Mein Name ist John Loengard, und ich habe ein Geheimnis. Natürlich bin ich nicht der einzige Mensch auf der Welt, der ein Geheimnis hat. Fast jedermann hat Geheimnisse: große, kleine, harmlose oder auch furchterregende Geheimnisse, Geheimnisse, die Auswirkungen auf das eigene oder auch auf das Leben anderer haben. Mein Geheimnis jedoch, die Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, ist vollkommen anderer Natur. Ich will nicht behaupten, dass es Auswirkungen auf Ihrer aller Leben haben könnte, denn das wäre nicht wahr. Tatsache ist, es hat bereits Auswirkungen auf Ihrer aller Leben gehabt, und es hat sie noch.

Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, erstreckt sich über einen Zeitraum von beinahe vierzig Jahren; fast ein ganzes Menschenleben. Ich war noch ein Kind, als sie ihren Anfang nahm, und ein junger Mann, als ich das erste Mal davon hörte. Heute bin ich alt. Nicht so alt, dass ich nichts mehr zu verlieren hätte, oder mir mein Leben nichts mehr wert wäre, aber doch alt genug, um den Tod nicht mehr zu fürchten. Ich erzähle Ihnen diese Geschichte in Form einer Fiktion; nicht, um mich selbst zu schützen, sondern um all jene nicht in Gefahr zu bringen, die gleich mir Jahre um Jahre im Verborgenen gelebt und Widerstand geleistet haben. Die meisten von denen, über die ich berichten werde, sind schon lange nicht mehr am Leben. Manche wurden getötet, andere starben eines natürlichen Todes oder verschwanden einfach. Aber der Feind, gegen den wir kämpfen, hat das Wort Rache in leuchtenden Buchstaben auf seine Fahne geschrieben. Es gehört zu seiner Taktik, die Söhne für die Sünden der Väter bezahlen zu lassen; vielleicht die subtilste Art, Druck auszuüben, aber auch eine sehr wirkungsvolle. Ich habe Menschen zu schützen, deren Namen ich niemals zuvor gehört habe, und Existenzen vor der Vernichtung zu bewahren, die so wenig von mir wissen wie ich von ihnen. So habe ich - mit einigen wenigen Ausnahmen - Namen geändert und Örtlichkeiten ausgetauscht oder auch bewusst falsch beschrieben. Ich überlasse es Ihnen, zu entscheiden, welche reale Person sich hinter welchem Pseudonym verbirgt, welcher Ort sich hinter welcher Beschreibung, welches wirkliche Geschehen hinter welcher Geschichte. Die eigentliche Geschichte jedoch, von der ich berichten werde, die ungeheuerliche Bedrohung, die seit einem halben Jahrhundert über unser aller Häupter schwebt, ist wahr. Wenn Sie diese Geschichte zu Ende gelesen haben, werden Sie wissen, dass es so ist, denn das Geheimnis, von dem ich rede, verbirgt sich hinter dem Offensichtlichen. Das große Bild ist nicht verborgen, aber aufgeteilt in Millionen einzelner Puzzleteile, für jedermann sichtbar und zugänglich. Das Geheimnis ist nicht das Bild, es ist der Plan, nach dem seine einzelnen Teile zusammengesetzt werden müssen.

Als es begann, war ich ein junger Mann, der glaubte, die Welt aus den Angeln heben zu können und alles zu wissen. Nun, wo es bald endet, bin ich ein alter Mann, der weiß, dass die Welt vielleicht wirklich kurz davor steht, über uns allen zusammenzustürzen, und der trotz allem noch immer so gut wie nichts weiß ...


Kimberley und ich erreichten Washington D.C. in den frühen Morgenstunden des dritten Oktober 1961. Trotz all der Zeit, die seither vergangen ist, erinnere ich mich so gut an jenen Tag, als wäre es gestern gewesen. Vielleicht, weil es nicht nur der erste Tag unseres neuen gemeinsamen Lebens war, sondern auch zugleich der letzte Tag unserer Jugend, der unwiderruflich letzte Tag, an dem wir noch unschuldig und vor allem unwissend waren, und der so unendlich kostbaren Illusion erlagen, die schlimmsten Bedrohungen, denen wir uns gegenübersehen konnten, wären russische Atomraketen, das Finanzamt und Geschwindigkeitskontrollen auf dem Highway.

Was letzteres anging, so hatten wir allerdings in den vergangenen vier Tagen nichts zu befürchten gehabt. Der altersschwache Chevy, mit dem Kim und ich uns auf die annähernd tausend Meilen lange Reise nach Washington gemacht hatten, hatte seine liebe Mühe, die erlaubten fünfundfünfzig Meilen Höchstgeschwindigkeit zu erreichen, und ich hatte mich gehütet, den Wagen übermäßig zu strapazieren. Unsere Reisekasse hätte eine größere Reparatur ebenso wenig verkraftet wie unser Terminplan eine längere Verzögerung. Beides war knapp kalkuliert; nicht aufs Äußerste, aber eng.

Dieser Tag jedoch gehörte noch ganz allein uns.

Wir hatten in einem kleinen Motel fünfzig Meilen vor der Stadt übernachtet, vor Sonnenaufgang gefrühstückt und waren mit dem ersten Grau der Dämmerung aufgebrochen. Weder Kimberley noch ich waren am vergangenen Abend besonders müde gewesen, aber keinem von uns war es in den Sinn gekommen, die letzten fünfzig Meilen - selbst mit dem altersschwachen Chevy kaum anderthalb Stunden - noch durchzufahren und in der Stadt zu übernachten. In Washington anzukommen, bedeutete für uns beide, in der Morgendämmerung auf dem Highway hereinzurollen wie in den unendlich vielen Filmszenen, die den triumphalen Einzug in eine Stadt romantisch verklärten.

Natürlich war diese Vorstellung naiv. Sie war durch und durch romantisch, sie war ein bisschen kindisch, und sie war eindeutig mehr als ein bisschen kitschig - kurz: Dieser Tag wurde zu einem der wunderbarsten, die Kim und ich zusammen verbracht hatten.

Wir absolvierten das ganze Programm: das Weiße Haus, Capitol Hill, Washington Memorial ... Sie können die Strecke, die wir damals abfuhren, noch heute in jedem Zwei-Dollar-Reiseführer nachlesen, oder sie auch für fünf Dollar auf einer Sightseeing-Tour nachvollziehen. Natürlich machten wir auch das obligate Foto auf den Stufen des Capitol Hills. Es steht noch heute auf dem Kaminsims in meinem Arbeitszimmer, ein vergilbtes, nicht ganz scharfes Foto in jenen leicht braunstichigen Farben, die typisch für die ersten Kodak-Farbfilme waren, und das ein junges Paar Anfang der Zwanziger zeigt, das Arm in Arm dasteht und mit seinem fröhlichen Lächeln die ganze Welt herauszufordern scheint. In Wahrheit lächelten wir nur dem Passanten zu, dem ich meine Kamera in die Hand gedrückt und ihn gebeten hatte, ein Foto von uns zu machen. Aber es ist ein hübscher Gedanke. Wenn man zwanzig ist, hat man keinerlei Bedenken, die ganze Welt herauszufordern.

Natürlich erwartet man auch nicht, dass die Welt diese Herausforderung annehmen könnte.

Die einzige Herausforderung, der wir an diesem Tag mit gemischten Gefühlen entgegensahen, war die, ein Dach über dem Kopf zu finden. Man darf nicht vergessen, dass die sechziger Jahre mit ihrer liberalen Lebensweise gerade erst begonnen hatten. Die Beatles tourten bereits durch Europa, aber ihre Texte hatten gerade erst begonnen, ihre Saat in die Köpfe einer Generation zu pflanzen, die in frühestens zehn Jahren das Sagen haben würde, und Woodstock war noch ein bedeutungsloser Fleck auf der Landkarte. Und Kim und ich waren nicht verheiratet.

Damals war das ein Problem; weniger für uns, aber durchaus für die ersten drei Hausmeister, bei denen wir vorstellig wurden, um uns eine Wohnung anzusehen. Zu den wenigen Einzelheiten dieses dritten Oktobers, die ich vergessen habe, gehörten die fadenscheinigen Ausreden, mit denen die Wohnungen, die noch am Morgen als zu vermieten in der Zeitung gestanden hatten, nun doch nicht mehr frei waren.

Schließlich aber endete dieser Tag, wie er begonnen hatte: Mit dem ersten wirklich klaren Licht der Sonne waren wir in Washington angekommen, mit dem letzten hellen Sonnenlicht traten wir hinter einem knapp fünfzigjährigen, leicht übergewichtigen Italo-Amerikaner mit einem gutmütigen Lächeln in ein möbliertes Drei-Zimmer-Apartment, das für die nächsten zwei Jahre unser Zuhause werden sollte.

»Es ist nicht direkt das Capitol«, sagte Minetti mit einem entschuldigenden Achselzucken, »aber Sie haben zumindest einen Blick darauf. Wenigstens manchmal ... wenn das Gartenamt jemanden schickt, der die Bäume stutzt.«

Kim und ich tauschten einen fragenden Blick. Das Wohnzimmer hatte nur ein einziges, allerdings sehr großes Fenster, das tatsächlich nach Norden und damit zum Capitol hinausging. Offensichtlich war das Gartenamt gerade dagewesen, denn in den länger werdenden Schatten des Tages blitzte das strahlende Weiß der Kuppel des Kongressgebäudes durch die Baumwipfel.

»Gefällt es Ihnen?« Minetti machte einen Schritt zur Seite und wedelte auffordernd mit der Hand. Kim und ich waren unter der Tür stehen geblieben, und offensichtlich deutete er unser Zögern falsch. Kimberley überwand ihre Hemmung als Erste. Sie trat mit zwei schnellen Schritten an Minetti vorbei bis in die Mitte des Zimmers, drehte sich anderthalbmal um ihre Achse, und als sie mich danach ansah und ich das glückliche Funkeln in ihren Augen erblickte, wusste ich, dass die Entscheidung gefallen war. Das Apartment war weitaus kleiner, als wir es uns vorgestellt hatten. Die Einrichtung war noch nicht schäbig, stand aber dicht an der Grenze dazu, und die Miete überstieg eindeutig unseren Etat - aber Kim hatte ihr Zuhause gefunden.

»Doch, sicher«, sagte ich hastig. »Es ist nur ...«

»Wenn es um die Miete geht, da kann ich nichts machen«, sagte Minetti. Das Bedauern in seiner Stimme klang echt. »Das Haus gehört mir nicht, wissen Sie? Ich verwalte es nur. Wenn Sie mich fragen, ist die Wohnung viel zu teuer. Das ist wohl auch der Grund, aus dem sie schon so lange leer steht. Ich könnte verstehen, wenn Sie sie nicht wollen.«

Ich sah nicht einmal in ihre Richtung, aber ich konnte Kims Blicke deutlich spüren. »O nein, Mister Minetti. Die Miete ist vollkommen in Ordnung. Es ist nur ...«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, unterbrach mich Minetti. »Ich lasse Sie und Ihre entzückende Verlobte einen Moment allein, und Sie können sich die Wohnung in aller Ruhe ansehen. Wenn Sie möchten, bereite ich schon einmal die Papiere vor. Welche Namen darf ich in den Mietvertrag einsetzen? Mister ...?«

»Loengard«, antwortete ich überrascht. »John Loengard.«

»John.« Minetti nickte. »Und Misses ...?«

»Sayers«, sagte Kim. »Kimberley Sayers.«

»Kim und John. Das klingt gut, finde ich.« Minetti blinzelte Kim zu, drehte sich herum und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Kim und ich blieben einen Moment lang vollkommen fassungslos zurück.

»Was ... war das?« murmelte ich.

»Ich glaube, wir haben gerade eine Wohnung gefunden«, antwortete Kim. Sie klang mindestens so überrascht wie ich, aber wie meistens überwand sie ihre Überraschung schneller. Noch bevor ich etwas sagen konnte, fiel sie mir um den Hals, wirbelte mich herum und küsste mich so stürmisch, dass ich um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.

»Eine Wohnung«, jubelte sie. »Unser erstes eigenes Zuhause! Und ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben!«

»He, he, Moment! Nicht so schnell!« Ich befreite mich mit einiger Mühe aus ihrer Umarmung und versuchte zumindest, ihr zu widersprechen; wider besseres Wissen und im Grunde nur, um das Gesicht zu wahren. »Noch habe ich nicht ja gesagt. Diese Wohnung ist winzig! Außerdem können wir sie uns nicht leisten!«

»Unsinn!« widersprach Kimberley. »Wir sparen eine Menge Geld an Vorhängen und Tapeten, weil sie so klein ist. Und ich werde mich einschränken.«

»So?« fragte ich.

»Ich gebe das Rauchen auf und werde weniger trinken«, sagte Kim mit todernster Miene. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie geraucht, und das einzige Mal, dass ich sie hatte Alkohol trinken sehen, war auf dem Abschlussball der Oberstufe gewesen. Nach dem zweiten Punsch hatte ich sie praktisch nach Hause tragen müssen.

»Und ich könnte versuchen, etwas weniger Geld für Frauen auszugeben«, fügte ich hinzu, fuhr aber praktisch sofort und in jetzt wirklich ernsthaftem Ton fort: »Im Ernst: Ich weiß nicht, ob wir sie uns leisten können. Du weißt, dass ich am Anfang noch nicht so viel verdiene.«

Kimberley zuckte mit den Schultern. »Dann bleiben dir nur zwei Möglichkeiten«, sagte sie. »Du musst entweder eine Blitzkarriere machen, oder du bittest Simonson, dich auf einen Posten zu setzen, auf dem du genug Bestechungsgelder kassieren kannst.«

Damit war die Sache entschieden. Letztlich wussten wir beide, dass wir keine andere Wohnung finden würden; nicht ohne einen Trauschein vorzuzeigen oder eine Miete zu zahlen, die zur Hälfte aus Schweigegeld bestand. Wie gesagt: Es waren die frühen Sechziger. Außerdem hatte sie zumindest in einem Punkt Recht: Wir konnten ein wenig einsparen, wenn ich morgens zu Fuß zur Arbeit ging, statt mit dem Wagen zu fahren oder die U-Bahn zu nehmen. Wenigstens in dieser Hinsicht war das Apartment ideal.

»Deine Mutter wird entsetzt sein, wenn sie uns besucht und sieht, in was für einem Loch wir hausen«, sagte ich; ein ebenso hilf- wie sinnloses Rückzugsgefecht, das schon verloren war, bevor es begonnen hatte. Ich habe Kimberley niemals etwas abschlagen können, was sie sich wirklich in den Kopf setzte. Ich schätze, niemandem ist das jemals gelungen.

»Meine Mutter wird uns nicht besuchen«, sagte sie überzeugt. »Sie würde es niemals zugeben, aber sie hasst dich aus tiefstem Herzen.«

»Weil ich mit ihrer einzigen Tochter in Sünde lebe?« fragte ich mit gespieltem Entsetzen.

»Weil du sie um eine große Hochzeitsfeier gebracht hast«, antwortete Kimberley mit ebenso perfekt gespieltem Ernst. »Du weißt doch, wie Mutter ist. Ein großes Fest. Hunderte von Gästen, eine Hochzeitstorte, Kerzen, Musik, all das ...« Sie machte eine Handbewegung, die deutlich werden ließ, dass sie diese Aufzählung noch praktisch unbegrenzt hätte fortführen können, und verdrehte die Augen. »Ich glaube, sie hat im Geist bereits angefangen, meine Hochzeitsfeier zu planen, als ich noch in den Windeln lag.«

»Und dann kommt so ein junger Schnösel wie ich, frisch von der Hochschule und ohne den mindesten Anstand, und stiehlt ihr einfach den Traum ihres Lebens«, seufzte ich. »Die arme Frau. Es wird ihr das Herz brechen.«

»Mit Sicherheit«, sagte Kimberley. »Das Einzige, was ihr noch die Kraft zum Weiterleben gibt, ist die Hoffnung, dass wir doch noch heiraten.«

»Das werden wir«, versprach ich.

Kimberley blinzelte. »Wann?«

»Sobald ich Gouverneur bin. Spätestens, wenn ich für das Amt des Präsidenten kandidiere. Du weißt, die Leute sind altmodisch. Einen Präsidenten, der mit einer Frau zusammenlebt, ohne mit ihr verheiratet zu sein, würden sie niemals wählen. Du wirst dich also noch zwei oder drei Jahre gedulden müssen.«

»So lange?«

»Du erwartest doch nicht von mir, dass ich gegen Kennedy antrete?« sagte ich. »Ich bitte dich, Schatz. Der Mann hat Familie! Das kann ich ihm auf keinen Fall antun!«

Und das war der Moment, in dem wir beide mit unserer Beherrschung am Ende waren. Lauthals lachend fielen wir uns in die Arme, küssten uns, lachten wieder, kicherten und alberten so lautstark und ausgelassen herum wie zwei Kinder, die von ihren Eltern zum ersten Mal in ein Sommercamp geschickt worden waren.

So weit ich mich erinnere, war es das letzte Mal für sehr, sehr lange Zeit, dass einer von uns so ausgelassen und fröhlich lachen konnte.

Vielleicht sogar für immer.

Man sagt, jeder Mensch sei seines eigenen Glückes Schmied. Ich habe nie viel von solchen »Volksweisheiten« gehalten, aber wenn sie stimmt, so gilt sie vermutlich auch anders herum: Jeder ist seines eigenen Unglückes Schmied. In den nächsten beiden Wochen jedenfalls begann ich allmählich an diese Version zu glauben.

Kim und ich waren natürlich nicht unglücklich; jedenfalls nicht so sehr, dass wir es uns selbst gegenüber - oder gar dem jeweils anderen - zugegeben hätten. Ganz im Gegenteil. Der Vorrat an Euphorie, den wir uns in dem guten halben Jahr zugelegt hatten, das zwischen unserem Entschluss nach Washington zu gehen und unserem tatsächlichen Aufbruch vergangen war, war so groß, dass wir vermutlich dann noch optimistisch in die Zukunft geblickt hätten, wenn uns der Himmel auf den Kopf gefallen wäre.

Jedenfalls abends und an den Wochenenden, in den wenigen Stunden, die wir für uns hatten.

Die Wirklichkeit sah leider etwas ernüchternder aus.

Kim und ich hatten unseren Umzug nach Washington sorgfältig geplant. Wir waren jung, wir waren optimistisch, und natürlich waren wir begeisterte Anhänger des Kennedy-Clans und vor allem des Geistes, den John F. und Bobby verkörperten. Wir waren schon während unserer College-Zeit in die New Frontier eingetreten, und die Jahre, in denen wir - unentgeltlich, dafür aber mit um so größerer Begeisterung - Plakate geklebt, Flugblätter verteilt, Spruchbänder geschwenkt und Klappstühle in Turnhallen aufgestellt hatten, zahlten sich am Ende doch aus: Kim hatte einen Job im Washingtoner Büro von Women's Lib. bekommen. Eigentlich nichts Besonderes - wenn ich den euphorischen Klang ihrer Stimme außer Acht ließ, in dem sie von ihrer Arbeit erzählte, und nicht vergaß, dass das begeisterte Leuchten in ihren Augen eher ein Kredit war, den sie auf die Zukunft aufgenommen hatte, dann blieb wenig mehr als ein ganz normaler Bürojob übrig: Telefon, Ablage, und dazwischen Briefe auf einer Schreibmaschine tippen, von der sie argwöhnte, dass sie noch auf der MAYFLOWER mit ins Land gekommen war. Das Ganze natürlich im Dienste einer guten Sache, dafür aber für etwas weniger als die Hälfte der Summe, die dieser Job in der freien Wirtschaft eingebracht hätte. Alles konnte man schließlich nicht haben.

Verglichen mit ihr hatte ich geradezu das große Los gezogen. Ich verdiente zwar nicht nennenswert mehr als sie, aber ich hatte einen Job im Capitol - nicht im übertragenen, sondern im wortwörtlichen Sinne: Ich war der persönliche Assistent eines leibhaftigen Kongressabgeordneten. Kein Zweifel, dass ich in spätestens zwei Jahren auf seinem Stuhl sitzen und nach spätestens einem weiteren Jahr für das Amt des Gouverneurs kandidieren würde.

Der einzige Wermutstropfen war vielleicht, dass Congressman Pratt ungefähr fünfzig persönliche Assistenten hatte, und die meisten davon mindestens genauso ehrgeizig waren wie ich, aber schon etliche Jahre länger dabei. Ich gab es Kimberley gegenüber nicht zu - wenigstens am Anfang nicht -, aber meine Arbeit bestand zum allergrößten Teil darin, Kaffee zu holen, Sandwiches und Donuts zu besorgen und Verbindungen aus Flug- und Amtrak-Plänen herauszusuchen.

Zumindest mein Büro war imposant. Es hatte gute hundert Quadratmeter, holzvertäfelte Wände und eine beeindruckende Aussicht über halb Washington, und es lag nicht nur auf dem gleichen Flur, sondern direkt gegenüber von Pratts Büro. Unglücklicherweise musste ich es mir mit ungefähr dreißig anderen persönlichen Assistenten des Kongressabgeordneten teilen, aber, wie gesagt: Alles konnte man schließlich nicht haben. Ich ließ mir weder Kim, noch einem meiner Kollegen oder gar mir selbst gegenüber irgendetwas von der Enttäuschung anmerken, die sich im Laufe der folgenden Wochen in mir breit machte, sondern wartete auf meine Chance.


Sie kam an einem Tag im Spätherbst, und auf eine so harmlose und beiläufige Art, dass ich sie fast nicht erkannt hätte. Im Grunde war es ein Zufall, eine belanglose Kleinigkeit, über die ich mich im ersten Moment nur ärgerte. Aber es sind oft die scheinbar belanglosen Nebensächlichkeiten, die den Stein ins Rollen bringen, der sich später zu einer gewaltigen Lawine auswächst. Was man oft erst im Nachhinein begreift. In meinem Fall war dieser Stein eine Kombination aus der Bewegung einer Pendeltür und meiner eigenen Unaufmerksamkeit, und die Lawine war ein Schwall brühheißen Kaffees, der sich über meinen rechten Arm, die Jacke und meine Weste ergoss und auch noch gerade eben ausreichte, meiner Hose ein Ticket für die nächste chinesische Wäscherei zu besorgen. Einige Sekunden lang stand ich einfach nur missmutig da und starrte an mir herab. Ich war nicht sicher, was ich schlimmer finden sollte: den brennenden Schmerz auf meinem Handrücken (der Kaffee war wirklich heiß gewesen) oder der Gedanke an Kimberleys vorwurfsvolle Blicke am Abend, wenn ich ihr den verdorbenen Anzug präsentierte. Unser Haushaltsetat war knapp kalkuliert. Mehr als eine Wäschereirechnung pro Woche war einfach nicht darin vorgesehen.

»Probleme, John?«

Ich musste mich nicht herumdrehen, um Simonsons schadenfrohes Grinsen zu sehen. Ich konnte es regelrecht hören. Simonson war ein netter Kerl; einer der wenigen meiner Kollegen - wenn nicht der Einzige -, der sich vielleicht einmal zu so etwas wie einem Freund entwickeln konnte. Ich schätze, umgekehrt ging es ihm ähnlich. Er war gute zehn Jahre älter als ich; nicht alt genug, um mein Vater zu sein, aber vermutlich, um so etwas wie einen Beschützerinstinkt zu entwickeln. Ein naiver junger Bursche wie ich, der geradewegs aus der Provinz kam und den Kopf voller Flausen hatte und den er unter seine Fittiche nehmen konnte, war anscheinend genau das, was er schon lange gesucht hatte, um sein Ego aufzupolieren. Trotzdem war er wirklich ein netter Kerl - wenn er nicht einen so übertriebenen Hang zur Schadenfreude gehabt hätte.

Jedenfalls kam er mir im Moment entschieden übertrieben vor.

Ich starrte ihn so finster an, wie ich nur konnte, schüttelte aber trotzdem den Kopf und sagte so gelassen wie möglich: »Nein. Wie kommst du darauf? Ich habe mir die Hand verbrüht, und Kim wird mich umbringen, wenn sie meinen Anzug sieht.« Ich hob den Kaffeebecher und trank die anderthalb Schlucke, die sich noch darin befanden, in einem Zug. »Und außerdem ist dieser Kaffee absolut scheußlich. Was sollte ich also für Probleme haben?«

Simonson lachte, aber diesmal klang es nicht schadenfroh, nicht einmal mehr echt. Die Art, auf die er mich ansah, wirkte sogar ein ganz kleines bisschen besorgt. Dann fragte er geradeheraus: »Was ist los mit dir?«

»Was soll los sein? Ich habe mir einen Becher Kaffee über den Anzug geschüttet. Nun ja ... immerhin etwas Aufregendes.«

»Na, dann koch ihn doch heute Abend aus.« Simonson grinste, wurde aber sofort wieder ernst. »Wenn du eine Schulter zum Ausweinen brauchst, stelle ich mich gerne zur Verfügung. Wie wär's, wenn wir heute Abend zusammen ein Bier trinken gehen - auf meine Kosten natürlich.«

»Das ist nicht ...«

»Es muss dir nicht peinlich sein«, unterbrach mich Simonson. »Glaubst du, ich kenne das nicht? Ich war auch einmal neu in dieser Stadt. Ich war auch einmal jung, und ich habe auch einmal eine Familie gegründet und von der großen Karriere geträumt. Washington ist ein teures Pflaster.«

Seine Worte waren mir peinlich. Nicht einmal, weil er offenbar so mühelos durch mich hindurchsah wie durch die Gläser seiner altmodischen Hornbrille, sondern weil sie eine Vertrautheit verströmten, die ihm allerhöchstens zugestanden hätte, wenn er wirklich mein Vater gewesen wäre oder aber mein zehn Jahre älterer Bruder.

»Das ist es nicht«, antwortete ich, ganz bewusst eine Spur schärfer, als nötig gewesen wäre, aber Simonson fuhr so vollkommen unbeeindruckt fort, als hätte ich gar nichts gesagt: »Ich weiß, wie du dich fühlst. Der große Katzenjammer, stammt's? Den kriegt jeder, früher oder später. Es ist ein mieser Job, er wird schlecht bezahlt, und man hat das Gefühl, auf der Stelle zu treten.« Er zuckte mit den Schultern. »Da musst du durch. Es ist gar nicht so schlecht. Früher oder später bekommt jeder eine Chance.«

»Aber darum geht es gar nicht«, widersprach ich. »Ich bin jetzt seit fast drei Monaten hier, und alles, was ich tue, ist Kaffee holen, Fahrpläne wälzen und Briefe frankieren!«

Simonson widersprach nicht. Aber das lag wohl weniger an meinem scharfen Ton als vielmehr daran, dass ich ihm mit jedem Wort Recht gegeben hatte; wenn auch, ohne es zu wollen. Aber verdammt, er hatte Recht! Ich war nach Washington gekommen, um die Welt zu verändern, nicht um zu lernen, wie man Zehn- oder Zwanzig-Cent-Briefmarken am Geschmack unterschied!

»Warum ...«, begann Simonson, unterbrach sich mit einem erschrockenen Laut und schaffte es mit einem schnellen Schritt zur Seite gerade noch, einer weiteren Attacke der Schwingtür auszuweichen, der gerade mein Kaffee und mein Anzug zum Opfer gefallen waren. Niemand anderes als Congressman Pratt stürmte hindurch - wie üblich in Eile, wie üblich gerade eine Spur schlampiger gekleidet, als man es von einem Mann in seiner Position eigentlich erwartete, und wie üblich mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen gehetzter Eile und beginnendem Zorn schwankte. Ich hatte Pratt in den vergangenen Wochen buchstäblich unzählige Male gesehen, aber ich war mir bis zu diesem Moment nicht klar geworden, ob ich ihn nun sympathisch fand oder nicht. Aber das war nebensächlich: Er war mein Chef.

Pratt stockte mitten im Schritt. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich für eine Sekunde, als er die braunen Flecken auf meinem Hemd und meinem Anzug bemerkte, und vielleicht war jetzt der Moment gekommen, in dem er zum ersten Mal Notiz von mir nehmen würde. Ich bezweifelte, dass er überhaupt wusste, dass es mich gab. Dann aber schien er zu dem Schluss zu kommen, dass der Aufwand nicht lohnte: Er deutete ein Achselzucken an, drehte sich mit einer gekonnten Bewegung auf dem Absatz herum und wandte sich in kühlem Ton und mit einem vermutlich jahrelang geübten Muss-ich-denn-eigentlich-alles-selbst-machen-Blick an Simonson:

»Marc, da sind Sie ja! Haben Sie sich um diesen Brief vom Rechnungshof gekümmert, um den ich Sie gestern gebeten habe?«

Simonson fuhr sichtlich zusammen und sah plötzlich gar nicht mehr väterlich-überlegen aus. »Noch nicht, Sir«, sagte er, »aber ...«

»Marc.« Pratt seufzte, schüttelte strafend den Kopf und begann, einen gepolsterten braunen Briefumschlag zu schwenken, den er in der rechten Hand hielt. »Ich habe hier schon wieder einen Brief dieser Leute. Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen, und Sie haben hundertprozentig Recht, mit jedem Wort. Diese Leute sind eine Pest. Unglückseligerweise haben sie jedoch eine Menge Freunde, und was erschwerend hinzukommt: Einige von ihnen haben unglückseligerweise eine Menge Geld für meinen letzten Wahlkampf gespendet.« Er hob seinen Umschlag und pikste damit wie mit einer Waffe nach Simonsons Brust. »Und ich möchte, dass es so bleibt. Haben wir uns verstanden, Marc?«

Simonson nickte nervös. »Sicher, Herr Abgeordneter. Es ist nur ...«

Ich sah das warnende Funkeln in Pratts Augen und beschloss, etwas zu tun, bevor Simonson sich um Kopf und Kragen reden konnte. Pratt war für eine Menge bekannt, aber eindeutig nicht für seine Geduld. Also raffte ich all meinen Mut zusammen, nahm Pratt den Umschlag aus der Hand und sagte: »Vielleicht kann ich ja helfen.«

Simonson wurde kreidebleich, während Pratt mich geschlagene zwei Sekunden lang wortlos anstarrte - und dann zu meiner eigenen Überraschung mit den Schultern zuckte und antwortete: »Es ist mir vollkommen gleich, wer es macht, und wie. Aber schafft mir diese Aasgeier vom Hals. Ich brauche etwas, das ich ihnen zum Fraß vorwerfen kann!«

Und damit ging er.

Simonson blickte ihm vollkommen fassungslos nach, dann sog er hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein und starrte mich finster an. »Vielleicht sollte ich ein bisschen besser aufpassen, was ich sage«, grollte er. »Ganz so war das mit der Chance nicht gemeint. Du solltest sie ergreifen, nicht einem anderen aus der Hand reißen!«

Ich machte ein gebührend bedauerndes Gesicht, antwortete jedoch: »He, Marc - komm schon! Ich weiß doch, dass du in Arbeit erstickst, und ich langweile mich zu Tode!«

»Und jetzt glaubst du, du könntest mit diesem kleinen Husarenstück deiner Karriere zu einem Blitzstart verhelfen?« Simonson starrte mich noch einen weiteren Moment lang finster an. Dann schüttelte er den Kopf - und begann plötzlich leise, aber sehr herzhaft zu lachen. »Ganz wie Sie wollen, Mister Loengard. Folgen Sie mir.«

Er stieß die Pendeltür auf - ich war sicher, ganz bestimmt nicht zufällig so, dass ich alle Mühe hatte, nicht schon wieder von dem Ding getroffen zu werden - trat rasch hindurch und ging zu seinem Schreibtisch. Der Lärm des großen Büros, das wir uns mit knapp dreißig anderen »Assistenten« teilten, schlug wie eine akustische Woge über uns zusammen, schien aber zugleich auch eine beruhigende Wirkung auf Simonson auszuüben, denn als er weitersprach, war jede Spur von Unmut aus seiner Stimme verschwunden. Dafür glaubte ich schon wieder, die alte Schadenfreude in seinem Blick zu erkennen.

»Du willst also deine Chance«, sagte er. »Hast du überhaupt eine Ahnung, worauf du dich da einlässt?«

Natürlich hatte ich die nicht; nicht einmal eine Spur davon - was mich aber nicht davon abhielt, voller Enthusiasmus zu nicken.

»Also gut«, sagte er. »Es geht um Folgendes. Unser über alles geliebter Chef muss dem Rechnungshof bis Ende des Jahres ein Opfer bringen. Das Geld ist knapp, die Steuern zu hoch, und die Leute auf der Straße möchten zur Abwechslung einmal in den Zeitungen lesen, dass die Regierung Steuergelder gespart hat, statt sie zu verschwenden.« Er wedelte mit der linken Hand, grinste und deutete aus der gleichen Bewegung heraus auf den gefütterten Umschlag, den ich noch immer in beiden Händen hielt.

»Glaubst du an UFOs?« fragte er harmlos.

»UFOs?« wiederholte ich verblüfft. Offensichtlich sah man mir mein Erstaunen auch deutlich an, denn Simonson hatte plötzlich alle Mühe, nicht seine eigenen Ohrläppchen zu verschlucken, so breit wurde sein schadenfrohes Grinsen.

»UFOs«, bestätigte er. »Unidentifizierte Flugobjekte, oder auch fliegende Untertassen genannt.«

»Ich weiß«, sagte ich hastig. »Und natürlich glaube ich nicht daran.«

»Siehst du«, grinste Simonson. »Pratt auch nicht, ebenso wenig wie der überwiegende Teil der Bevölkerung. Auf der anderen Seite gibt das Militär eine Menge Geld dafür aus, nach diesen fliegenden Untertassen zu suchen. Geld, das man an anderen Stellen besser einsetzen könnte.«

»Und ich soll jetzt ...«

»Nur ein paar hieb- und stichfeste Argumente dafür finden, diesem Projekt den Geldhahn abzudrehen«, unterbrach mich Simonson. »Stell dir das nicht so leicht vor. Die Jungs von der Air Force sind vielleicht nicht sehr helle, aber sie können verdammt stur sein.«

Ich blickte ein wenig unglücklich auf den Umschlag in meinen Händen hinab. »Du meinst, ich soll herausfinden, was an diesen UFO-Meldungen wirklich dran ist?«

Simonson schüttelte den Kopf. »Du sollst Argumente finden, die dagegen sprechen«, sagte er betont. »Die Wahrheit interessiert niemanden, Pratt am allerwenigsten. Du hast ihn gehört: Er will dieses Projekt abschießen, um sich die Aasgeier vom Rechnungshof vom Hals zu schaffen. Und du wirst ihm die Munition dafür liefern. Und das Ganze in spätestens drei Monaten. Ach ja, und noch etwas.« Sein Grinsen wurde breiter, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. »Dein Bericht sollte nicht länger als maximal drei Seiten sein. Du weißt, Pratt ist ein Farmer. Er liest nicht gerne.«

Natürlich hätte ich es besser wissen müssen. Es war nicht nur das schadenfrohe Glitzern in Simonsons Augen, das mich hätte warnen sollen. Sowohl mein gesunder Menschenverstand als auch die pure Logik hätten mir sagen sollen, dass ich besser die Finger von der Sache lassen sollte. Auch ein Mann wie Simonson schenkte eine Chance auf einen plötzlichen Karriereschub nicht so einfach her, bei allem väterlichen Großmut - dazu waren sie einfach zu selten. Nicht einmal Kim hatte besonders begeistert reagiert, als ich an jenem Abend nach Hause kam und ihr freudestrahlend von meiner ersten richtigen Aufgabe berichtete. Ganz im Gegenteil. Sie hatte - vorsichtig formuliert - massive Bedenken geäußert, zum einen, weil sie befürchtete, dass mein Spezial-Auftrag mit einer Menge Reisen und somit längerer Abwesenheit von zu Hause verbunden sein könnte. Wir kannten uns zwar schon seit Jahren, waren aber noch nicht lange genug zusammen, um eine Trennung für mehr als zwei oder drei Tage ohne bleibenden seelischen Schaden überstehen zu können.

Zumindest mit ihrer zweiten Befürchtung hatte sie nur zu Recht.

Ich verbrachte in den nächsten Wochen entschieden mehr Zeit auf dem Highway, in Eisenbahnabteilen zweiter Klasse, staubigen Archiven und drittklassigen Absteigen als zu Hause. Es war eine mühselige - und vor allem frustrierende - Arbeit. Man glaubt nicht, welche Feindseligkeit und Ablehnung einem entgegenschlägt, wenn die Leute merken, dass man es auf ihr Allerheiligstes abgesehen hat: auf ihre Pfründe. Und ich nahm meine Aufgabe ernst. Ich las Dutzende von so genannten Augenzeugenberichten, durchforstete Hunderte von Zeugenaussagen und kontrollierte (jedenfalls kam es mir so vor) Tausende von Spesenabrechnungen. Es gab die üblichen, kleinen Betrügereien - ein Essen hier, ein paar Gallonen Benzin dort, die eine oder andere Hotelübernachtung, die nicht gerechtfertigt schien - aber im Grunde nichts Aufregendes. Zwei Dinge jedoch wurden mir im Laufe dieser Wochen hundertprozentig klar: der Grund, aus dem Simonson mich so schadenfroh angesehen hatte - und dass ich wirklich besser auf Kimberley gehört hätte. Was sie als Fliegender-Untertassen-Humbug bezeichnet hatte, war ganz genau das: Fliegender-Untertassen-Humbug. Meine Frist war allerdings auch fast abgelaufen. Weihnachten näherte sich mit Riesenschritten und in seinem Gefolge auch der Tag, an dem Pratt meinen Bericht auf dem Schreibtisch haben wollte. Ich hatte mittlerweile genug Material zusammen, um nicht drei, sondern dreihundert Seiten mit Argumenten füllen zu können, die es Congressman Pratt ermöglichten, im nächsten Jahr keinen Cent mehr für die Suche nach kleinen grünen Männchen vom Mars zu bewilligen.

Ich hatte es fast geschafft. Wright-Patterson Air Force Base in Dayton, Ohio, war einer der letzten Punkte auf meiner Liste. Noch ein oder zwei Tage in muffigen Archiven, noch ein oder zwei Tage voller staubiger Akten, bei denen ich mittlerweile schon husten musste, wenn ich sie nur sah, voller feindseliger Blicke und kleiner Bosheiten, die genau so bemessen waren, dass man eben keinen Grund hatte, sich offiziell zu beschweren ... Schwamm drüber. Wright-Patterson war mein letzter Termin außerhalb Washingtons. Ich hatte die Fahrkarte für den Nachtzug bereits in der Tasche. In wenigen Stunden würde ich in einem Zweiter-Klasse-Abteil sitzen und mich vom Rattern der Räder in den Schlaf schaukeln lassen.

Dachte ich.

Aber da kannte ich Friend noch nicht.

Wright-Patterson unterschied sich auf den ersten Blick nicht von dem halben Dutzend anderer Luftwaffenstützpunkte: ein weitläufiges, hermetisch abgeriegeltes Gelände, auf dem man auf Schritt und Tritt beobachtet wurde und jedermann mit einem so gewichtigen Gesicht durch die Gegend lief, als stünde das Schicksal der Nation auf dem Spiel. Man hatte mir einen Schreibtisch in einem winzigen, ungeheizten Büro zugewiesen und sogar eine Tasse Kaffee serviert. Sie war kalt. Trotzdem blieb ich ausnehmend guter Laune. Die Aussicht, an diesem Abend nach Hause zu kommen, stimmte mich beinahe euphorisch.

»Brauchen Sie noch etwas, Sir?« Die Stimme des jungen Lieutenant, der mich »betreute«, klang genauso, wie sein Gesicht aussah: ausdruckslos, mit einer Spur von nicht ganz unterdrückter Unfreundlichkeit. In Wahrheit hatte er wohl den Auftrag, auf mich aufzupassen, damit ich keine Staatsgeheimnisse stahl oder einen der drei pedantisch angespitzten Bleistifte verschwinden ließ, die man mir zur Verfügung gestellt hatte.

»Nein«, antwortete ich. »Es sei denn, Sie hätten ...«

Ich kam nicht dazu, meinen Wunsch nach einem heißen Kaffee zu äußern, denn in diesem Moment wurde die Tür auf gestoßen, und ein Mann mittleren Alters in einer dunkelblauen Air-Force-Uniform kam herein. Ich hatte immer Schwierigkeiten damit, mich in dem Wust von Rangabzeichen, Streifen und Sternchen auf Militäruniformen zurechtzufinden, aber dieser Neuankömmling musste ein hochrangiger Offizier sein. Im ersten Augenblick erinnerte er mich (vor allem angesichts der Jahreszeit) ein bisschen an einen wandelnden Weihnachtsbaum, und der junge Lieutenant trat hastig zwei Schritte zurück und nahm eine Haltung ein, als hätte er den sprichwörtlichen Besenstiel verschluckt.

»Major Friend«, salutierte er und brachte sogar das Kunststück fertig, zu reden, ohne dabei die Lippen zu bewegen. Ich fand, dass Friend trotz seines Namens nicht besonders freundlich aussah; und schon gar nicht wie jemand, den ich zum Freund haben wollte. Der Lieutenant jedenfalls erstarrte regelrecht vor Ehrfurcht, während Friend zuerst ihn und dann mich mit einem so eisigen Blick maß, dass selbst einem Pinguin noch ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen wäre.

»Die werden auch jedes Mal jünger«, bemerkte er kopfschüttelnd. Er trat mit zwei raschen Schritten auf mich zu, streckte mir die Hand über den Schreibtisch entgegen und fuhr fort: »Sie müssen Loengard sein. Ich bin Major Robert Friend. Ich leite den Laden hier, und das seit neunzehnhundertneununddreißig.« Damals hast du noch in die Windeln gemacht, Jungchen, fügte sein Blick hinzu. Falls es dich da überhaupt schon gab.

Ich revidierte meine Meinung über Friend. Er war nicht nur jemand, den ich nicht zum Freund haben wollte. Ich war sicher, dass niemand diesen Mann zum Freund haben wollte. Sein Blick war taxierend und durchdringend, und er hatte den Ausdruck eines Mannes, der prinzipiell und immer auf Verteidigung eingestellt ist und hinter jedem freundlichen Lächeln sofort eine Heimtücke wittert. Aber sein Händedruck war kräftig, und er hatte mir immerhin genug Aufmerksamkeit gezollt, um sich meinen Namen zu merken und mich nicht nur als den Kerl aus Washington abzuhaken, den man möglichst schnell wieder loswerden wollte.

»Sie sind also hier, um nachzusehen, was wir mit Uncle Sams Steuergeldern machen«, sagte er. »Hatten Sie Erfolg?«

Ich war nicht ganz sicher, was ich von dieser Frage halten sollte. »Nun, Sir ...«, begann ich.

»Wissen Sie, Jungchen«, fuhr Friend fort, »ich führe diese Blue Books, seit ich diese Basis übernommen habe. Und ich kenne Leute wie Sie zur Genüge.«

»Sir, ich versichere Ihnen ...«, begann ich, nur, um sofort wieder von Friend unterbrochen zu werden. Offensichtlich gehörte er zu den Menschen, die ihre Gesprächspartner prinzipiell niemals aussprechen ließen.

»Das ist nicht persönlich gemeint, John«, sagte er jovial. »Sie tauchen so regelmäßig auf wie die Jahreszeiten, wissen Sie? Man kann sich fast darauf verlassen. Immer, wenn irgendeine Wahl vor der Tür steht, kommt jemand in Washington auf die Idee, einen armen Kerl wie Sie loszuschicken, der nachschaut, wo ein paar Dollar an Steuergeldern zu sparen sind.«

Er war rücksichtsvoll genug, nicht armes Würstchen zu sagen, aber es stand deutlich genug in seinen Augen geschrieben.

»Nun, Sir ...«, begann ich zum dritten Mal, »ich versichere Ihnen, ich bin nicht hier, um irgendjemandem Schwierigkeiten zu machen. Es ist nur so, dass wir dem Kongress regelmäßig Rechenschaft darüber ablegen müssen, was die einzelnen Abteilungen mit ihrem Etat anfangen.«

Friend lachte. Jedenfalls vermutete ich, dass es ein Lachen sein sollte: ein kurzes, hartes Schnauben, bei dem er die Luft durch die Nase stieß.

»Haben Sie eine Ahnung, in wie vielen Fällen meine Leute allein im letzten Jahr recherchiert haben?« fragte er.

Hatte ich. Ich hatte meine Hausaufgaben gemacht. »Fünfhundertsiebenundfünfzig«, antwortete ich.

Friend tauschte einen kurzen, überraschten Blick mit seinem Lieutenant, dann beugte er sich leicht vor und fuhr in hörbar schärferem Ton fort: »Geteilt durch exakt drei Männer, die ich für diese Arbeit abgestellt habe. Wenn Sie also der Meinung sind ...«

»Sir«, unterbrach ich ihn, ruhig, aber doch so nachdrücklich, wie es mir möglich war, »ich interessiere mich nur für ganz spezielle Ermittlungen.«

Friend runzelte die Stirn. »Und ... welche?«

»UFOs«, antwortete ich. Ich hätte mich für den halb nervösen, halb fast wie um Entschuldigung bittenden Unterton in meiner Stimme selbst ohrfeigen können. Aber Friend reagierte ganz anders, als ich erwartet hatte.

»UFOs?« wiederholte er.

»Fliegende Untertassen«, fügte ich hastig hinzu. Beinahe hätte ich noch gesagt: Humbug, schluckte die Bemerkung aber im letzten Moment herunter. Irgendetwas an Friends Blick ... irritierte mich. Er sah weder spöttisch aus, noch feindselig, sondern ganz im Gegenteil höchst interessiert.

»Ich weiß, was man darunter versteht«, sagte er. »Unidentifizierte Flugobjekte. Raumschiffe von anderen Planeten. Besuch aus dem Kosmos.« Er machte eine wedelnde Handbewegung. »Sie glauben nicht daran, wie?«

»Das weiß ich nicht, Sir«, antwortete ich.

»Sie wissen es nicht?«

»Nun, ich ... möchte mir ein eigenes Bild machen«, antwortete ich zögernd. Friend irritierte mich mit jeder Sekunde mehr. Noch vor einem Moment hätte er mich am liebsten von seinen Leuten aus dem Stützpunkt werfen lassen, aber ganz plötzlich machte er auf mich vielmehr den Eindruck eines Mannes, der mir ... etwas sagen wollte? Ich wusste es nicht.

»Ein Bild? Sie meinen, Sie suchen nach Argumenten, um diesen ... Unsinn zu beenden?«

Die Art, mit der er das Wort Unsinn betonte, ließ mich hellhörig werden. »Nicht unbedingt«, sagte ich ehrlich. Heute war mein letzter Tag. Außerdem stand Weihnachten vor der Tür. Warum sollte ich nicht ein bisschen freundlich sein. »Am Anfang war es vielleicht sogar so. Aber ich bin auf ein paar Dinge gestoßen, die ... seltsam sind. Wer weiß, vielleicht kann ich den Kongress sogar am Ende überzeugen, weitere Gelder für die Nachforschungen bereitzustellen.«

Natürlich war das nicht wahr. Ich hatte tatsächlich ein paar Dinge gefunden, die auf den ersten Blick zumindest nicht erklärbar erschienen, aber Pratt würde nicht einmal dann mehr Geld bewilligen, wenn ich mit einem leibhaftigen Marsmenschen an der Hand in sein Büro marschierte. Friend jedenfalls glaubte mir kein Wort.

»Reden Sie keinen Unsinn, Junge«, sagte er geradeheraus. »Sie glauben kein Wort von alledem, nicht wahr? Sie halten das alles für Quatsch. Hirngespinste, Wichtigtuerei, Angabe ...«

»Nein, Sir«, antwortete ich unbehaglich. »Es ist nur so, dass ...«

»Lieutenant«, sagte Friend, ohne mich aus den Augen zu lassen, »holen Sie dem Herrn Kongressermittler die Akte Hill.«

Ich versuchte, halbwegs gelassen auszusehen, und hielt Friends Blick irgendwie stand. Aber mir entging trotzdem nicht, dass der junge Lieutenant heftig zusammenfuhr. »Aber Sir!« entfuhr es ihm. »Sie ...«

»Haben Sie mich verstanden, Lieutenant?« fragte Friend. »Bringen Sie Mister Loengard die Hill-Akte. Wir haben nichts zu verbergen.«

Nach allem, was ich bisher mit dem Militär erlebt hatte, erschien es mir selbst fast unglaublich: Und für eine Sekunde war ich sicher, dass der Lieutenant dem Major widersprechen würde. Doch dann warf Friend dem jungen Soldaten einen einzigen, eisigen Blick aus seinen durchdringenden Augen zu. Der Lieutenant erstarrte für einen kurzen Moment, dann drehte er sich mit einer zackigen Bewegung herum und verließ den Raum.

»Was ist die Akte Hill?« fragte ich.

»Die Hills sind ein wirklich nettes Ehepaar«, antwortete Friend. »Sie würden Ihnen gefallen, schätze ich. Schade nur, dass Sie sie wahrscheinlich nie kennen lernen werden. Sie würden Ihre Meinung danach vielleicht ändern.«

»Meine Meinung - worüber?«

»Über UFOs. Fliegende Untertassen. Massenhysterie ...« Er machte wieder diese vage Handbewegung. »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Glauben Sie etwa, Sie wären der erste, der hierherkommt, vor mir auf diesem Stuhl sitzt und mich mit diesem verächtlichen Lächeln ansieht?«

Ich saß gar nicht auf einem Stuhl, sondern stand noch immer auf der anderen Seite des Schreibtischs, aber kam mir mittlerweile vor, als stünde ich als Erstklässler vor meinem Direktor. Friend war nicht der erste hochrangige Soldat, mit dem ich aneinandergeriet, nicht einmal der höchstrangigste. Aber er war genau die Art von Offizier, vor denen ich mich innerlich immer gefürchtet hatte. Er hatte es nicht nötig, laut zu werden, oder seinen Rang herauszuheben. Der Mann strahlte durch seine bloße Anwesenheit eine Autorität aus, der ich nichts entgegenzusetzen hatte.

Ich versuchte ein letztes Mal, so etwas wie Haltung zu heucheln, indem ich mich möglichst gelassen in meinen Stuhl fallen ließ und das rechte Bein über das linke schlug. Der Versuchung, lässig mit einem Bleistift zu spielen, widerstand ich im letzten Augenblick.

Friend tat etwas, womit ich nun wirklich nicht gerechnet hätte: Er setzte sich in einer wirklich lässigen Bewegung auf die Schreibtischkante, verschränkte die Arme vor der Brust und sah einen Moment lang nachdenklich auf mich herab. Dann seufzte er: »Ich weiß nicht einmal, ob ich Ihnen damit einen Gefallen tue, mein Junge.«

»Womit?« fragte ich.

»Glauben Sie nicht, ich wüsste nicht, was hinter Ihrer Stirn vorgeht, John?« fragte Friend. »Wie lange sind Sie schon mit diesen ... Nachforschungen beschäftigt?«

»Nicht ganz drei Monate, Sir«, antwortete ich.

»Drei Monate.« Friend machte eine Bewegung, die wie eine Mischung aus einem Nicken und einem Kopfschütteln aussah und wahrscheinlich nichts von beidem war. »Nun, mein lieber Junge - ich beschäftige mich mit solchen Dingen schon ein wenig länger. Länger, als Sie schon auf der Welt sind, um genau zu sein.«

»Sir?«

»Ich weiß ziemlich genau, was Sie in den letzten drei Monaten zu hören bekommen haben«, fuhr Friend unbeeindruckt fort. »Sie sind auf jede Menge Verrückte gestoßen. Auf Angeber, Wichtigtuer, Fanatiker und Besessene. Und dann gibt es da noch die andere Fraktion. Die, die wirklich etwas gesehen haben. Wetterballons, tieffliegende Flugzeuge, Kugelblitze und Nordlichter. Und dann ist da noch ein winziger Rest, den man nicht erklären kann, stimmt's? Diese Leute sind weder verrückt, noch haben sie einen Kinderdrachen gesehen. Und dieser kleine Prozentsatz gibt einem zu denken, nicht wahr?«

»Worauf wollen Sie hinaus, Sir?«

»Ich war genau wie Sie«, sagte Friend, ohne direkt auf meine Frage zu antworten. »Und trotzdem: Denken Sie einfach einmal fünf Minuten lang nicht an all das, was Sie in der Schule gelernt haben, und das, was Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt. Vergessen Sie alles, was Sie in Ihren Berichten und Rapports gelesen haben, und fragen Sie sich nur einen Augenblick lang, ob es nicht vielleicht doch so sein könnte.«

»Wie?«

»Dass dort oben etwas ist«, antwortete Friend. »Jemand.«

»Jemand?« wiederholte ich zweifelnd. »Verzeihen Sie, Sir, aber was ... was genau meinen Sie?«

»Dort oben sind Millionen von Sternen«, sagte Friend. »Vielleicht Milliarden. Glauben Sie wirklich, wir wären die einzigen lebenden Wesen im Universum?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Dort oben ist etwas. Jemand. Und sie sind hier. Sie beobachten uns, das ist meine feste Überzeugung.«

Bei jedem anderen hätten diese Worte einfach nur lächerlich geklungen. Nicht so bei Friend. Er hatte es nicht nötig, seine Stimme dramatisch zu heben oder mit theatralischen Gesten zu untermalen. Er sagte einfach, was er dachte, und vielleicht machte ihn gerade das so überzeugend.

»Es fällt mir schwer, etwas dazu zu sagen, Sir«, sagte ich vorsichtig. »Wenn ich ganz offen sein darf. Sie haben Recht. Bisher ist mir wenig Überzeugendes untergekommen.«

»Und das wird auch so bleiben«, sagte Friend beinahe grimmig. »Wie gesagt: Mir selbst ist es nicht anders ergangen. Bis ich die Hills traf.«

Wie auf ein Stichwort hin kam in diesem Moment der Lieutenant zurück. Er trug einen dick gefüllten Aktendeckel unter dem linken Arm. Ich konnte die Aufschrift nicht erkennen, aber der in verblasstem Rot gehaltene TOP-SECRET-Stempel quer über dem Deckel war nicht zu übersehen.

»Die Akte Hill, Sir«, sagte er steif.

Friend stand mit einer raschen Bewegung wieder auf, nahm die Arme herunter und verwandelte sich im gleichen Augenblick wieder in den unnahbaren, immer auf Verteidigung eingestellten Soldaten zurück, als der er hereingekommen war. »Geben Sie sie Mister Loengard«, sagte er. »Und falls er noch Fragen hat oder weitere Unterlagen benötigt, geben Sie sie ihm ebenfalls. Wie gesagt: Wir haben nichts zu verbergen.«

Und damit ging er. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu verabschieden, sondern marschierte mit steifen Schritten, aber sehr schnell, aus dem Raum und ließ mich mit der streng geheimen Akte und einem ziemlich unglücklich dreinblickenden Lieutenant allein zurück.

Zögernd griff ich nach der Akte und begann sie durchzublättern. Sie enthielt im Großen und Ganzen nicht mehr als das, was ich in einem Dutzend unterschiedlicher Variationen innerhalb der letzten drei Monate immer wieder gehört hatte. Die Hills hatten etwas gesehen, von dem sie beide überzeugt waren, dass es sich um ein außerirdisches Raumschiff handelte. Interessant - aber alles andere als sensationell, oder gar überzeugender als vieles von dem, was ich zuvor gehört hatte. Wahrscheinlich hätte ich die Akte nur flüchtig durchgeblättert und dann wieder zugeklappt, wären nicht zwei Dinge gewesen: der TOP-SECRET-Stempel auf dem Aktendeckel, und die Erinnerung an Friends Worte.

Ich klappte den Deckel zu und sah nachdenklich auf die Adresse, die darauf vermerkt war. »Stimmt diese Adresse noch?« fragte ich.

»Ich denke schon, Sir«, antwortete der Lieutenant.

»Ich kenne mich hier in der Gegend nicht besonders gut aus«, sagte ich, »aber es kann ...«

»Eine knappe halbe Stunde mit dem Wagen«, fiel mir der Lieutenant ins Wort; eine schlechte Angewohnheit, die er wohl von Friend übernommen hatte. »Wenn Sie der Hauptstraße nach Osten folgen, können Sie es gar nicht verfehlen.«

Ich sah auf die Uhr, überlegte einen Moment und sah dann noch einmal auf meine Armbanduhr. Ich hatte noch genug Zeit. Wenn ich mich nicht länger als eine Stunde bei den Hills aufhielt, konnte ich immer noch in aller Ruhe den Mietwagen zurückbringen und meinen Zug erreichen.

»Betty und Barney Hill«, sagte ich nachdenklich. »Kennen Sie diese Leute, Lieutenant?«

Er sah mich so befremdlich an, dass die Antwort eigentlich schon überflüssig war. »Flüchtig. Ich war ... zwei- oder dreimal bei ihnen.«

»Zusammen mit Major Friend?«

Diesmal nickte er nur. Er gab sich keine besondere Mühe, die Tatsache zu verhehlen, dass er mir diese Akte ganz bestimmt nicht gegeben hätte. Aber als ich aufstand und meine Aktentasche zu packen begann, räusperte er sich gekünstelt und sagte: »Mister Loengard. Darf ich ... Ihnen einen privaten Rat geben?«

»Selbstverständlich.«

»Sie verschwenden Ihre Zeit«, sagte der Lieutenant. »Die Hills werden Ihnen nichts sagen. Und selbst wenn ... glauben Sie mir: Es ist vernünftiger, wenn Sie das alles vergessen und nach Hause fahren.«

»Major Friend schien nicht dieser Meinung zu sein«, sagte ich.

»Ich weiß«, antwortete der Lieutenant. Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und wusste plötzlich nicht mehr, wohin mit seinem Blick. Wahrscheinlich tat es ihm längst schon wieder leid, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben.

»Keine Sorge«, sagte ich. »Ich werde dem Major gegenüber nichts sagen.«

»Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, Mister Loengard«, fuhr der Lieutenant nervös und mit einem hastigen Blick zur Tür fort. »Major Friend ist ... ein wirklich guter Offizier. Er ist ein sehr kluger Mann, und er ist bei allen hier sehr beliebt, auch wenn Sie vielleicht einen anderen Eindruck gewonnen haben. Nur diese ... diese UFO-Geschichte ...«

»Ich verstehe«, sagte ich, als er nicht weitersprach, sondern mich nur unbehaglich ansah. »Jeder hat so seine Marotten, nicht? Sie meinen, er hat vielleicht ein bisschen zu viel in all diesen Akten und Berichten geblättert.«

»Es ist weniger eine Marotte, als vielmehr eine Frage des Glaubens«, sagte der Lieutenant. In seiner Stimme schwang ein sonderbarer Ernst mit, und erst in diesem Moment wurde mir klar, was er mir wirklich zu sagen versuchte. Er hatte mich keineswegs angesprochen, um seinem Vorgesetzten in den Rücken zu fallen, sondern ganz im Gegenteil, um ihn zu beschützen. Er wollte nicht, dass ich nach Washington zurückfuhr und dort erzählte, dass Wright-Patterson von einem Mann geleitet wurde, der an kleine grüne Männchen vom Mars glaubte und nachts den Mond anheulte.

Wenigstens glaubte ich das in diesem Moment.

»Keine Angst«, sagte ich. »Niemand wird etwas erfahren. Ich gehe zu den Hills und rede mit ihnen, aber ich werde Major Friends Namen nicht einmal erwähnen.«

»Wie Sie meinen, Mister Loengard«, antwortete der Lieutenant. Er hatte sich jetzt wieder vollkommen in der Gewalt, so dass seinem Gesicht nicht die mindeste Regung anzusehen war. Trotzdem hatte ich das vage Gefühl, dass er nicht unbedingt das gehört hatte, was er hören wollte. Vielleicht traute er meiner vollmundigen Versprechung nicht. Und wie auch - schließlich war ich ein vollkommen Fremder für ihn.

Ich packte meine Sachen zusammen, notierte mir die Adresse der Hills und ging. Als ich das Büro verließ, griff der Lieutenant zum Telefonhörer und begann eine Nummer zu wählen.


Ich brauchte etwas mehr als die halbe Stunde, die der Lieutenant veranschlagt hatte, um das Haus der Hills zu erreichen, denn ich hatte auf halbem Wege an einer Raststätte Halt gemacht, um einen Kuchen zu kaufen. Als ich es tat, kam es mir wie eine großartige Idee vor; als ich auf den Klingelknopf drückte und den Schritten lauschte, die sich von drinnen der Tür näherten, kam ich mir - offen gesagt - ziemlich dämlich vor.

Ich fragte mich, was ich eigentlich hier tat. Kimberley wähnte mich jetzt schon auf dem Weg nach Hause, und eigentlich gab es keinen vernünftigen Grund, es nicht zu sein. Die Akte der Hills hatte absolut nichts enthalten, was diesen Umweg rechtfertigte, und auch die Gegend, in der das Haus des Paares lag, war eher ernüchternd: eine typische Vorstadt-Straße voller einfacher, aber gepflegter Einfamilienhäuser, die hinter schmucken Vorgärten mit kiesbestreuten Auffahrten und sorgsam gepflegten Blumenrabatten lagen. Die polierten Mittelklassewagen der Hausbesitzer und die nicht ganz so liebevoll gepflegten Cabrios ihrer Söhne und Töchter flankierten die Straße. Alles, was noch fehlte, um das Viertel auf das Titelblatt des American-Way-Of-Life-Magazins zu bringen, war der Zeitungsjunge, der von Haus zu Haus radelte und Zeitungen gezielt auf Vordächer und in Blumenbeete warf. Eindeutig keine Gegend, in der man UFO-Fanatiker erwartete oder Leute, die einfach alles taten, um einmal auf das Titelblatt des National Enquirer zu kommen.

Aber zu diesem Menschenschlag gehörte Major Friend eindeutig auch nicht.

Mein Blick blieb für einen Moment an einem grauen Buick hängen, der langsam auf der anderen Straßenseite entlangfuhr. Ich war nicht sicher - aber ich glaubte, den Wagen vorhin schon einmal gesehen zu haben, als ich an der Raststätte anhielt, um den Kuchen zu kaufen.

Wahrscheinlich bedeutete es nichts. Ich konnte das Gesicht des Fahrers nicht erkennen, aber ich sah, dass er den Kopf hin und her bewegte, während er langsam die Straße hinunterfuhr. Der Mann suchte eine bestimmte Adresse, so einfach war das. Ein Zufall.

Die Tür wurde geöffnet, und ich sah mich einer adrett gekleideten, vielleicht vierzigjährigen Frau mit modisch kurzgeschnittenem Haar und freundlichen Augen gegenüber.

»Mrs. Hill?« fragte ich.

»Ja«, antwortete sie. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist John Loengard«, antwortete ich. »Ich komme gerade von der Wright-Patterson Air Force Base, und ...«

Etwas Falscheres hätte ich in diesem Moment vermutlich gar nicht sagen können. Jede Spur von Freundlichkeit in ihrem Blick erlosch, und ihr Lächeln machte einem Ausdruck Platz, der mich an den Friends erinnerte: eine Mischung aus Misstrauen und Furcht, die einen Grund hatte. Und es gab noch etwas, das sie mit dem Major gemein hatte: Sie ließ mich nicht ausreden.

»Tut mir leid«, unterbrach sie mich. »Wir möchten nicht mehr mit jemandem von der Air Force reden. Wir haben schon alles gesagt, was zu sagen ist.«

Und jedes einzelne Wort davon hundertmal bedauert, fügte ihr Blick hinzu. Ihr Gesichtsausdruck war dem Friends doch nicht so ähnlich, wie ich gedacht hatte. Friends feindseliges Misstrauen war einfach Teil seines Berufs. Dieser Frau war irgendetwas angetan worden, das spürte ich.

»Ich arbeite nicht für die Air Force«, sagte ich rasch.

»Bitte verzeihen Sie meine ungeschickte Formulierung. Ich war nur gerade auf der Basis und habe mit Major Friend gesprochen.«

»Friend? Sie kennen ihn?«

»Nicht besonders gut«, gestand ich. »Ich arbeite für die Regierung. Für den Kongress, um genau zu sein.«

Sie sagte nichts, sondern sah mich nur zweifelnd an. Die Erwähnung meines Arbeitgebers schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken - immerhin war sie beinahe alt genug, um meine Mutter sein zu können - aber ich schien ihre Neugier geweckt zu haben.

»Und was haben Sie mit Major Friend zu tun?« fragte sie.

»Eigentlich nichts«, sagte ich. »Aber er gab mir Ihre Adresse und Ihre Akte. Sehen Sie, es geht um ... um das Erlebnis, das Sie und Ihr Mann vor einer Weile hatten.« Ich sah, wie sich ihr Blick schon wieder verdüsterte, und fuhr rasch fort: »Möglicherweise gibt es neue Erkenntnisse. Aber um sicher zu sein, müsste ich noch einmal mit Ihnen und Ihrem Mann reden. Der Bericht allein ... nun, Papier sagt manchmal nicht so viel aus wie ein gesprochenes Wort.«

Ich spürte, dass ich den Bann fast gebrochen hatte, gab mir einen letzten Ruck und reichte ihr den Kuchen, den ich an der Raststätte gekauft hatte. Natürlich erntete ich nur einen verständnislosen Blick - aber immerhin warf sie mir das Ding nicht gleich ins Gesicht.

»Meine Freundin hat ihn für mich gebacken«, log ich. »Ein bisschen viel für mich allein. Und ich habe noch etwas Zeit, bis mein Zug fährt, und da dachte ich, dass wir vielleicht bei einer Tasse Kaffee ...?«

Für einen Moment blieb das misstrauische Funkeln in ihren Augen. Aber dann machte es einem Lächeln Platz, und ich wusste, dass ich gewonnen hatte.

Etwa eine Sekunde lang. Dann wurde die Tür ganz geöffnet, und ein hoch gewachsener, dunkelhaariger Schwarzer funkelte mich an. Ich war einen Moment lang verwirrt. Aus Friends Akte war weder hervorgegangen, dass Barney Hill ein Farbiger war, noch, dass er zwar zwei Jahre älter als seine Frau war, aber mindestens zehn Jahre jünger aussah.

»Sehr schön, Mister Loengard«, sagte er kühl. »Warum nehmen Sie nicht Ihren Kuchen, Ihre Fragen und Ihre neuen Erkenntnisse und fahren damit zurück zu Ihrer Freundin, um mit ihr zusammen Weihnachten zu feiern? Meine Frau und ich haben nichts mehr zu sagen.«

Er nahm seiner Frau den Kuchen aus der Hand, gab ihn nur mit einer ärgerlichen Bewegung zurück und trat gleichzeitig so zwischen sie und mich, dass er damit den Blickkontakt zwischen uns unterbrach. »Verschwinden Sie. Lassen Sie uns endlich in Ruhe!«

Ich musste mich mit aller Kraft beherrschen, um nicht vor ihm zurückzuweichen. Er hatte nicht einmal die Stimme erhoben, aber die Feindseligkeit in seinen Worten war beinahe greifbar.

»Also gut, Mister Hill«, sagte ich. »Ich will offen zu Ihnen sein. Ich bin wirklich im Auftrag der Regierung hier, aber es gibt keine neuen Erkenntnisse. Ganz im Gegenteil. Mein Auftrag lautet, Beweise dafür zu finden, dass diese ganze Suche nach fliegenden Untertassen und außerirdischem Leben nichts als Geldverschwendung ist.« Ich zögerte einen Moment, dann fügte ich hinzu: »Und diesen Kuchen hat auch nicht meine Freundin gebacken. Ich habe ihn an einer Tankstelle gekauft, nur ein paar Meilen von hier.«

»Ich weiß«, sagte Hill. »Ich halte selbst manchmal dort an, um ihn mitzubringen. Er ist ausgezeichnet.«

Er schien noch mehr sagen zu wollen, unterbrach sich aber dann und starrte für einen winzigen Moment fast erschrocken auf einen Punkt irgendwo hinter mir. Bevor ich mich jedoch herumdrehen und in die gleiche Richtung sehen konnte, fuhr er fort. »Major Friend hat Sie geschickt?«

»Wenigstens indirekt«, antwortete ich. »Er hat mir Ihre Akte gegeben.«

»Das wundert mich«, sagte Hill. »Wir werden Ihnen kaum helfen können, wenn Sie Beweise dafür suchen, dass es sie nicht gibt.«

»Sie?«

Hill sah wieder zu jenem Punkt irgendwo hinter mir, aber er sprach auch jetzt weiter, bevor ich mich herumdrehen konnte. »Wie immer Sie sie nennen wollen, Mister Loengard. Kommen Sie rein.«

Nach der unverhohlenen Feindseligkeit, mit der er mich bis jetzt behandelt hatte, überraschte mich diese Einladung um so mehr; allerdings nicht so sehr, dass ich ihr nicht sofort gefolgt wäre. Nachdem ich zwischen ihm und seiner Frau hindurch ins Haus getreten war, drehte ich mich sofort herum, um einen Blick auf die Straße hinaus zu werfen. Irgendetwas dort draußen schien Hill erschreckt zu haben. Aber er hatte die Tür bereits geschlossen und machte eine einladende Bewegung mit der anderen Hand.

Während ich ihm ins Wohnzimmer folgte, sah ich mich verstohlen um. Das Haus der Hills hielt im Inneren das, was sein Äußeres versprochen hatte: Es war geschmackvoll und solide eingerichtet, nicht auffällig, aber auch alles andere als spießig. An den Wänden hingen gerahmte Kunstdrucke neben gestickten Bildern, die wahrscheinlich Betty Hill angefertigt hatte. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein gehäkeltes Spitzendeckchen, und der Kamin im Wohnzimmer war eine gasbetriebene Attrappe. Ich kam zu dem Schluss, dass meine erste Einschätzung richtig gewesen war: Das waren keine Leute, die ihre Gesichter um jeden Preis auf dem Titelblatt der Boulevardpresse sehen wollten.

»Nehmen Sie Platz, Mister Loengard«, sagte Hill. »Kaffee oder Tee?«

»Kaffee, bitte.«

Hills Frau verschwand in der Küche, während er selbst zum Fenster ging und einen raschen, sehr aufmerksamen Blick auf die Straße hinaus warf. Dann kam er zurück, nahm auf der behaglichen Couch mir gegenüber Platz und sah mich auf eine sehr seltsame Art an. »Sie suchen also nach Beweisen, die dagegen sprechen, Mister Loengard.«

Seine Frau kam zurück. Der Kaffee war offensichtlich bereits fertig gewesen, denn sie trug ein Tablett mit einer dampfenden Kanne und drei Tassen, das sie geschickt auf dem Tisch ablud, noch bevor ich Gelegenheit fand, ihr zur Hand zu gehen. Ich wartete, bis auch sie Platz genommen hatte, ehe ich Hills Frage beantwortete.

»Ich bin nicht mehr ganz sicher«, sagte ich. »Um ehrlich zu sein: Congressman Pratt erwartet von mir, dass ich ihm hieb- und stichfeste Argumente liefere, um all diese Projekte nicht mehr finanzieren zu müssen, aber je mehr ich mich mit diesem Thema beschäftige, desto weniger weiß ich im Grunde, was ich glauben soll. Vielleicht sollte ich einfach nur Fakten sammeln.«

Ich beugte mich zu meiner Aktentasche hinunter, klappte sie auf und fragte: »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihren Bericht auf Band aufnehme?«

»Nein«, antwortete Hill. »Aber es wird Ihnen nichts nutzen. Niemand wird Ihnen glauben, Mister Loengard.«

»Es gibt eine Menge Leute, die an UFOs glauben«, antwortete ich, während ich das kleine Tonbandgerät aufstellte, das ich zwar stets bei mir trug, bisher aber so gut wie nicht benutzt hatte. Entsprechend ungeschickt stellte ich mich dabei an, das Magnetband zwischen den Tonköpfen hindurchzuziehen und in die leere Spule einzufädeln.

Hill sah mir eine Weile ebenso schweigend wie amüsiert dabei zu, ehe er fortfuhr: »Es gibt eine Menge Leute, die über fliegende Untertassen reden, Mister Loengard. Aber nicht sehr viele, die wirklich daran glauben.«

»Ist das ein Unterschied?« fragte ich. Es war mir endlich gelungen, das Band einzufädeln. Ich legte die Finger auf die beiden Tasten, die ich gleichzeitig drücken musste, sah aber Hill erst fragend an. Er nickte. Das schwere Klicken, mit dem die Aufnahme startete, vermischte sich mit Hills Antwort, wie um ihr besonderes Gewicht zu betonen.

»Es gibt zwei Wege, die Wahrheit zu verschleiern, Mister Loengard«, antwortete er. »Man kann sie leugnen. Man kann Dinge vertuschen, Beweise verschwinden lassen und Leute zum Schweigen bringen. Die andere Möglichkeit ist, ganz offen darüber zu reden. Nehmen Sie die Wahrheit, und verbergen Sie sie unter einem Berg von Übertreibungen, von Lächerlichkeiten und ganz offensichtlichen Lügen, und am Ende wird sie niemand mehr erkennen.«

»Ist es das, was Ihnen passiert ist?« fragte ich.

Hill antwortete nicht sofort. Er tauschte einen kurzen, aber sehr bezeichnenden Blick mit seiner Frau, eine unausgesprochene Frage, die er ihr stellte und die sie ebenso lautlos beantwortete. Ich habe niemals wirklich begriffen, warum - aber diese beiden wildfremden Menschen vertrauten mir in diesem Augenblick rückhaltlos.

»Ich weiß nicht, was uns passiert ist«, sagte er.

Ich sah ihn nur fragend an. Für zwei oder drei Sekunden war das leise Schleifen, mit dem sich die Tonbandspulen drehten, das einzige Geräusch im Raum.

»Wir waren in Kanada«, begann Hill. »Meine Frau und ich hatten dort Urlaub gemacht. Der erste seit zehn Jahren. Wir waren mit dem Wagen unterwegs - irgendwo in den White Mountains.«

»Irgendwo?« unterbrach ich ihn.

»Es war spät«, sagte Betty. »Lange nach Mitternacht. Wir waren beide müde.«

»Eigentlich hatten wir uns vorgenommen, die Nacht durchzufahren«, fügte ihr Mann hinzu. »Wir hatten noch zwei Tage, die wir gemütlich zu Hause verbringen wollten. Aber es war spät. Vielleicht hatten wir unsere Kräfte einfach überschätzt. Jedenfalls waren wir beide ziemlich müde. Vielleicht habe ich es auch deshalb nicht gleich bemerkt.«

»Es?«

»Die Lichter.« Barney deutete auf seine Frau. »Sie hat sie bemerkt.«

Betty nickte. Als sie sprach, wurde ihre Stimme sehr leise, und ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen. Sie sprach fast wie in Trance, auch wenn ihre Stimme nicht diesen typisch tonlosen Klang annahm. »Im ersten Moment dachte ich, es wäre ein Wagen, der uns folgt. Aber die Lichter waren ... zu groß. Und sie näherten sich zu schnell.«

»Ein Flugzeug?«

»Dazu war es zu langsam«, sagte Barney. »Und zu groß.«

»Und es hatte Fenster«, sagte Betty. »Nicht diese kleinen Bullaugen, wie Flugzeuge sie haben, verstehen Sie? Ich meine richtige Fenster. Eine doppelte Reihe, übereinander.«

»Zuerst habe ich ihr nicht geglaubt«, fuhr Barney fort. »Ich dachte, sie hätte geträumt. Eine Halluzination. Wir waren beide total übermüdet. Aber schließlich habe ich angehalten und bin ausgestiegen, und da habe ich es auch gesehen.«

»Die Fenster?«

»Es war riesig«, sagte Barney. »Wir hatten Vollmond, wissen Sie, aber ich konnte seine Form trotzdem nicht richtig erkennen, als ... als wäre da etwas, das ... das verhindert, dass man es genau sieht.«

Er rang sichtlich nach Worten, als fiele es ihm schwer zu beschreiben, woran er sich erinnerte, obwohl er die Geschichte vermutlich schon Dutzende Male erzählt hatte. Aber ich spürte auch, dass es besser war, ihn jetzt nicht mehr zu unterbrechen, und wartete schweigend, bis Hill von sich aus weitersprach.

»Ich glaube, es war eine Art ... Scheibe, aber ich bin mir nicht sicher. Nur, dass es riesig war und überall Lichter hatte. Und da waren diese Fenster, genau wie Betty sagt. Und als ich hineinsah ...«

Seine Stimme versagte für einen Moment. Seine linke Hand kroch über die Sessellehne und suchte die seiner Frau, aber ich bezweifelte, dass er sich der Bewegung überhaupt bewusst war.

»Da waren ... ungefähr ein halbes Dutzend ... lebender ... Geschöpfe.«

Die Art, auf die er dieses Wort aussprach, ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. »Geschöpfe?« wiederholte ich. »Sie meinen: Menschen.«

»Ich meine: Geschöpfe, Mister Loengard«, antwortete Hill. »Lebende Kreaturen. Keine Menschen.«

»Keine Menschen? Was meinen Sie damit?«

»Genau das, was ich sage, Mister Loengard«, antwortete Hill mit leiser, jetzt nur noch mühsam beherrschter zitternder Stimme. »Kreaturen. Ich weiß nicht, was sie waren, aber es waren keine Menschen.«

»Haben Sie sie auch gesehen?« Ich wandte mich mit einem fragenden Blick an Betty, aber Barney fuhr bereits fort:

»Ich geriet in Panik. Ich ... ich musste plötzlich an all die Geschichten denken, die ich gehört hatte - von Menschen, die von außerirdischen Raumschiffen entführt worden sind und all das. Ich hatte plötzlich nur noch Angst, verstehen Sie? Ich bin einfach weggelaufen.«

»Und dann?«

Hill zuckte mit den Schultern, und seine Frau sagte: »Sie haben uns entführt.«

»Wir erwachten zwei oder drei Stunden später«, sagte Barney. »Wir waren wieder im Wagen, aber Meilen von der Stelle entfernt. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Sie haben irgendetwas mit uns getan, aber ich weiß nicht, was.«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte ich.

Betty lachte; jedenfalls hielt ich es im ersten Sekundenbruchteil dafür. Aber dann sah ich in ihr Gesicht und begriff, dass es das genaue Gegenteil war. »Sehen Sie mich an, Mister Loengard«, sagte sie. »Für wie alt würden Sie mich halten?«

Ich kannte ihr Alter aus Friends Akte, aber als ich sie so neben ihrem Mann sitzen sah, fiel es mir plötzlich schwer, diesen Angaben zu glauben. Mein Schweigen schien ihr auch Antwort genug zu sein, denn sie verzog die Lippen zu einem kurzen, traurigen Lächeln und fuhr mit leiser Stimme und ohne mich anzusehen fort:

»Ich habe immer viel jünger ausgesehen als Barney, Mister Loengard. Wenn wir beide in einem Hotel übernachten wollten, dann musste ich manchmal noch meinen Ausweis vorzeigen, bis zu dieser Nacht.«

Ich blinzelte. »Sie meinen ...«

»Ich meine, dass wir nach zwei Stunden im Wagen wieder aufgewacht sind, Mister Loengard. Aber ich bin in diesen zwei Stunden um zehn Jahre gealtert. Das meine ich.«

Ihre Worte schockierten mich. Ich weiß nicht einmal mehr genau, ob ich ihr glaubte. Es spielte auch keine Rolle, ob die Geschichte wahr war oder nicht. Was echt war, das war der Schmerz in ihrer Stimme. Der Schmerz, den ein Mensch empfindet, wenn er begreift, dass ihm ein Teil seines Lebens gestohlen worden war; unwiederbringlich.

»Ich verstehe, dass Sie zu niemandem darüber reden wollten«, murmelte ich - eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen und das ungute Schweigen zu brechen, das nach Bettys Worten Einzug gehalten hatte.

»Wollten?« Hill schüttelte heftig den Kopf. »Sie missverstehen mich, Mister Loengard. Ich wollte darüber reden. Niemand hat uns zugehört. Betty und ich haben keine Angst vor der Öffentlichkeit. Es ist uns egal, wenn die Leute über uns reden. Wir leben in einer kleinen Stadt. Ein schwarzer Mann und eine weiße Frau ... vielleicht ist es bei Ihnen in Washington anders, aber hier bei uns reden die Leute über so etwas. Wir haben keine Angst vor dem Gerede der Leute. Ich würde der ganzen verdammten Welt unsere Geschichte erzählen - aber niemand will sie hören.«

Einige Sekunden lang blickte ich Hill schweigend an, und wieder wurde es sehr still zwischen uns. Hill und seine Frau saßen in steifer, fast verkrampfter Haltung da. Sie hielten sich bei der Hand, und ihre Finger hatten sich so fest ineinander verschlungen, dass das Blut daraus gewichen war. Ich konnte die Angst spüren, die die Worte aus der Erinnerung heraufbeschworen hatte, und die sie fest im Griff hielt; sie, und das Gefühl hilfloser Ohnmacht, das vielleicht noch schlimmer sein mochte.

Schließlich beugte ich mich vor und streckte die Hand aus, um das Tonbandgerät abzuschalten. Doch bevor ich es tat, hielt ich noch einmal inne, sah Hill ernst an und sagte: »Das wird sich jetzt vielleicht ändern, Mister Hill.«


Lange nach Einbruch der Dunkelheit stieg ich in den Wagen und fuhr los. Ich war weitaus länger als die veranschlagte Stunde geblieben, und mittlerweile wurde es wirklich Zeit, wenn ich meinen Zug noch erreichen wollte. Nachdem das Eis einmal gebrochen war, hatten sich die Hills als wirklich reizendes Paar herausgestellt. Wir hatten noch lange miteinander geredet und nicht nur den Kuchen gegessen, den ich mitgebracht hatte, sondern noch einen zweiten, vollkommen gleichartigen: Er schmeckte nicht nur gleich, sondern stammte von derselben Raststätte. Betty Hill hatte ihn auf dem Weg nach Hause dort gekauft, eine Stunde, bevor ich gekommen war.

Die gelöste Stimmung, in der ich schließlich aufgebrochen war, hielt jedoch nicht lange an. Es war dunkel geworden, und ich hatte nicht mehr allzu viel Zeit, zumal die Straßen hier und da bereits glatt wurden. Die phosphoreszierenden Zeiger der Uhr im Armaturenbrett des gemieteten Ford rückten unbarmherzig weiter. Mir blieb noch Zeit, den Wagen zurückzubringen und den Zug zu erreichen, aber ich konnte mir jetzt keine Verzögerung mehr leisten, wenn ich nicht die halbe Nacht auf einem zugigen Bahnsteig verbringen wollte, um auf den nächsten Zug zu warten.

Ich fuhr ein wenig schneller, als vielleicht gut gewesen wäre, und sah abwechselnd auf den Tachometer, die Uhr und in den Rückspiegel. In Gedanken hatte ich die Zeit überschlagen, die ich noch bis zum Bahnhof brauchte. Fünf- oder sechsmal. Natürlich war ich auf fünf oder sechs verschiedene Ergebnisse gekommen, aber alles in allem sah es so aus, als ob ich noch eine reelle Chance hätte. Trotzdem hielt ich die Tachometernadel bei konstanten sechzig Meilen und betete im Stillen darum, weder in eine Geschwindigkeitskontrolle zu geraten, noch in einer Senke oder einer windigen Kurve auf Glatteis zu geraten.

Seit einiger Zeit folgte mir ein Wagen. Die Lichter fielen manchmal hinter mir zurück, verschwanden hinter einer Biegung und tauchten wieder auf, erloschen aber niemals ganz. Angesichts meines überhöhten Tempos hatte ich in den ersten Minuten tatsächlich befürchtet, eine unerwünschte Polizeieskorte zu haben, doch der Wagen kam niemals nahe genug, um zum Überholen anzusetzen, und auch das befürchtete Flackern des Blaulichts blieb aus. Vermutlich hatte es der Fahrer genauso eilig wie ich; oder er hatte sich einfach einen Vordermann gesucht und an seine Rücklichter gehängt, wie ich es auch manchmal tat.

Ich lächelte über meine eigene Nervosität. Hills Geschichte hatte mich offenbar stärker beeindruckt, als mir bewusst geworden war, und tatsächlich waren die äußeren Umstände ja ein wenig ähnlich. Genau wie sie damals fuhr ich nachts auf einer einsamen Straße, war zwar nicht übermüdet, dafür aber in Eile und somit nervös, und es gab sogar die Lichter im Rückspiegel, die mir folgten. Ich musste mich beherrschen, um nicht die Scheibe herunterzudrehen und in den Himmel hinaufzusehen.

Aber dazu war es draußen entschieden zu kalt.

Ich musste wieder an die Hills und ihre Geschichte denken. Was ich gehört hatte, hatte mich zutiefst erschüttert. Nicht einmal so sehr, was sie erzählten; Geschichten wie diese hatte ich in den letzten Wochen gleich dutzendweise gehört. Viele davon waren fantasievoller gewesen, und weitaus dramatischer. Es war die Art gewesen, auf die sie sie erzählten. Die beiden hatten nicht gelogen, und sie waren auch keine Spinner, die einen Wetterballon sahen und sich gegenseitig lange genug hochschaukelten, bis sie ganz sicher waren, ein UFO darin zu erkennen. Sie hatten mir einfach das erzählt, woran sie sich erinnerten, und was immer es gewesen war, es hatte nichts mit Sinnestäuschungen oder Hysterie zu tun. Selbst jetzt lief mir noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich an den Ausdruck auf Hills Gesicht zurückdachte, als er von den Lichtern am Himmel sprach. Wenn ich jemals Angst in den Augen eines Menschen gesehen hatte, dann in diesem Moment.

Ich sah wieder in den Rückspiegel und stellte beiläufig fest, dass die Lichter verschwunden waren. Mittlerweile hatte ich die sechzig überschritten. Wahrscheinlich war ich meinem Hintermann doch ein wenig zu schnell. Aber meine Zeit wurde auch allmählich wirklich knapp. Ich hatte noch eine halbe Stunde, und noch gute zwanzig Meilen vor mir. Kein Grund zur Panik, aber auch nicht zum Trödeln. Mein Spesenkonto deckte keine Tickets wegen Geschwindigkeitsüberschreitung.

Mit einer beiläufigen Bewegung schaltete ich das Radio ein. Ich hatte einen lokalen Sender eingestellt, der nur Rock 'n' Roll spielte; eine Musik, die ich damals vierundzwanzig Stunden am Tag hören konnte. Der Empfang war schlecht. Ich hörte mehr Störungen und Rauschen als Musik, runzelte ärgerlich die Stirn und drehte am Senderknopf. Die Störungen wurden lauter, und dann verlor ich die Musik ganz. Das war typisch für diese Mietwagenfirmen. Sie verlangten ein Heidengeld für einen einzigen Tag, aber sie bauten die billigsten Radios ein, die sie bekommen konnten! Wütend schaltete ich das Radio aus.

Das unheimliche Dröhnen und Rauschen blieb. Eine geschlagene Sekunde lang starrte ich das Radio fassungslos an. Die Musik und die pfeifenden Störgeräusche waren verstummt, aber ich hörte weiter ein unheimliches, an- und abschwellendes Dröhnen, das immer lauter wurde und schließlich den ganzen Wagen mit dumpfen Vibrationen erfüllte.

Dann sah ich das Licht wieder.

Aber es waren keine Scheinwerfer mehr.

Die Straße hinter mir war in ein Meer gleißender, blau-weißer Helligkeit getaucht, ein blendendes, unglaublich intensives Licht, das langsam näher kroch und direkt vom Himmel herabkam!


Eine eisige Hand schien nach meinem Herzen zu greifen und es langsam zusammenzupressen. Ich war unfähig, zu denken, irgendetwas zu tun oder auch nur zu atmen - ich saß einfach nur wie gelähmt da, umklammerte das Steuer und starrte das Licht im Rückspiegel an, das langsam näher kroch. Alles, woran ich noch denken konnte, waren Hills Worte: Die Lichter am Himmel.

Der Wagen kam mit einem Rad von der Straße ab, schleuderte über nasses Laub und Morast und drohte vollends auszubrechen. Irgendwie gelang es mir, die Kontrolle über das Fahrzeug nicht vollends zu verlieren und es sogar wieder auf die Straße zurückzulenken. Schleudernd und mit kreischenden Reifen kam der Wagen wieder in die Spur zurück und beschleunigte wieder, als ich das Gaspedal noch tiefer durchtrat. Das Licht war jetzt nicht mehr hinter, sondern über mir, ein weißes, unerträgliches Gleißen, das mir die Tränen in die Augen trieb und alle Farben auslöschte. Ich konnte kaum noch etwas sehen. Licht und Schatten huschten im rasenden Wechsel über die Windschutzscheibe, und das unheimliche Dröhnen wurde immer lauter.

Die Lichter am Himmel.

Ich gab weiter Gas. Der Wagen raste mit siebzig Meilen über die Landstraße, dann mit achtzig, fünfundachtzig ... Das Licht hielt mühelos mit, und es wurde immer noch intensiver und heller. Die Welt hatte sich in ein Negativ aus schwarzen Schatten mit messerscharf gezogenen Kanten und aufblitzenden Bereichen unerträglicher Helligkeit verwandelt. Das Dröhnen füllte den Wagen aus, schien meinen Schädel zum Bersten zu bringen.

Die Lichter am Himmel.

Sie waren da! Jedes Wort, das Hill gesagt hatte, war wahr. Sie waren da, und jetzt waren sie gekommen, um mich zu holen und etwas mit mir zu tun, wie Betty es ausgedrückt hatte. Ich hatte Angst, panische, nackte Angst.

Der Wagen schleuderte wild hin und her, schlitterte über nasses Gras und Laub und schleuderte auf die andere Straßenseite, verfehlte um Haaresbreite einen Baum und kam irgendwie auf den Asphalt zurück. Und das furchtbare Dröhnen nahm immer noch zu. Das Gleißen war überall, füllte die Welt aus und machte mich blind.

Wieder kam der Wagen von der Straße ab. Hoch gewirbeltes Laub und Gras nahmen mir zusätzlich die Sicht. Ich drehte verzweifelt am Lenkrad, wich einem weiteren Baum aus und begriff, dass ich drauf und dran war, mich umzubringen.

Ich musste raus hier! Raus aus dem Wagen, fort von diesem grässlichen, sengenden Licht! Mit aller Kraft trat ich auf die Bremse. Das Fahrzeug schleuderte, brach aus und rutschte auf dem nassen Laub zur Seite, wieder dichter auf die Bäume zu, aber für einen Moment auch heraus aus dem gleißenden Licht. Irgendwie gelang es mir, den Wagen zum Stehen zu bringen und die Tür aufzureißen. Ich ließ mich hinausfallen, rappelte mich hoch und warf einen gehetzten Blick in den Himmel.

Über den Bäumen schwebte ein halbes Dutzend grellweißer Lichter. Ein dumpfes, vibrierendes Dröhnen lag in der Luft, und ein unheimlicher Sturmwind peitschte die Baumwipfel und ließ das nasse Laub vom Boden aufwirbeln.

Blindlings taumelte ich los. Der Sturm wurde mit jedem Moment stärker, und das Heulen erreichte die Grenze echten körperlichen Schmerzes und überstieg sie. Mehr stolpernd als laufend erreichte ich die Bäume, gegen die ich gerade um ein Haar gefahren wäre, prallte mit der Schulter gegen einen Stamm und torkelte weiter. Dornen und dünne, eisverkrustete Zweige zerkratzten mein Gesicht und meine Hände. Ich registrierte es kaum, sondern stolperte blind vor Angst und Entsetzen weiter. Licht und Schatten jagten sich in immer rascherer Folge.

Ich sah nicht mehr wirklich, wohin ich lief. Zwei-, dreimal stolperte ich über Wurzeln und Schlinggewächse, dann prallte ich so wuchtig gegen einen Baum, dass mir für einen Moment schwarz vor Augen wurde und meine Knie nachgaben. Ich verlor nicht das Bewusstsein, aber ich war für Augenblicke benommen und klammerte mich nur noch durch einen blinden Reflex an den Stamm.

Als sich meine Sinne wieder klärten, hatte sich das Geräusch verändert. Aus dem unwirklichen Dröhnen war wieder das geworden, was es die ganze Zeit über gewesen war, bevor die Panik mein klares Denken verzerrte: das schrille Heulen einer Hochleistungsturbine, in das sich nun das allmählich leiser werdende Flap-Flap auslaufender Rotorblätter mischte. Das Raumschiff vom Mars war nichts anders als ein - wenn auch ziemlich großer und sonderbar geformter - Helikopter, der genau in diesem Moment fünfzig Yards entfernt zur Landung ansetzte. Der Strahl des starken Scheinwerfers, der mich im Wagen fast blind gemacht hatte, tastete wie ein suchender Finger aus Licht über den Waldrand. Ein zweiter, nicht weniger starker Scheinwerferstrahl hatte den Mietwagen ergriffen und tauchte ihn in blendende Helligkeit.

Die Türen des Helikopters wurden geöffnet, kaum dass die Maschine den Boden berührt hatte, und fünf oder sechs Gestalten sprangen heraus. Ich konnte sie nur als schwarze Umrisse erkennen, aber ich spürte die Bedrohung, die von ihnen ausging. Die Erleichterung, es nicht mit einer fliegenden Untertasse zu tun zu haben, hielt kaum so lange an, wie ich brauchte, um mir dessen bewusst zu werden. Ich war nach wie vor in Gefahr; vielleicht sogar in größerer, als ich es gewesen wäre, wenn ich es wirklich mit Hills Geschöpfen zu tun gehabt hätte. Dieser Helikopter hatte mich nicht mitten in der Nacht von der Straße abgedrängt und in diesen Wald gejagt, weil ich die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hatte.

Ich rannte weiter, presste mich gegen einen Baum und versuchte, den Takt einzuschätzen, in dem der Scheinwerferstrahl über den Waldrand strich. Es gelang mir nicht. Ich war immer noch in Panik, jetzt vielleicht mehr denn je. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was hier vorging, aber es war etwas Gewaltiges, und etwas, das vielleicht noch viel gefährlicher und tödlicher war, als ich im Moment begreifen konnte. Meine Verfolger hatten sich geändert, aber meine Situation war nach wie vor die gleiche: Ich musste hier weg, sofort und um jeden Preis!

Blindlings rannte ich los. Ich stolperte, fiel, rappelte mich wieder hoch und rannte weiter. Zwischendurch sah ich immer wieder über die Schulter zurück. Es war bizarr: Obwohl ich rannte, so schnell ich nur konnte, und sich die schwarzen Schatten aus dem Helikopter scheinbar nur gemächlich bewegten, kamen sie immer näher, als hätte eine geheimnisvolle Macht die Zeit für sie außer Kraft gesetzt. Vielleicht auch für mich: Ich kam mir vor wie in einem jener Alpträume, in denen man rennt und rennt und rennt, ohne wirklich von der Stelle zu kommen. Zwei meiner schattenhaften Verfolger hatten sich vom Rest der Gruppe getrennt und wichen seitlich in den Wald aus, vermutlich, um mir den Weg abzuschneiden. Der Rest kam unbarmherzig näher.

Ich versuchte, noch schneller zu laufen ...

... und übersah die Gestalt, die sich im Schutze des Unterholzes an mich herangepirscht hatte.

Als ich den Mann bemerkte, war es zu spät.

Als er mich ansprang, versuchte ich zur Seite auszuweichen und hätte es sogar fast geschafft. Seine ausgestreckten Arme rissen mich nicht zu Boden, sondern streiften mich nur. Trotzdem stolperte ich, und der Bursche bewies, dass er ein echter Profi war: Obwohl er schwer und sicherlich äußerst schmerzhaft hinschlug, griff er trotzdem noch einmal zu, erwischte wider jeder Wahrscheinlichkeit mein Hosenbein und brachte mich diesmal vollends aus dem Gleichgewicht. Diesmal stürzte ich.

Bevor ich wieder aufspringen konnte, waren zwei weitere Gestalten heran. Ich keuchte vor Schmerz, als mir ein brutaler Tritt in die Rippen die Luft abschnitt. Grobe, entsetzlich starke Hände rissen mich in die Höhe, dann trafen mich zwei, drei harte Faustschläge im Gesicht, die mich fast an den Rand der Bewusstlosigkeit schleuderten.

Es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte die üblichen Raufereien auf der High-School hinter mir, aber ich war niemals wirklich zusammengeschlagen worden. Bis zu diesem Moment.

Es ging ganz schnell, und trotz allem sonderbar undramatisch. Die Schläge waren hart und äußerst schmerzhaft, aber der Schmerz war trotzdem seltsam nebensächlich. Es war, als würde ein anderer geschlagen, dessen Schmerz ich zwar fühlte, der aber trotzdem nicht wirklich ich war. Viel schlimmer war das Gefühl der Hilflosigkeit. Zwei der Angreifer hielten mich fest, während sich ein dritter breitbeinig vor mir aufgebaut hatte und mich abwechselnd ins Gesicht und in den Leib schlug. Jeder Hieb prügelte mich weiter an den Rand der Bewusstlosigkeit. Vielleicht weiter. Ich konnte das Gesicht des Mannes, der mich schlug, nur noch verschwommen erkennen. Blut und Tränen verschleierten meinen Blick, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, ihn zu kennen. Ich hatte diesen Mann schon einmal gesehen, aber ich war nicht mehr in dem Zustand, zu sagen, wo.

Gerade, als ich glaubte, endgültig das Bewusstsein zu verlieren, erschien eine weitere Gestalt in dem Nebel aus Blut und dichter werdender Schwärze vor meinen Augen und hielt den Schläger zurück.

»Das reicht. Sie schlagen ihn ja tot.«

Die Stimme war dunkel, und sie hatte trotz ihrer Kälte und Ausdruckslosigkeit etwas Befehlendes. Mühsam öffnete ich die Augen, blinzelte Tränen und Schweiß weg und erkannte endlich das Gesicht des Kerls, der mich geschlagen hatte.

Es war der junge Lieutenant aus Friends Büro. Er trug jetzt keine Air-Force-Uniform mehr, sondern einen dunkelblauen Trenchcoat über einem offensichtlich maßgeschneiderten Anzug, und jede Spur von Freundlichkeit war aus seinem Blick gewichen. Im Gegenteil: Seine Augen blickten mich kalt und auf eine Art an, die mir klarmachte, dass er es bedauerte, nicht weiter auf mich einschlagen zu dürfen. Der Anblick versetzte mich so in Zorn, dass ich mich mit dem letzten bisschen Kraft, das mir noch verblieben war, gegen den Griff der beiden Männer stemmte, die mich hielten; natürlich vollkommen vergebens.

»Sehr beeindruckend, Mister Loengard«, sagte die befehlsgewohnte Stimme, die ich schon einmal gehört hatte. »Wirklich. Hätten wir uns unter anderen Umständen getroffen, dann würde ich Ihre Zähigkeit bewundern.«

Mühsam wandte ich den Kopf und sah in das Gesicht, das zu dieser Stimme passte. Ein kräftig gebauter Mann in jenem schwer zu schätzenden Alter zwischen vierzig und fünfzig, kurzgeschnittenes, streng zurückgekämmtes Haar und kalte Augen, denen nicht die geringste Kleinigkeit zu entgehen schien.

»Wer sind Sie?« keuchte ich mühsam. Meine Unterlippe war aufgeplatzt, und ich schmeckte mein eigenes Blut. Außerdem bereitete mir das Atmen Mühe. Vermutlich hatte mir einer der Hiebe eine Rippe gebrochen. Trotzdem fuhr ich fort: »Und woher, zum Teufel, kennen Sie meinen Namen?«

Statt zu antworten, wandte sich der Mann mit den kalten Augen an einen seiner Begleiter. »Holen Sie das Band.«

»Was wollen Sie von mir?« stöhnte ich. »Wer, zum Teufel, sind Sie?!«

»Das spielt keine Rolle«, antwortete er. »Und wenn Sie Glück haben, dann werden Sie es auch niemals erfahren, Mister Loengard.« Er seufzte. »Sie stecken Ihre Nase in Dinge, die Sie nichts angehen, wissen Sie das? Warum konnten Sie nicht einfach tun, was Congressman Pratt von Ihnen erwartet, und ihm ein paar beeindruckende Beweise dafür liefern, dass die Suche nach fliegenden Untertassen nichts als Geldverschwendung ist!«

Ich sparte es mir, zu antworten, sondern versuchte stattdessen mir das Gesicht meines Gegenübers möglichst gründlich einzuprägen. Ich war sogar sicher, dass er das begriff; aber es schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Er hielt meinem Blick ganz im Gegenteil gelassen stand, und ich glaubte sogar so etwas wie ein amüsiertes Glitzern tief in seinen Augen zu erkennen - auch, wenn ich zugleich nicht einmal sicher war, dass dieser Mann wusste, was Humor überhaupt war.

Es verging nur ein Augenblick, bis der Kerl zurückkam, den er zu meinem Wagen geschickt hatte. Er trug eine Tonbandspule in der Hand - das Ende des Bandes war ausgefranst und offenbar mit roher Gewalt aus dem Gerät gerissen worden -, die er dem Fremden gab.

»Schade drum«, sagte er, während er das Band langsam von der Spule wickelte und in der linken Hand zusammenknautschte. »Aber so schlimm nun auch wieder nicht. Ich werde Ihnen jetzt sagen, was Ihre Nachforschungen ergeben haben, John.« Er wickelte das Band weiter ab, wobei er es zwar nicht zerriss, aber immer wieder in die Länge zog und dehnte, um es vollkommen unbrauchbar zu machen.

»Barney und Betty Hill haben ein Flugzeug gesehen«, fuhr er fort. »Ein niedrig fliegendes, langsames Flugzeug. Sie waren beide übermüdet von der langen Fahrt und sind einfach einer Täuschung erlegen. Ganz genau das wird in Ihrem Bericht stehen, John. Haben wir uns verstanden?«

»Ich glaube nicht«, antwortete ich trotzig. »Wer, zur Hölle, sind Sie eigentlich?«

»Niemand, John«, antwortete er. »Ich bin gar nicht hier. Und das alles hier ist niemals passiert. Nur ein böser Traum, mehr nicht.«

»Aber ich vermute, er könnte zu einem Alptraum werden, wenn ich nicht tue, was Sie von mir erwarten«, sagte ich böse.

Einen Moment lang wirkte er wirklich verblüfft. Dann lachte er, allerdings nicht lange. »Wie ich bereits sagte, John: Hätten wir uns unter anderen Umständen getroffen, wäre ich beeindruckt. Sie scheinen ein intelligenter junger Mann zu sein. Ich hoffe, Sie sind intelligent genug, um zu wissen, was gut für Sie ist.« Er hatte das Band ganz abgespult, presste es mit einer kurzen, heftigen Bewegung zu einem Ball zusammen und ließ es dann in der Manteltasche verschwinden. Die leere Kunststoffspule zerbrach er mit einem Ruck in mehrere Stücke, die er achtlos fallen ließ. Offenbar besaß er doch einen stärkeren Sinn für Dramatik, als ich angenommen hatte.

»Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun werden, John. Sie fahren nach Hause und verbringen ein ruhiges Weihnachtsfest in Ihrer hübschen, kleinen Wohnung mit Aussicht auf das Capitol, trinken eine Hasche Chianti mit ihrem italienischen Vermieter und lassen sich von Ihrer entzückenden Verlobten verwöhnen. Und in Ihrem Bericht werden Sie schreiben, dass diese ganze UFO-Hysterie nichts weiter als das ist: Hysterie. Es lohnt sich nicht, einen Gedanken darauf zu verschwenden. Und schon gar nicht, die Arbeitskraft eines so talentierten jungen Mannes, wie Sie es sind.«

»Sie können mich mal!« sagte ich trotzig.

Ich rechnete damit, dass der Lieutenant mich wieder schlagen würde. Aber er tat es nicht. Stattdessen tauschte er einen fragenden Blick mit Mister Alptraum, den dieser mit einem angedeuteten Nicken beantwortete, und zog eine Pistole.

»Schade, John«, seufzte er. »Aber Sie lassen uns keine Wahl.«

Mein Atem stockte, als der Lieutenant den Lauf der Pistole gegen meine Schläfe drückte. »Nein!« keuchte ich. »Bitte, ich ...«

»Tut mir leid, John. Sie hatten Ihre Chance. Ich kann es mir nicht leisten, ein Risiko einzugehen.«

Er würde abdrücken. Ich wusste es. Ich hatte zu hoch gepokert, und verloren. Mein Herz jagte, aber ich war so gelähmt vor Schrecken, dass ich nicht einmal mehr schreien konnte. Er würde abdrücken, und ich würde Weihnachten nicht mit Kimberley verbringen, keine Karriere im Kongress machen und nie wieder mit Menschen wie Betsy und Barney Hill reden, die ...

Er drückte ab.

Das helle Klicken der Waffe dröhnte wie ein Kanonenschuss in meinem Schädel, und ich konnte sogar spüren, wie der Hammer auf die leere Kammer schlug und ein Schwall warmer Luft gegen meine Schläfe gepresst wurde. Die Pistole war nicht geladen.

Die Erleichterung schlug mit solcher Wucht über mir zusammen, dass mir schwarz vor Augen wurde. Meine Knie gaben nach. Haltlos sackte ich in den Armen der beiden Männer zusammen, die mich hielten. Für einen Moment war ich der Ohnmacht näher denn je. Alles drehte sich um mich. Ich war noch am Leben, aber was ich fühlte, war die pure, nackte Todesangst.

»Mister Loengard!«

Ich war unfähig, auf die Stimme zu reagieren. Ich wollte es, aber meine Stimmbänder versagten mir ebenso den Dienst wie der Rest meines Körpers. Ich spürte kaum, wie ich erneut von starken Händen gepackt und auf die Füße gezerrt wurde.

»Mister Loengard«, sagte der Mann mit den kalten Augen noch einmal. »Nehmen Sie einen guten Rat von mir an: Halten Sie Ihre Nase in Zukunft aus Dingen raus, die Sie nichts angehen. Das nächste Mal, John, machen wir vielleicht einen Hausbesuch bei Ihnen.«

Damit ging er. Die meisten seiner Begleiter gingen mit ihm, aber der Lieutenant und die zwei Kerle, die mich festhielten, blieben zurück. Wahrscheinlich war das auch gut so. Meine Knie zitterten immer noch so heftig, dass ich wahrscheinlich auf der Stelle zusammengebrochen wäre, hätten sie mich losgelassen.

»Du bist ein richtiger Glückspilz, John«, sagte der Lieutenant. »Wirklich. Immerhin bist du noch am Leben. Diesmal.«

Ich sah seine Faust nicht einmal kommen. Diesmal schlug er so hart zu, dass ich endgültig das Bewusstsein verlor.


Alles war anders geworden. Ich kehrte nach Washington zurück, ging in meine kleine Wohnung mit Aussicht auf Capitol Hill, zu meiner Verlobten, die mich erwartete, und meinem italienischen Vermieter, und schon am nächsten Morgen ging ich um zehn Minuten vor neun die Stufen des Capitols hinauf, zurück aus dem wärmeren Ohio wieder mit Hut, Schal und Handschuhen ... Nichts hatte sich verändert.

Und doch war nichts mehr, wie es gewesen war.

Das nächste Mal machen wir einen Hausbesuch.

Ich hatte die Worte des Mannes mit den grausamen Augen nicht vergessen. Und ich hatte nur zu deutlich begriffen, was sie bedeuteten, und Kim nichts von meinem nächtlichen Abenteuer erzählt. Der Lieutenant, der mich als Punching-Ball benutzt hatte, verstand wirklich etwas von seinem Geschäft: Ich spürte jeden einzelnen Schlag, den er mir versetzt hatte, noch immer, aber er hatte mich nicht wirklich verletzt. Ich hatte nicht einmal einen sichtbaren blauen Fleck oder eine Prellung, so dass ich mir keine Ausrede einfallen lassen musste. Natürlich hatte Kimberley trotzdem bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte - ich bin niemals ein guter Lügner gewesen, und als Schauspieler wäre ich selbst als Mitglied einer Laienspielgruppe verhungert - aber ich hatte mich darauf herausgeredet, eine anstrengende Reise hinter mir zu haben. Sie hatte mir nicht geglaubt, es aber zumindest für diese Nacht dabei belassen. Irgendwann im Laufe des Tages würde ich mir eine überzeugendere Ausrede für meine Einsilbigkeit und die niedergedrückte Stimmung zurechtlegen müssen, und allein dafür hasste ich die Unbekannten: Ich hatte Kim niemals belogen, nicht in all der Zeit, die wir uns kannten. Nun hatte ich es getan, und ich würde es weiter tun müssen, wenn ich sie schützen wollte. Das nächste Mal machen wir einen Hausbesuch.

Und doch war es etwas völlig anderes, das mir die Augen öffnete.

Der Helikopter.

Natürlich war es nicht der Helikopter aus der vergangenen Nacht. Selbst in den frühen sechziger Jahren war der Anblick eines Hubschraubers über dem Capitol nichts Außergewöhnliches. Helikopter, die Kongressabgeordnete brachten oder abholten, die wichtige Gäste einflogen, geheime Papiere transportierten und im Zweifelsfall auch einmal einem Abgeordneten halfen, eine Stunde offizielle Reisezeit zu sparen, die er dann bei seiner Geliebten verbringen konnte. An dem Anblick war absolut nichts Außergewöhnliches. Im Gegenteil: die Maschine sah der, die mich in den Wald gejagt hatte, nicht einmal ähnlich. Und trotzdem erstarrte ich mitten im Schritt, und für zwei oder drei Sekunden war ich hundertprozentig davon überzeugt, dass er es war. Die Angst war wieder da, schlagartig, ohne Vorwarnung und keinen Deut weniger schlimm als vergangene Nacht. Ich stand auf den Stufen des Capitols, umgeben von Dutzenden von Menschen, und es war helllichter Tag. Und doch war ich wieder im Wald, sah die Gestalten wieder auf mich zustürmen und spürte wieder die gleiche, brodelnde Panik, die nichts anderes als pure Todesangst war. Mein Herz jagte. Meine Hände und Knie zitterten so stark, dass ich Mühe hatte, die Aktentasche zu halten. Ich hatte nichts anderes zu tun, als dazustehen und dem Helikopter nachzustarren. Erst, als er im Dunst des Morgens verschwunden war, gelang es mir, die Panik niederzukämpfen und mich mit aller Gewalt daran zu erinnern, wo ich wirklich war.

Rasch - und ohne auf die sonderbaren Blicke zu achten, die mir der eine oder andere zuwarf, denn mein seltsames Verhalten war keineswegs unbemerkt geblieben - ging ich weiter. Äußerlich war ich halbwegs gefasst, aber in mir sah es ganz anders aus. Ich war niemals ein sehr mutiger Mensch, aber auch alles andere als ein Feigling. Jetzt aber hatte ich Angst. Nicht mehr die lodernde Panik wie vor wenigen Minuten oder in der vergangenen Nacht, sondern eine schleichende, bohrende Furcht, die auf ihre Art viel schlimmer war. Ich fragte mich, wem ich noch trauen konnte. Ob ich jemals wieder durch eine Tür treten würde, ohne mich zu fragen, was dahinter auf mich wartete ... ob ich die Angst jemals im Leben wieder loswerden würde. Und das war es, was mir der Mann mit den kalten Augen und seine Begleiter vergangene Nacht wirklich angetan hatten: Nichts war mehr, wie es gewesen war. Washington D.C., das Weiße Haus, Capitol Hill: Sie hatten diese Bollwerke der freien Welt - die bisher für mich gleichermaßen auch Bollwerke gegen genau diese Welt gewesen waren - der Furcht ausgeliefert. Zum ersten Mal, seit ich dieses ehrwürdige Gebäude aus weißem Marmor und Geschäftigkeit betreten hatte, fühlte ich mich in seinen Mauern nicht geborgen und unangreifbar, sondern ausgeliefert; ein Gefangener der Schatten, die in seinen Winkeln und Ecken nisteten.

Ich versuchte, den Gedanken zu verscheuchen. Ich hatte Angst, was nach der vergangenen Nacht nur zu verständlich war, und ich war mit Recht verunsichert und nervös, aber ich musste aufpassen, nicht vollends paranoid zu werden. Ich versuchte, mich am Anblick der vertrauten Gänge und Treppen festzuklammern, Trost in einem bekannten Gesicht zu finden, einem beiläufigen Guten Morgen oder auch nur einem Blick, irgendeine banale Kleinigkeit, der ich vertrauen konnte.

Es wurde nicht besser. Ganz im Gegenteil. Als ich mein Büro betrat, wurde es schlimmer.

Auf meinem Schreibtisch lag ein brauner Umschlag. Das Postkörbchen aus Draht, das pedantisch auf der rechten äußeren Kante des Tisches stand, war noch leer; die tägliche Post war noch nicht durch. Ich fragte mich beiläufig, was um alles in der Welt so früh am Morgen so wichtig sein konnte, dass jemand sich eigens die Mühe machte, einen Boten in mein Büro zu schicken, verschwendete aber keinen weiteren Gedanken darauf, sondern legte den Umschlag erst einmal zur Seite. In meiner Aktentasche wartete eine Aufgabe auf mich, die keinen Aufschub duldete. Ich hatte mir in der Nacht bereits Notizen gemacht, um den abschließenden Bericht für Congressman Pratt zu schreiben - Marcs drei Seiten - und ich würde es jetzt tun. Nicht morgen, nicht über Weihnachten zu Hause, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte, oder in den Tagen danach, sondern heute, jetzt, bevor ich Zeit fand, nachzudenken und vielleicht doch noch etwas zu tun, das Kim und mich in Gefahr bringen konnte. Ich breitete meine Notizen und hingekritzelten Stichworte vor mir aus, nahm ein weißes Blatt Papier zur Hand, legte es wieder weg, ergriff es erneut und gewann noch einmal einige Sekunden damit, das halbe Dutzend Bleistifte aus der Federschale zu nehmen und anzuspitzen.

Tatsache war, ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Noch vor vierundzwanzig Stunden wäre es mir ein Leichtes gewesen, einen Bericht zu verfassen, der ganz genau so war, wie Congressman Pratt ihn von mir erwartete; bevor ich Friend, die Hills und die Männer im Wald getroffen hatte. Jetzt ...

Ich musste nur schreiben, was ich noch vor einem Tag fast wortwörtlich im Kopf gehabt hatte. Aber ich konnte es nicht.

Wenn ich diesen Bericht verfasste, wenn ich aus den Lügen Wahrheit machte, indem ich sie niederschrieb, dann würde ich selbst zu einem jener Männer im Helikopter werden. Ich hatte keine andere Wahl, schon um Kimberleys willen. Das nächste Mal machen wir einen Hausbesuch. Aber ich konnte es nicht.

Wenigstens jetzt noch nicht.

Ich legte den Stift wieder aus der Hand, griff erneut nach dem braunen Umschlag - aus keinem anderen Grund als dem, noch einmal Zeit zu gewinnen - und öffnete ihn. Und die Erde tat sich unter mir auf, um mich zu verschlingen. Sie hatten bereits einen Hausbesuch gemacht.

Der braune Umschlag enthielt meinen Bericht.

Ich hatte den Aktendeckel mit dem rosafarbenen Aufkleber nie zuvor im Leben gesehen, aber der Text darauf war eindeutig mit meiner Schreibmaschine getippt, der altersschwachen Typemate mit dem kleinen »n«, das immer nach rechts unten ausbrechen wollte, als hätte es nicht die Kraft, sich auf der Zeile zu halten, und die Worte, die die Buchstaben bildeten, waren noch eindeutiger:

Von: John Loengard

An: Charles Pratt

Betrifft: Projekt Blue Book

Mit zitternden Händen begann ich die Akte durchzublättern. Sie enthielt genau drei Blätter - die drei Seiten, um die Marc mich gebeten hatte! -, und es war mein Bericht. Ich hatte ihn nie zuvor zu Gesicht bekommen, aber das spielte keine Rolle. Die Fälschung war perfekt. Sie war nicht nur auf meiner Schreibmaschine geschrieben, sondern auch mit dem für mich typischen, unregelmäßigen Anschlag, mit meiner Wortwahl, meinem Satzbau und - aber das überraschte mich kaum noch - meiner eigenhändigen Unterschrift auf der letzten Seite.

Davon abgesehen war der Text ungefähr zehnmal besser, als ich es jemals zu Stande gebracht hätte.

Ich saß länger als eine Minute da und starrte die drei engbeschriebenen Blätter an. Ich weiß nicht mehr genau, was ich empfand: Schreck, Erstaunen, Zorn, Entsetzen; sicherlich von alledem etwas, aber vor allem dies: ein Gefühl hilfloser Ohnmacht und des Ausgeliefertseins, das schlimmer war als alles andere zuvor. Jeder Schritt, den ich in den letzten drei Monaten getan hatte, war auf diesen drei Blättern vermerkt, jedes Gespräch, das ich geführt, jede Akte, die ich gelesen hatte.

Sie waren die ganze Zeit über bei mir gewesen. Ich fühlte mich so hilflos und ausgeliefert, als stünde ich nackt im Zentrum eines Scheinwerferstrahls auf den Stufen des Weißen Hauses.

Ich bemerkte kaum, dass jemand hinter mich trat und mir über die Schulter sah. Erst, als Simonson die Hand ausstreckte und mir die Akte wortlos aus den Fingern nahm, schrak ich zusammen. Ganz automatisch versuchte ich, ihm den Hefter wieder abzunehmen, aber er wich mir mit einer geschickten Bewegung aus, warf einen Blick auf den Aktendeckel und verzog in einer Mischung aus Erstaunen und Anerkennung das Gesicht.

»Projekt Blue Book? Du bist schon fertig damit.«

»Kann ich das ... bitte wiederhaben, Marc?« fragte ich.

Meine Stimme wollte mir nicht gehorchen. Ich fühlte mich unwirklich, als wäre ich nicht ich selbst, sondern nur ein Beobachter, den das alles nichts anging, und der nur rein zufällig hier war. Ich hätte mir gewünscht, es wäre so.

Simonson dachte nicht daran, mir den Aktendeckel zurückzugeben, aber er sah mich ein zweites Mal und sehr viel aufmerksamer an und sagte: »Du siehst nicht gut aus. Hast du schlecht geschlafen?«

»Bitte gib mir die Mappe zurück«, sagte ich noch einmal. Was er natürlich nicht tat. Er begann ganz im Gegenteil in dem Bericht zu lesen, und ich hätte den verblüfften Ausdruck gar nicht mehr sehen müssen, der sich dabei auf seinem Gesicht auszubreiten begann, um zu wissen, was er dabei empfand.

»Kein Wunder, dass du aussiehst wie der Tod auf Latschen«, sagte er. »Ich wette, du hast die ganze Nacht über daran gearbeitet.«

»Marc«, sagte ich leise. »Dieser Bericht ...«

»... ist fantastisch«, unterbrach mich Simonson. »Ich meine das ernst. Er ist großartig! Präzise, knapp, informativ ...«

»... und nicht von mir«, führte ich den Satz zu Ende.

Marc blinzelte. Dann lachte er nervös. »Was soll das heißen?«

Jetzt, als es heraus war, fühlte ich mich unendlich erleichtert. Ich wusste, dass es ein Fehler war, vielleicht der schlimmste (vielleicht der letzte?) Fehler, den ich jemals begangen hatte, aber ich konnte nicht anders. Trotzdem sah ich mich hastig nach allen Seiten um und senkte die Stimme, als ich antwortete: »Ich habe das nicht geschrieben.«

Marc blinzelte erneut, sah mich wieder zwei oder drei Sekunden lang ungläubig an und hielt mir dann die letzte Seite des Berichts unter die Nase. »Das da sieht aber aus wie deine Unterschrift«, sagte er.

»Aber sie ist es nicht«, sagte ich ernst. »Ich habe diesen Bericht gerade auf meinem Schreibtisch gefunden.«

»Und du hast natürlich nicht die geringste Ahnung, wie er dorthin gekommen ist.« Simonson sprach wesentlich lauter, als mir lieb war, aber mir entging auch nicht, dass der Spott in seiner Stimme nicht hundertprozentig echt war.

»Ich weiß nicht, wer ihn dorthin gelegt hat«, antwortete ich. »Aber ich habe eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wer ihn geschrieben hat. Oder zumindest, wer den Auftrag dazu erteilt hat.«

Simonson sah mich durchdringend an. Ich konnte direkt sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Du meinst das ernst, wie?« fragte er schließlich.

»Todernst«, antwortete ich. »Wenn du wüsstest, wie sehr ...«

»Nicht hier«, unterbrach mich Simonson. Er sprach jetzt ebenso leise wie ich und in sehr ernstem, fast verschwörerischem Ton. »Komm mit.«

Wir verließen das Büro und gingen in einen der leer stehenden Konferenzräume auf der anderen Seite des Korridors. Simonson schloss die Tür, deutete mit einer beinahe herrischen Geste auf einen freien Stuhl und warf die Akte mit meinem Bericht auf den Tisch. Von einer Sekunde auf die andere hatte er rein gar nichts mehr von einem väterlichen Freund an sich. Sein Blick war plötzlich fast ebenso hart wie der des Fremden vergangene Nacht, und seine Stimme war beinahe schneidend.

»Überleg dir jetzt ganz genau, was du sagst, John«, sagte er. »Das ist kein Scherz mehr, sondern eine ungeheuerliche Anschuldigung. Du willst mir allen Ernstes erzählen, Pratt hätte dir diesen Bericht untergeschoben, damit er ihn Ende des Monats dem Kongress vorlegen und das Projekt Blue Book streichen lassen kann?«

Im allerersten Moment hatte ich Mühe, diesem scheinbar absurden Gedanken auch nur zu folgen. Aber dann wurde mir klar, dass er gar nicht so absurd war; nicht, wenn man Congressman Pratt kannte. Außerdem hörte sich die Wahrheit vermutlich noch viel absurder an.

»Ich habe nicht gesagt, dass es Pratt war«, sagte ich ruhig.

»Nicht ... Pratt?«

Ich schüttelte den Kopf, raffte all meinen Mut zusammen und erzählte Marc, was ich in der vergangenen Nacht erlebt hatte. Zu meiner Überraschung hörte er mir wortlos zu, und er sagte auch nichts, als ich fertig war, sondern nahm sich nur meinen Bericht und begann gedankenverloren darin zu blättern.

»Also«, sagte ich. »Jetzt geh zum Telefon und ruf die Jungs mit den weißen Jacken.«

Marc lachte nicht. »Warum sollte ich?«

»Soll das heißen, du ... glaubst mir?« fragte ich zögernd.

»Du meinst diese Geschichte von dem Schw ...« Er verbesserte sich. »Die Geschichte, die die Hills erzählt haben? Nein.«

»Du hast diese Leute nicht erlebt. Sie haben nicht gelogen.«

»Zweifellos«, antwortete er. »Ich bin sicher, sie haben irgendetwas gesehen.«

»Einen Wetterballon, wie?« fragte ich spöttisch.

»Ein Testflugzeug«, erwiderte Marc ernst. »Irgendein geheimes Projekt der Air Force. Die White Mountains sind ein beliebtes Testgelände für die Air Force. Nur wenige Menschen, keine stark befahrenen Highways. Vielleicht haben sie irgendeine neue Waffe getestet - was weiß ich!«

»Und diese Männer?«

»Die aus dem Helikopter? Die Männer, die dein Band gestohlen und dich zusammengeschlagen haben?«

»Du glaubst mir nicht«, sagte ich. »Aber ich sage die Wahrheit. Sie haben gedroht, mich umzubringen. Und sie meinten es verdammt ernst.«

»Sie wollten dir einen kleinen Schrecken einjagen«, antwortete Marc.

»Das ist ihnen gelungen!«

»Ja, und wenn du jetzt anfängst, diesen UFO-Unsinn herumzuerzählen, dann müssen sie sich nicht einmal mehr die Mühe machen, dich weiter zu erschrecken«, sagte Marc. »Dann hört dir nämlich sowieso niemand mehr zu.« Er schwieg einen Moment, dann fragte er: »Hast du schon einmal von den Black Hawks gehört?«

»Was soll das sein?« fragte ich. »Eine Football-Mannschaft?«

»Ein Sammelbegriff für gewisse Projekte des Militärs, die in keinem Bericht und keinem Budget auftauchen«, antwortete er. »Niemand gibt zu, dass es sie gibt, aber natürlich weiß jedermann, dass sie doch existieren. Diese Leute brauchen natürlich immer Geld.«

»Worauf willst du hinaus?«

Marc hob die Schultern. »Die Suche nach etwas, das gar nicht existiert, kann eine hübsche Stange Geld verschlingen«, sagte er. »Man könnte schon den einen oder anderen Dollar abzweigen, denke ich.«

»Und?« Natürlich war mir längst klar, worauf er hinaus wollte. Die Erklärung klang logisch. Aber irgendetwas sagte mir, dass es nicht so war.

Simonson zuckte abermals mit den Schultern und setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment wurde die Tür unsanft aufgerissen, und Pratt erschien in der Tür. Wie üblich schien er in Eile zu sein, und wie immer hatte er ausgesprochen schlechte Laune. Und wie ebenfalls üblich würdigte er mich keines Blickes, sondern wandte sich direkt und in unwirschem Ton an Marc.

»Simonson! Was, zum Teufel, tun Sie hier? Ich brauche die Unterlagen für das Zehn-Uhr-Meeting!«

»Entschuldigen Sie, Mister Pratt«, antwortete Marc. Im Stillen bewunderte ich die Schnelligkeit, mit der er umschaltete. »Loengard und ich haben über seine gestrige Reise gesprochen.«

Pratt nahm nun doch Notiz von mir. Zwei oder drei Sekunden lang sah er mich auf eine Art an, als müsse er überlegen, wer ich war und wo er mich schon einmal gesehen hatte, dann nickte er. »Ah ja - die Blue Books. Wie weit sind Sie?«

Ich wollte antworten, doch Marc kam mir zuvor. »Er ist fast fertig. Wir müssen noch ein paar Einzelheiten besprechen, aber es wird nicht mehr lange dauern.«

»Das will ich hoffen«, antwortete Pratt übellaunig. »Und machen Sie es knapp. Ich habe keine Lust, ein vierstündiges Referat zu halten.«

Er ging, ohne sich zu verabschieden. Marc folgte ihm bis zur Tür, schloss sie jedoch dann hinter ihm und wandte sich noch einmal zu mir um.

»Und was machen wir jetzt damit?« fragte ich mit einer Geste auf den Bericht, der noch immer auf dem Tisch lag.

»Wir machen gar nichts«, antwortete Marc betont.

»Du hast gehört, was er gesagt hat. Er will den Bericht haben. Was, zum Teufel, soll ich tun?«

»Vor allem die Nerven behalten«, antwortete Marc. »Und zu niemandem darüber reden. Begreifst du eigentlich, worauf du da gestoßen bist?«

»Nicht ganz«, gestand ich.

»Das ist unsere Chance!« antwortete Marc ernst. »Wenn wir diese Black-Hawk-Geschichte beweisen können, dann haben wir beide eine ziemlich steile Karriere vor uns, John.«

»Oder ein ziemlich schnelles Ende.«

Simonson machte eine wegwerfende Handbewegung. Und warum auch nicht? Ihm hatte schließlich niemand eine Pistole an die Schläfe gesetzt und abgedrückt. »Sie bluffen«, behauptete er. »Diese Kerle gehen weit, aber nicht so weit, glaub mir. Aber stell dir doch vor, wie wir beide dastehen, wenn wir diese Burschen auffliegen lassen!«

In seiner Stimme war eine Begeisterung, die mir nicht gefiel. Nicht im Mindesten. Marc hatte Blut geleckt, das war nicht zu übersehen. Ich war ziemlich sicher, dass er auf der falschen Spur war. Aber das war ich vielleicht auch. Und immerhin - ich hatte etwas erreicht, wovon ich vor einer halben Stunde noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte: Ich hatte einen Verbündeten gefunden.


Weihnachten kam und ging, wurde von Silvester abgelöst und ging in den Januar über. Und ich verwandelte mich in einen Besessenen. Zusammen mit Marc hatte ich meinen Bericht so umgeschrieben, dass ich mir damit vermutlich keinen weiteren Hausbesuch einhandeln würde, aber er Pratts Erwartungen gerade so wenig nicht entsprach, dass er meinen Auftrag um weitere drei Monate verlängerte. Ich hütete mich, danach zu fragen, aber ich war ziemlich sicher, dass Marc seine Finger dabei im Spiel hatte.

Mir war es nur recht. Ich fuhr fort, Militärstützpunkte zu besuchen, mich in Archiven zu vergraben und zwanzig Jahre alte Akten zu durchwühlen. Aber ich suchte nicht mehr nach Beweisen für die Existenz außerirdischer Besucher auf unserer Welt. Ich behauptete es, aber in Wahrheit suchte ich etwas höchst Irdisches: Ich suchte den Mann aus dem Helikopter.

Es war nicht wie die sprichwörtliche Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Es war schlimmer. Ich wusste nicht einmal, ob die Nadel überhaupt da war. Alles, was ich hatte, war die Erinnerung an ein Gesicht, an eine befehlsgewohnte Stimme und an die Art, auf die die anderen Männer ihm gehorcht hatten. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte ich es mit einem Soldaten zu tun, vermutlich sogar mit einem hochrangigen Soldaten. Aber das war nur eine Theorie, wenig mehr als Simonsons Black-Hawk-Geschichte, an die ich weniger denn je glaubte. Ich suchte einen Mann, von dem ich weder wusste, wie er hieß, noch wo er lebte, noch ob er bei der Army, der Air Force oder bei der Navy beschäftigt war. Ich befand mich in der Lage eines Goldsuchers, der mit einem Teesieb in der Hand das ausgetrocknete Bett des Mississippi nach einem ganz bestimmten Sandkorn absuchte.

Und ich fand es.

Zwei Monate, nachdem ich mit meiner aussichtslosen Suche begonnen hatte, eilte ich mit weit ausgreifenden Schritten auf Simonsons Schreibtisch zu, öffnete meine Aktentasche und ließ mit einer schwungvolltriumphierenden Bewegung einen staubigen Aktendeckel vor ihm niedersausen.

Marc sah mich fragend an. Ich sagte nichts, aber er schien mir meine Erregung deutlich anzusehen, denn er fuhr plötzlich zusammen, griff hastig nach dem Aktendeckel und schlug ihn auf.

»Mister Alptraum?« fragte er.

»Captain Frank Bach«, sagte ich nickend. »U.S. Navy. Deshalb habe ich ihn auch in all den Air-Force-Unterlagen nicht gefunden. Ich dachte ganz automatisch, er müsste irgendetwas mit der Air Force zu tun haben.«

»Weil er mit einem Hubschrauber gekommen ist?«

Ich fand seinen Humor in diesem Moment ziemlich unpassend, ersparte es mir aber, eine entsprechende Bemerkung zu machen. »Weil alles auf Wright-Patterson angefangen hat«, antwortete ich. »Ein Irrtum. Der Bursche ist bei der Navy.«

»Mitglied einer Spezialeinheit«, sagte Marc, während er die Akte langsam durchblätterte. »Hoch dekoriert. Ein guter Mann. Aber diese Akte ist fünfzehn Jahre alt. Und nicht vollständig.« Er sah auf. »Woher hast du sie?«

»Gestohlen«, grinste ich.

Marc blieb ernst. »Du weißt, was dir passiert, wenn man dich damit erwischt. So etwas ist strafbar.«

Wenn Bach herausfand, was ich die letzten zwei Monate getan hatte, dann war das wahrscheinlich mein kleinstes Problem. Trotzdem machte ich eine Handbewegung, wie um seine Worte vom Tisch zu wischen. »Was diese Burschen tun, ist ebenfalls strafbar«, antwortete ich. »Es ist illegal, hoffnungsvolle junge Kongressermittler von der Straße zu drängen und zusammenzuschlagen. Wenn sie mich erwischen, schlag' ich ihnen einen Deal vor: Ich sage nichts, wenn sie nichts sagen.«

»Witzig«, sagte Marc mit steinernem Gesicht. Er ließ die Akte in einer Schublade seines überladenen Schreibtisches verschwinden und sah mich einige Sekunden lang nachdenklich an.

»Und jetzt?«

»Jetzt bist du am Zug«, antwortete ich. Seltsam - aber ich hatte mit genau dieser Reaktion gerechnet. Ich war nicht einmal überrascht, dass Simonson so wenig Begeisterung über meinen Erfolg zeigte. Wir hatten in den letzten Wochen oft über meine Suche gesprochen, aber getan hatte Marc rein gar nichts. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich fragte, ob Marc überhaupt etwas herausfinden wollte. Es war eine Sache, über den fliegenden Holländer zu reden. Aber eine ganz andere, ihm gegenüberzustehen.

»Ich?«

»Du hast es selbst gesagt: die Akte ist nicht vollständig. Ich kann dir sagen, wo Bach vor fünfzehn Jahren gedient hat. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo er heute ist. Und ich fürchte, ich werde es auch nicht herausfinden.« Ich deutete auf die Schublade, in die er die Akte geworfen hatte. »Ich habe das da durch einen reinen Zufall gefunden. Man gewinnt nicht zweimal hintereinander in der Lotterie, weißt du?«

»Und was bringt dich auf die Idee, dass ich das große Los ziehe?« fragte Marc.

Allmählich musste ich mich beherrschen, um nicht wirklich zornig zu werden. »Du kannst ihn finden«, sagte ich scharf. »Du kennst seinen Namen, und du weißt, wo er gedient hat. Erzähl mir nicht, du könntest diesen Mann nicht ausfindig machen. Herrgott, du bist der Assistent eines Kongressabgeordneten!«

»Ja, und zwar eines ziemlich ungeduldigen«, antwortete Marc. Er sah demonstrativ auf die Uhr, fuhr in schlecht geschauspielertem Erschrecken zusammen und stand mit einer hektischen Bewegung auf. »Ich habe noch eine Menge zu tun, John. Ich kümmere mich um deinen Captain Bach, aber jetzt muss ich erst einmal ein wenig für unseren über alles geliebten Congressman Pratt arbeiten.«

Vollkommen fassungslos starrte ich ihn an, aber Marc war bereits auf dem Weg zur Tür. »Geh nach Hause, John«, sagte er. »Ich rufe dich an, wenn ich etwas herausgefunden habe. Versprochen!«

Simonson hielt Wort; und das wesentlich schneller, als ich erwartet hatte. Ich folgte seinem Rat und nahm mir nicht nur diesen, sondern auch die beiden darauf folgenden Tage frei. Während der vergangenen Wochen hatte ich genug Überstunden angesammelt, um eine ganze Woche zu Hause zu bleiben. Marc war zwar nicht direkt mein Vorgesetzter, aber immerhin hatte er mich nach Hause geschickt, und was Pratt anging, so bezweifelte ich, dass er meine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis nahm, geschweige denn meine Abwesenheit.

Ich hatte die Pause auch dringend nötig. Ich war mit meinen Kräften nicht nur physisch, sondern auch psychisch am Ende, und dem Hochgefühl des Erfolgs, mit dem ich noch am Morgen vor Marcs Schreibtisch gestanden hatte, folgte so etwas wie ein emotionaler Kater. Ich hatte Bach gefunden, aber nun war ich mit meinem Latein zumindest vorerst am Ende. Und im Augenblick hatte ich kaum die Energie, die Suche auf eigene Faust fortzuführen.

Davon abgesehen hatte ich andere Probleme.

Meine häufige Abwesenheit in den letzten Monaten hatte Spuren hinterlassen. Kimberley und ich waren weit davon entfernt, uns zu entfremden oder gar offen zu streiten, aber die naive Unbefangenheit, mit der wir nach Washington gekommen waren, war dahin. Es gab kein Misstrauen zwischen uns, keine fragenden Blicke oder kaum verhohlene Andeutungen. Alles schien bestens zu sein, und doch hatte ich manchmal das Gefühl, dass da etwas wie eine latente Spannung zwischen uns wäre; etwas wie ein Knistern, das wir beide noch nicht bewusst wahrgenommen hatten, aber schon deutlich spürten, ohne indes seine wirkliche Bedeutung zu begreifen.

Kimberley hatte eine Verabredung, und ich bereitete mich auf einen gemütlichen, wenn auch vermutlich langweiligen Abend vor dem Fernseher vor. Ich hätte sie gerne begleitet, aber sie hatte von sich aus nichts gesagt, und aus irgendeinem Grund hatte ich Hemmungen, sie zu fragen. Das gehörte mit zu den Dingen, die sich zwischen uns geändert hatten. Früher hatte es niemals irgendwelche Unsicherheiten dieser Art gegeben. Eine unserer unausgesprochenen Regeln lautete, dass es keine unausgesprochenen Dinge gab.

Diese eine Nacht in Ohio hatte das geändert. Dank Bach hatte ich Kim zum ersten Mal belogen, und allein dafür hasste ich ihn.

»Nun, wie sehe ich aus?« fragte sie, als sie aus dem Bad kam. Sie trug ein selbstgeschneidertes Kleid, das dem Titelblatt jedes Modemagazins zur Ehre gereicht hätte, und zupfte beständig an einer Frisur herum, an der es absolut nichts mehr zu richten gab. Sie sah fantastisch aus, und ich sagte es ihr auch.

»Du siehst großartig aus, Schatz«, sagte ich. »Aber für wen putzt du dich so heraus?«

Es sollte ein Scherz sein, und sie lachte auch, aber es klang nicht ganz echt. Auch alles andere als falsch, aber eben nicht ganz echt. »Das, Schatz«, antwortete sie lachend, aber wie ich fand, auch um eine Nuance zu spitz, »geht dich nichts an.«

»Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?« fragte ich. »Oder besser gesagt: Gibt es da irgendjemanden in deinem Leben?«

»Auch das geht dich nichts an, Liebling«, antwortete sie mit einem zuckersüßen Lächeln. »Wozu sind Geheimnisse gut, wenn man sie jedem sofort verrät?«

»Dann wären es keine Geheimnisse mehr«, pflichtete ich ihr bei. Der Klang meiner eigenen Stimme gefiel mir nicht, ebenso wenig wie das Lächeln, mit dem sie darauf reagierte. Kim sagte jedoch nichts mehr, sondern schlenderte in die Küche, nahm Tasche und Handschuhe vom Tisch und wandte sich dann zur Tür.

»Warte nicht auf mich«, sagte sie. »Es könnte später werden.«

»Du hast Geheimnisse«, sagte ich grimmig.

Kimberley blieb stehen, drehte sich noch einmal herum und sah mich auf eine Art an, die das Lächeln auf ihren Lippen Lügen strafte. »Hat die nicht jeder?« fragte sie. »Seine kleinen Geheimnisse, meine ich?«

Sie wusste es. Ich war sicher, keinen Fehler begangen zu haben. Kein verräterisches Schweigen im falschen Moment, keine Ausflucht und keinen Widerspruch, in den ich mich verwickelte; ich hatte in den letzten Wochen zu meiner eigenen Überraschung festgestellt, dass ich wohl doch ein talentierterer Lügner war, als ich glaubte. Trotzdem wusste sie es. Vermutlich spürte sie einfach, dass ich ihr irgendetwas verheimlichte.

Für einen ganz kurzen Moment war ich nahe daran, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Was hatte ich zu verlieren? Was immer sie vermuten mochte, konnte nur schlimmer sein als die Wahrheit; zumindest für unsere Beziehung. Ich würde ihr die Wahrheit sagen. Jetzt.

Das Telefon klingelte. Beinahe hastig griff ich nach dem Hörer, riss ihn von der Gabel und meldete mich.

»Simonson«, sagte Marc. »Ich bin es, John. Marc. Du ...«

»Eine Sekunde, Marc«, unterbrach ich ihn. Rasch hielt ich den Hörer zu, wandte mich an Kim und sagte: »Es ist für mich. Einen schönen Abend, Schatz.«

Kimberley wirkte enttäuscht. Offensichtlich war ihr nicht entgangen, dass ich ihr irgendetwas hatte mitteilen wollen, und sie wertete den Anruf als genau das, was er war: ein willkommener Anlass, es nicht zu tun.

Ich wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte, ehe ich die Hand wieder herunternahm und mich meldete. »Marc?«

»Der Fernseher«, sagte Simonson. »Schalt ihn ein. Kanal sechs.«

In seiner Stimme war etwas, das mich davon abhielt, irgendeine Frage zu stellen. Rasch ging ich zum Fernseher, schaltete auf den entsprechenden Kanal und trat wieder zwei Schritte zurück. Auf dem Bildschirm war eine Gruppe von vier oder fünf Männern zu sehen, die dicht beieinander auf einer nächtlichen Brücke standen und sich leise, aber offenbar sehr erregt miteinander unterhielten. Alle waren winterlich gekleidet, und hier und da waren noch Reste von zusammengebackenem Schneematsch zu erkennen. Weiter hinten standen weitere Männer. Sie waren mit Gewehren bewaffnet und trugen dicke Winteruniformen. Keine amerikanischen.

Nichts davon interessierte mich. Für einen Moment hatte ich sogar Mühe, der Stimme der Nachrichtensprecherin zu folgen, die die Bilder kommentierte. Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Mann, der ein wenig hinter den anderen stand, wie zufällig so, dass sein Gesicht nicht ganz deutlich zu erkennen war. Trotzdem erkannte ich ihn sofort.

Es war Bach.

»... heute Nacht auf der Glienicker Brücke statt«, sagte die Kommentatorin gerade. »Lieutenant Gary Powers, dessen Flugzeug vor zwei Jahren über dem Territorium der UdSSR abgeschossen wurde, kam im Austausch für ...«

Bach. Es war Bach. Der Mann aus dem Wald. Das Gesicht aus der TOP-SECRET-Akte, die ich gestohlen hatte. Langsam ging ich zurück zum Telefon, ohne den Fernseher dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Meine Hände zitterten leicht, als ich nach dem Hörer griff.

»Das ist Bach, richtig?« fragte Marc. »Der Mann im Hintergrund, direkt neben Powers.«

»Ja«, antwortete ich. »Aber was macht er in Berlin?«

»Das interessiert mich nicht, John«, sagte Simonson, aber ich ignorierte ihn einfach.

»Powers!« sagte ich. »Powers muss auch etwas mit der Sache zu tun haben! Natürlich!«

»John, hör mir zu«, sagte Marc, aber ich sprach lauter und erregt weiter, ehe er noch irgendetwas sagen konnte.

»Aber überleg doch! Black Hawk! Geheime militärische Projekte! Und dieser Powers war Testpilot! Es ist ganz eindeutig!«

»John, hör auf«, sagte Marc. »Es spielt keine Rolle mehr.«

»Es spielt ... bist du verrückt? Das ist der Beweis, nach dem wir gesucht haben!«

»Ich bin draußen«, sagte Marc.

Ich schwieg ungefähr zwei Sekunden lang - obwohl ich tief in mir nicht einmal überrascht war. Nicht wirklich. »Wie bitte?«

»Die Sache ist ein paar Nummern zu groß für mich, John«, sagte Marc. »Und das sollte sie für dich auch sein.«

»Aber wieso?«

»Liest du keine Zeitungen?« fragte Marc. »Dieser Powers ist nicht nur gegen irgendwelche russischen Spione ausgetauscht worden! Kennedy selbst hat die Sache mit Chruschtschow ausgehandelt, ist dir das eigentlich klar? Das hier hat nichts mehr mit geheimen militärischen Kungeleien zu tun! Es geht hier nicht um irgendwelche getarnten Budgets.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Aber genau das ...«

»Es ist aus, John«, sagte Marc. »Ich habe Frau und Kinder. Es ist vorbei, hörst du? Vorbei.«

Er hängte ein. Auf dem Fernsehschirm lief der Bericht über Powers Freilassung weiter, aber ich hörte immer noch nicht wirklich zu. Ich starrte Bach an. Er verstand es immer geschickt, sich im Hintergrund zu halten, so dass er in keiner Sekunde wirklich genau zu erkennen war. Aber es gab auch keine einzige Aufnahme, auf der er nicht aufgetaucht wäre. Seine dunklen, gefühllosen Augen schienen mich über den Bildschirm hinweg spöttisch anzuschauen, als hätte er ganz genau gewusst, dass ich hier und jetzt dastehen und diese Bilder betrachten würde.

Und dann wusste ich, was ich zu tun hatte.


Es kostete mich zwei Anrufe, um herauszufinden, wann Lieutenant Powers und seine Begleiter in Washington eintrafen. Wie sich zeigte, war dies bereits am nächsten Nachmittag der Fall. Ich hatte ursprünglich vor, Powers direkt am Flughafen abzufangen, gab diese Idee aber schon wieder auf, als ich die Ankunftshalle betrat. Sie wimmelte von Journalisten, Fotografen, Kamerateams und Neugierigen. Es gab ein erstaunliches Aufgebot an Sicherheitskräften, die wohl den Auftrag hatten, Powers und seine Begleiter abzuschirmen. Ich hatte keine Chance, an Powers heranzukommen; und schon gar nicht an Bach. Ich machte auf der Stelle kehrt und fuhr ins Capitol zurück. Powers würde vom Hughafen aus direkt dorthin gebracht werden, um später am Abend mit dem Präsidenten zu sprechen.

Auch das Capitol war von der Presse nicht verschont geblieben. Auf dem Flur, über den der Nationalheld dieses Tages kommen würde, waren bereits drei Fernsehkameras aufgebaut worden, und mindestens ein Dutzend Journalisten lümmelte in den Ecken und auf den unbequemen hölzernen Bänken herum und vertrieb sich auf die eine oder andere Weise die Zeit. Trotzdem war das Sicherheitspersonal hier in der Überzahl. Das Capitol war ein öffentliches Gebäude und jedermann frei zugänglich, aber das war selbst damals nur noch Theorie. In der Praxis war diese gesamte Etage hermetisch abgeriegelt, und die anwesenden Journalisten und Kameramänner handverlesen. Wie gut, dass ich in diesem Gebäude arbeitete. Ich mischte mich unauffällig unter die Reporter und fasste mich in Geduld.

Es bedurfte einer ganzen Menge mehr Geduld, als ich erwartet hatte. Eine Stunde verging, dann eine zweite und noch ein guter Teil der nächsten. Nicht nur die versammelte Journalistenmeute, sondern auch ich begann allmählich unruhig zu werden. Nach dem, was ich am Hughafen gesehen hatte, hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, dass Powers seinen Zeitplan einhalten würde. Doch statt der erwarteten Stunde vergingen annähernd drei, bis er schließlich erschien.

Gary Powers war ein überraschend junger Mann mit vollem, dunklem Haar und energischen Bewegungen, der weitaus besser aussah, als ich nach den Bildern aus dem Fernsehen erwartet hatte - und vor allem nach dem, was ich über ihn wusste. Er ging mit einer geradezu bewunderungswürdigen Souveränität mit den Fragen der Journalisten um, und er machte ganz und gar nicht den Eindruck eines Mannes, der gerade zwei Jahre russischer Kriegsgefangenschaft hinter sich gebracht hatte; weder körperlich noch psychisch.

Ich stand in vorderster Reihe der wartenden Journalisten, aber ich achtete kaum auf die närrischen Fragen, die sie stellten, und noch viel weniger auf die Antworten, die Powers gab. In den nächsten Tagen würde ich sie sowieso hundertfach im Fernsehen oder Radio hören und in den Zeitungen lesen können.

Ich suchte nach Bach.

Im ersten Moment hatte ich Mühe, ihn zu entdecken.

Powers hatte einen Tross von mindestens dreißig Begleitern im Schlepptau, von denen der Großteil wahrscheinlich aus FBI- und CIA-Agenten bestand, und Bach war mitten unter ihnen. Trotzdem sah ich ihn nicht sofort. Es war wie gestern Abend im Fernsehen: der Mann schien ein Wunder an natürlicher Mimikri zu sein. Er brachte es fertig, stets so unauffällig irgendwo am Rande des Geschehens zu bleiben, dass man ihn nicht einmal dann wirklich zu sehen schien, wenn man direkt in seine Richtung blickte.

Dafür war ich sicher, dass seiner Aufmerksamkeit umgekehrt nicht das winzigste Detail entging.

Unauffällig zog ich mich zwei, drei Schritte weit ins Innere der Journalistenmeute zurück und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Bach mich noch nicht entdeckt hatte. Ich war hier, um mit ihm zu reden, aber ich zog es vor, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen; und sei es nur, um den Vorteil der Überraschung auf meiner Seite zu haben.

Wahrscheinlich war es ohnehin der einzige Vorteil, den ich hatte.

Powers brauchte entnervend lange, um die Fragen der Reporter zu beantworten, aber schließlich war es vorbei: Er verabschiedete sich mit einem jovialen Lächeln von den Kameras, wandte sich um und verschwand zusammen mit seinen Begleitern in einem Flur, dessen Zugang von gleich vier Männern in den Paradeuniformen der Marines flankiert wurde. Mein Herz machte einen erschrockenen Satz, als ich sah, wie Bach stehen blieb und ein paar Worte mit einem von ihnen wechselte. Er deutete dabei mit der Hand über die Schulter zurück; nicht unmittelbar auf mich, aber doch nahe genug in meine Richtung, um mir einen gehörigen Schrecken einzujagen. Instinktiv sah ich mich um, halbwegs darauf gefasst, einen grinsenden Air-Force-Lieutenant zu sehen, der mit einer diesmal vielleicht geladenen Waffe auf mich zielte.

Natürlich war er nicht da. Die Vorstellung war albern, aber der Gedanke zeigte mir auch, wie nervös ich wirklich war. Ich hatte Bach in meinem ganzen Leben nicht länger als fünf Minuten gesehen, und doch beherrschte dieser Mann mittlerweile meine Gedanken. Es war richtig, dass ich hier war. Ich musste ihn stellen, oder ich würde diese Angst nie wieder ganz loswerden.

Mit erzwungen ruhigen Schritten näherte ich mich dem Flur, in dem Bach und die anderen verschwunden waren. Einige besonders hartnäckige Journalisten versuchten ebenfalls, ihnen zu folgen, wurden aber erwartungsgemäß von den Marines aufgehalten; höflich, aber sehr bestimmt. Ich atmete tief ein, schloss die Hand um meinen Dienstausweis, den ich in der rechten Manteltasche trug, und zermarterte mir das Hirn nach irgendeiner Ausrede, die die Marines davon überzeugen würde, mich passieren zu lassen.

Ich brauchte weder sie noch meinen Dienstausweis. Der Soldat machte keinen Versuch, mich aufzuhalten. Er sah mich nicht einmal an. Verwirrt - aber auch ein bisschen beunruhigt - ging ich an ihm und den drei anderen vorbei, bog um die Ecke und blieb überrascht stehen. Powers und seine Begleiter waren nicht mehr da, aber der Flur war trotzdem nicht leer.

Bach saß auf einer Bank ganz am Ende des Flurs, rauchte eine Zigarette und sah mir mit steinernem Gesichtsausdruck entgegen. Ich war wirklich ziemlich naiv gewesen, mir im Ernst einzubilden, er hätte mich nicht bemerkt.

Ich ging weiter, aber ich bewegte mich langsamer als notwendig. Annähernd drei Monate lang hatte ich nichts anderes getan, als diesen Mann zu suchen, und es war kein Tag vergangen, an dem ich mir den Moment, in dem ich ihm gegenüberstehen würde, nicht mindestens einmal ausgemalt hatte. Jetzt war mein Kopf wie leergefegt. Ich wusste weder, was ich tun, noch, was ich sagen sollte. Schweigend setzte ich mich neben Bach auf die Bank.

»Und ich dachte, es gäbe Sie gar nicht«, sagte ich nach einer Weile. »Sagten Sie nicht, Sie wären nur Teil eines ... Traums?«

»Die genaue Formulierung war Alptraum, wenn ich mich recht erinnere«, antwortete Bach. Er zog an seiner Zigarette, inhalierte den Rauch tief und fuhr fast im Plauderton fort: »Was sind Sie, John - ganz besonders mutig, oder ganz besonders dumm? Ich dachte, ich hätte klar zum Ausdruck gebracht, was passiert, wenn sich unsere Wege noch einmal kreuzen.«

»Sie können mir keine Angst machen«, antwortete ich. »Nicht mehr.«

»Seltsam, aber ich hatte einen anderen Eindruck.«

»Wir sind hier nicht auf einer einsamen Landstraße in Ohio«, antwortete ich. »Und wenn ich richtig sehe, dann haben Sie auch Ihren Schlägertrupp nicht dabei. Das hier ist das Capitol, und ich bin ein offizieller Mitarbeiter des Kongresses der Vereinigten Staaten. Sie machen mir keine Angst.«

Meine Worte beeindruckten ihn nicht sonderlich, und warum sollten sie auch? Ich sprach zu schnell, meine Stimme war eine Spur zu schrill, und ich konnte meine Hände nicht davon abhalten, nervös mit meinem Hut zu spielen. Ich plapperte einfach drauflos, nur, um überhaupt etwas zu sagen.

»Warum sollte ich auch?« fragte Bach. »Ich bin schließlich nur ein Traum. Es gibt mich gar nicht.«

»Ein Traum - Captain Frank Bach?«

Ich sah Bach bei diesen Worten scharf an, und diesmal zollte er mir genügend Aufmerksamkeit, um den Kopf zu drehen und mich kühl anzublicken. Er wirkte keineswegs überrascht. Nach einer weiteren kleinen Ewigkeit nickte er jedoch und sagte: »Gut.«

»Und es wird noch besser.« Ich hatte keine Wahl, als zu improvisieren und zu bluffen. »Ich habe hier eine Vollmacht des Kongresses, Captain Bach. Ihr Name steht darauf.«

Diesmal glaubte ich tatsächlich so etwas wie ein spöttisches Glitzern in seinen Augen zu entdecken, aber ich war nicht ganz sicher. »Und was steht in dieser ... Vollmacht?« fragte er.

»Ich will endlich Antworten«, sagte ich. »Ich weiß noch nicht genau, wer und was Sie sind, Bach, aber ich bin nahe daran. Ich werde die Wahrheit herausfinden, das schwöre ich Ihnen.«

»Die Wahrheit?« Bach schüttelte den Kopf. Obwohl sein Gesicht nach wie vor unbewegt blieb, hatte ich das Gefühl, dass ihn meine Worte amüsierten. »Was ist schon die Wahrheit? Wahrheit, John, ist ein höchst relativer Begriff. Sie wollen die Wahrheit herausfinden?« Er schüttelte den Kopf, drückte seine Zigarette aus und fügte hinzu: »Glauben Sie mir, John: die Wahrheit ist das letzte, was Sie wissen wollen.«

Er stand auf und griff nach seinem Mantel, aber ich vertrat ihm den Weg. »Nein«, sagte ich. »So leicht kommen Sie mir nicht davon.«

»Aber John«, seufzte Bach. »Wollen Sie mir drohen? Sie? Mir?«

»Das hätte nicht viel Zweck«, räumte ich ein. »Aber ich bin nicht allein.«

Bach lachte leise. »Oh, ich verstehe. Sie haben Freunde hier. In einflussreicher Position, nehme ich an.«

Allmählich wurde ich wütend. Bachs Überheblichkeit begann mich rasend zu machen. »Die habe ich nicht«, gestand ich unumwunden. »Aber ich arbeite immer noch für die Regierung! Und es gibt in diesem Gebäude bestimmt eine Menge Leute, die sich brennend für das interessieren, was ich über Sie herausgefunden habe. Ich bin nur ein kleines Licht. Ein Nichts, im Gegensatz zu Ihnen. Aber manchmal reicht sogar ein Streichholz, um einen Steppenbrand zu entfachen.«

Bach seufzte. »John, John, John«, sagte er kopfschüttelnd. »Ihr Vertrauen in die Macht des Kongresses ist ... rührend, wissen Sie das?« Er trat auf mich zu, sah mich fest an - und griff in die Innentasche meines Mantels; dorthin, wohin ich gerade gedeutet hatte. Mit spitzen Fingern zog er einen zusammengefalteten Zettel heraus.

»Eine Vollmacht des Senats?« fragte er. »Also, für mich sieht das eher aus wie der Abholschein einer chinesischen Wäscherei. Sie bluffen, Mister Loengard.«

»Genau wie Sie«, antwortete ich trotzig. »Das Lügen habe ich von Ihnen gelernt.«

»Lügen?«

»Ich kann es noch nicht beweisen«, antwortete ich, »aber ich denke, ich weiß, was hier wirklich gespielt wird.«

»Und was ... wäre das, Ihrer Meinung nach?« fragte Bach in interessiertem, zugleich aber auch leicht amüsiertem Tonfall.

»Ihre fliegenden Untertassen. Die UFOs. Sie kommen nicht aus dem Weltraum, nicht wahr? Es ist ein geheimes Forschungsprojekt. Irgendeine ... Superwaffe, die Sie in einem geheimen Laboratorium entwickelt haben, mit Geldern, die Sie illegal abzweigen. Sie sind nicht der große Geheimnisvolle, als der Sie sich ausgeben, Bach. Sie und Ihre Leute sind nichts als Betrüger.«

»Eine interessante Theorie«, sagte Bach. »Und wie wollen Sie sie beweisen?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern drehte sich herum und ging langsam auf die Lifttüren am Ende des Flures zu, so dass ich ihm folgen musste, wenn ich nicht schreien wollte.

»Das weiß ich noch nicht«, sagte ich. »Aber ich werde die Wahrheit herausfinden.«

Bach drückte den Knopf. Die Aufzugtüren glitten auseinander. Bach trat in die Kabine, aber als er sich herumdrehte, hielt er seinen Mantel so, dass der Stoff die Lichtschranke unterbrach und sich die Türen nicht schlossen.

»Schon wieder dieses Wort, John«, sagte er. »Ihnen scheint wirklich viel an der Wahrheit gelegen zu sein. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie sie erfahren wollen?«

»Hundertprozentig«, antwortete ich mit einer Überzeugung, die ich tief in mir nicht wirklich empfand. Die Wahrheit in diesem Moment war, dass Bach mir schon wieder Angst machte. Möglicherweise hatte er recht. Vielleicht wollte ich das, wonach ich suchte, in Wirklichkeit gar nicht wissen.

»Diese Wahrheit hat einen Preis, Mister Loengard«, sagte Bach. »Sind Sie bereit, ihn zu bezahlen?«

Ich schwieg. Ich war nicht sicher, ob ich wirklich verstand, was er sagte. Bach blickte mich fünf Sekunden lang aus seinen durchdringenden Augen an, dann zehn, und dann machte er einen halben Schritt in die Aufzugkabine zurück. Sein Mantel gab die Lichtschranke frei. Die Türen begannen sich langsam zu schließen.

Und ich trat mit einem raschen Schritt hindurch und neben ihn.


Die Union Station war voller Menschen, und trotzdem fühlte ich mich unendlich einsam und auf eine Weise verloren, die ich bis zu diesem Moment noch nicht kennen gelernt hatte. Bach hatte weder im Lift noch auf dem gesamten Weg hierher ein einziges Wort gesagt, ja, mich nicht einmal angesehen, aber er musste meine Nervosität spüren. Vorhin, als ich zu ihm in den Aufzug getreten war, war mir mein Entschluss richtig erschienen. Die einzige Wahl, die ich hatte treffen können. Es gab Momente, in denen die Furcht nicht zählte, nicht einmal das eigene Leben.

Aber das waren nur Worte, und vielleicht waren es wirklich nicht mehr als nur Worte. Möglicherweise war ich in diesem Moment, der vielleicht über den Fortgang meines gesamten Lebens entscheiden mochte, nur in meinen eigenen Mut verliebt gewesen. Oder das, was ich dafür hielt.

Ich hätte noch zurück gekonnt. Bach und ich waren allein. Keiner seiner Leute war in der Nähe, und selbst wenn es anders gewesen wäre, so hätte mich die Menschenmenge auf dem Bahnhof geschützt. Aber es war, als wäre ich unfähig, mein eigenes Tun weiter zu bestimmen. Ich bewegte mich wie in Trance, während Bach mich quer durch die Bahnhofshalle führte, dann in die breite Treppe nach unten, die zur U-Bahn hinabführte; schnell, und mit sicheren, fast federnden Schritten, aber trotzdem fast ohne mein Zutun. Ich hatte keine Ahnung, was das Schicksal für mich bereithielt. Nach Monaten, in denen ich wie besessen nach der Wahrheit gesucht hatte, die irgendwo dort unten auf mich wartete, hatte ich plötzlich Angst, den letzten Schritt zu tun. Aber ich konnte auch nicht mehr zurück. Die Verlockung war zu gewaltig. Im Grunde hatte ich keine Wahl.

Wir gingen nicht bis zum Bahnsteig hinunter. Bach blieb auf halbem Weg stehen, zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und öffnete damit die Tür eines Geräteraumes, in dem sich Eimer, Besen, Kanister mit Putzmitteln und andere Utensilien stapelten. Unter der Decke brannte nur eine trübe Glühbirne, die beinahe mehr Schatten als Licht verbreitete. Aber sie hatte ja auch nicht viel zu beleuchten. Der Raum schien kaum groß genug, um uns beiden zusammen Platz zu bieten; einen zweiten Ausgang besaß er natürlich erst recht nicht. Fragend sah ich Bach an.

»Es ist Ihre Entscheidung, John.« Er machte eine einladende Handbewegung.

Ich zögerte ein allerletztes Mal, aber dann trat ich mit einem entschlossenen Schritt ein. Bach folgte mir, schloss pedantisch die Tür und trat dann an eine unauffällige Metallklappe an der gegenüberliegenden Wand, die ich für die Tür eines Sicherungskastens hielt.

Es war ein Sicherungskasten, und die Schalter dahinter waren auch echte, durchaus funktionsfähige Sicherungsautomaten. Aber sie waren auch noch mehr. Bach legte vier oder fünf Schalter in einer bestimmten Reihenfolge um und kippte sie dann alle wieder in die Ausgangsstellung zurück. Zwei Sekunden lang geschah nichts, dann schloss Bach die Klappe, und die Hälfte der Wand, in die der Sicherungskasten eingebaut war, bewegte sich summend nach außen. Dahinter kam eine zweite, aus massivem Metall bestehende Wand zum Vorschein, die sich nach einem kurzen Augenblick beinahe lautlos zur Seite schob.

Es war eine Liftkabine. Fassungslos vor Staunen trat ich hinter Bach ein und sah mich um. Die Kabine war kahl; nackte Metallwände ohne die geringste Unterbrechung, abgesehen von einem einzigen Knopf, auf den Bach nun drückte, und einem darüber angebrachten Telefon ohne Wählscheibe oder Tasten.

Die Tür schloss sich ebenso leise, wie sie sich geöffnet hatte, und die Kabine setzte sich fast ohne spürbare Erschütterung in Bewegung. Allein diese beiden Details verrieten mir mehr über das, was mich möglicherweise erwartete, als Bach vielleicht ahnte. Was ich beobachtete, war das Wirken hochmoderner, sehr teurer Technik.

Da ich die Bewegung der Kabine kaum spürte, konnte ich nicht abschätzen, wie weit wir nach unten fuhren. Aber es war weit. Wir mussten uns tief unter dem Niveau der U-Bahn-Station befinden, als der Lift anhielt und die Tür wieder aufglitt.

Der Anblick verschlug mir die Sprache. Ich hatte viel erwartet, aber nicht das. Vor uns lag ein schier endlos langer Gang, der von Dutzenden großer Neonröhren in taghelles Licht getaucht wurde. Decke, Boden und eine der Seitenwände bestanden aus nacktem, unverkleidetem Beton, während sich an der gegenüberliegenden Seite Fenster an Fenster reihte. Dahinter sah ich hektische Betriebsamkeit und das Blinken zahlloser Lichter, aber Bach gab mir keine Gelegenheit, mehr zu erkennen.

Direkt neben der Fahrstuhltür stand ein niedriger Tisch aus feuerrot lackiertem Kunststoff, hinter dem ein Soldat in einem kurzärmeligen Sommerhemd und weißem Helm saß. Seine Uniform gehörte keiner der mir bekannten Waffengattungen - Army, Air Force oder Navy - an, und die Rangabzeichen auf seinen Schultern hatte ich noch nie gesehen. Ein zweiter, identisch gekleideter Soldat stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen neben dem Schreibtisch. Beide Männer waren mit Maschinenpistolen bewaffnet, und sie sahen nicht so aus, als hätten sie große Hemmungen, von ihnen Gebrauch zu machen.

Auf einen Wink Bachs hin erwachte der Posten aus seiner Starre, trat mit zwei schnellen Schritten hinter mich und begann mich rasch, aber sehr gründlich abzutasten. Während er dies tat, händigte sein Kollege Bach eine in Plastik eingeschweißte Ausweiskarte aus, die er sich ans Revers heftete. Entweder spielte Bach eine nicht annähernd so wichtige Rolle, wie ich bisher geglaubt hatte, oder die Sicherheitsvorschriften hier unten waren wirklich sehr streng.

Nachdem ich bis an den Rand der Peinlichkeit abgetastet worden war, nahm mir der Soldat meinen Mantel und meine Aktentasche ab und deponierte beides auf dem Schreibtisch. Anschließend bekam auch ich eine der kleinen Plastikkarten, die ich mir Bachs Beispiel folgend an die Jacke heftete. Ich wollte die Hand nach meinem Mantel und meiner Aktentasche ausstrecken, aber der Soldat auf der anderen Seite des Tisches deutete ein Kopfschütteln an, und ich ließ von meinem Vorhaben ab.

Bach war inzwischen in ein halb geflüstertes Gespräch mit einem jungen Mann vertieft, der ein Utensil bei sich trug, das ich bisher nur in Agentenfilmen und Fernsehkrimis gesehen hatte: eine schwarze Aktentasche, die mit einer dünnen Kette an seinem linken Handgelenk befestigt war. Trotzdem schenkte ich der Szene nur einen flüchtigen Blick. Viel mehr faszinierte mich das, was auf der anderen Seite der Glasscheiben vorging, aus denen praktisch die ganze gegenüberliegende Wand bestand.

Da der Posten nichts dagegen zu haben schien, trat ich zögernd näher.

Der Anblick verlor auch beim zweiten Hinsehen nichts von seiner Faszination. Vor mir lag eine nicht sehr hohe, aber weitläufige Halle, die mit Schreibtischen und Instrumentenpulten vollgestopft war. Eine komplette Wand wurde von dem größten Elektronenrechner eingenommen, den ich jemals gesehen hatte, eine zweite von einem gewaltigen Bildschirm, der sich bei genauerem Hinsehen als ein Puzzle aus einer Vielzahl kleinerer Monitore herausstellte. Gut zwei Dutzend Männer und Frauen arbeiteten in dem großen Raum, und obwohl das Glas schalldicht war, glaubte ich dennoch, das Stimmengewirr und das geschäftige Summen und Klicken der Elektronenrechner, Fernschreiber und Lochkartenleser zu vernehmen.

Bach trat neben mich. Ich sah den verzerrten Reflex seines Gesichts auf dem Glas vor mir, nahm den Blick aber nicht vom Raum hinter der Scheibe.

»Was ... ist das?« flüsterte ich. Ich hätte gar nicht lauter sprechen können. Eine Mischung aus Ehrfurcht und Schrecken hatte von mir Besitz ergriffen, die mich vollkommen lähmte.

»Majestic 12«, antwortete Bach. »Kommen Sie, John.«

Es fiel mir schwer, mich vom Anblick des Raumes hinter der Scheibe loszureißen. Trotzdem drehte ich mich herum und folgte seiner einladenden Geste.

Ein paar Meter entfernt stand ein kleiner, zweisitziger Elektrokarren, wie man sie auf Flughäfen und Bahnhöfen sieht. Bach warf die geheimnisvolle Aktentasche scheinbar achtlos hinein, setzte sich hinter das Steuer und wiederholte seine einladende Geste. Sie wirkte jetzt ein bisschen herrischer, vielleicht ungeduldig, zugleich aber auch beinahe stolz. Offensichtlich bereitete ihm das, was er tat, großes Vergnügen.

Ich stieg ein, und Bach fuhr los, noch bevor ich richtig Platz genommen hatte. Er fuhr sehr schnell, zumindest angesichts der Tatsache, dass der Gang kaum drei Meter breit war.

»Wohin fahren wir?« fragte ich.

Bach lachte; das hieß, er gab ein Geräusch von sich, das er wahrscheinlich für ein Lachen hielt. »Sie wollten doch die Wahrheit wissen, oder?« fragte er. »Sie wartet auf Sie. Dort hinten, nach der dritten Abzweigung.«

Die unterirdische Anlage war erstaunlich groß. Im ersten Moment war mir der Elektrokarren fast albern vorgekommen, wie pure Effekthascherei. Tatsächlich hätten wir zu Fuß aber sicherlich eine Viertelstunde gebraucht, um unser Ziel zu erreichen. Der nackte Betonstollen zog sich scheinbar endlos dahin. In regelmäßigen Abständen zweigten andere Gänge und Türen von ihm ab, ausnahmslos flankiert von strammstehenden Soldaten in weißen Helmen und khakifarbenen Hemden ohne Rangabzeichen.

»Das ist unglaublich«, sagte ich staunend. »Wie um alles in der Welt haben Sie das bauen können, ohne dass die halbe Stadt davon erfahren hat?«

»Haben wir nicht«, antwortete Bach. »Haben Sie eine Vorstellung, wie groß das U-Bahn-Netz Washingtons ist, John?«

»Nein«, gestand ich.

»Sehen Sie«, sagte Bach. »Ich auch nicht. Ebenso wenig wie irgendjemand sonst in dieser Stadt.«

»Das hier ist ein U-Bahn-Schacht?« fragte ich überrascht.

»Es sollte einer werden«, antwortete Bach. »Aber irgendjemand hat die notwendigen Gelder gestrichen, bevor er fertig gestellt werden konnte.«

Ich dachte einige Sekunden lang über diese Antwort nach, ohne zu einem konkreten Ergebnis zu kommen. Aber wenn sie tatsächlich das bedeutete, was ich vermutete, dann musste dieser Mann - oder die Organisation, für die er arbeitete - noch über wesentlich mehr Macht verfügen, als ich angenommen hatte.

»Wir sind da, John.« Bach stoppte den Elektrokarren, stieg aus und nahm die Aktentasche wieder an sich. Zögernd stieg auch ich aus. Wir hatten vor einer geschlossenen Metalltür angehalten, die sich äußerlich in nichts von den anderen unterschied, an denen wir vorübergekommen waren. Mit dem einzigen Unterschied, dass diese Tür von gleich zwei Soldaten flankiert wurde.

Bach schloss auf, trat in den dunklen Raum dahinter und schaltete das Licht ein. Erst dann folgte ich ihm. Mein Herz begann zu klopfen, und meine Nervosität explodierte regelrecht. Mit einem Male war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich die Wahrheit überhaupt wissen wollte. Vielleicht hatte Simonson ja recht, und diese Geschichte war ein paar Nummern zu groß für mich.

Aber es war zu spät. Ich hatte meine Entscheidung getroffen, als ich Bach in den Aufzug gefolgt war. Jetzt war es zu spät, kehrtzumachen.

Im ersten Moment war ich fast enttäuscht. Nicht, dass ich etwas Bestimmtes erwartet hätte, aber nach all dem Fantastischen, das mir hier unten begegnet war, hatte ich wohl instinktiv mit einer weiteren Steigerung gerechnet. Der Raum jedoch, den ich betrat, hätte ebenso gut in jedem anderen x-beliebigen Gebäude der Stadt liegen können: ein normales Büro voller metallener Aktenschränke, Schreibtische und Regale, wie es sie wahrscheinlich zu Tausenden in Washington gab; abgesehen von dem fehlenden Fenster vielleicht.

Bach schloss die Tür hinter uns wieder ab, verstaute den Schlüssel sorgsam in seiner Tasche und deutete mit einer Kopfbewegung auf eine zweite Tür am anderen Ende des schmalen Zimmers. Der Raum dahinter erinnerte eher an einen Operationssaal als an ein Büro. Nein, verbesserte ich mich in Gedanken. Kein Operationssaal: eine Leichenhalle. Ich hatte einen solchen Raum noch niemals zuvor gesehen, aber er entsprach so genau meinen Vorstellungen davon, dass er gar nichts anders sein konnte.

Er war nicht besonders groß und fensterlos, wie alle Räume hier unten, wurde aber von einer ganzen Batterie starker Scheinwerfer unter der Decke in schon fast wieder unangenehme Helligkeit getaucht. In einer Anzahl gläserner Vitrinen, die zwei der vier Wände einnahmen, reihten sich chirurgische Instrumente und zahllose, pedantisch beschriftete Fläschchen aneinander, und in der Mitte des Raumes stand ein großer, verchromter Tisch; ein Seziertisch.

»Also?« fragte ich. »Was ... tun wir hier?«

Bach stellte die Tasche mit der daran befestigten Kette und der halben Handschelle auf den Tisch. »Ich kann Sie gut verstehen, John«, begann er. »Ob Sie es glauben oder nicht, wir beide sind uns sehr ähnlich.« Er lächelte flüchtig, als er mein zweifelndes Stirnrunzeln bemerkte, und fuhr mit einem bekräftigenden Nicken fort: »Als ich in Ihrem Alter war, John, war ich genau wie Sie. Ehrgeizig. Voller Tatendrang. Ehrlich. Und bis zum Erbrechen patriotisch. Ich hätte ohne zu zögern mein Leben geopfert, wenn es zum Wohle meines Landes gewesen wäre ... nun ja, sagen wir: fast ohne zu zögern.«

Während er sprach, öffnete er die Aktentasche und nahm einen braunen, unbeschrifteten Umschlag heraus.

»Und heute ist das nicht mehr so?« fragte ich.

Bach fuhr fort, als hätte er meine Frage gar nicht gehört. »Ich war damals auf einem kleinen Stützpunkt stationiert. Nichts Aufregendes. Oh, ich hielt es für aufregend. Immerhin waren dort ein halbes Dutzend Atombomben stationiert. Amerikas nuklearer Schutzschild gegen die Rote Gefahr. Aber in Wirklichkeit war es nur langweilig, und tief in mir wartete ich auf meine Chance. Die eine Gelegenheit, die jeder in seinem Leben einmal bekommt, auch wenn die meisten sie nicht einmal erkennen. Ich erhielt sie, John. Die Basis lag in der Nähe eines Kaffs, dessen Name damals niemand kannte, der mehr als zehn Meilen entfernt lebte. Sein Name war Roswell.«

Er zog ein halbes Dutzend großformatiger Schwarzweißfotos aus dem Umschlag und warf sie mit einer dramatischen Geste vor mir auf den Tisch.

Roswell.

Natürlich hatte ich von Roswell gehört. Jedermann hatte das. Ich war noch ein Kind gewesen, als dieser Name das erste Mal in den Schlagzeilen auftauchte, aber dieses Thema kehrte in regelmäßigen Abständen wieder, so wie die Legende von Bigfoot oder die Geschichten um das Ungeheuer von Loch Ness; und bisher hatte ich ihm auch das gleiche Maß an Glaubwürdigkeit zugebilligt. In Roswell sollte angeblich das Wrack einer fliegenden Untertasse gefunden worden sein. So weit ich wusste, hatte das, was die Presse und das Fernsehen im Allgemeinen den Roswell-Zwischenfall nannten, diese ganze UFO-Hysterie überhaupt erst ausgelöst.

Nur, dass es offensichtlich keine Hysterie war.

Die Fotos zeigten die stark beschädigten Überreste von etwas, das nicht von dieser Welt stammen konnte. Das Objekt (ich weigerte mich selbst jetzt noch in Gedanken, es Raumschiff zu nennen) hatte die Form einer Scheibe und musste etwa fünfzig Fuß Durchmesser haben. In seiner Mitte saß ein kuppelförmiger, klobiger Aufbau, wie der Turm eines Unterseebootes, und auf seiner Unterseite gab es eine Anzahl runder, symmetrisch angeordneter Öffnungen; vielleicht der Antrieb. Sehr viel mehr Einzelheiten waren auf dem Bild nicht zu erkennen. Es war nicht hundertprozentig scharf, und gut ein Drittel der Flugscheibe war bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Seine Trümmer waren in weitem Umkreis verteilt, und der Boden, auf dem sie lagen, zum größten Teil versengt.

»Aber ... aber in der Presse hieß es, es ... es wäre ein Wetterballon gewesen«, murmelte ich. Angesichts der Fotos, die ich in der Hand hielt, und die das Wrack aus verschiedenen Entfernungen und Aufnahmepositionen zeigten, kamen mir meine eigenen Worte fast komisch vor, aber ich musste es einfach sagen. Vielleicht, weil sie das Einzige waren, was mich in diesem Moment noch davon trennte, einfach hysterisch loszulachen.

»Die Presse.« Bach verzog flüchtig die Lippen. »Sie ist so leicht zu manipulieren. Wissen Sie, warum Sie niemals ein guter Journalist wären, John? Weil Sie sich für die Wahrheit interessieren. Ich meine: wirklich. Die Presse interessiert sich nicht für die Wahrheit. Sie will Schlagzeilen, sonst nichts.«

Er nahm einen zweiten, dickeren Umschlag aus seiner Tasche und zog ein weiteres Foto heraus. Es war noch unschärfer als die Roswell-Aufnahmen, zeigte aber trotzdem ohne Zweifel ein gleichartiges Objekt; nur dass dieses offensichtlich unbeschädigt war.

»Eastern Airlines«, sagte Bach. »Neunzehnhundertachtundvierzig.«

Ein weiteres Bild, noch unschärfer, das aber wieder das gleiche Motiv zeigte. »Diese Aufnahme stammt aus Montana, neunzehnhundertfünfzig. Utah, neunzehnhundertzweiundfünfzig. McMinnville, Baton Rouge, Fort Worth, Washington D.C.«

Er hätte die Aufzählung noch beliebig fortsetzen können. Dieser Umschlag enthielt mindestens hundert Fotos, und ich hatte das Gefühl, dass es nicht der Einzige war, der in Bachs Aktentasche wartete.

Die Bilder zeigten mehr oder weniger das gleiche Motiv: eine, manchmal mehrere fliegende Untertassen. Etliche dieser Fotos kannte ich aus dem Fernsehen oder von den Titelblättern einer ganz bestimmten Art von Zeitungen und Magazinen, aber nicht alle. Und obwohl ich fast zu schockiert war, um auch nur zu atmen, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen, stach mir doch ein Umstand sofort ins Auge: längst nicht alle Fotografien waren so unscharf und verwackelt, wie man es von UFO-Abbildungen gewohnt war. Im Gegenteil. Einige waren gestochen scharf und zeigten Details, die nicht einmal auf den Roswell-Bildern zu erkennen waren. Diese Fotografien waren nie im Fernsehen und den Zeitungen aufgetaucht.

»Washington?« wiederholte ich.

»Wir haben das nicht gebaut«, sagte Bach, ohne direkt auf meine - ohnehin überflüssige - Frage zu reagieren. »Ich wünschte, wir könnten es, aber davon trennen uns Welten. Vielleicht Jahrhunderte.«

»Aber ... ich habe nirgendwo ... so etwas gefunden«, antwortete ich zögernd.

»Niemand wird etwas finden, wenn wir es ihm nicht gestatten«, antwortete Bach.

Immerhin hatte ich ihn gefunden, dachte ich. Aber dann sah ich in seine Augen und sparte es mir, eine entsprechende Bemerkung zu machen. Ich kannte die Antwort.

»Dann ist dieses ganze Projekt Blue Book nur eine Tarnung für Majestic«, sagte ich.

Statt zu antworten, lockerte Bach den Knoten seiner Krawatte, öffnete den obersten Hemdknopf und zog eine Kette hervor, die er darunter getragen hatte. An ihrem Ende hing ein großer, rechteckiger Anhänger.

»Hier, John«, sagte er. »Nehmen Sie. Sehen Sie es sich an.«

Zögernd griff ich nach der Kette. Was ich für ein Amulett gehalten hatte, war ein flaches Metallkästchen, das sich an einer Seite öffnen ließ, wie ein Sturmfeuerzeug. Darin befand sich ein zusammengefaltetes, silberweißes Tuch; vielleicht auch ein Blatt halb durchsichtiges Papier.

»Nehmen Sie es heraus«, sagte Bach.

Ich gehorchte. Kaum hatte ich das Blatt vollkommen herausgezogen, da geschah etwas ganz und gar Unfassbares: Es begann sich auf meiner Handfläche auseinander zu falten, als stünde es unter einer enormen inneren Spannung. Nach einigen Augenblicken lag ein dreieckig geformtes, halb transparentes ... Etwas auf meiner Hand, dessen Oberfläche nicht die geringste Unebenheit aufwies. Das Erstaunlichste aber war, dass ich absolut nichts fühlte. Weder Wärme noch Kälte oder das geringste Gewicht. Ungläubig ließ ich zuerst das leere Amulett sinken, dann auch die andere Hand.

Das Blatt machte die Bewegung nicht mit.

Es blieb, wo es war, schwerelos und leicht zitternd.

»Es stammt aus Roswell«, sagte Bach. »Ein Stück des fremden Schiffes.«

Er versetzte dem Blatt einen leichten Stoß mit der Fingerspitze, woraufhin es einen eleganten, schwerelosen Tanz in der Luft aufzuführen begann. Aber nur für einen Moment. Dann schloss er die linke Hand darum, knüllte es wieder zusammen und schob es sorgsam in den Anhänger zurück.

»Ich trage es immer bei mir«, sagte er, »damit ich mich in jeder Sekunde daran erinnere, mit wem wir es zu tun haben.«

»Und ... mit wem?« fragte ich.

Bach lächelte, schob den Anhänger und die Kette wieder unter sein Hemd und rückte sorgsam seine Krawatte zurecht. Danach wandte er sich wortlos um und trat an die gegenüberliegende Wand. Sie bestand zur Gänze aus mehreren Reihen übereinander angeordneter, großer Schubladen, wie man sie in jeder Leichenhalle anzutreffen erwartet. Erst als sich Bach an einer von ihnen zu schaffen machte, fiel mir doch ein Unterschied auf. Die Schubladen waren mit Kombinationsschlössern gesichert. Bach stellte die Kombination ein, zog die Schublade auf und sagte:

»Damit.«

Weißer Dunst und ein Schwall eisiger Kälte schlugen mir entgegen. Aber es war nicht nur die eiskalte Luft aus dem Kühlfach, die mich innerlich schier zu Eis erstarren ließ.

Es war das, was in der Schublade lag. Der Anblick des ... Dings, das in dem Kühlfach gelegen hatte.

Es war kein Mensch. Aber es war auch kein Tier. Das Geschöpf ähnelte nichts, was ich jemals zuvor gesehen hatte.

Es lag in einer verkrümmten, fast embryonalen Haltung auf dem verchromten Metall der Schublade, so dass es schwer war, seine Größe zu schätzen, aber aufgerichtet konnte das Wesen kaum größer sein als ein zehn- oder zwölfjähriges Kind. Es war von humanoider Gestalt - das hieß, es hatte zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf. Trotzdem hatte es keinerlei Ähnlichkeit mit einem Menschen. Seine Glieder waren so dünn, dass es schon fast grotesk wirkte, und der Kopf war im Verhältnis zum Körper viel zu groß. Unter der sandbraunen Haut schien kein Fleisch zu sein, sondern nur kantige Knochen. Der Mund war klein und dreieckig, wie bei einem Insekt, und die leeren Augenhöhlen wirkten selbst in dem überproportionierten Schädel riesig. Hände und Füße hatten jeweils sechs Finger und Zehen, und der Körper musste schwer verletzt oder seziert worden sein, denn er war über und über mit Nähten bedeckt. Das Wesen war unbeschreiblich hässlich.

Aber das war nicht das Schlimme.

Was mich mit Entsetzen erfüllte, das war das, was ich bei seinem Anblick fühlte.

Dieses Ding war ... böse.

Es war tot, nur ein Stück lebloses Fleisch, das von der Kälte und den Chemikalien vor der Verwesung bewahrt wurde, und trotzdem strömte es einen fast greifbaren Odem von Feindseligkeit und Gefahr aus. Dieses Geschöpf stammte nicht von dieser Welt, und es gehörte nicht in diese Welt. Es war gefährlich, feindselig und durch und durch bösartig. Das Gefühl - nein: das Wissen - war so übermächtig, dass ich stöhnend zurücktaumelte und mich mit einem Ruck herumdrehte. Für einen Moment wurde mir schwindelig. Bittere Galle sammelte sich unter meiner Zunge. Ich schluckte krampfhaft und bemühte mich, die Übelkeit niederzuringen, die aus meinem Magen emporstieg.

»Machen Sie sich nichts daraus, John«, sagte Bach. Ich hörte, wie er die Schublade schloss. »So geht es allen. Sie sollten erst einmal mit jemandem sprechen, der einem Lebendigen begegnet ist.«

»Soll ... soll das heißen, Sie haben ein solches ... Ding lebendig gefangen?« krächzte ich.

Bach kam mit schnellen Schritten um den Tisch herum und sammelte seine Fotos ein. »Es funktioniert folgendermaßen, John«, sagte er. »Sie werden mit niemandem über das sprechen, was Sie hier gesehen haben. Weder mit Ihren Freunden, noch mit Ihren Kollegen oder Ihrem Vorgesetzten, nicht einmal mit Ihrer Freundin. Majestic ist ein sehr exklusiver Club, John. Niemand weiß von seiner Existenz, und wir achten streng darauf, dass das so bleibt.«

»Ein Club?« Ich hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie um die Aufnahme gebeten zu haben.«

»Und niemand tritt aus ihm aus«, fuhr Bach ungerührt fort. »Sie gehören dazu, John. Sie selbst haben das Aufnahmeformular ausgefüllt, John. Jeder Tag, an dem Sie nach uns gesucht haben, war ein Klopfen an unsere Tür. Jetzt haben wir aufgemacht. Es tut mir leid, wenn Ihnen das, was Sie gefunden haben, nicht gefällt, aber diese Tür öffnet sich nur in eine Richtung. Sie gehören dazu.«

»Sie wollten, dass ich Sie finde«, sagte ich zornig.

»Sagen wir: Ich habe Ihnen erlaubt, es zu versuchen«, antwortete Bach. »So, wie ich Ihnen erlaubt habe, mit den Hills zu reden.«

»Dann gehört Friend ...«

»Ich sagte Ihnen bereits, dass wir uns ähnlich sind, John«, unterbrach mich Bach. »Sie und ich, wir suchen beide nach der Wahrheit. Sie würden sich niemals mit einer Ausrede zufrieden geben, oder die Augen vor etwas verschließen, was Sie erschreckt. Wir brauchen Leute wie Sie.« Er machte eine Kopfbewegung auf die Schublade, in der der Leichnam des Außerirdischen lag. »Deshalb.«

»Sie sind ... feindselig, nicht wahr?« fragte ich. »Ich meine, sie ... sie sind nicht nur aus Forscherdrang hier oder um uns zu besuchen.«

»Helfen Sie uns, es herauszufinden«, sagte Bach.

»Und wenn ich nicht will?«

Bach machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.


Ich kam an diesem Abend später als gewöhnlich nach Hause. Ich hatte eine Million Fragen, aber ich hatte Bach keine einzige davon gestellt, und ich wusste auch, dass er nicht eine einzige beantwortet hätte. Bach war kein Mann, der Antworten gab. Er erwartete Antworten, und er gab Informationen preis, wenn er glaubte, dass es notwendig war oder ihm einen Vorteil einbrachte.

Wahrscheinlich hätte ich mit seinen Antworten ohnehin nichts anfangen können. Ich hatte Majestic in einem schwer zu beschreibenden Zustand verlassen. Bach hatte mich nicht auf dem gleichen Wege wieder hinausgebracht, aber ich hätte nicht einmal mehr sagen können, wie. Ich fühlte mich ... unwirklich. Wie in einem jener schrecklichen Alpträume gefangen, in denen man ganz genau weiß, dass man träumt, ohne dass dieses Wissen einem dabei hilft, mit der Angst fertig zu werden oder gar aufzuwachen. Stundenlang war ich durch die Stadt geirrt, ohne zu wissen, wohin ich ging oder wo ich mich befand. Es war wie eine Trance gewesen, aber eine unangenehme, böse Trance, die an den Kräften zehrte und mich ausgebrannt und leer zurückließ.

Wir sind nicht allein.

Das war der einzige, klar formulierte Gedanke, zu dem ich fähig war.

Wir waren nicht allein. Sie waren bei uns. Irgendwo dort oben, vielleicht jenseits des Mondes, vielleicht noch weiter draußen, irgendwo in der unendlichen, kalten Leere des Weltraums. Sie waren dort oben und beobachteten uns.

Aber sie waren nicht unsere Freunde. Die weisen Brüder aus dem Kosmos existierten nicht. Sie waren nicht gekommen, um uns zu helfen. Um den Krebs zu besiegen, den Hunger auf der Welt abzuschaffen und die Kriege zu beenden. Sie waren irgendwo dort draußen, aber sie beobachteten uns nicht.

Sie warteten.

Ich wusste nicht worauf, aber ein einziger Blick auf den Körper des toten Außerirdischen hatte mir eines jenseits aller Zweifel klargemacht: es würde nichts Gutes sein.

Erst nach Einbruch der Nacht stieg ich die Treppe zu unserem Apartment hoch und zog den Schlüssel aus der Tasche. Kimberley war bereits zu Hause. Ich sah Licht unter der Tür, und ich konnte gedämpfte Musik aus dem Fernseher hören.

Ich blieb stehen. Sie würde mich fragen, wo ich gewesen war, und ich wusste einfach nicht, was ich antworten sollte. Ich hasste Bach. Ich hasste ihn aus tiefstem Herzen, weil er mir dieses ungeheuerliche Geheimnis anvertraut hatte, das ich mit niemandem teilen konnte, und ich hasste diese namenlosen Kreaturen von den Sternen, die durch ihre bloße Anwesenheit mein Leben von einem Sekundenbruchteil auf den anderen in ein Chaos verwandelt hatten.

Ich würde nicht schweigen können. Nicht Kim gegenüber. Sie würde mich anblicken und sofort erkennen, dass da etwas war, das ich ihr verheimlichte, und ich würde dieses Geheimnis nicht für mich behalten können. Es war zu monströs.

Unsicher schob ich den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn halb herum und hätte ihn um ein Haar abgebrochen, denn die Tür wurde von innen geöffnet, bevor ich die Bewegung zu Ende führen konnte.

Nein, nicht geöffnet: aufgerissen, und Kim sprang mit einem Satz heraus, fiel mir im wahrsten Sinne des Wortes um den Hals und zerrte mich so überschwänglich zu sich herein, dass ich ins Stolpern kam und um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.

»John! Endlich! Wo bist du nur gewesen?! Du glaubst nicht, wen ich gestern getroffen habe!« Sie umarmte mich so stürmisch, dass mir die Luft wegblieb, wirbelte mich im Kreis herum und zerrte mich so ungestüm hinter sich her, dass ich abermals Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Ich konnte mich nicht erinnern, sie jemals zuvor so aufgedreht erlebt zu haben.

»Wo bist du nur gewesen? Ich bin fast gestorben vor Ungeduld, dir die Neuigkeit zu erzählen, und du hast nicht einmal angerufen!«

»Ich hatte ...«, begann ich, aber Kimberley ließ mich gar nicht zu Wort kommen, sondern plapperte lachend und aufgekratzt bis an den Rand der Hysterie fort: »Du erinnerst dich doch, dass du mich gestern Abend gefragt hast, für wen ich mich so herausputze. Jackie. Ich habe Jackie getroffen.«

»Jackie?« Ich blinzelte.

»Die First Lady, Dummkopf«, sagte sie lachend. »Jacqueline Kennedy! Das Wohltätigkeitsessen gestern Abend, erinnerst du dich? Jackie Kennedy und ihr ganzer Stab waren auch dabei. Und stell dir vor, sie hat sich wirklich für unsere Arbeit interessiert. Ich meine, sie ... sie hat nicht nur so getan, aus Höflichkeit oder so, sondern hat sich wirklich für das interessiert, was wir tun. Und stell dir vor, sie hat gesagt, sie würde wiederkommen, und heute, kurz nach der Mittagspause ...« Sie brach ab, legte den Kopf auf die Seite und sah mich fragend an. »Hörst du mir eigentlich zu?«

»Sicher«, antwortete ich hastig. »Ich war nur ... überrascht.« Ich konnte es ihr nicht sagen. Nicht jetzt.

»War irgendetwas im Büro?« fragte Kimberley.

Wäre sie auch nur einen Deut weniger aufgeregt gewesen, dann hätte sie es gespürt.

»Nein«, antwortete ich. »Routine. Langweilig, aber nötig.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Aber jetzt erzähle. Was war heute nach der Mittagspause?«

Für eine Weile hörte ich nichts von Bach. Majestic, und die Besucher aus dem Weltraum beherrschten mein Denken nach wie vor, aber selbst der größte Schrecken nutzt sich im Laufe der Zeit ab. Der Gedanke an das schreckliche Geheimnis, dass unser aller Leben überschattete, war in jeder Sekunde weiter präsent, aber ich fand trotzdem ganz allmählich in mein normales Leben zurück. Nicht auf Anhieb und nicht ohne Mühe. Ich blieb nervös. Ich begann Fehler zu machen, Kleinigkeiten zumeist, aber auch zwei oder drei, die mir Pratts Aufmerksamkeit eingebracht hätten - hätte mich Simonson nicht gedeckt. Ich fragte ihn nie, warum er das tat. Wahrscheinlich vermutete er, dass mir der Schrecken über Bachs vermeintliche Verwicklung in eine Intrige, die bis zur Präsidentenebene hinaufreichte, noch zu tief in den Knochen saß. Mir war es recht. Ich brauchte ein wenig Zeit, um wieder zu mir selbst zu finden, und Simonsons fast väterliche Fürsorge auf der einen und Kimberleys Begeisterung über ihre neue Bekanntschaft auf der anderen Seite verschafften mir diese Frist.

Für genau zwei Wochen. Dann holte mich die Wirklichkeit ein.

Marc und ich hatten uns angewöhnt, mittags in einem kleinen Fastfood-Restaurant zu essen, das nur fünf Minuten zu Fuß vom Capitol entfernt lag. Das Essen war preiswert und an den meisten Tagen besser als in der Kantine des Capitols, und das wichtigste war, dass wir aus der hektischen Arbeitsatmosphäre herauskamen - und aus Pratts Nähe. Ich arbeitete nach wie vor an dem Bericht, den er mir aufgetragen hatte, aber in den letzten Tagen hatte er angefangen, sich mehr für den Fortgang meiner Arbeit zu interessieren, als mir lieb war. Marc schirmte mich ab, so gut er konnte, aber seine Möglichkeiten waren begrenzt. Dass er in der Hierarchie des Pentagon über mir stand, bedeutete nicht, dass er über nennenswerte Macht verfügt hätte. Vor einer Stunde erst hatte mich Pratt beauftragt, eine weitere »UFO-Sichtung« zu untersuchen, die es irgendwo in Neu-England gegeben haben sollte. Der Auftrag würde mich für mindestens zwei Tage aus Washington wegbringen, zwar auch aus seiner Nähe, aber auch fort von Kimberley, und das wollte ich nicht. Trotz allem war unsere Beziehung in den letzten beiden Wochen nicht besser geworden. Kim hatte sich wie eine Besessene in ihre neue Aufgabe bei der Wohltätigkeitsorganisation gestürzt und sprach praktisch von nichts anderem mehr. Aber ich hatte immer mehr den Eindruck, dass sie das nicht nur aus Begeisterung tat. Vielleicht war es eher eine Art Flucht. Etwas, über das sie so viel sprach, um nicht über uns reden zu müssen.

»Jemand sollte Congressman Pratt einmal ein Blatt Papier und eine Rechenmaschine auf den Schreibtisch stellen«, sagte ich, während wir nebeneinander die Stufen des Capitols hinabgingen. »Ich schätze, dass meine Reisekostenabrechnungen irgendwann einmal die Summe übersteigen werden, die er einsparen kann, wenn er das Projekt Blue Book zu Fall bringt.«

»Ich weiß, worauf du hinaus willst«, sagte Marc kopfschüttelnd. »Aber ich kann dir nicht helfen. Ich habe es versucht.«

»So?« Eine Gestalt in schwarzem Mantel und Hut kam auf uns zu. Daran war nichts Besonderes; auf der großen Treppe zum Capitol herrschte immer ein reges Kommen und Gehen. Trotzdem erregte irgendetwas an diesem Mann meine Aufmerksamkeit. Vielleicht, weil er die Treppe nicht gerade, sondern in schrägem Winkel hinaufging. Ich verlängerte seinen Kurs in Gedanken und stellte fest, dass wir genau aufeinander treffen würden, wenn wir uns im gleichen Tempo weiterbewegten. Instinktiv beschleunigte ich meine Schritte ein wenig.

»Du bist ein wichtiger Mann, John«, antwortete Marc mit einem leisen Lachen. »Ein hoffnungsvoller junger Mitarbeiter, den ich hier viel dringender bräuchte als irgendwo in Connecticut oder an der mexikanischen Grenze. Es hat leider nichts genutzt. Pratt ist irgendwie ... seltsam geworden, was diese Sache angeht.«

»Es ist pure Zeitverschwendung.« Ich hielt den Mann im schwarzen Mantel weiter im Auge. Auch er hatte seine Schritte beschleunigt. Wahrscheinlich war es nur ein Zufall. Er sah nicht einmal in unsere Richtung.

»Ich weiß«, antwortete Marc. »Einige der anderen Abgeordneten beginnen schon darüber zu reden.« Er seufzte. »Und ich beginne mich zu fragen, ob wir vielleicht für den falschen Mann arbeiten. Pratt ist irgendwie ... seltsam geworden.«

»Seltsam?«

Marc zuckte mit den Schultern. »Ich kenne ihn schon eine ganze Weile«, sagte er. »Er war niemals ein netter Mann, weißt du? Aber seit einer Weile ...« Er suchte nach Worten, fand keine und beließ es bei einem neuerlichen Achselzucken, doch ich wusste, was er meinte. Ich hatte Pratt niemals von der Seite kennen gelernt, von der Marc sprach, aber auch mir war seine ständige schlechte Laune und Gereiztheit nicht verborgen geblieben.

Der Mann im schwarzen Mantel hatte uns mittlerweile fast erreicht. Im buchstäblich allerletzten Moment änderte er den Kurs, so dass er nicht gegen mich prallte, sondern nur meine Schulter streifte. Ich spürte, wie etwas in meine Tasche glitt und konnte gerade noch ein erschrockenes Zusammenzucken unterdrücken.

»Warum bringst du die Sache nicht einfach zu Ende?« fuhr Marc fort. Er hatte von dem kurzen Zwischenfall nichts bemerkt. »Mach noch zwei oder drei Reisen, und dann lieferst du ihm genau den Bericht, den er haben will.«

»Den hatte ich bereits«, antwortete ich, während ich unauffällig in die Manteltasche griff. Meine Finger ertasteten einen kleinen, zusammengefalteten Zettel, aber ich widerstand der Versuchung, ihn sofort herauszuziehen. »Es gab da jemanden, der der Meinung war, ich sollte ihn besser nicht abgeben.«

Simonson verzog das Gesicht, aber er ging auch diesmal nicht auf das Thema ein. »Wir machen alle Fehler«, sagte er nur. »Aber du machst einen Riesenfehler, wenn du die Sache noch weiter hinauszögerst. Pratt wird allmählich ungeduldig. Und er kann ziemlich unangenehm werden, das kann ich dir versichern.«

»Pratt ist nicht mein Problem«, sagte ich.

Marc sah mich fragend an. »Kimberley?«

»Wie kommst du darauf?« fragte ich überrascht.

»Ich bin weder blind noch taub«, antwortete Marc. »Sie hat in den letzten Wochen häufiger angerufen als sonst. Und sie stellt seltsame Fragen.«

»Seltsame Fragen?«

»Nichts Besonderes«, antwortete Marc hastig. »Wo du bist. Wie lange du wegbleibst und so weiter. Wie gesagt, nichts Besonderes.«

»Aber früher hat sie solche Fragen nicht gestellt.« Ich nickte. »Ich bin zu viel unterwegs, Marc. Vor ein paar Tagen hat sie vorgeschlagen, ich solle als kleines Nebengeschäft Staubsauger oder Bibeln verkaufen, so viel, wie ich herumkomme.«

Marc lachte, aber es klang nicht echt. Ich hatte Kimberleys Vorschlag auch nicht besonders komisch gefunden.

»Ich dachte, sie hätte selbst so viel mit ihrer Arbeit für die Wohltätigkeitsorganisation zu tun?«

»Ja«, bestätigte ich. »Wenn ich einmal zu Hause bin, dann ist sie entweder unterwegs, um eine Tombola zu organisieren, ein Essen auszurichten oder ein Waisenhaus zu renovieren, oder sie steht die halbe Nacht in der Küche und backt zwei Dutzend Zwiebelkuchen.«

»Stimmt irgendetwas nicht zwischen euch?« fragte Marc geradeheraus.

»Nein«, antwortete ich. »Ich meine: Doch, es ist alles in Ordnung. Es ist nur ...«

»Die Wirklichkeit hat euch eingeholt«, sagte Marc.

Ich blieb stehen, starrte ihn an. »Wie meinst du das?«

»Mach mir nichts vor«, antwortete Marc. »Als ihr hierhergekommen seid, da habt ihr euch fest vorgenommen, die Welt aus den Angeln zu heben. Ihr wolltet große Taten vollbringen, alles verändern und vor allem alles besser machen, nicht wahr? Aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Viel Arbeit, wenig Geld und noch weniger Anerkennung. Und das mit dem Verändern der Welt klappt auch nicht so ganz.«

Ich atmete innerlich auf. Für einen kurzen Moment war ich davon überzeugt gewesen, dass er alles wusste. Offensichtlich begann ich allmählich eine ausgewachsene Paranoia zu entwickeln.

»Der große Katzenjammer«, fuhr Marc fort. »Das ist normal, weißt du? Das haben wir alle hinter uns. Meine Ehe wäre fast daran gescheitert.«

»Davon hast du mir nie etwas erzählt«, sagte ich.

»Es gibt Dinge, über die man nicht so gerne spricht«, antwortete Marc.

Wir gingen weiter, und unser Gespräch begann sich wieder alltäglichen Dingen zuzuwenden. Ich umklammerte das Blatt Papier in meiner Tasche so fest, dass es beinahe wehtat. Es war nur ein Stück Papier, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, dass es glühend heiß geworden war - und dass jedermann sehen musste, was ich in der Tasche trug, so als hätte mir der Fremde einen leuchtenden Neonpfeil an den Mantel geheftet.

Mit einem Ruck zog ich die Hand wieder heraus und versuchte, den Gedanken an das Blatt Papier in meiner Manteltasche aus meinem Bewusstsein zu verdrängen, bis sich mir eine Gelegenheit bot, es unbeobachtet zu lesen.

Meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Marc sprach weder über Pratt noch über meine Aufgabe oder Kimberley, aber er redete fast ununterbrochen, während wir aßen. Meine Mittagspause war fast zu Ende, als er endlich aufstand und sich für einen Moment entschuldigte, um zur Toilette zu gehen. Aufatmend griff ich in die Manteltasche.

Was ich herauszog, war kein Blatt, sondern ein schmaler, in der Mitte gefalteter Briefumschlag, der ein Flugticket zweiter Klasse nach Idaho enthielt. Ein einfacher Flug, nur hin.

Die Maschine ging in knapp dreißig Minuten.


»Die Farm liegt dort hinten, gleich hinter den Hügeln!« Bach musste schreien, um sich über das Motorengeräusch und das Dröhnen der Rotoren hinweg verständlich zu machen. »Passen Sie gut auf!«

Der Helikopter verlor weiter an Höhe und schien dabei noch schneller zu werden; eine optische Täuschung, die einfach dadurch zu Stande kam, dass wir dem Boden näher waren. Trotzdem begann mein Magen erneut zu revoltieren, und ich klammerte mich instinktiv an meinen Sitz. Ich habe nie an Flugangst gelitten, aber es besteht ein gehöriger Unterschied dazwischen, im Erste-Klasse-Abteil eines TWA-Fliegers zu sitzen und sich von der Stewardess einen Kaffee servieren zu lassen, und in einem Helikopter mit zweihundert Meilen pro Stunde so dicht über dem Boden entlangzurasen, dass der Luftzug der Rotoren Muster in die Maisfelder wühlte.

Der Helikopter fegte über eine Hügelkette, hinter der sich ein gewaltiges, von einer schmalen asphaltierten Straße in zwei asymmetrische Hälften geteiltes Maisfeld erstreckte. In Anbetracht des Umstandes, dass ich heute Morgen noch in dem beinahe winterlichen Washington gewesen war, kam mir der Anblick im ersten Moment fast absurd vor. Selbst ich vergaß manchmal noch, wie viele Meilen man im Zeitalter der Düsenjets in wenigen Stunden zurücklegen konnte.

Allerdings dachte ich wirklich nur im allerersten Moment daran.

Der Anblick war so erstaunlich, dass er mir wortwörtlich die Sprache verschlug. Bach hatte uns auf dem Weg hierher Fotos gezeigt, so dass ich eigentlich hätte vorbereitet sein müssen, aber die aus großer Höhe aufgenommenen Schwarzweißfotos kamen der Wirklichkeit nicht einmal nahe.

Jemand hatte ein Muster in das Maisfeld gemalt.

Es bestand aus zwei gewaltigen, jeweils sicherlich hundert Fuß oder mehr messenden Kreisen, die sich rechts und links der Asphaltstraße erstreckten und von einer geraden Linie verbunden wurden; breit genug, um mit einem Wagen darauf zu fahren und mindestens eine viertel Meile lang. Der größere der beiden Kreise war von einem gleichschenkeligen Dreieck umgeben, von dessen Spitzen lange, gewundene Linien ausgingen, und in seinem Zentrum befand sich ein asymmetrischer, trotzdem wahrscheinlich nicht willkürlich angelegter Fleck. Trotz der Höhe, in der wir über das Feld hinwegflogen, konnte ich erkennen, dass die Halme nicht willkürlich niedergetrampelt, sondern wie von einer ungeheuren Kraft im Uhrzeigersinn zu Boden gedrückt worden waren. Die Form erinnerte ein wenig an eine ägyptische Hieroglyphe, hatte zugleich aber etwas Fremdes und sonderbar Beunruhigendes.

»Ein Air-Force-Pilot hat es vor einer Woche entdeckt«, schrie Bach über das Heulen der Motoren hinweg.

»Aber was ist das?« brüllte einer der anderen. Bach mitgerechnet, waren wir insgesamt zu sechst. Die vier anderen hatten sich mir nur mit ihren Vornamen vorgestellt, aber ich war zu nervös gewesen, um sie mir zu merken. Außer dem Steels. Es war das dritte Mal, dass ich diesem dunkelhaarigen Burschen begegnete. Beim ersten Mal hatte er eine Air-Force-Uniform getragen. Bach hob die Schultern, und Steel schrie: »Vielleicht hat sich da jemand nur einen Scherz erlaubt. Studenten. Oder Kinder aus der Nachbarschaft, die dem Farmer eins auswischen wollten.«

»Der nächste Nachbar wohnt fünfzehn Meilen entfernt«, antwortete Bach kopfschüttelnd. »Und wenn es ein Studentenulk wäre, hätten sie dafür gesorgt, dass es publik wird. Bisher weiß offiziell niemand etwas davon.«

»Und der Farmer?«

Bach schüttelte den Kopf. »Er hat es niemandem gemeldet. Weder dem Sheriff noch den Zeitungen.«

»Wahrscheinlich hat er keine Lust, eine Schar Sensationsreporter anzulocken, die ihm auch noch den Rest seiner Ernte niedertrampeln!« sagte ich.

Bach sah mich nur wortlos an, aber Steel grinste und rief. »Hey! Unser Herr Möchtegern-Abgeordneter hat ja auch eine Meinung. Ein richtiger Schlaumeier.«

Ich blickte ihn finster an, aber ich hatte keine Lust, mich zu streiten, und schwieg. Irgendwann würde ich mit ihm abrechnen, aber nicht jetzt.

»Die Farm liegt fünf Meilen südlich von hier«, sagte Bach. »Der Farmer heißt Branden. Elliot P. Branden. Wir werden hinfliegen und ihn fragen, warum er niemandem etwas erzählt hat.«

Steel kommentierte Bachs Worte mit einem Grinsen, und ich sagte: »Dürfte ich einen Vorschlag machen, Sir?«

»Nur zu.«

»Vielleicht sollte erst einmal jemand allein mit Mister Brandon reden.« Ich warf einen kurzen, aber vielsagenden Blick in Steels Richtung und fügte hinzu: »Es könnte ihn erschrecken, wenn plötzlich eine kleine Armee auf seinem Hof auftaucht.«

»Sie haben Recht.« Bach wandte sich nach vorne, an den Piloten. »Fliegen Sie zurück nach Boisy. Und sagen Sie am Flughafen Bescheid, dass sie uns zwei Mietwagen besorgen sollen.« Er wandte sich wieder an mich. »Ziehen Sie ein bestimmtes Modell vor, John?«

Ich hatte damit gerechnet, sofort zur Brandon-Farm hinauszufahren, aber Bach hatte andere Pläne. Auf dem Flugfeld zwei Meilen außerhalb Boisys standen tatsächlich bereits zwei große Ford-Limousinen bereit, als der Helikopter dort landete, aber Bach dirigierte uns zuerst in die Gegenrichtung: ein kleines, unauffälliges Motel dicht vor der Stadtgrenze, in dem bereits vier nebeneinander liegende Zimmer angemietet worden waren.

Ich teilte mir mein Apartment mit einem älteren Majestic-Agenten namens Walt - von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, kannte keiner von uns den Familiennamen der anderen -, der während des gesamten Fluges kein Wort gesprochen hatte, sich aber trotzdem wesentlich umgänglicher gab als Lieutenant Steel und zudem nicht annähernd so arrogant war. Er schleppte einen riesigen, offenbar sehr schweren Koffer mit sich, den er mit einiger Anstrengung auf den Tisch wuchtete, schüttelte aber den Kopf, als ich ihm helfen wollte.

»Nicht nötig, John«, sagte er. »Aber Sie könnten schon einmal Ihre Jacke ausziehen.«

Ich blickte ihn fragend an, gehorchte aber. Als Walt seinen Koffer aufklappte, sah ich, dass er keine Kleidungsstücke oder andere Reiseutensilien enthielt, sondern ein höchst kompliziertes technisches Innenleben hatte.

»Was ist das?« fragte ich neugierig.

»Ein Funkempfänger«, antwortete Walt. »Den entsprechenden Sender werden Sie bei sich tragen.« Er grinste. »Tun Sie nicht so überrascht, John. Haben Sie etwa noch nie einen Krimi im Fernsehen gesehen? Dort tragen die Leute so etwas andauernd.«

»Ich dachte, ich sollte lediglich mit einem einfachen Maisbauern reden«, sagte ich. »Niemand hat mir erzählt, dass wir uns in die Cosa Nostra einschleichen.«

Walt grinste, schaltete seine Geräte ein und drehte einige Sekunden lang mit konzentriertem Gesichtsausdruck an den Schaltern und Knöpfen, die den Koffer ausfüllten. »Der Sender hat eine Reichweite von gut zwei Meilen«, sagte er. »Aber meiden Sie die Nähe von großen Metallmengen oder Magnetfeldern. Das könnte die Reichweite beeinträchtigen oder das Gerät ganz stören.«

»Magnetfelder? Auf einer Farm?«

»Hochspannungsmasten«, sagte Walt. »Oder Generatoren. Falls die Scheune aus Wellblech ist, gehen Sie nicht hinein.« Er deutete mit dem Zeigefinger eine Pirouette an. »Drehen Sie sich herum.«

Ich tat, was er wollte. Walt begann an meinen Hosenträgern herumzufummeln. Ich spürte, wie er mir etwas Hartes gegen das Rückgrat drückte. »Bequem?« fragte er.

»Es geht.«

»Es geht ist nicht gut«, sagte Walt. »Sie werden das Ding vielleicht eine ganze Weile tragen müssen. Warten Sie - das haben wir gleich.«

Es klopfte, aber die Tür wurde geöffnet, bevor Walt oder ich Herein rufen konnten, und Bach trat ein. Er trug eine braune Papiertüte in der Hand, die er schwungvoll auf das Bett warf. »Ich habe Ihnen ein paar Sachen besorgt, John - Socken, Wäsche, eine Zahnbürste ... ich nehme nicht an, dass Sie noch zum Packen gekommen sind.«

Ich war heilfroh gewesen, die Maschine noch zu bekommen, und so nickte ich dankbar.

Bach deutete auf die Badezimmertür. »Mein Bad ist im Moment belegt. Dürfte ich Ihres benutzen?«

»Seien Sie unser Gast, Sir«, sagte Walt lächelnd. »Besser so?«

Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, dass die Frage mir galt, aber dann nickte ich hastig. Walt hatte den immerhin zigarettenschachtelgroßen Sender tatsächlich so geschickt angebracht, dass ich sein Gewicht kaum noch spürte. Mit wenigen, geschickten Bewegungen klemmte er das dazugehörige Mikrofon unter meinen Hemdkragen und zupfte und schob so lange daran herum, bis es vollkommen unsichtbar war.

»Sagen Sie etwas«, sagte er.

»Mein Name ist ...«

»Gut. Einen Moment.« Walt ging zu seinem Koffer, setzte einen überraschend kleinen Kopfhörer auf und gab mir mit einem Handzeichen zu verstehen, dass ich weitersprechen sollte. Er arbeitete nicht nur geschickt, sondern schien auch ein sehr präziser Mensch zu sein. Wir brauchten fast zehn Minuten, um den Sender genau einzustellen, und selbst dann wirkte er nicht hundertprozentig zufrieden.

»Es wird gehen«, sagte er. »Wir bleiben ohnehin immer in Ihrer Nähe. Sie haben nichts zu befürchten.«

Für meinen Geschmack sagte er das ein paarmal zu oft. Immerhin sollte ich nur einen einfachen Maisbauern danach fragen, wer sein Feld niedergetrampelt hatte.

Bach öffnete die Badezimmertür und winkte mich mit einem Rasiermesser voller Schaumflocken heran. »Loengard.«

Ich warf Walt einen fragenden Blick zu.

»Fertig«, sagte er. »Aber vergeuden Sie nicht zu viel Zeit. Die Batterien halten nur knapp drei Stunden.«

»John, kommen Sie.«

Bachs Stimme klang keinen Deut ungeduldiger als beim ersten Mal. Trotzdem beeilte ich mich, zu ihm ins Bad zu gehen. Bach hatte Jacke und Hemd abgelegt und war dabei, sich zu rasieren, obwohl ich nicht einmal einen Schatten auf seinen Wangen gesehen hatte, als er hereinkam.

»Sir?«

»Wir haben nicht mehr sehr viel Tageslicht«, sagte Bach, »und die Leute hier in der Gegend gehen früh zu Bett. Also müssen wir uns ein wenig beeilen. Sie wissen, was Sie diesen Brandon zu fragen haben?«

»Ja, Sir«, sagte ich.

Trotzdem fuhr er fort: »Versuchen Sie herauszufinden, wer diese ... Zeichen in seinem Feld angelegt hat. Und vor allem, warum.«

»Sie glauben, er weiß es?«

»Ich bin nicht hier, weil ich irgendetwas glaube, John«, antwortete Bach. Das Rasiermesser machte ein schabendes Geräusch, während es über seine Kehle fuhr, und ich ertappte mich dabei, der Klinge wie hypnotisiert nachzustarren.

»Achten Sie vor allem darauf, wie er reagiert«, fuhr Bach fort. »Manchmal ist die Art, auf die jemand eine Frage beantwortet, viel aufschlussreicher als die Worte, die er dazu benutzt. Sind Sie nervös?«

»Ein wenig«, gestand ich.

»Ihr erster Einsatz, da ist das ganz normal«, antwortete Bach. »Sie werden sich daran gewöhnen.«

»Wird es viele solcher ... Einsätze geben?« fragte ich zögernd.

»Das kommt darauf an, wie viele Kornkreise wir finden - oder andere Dinge.« Bach nahm das Rasiermesser herunter, sah mich eine Sekunde lang im Spiegel scharf an und machte dann eine entsprechende Kopfbewegung.

»Schließen Sie die Tür, John.«

Ich streckte gehorsam die Hand aus, aber dann sah ich, dass das Zimmer leer war. Walt war gegangen, ohne dass ich es bemerkt hatte. »Wir sind allein«, sagte ich.

»Gut.« Bachs Ton behauptete das Gegenteil. Er drehte sich herum, um mich diesmal direkt anzusehen, schüttelte den Kopf und seufzte tief. »Wie ich gerade schon sagte: Es ist Ihr erster Einsatz. Deshalb werde ich Ihnen diesmal nur einen Verweis erteilen. Ihr Anfängerbonus, sozusagen.«

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