimmten, was ich tat, nicht umgekehrt.

»Seit ich bis Mitternacht darauf warten muss, dass du nach Hause kommst«, antwortete ich. »Im Fernsehen lief nichts Interessantes.«

Warum sagte ich das? Warum, zum Teufel, konnte ich ihr nicht einfach die Wahrheit sagen?

»Ich war im Capitol«, antwortete Kim, ohne meine Spitze zur Kenntnis zu nehmen. »Du hast ein neues Büro?«

»Wir machen eben beide Karriere«, antwortete ich.

»Ich habe Pratt getroffen«, sagte Kimberley. »Du hattest Recht. Er ist ein unangenehmer Mensch. Hattest du wichtige Papiere in deinem Schreibtisch?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Ich habe ihn erst heute Morgen bekommen. Es war ein ereignisreicher Tag.« Ich trank einen weiteren Schluck, nahm ein neues Puzzlestück und bekam es ebenso wenig an seinen Platz wie das erste. »Ich glaube, man muss mit den Randstücken anfangen«, sagte ich. »Mit den Teilen mit einer geraden Kante, und sich dann nach innen vorarbeiten.«

Kim schwieg zehn endlose, schwere Sekunden lang. Der Zorn in ihrem Blick erlosch und machte etwas Platz, das schlimmer war: einer Mischung aus Trauer und Schmerz, die tausendmal schlimmer war, als hätte sie mir Vorwürfe gemacht. Dann sagte sie: »Weißt du, was ich an dir am meisten geliebt habe, John? Dass wir immer über alles reden konnten. Wir hatten niemals Geheimnisse voreinander. Ich ... ich dachte, du wärst mein bester Freund.«

Ich antwortete nicht. Alles in mir schrie danach, aufzustehen und sie in die Arme zu schließen, aber ich konnte es nicht.

»Warum hast du mich belogen, John?«

»Wovon redest du?« fragte ich.

»Ich habe mit Pratt gesprochen«, antwortete Kimberley.

»Er war gerade dabei, deinen Schreibtisch zu durchwühlen.«

»Das passt zu ihm.«

»So, wie es zu ihm passt, dich wegzuschicken, damit du seine schmutzige Wäsche wäschst?« Kimberley schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Frau, John. Da war keine Sache, die du für ihn in Ordnung bringen musstest, nicht wahr?«

»Hat er das gesagt?«

»Er hat mir gesagt, dass dein Onkel gestorben ist«, antwortete Kimberley leise. »Welcher Onkel, John?«

Ich schwieg auch dazu. Und ich hasste mich dafür.

»Warum tust du mir das an, John?« fuhr Kimberley traurig fort. »Wir waren immer ehrlich zueinander. Wir haben immer über alles gesprochen. Willst du ...« Sie atmete hörbar ein. Ich sah, dass sie nur noch mit Mühe die Tränen zurückhielt. »Willst du mich für irgenderwas bestrafen?«

»Kim, bitte! Ich ...«

»Ist es, weil ich dich noch nicht heiraten will?« fragte sie. »Was ist dein Geheimnis, John? Ich weiß, dass es keine andere Frau ist. Ich hätte es geglaubt, aber ich habe dein Büro gesehen und den Ausdruck in Pratts Augen. Er hasst dich.«

»Pratt hasst jedermann«, sagte ich.

»Aber er hat auch Angst vor dir«, sagte Kimberley ruhig. »Was hast du getan, John?«

»Ich kann es dir nicht erklären, Kim«, flüsterte ich. »Ich will es ja, aber die Dinge sind so ... kompliziert.«

»Dann erkläre sie mir«, antwortete Kimberley. »Jetzt. Hier. Oder ...«

»Oder?«

Kimberley atmete hörbar ein. Es klang wie ein kleiner Schrei. »Morgen könnte es zu spät sein, John.«

»Ich kann es nicht sagen, Kim«, murmelte ich. »Ich kann nicht.«

»Ist das deine Antwort?« Kim presste die Lippen zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammen. Ihre Augen glänzten feucht. »Ich liebe dich, John. Ganz egal, was du getan hast. Warum kannst du mir nicht vertrauen?«

Ich wollte es. Gott weiß, wie sehr ich es wollte. Aber ich konnte es nicht. Ganz egal, was ich auch getan hatte oder noch tun würde, ich hatte nicht das Recht, sie noch tiefer in die Geschichte hineinzuziehen, als ich es schon getan hatte. Ich schwieg. Kimberley sah mich weitere zwei oder drei Herzschläge lang an, dann drehte sie sich herum und ging langsam und ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer.

Ich weiß nicht, wie lange ich dasaß und ins Leere starrte. Vielleicht zehn Minuten, vielleicht eine Stunde. Vielleicht auch nur einen Augenblick. Schließlich griff ich wieder nach dem Glas, schenkte es randvoll und setzte es an. Doch ich wollte es nicht trinken. Plötzlich widerte es mich an.

Ich sprang auf, schleuderte das Glas zu Boden und beförderte den Tisch mit einem Fußtritt hinterher. Das Puzzle explodierte in einer Wolke aus wirbelnder Bewegung und durcheinander fliegenden Teilen, die wie bunter Schnee überall im Zimmer niederregneten.

Als ich aus dem Haus stürmte, bemerkte ich eine Sternschnuppe, die eine weiße Narbe in den Nachthimmel über Washington brannte. Es kam mir so vor wie ein böses Omen.

Woher hätte ich wissen sollen, dass es noch viel mehr war?


Rings um den großen Tisch im Konferenzraum von Majestic hatte sich eine illustre Gesellschaft eingefunden. Nicht alle davon waren damals schon die, als die sie die Weltöffentlichkeit später kennen lernen sollte, aber mit Ausnahme Doktor Hertzogs und mir selbst schien es niemanden hier drinnen zu geben, der nicht mindestens ein öffentliches Amt bekleidete. Ich kannte nicht jeden hier drinnen persönlich, aber es waren mehrere Vier-Sterne-Generäle darunter, drei oder vier Senatoren und einige Gesichter, die schon auf dem einen oder anderen Wahlplakat zu sehen gewesen waren.

»Was um alles in der Welt tue ich hier?« fragte ich; wohlweislich im Hüsterton, und fast, ohne die Lippen zu bewegen. Meine Arbeit im Capitol brachte es mit sich, dass ich die Nähe prominenter Persönlichkeiten gewohnt war. Trotzdem konnte ich einen Schauer der Ehrfurcht nicht ganz unterdrücken, angesichts der geballten Macht, die in diesem Raum zusammengekommen war.

Hertzog antwortete auf die gleiche Weise, aber in leicht amüsiertem Ton: »Was wollen Sie, John? Seit gestern Nacht sind Sie ein berühmter Mann. Immerhin haben Sie als einer von sehr Wenigen einen direkten Kampf mit einem Außerirdischen überlebt.«

»Trotzdem.« Ich schüttelte den Kopf. »Was ist hier los? Mein Gott: Nelson Rockefeller! Senator Humphrey! Henry Kissinger! General Brown! Wo ist Präsident Kennedy?«

»Nicht zu vergessen Captain Frank Bach«, fügte Hertzog mit einem dünnen Lächeln hinzu, womit er meine letzte Frage - ich war sicher, absichtlich - überging. »Kommen Sie, John.«

Ich folgte ihm zum anderen Ende des Raumes, wo ein supermoderner 16-mm-Projektor aufgebaut war. Hertzogs Lächeln wurde ein wenig breiter, als er meinen überraschten Blick registrierte.

»Sie sind seit gestern Abend ein Filmstar«, sagte er. »Ich fürchte nur, dass die Honorarzahlungen nicht besonders hoch ausfallen werden.«

Ich blieb ernst. Ich hatte in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan und war nicht in der Stimmung, zu scherzen. Das verbot schon allein die Versammlung illustrer Namen hinter uns. Bach hatte diese Konferenz nicht einberufen, um einen Kaffeeklatsch abzuhalten.

»Was ist passiert?« fragte ich.

Hertzog zuckte mit den Schultern und sah demonstrativ in die andere Richtung, antwortete aber trotzdem: »Ich glaube, es gab eine neue Sichtung. Diesmal direkt über Washington. Vergangene Nacht.«

»Diese Nacht?« wiederholte ich überrascht und wohl auch ein wenig zu laut, denn einige Gesichter am Tisch wandten sich stirnrunzelnd in meine Richtung. Hertzogs Grinsen wurde eindeutig schadenfroh.

»Sie haben es gesehen?«

»Ich habe ... eine Sternschnuppe gesehen«, antwortete ich zögernd. »Jedenfalls dachte ich, es wäre eine Sternschnuppe.«

»Ja, ja, das denken alle«, sagte Hertzog. »Und das sollen sie auch. Still jetzt. Da kommt Bach.«

Bach betrat den Konferenzraum. Anders als bei den meisten Gelegenheiten, zu denen wir uns begegnet waren, trug er keinen unauffälligen Straßenanzug, sondern seine Air-Force-Uniform mit den Insignien eines Captains, und selbst auf seinem Gesicht glaubte ich Anzeichen einer leichten Anspannung zu erkennen. Irgendetwas war passiert.

»Meine Herren.« Bach nickte flüchtig in die Runde. »Herzlichen Dank, dass Sie alle so schnell und unkompliziert gekommen sind. Ich will Ihre Zeit auch gar nicht über Gebühr in Anspruch nehmen und gleich beginnen.«

Er gab Hertzog einen Wink. Der Arzt nickte, schaltete den Filmprojektor ein und praktisch in der gleichen Bewegung die Deckenbeleuchtung aus. »Der Film, den Sie jetzt sehen, entstand vergangene Nacht. Nichts davon ist gestellt oder irgendwie manipuliert worden.«

Auf der Leinwand am anderen Ende des Raumes erschien die Aufnahme des Labors. Der Käfig mit dem kleinen Schimpansen war ebenso gestochen scharf zu erkennen wie das Zahlenschloss an der Tür. Das Weitwinkelobjektiv reichte sogar aus, einen Teil des Vorraumes zu erfassen. Ich fuhr leicht zusammen, als ich mich selbst auf dem Film erkannte. Und dann noch einmal und deutlich heftiger, als ich registrierte, dass die Kamera nicht nur Bilder aufgenommen hatte. Leise, aber durchaus verständlich, konnte ich Walts und meine Stimme hören. Bach kannte jedes Wort, das Walt und ich am vergangenen Abend miteinander gewechselt hatten.

»Dieser Schimpanse war ein ganz normales, gesundes Tier von achtzehn Monaten«, fuhr Hertzog fort. »Sie finden alle notwendigen Daten in dem Hefter, der vor Ihnen liegt, ebenso wie eine Beschreibung des experimentellen Verlaufs. Acht Stunden nach der Injektion des fremden Gewebes zeigten sich die ersten ...«

Ich hörte nicht mehr hin. Wie hypnotisiert starrte ich auf die Filmleinwand. Ich konnte mich selbst sehen, wie ich aufstand und den Raum verließ, um die neue Filmrolle zu holen. Der Film war geschnitten, aber ich war sicher, dass Bach jede Sekunde davon kannte. Ich versuchte, einen Blick von Bach zu erhaschen, aber er sah nicht in meine Richtung.

»Die Bilder, die Sie jetzt sehen«, drang Hertzogs Stimme in meine Gedanken, »entstanden unmittelbar, nachdem Agent Loengard den Raum verlassen hatte und Agent Popejoy eingeschlafen war. Das Verhalten des Schimpansen zeigt ganz eindeutig, dass dieser Zeitpunkt nicht zufällig gewählt war. Vielmehr hat er die beiden Agenten sehr aufmerksam beobachtet und auf seine Chance gewartet.«

»Seine Chance?« Ich konnte nicht erkennen, wer diese Frage stellte, aber ich glaubte, es war Kissinger. »Ein Affe?«

»Das war er da schon längst nicht mehr, Sir«, antwortete Hertzog. »Sehen Sie.«

Der Schimpanse näherte sich der Käfigtür und griff durch die Stäbe hindurch nach dem Schloss, aber nicht, ohne zuvor noch einen sichernden Blick auf Walt geworfen zu haben. Seine Finger glitten über das Zahlenschloss und machten sich daran zu schaffen. Ich konnte nicht genau erkennen, was er tat, doch er brauchte nur wenige Sekunden, um das Schloss zu öffnen.

»Ich verwende diese Schlösser seit Jahren«, sagte Hertzog. »Sie sind solide. Einem Profisafeknacker würden sie nicht lange standhalten, aber ich kann Ihnen versichern, dass sie jeden der hier Anwesenden vor erhebliche Probleme stellen würden. Dieser ... Affe hat das Schloß in weniger als fünf Sekunden geöffnet.«

Der Schimpanse verließ seinen Käfig. Für eine Sekunde war sein Blick direkt in das Objektiv der Kamera gerichtet, und für die gleiche Zeitspanne glaubte ich noch einmal diese unheimliche, berechnende Intelligenz darin zu erkennen. Dann verschwand er, und ich sah mich selbst, wie ich den Raum wieder betrat und Walt weckte. Der Film war auf das Nötigste zusammengeschnitten worden.

Trotzdem zeigte er weitaus mehr, als mir lieb war.

Man sagt, dass Erinnerungen ihren Schrecken verlieren, wenn man sich ihnen stellt, aber zumindest in diesem Fall stimmte das nicht. Ich erlebte alles noch einmal, und es machte es nicht besser, mir selbst dabei zuzusehen, wie ich mit dem Schimpansen um mein Leben kämpfte; oder wie ich hilflos dabei zusehen musste, wie Walt starb.

Hertzog hielt den Filmprojektor an, nachdem auf der Leinwand zu sehen gewesen war, wie Walt in meinen Armen starb und ich den Raum verließ. Ich blinzelte, als er das Licht wieder einschaltete. Für einen Moment war ich fast blind. Als ich wieder halbwegs sehen konnte, begriff ich, dass alle Anwesenden mich anstarrten, Bach eingeschlossen. Ich trug einen anderen Anzug als gestern Nacht, und wenn ich so aussah, wie ich mich fühlte, musste ich ungefähr zehn Jahre älter aussehen, aber natürlich wusste jeder, wer auf der Filmleinwand zu sehen gewesen war.

Bach nickte Hertzog fast unmerklich zu, und der Arzt fuhr fort: »Der Affe wurde wenige Augenblicke später getötet. Leider wurde der ... Parasit während des Kampfes so sehr beschädigt, dass wir nicht mehr genau feststellen konnten, wie weit die beiden unterschiedlichen Organismen bereits miteinander verschmolzen waren, aber ich konnte immerhin noch feststellen, dass sich das Geschöpf mit großer Wahrscheinlichkeit im Bereich der Amygdala festsetzt.«

Bach runzelte die Stirn, und Hertzog fügte mit einem angedeuteten Lächeln hinzu: »Verzeihen Sie. Das ist der Teil des menschlichen Hirnstammes, in dem wir so etwas wie das emotionale Kontrollzentrum vermuten.«

»Vermuten?« fragte Senator Humphrey stirnrunzelnd.

»Die Hirnforschung ist ein relativ junger Zweig der Medizin, Senator«, antwortete Hertzog in entschuldigendem Tonfall. »Wir wissen noch sehr wenig über das menschliche Hirn und seine Funktion.«

»Aber es würde passen«, fügte Bach hinzu. »Bei den meisten Entführungsopfern, mit denen wir bisher ... sprechen konnten, zeigten sich emotionale Veränderungen.«

Das winzige Zögern in seinen Worten entging mir ebenso wenig wie Humphrey. Er runzelte die Stirn und sah Bach beinahe feindselig an, schwieg aber. Ich hatte das Gefühl, dass die beiden Männer nicht unbedingt Freunde waren.

»Das waren beeindruckende Bilder, Captain«, sagte Rockefeller in das unbehagliche Schweigen hinein. »Es tut mir leid um Ihren Agenten. Aber Sie haben diese Sondersitzung doch sicher nicht nur einberufen, um uns diesen Film zu zeigen.«

»Natürlich nicht«, antwortete Bach. »Die Ereignisse der vergangenen Nacht sind sehr beunruhigend. Es geht nicht nur um Agent Popejoy oder diesen Farmer aus Idaho. Aber ich glaube, wir kennen jetzt endlich unseren wirklichen Feind.«

»So?« fragte Rockefeller.

»Die Ganglions.« Bach wandte sich mit einer entsprechenden Geste an Hertzog. »Doktor.«

»Eine der Fragen, auf die wir seit fünfzehn Jahren vergeblich nach einer Antwort gesucht haben«, sagte Hertzog, »betraf die Geschöpfe, die wir die Grauen getauft haben.«

»Die Piloten des ... Flugobjektes?« fragte Kissinger.

Hertzog nickte. »Natürlich wissen wir so gut wie nichts über sie«, sagte er. »Weder über ihre Herkunft, noch über ihre Evolution oder ihre Abstammung. Wir sind auf Vermutungen angewiesen. Trotzdem gibt es gewisse Parallelen. Sie sind nicht so fremdartig, wie es auf den ersten Blick scheint. Ihre Körper sind humanoid. Sie haben zwei Arme, zwei Beine, Augen und Ohren ...«

»Worauf wollen Sie hinaus, Doktor?« unterbrach ihn Humphrey ungeduldig. »Dass sie so eine Art ... Menschen sind?«

»Nein«, antwortete Hertzog. »Sie stammen definitiv nicht von dieser Welt. Aber etwas stimmt mit ihrer Evolution nicht.«

»Wie?«

»Was der Doktor damit sagen will«, mischte sich Bach ein, »ist, dass sie unserer Meinung nach nicht in den Pilotensessel eines Raumschiffes gehören, sondern eher in einen Einbaum.«

»Wie bitte?«

»Ich halte diese Wesen nicht dafür in der Lage, ein Objekt wie das zu konstruieren, wie das Schiff, in dessen Wrack wir sie fanden«, sagte Hertzog. »Wenn ihre Anatomie auch nur annähernd so funktioniert wie die unsere, dann dürften sie schon große Schwierigkeiten haben, es auch nur zu bedienen.«

»Sie meinen, diese ... Grauen sind nicht die eigentlichen Invasoren«, sagte Rockefeller, »sondern nur eine Art Handlanger?«

»Wirte wäre wohl der passendere Ausdruck«, verbesserte ihn Bach. Er beugte sich unter den Tisch und hob ein dickwandiges Glas auf, das bisher darunter gestanden hatte. »Das hier ist unser wirklicher Feind, meine Herren.«

Sekundenlang wurde es sehr still, während alle den toten Ganglion anstarrten, der sich in dem Behältnis befand. Ich wusste nicht, ob es die Kreatur war, die sie aus Brandons Leichnam herausgeholt hatten, oder das fünfzehn Jahre ältere Exemplar, aber ich spürte selbst über die große Entfernung hinweg auch jetzt wieder den Odem des Fremden und der Feindseligkeit, der das Geschöpf noch im Tode umgab. Und allen anderen hier im Raum erging es wohl ebenso.

Hertzog räusperte sich lautstark. »Ich muss noch einmal darauf hinweisen, dass nichts von dem, was wir hier besprechen, in irgendeiner Form bewiesen ist. Es ist nur eine Theorie.«

»Aber eine äußerst beunruhigende«, sagte Rockefeller. »Ich finde einen Gegner wie diese Grauen schlimm genug. Aber den kann ich wenigstens erkennen, wenn er mir gegenübersteht. Aber diese Dinger ...«

»Wir könnten niemandem mehr trauen«, fügte General Brown düster hinzu. Er warf einen langen, nachdenklichen Blick in die Runde. »Nicht einmal mehr uns selbst.«

»Es ist vielleicht nicht ganz so schlimm«, sagte Bach. »Doc?«

Hertzog schaltete das Licht aus und startete den Projektor. Auf der Leinwand erschien das Abbild einer jungen Frau. Sie war einfach, um nicht zu sagen, ärmlich gekleidet, hatte einen altmodischen Haarschnitt und kam mir auf vage Weise bekannt vor. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war so schäbig, dass es sich nur auf einer Polizeiwache befinden konnte. Drei oder vier Männer umgaben die junge Frau, aber sie waren nur als Umrisse zu erkennen; der grelle Scheinwerfer, der auf das Gesicht der jungen Frau gerichtet war, blendete sie nicht nur, sondern ließ die Dunkelheit im Rest des Zimmers auch noch tiefer erscheinen. Was wir sahen, war eine Verhörszene.

Ich warf Hertzog einen fragenden Blick zu, aber er deutete nur ein Achselzucken an und wich meinem Blick aus.

Trotzdem hatte ich das sichere Gefühl, dass ihm die Szene unangenehm war. Wieso?

»Die junge Dame, die Sie dort sehen«, begann Bach, »ist Elisabeth Brandon. Die Schwester des Farmers, der Agent Loengard angegriffen hat.«

Ich war überrascht. Deshalb also war mir ihr Gesicht so bekannt vorgekommen. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend. Was aber ganz und gar nicht passte, das war ihre Art, zu reden. Wir wurden Zeuge eines Verhörs, das offensichtlich mit einer versteckten Kamera aufgenommen worden war. Aber Elisabeth Brandon sprach nicht wie eine Farmersfrau vom Lande. Sie war aggressiv, zum Teil sogar unflätig, und ihre Wortwahl schwankte zwischen primitiv bis zur geschliffenen Rhetorik.

»Das Verhör dauerte beinahe fünf Stunden«, erklärte Bach, während er Hertzog einen Wink gab, den Ton des Projektors ein wenig zu dämpfen. »Ich erspare es Ihnen, es sich ganz anzuhören, obwohl ich Ihnen versichern kann, dass es sich lohnen würde. Aber ich denke, Sie haben bereits bemerkt, dass die charakterlichen Veränderungen ... ziemlich deutlich sind.«

»Soll das heißen, dass diese Frau ebenfalls ... besessen ist?« fragte eine erschrockene Stimme. Ich glaube, sie gehörte Johnson.

»Nicht nur sie«, bestätigte Bach. »Wir haben im Umfeld dieses Farmers insgesamt vier Personen identifiziert, die von Ganglions infiziert waren. Uns liegen noch nicht genug Erfahrungswerte vor, um konkrete Aussagen zu treffen, aber ich bin sicher, dass wir eine Art ... sagen wir: Verhaltensmuster aufstellen können. Die Betroffenen beginnen sich charakterlich zu verändern. Sie werden aggressiv, und sie beginnen vor allem, das Interesse an sich und ihrer unmittelbaren Umgebung zu verlieren. Sie werden schlampig, legen keinen Wert mehr auf Sauberkeit und Ordnung und verhalten sich eindeutig cholerisch.«

»Im Gegenzug«, fügte Hertzog hinzu, »scheint es jedoch eine fast sprunghafte Steigerung der intellektuellen Fähigkeiten zu geben. Wenn Sie dem Verhör gefolgt sind, wird Ihnen aufgefallen sein, dass diese junge Frau über Dinge redet, die man bei einem Bauerntrampel aus Idaho niemals erwartet hätte. Sie war hochintelligent.«

»War?« fragte Kissinger.

Hertzog schwieg einen Sekundenbruchteil zu lange, um diesem Zögern keine Bedeutung zu geben. »Sie starb bei dem Versuch, den Parasiten chirurgisch zu entfernen«, sagte er.

»Wie alle anderen übrigens auch«, fügte Bach hinzu; in einem Ton, als spräche er über das Wetter oder die neusten Football-Ergebnisse.

»Das heißt, es gibt für die Betroffenen keine Überlebenschance«, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit heraus. Ich erkannte sie nicht.

Bach sagte einfach: »Nein«, aber Hertzog antwortete: »Möglicherweise doch. Wir haben mit einer Substanz experimentiert, auf die die Ganglions reagieren. Möglicherweise verlassen sie den Wirtskörper wieder, wenn die Injektion innerhalb der ersten sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden erfolgt.«

»Möglicherweise?« fragte Kissinger.

»Es ist ...«

»Das ist jetzt nicht der Moment für wilde Spekulationen, Doktor Hertzog«, unterbrach ihn Bach. »Wir werden auf diesem Gebiet weiterforschen, aber im Augenblick haben wir ein dringenderes Problem. Unsere Radarstationen haben in den letzten Tagen eine verstärkte UFO-Aktivität verzeichnet. Eine beunruhigend verstärkte Aktivität, um es ganz deutlich zu machen. Wir müssen etwas unternehmen.«

»Lassen Sie mich eines der Dinger abschießen«, verlangte General Brown. »Dann sehen wir weiter.«

»Typisch«, flüsterte ich, an Hertzog gewandt. »Ist dieser Kerl schon einmal auf die Idee gekommen, dass sie vielleicht zurückschießen könnten?«

Hertzog lächelte nur dünn, tat aber so, als konzentriere er sich weiter auf die Bilder des Brandon-Verhörs, die über die Leinwand flimmerten, und auch Bach kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment ging die Tür auf, und ein Soldat kam herein und reichte ihm einen Zettel. Bach überflog ihn mit steinernem Gesicht, steckte ihn ein und sagte: »Agent Loengard, Doktor Hertzog, würden Sie bitte den Raum verlassen?«

Wir gehorchten widerspruchslos, aber ich war doch sehr beunruhigt, denn ich musste nach wie vor daran denken, dass Bach jedes Wort kannte, das Walt und ich in der letzten Nacht gewechselt hatten. Und vielleicht nicht nur das.

Kaum hatten wir den Raum verlassen, fragte ich: »Was haben wir ausgefressen?«

»Ausgefressen?« Hertzog lächelte. »Nichts. Wir haben nicht die richtige Geheimhaltungsstufe, das ist alles. Wissen Sie eigentlich, wer das da drinnen ist? Das Gehirn von Majestic 12. Die Gründungsmitglieder. Sie können sich geadelt fühlen, dass Sie sie überhaupt sehen durften.«

»Ich frage mich nur, warum.«

»Bach hat einen Narren an Ihnen gefressen«, antwortete Hertzog. »Ist Ihnen das etwa nicht aufgefallen?«

Ich hätte schon blind sein müssen, um das nicht zu merken, aber der Grund dafür war mir noch immer ein Rätsel. »Ich weiß. Ich verstehe nur nicht, warum.«

»Niemand versteht Bach«, sagte Hertzog spöttisch. »Ich glaube, nicht einmal er selbst. Seien Sie froh, dass es nicht anders herum ist. Ich möchte Bach nicht zum Feind haben.«

»Haben Sie deshalb nichts gesagt, als all diese Leute getötet wurden?« fragte ich. Die Worte taten mir im gleichen Moment schon wieder leid, in dem ich sie aussprach. Hertzog fuhr sichtbar zusammen.

»Das war nicht fair«, sagte er.

»Ich weiß. Entschuldigen Sie.«

Hertzog starrte mich zwei, drei Sekunden lang betroffen an, dann drehte er sich um setzte sich mit schleppenden Schritten in Bewegung. »Sie haben ja Recht«, murmelte er. »Ich mache mir Vorwürfe. Ich ... komme mir vor wie ein Mörder.«

»Unsinn!« sagte ich. Mit ein paar Schritten hatte ich ihn eingeholt. »Es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, warum ich den Blödsinn gesagt habe. Sie hatten keine andere Wahl.«

»Das versuche ich mir auch einzureden«, murmelte Hertzog. »Und wahrscheinlich ist es auch so. Trotzdem frage ich mich, ob wir das Recht hatten, diese Leute zu töten. Ich meine: Wahrscheinlich waren sie schon tot, jedenfalls in gewissem Sinne. Das was sie waren, existierte wahrscheinlich schon lange nicht mehr. Sie waren nur noch leere Hüllen. Und trotzdem weiß ich nicht, ob wir das Recht hatten, sie einfach umzubringen. Sie waren lebende Wesen.«

»Wovon reden Sie?« fragte ich. »Von Brandons Schwester und den anderen, oder den Ganglions?«

Hertzog sah mich sonderbar an. »Macht das einen Unterschied?«

»Sie sind hier, um uns unsere Welt wegzunehmen!«

»Sind Sie sicher?« fragte Hertzog.

»Wie?« fragte ich verwirrt.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Hertzog. »Ich glaube auch, dass es so ist, ebenso wie Sie, Bach und alle anderen. Aber wir glauben das nur.«

Ich verstand immer noch nicht, wovon er sprach. »Und?«

Hertzog zuckte die Achseln. »Wir sind im Krieg, John«, sagte er. »Im Krieg mit einem Volk, dass wir nicht einmal kennen. Aber die einzigen Schüsse, die bisher gefallen sind, haben wir abgefeuert.«


Ich kam erst spät am Nachmittag nach Hause, und während ich - mit jeder Stufe langsamer werdend - die Treppe hinaufging und mich unserem Apartment näherte, holte mich die Wirklichkeit wieder ein. Die Ereignisse der vergangenen Nacht, und die des Morgens, hatten mich für eine Weile beinahe vergessen lassen, dass ich noch ein anderes, zumindest subjektiv ebenso schlimmes Problem hatte. Unser Streit war nicht vorbei. Er war aufgeschoben, aber das machte es nicht besser, sondern im Gegenteil wohl eher schlimmer. Nach allem, was geschehen war, und vor allem angesichts der ungeheuerlichen Bedrohung, die unsichtbar über uns allen schwebte, mag es lächerlich erscheinen, doch unser kleiner hausgemachter Weltuntergang erschien mir genauso bedrohlich wie die Gefahr durch die Grauen. Was nutzte es mir schon, wenn die Welt draußen überlebte, während meine subjektive Wirklichkeit in die Brüche ging?

Als ich das Apartment erreicht hatte und die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, zögerte ich. Zum ersten Mal im Leben hatte ich Angst, Kimberley gegenüberzutreten. Wir waren im Streit auseinander gegangen; vielleicht das Schlimmste, was zwei Menschen einander antun konnten.

Es würde nie wieder geschehen. Ich fasste einen Entschluss.

Nichts von alledem wäre passiert, hätte ich ihr von Anfang an die Wahrheit gesagt. Unsere Liebe war in Gefahr geraten, weil ich gegen meine eigene, eiserne Regel verstoßen hatte: Kimberley niemals zu belügen.

Ich würde ihr die Wahrheit sagen, ganz gleich, was Bach dazu meinte.

Jetzt.

Mit einer entschlossenen Bewegung drehte ich den Türknauf herum, betrat das Apartment und blieb wieder stehen.

Eisige Kälte schlug mir entgegen. Die Vorhänge im Wohnzimmer bewegten sich im Wind; beide Fensterflügel standen weit offen trotz der eisigen Temperaturen, die draußen herrschten. Mit ein paar raschen Schritten war ich am Fenster und schlug es eine Spur zu heftig zu; es gab einen trockenen Knall, und der Fenstergriff in meiner Hand zitterte leicht nach, bevor ich ihn endgültig losließ, um mich umzudrehen und ungläubig in das zu starren, was einst unser Wohnzimmer gewesen war.

Die Wohnung bot einen völlig chaotischen Anblick. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geschworen, dass hier vor kurzer Zeit ein Kampf stattgefunden hatte: Die Teppiche waren verrutscht, Stühle, Tische und Couch standen nicht mehr an ihrem Platz. Bücher und Schallplatten waren durcheinander oder gleich ganz aus den Regalen gerissen, und ein seltsamer, strenger Geruch lag in der Luft.

»Kim?« rief ich.

Keine Antwort. Aus meiner Verwirrung wurde Beunruhigung, dann Sorge. Ich rief noch einmal Kimberleys Namen, bekam auch diesmal keine Antwort und lief zum Schlafzimmer.

»Kimberley! Was ist los? Warum antwortest ...«

Ich riss die Schlafzimmertür auf, stürmte halb hindurch und erstarrte zum zweiten Mal binnen weniger Augenblicke mitten in der Bewegung.

Kimberley lag auf dem Bett und schlief. Jedenfalls hoffte ich, dass sie schlief.

Obwohl im Schlafzimmer wie auch in der gesamten Wohnung kaum mehr als drei oder vier Grad herrschen konnten, lag sie ohne Decke auf dem Bett und trug nur ein hauchdünnes Negligé.

Sie atmete, das konnte ich schon von der Tür her erkennen, aber sie war totenbleich.

Mit einem einzigen Satz war ich bei ihr, ergriff sie bei den Schultern und riss sie in die Höhe.

»Kim!« schrie ich. »Was ist los mit dir?«

Kimberley stöhnte leise, öffnete die Augen und sah mich mit einem verschleierten, vollkommen verständnislosen Blick an.

»Kimberley! Um Gottes willen, was ... was ist mit dir?«

Sie antwortete nicht gleich, versuchte aber, sich instinktiv aus meinem Griff zu lösen, was ich allerdings nicht zuließ. Kims Haut war eiskalt, und sie fühlte sich auf eine schwer zu beschreibende Weise unangenehm an. Was um alles in der Welt war mit ihr passiert?

»Was soll denn mit mir sein?« Kim fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, gähnte ausgiebig und blinzelte dann. »Es ist kalt hier drinnen.«

»Das Fenster stand auf«, sagte ich. »Die ganze Nacht.«

»Die ganze Nacht?« Kimberley blinzelte erneut. »Wie spät ist es denn?«

»Acht«, antwortete ich, »beinahe, jedenfalls.«

»Acht?!« Sie schrak sichtbar zusammen. »Dann muss ich los! Ich komme zu spät ins Büro!«

Sie wollte aufspringen, aber ich ließ auch das nicht zu, sondern drückte sie mit sanfter Gewalt aufs Bett zurück. »Es ist acht Uhr abends«, sagte ich. »Du brauchst dich nicht zu beeilen. Im Büro ist jetzt wahrscheinlich niemand mehr.«

Ich machte eine Geste mit der freien Hand in die Runde. »Was ist hier passiert?«

»Acht Uhr abends?« vergewisserte sich Kim. Sie sah mich einen Moment lang zweifelnd an, dann richtete sie sich auf und rieb sich fröstelnd mit den Händen über die nackten Oberarme. »Ich habe den ganzen Tag verschlafen? Unglaublich.«

»Und nicht nur das«, sagte ich. »Die Wohnung sieht aus, als wären Dschinghis Khans Horden hindurchgezogen, und zwar mehrmals, und aus verschiedenen Richtungen. Was ist hier passiert?«

»Wenn ich das wüsste ...« Kim schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich ... kann mich nicht erinnern. Ich habe etwas getrunken. Aber nicht viel«, fügte sie rasch hinzu.

»Aber du trinkst doch niemals«, antwortete ich zweifelnd. »Jedenfalls nicht mehr als einen oder zwei Martinis!«

»Ich weiß nicht«, antwortete Kim nur. »Ich ...« Sie brach ab, zuckte erneut mit den Schultern und setzte dann von neuem an. »John, wegen gestern Abend ... es ... es tut mir leid. Ich war ziemlich ungerecht zu dir.«

»Unsinn«, sagte ich. Ich war noch immer zutiefst verwirrt, aber die Erkenntnis, dass Kim unversehrt war, überwog alles andere. »Ich bin es, der sich entschuldigen muss. Es ... es gibt da etwas, dass ich dir erklären muss. Ich hätte es längst tun sollen, aber ...«

Kimberley überraschte mich erneut: Sie hob die Hand, verschloss meine Lippen mit dem Zeigefinger und schüttelte den Kopf.

»Nein, Schatz. Du musst dich für gar nichts entschuldigen. Ich war so dumm, dass ich mich am liebsten zu Tode schämen würde.«

»Aber ich ...«

»Ich sollte es besser wissen«, fuhr Kimberley unbeeindruckt fort. »Ich meine: Ich arbeite schließlich selbst im Weißen Haus. Ich sollte wohl wissen, dass es Dinge gibt, über die du nicht reden darfst. Nicht einmal mit mir.«

»Nein«, antwortete ich. »Die gibt es nicht. Wir haben uns geschworen, keine Geheimnisse voreinander zu haben.«

»Und du hast geschworen, die Dinge für dich zu behalten, die du bei deiner Arbeit erfährst«, antwortete Kim ernst. »Genau wie ich. Es tut mir leid. Ich war ... dumm.«

»Du warst eifersüchtig«, verbesserte ich sie.

»Das ist dasselbe«, beharrte Kimberley. »Du hast mir niemals Grund zur Eifersucht gegeben. Ich war eine Idiotin, auf Pratt zu hören. Ich werde es nie wieder tun, das schwöre ich dir.« Sie küsste mich flüchtig, rutschte dann ein Stück weit von mir fort und zog die Bettdecke bis ans Kinn hoch.

»Acht Uhr?« vergewisserte sie sich.

»Abends«, bestätigte ich.

»Kein Wunder, dass ich mich wie gerädert fühle«, sagte sie. »Wie kann man nur so lange schlafen? Sei ein Schatz und koch uns noch einen Kaffee; den stärksten, den du zustande bringst.«

»Wir müssen uns wirklich unterhalten, Kim«, sagte ich ernst. Die Verlockung war groß, ihr Angebot anzunehmen. Es wäre leicht gewesen, es zu tun - Bachs Geheimnis weiter für mich zu behalten und Kim weiter in dem Glauben zu belassen, dass ich Tag für Tag ins Büro ginge, um dort langweilige Zahlenkolonnen aus verstaubten Akten abzuschreiben.

Aber das hieß auch, weiter mit einer Lüge zu leben.

Und das wollte ich nicht.

»Das werden wir«, antwortete Kim. »Nachdem du Kaffee gemacht und ich mich angezogen habe.«

Ich kapitulierte. Doch als ich aufstand und auch Kimberley sich erhob, fiel mir etwas auf. Auf ihrem Kopfkissen befand sich ein kleiner, kreisrunder Blutfleck.

»Was ist passiert?« Als sie mich nur fragend ansah, deutete ich mit einer Geste auf ihr Kissen. Kims Blick folgte der Bewegung. Sie fuhr erschrocken zusammen, hob die Hand an den Hinterkopf und blickte dann stirnrunzelnd auf ihre Fingerspitzen, an denen ebenfalls Blut klebte.

»Ich muss mich wohl gestoßen haben«, sagte sie. »Seltsam - ich kann mich gar nicht erinnern. Und es tut auch gar nicht weh.«

»Lass mich sehen«, verlangte ich, aber Kimberley wehrte ab.

»Es ist nichts«, sagte sie. »Ein Grund mehr, in Zukunft nach dem zweiten Martini Schluss zu machen - und einen starken Kaffee zu trinken.«

Das gefiel mir nicht. Es war wirklich nur ein winziger Blutfleck, vermutlich nicht mehr als ein einzelner Tropfen, aber dass sie sich nicht erinnerte, wo und wie sie sich diese Verletzung zugezogen hatte, irritierte mich. Wenn ihr so etwas passierte, musste sie mehr als nur ein bisschen betrunken gewesen sein. Aber ich wollte den gerade geschlossenen, noch empfindlichen Frieden nicht sofort wieder gefährden, drehte mich wortlos um und verließ das Schlafzimmer.

Ich kochte Kaffee, wie ich es Kim versprochen hatte, und danach kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und begann, das herrschende Chaos zu beseitigen, so gut ich konnte. Besonders gut war es nicht. Ich habe niemals das Talent zum Hausmann besessen, und um ganz ehrlich zu sein: auch nicht den Ehrgeiz, es zu entwickeln. Aber ich bemühte mich, und als Kimberley - nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkam - aus dem Schlafzimmer auftauchte, hatte ich die schlimmsten Folgen der vergangenen Nacht beseitigt. Was blieb, war eine schmierige Pfütze unter dem Fenster, von der ich annahm, es wäre Regenwasser, das vom Wind hereingeweht worden war.

Aber es war kein Regenwasser. Es war eine streng riechende, graugrüne Substanz von fast schleimiger Konsistenz.

»Was um Gottes willen ist denn das?« fragte ich angeekelt.

Kim kam neugierig näher und ging in die Hocke. Sie streckte die Hand nach der Pfütze aus, berührte sie aber nicht, sondern verzog ebenfalls angeekelt das Gesicht.

»Das muss die Katze gewesen sein«, sagte sie.

»Katze? Was für eine Katze?«

Kim blinzelte. »Ich ... erinnere mich jetzt«, sagte sie zögernd. »Eine Katze kam herein, weil das Fenster offen stand. Jetzt weiß ich es wieder: Ich wollte sie verscheuchen, weil sie diese Schweinerei angerichtet hat. Dabei habe ich mir den Kopf angestoßen.«

Zweifelnd blickte ich abwechselnd sie und die sonderbare Pfütze an. Das Zeug sah nicht so aus, als wäre es von einer Katze hinterlassen worden. Es roch auch nicht so.

»Vergiss das jetzt«, sagte Kimberley und stand auf. »Weißt du was? Ich wische das später weg. Jetzt ziehst du deinen Mantel wieder an, und ich lade dich zur Feier des Tages zum Abendessen ein. Du hattest mir doch von diesem kleinen italienischen Restaurant zwei Straßen weiter von hier erzählt.«


Während der nächsten Wochen geschah nichts Außergewöhnliches. In Wirklichkeit geschahen eine Menge außergewöhnlicher und bedrohlicher Dinge, aber ich bekam wenig davon mit; vielleicht wollte ich auch außerhalb meiner kleinen Welt nichts mehr sehen. Als ich begriff, was geschah, war es beinahe zu spät.

Die Dinge gingen ihren Gang, wie man so schön sagte. Kimberley und ich gingen tagsüber weiter ins Büro und taten unsere Arbeit, ich ging abends und an den Wochenenden zu Majestic, und sie stellte niemals auch nur eine einzige Frage, ganz wie sie es versprochen hatte. Und ich beließ es dabei. Im Nachhinein war ich ganz froh, dass sie mich davon abgehalten hatte, sie einzuweihen. Manchmal plagte mich immer noch mein schlechtes Gewissen, das größte und wichtigste Geheimnis meines Lebens ausgerechnet vor ihr verborgen zu halten, aber zugleich war ich auch fast erleichtert. Bach mochte wohl einen Narren an mir gefressen haben, wie Hertzog behauptete, aber ich bezweifelte, dass seine Großmut weit genug reichte, um mir einen Hochverrat zu verzeihen - und als nichts anderes hätte er es betrachtet, hätte ich Kim eingeweiht. Ganz gleich, aus welchen Gründen.

Was mich schließlich dazu brachte, es doch zu tun, das war ein Ereignis, das wohl jeder von Ihnen kennt, auch die, die damals noch gar nicht geboren waren; auch wenn die allerwenigsten von Ihnen wohl die wirklichen Hintergründe kennen. Ebenso wenig wie ich übrigens, damals.

Die Tage begannen wieder länger zu werden, und die Abende damit wärmer. Kim und ich hatten uns in letzter Zeit angewöhnt, fast regelmäßig auszugehen; ein Verhalten, das unseren Haushaltsetat ebenso strapazierte, wie es unserem Privatleben gut tat. Es war mir gleich. Kimberley und ich verstanden uns so gut wie seit Monaten nicht mehr, und wenn der Preis dafür darin bestand, dass ich zwei Jahre länger auf einen neuen Wagen sparen oder meinen Anzug ein Jahr länger tragen musste, dann war es mir recht.

Es war schon spät. Wir hatten italienisch gegessen und anschließend eine gute Flasche Wein getrunken, und ich war gerade weit genug beschwipst, um noch Herr meiner Sinne (und vor allem meiner Sprache) zu sein, mich aber auf einen romantischen Ausklang des Abends in unserem Schlafzimmer zu freuen. Auch das war etwas, das sich in den letzten Wochen geändert hatte: Heutzutage ist es vielleicht selbstverständlich, dass auch eine Frau sexuell aktiv wird und ihre Wünsche klar und deutlich formuliert, aber in den sechziger Jahren war dies ganz und gar nicht normal, aller Flower-Power-Romantik und Hippiebewegung zum Trotz. Nicht, dass ich mich über diese Veränderung beklagt hätte ...

Wir waren noch einen Block von Zuhause entfernt. Es war weit nach zehn, und die Straße hätte eigentlich so gut wie leer sein müssen. Trotzdem hatte sich vor einem Geschäft auf der anderen Straßenseite ein regelrechter Menschenauflauf gebildet.

»Was ist denn da los?« fragte Kim.

Ich sah nur flüchtig hin. Ein gutes Dutzend Menschen hatte sich vor dem Schaufenster eines Fernsehgeschäfts eingefunden, es war die Zeit, in der auch in Amerika nicht jeder Haushalt über einen eigenen Fernseher verfügte und in jedem Schaufenster einer oder auch mehrere Apparate liefen. Mich interessierte es im Moment nicht. Wir hatten einen eigenen Fernseher, und ich hatte für den Rest des Abends andere Pläne, als mir eine Soap-Opera anzusehen oder irgendeine Quiz-Show.

»Keine Ahnung«, sagte ich achselzuckend. »Lass uns nach Hause gehen. Ich möchte ins Bett.«

»Ich denke, du bist nicht müde.«

»Bin ich auch nicht«, antwortete ich grinsend.

Kimberley lachte, zog mich aber trotzdem mit schon etwas mehr als sanfter Gewalt quer über die Straße und auf das Schaufenster zu. Ich sträubte mich nicht. Ob wir ein paar Minuten früher oder später zu Hause ankamen, spielte keine Rolle.

Doch der Abend sollte einen radikal anderen Verlauf nehmen, als ich in diesem Moment ahnte.

Und mit ihm der Rest meines Lebens.

Dass irgendetwas nicht stimmte, fiel mir schon auf, bevor wir das Geschäft erreichten. Am Straßenrand parkte ein Wagen. Der Motor lief, und der Fahrer saß hinter dem Steuer und lauschte konzentriert der Stimme des Nachrichtensprechers, die aus dem Radio drang. Er sah sehr besorgt aus. Um nicht zu sagen: erschrocken. Das Fenster des Wagens stand offen, aber ich konnte nicht verstehen, was die Stimme aus dem Radio sagte. Doch ich fing einige Fetzen auf; vielleicht nur Bruchstücke von Worten, aber es waren Bruchstücke, die mich aufs höchste beunruhigten. Es waren Worte wie Nuklearsprengkopf, Ultimatum und Kernwaffeneinsatz.

»Was ist denn los?« fragte Kim. Auch sie hatte die Stimme aus dem Radio gehört.

Ich zuckte nur mit den Schultern, aber ich musste mich jetzt nicht mehr drängen lassen, um das Schaufenster zu erreichen. Ganz im Gegenteil war plötzlich ich es, der sie zog.

Aus meinen schlimmsten Befürchtungen schien Gewissheit zu werden, als wir das Schaufenster erreichten. In dem Geschäft liefen gleich ein halbes Dutzend Fernsehempfänger, die allerdings alle das gleiche Programm zeigten. Der Ton war ausgeschaltet, aber die Bilder, die auf den Mattscheiben flimmerten, waren so eindeutig, dass sie im Grunde keiner weiteren Erklärung bedurften.

Sie zeigten einen Flottenverband der US-Navy, der offensichtlich mit voller Kraft durch den Ozean pflügte. In raschem Wechsel dazu waren Hubschrauber zu sehen, Einheiten der Air Force und schließlich eine Staffel B-52-Bomber. Zumindest diesen letzten Filmschnipsel kannte ich. Es war eine Archivaufnahme, wie vermutlich alle anderen auch.

Aber es waren auch nicht die Bilder, die mich erschreckten. Plötzlich fielen mir gewisse Meldungen ein, die ich in den letzten Tagen gehört hatte, Informationen, die zum Teil jedermann zugänglich und im Radio ausgestrahlt worden waren, zum Teil aber auch als Geheimsache über meinen Schreibtisch gegangen waren.

In der ersten Sekunde war ich einfach nur erschüttert. Das ... das konnte nicht sein! Es war einfach nicht möglich! Nicht einmal die Russen konnten so verrückt sein.

»Was bedeutet das, John?« fragte Kim. Ihre Stimme klang kein bisschen beunruhigt, sondern nur verstört. Vielleicht ging es ihr ebenso wie mir: Vielleicht wollte sie nicht begreifen, was diese Bilder bedeuteten.

»Er hat es getan!« murmelte ich fassungslos. »Dieser Wahnsinnige hat es wirklich getan!«

»Was?« fragte Kim. »Aber was ist denn nur los?«

»Chruschtschow ist los, Schätzchen«, sagte einer der Männer hinter uns. »Dieser verrückte Russe hat Raketen auf Kuba stationiert.«

Kim erschrak nicht. Sie sah nicht einmal besorgt aus, sondern sah den Mann nur verständnislos an. Dann wandte sie sich wieder an mich. »Sind wir im Krieg, John?«

Ich hätte viel darum gegeben, die Antwort zu wissen. Offiziell waren wir es vermutlich noch nicht, aber das war möglicherweise ein Unterschied, der kleiner war, als selbst ich in diesem Moment noch ahnte. Ich starrte wieder das halbe Dutzend synchroner Bilder auf den Fernsehern im Schaufenster an, und plötzlich war es mir, als begänne ich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich stürzte rasend schnell auf einen Abgrund zu, schneller und schneller und schneller, und mit mir stürzte die ganze Welt. Heute weiß jedermann, wie nahe die Welt damals dem atomaren Inferno war, aber in dieser Nacht war ich vielleicht der Einzige aus der kleinen Gruppe, der die ganze Tragweite der Gefahr begriff. Die Männer und Frauen rings um uns herum wirkten nervös und angespannt, aber einige sahen auch beinahe freudig erregt aus, so absurd es auch klingen mag.

»Damit kommt er nicht durch«, sagte ein rothaariger Bursche hinter mir. »Kennedy wird Chruschtschow in den Arsch treten, ihr werdet sehen.«

Ich drehte mich herum und funkelte ihn an. Ich sagte kein Wort, aber irgendetwas in meinem Blick musste ihn abgrundtief erschreckt haben, denn sein schadenfrohes Grinsen erlosch schlagartig, und er wich instinktiv einen Schritt von mir zurück.

»Was ist los mit Ihnen?« fragte er nervös. »Sind Sie etwa so ein Scheiß-Kommunistenfreund?«

»Halt bloß die Klappe, du Idiot«, sagte ich. »Weißt du überhaupt, was da vor sich geht?«

»John.« Kimberley legte mir die Hand auf den Unterarm, und die Berührung brach den Bann.

Plötzlich wurde mir nicht nur klar, dass ich mich wie ein kompletter Narr benahm, sondern dass ich auch drauf und dran war, mir eine gehörige Tracht Prügel einzuhandeln. Der Bursche war einen Kopf größer als ich, und ein gutes Stück breitschultriger, und McCarthy war zwar zu diesem Zeitpunkt noch ein gesichtsloser Gouverneur, dessen Name niemandem etwas sagte, aber sein Geist war bereits deutlich zu spüren. Ich hielt dem Blick des rothaarigen Jungen noch eine trotzige halbe Minute lang stand, dann drehte ich mich mit einem Ruck herum und ging.

Kimberley folgte mir mit schnellen, festen Schritten. »Was ist los mit dir, John?« fragte sie. »So habe ich dich ja noch nie erlebt! Ist es wegen der Berichte im Fernsehen?« Sie zögerte einen Moment, dann fragte sie noch einmal: »Sind wir im Krieg, John?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber vielleicht solltest du dir schon einmal eine Aktentasche besorgen. Und ein weißes Blatt Papier. Du weißt doch: duck and cover.«

Kimberley sah mich nur irritiert an, aber ich sah auch, dass ich ihre fast unnatürliche Ruhe nun endlich erschüttert hatte. Sie sagte nichts mehr, doch hinter ihrer Stirn begann es sichtbar zu arbeiten.

Wir hatten das Apartmenthaus erreicht. Kim griff in die Manteltasche und zog ihren Schlüsselbund heraus, aber ich löste mich von ihrem Arm und steuerte den Wagen an, der einige Schritte entfernt am Straßenrand stand. »Wo willst du hin?« fragte Kim.

»Ich muss noch einmal weg«, antwortete ich ausweichend. »Warte nicht auf mich.«

»Um diese Zeit? Aber wohin denn, um Gottes willen.«

»Ich muss zu Bach. Warte nicht auf mich.«

»Zu Bach? Aber warum rufst du ihn nicht einfach an?« Ich stieg in den Wagen, warf die Tür hinter mir zu und startete den Motor, ohne zu antworten. Ich sah im Rückspiegel, dass Kim auf mich zuzurennen begann, hämmerte den Gang hinein und trat das Gaspedal bis zum Boden durch, so dass der Wagen mit durchdrehenden Reifen losjagte. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich musste zu Bach. Ich musste mit ihm reden, um herauszufinden, was hinter diesem Wahnsinn steckte, und dann ...

Was? Die Welt retten?

Der Gedanke erschien mir plötzlich selbst so absurd, dass ich hinter dem Steuer laut zu lachen begann. Es war ein durch und durch hysterisches Lachen, aber als es vorbei war, da hatte ich mich auch halbwegs wieder beruhigt.

Zumindest weit genug, um zu begreifen, dass ich in die falsche Richtung fuhr.

Bach wohnte in einem jener unauffälligen Vororte, in denen sich Hunderttausend-Dollar-Häuser hinter unauffälligen Fassaden verbargen und in der Auffahrt der Drittwagen des Sohnes stand, während der Chevy des Hausherren hinter dem Garagentor verborgen blieb und die Heizung des Pools abends ausgeschaltete wurde, damit man den aufsteigenden Dampf nicht sah. Es war nach elf, als ich ankam, aber im Haus brannte noch Licht, und hinter dem Fenster neben der Tür flackerte der blaue Schein eines Fernsehers. Vermutlich gab es in dieser Nacht niemanden in Amerika, der nicht vor dem Fernseher saß und gebannt der Stimme des Nachrichtensprechers lauschte.

Es gab keine Klingel, so dass ich klopfen musste. Die Reaktion erfolgte sofort. Schritte näherten sich der Tür, dann blickte mich ein im ersten Moment vollkommen perplexer, dann fast zorniger Bach an.

»John?«

»Darf ich reinkommen?« Ich beantwortete meine Frage selbst, indem ich die Tür aufschob und einfach an ihm vorbeiging. Bach war noch immer so perplex, dass er nicht einmal versuchte, mich aufzuhalten. Eine Sekunde lang starrte er mich nur ratlos an, dann drehte er sich herum, warf einen raschen, aber sehr aufmerksamen Blick nach draußen und schloss dann die Tür.

»Ich bin allein gekommen«, sagte ich.

Bach legte den Kopf schräg. »Woher haben Sie diese Adresse?«

Ich lachte leise. »Ich bin Agent, Captain, schon vergessen? Und ich hatte einen guten Lehrer. Ich nehme an, Sie haben die Nachrichten verfolgt?«

Statt zu antworten ging Bach mit schnellen Schritten an mir vorbei und schaltete den Fernseher aus. Als er sich wieder zu mir herumdrehte, hatte er seine Selbstbeherrschung komplett wiedergefunden. Er trug jetzt weder seine Navy-Uniform noch einen der schlichten dunklen Anzüge, in denen ich ihn kannte, sondern nur Jeans und ein geripptes Unterhemd, aber das machte ihn nicht weniger beeindruckend. Er hätte vermutlich auch noch Autorität ausgestrahlt, hätte er in langen Unterhosen und Ringelsöckchen vor mir gestanden.

»Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, hierherzukommen, John«, sagte er ruhig. »Ich schätze es nicht, in meiner Freizeit gestört zu werden. Ich habe sehr wenig davon.«

»Wie können Sie das zulassen?« fragte ich mit einer Kopfbewegung auf den ausgeschalteten Fernseher. »Nach allem, was vorgeht?«

»Was?« fragte Bach. »Reden Sie nicht in Rätseln, Mann!«

»Kuba«, antwortete ich. »Kennedy hat eine Blockade verhängt?«

»Nachdem Chruschtschow ein halbes Dutzend Atomraketen dort stationiert hat, ja«, antwortete Bach gelassen. »Was erwarten Sie denn, John? Dass er den Russen auch noch Transportflugzeuge zur Verfügung stellt?«

»Aber das ist Wahnsinn!« protestierte ich. »Die Situation wird eskalieren, wenn die Russen stur bleiben!«

Bach sah mich für die Dauer eines Atemzuges nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf, ging zum Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm einen tiefen Zug, ehe er antwortete.

»Vielleicht sind Sie doch kein so guter Agent, wie Sie zu glauben scheinen, John. Oder ich kein so guter Lehrer. Sonst wüssten Sie nämlich, dass der Präsident bereits eine Spezialeinheit der Marine in Alarmbereitschaft versetzt hat, um eine Landung auf Kuba durchzuführen. Wir werden Chruschtschow seine Missiles in Geschenkpapier verpackt zurückschicken - zusammen mit ein paar von Castros Zigarren.«

»Das bedeutet Krieg«, sagte ich.

Bach zuckte die Achseln. »Nur, wenn die Russen stur bleiben. Ich glaube nicht, dass sie dieses Risiko eingehen.«

»Und wenn doch?«

Bachs Achselzucken wiederholte sich. »Kennedy wird jedenfalls nicht nachgeben«, sagte er. »Aber das ist immer noch keine Antwort auf meine Frage: Was, zum Teufel, tun Sie hier, John?«

Bach sah mich an, schwieg.

»Majestic«, fuhr ich fort. »Er hat keine Ahnung, dass es existiert, und er weiß auch nichts von Roswell und allen anderen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat keine Ahnung, was vor sich geht.«

»Präsidenten kommen und gehen«, sagte Bach. »Kennedy ist ein guter Mann, aber für meinen Geschmack ein wenig zu redselig.«

Ich hätte nicht einmal mehr erschrocken sein dürfen, aber ich war es. Nein, nicht erschrocken. Ich war empört.

»Er weiß es nicht«, sagte ich. »Ebenso wenig wie Chruschtschow. Die beiden würden einen solchen Wahnsinn nie anfangen, wenn sie wüssten, was vor sich geht.«

»Vielleicht nicht«, antwortete Bach. »Vielleicht schon. Eine gemeinsame Bedrohung macht aus Feinden nicht zwangsläufig Freunde, wissen Sie?«

Ich starrte ihn eine Sekunde lang an, und dann machte es deutlich hörbar Klick hinter meiner Stirn. »Sie wollen es gar nicht, nicht wahr?« fragte ich. »Das ist es, was Sie wirklich wollen, Bach. Die wirkliche Bestimmung von Majestic! Sie wollen die Technologie der Grauen für sich. Nicht für Amerika. Für Majestic.«

Bach zog an seiner Zigarette. Seine Augen wurden schmal, und seine linke Hand glitt in einer unerwarteten Geste zur Brust und strich über den rechteckigen Anhänger, der an seinem Hals hing. »Sie sind betrunken«, sagte er plötzlich.

»Das stimmt«, gestand ich unumwunden. »Gerade genug, um den Mut für diese Worte zu haben. Aber nicht so sehr, dass ich nicht begreife, was hier vor sich geht.«

»Und was geht hier vor - Ihrer Meinung nach?« fragte Bach ruhig.

»Die Welt steuert auf eine Katastrophe zu, Sie ... Sie größenwahnsinniger Irrer!« schrie ich. »Und Sie haben die Möglichkeit, sie daran zu hindern! Sagen Sie es ihnen! Rufen Sie Kennedy an und erzählen Sie ihm die Wahrheit! Zeigen Sie ihm die Leichen der Grauen und das UFO-Wrack, das Sie irgendwo versteckt haben!«

»Ist das alles?« fragte Bach. Er wirkte äußerlich noch immer ganz ruhig, beinahe schon gefährlich ruhig. Aber seine Finger strichen weiter nervös über das Amulett an seinem Hals.

»Sie, Sie müssen es ihm sagen!« fuhr ich fort, noch immer erregt, aber jetzt nicht mehr schreiend. »Verdammt, Bach, wenn nicht Sie, wer sollte dann wissen, dass die Zeit vorbei ist, in der wir auf dieser Welt so tun können, als wären wir allein? Sie müssen es Kennedy sagen, und er muss es Chruschtschow sagen! Wir sind nicht mehr allein auf dieser Welt! Wir haben einen neuen Feind, und wir können ihn nur gemeinsam besiegen!«

Bach sah mich ruhig an. »Sind Sie jetzt fertig, John?«

»Heißt das, dass Sie es nicht tun werden?« fragte ich.

»Der Präsident weiß, was er wissen muss«, antwortete Bach kühl. »Nicht mehr, aber auch nicht weniger.«

»Sie ...«

»Sie sollten jetzt gehen John«, unterbrach mich Bach. »Ich werde dieses Gespräch vergessen. Sie sind erregt, und nach dem, was heute Abend passiert ist, kann ich das sogar verstehen. Aber machen Sie keine schlechte Angewohnheit daraus. Ich bin kein sehr großmütiger Mensch, wie Sie wissen.«

»Sie verstehen gar nichts!« antwortete ich bitter. »Mein Gott, Bach, Sie ... Sie glauben wirklich, Sie hätten das Recht, Gott zu spielen, wie?«

»Nein«, antwortete Bach. »Sie?«

»Ich werde da nicht länger mitspielen«, sagte ich. »Der Präsident wird erfahren, was vorgeht.«

»Nur zu«, sagte Bach. »Gehen Sie zu ihm und erzählen Sie ihm, was Sie wissen. Ich bin sicher, er wird herzhaft lachen.«

»Vielleicht auch nicht.«

Bach schüttelte den Kopf. Er blieb immer noch ganz ruhig. »Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie Ihren Rausch aus, John«, sagte er. »Wir reden morgen weiter, wenn Sie sich beruhigt haben.«

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