Epilog

Zunächst spürte Jace nichts. Dann nahm er die Finsternis wahr – und in der Finsternis einen brennenden Schmerz. Es schien, als hätte er Feuer geschluckt, das ihm die Luftröhre zuschnürte und seine Kehle versengte. Verzweifelt schnappte er nach Luft, nach einem kühlen Atemzug, der das Feuer löschen würde. Dann riss er ruckartig die Augen auf.

Um ihn herum war nur Dunkelheit und Schatten: ein dämmriger Raum, der ihm irgendwie bekannt vorkam und dann auch wieder nicht, mit mehreren Bettenreihen und einem Fenster, durch das fahles, bläuliches Licht fiel. Er selbst lag in einem der Betten, mit zurückgeschlagener Decke. Ein zerknülltes Laken hatte sich wie ein Seil um seine Hüften und Beine gewunden. Seine Brust schmerzte, als würde ein schweres Gewicht darauf lasten. Als er mit der Hand suchend daran herumtastete, stieß er auf einen dicken Verband, der fest um seinen nackten Oberkörper gewickelt war. Erneut holte er keuchend Luft, einen weiteren kühlen Atemzug.

»Jace.«

Die Stimme war ihm so vertraut wie seine eigene; dann ergriff jemand seine Hand und verschränkte die Finger mit seinen. Aus einem Reflex heraus, der auf Liebe und Vertrauen beruhte, erwiderte Jace den Händedruck.

»Alec«, brachte er hervor, beinahe geschockt vom Klang seiner eigenen Stimme. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Dabei hatte er das Gefühl, als wäre sie versengt, geschmolzen und neu erschaffen worden wie Gold in einem Schmelztiegel – doch neu erschaffen als was? War es möglich, dass er wirklich wieder er selbst war? Schwerfällig schaute er zu Alecs besorgten blauen Augen und dann wurde ihm klar, wo er sich befand: auf der Krankenstation des Instituts. Zu Hause. »Es tut mir leid…«

Eine schlanke, schwielige Hand strich ihm über die Wange und eine zweite Stimme meldete sich zu Wort: »Nicht… es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.«

Langsam ließ Jace die Lider sinken. Das Gewicht lastete noch immer auf seiner Brust: eine Mischung aus Wundschmerz und Schuldgefühlen. »Izzy.«

Die junge Schattenjägerin hielt die Luft an. »Du bist es wirklich, oder?«

»Isabelle«, setzte Alec an, als wollte er sie warnen, Jace nicht aufzuregen.

Doch Jace griff nach ihrer Hand. Er schaute sie an und konnte Izzys dunkle Augen im dämmrigen Licht schimmern sehen. Und er bemerkte die hoffnungsvolle Erwartung auf ihrem Gesicht. Dies war Isabelle, wie nur ihre Familie sie kannte: liebevoll und fürsorglich.

»Ich bin es wirklich«, krächzte Jace und räusperte sich. »Ich könnte es durchaus verstehen, wenn du mir nicht glauben würdest, aber ich schwöre beim Erzengel, Izzy, ich bin es wirklich.«

Alec schwieg, verstärkte aber den Griff um Jace’ Hand. »Du brauchst es nicht zu schwören«, sagte er schließlich und berührte mit der anderen Hand die Parabatai-Rune in der Nähe seines Schlüsselbeins. »Ich weiß es. Ich kann es spüren. Endlich hab ich nicht mehr das Gefühl, als würde ein Teil von mir fehlen.«

»Ich habe es auch gespürt.« Jace holte gequält Luft. »Irgendetwas fehlte. Ich habe es gefühlt, sogar als ich mit Sebastian verbunden war; aber mir war nicht klar, was mir fehlte. Jetzt weiß ich es: Du hast mir gefehlt. Mein Parabatai.« Langsam drehte er den Kopf zu Izzy. »Und du auch. Meine Schwester. Und…« Plötzlich tauchte vor seinem inneren Auge ein grelles Licht auf, die Wunde auf seiner Brust begann zu pulsieren und dann sah er ihr Gesicht, hell erleuchtet von den Flammen des Schwerts. Ein seltsames Brennen schoss durch seine Adern, wie weiß glühendes Feuer. »Clary. Bitte sagt mir…«

»Ihr geht’s gut«, versicherte Isabelle ihm hastig. Aber in ihrer Stimme schwang noch etwas anderes mit – Überraschung, Unbehagen.

»Schwör es! Du erzählst mir das nicht nur, weil du mich nicht aufregen willst?!«

»Sie hat dich niedergestochen«, erklärte Isabelle.

Jace brachte ein ersticktes Lachen hervor, das ihm schmerzhafte Stiche durch die Brust jagte. »Sie hat mich gerettet.«

»Ja, das hat sie«, pflichtete Alec ihm bei.

»Wann kann ich sie sehen?« Jace versuchte, nicht zu begierig zu klingen.

»Du bist es tatsächlich… bist wirklich wieder ganz der Alte«, bemerkte Isabelle amüsiert.

»Die Stillen Brüder haben immer wieder nach dir gesehen. Um das hier zu versorgen…« Vorsichtig berührte Alec den Verband auf Jace’ Brust. »Und um festzustellen, ob du schon aus dem Koma erwacht bist. Wenn sie erfahren, dass du wieder bei Bewusstsein bist, werden sie vermutlich erst einmal mit dir reden wollen, ehe sie Clary zu dir lassen.«

»Wie lange bin ich denn bewusstlos gewesen?«

»Etwa zwei Tage«, erklärte Alec. »Seit wir sicher sein konnten, dass du nicht sterben würdest, und wir dich aus Irland zurückgeholt haben. Allem Anschein nach ist es nicht ganz einfach, eine Wunde vollständig verheilen zu lassen, die vom Schwert eines Erzengels verursacht wurde.«

»Du willst mir also sagen, dass ich eine Narbe zurückbehalten werde?«

»Eine ziemlich große, hässliche. Und zwar quer über die Brust«, bestätigte Isabelle.

»Ach, verdammt«, stieß Jace hervor. »Dabei hatte ich schon so fest mit dem Engagement als Herrenslip-Model gerechnet.« Trotz des ironischen Tons hatte er insgeheim jedoch das Gefühl, dass es gut und richtig war, eine Narbe zurückzubehalten als ein Zeichen für das, was ihm widerfahren war – sowohl geistig als auch körperlich. Er hatte beinahe seine Seele verloren und die Narbe würde ihn immer an die Zerbrechlichkeit des freien Willens und den schweren Pfad des Guten erinnern.

Und an andere Dinge, die düster waren und vor ihnen lagen… und die er nicht zulassen konnte. Seine Kraft kehrte allmählich zurück; er spürte es deutlich und er würde sich mit aller Macht gegen Sebastian stellen. Bei diesem Gedanken fühlte er sich plötzlich leichter ums Herz, als wäre ihm ein wenig von der Last auf seiner Brust genommen worden. Langsam drehte er den Kopf, bis er Alec in die Augen sehen konnte.

»Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal auf gegnerischen Seiten kämpfen würden«, erklärte er heiser. »Nie im Leben.«

»Und das wird auch nie wieder passieren«, erwiderte Alec entschlossen.

»Jace«, setzte Isabelle an. »Versuch jetzt bitte, ruhig zu bleiben, aber…«

Aber was? »Stimmt irgendwas nicht?«

»Na ja, du glühst ein wenig«, sagte Isabelle. »Ich meine, zwar nur ein klitzekleines bisschen, aber immerhin…«

»Ich glühe?«

Alec hob Jace’ Hand an. Im dämmrigen Licht der Krankenstation konnte Jace einen schwachen Schimmer um seinen Unterarm erkennen, der seine Adern wie Straßen auf einer Landkarte hervortreten ließ. »Wir nehmen an, dass es sich um eine Nachwirkung des Engelsschwertes handelt«, erläuterte Alec. »Wahrscheinlich wird dieser Effekt bald nachlassen, aber die Brüder der Stille sind natürlich höchst interessiert.«

Jace seufzte und ließ den Kopf in die Kissen sinken. Er war zu erschöpft, um sich sonderlich um seinen neuen, »erleuchteten« Zustand zu kümmern. »Heißt das, dass ihr gehen müsst, um die Brüder zu holen?«, fragte er.

»Sie haben uns gebeten, sie sofort zu rufen, wenn du aufwachst«, erzählte Alec. »Aber nicht, wenn du es nicht willst.«

»Ich fühl mich total erschöpft«, räumte Jace ein. »Wenn ich noch ein paar Stunden schlafen könnte…«

»Selbstverständlich. Selbstverständlich kannst du das.« Isabelle strich ihm die Haare aus der Stirn. Ihr Ton war bestimmt: wild entschlossen wie eine Bärenmutter, die ihr Junges verteidigt.

Jace fielen bereits die Augen zu. »Aber ihr lasst mich nicht allein?«

»Nein«, sagte Alec. »Nein, wir werden dich niemals allein lassen. Das weißt du doch.«

»Niemals«, bestätigte Isabelle, nahm Jace’ andere Hand und drückte sie fest. »Lightwood, auf immer vereint«, flüsterte sie.

Jace spürte, dass sich seine Hand plötzlich feucht anfühlte, und erkannte, dass Isabelle Tränen übers Gesicht liefen… sie weinte seinetwegen, weil sie ihn liebte, selbst nach allem, was passiert war.

Beide liebten ihn – Alec und Isabelle.

Mit diesem Gedanken schlief er ein, Isabelle zu seiner Linken und Alec zu seiner Rechten, während in der Ferne die Morgensonne über dem Horizont aufstieg.

»Was soll das heißen, ich kann ihn noch immer nicht besuchen?«, fragte Clary aufgebracht. Sie saß auf dem Rand der Couch in Lukes Wohnzimmer und hatte die Telefonschnur so fest um ihre Finger gewickelt, dass die Kuppen sich bereits weiß verfärbten.

»Es sind doch gerade erst drei Tage vergangen und davon hat er zwei im Koma gelegen«, erwiderte Isabelle.

Hinter ihr ertönten Stimmen und Clary spitzte die Ohren. Sie glaubte, Maryses Stimme zu erkennen, aber redete sie mit Jace? Oder mit Alec?

»Die Brüder der Stille führen noch immer Untersuchungen durch und lassen keine Besucher zu ihm«, fügte Isabelle hinzu.

»Die Stillen Brüder können mich mal kreuzweise.«

»Igitt! Nein danke! Ich hab ja nichts gegen Typen von der Sorte ›stark, aber schweigsam‹, doch das geht selbst mir zu weit…«

»Isabelle!« Clary setzte sich auf und lehnte sich gegen die weichen Kissen. Es war ein strahlender Herbsttag und die Sonne schien hell durch das Wohnzimmerfenster, aber auch das konnte Clarys Stimmung nicht aufheitern. »Ich möchte doch einfach nur wissen, ob es ihm gut geht… dass er keine bleibenden Schäden zurückbehält und nicht angeschwollen ist wie ein Kürbis…«

»Selbstverständlich ist er nicht angeschwollen wie ein Kürbis! Sei doch nicht albern.«

»Aber woher soll ich das denn wissen? Mir erzählt doch keiner was!«

»Es geht ihm gut«, erklärte Isabelle, doch ein seltsamer Unterton in ihrer Stimme verriet Clary, dass sie ihr etwas verschwieg. »Alec schläft nachts im Bett neben Jace und Mom und ich leisten ihm abwechselnd tagsüber Gesellschaft. Die Stillen Brüder haben ihn nicht gefoltert. Sie wollen einfach nur alles erfahren, was er weiß: Über Sebastian, die Wohnung, einfach alles.«

»Aber ich kann nicht glauben, dass Jace mich nicht wenigstens anrufen würde, wenn er dazu in der Lage wäre. Es sei denn, er will mich gar nicht sehen.«

»Vielleicht will er das ja wirklich nicht«, sagte Isabelle. »Was möglicherweise damit zusammenhängt, dass du ihn niedergestochen hast.«

»Isabelle…«

»Das war nur ein Scherz. Aber beim Erzengel, Clary, kannst du nicht etwas geduldiger sein?«, seufzte Isabelle und fügte dann hinzu: »Ach, schon gut. Ich hatte ganz vergessen, mit wem ich hier rede. Hör zu, auch wenn ich dir das jetzt eigentlich nicht erzählen sollte: Jace hat gesagt, dass er mit dir persönlich reden muss. Wenn du dich also einfach gedulden könntest…«

»Genau das tu ich doch! Seit Tagen mach ich nichts anderes, als mich zu gedulden«, entgegnete Clary. Und das entsprach der Wahrheit: Die letzten beiden Nächte hatte sie in ihrem Zimmer in Lukes Haus stundenlang wach gelegen, auf Neuigkeiten über Jace’ Zustand gewartet und die vergangene Woche in allen qualvollen Details wieder und wieder Revue passieren lassen: Die Wilde Jagd; der Trödelladen in Prag; Brunnen voller Blut; Sebastians nachtschwarze Augen; Jace’ Körper an ihrem; Sebastian, der ihr den Höllenkelch an die Lippen presst und versucht, sie zum Trinken zu zwingen; der bittere Gestank von Dämonensekret. Glorious, das Schwert des Erzengels, das Jace wie ein Flammenstrahl durchbohrt hatte; Jace’ Herzschlag unter ihren Fingerspitzen. Er hatte die Augen nicht geöffnet, aber Clary hatte trotzdem laut gebrüllt, dass er noch lebte, dass sein Herz schlug, woraufhin Jace’ Familie herbeigestürmt war, inklusive Alec, der einen leichenblassen Magnus stützte. »Seit Tagen drehen sich meine Gedanken im Kreis und ich kann an nichts anderes denken. Das macht mich noch wahnsinnig.«

»Das versteh ich. Weißt du was, Clary?«

»Was?«

Einen Moment herrschte Stille, dann meinte Isabelle: »Du brauchst meine Erlaubnis nicht, um herzukommen. Du brauchst von niemandem eine Erlaubnis, egal wofür. Du bist Clary Fray. Du stürmst in jede Situation mit dem Kopf voran, ohne zu wissen, wie es ausgeht, und dann überstehst du das Ganze mit einer Mischung aus Mut und Wahnsinn.«

»Aber das tue ich nicht, wenn es um mein Privatleben geht, Izzy.«

»Hm, vielleicht solltest du das aber«, erwiderte Isabelle und legte dann einfach auf.

Clary starrte auf das Telefon in ihrer Hand und hörte nur noch das leise Tuten in der Leitung. Schließlich seufzte sie, legte den Hörer auf die Gabel und marschierte in ihr Zimmer.

Simon hatte sich auf dem Bett ausgebreitet, die Füße auf dem Kopfkissen und das Kinn in die Hände gestützt. Sein Laptop lag aufgeklappt am Fußende und zeigte ein Standbild aus Matrix. Als Clary ins Zimmer kam, schaute er hoch. »Irgendwas Neues?«

»Nicht direkt.« Clary ging zu ihrem Kleiderschrank. Sie hatte sich am Morgen bereits mit dem Hintergedanken angezogen, Jace möglicherweise an diesem Tag zu sehen, und hatte zu ihrer Jeans einen hellblauen Pullover angezogen, den er besonders mochte. Jetzt holte sie ihre Cordjacke heraus und setzte sich neben Simon aufs Bett, um sich ihre Stiefel anzuziehen. »Isabelle will mir nichts sagen und die Stillen Brüder wollen keine Besucher zu Jace vorlassen, aber was soll’s? Mir doch egal! Ich fahr trotzdem zum Institut.«

Simon klappte den Laptop zu und rollte sich auf den Rücken. »So kenn ich meine tapfere kleine Stalkerin.«

»Klappe!«, erwiderte Clary. »Willst du mitkommen? Isabelle besuchen?«

»Ich treff mich heute mit Becky«, erklärte Simon. »In Jordans Wohnung.«

»Gut. Bestell ihr liebe Grüße von mir.« Clary hatte die Stiefel zugeschnürt, beugte sich vor und strich Simon die Haare aus der Stirn. »Ich hatte mich gerade an das Kainsmal gewöhnt. Jetzt muss ich mich erst mal mit diesem neuen Anblick anfreunden.«

Simons dunkle Augen musterten ihr Gesicht. »Ob mit oder ohne: Ich bin immer noch ich.«

»Erinnerst du dich an die Inschrift auf dem Schwert? In der Klinge des Glorious?«

»Quis ut Deus.«

»Das ist Lateinisch«, sagte Clary. »Ich hab es nachgeschlagen und es bedeutet Wer ist wie Gott? Aber das ist eine Fangfrage. Denn die Antwort lautet: niemand. Niemand ist wie Gott. Verstehst du denn nicht, Simon?«

Verwundert schaute Simon sie an. »Was soll ich verstehen?«

»Du hast es gesagt. Deus. Gott.«

Simon öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und stammelte nach einem Moment: »Ich…«

»Ich weiß, dass Camille dir erzählt hat, sie könne den Namen Gottes deshalb aussprechen, weil sie nicht an Gott glaube. Aber ich vermute, es hängt eher damit zusammen, was man über sich selbst denkt. Wenn man glaubt, dass man verdammt ist, dann ist man das auch. Aber wenn nicht…« Vorsichtig berührte Clary seine Hand.

Simon drückte ihre Finger kurz und ließ sie dann los; auf seinem Gesicht spiegelte sich seine innere Zerrissenheit. »Ich brauch etwas Zeit, um darüber nachzudenken.«

»Alle Zeit der Welt. Aber ich bin für dich da, wenn du reden willst.«

»Das Gleiche gilt für dich. Was auch immer zwischen dir und Jace im Institut passieren mag… du weißt, du kannst immer auf mich zählen.«

»Wie geht’s eigentlich Jordan?«

»Ziemlich gut«, meinte Simon. »Er und Maia sind jetzt offiziell zusammen. Im Moment sind sie in dieser anstrengenden Phase, die in mir den dringenden Wunsch weckt, ihnen möglichst viel Zeit für sich allein zu geben.« Er rümpfte die Nase. »Wenn Maia nicht da ist, macht Jordan sich Sorgen. Er sagt, dass er sich unsicher fühlt, weil Maia schon mit einem Haufen von Kerlen Verabredungen hatte, während er die vergangenen drei Jahre eine Art Militärausbildung bei den Praetor absolviert hat und so tun musste, als sei er asexuell.«

»Ach, komm schon. Ich bezweifle, dass Maia das interessiert.«

»Du weißt doch, wie wir Männer sind: Wir haben ein zartes, empfindsames Ego.«

»Jace’ Ego würde ich nicht gerade als zart bezeichnen.«

»Nein, Jace’ Ego ist der Flugabwehrpanzer unter den männlichen Egos«, räumte Simon ein. Er lag auf dem Rücken, die rechte Hand auf dem Bauch. Der goldene Elbenring glitzerte an seinem Finger. Seit der Zerstörung des Gegenstücks schien er keine besonderen Kräfte mehr zu besitzen, aber Simon trug ihn trotzdem.

Spontan beugte Clary sich zu ihm hinab und küsste ihn auf die Stirn. »Du bist der beste Freund, den man sich nur wünschen kann, weißt du das eigentlich?«, sagte sie.

»Ja, das weiß ich, aber ich hör es immer wieder gern.«

Clary lachte und stand auf. »Wenn du willst, können wir zusammen zur U-Bahn gehen. Es sei denn, du hängst lieber hier mit meinen Eltern ab statt in deiner coolen Junggesellenbude in der City.«

»Richtig. Zusammen mit meinem liebeskranken Mitbewohner und meiner Schwester.« Simon rutschte vom Bett herunter und folgte Clary aus dem Zimmer. »Warum teleportierst du dich nicht einfach zum Institut?«, fragte er.

»Keine Ahnung, aber es scheint mir irgendwie … eine Verschwendung zu sein«, erwiderte Clary achselzuckend. Dann durchquerte sie den Flur, klopfte kurz an Lukes Schlafzimmer und steckte den Kopf durch die Tür. »Luke?«

»Kommt rein.«

Clary und Simon traten ein und sahen, dass Luke aufrecht im Bett saß. Der dicke Verband um seine Brust zeichnete sich deutlich unter seinem Holzfällerhemd ab. Vor ihm auf der Bettdecke lag ein Stapel Zeitschriften.

Simon nahm eines der Hefte hoch. »Glitzernd wie eine Eisprinzessin: Die Winterbraut«, las er laut vor. »Ich weiß nicht, Mann, aber ich glaub nicht, dass dir ein Haarreif aus Schneeflocken stehen würde.«

Luke warf einen Blick auf die Zeitschriften und seufzte. »Jocelyn dachte, es würde uns guttun, die Hochzeit zu planen… wieder zur Normalität zurückzukehren und all das.« Dunkle Schatten lagen unter seinen blauen Augen. Jocelyn hatte ihm von Amatis’ Verwandlung erzählt, als Luke noch im Krankenzimmer der alten Polizeiwache gelegen hatte. Obwohl Clary ihn bei seiner Heimkehr fest umarmt hatte, war er mit keinem Wort auf das Schicksal seiner Schwester eingegangen – und auch Clary hatte geschwiegen. »Wenn es nach mir ginge, würde ich mit Jocelyn nach Vegas durchbrennen und uns für fünfzig Dollar von Elvis in einer auf Piratenwelt dekorierten Hochzeitskapelle trauen lassen.«

»Ich könnte die als Matrosendirne gekleidete Brautjungfer sein«, schlug Clary vor und schaute erwartungsvoll zu Simon. »Und du kannst…«

»Oh, nein«, protestierte er. »Ich bin ein hipper Typ und viel zu cool für Mottohochzeiten.«

»Du spielst Dungeons & Dragons. Du bist ein Computerfreak«, berichtigte Clary ihn herzlich.

»Computerfreaks sind in«, verkündete Simon. »Die Damen stehen darauf.«

In dem Moment räusperte Luke sich. »Ich nehme an, dass ihr hereingekommen seid, um mir etwas mitzuteilen, oder?«

»Ich fahre jetzt zum Institut, um Jace zu besuchen«, erklärte Clary. »Soll ich dir auf dem Rückweg irgendwas mitbringen?«

Luke schüttelte den Kopf. »Deine Mutter ist gerade einkaufen.« Er beugte sich zu Clary vor, um ihr durch die Haare zu fahren, und zuckte dann zusammen. Seine Wunde verheilte, aber es dauerte. »Viel Spaß.«

Clary dachte daran, was ihr im Institut möglicherweise bevorstand – eine aufgebrachte Maryse, eine gelangweilte Isabelle, ein geistesabwesender Alec und ein Jace, der sie nicht sehen wollte – und seufzte: »Darauf kannst du wetten.«

Die Luft im U-Bahn-Tunnel roch eindeutig nach Winter – kaltes Metall, feuchte Erde und ein Anflug von Rauch. Alec, der über die Gleise lief, konnte seinen Atem als weiße Wolken aufsteigen sehen. Entschlossen schob er eine Hand in die Tasche seiner blauen Cabanjacke, um sie warm zu halten. In der anderen hielt er seinen Elbenlichtstein, der den Tunnel beleuchtete: grüne und cremefarbene Fliesen, denen man ihr Alter ansah, und verworrene Elektrokabel, die wie Spinnweben von den Wänden hingen. Dieser U-Bahn-Schacht war schon seit vielen Jahren stillgelegt.

Alec hatte sich aus dem Bett geschlichen, bevor Magnus aufgewacht war – nicht zum ersten Mal. Magnus schlief viel, um sich von der Schlacht mit den Dunklen Nephilim zu erholen. Zwar hatte er seine Selbstheilungskräfte reaktivieren können, doch er war noch nicht vollständig genesen. Hexenwesen mochten unsterblich sein, aber sie waren nicht unverwundbar und »wenn die Klinge ein paar Zentimeter höher getroffen hätte, dann wär’s das für mich gewesen«, hatte Magnus trübselig bemerkt, während er die Wunde inspizierte. »Denn dann hätte sie mich mitten ins Herz getroffen.«

In der Schlacht hatte Alec ein paar Minuten lang geglaubt, dass Magnus tot sei – und das, nachdem er so viel Zeit damit vergeudet hatte, sich Sorgen darüber zu machen, dass er selbst altern und lange vor Magnus sterben würde. Welch bittere Ironie des Schicksals das gewesen wäre! Und eine gerechte Strafe dafür, dass er Camilles Angebot ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

Vor Alec tauchten nun Lichter auf: die Kronleuchter und Oberlichter der U-Bahn-Station City Hall. Er wollte seinen Elbenstein gerade wegstecken, als er hinter sich eine vertraute Stimme hörte.

»Alec. Alexander Gideon Lightwood.«

Erschrocken machte Alecs Herz einen Satz. Langsam drehte er sich um. »Magnus?«

Der Hexenmeister trat in den Lichtkegel von Alecs Elbenstein. Seine Miene wirkte ungewöhnlich ernst, seine Augen waren überschattet und seine stachligen Haare zerzaust. Er trug nur ein dünnes Jackett über seinem T-Shirt und Alec fragte sich unwillkürlich, ob er nicht fror.

»Magnus«, wiederholte Alec. »Ich dachte, du wärst zu Hause und würdest schlafen.«

»Offensichtlich hast du das gedacht«, erwiderte Magnus.

Alec musste schlucken. Er hatte Magnus nie zornig erlebt, jedenfalls nicht richtig. Und auf keinen Fall so wie jetzt. Seine katzenartigen Augen wirkten distanziert und unergründlich. »Bist du mir etwa gefolgt?«, fragte Alec.

»Das könnte man so sagen. Aber ich wusste, wohin du gehen würdest.« Steif holte Magnus einen gefalteten Zettel aus seiner Hosentasche. Im dämmrigen Licht konnte Alec lediglich erkennen, dass das Papier mit einer sorgfältigen, schwungvollen Handschrift bedeckt war. »Als sie mir gesagt hat, dass du hier sein würdest… und mir von der Vereinbarung erzählt hat, die sie mit dir getroffen hat… da hab ich ihr anfangs nicht geglaubt. Ich wollte ihr nicht glauben. Aber jetzt bist du hier.«

»Camille hat dir erzählt…«

Magnus hob eine Hand, um Alec das Wort abzuschneiden. »Hör auf«, sagte er müde. »Selbstverständlich hat sie es mir erzählt. Ich hab dich doch gewarnt, dass sie eine Meisterin der Andeutungen und der Manipulation ist, aber du hast mir nicht zugehört. Was glaubst du denn, wen sie lieber auf ihrer Seite hätte: dich oder mich? Du bist achtzehn Jahre alt, Alexander – nicht gerade der mächtigste Verbündete.«

»Ich hab ihr Angebot bereits abgelehnt«, erklärte Alec. »Hab ihr gesagt, dass ich Raphael nicht töten werde. Ich bin hierhergekommen und hab ihr mitgeteilt, dass der Deal geplatzt ist… dass ich es nicht tun würde…«

»Du hast extra den weiten Weg auf dich genommen, hierher zu dieser verlassenen U-Bahn-Station, nur um ihr das zu sagen?« Magnus zog die Augenbrauen hoch. »Meinst du nicht, du hättest die gleiche Botschaft übermitteln können, indem du einfach weggeblieben wärst?«

»Ich… äh…«

»Und selbst wenn du das alles – unnötigerweise – getan und ihr mitgeteilt hast, dass der Deal geplatzt ist…«, fuhr Magnus kalt und ruhig fort, »warum bist du dann jetzt hier? Ein Freundschaftsbesuch? Erklär es mir, Alexander – falls ich irgendetwas falsch verstanden haben sollte.«

Alec musste schlucken. Es gab doch bestimmt irgendeine Möglichkeit, das Ganze zu erklären… Magnus zu erklären, dass er hierhergekommen war, weil Camille die einzige Person war, mit der er über ihn reden konnte. Die einzige Person, die Magnus auf eine Weise kannte, wie er selbst ihn auch kannte: nicht als den Obersten Hexenmeister von Brooklyn, sondern als jemanden, der lieben und geliebt werden konnte, jemanden, der menschliche Schwächen und Eigenheiten und Launen hatte, von denen Alec nicht wusste, wie er ohne Hilfe damit umgehen sollte. »Magnus…«, setzte er an und trat einen Schritt auf seinen Freund zu.

Doch zum ersten Mal in ihrer Beziehung wich Magnus vor ihm zurück. Seine gesamte Haltung wirkte steif und abweisend und er musterte Alec wie einen Fremden… einen Fremden, den er nicht sonderlich mochte.

»Es tut mir so leid«, sagte Alec. Seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren heiser und zittrig. »Es war nie meine Absicht…«

»Ich hatte selbst mit dem Gedanken gespielt«, sagte Magnus. »Das war einer der Gründe, warum ich das Weiße Buch haben wollte: Unsterblichkeit kann eine Last sein, wenn man an all die Tage denkt, die noch vor einem liegen… wenn man bereits überall gewesen ist und alles gesehen hat. Nur eines hatte ich noch nicht erlebt: mit jemandem alt zu werden – mit jemandem, den ich liebe. Ich habe angenommen, dass du vielleicht derjenige sein könntest. Aber das gibt dir noch längst nicht das Recht, über die Länge meines Lebens bestimmen zu wollen.«

»Ich weiß.« Alecs Herz raste. »Ich weiß und das hatte ich ja auch gar nicht vor…«

»Ich werde den ganzen Tag unterwegs sein«, unterbrach Magnus ihn. »Also fahr in die Wohnung und hol deine Sachen. Den Schlüssel kannst du auf den Esstisch legen.« Er musterte Alec eindringlich. »Es ist vorbei. Ich will dich nicht mehr wiedersehen, Alec. Dich oder einen deiner Freunde. Ich bin es leid, ihren Hexenmeister vom Dienst zu spielen.«

Alecs Finger hatten derartig zu zittern begonnen, dass ihm der Elbenstein aus der Hand rutschte. Das Licht verlosch und Alec fiel auf die Knie und tastete fieberhaft im Staub und Dreck nach dem Stein. Als nach einem Moment etwas aufleuchtete, rappelte er sich auf und entdeckte Magnus unmittelbar vor sich, den Elbenstein in der Hand, der in einem seltsamen Licht flackerte. »Eigentlich dürfte er nicht leuchten«, bemerkte Alec automatisch. »Jedenfalls nicht bei jemandem, der kein Nephilim ist.«

Magnus hielt ihm den Stein entgegen, dessen Zentrum dunkelrot schimmerte wie ein glühendes Kohlenstück.

»Hat das etwas mit deinem Vater zu tun?«, fragte Alec.

Doch Magnus drückte ihm nur schweigend den Elbenlichtstein in die Hand. Als sich ihre Finger berührten, änderte sich Magnus’ Miene. »Du bist ja total durchgefroren.«

»Meinst du?«

»Alexander…« Magnus zog Alec an sich, wobei der Elbenstein wie wild flackerte und in raschem Tempo seine Farbe veränderte.

So etwas hatte Alec bei einem Elbenlicht noch nie erlebt. Er lehnte seinen Kopf an Magnus’ Schulter und ließ sich von ihm in den Arm nehmen. Das Herz des Hexenmeisters besaß einen anderen Rhythmus als menschliche Herzen – es schlug langsamer, aber beständig. Manchmal dachte Alec, dass Magnus’ Herz das einzig Beständige in seinem Leben war. »Küss mich«, flüsterte er.

Magnus legte Alec eine Hand an die Wange und fuhr ihm sanft, fast geistesabwesend mit dem Daumen über den Wangenknochen. Als er sich vorbeugte, um ihn zu küssen, verströmte er einen warmen Duft nach Sandelholz.

Alec umklammerte die Ärmel von Magnus’ Jackett und das Elbenlicht, das sich zwischen ihren Körpern befand, flackerte rosa, blau und grün auf. Der Kuss war verhalten und traurig. Als Magnus sich schließlich zurückzog, stellte Alec fest, dass er den Elbenstein allein in der Hand hielt; Magnus’ Hand war verschwunden und das Licht leuchtete wieder in einem sanften Weiß.

Leise murmelte Magnus: »Aku cinta kamu.«

»Was heißt das?«

Magnus befreite sich aus Alecs Griff. »Es bedeutet: Ich liebe dich. Nicht, dass das irgendetwas ändern würde.«

»Aber wenn du mich liebst…«

»Natürlich liebe ich dich. Mehr als ich jemals für möglich gehalten hätte. Aber wir sind trotzdem fertig miteinander«, erwiderte Magnus. »Denn es ändert nichts an dem, was du getan hast.«

»Aber das war doch nur ein Irrtum«, flüsterte Alec. »Ein Fehler…«

Magnus lachte bitter. »Ein Fehler? Genauso gut könnte man die Jungfernfahrt der Titanic als kleinen Bootsunfall bezeichnen. Alec, du hast versucht, mein Leben zu verkürzen.«

»Das war doch nur… Sie hatte es angeboten, aber ich hab darüber nachgedacht und konnte es einfach nicht tun… ich konnte dir das nicht antun.«

»Aber du hast erst darüber nachdenken müssen. Und du hast es mir gegenüber mit keinem Wort erwähnt.« Magnus schüttelte den Kopf. »Du hast mir nicht vertraut. Damals nicht und auch jetzt nicht.«

»Doch, das tue ich«, widersprach Alec. »Ich werde… ich werde es versuchen. Gib mir noch eine Chance…«

»Nein«, sagte Magnus. »Und wenn ich dir einen Rat geben darf: Halte dich von Camille fern. Uns steht ein Krieg bevor, Alexander – und du willst doch nicht, dass man deine Loyalität infrage stellt, oder?« Damit drehte er sich um und schritt davon, die Hände in den Hosentaschen – langsam und unaufhaltsam, als hätte er Schmerzen, die nicht nur von seiner Stichwunde kamen.

Alec schaute ihm nach, bis er sich jenseits des Elbenlichtkegels befand und außer Sichtweite war.

Im Sommer war es im Inneren des Instituts kühl gewesen, aber jetzt, da der Winter eingesetzt hatte, erschienen Clary die Räume warm. Das Kirchenschiff war von Kerzen erhellt und die Buntglasfenster leuchteten sanft.

Clary ließ die Eingangstür hinter sich ins Schloss fallen und lief in Richtung des Aufzugs. Als sie etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, hörte sie jemanden lachen.

Mit einem Ruck fuhr sie herum. Isabelle saß auf einer der alten Kirchenbänke, die langen Beine über die Lehne der Vorderreihe gelegt. Sie trug Stiefel, die eine Handbreit über dem Knie endeten, eine enge Jeans und einen roten Pullover, der eine ihrer Schultern frei ließ. Ihre Haut war über und über mit schwarzen Runenmalen bedeckt. Unwillkürlich musste Clary an Sebastians Worte denken – ich hasse es, wenn Frauen ihre Haut mit Narben verschandeln – und schauderte innerlich.

»Hast du mich denn nicht rufen hören?«, fragte Izzy fordernd. »Du kannst manchmal erstaunlich eingleisig sein.«

Clary schlenderte zu Isabelle und lehnte sich gegen die Kirchenbank. »Ich hab dich nicht absichtlich übersehen.«

Isabelle schwang die Beine von der Lehne und stand auf. Durch die hohen Absätze ihrer Stiefel überragte sie Clary turmhoch. »Ja, das weiß ich. Deshalb hab ich ja auch ›eingleisig‹ gesagt und nicht ›unhöflich‹.«

»Bist du hier, um mich wieder wegzuschicken?« Clary stellte zufrieden fest, dass ihre Stimme nicht zitterte. Natürlich wollte sie Jace sehen, mehr als alles andere auf der Welt. Aber nach allem, was sie im vergangenen Monat durchgemacht hatte, wusste sie: Das Wichtigste war die Tatsache, dass er lebte und dass er wieder er selbst war. Alles andere war nebensächlich.

»Nein«, sagte Izzy und marschierte in Richtung des Aufzugs. Clary schloss sich ihr an. »Ich halte das Ganze für völlig lächerlich. Schließlich hast du ihm das Leben gerettet.«

Plötzlich spürte Clary ein unbehagliches Gefühl im Magen und musste schlucken. »Du hast gesagt, es gäbe da ein paar Dinge, die ich noch nicht wüsste.«

»Das stimmt.« Isabelle drückte auf den Aufzugknopf. »Jace kann sie dir erklären. Ich bin nur deshalb heruntergekommen, weil ich dachte, dass da noch ein paar andere Sachen sind, die du wissen solltest.«

Clary lauschte auf das vertraute Quietschen und Rattern des alten Aufzugs. »Zum Beispiel?«

»Mein Vater ist wieder da«, berichtete Isabelle, ohne Clary jedoch anzuschauen.

»Nur zu Besuch oder für immer?«

»Für immer.« Isabelle klang ruhig, aber Clary erinnerte sich daran, wie betroffen Izzy reagiert hatte, als bekannt wurde, dass Robert Lightwood sich für den Posten des Inquisitors beworben hatte. Isabelle holte Luft und fuhr dann fort: »Aline und Helen haben uns davor bewahrt, richtigen Ärger wegen dieser Geschichte in Irland zu bekommen. Als Magnus uns zu dir teleportiert hat, geschah das ohne das Wissen des Rats. Denn meine Mom war sich sicher, dass die Ratsmitglieder Jäger aussenden würden, um Jace zu töten. Sie hat es nicht fertiggebracht, den Rat zu informieren. Ich meine, hier geht’s immerhin um unsere Familie.«

Bevor Clary irgendetwas erwidern konnte, erschien der Aufzug ratternd und quietschend vor ihnen und sie folgte Isabelle in die Kabine. Dabei musste sie den seltsamen Drang unterdrücken, Izzy dankbar zu umarmen: Clary bezweifelte, dass ihr diese Geste gefallen würde.

»Also hat Aline der Konsulin, die ja immerhin ihre Mutter ist, erzählt, dass einfach keine Zeit zum Informieren des Rats gewesen wäre und man sie mit dem strikten Befehl zurückgelassen hätte, Jia sofort anzurufen. Dummerweise wäre nur irgendetwas mit den Leitungen nicht in Ordnung gewesen, sodass sie nicht telefonieren konnte. Im Grunde genommen hat sie das Blaue vom Himmel gelogen. Aber das ist unsere Story und an die halten wir uns jetzt. Ich nehme zwar nicht an, dass Jia ihr geglaubt hat, aber das spielt auch keine Rolle – es ist ja nicht so, als ob Jia Mom unbedingt bestrafen wollte. Sie brauchte einfach nur eine Geschichte, an die sie sich halten kann, um keine Sanktionen gegen uns verhängen zu müssen. Schließlich war die ganze Operation ja kein Desaster: Wir sind rein, haben Jace rausgeholt, die meisten der Dunklen Nephilim getötet und Sebastian in die Flucht geschlagen.«

Mit einem lauten Quietschen kam der Aufzug abrupt zum Stehen.

»Sebastian in die Flucht geschlagen«, wiederholte Clary. »Das heißt also, wir haben keine Ahnung, wo er steckt? Ich hab gedacht, dass er nach der Zerstörung seiner Wohnung – dieser Dimensionsfalte – vielleicht doch geortet werden könnte.«

»Wir haben es versucht«, erklärte Isabelle. »Aber offenbar befindet er sich noch immer irgendwo jenseits unserer Ortungsmöglichkeiten. Nach Aussage der Stillen Brüder hat die Magie, die Lilith an ihm vollzogen hat… nun ja, Sebastian ist stark, Clary. Richtig stark. Wir müssen davon ausgehen, dass er irgendwo da draußen ist, mit dem Höllenkelch, und seinen nächsten Schritt plant.« Nachdenklich schob sie das Gitter zur Seite, drückte die Tür auf und trat in den Eingangsbereich. »Glaubst du, er wird zurückkommen, um dich zu holen – oder Jace?«

Clary zögerte. »Nicht sofort«, sagte sie schließlich. »Für ihn sind Jace und ich die letzten Teile in seinem Puzzle. Sebastian wird erst alles andere vorbereiten wollen. Er wird eine Armee aufstellen, um für alles gewappnet zu sein. Wir beide sind wie… zwei Trophäen, die er für seinen Sieg bekommt. Und damit er nicht allein ist.«

»Er muss wirklich sehr einsam sein«, bemerkte Isabelle, doch in ihrer Stimme schwang kein Mitgefühl mit – es handelte sich um eine reine Feststellung.

Unwillkürlich musste Clary an Sebastian denken, an das Gesicht, das sie zu vergessen versucht hatte und das sie nachts in ihren Albträumen und auch tagsüber verfolgte. Du hast mich gefragt, zu wem ich gehöre. »Du machst dir ja gar keine Vorstellung, wie einsam.«

Inzwischen hatten die beiden Mädchen die Treppe zur Krankenstation erreicht. Isabelle hielt inne und legte eine Hand an ihren Hals. Clary konnte die Konturen ihres rubinroten Anhängers unter dem Material des Pullovers erkennen. »Clary…«

Plötzlich überkam Clary ein unbehagliches Gefühl. Sie zupfte am Saum ihres eigenen Pullovers, um jeden Blickkontakt mit Isabelle zu vermeiden.

»Wie fühlt sich das an?«, fragte Isabelle unvermittelt.

»Wie fühlt sich was an?«

»Verliebt zu sein«, sagte Isabelle. »Woher weiß man, dass man verliebt ist? Und woher weiß man, ob jemand anderes in einen verliebt ist?«

»Äh…«

»Zum Beispiel Simon«, fuhr Isabelle fort. »Woran hast du erkannt, dass er in dich verliebt war?«

»Na ja, er hat es mir gesagt.«

»Er hat es dir gesagt?«

Clary zuckte die Achseln.

»Und davor… da hattest du keine Ahnung?«

»Nein, ich hab echt nichts gemerkt«, erläuterte Clary, während sie sich den Moment wieder in Erinnerung rief. »Izzy… wenn du etwas für Simon empfindest oder wenn du wissen willst, ob er etwas für dich empfindet… vielleicht solltest du es ihm dann einfach sagen.«

Verlegen zupfte Isabelle einen nicht existenten Fussel von ihrem Ärmel. »Was soll ich ihm sagen?«

»Was du für ihn empfindest.«

Isabelle zog eine rebellische Miene. »Eigentlich sollte ich ihm das nicht erst sagen müssen.«

Clary schüttelte den Kopf. »Mein Gott – du und Alec, ihr seid euch so ähnlich…«

Empört riss Isabelle die Augen auf. »Das sind wir nicht! Wir sind total verschieden. Ich verabrede mich mit jedem, der mir gefällt, während Alec vor Magnus noch mit niemandem ausgegangen ist. Alec ist eifersüchtig, dagegen bin ich…«

»Jeder wird hin und wieder eifersüchtig«, erwiderte Clary fest. »Und ihr seid beide so stur. Aber hier geht es um die Liebe und nicht um die Schlacht bei den Thermopylen. Du brauchst nicht in jeder Situation so zu reagieren, als handelte es sich um ein letztes Gefecht. Und du musst auch nicht alles geheim halten.«

Genervt rollte Isabelle mit den Augen. »Seit wann bist du denn eine Expertin?«

»Ich bin keine Expertin«, erwiderte Clary. »Aber ich kenne Simon. Wenn du nicht mit ihm redest, wird er annehmen, dass du kein Interesse an ihm hast, und seinerseits aufgeben. Er braucht dich, Izzy, und du brauchst ihn. Aber er muss es von dir zuerst hören.«

Isabelle seufzte, drehte sich abrupt um und stieg die Treppe hinauf. Clary konnte hören, wie sie dabei unterdrückt schimpfte: »Das ist alles deine Schuld, weißt du das eigentlich? Wenn du ihm nicht das Herz gebrochen hättest…«

»Isabelle!«

»Na ja, ist doch wahr.«

»Mag sein – aber ich meine mich auch zu erinnern, dass du nach Simons Verwandlung in eine Ratte vorgeschlagen hast, ihn doch einfach in Rattengestalt zurückzulassen. Und zwar für immer.«

»Das hab ich nicht!«

»Hast du doch…«, setzte Clary an, verstummte dann aber. Sie hatten das nächste Geschoss erreicht, wo sich ein langer Flur in beide Richtungen erstreckte. Vor der doppelflügeligen Tür der Krankenstation stand einer der Stillen Brüder in seiner pergamentfarbenen Robe, die Hände gefaltet und das Haupt unter der Kapuze reglos zu Boden gesenkt.

Isabelle wedelte übertrieben mit der Hand und zeigte auf ihn. »Da wären wir«, sagte sie. »Viel Glück – du wirst es brauchen, um an ihm vorbeizukommen und Jace zu besuchen.« Damit marschierte sie davon, wobei ihre Stiefel laut über das Parkett klackerten.

Clary seufzte innerlich und tastete nach der Stele an ihrem Gürtel. Sie bezweifelte, dass sie den Bruder der Stille mit irgendeiner Zauberglanz-Rune hereinlegen konnte, aber wenn sie nah genug an ihn herankam, konnte sie ihm vielleicht eine Schlafrune auftragen…

Clary Fray.

Die Stimme in ihrem Kopf wirkte belustigt und außerdem vertraut. Obwohl sie keinen Klang besaß, erkannte Clary sie an der Form der Gedanken, so wie man jemanden an seinem Lachen oder seiner Atmung wiedererkannte.

»Bruder Zachariah.« Resigniert steckte Clary die Stele wieder ein und trat näher. Sie wünschte, Isabelle wäre bei ihr geblieben.

Ich nehme an, du bist hergekommen, um Jonathan zu besuchen, sagte Bruder Zachariah und hob den Kopf. Sein Gesicht lag noch immer in den Schatten der Kapuze verborgen, aber Clary konnte einen kurzen Blick auf einen kantigen Wangenknochen werfen. Entgegen der Anordnungen der Bruderschaft.

»Bitte nenn ihn Jace, sonst wird das alles zu verwirrend.«

›Jonathan‹ ist ein hervorragender traditioneller Nephilimname, der erste der Schattenjäger überhaupt. Und die Herondales haben auf die Namen in der Familie immer Wert gelegt

»Er hat seinen Namen aber nicht von einem Herondale erhalten«, erwiderte Clary nachdrücklich. »Auch wenn er einen Dolch besitzt, der einst seinem Vater gehörte und in dessen Klinge S. W. H. graviert ist.«

Stephen William Herondale.

Zögernd trat Clary einen weiteren Schritt auf die Tür und Bruder Zachariah zu. »Du weißt eine Menge über die Familie Herondale«, bemerkte sie. »Von allen Stillen Brüdern scheinst du der menschlichste zu sein. Die meisten Mitglieder der Bruderschaft zeigen keinerlei Emotionen. Wie Statuen. Aber du scheinst Gefühle zu haben. Du erinnerst dich an dein Leben.«

Auch als Stiller Bruder hat man ein Leben, Clary Fray. Aber wenn du damit gemeint hast, dass ich mich an mein Leben vor dem Beitritt zur Bruderschaft erinnere, dann hast du recht.

Clary holte tief Luft. »Warst du jemals verliebt? Ich meine früher? Hat es jemals einen Menschen gegeben, für den du gestorben wärst?«

Einen langen Moment herrschte Stille, dann erklärte Zachariah: Nicht nur einen, sondern zwei. Es gibt Erinnerungen, die auch die Zeit nicht auslöscht, Clarissa. Frag nur mal deinen Freund Magnus Bane, falls du mir nicht glaubst. Auch eine Ewigkeit bewirkt nicht, dass man einen Verlust leichter vergisst; sie macht ihn nur erträglicher.

»Aber ich hab keine Ewigkeit«, sagte Clary mit dünner Stimme. »Bitte lass mich durch, damit ich zu Jace kann.«

Bruder Zachariah rührte sich nicht von der Stelle.

Clary konnte sein Gesicht noch immer nicht sehen, nur Schatten und Flächen unter seiner Kapuze. Und seine Hände, die noch immer verschränkt waren. »Bitte«, sagte sie.

Alec schwang sich auf den Bahnsteig der U-Bahn-Station City Hall und marschierte in Richtung der Treppe. Er hatte den Gedanken an Magnus, der sich langsam von ihm entfernte, verdrängt und durch einen anderen ersetzt:

Er würde Camille Belcourt umbringen.

Entschlossen stürmte er die Stufen hinauf und zückte dabei seine Seraphklinge. Fahles Winterlicht fiel vom City Hall Park durch die getönten Oberlichter. Rasch steckte Alec seinen Elbenstein ein und packte mit beiden Händen sein Schwert.

»Amriel«, wisperte er, woraufhin die Waffe aufblitzte und ein zuckendes Licht durch den Raum schickte. Alec hob das Kinn und sondierte den Eingangsbereich der U-Bahn-Station. Das Sofa mit der hohen Rückenlehne stand noch an seinem alten Platz, doch Camille war nicht zu sehen. Er hatte ihr eine Nachricht geschickt, dass er sie aufsuchen wolle, aber nachdem sie ihn derart hintergangen hatte, durfte es ihn eigentlich nicht wundern, dass sie ihn nicht freudig erwartete. Rasend vor Wut durchquerte er den Raum und trat kräftig gegen das Sofa, das daraufhin krachend umkippte und eine Staubwolke aufwirbelte; eines der Holzbeine war abgebrochen.

Plötzlich ertönte aus einer der Ecken des Raums ein silberhelles Lachen.

Alec wirbelte herum, die lodernde Seraphklinge in der Hand. Die Schatten in den Ecken des Raumes waren tief und dunkel – selbst Amriels Licht konnte sie nicht durchdringen. »Camille?«, sagte Alec mit gefährlich ruhiger Stimme. »Camille Belcourt. Komm sofort aus deinem Versteck.«

Erneut ertönte ein Kichern und eine Gestalt trat aus der Dunkelheit hervor. Allerdings nicht Camille.

Stattdessen schlenderte ein Mädchen auf ihn zu – vermutlich nicht viel älter als zwölf oder dreizehn. Sie war sehr dünn, in einer zerschlissenen Jeans und einem rosafarbenen, kurzärmligen T-Shirt mit einem glitzernden Einhorn darauf. Außerdem trug sie einen langen knallrosa Schal, dessen Fransen blutgetränkt waren. Noch mehr Blut tropfte von ihrem Gesicht auf ihr T-Shirt. Sie musterte Alec aus glücklichen, strahlenden Augen. »Ich kenne dich«, hauchte sie.

Dabei sah Alec, wie ihre nadelspitzen Schneidezähne aufblitzten. Eine Vampirin!

»Alec Lightwood. Du bist einer von Simons Freunden. Ich hab dich bei einem Auftritt von seiner Band gesehen.«

Misstrauisch starrte Alec das Mädchen an. Hatte er sie schon mal gesehen? Möglicherweise… ein Gesicht im schummrigen Licht irgendeiner Bar, bei einer dieser Veranstaltungen, zu denen Isabelle ihn geschleift hatte. Er war sich nicht ganz sicher. Was allerdings nicht bedeutete, dass er nicht genau wusste, wen er da vor sich hatte. »Maureen«, sagte er gedehnt. »Du bist Simons Maureen.«

Das Mädchen wirkte erfreut. »Genau die bin ich: Simons Maureen.« Sie blickte auf ihre Hände, die vollständig mit Blut bedeckt waren, als hätte sie sie in eine Lache getaucht.

Kein menschliches Blut, schoss es Alec durch den Kopf, sondern das dunkle, rubinrote Blut von Vampiren.

»Du suchst nach Camille«, zwitscherte Maureen mit ihrer Jungmädchenstimme. »Aber sie ist nicht mehr hier. Oh, nein. Sie ist weg.«

»Weg?«, wiederholte Alec aufgebracht. »Was meinst du mit ›sie ist weg‹?«

Maureen kicherte. »Du weißt doch, wie das Gesetz der Vampire funktioniert, oder? Derjenige, der den Anführer eines Vampirclans tötet, wird automatisch das neue Oberhaupt. Und Camille war das Oberhaupt des New Yorker Clans. Oh, ja, das war sie.«

»Also… hat irgendjemand sie getötet?«

Maureen brach in ein glückliches, glockenhelles Lachen aus. »Nicht einfach irgendjemand, Dummerchen«, zwitscherte sie. »Das war ich. Ich hab sie getötet.«

Die gewölbte Decke der Krankenstation war blau gestrichen und im Rokoko-Stil dekoriert: mit weißen Wolken und Putten, von deren Handgelenken goldene Schleifen herabbaumelten. Lange Reihen von Metallbetten säumten die Wände und ließen einen breiten Gang in der Mitte des Saals frei. Durch die beiden hohen Fenster fiel strahlendes Wintersonnenlicht, das den kühlen Raum aber auch nicht zu wärmen vermochte.

Jace saß auf einem der Betten, den Rücken gegen einen Stapel Kissen gelehnt, die er sich offenbar von den anderen Betten geschnappt hatte. Er trug eine ausgefranste Jeans und ein graues T-Shirt. Ein Buch lag aufgeschlagen auf seinen Knien. Als Clary den Saal betrat, schaute er auf, schwieg aber, während sie sich zögernd seinem Bett näherte.

Clarys Herz begann, wie wild zu schlagen. Die Stille fühlte sich unangenehm, fast bedrückend an. Jace ließ sie nicht aus den Augen, bis sie das Fußende seines Betts erreichte und dort stehen blieb, die Hände um den Metallrahmen geklammert. Eingehend musterte sie sein Gesicht. Sie hatte so oft versucht, ihn zu malen und dieses unbeschreibliche, gewisse Etwas einzufangen, das für Jace so typisch war – aber ihre Finger waren nicht in der Lage gewesen, das auf dem Skizzenblock festzuhalten. Diese Seele, dieser Geist oder wie man es auch immer bezeichnen wollte… dieses Etwas, das unter Sebastians Einfluss vollkommen verschwunden gewesen war, sprach auch jetzt wieder aus Jace’ Augen.

Clary klammerte sich noch fester an das Metallbett. »Jace…«

Er schob sich eine goldblonde Haarsträhne hinters Ohr. »Äh… haben die Stillen Brüder dir gesagt, dass es in Ordnung ist hereinzukommen?«

»Nicht direkt.«

Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen. »Also hast du sie mit einer Holzlatte niedergeschlagen und dich einfach reingeschlichen? Der Rat sieht so was nicht gern, wirklich nicht.«

»Wow. Das würdest du mir glatt zutrauen, oder?« Clary trat näher und setzte sich zu Jace aufs Bett – zum einen, damit sie sich ungefähr auf Augenhöhe befanden, und zum anderen, um zu verbergen, dass ihr die Knie schlotterten.

»Das hat mich die Erfahrung gelehrt«, erwiderte Jace und legte das Buch beiseite.

Clary empfand seine Worte wie einen Schlag ins Gesicht. »Ich wollte dir nicht wehtun«, sagte sie fast im Flüsterton. »Es tut mir leid.«

Jace setzte sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Sie saßen zwar nicht weit voneinander entfernt, aber trotzdem hielt er Abstand.

Das konnte Clary deutlich spüren – ebenso wie sie spürte, dass er irgendetwas vor ihr verbarg. Sie konnte es an seinen Augen erkennen und an seinem Zögern. Am liebsten hätte sie eine Hand nach ihm ausgestreckt, doch sie hielt sich zurück und bemühte sich um einen ruhigen Ton: »Es war nie meine Absicht, dich zu verletzen. Und damit meine ich nicht nur diese verlassene Gegend in Irland. Ich meine damit vor allem den Moment, in dem du – also dein wahres Ich – mir erzählt hast, was du wirklich wolltest. Ich hätte zuhören sollen, doch stattdessen habe ich nur daran gedacht, wie ich dich retten und von Sebastian trennen könnte. Ich hab nicht zugehört, als du gesagt hast, du wolltest dich dem Rat stellen. Und deshalb wären wir beide fast so wie Sebastian geworden…

Und als ich dann Glorious gegen dich gerichtet habe… Alec und Isabelle haben dir doch sicher erzählt, dass das Schwert eigentlich für Sebastian bestimmt war. Aber ich konnte in dem Kampfgetümmel nicht zu ihm vordringen. Es ging einfach nicht. Und dann musste ich an das denken, was du gesagt hattest… dass du lieber tot wärst, als unter Sebastians Einfluss weiterzuleben.« Clary stockte einen Moment. »Der echte Jace, meine ich. Aber ich konnte dich doch nicht fragen, ich musste es einfach versuchen. Und es war furchtbar, dich so zu verletzen… Der Gedanke, dass du dabei hättest sterben können und dass ich dich mit meinen eigenen Händen umgebracht hätte… Am liebsten wäre ich selbst gestorben; stattdessen habe ich dein Leben aufs Spiel gesetzt, weil ich davon überzeugt war, dass du genau das auch gewollt hättest. Und nachdem ich dich schon einmal im Stich gelassen hatte, dachte ich, das sei ich dir schuldig. Aber wenn ich mich dabei geirrt habe…« Sie verstummte, doch Jace schwieg weiterhin, wodurch sich das mulmige Gefühl in Clarys Magen nur noch verstärkte.

»Wenn ich mich geirrt habe, dann tut es mir leid«, fuhr sie fort. »Es gibt nichts, womit ich es wiedergutmachen könnte. Aber ich wollte, dass du es weißt… dass es mir wirklich leidtut.« Erneut verstummte Clary und dieses Mal dehnte sich die Stille zwischen ihnen weiter und weiter aus – wie ein Faden, der immer stärker gestrafft wurde. »Jetzt darfst du ruhig etwas sagen«, platzte sie schließlich heraus. »Ehrlich gesagt wäre das echt toll.«

Jace musterte sie ungläubig. »Damit ich das richtig verstehe…«, setzte er an. »Du bist hierhergekommen, um dich bei mir zu entschuldigen?«

Betroffen starrte Clary ihn an. »Natürlich.«

»Clary«, sagte er betont langsam, »du hast mir das Leben gerettet.«

»Ich hab dich niedergestochen. Mit einem riesigen Schwert. Du bist in Flammen aufgegangen.«

Jace’ Lippen zuckten kaum merklich. »Okay«, räumte er ein. »Dann unterscheiden sich unsere Probleme möglicherweise von denen anderer Paare.« Er hob eine Hand, als wollte er ihr Gesicht berühren, ließ sie aber rasch wieder sinken. »Ich hab dich gehört«, meinte er sanft. »Als du mir gesagt hast, dass ich nicht tot sei. Und mich aufgefordert hast, die Augen zu öffnen.«

Schweigend schauten sie einander an; der Moment dauerte wahrscheinlich nur Sekunden, doch er kam Clary wie eine Ewigkeit vor. Es tat so gut, Jace auf diese Weise zu sehen – wieder vollständig er selbst. Dabei vergaß sie fast ihre Sorge, dieses Gespräch könnte in den nächsten Minuten eine schreckliche Wendung nehmen.

Endlich räusperte Jace sich und fragte: »Was glaubst du eigentlich, warum ich mich in dich verliebt habe?«

Diese Bemerkung war das Letzte, womit Clary gerechnet hätte. »Ich… das ist nicht fair, so was zu fragen.«

»Ich finde die Frage total fair«, entgegnete er. »Meinst du, ich würde dich nicht kennen, Clary? Das Mädchen, das in ein Hotel voller Vampire gestiefelt ist, um ihren besten Freund da rauszuholen? Das Mädchen, das ein Portal erschaffen und sich nach Idris teleportiert hat, weil sie die Vorstellung hasste, vom Geschehen ausgeschlossen zu werden?«

»Deswegen hast du mich doch angebrüllt…«

»Ich hab mich selbst angebrüllt«, erwiderte Jace. »In vielerlei Hinsicht sind wir uns schrecklich ähnlich. Wir sind unbesonnen. Wir denken nicht nach, bevor wir handeln. Und wir tun alles für die Menschen, die wir lieben. Mir war nie bewusst, wie Furcht einflößend das für diejenigen gewesen ist, die mich lieben – bis ich es dann bei dir erlebt habe. Und es hat mir eine Heidenangst eingejagt. Wie sollte ich dich beschützen, wenn du dich nicht beschützen lässt?« Er beugte sich vor. »Das ist übrigens eine rein rhetorische Frage.«

»Prima, denn ich brauche keinen Schutz.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest. Aber die Sache ist die: Manchmal brauchst du Schutz. Und manchmal brauche ich Schutz. Wir sind dazu bestimmt, uns gegenseitig zu beschützen, aber nicht vor allem und jedem. Nicht vor der Wahrheit. Denn darum geht es letztendlich – jemanden zu lieben und ihn so zu akzeptieren, wie er ist.«

Clary blickte auf ihre Hände. Sie sehnte sich so danach, sie auszustrecken und Jace zu berühren. Es kam ihr fast vor, als würde sie jemanden im Gefängnis besuchen, wo man sich deutlich und aus unmittelbarer Nähe sehen konnte, aber durch eine bruchsichere Glasscheibe voneinander getrennt war.

»Ich habe mich in dich verliebt, weil du einer der tapfersten Menschen bist, denen ich je begegnet bin«, erklärte Jace. »Also wie sollte ich von dir verlangen, nicht länger tapfer zu sein, nur weil ich dich liebe?« Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare, bis sie wild in alle Richtungen standen und es Clary in den Fingern juckte, sie wieder glatt zu streichen. »Du hast nach mir gesucht und mich gerettet, als die meisten anderen längst das Handtuch geworfen hatten. Selbst diejenigen, die noch nicht aufgegeben hatten, wussten nicht mehr weiter. Glaubst du wirklich, mir ist nicht klar, was du auf dich genommen hast?« Seine Augen nahmen einen dunkleren Ton an. »Wie kommst du bloß auf die Idee, ich könnte auch nur eine Sekunde wütend auf dich sein?«

»Schön und gut, aber warum wolltest du mich dann nicht sehen?«

»Weil…« Jace holte tief Luft. »Okay, gute Frage. Aber es gibt da etwas, das du nicht weißt. Das Schwert, das du benutzt hast… das Raziel Simon gegeben hat…«

»Glorious«, warf Clary ein. »Das Flammenschwert des Erzengels Michael. Es wurde zerstört.«

»Nicht zerstört – vom Himmlischen Feuer verzehrt. Und es ist dorthin zurückgekehrt, wo es herkam.« Jace lächelte matt. »Andernfalls hätte unser Engel echten Erklärungsnotstand gehabt, sobald Michael herausgefunden hätte, dass sein Kumpel Raziel einem Haufen leichtsinniger Menschen sein Lieblingsschwert ausgeliehen hatte. Aber darum geht es gar nicht. Dieses Schwert… die Art und Weise, wie es gebrannt hat… das war kein herkömmliches Feuer.«

»Das hab ich mir schon gedacht.« Clary wünschte, Jace würde die Arme ausstrecken und sie an sich ziehen. Aber da er Wert auf den Abstand zwischen ihnen zu legen schien, rührte sie sich nicht von der Stelle. Dabei bereitete es ihr fast körperliche Schmerzen, ihm so nahe zu sein und ihn nicht berühren zu können.

»Ich wünschte, du hättest nicht diesen Pullover angezogen«, murmelte Jace im nächsten Moment.

»Wie bitte?« Clary schaute an sich herab. »Ich dachte, du magst ihn.«

»Tu ich auch«, erwiderte er, schüttelte dann den Kopf und meinte: »Ach, nicht so wichtig. Na jedenfalls, dieses Feuer… das war Himmlisches Feuer. Der brennende Dornbusch, Feuer und Schwefel, die Feuersäule, die den Kindern Israel den Weg leuchtete – von diesem Feuer reden wir hier. ›Denn ein Feuer ist angegangen durch meinen Zorn und wird brennen bis in die unterste Hölle und wird verzehren das Land mit seinem Gewächs und wird anzünden die Grundfesten der Berge.‹ Dieses Feuer hat alles weggebrannt, was Lilith mir angetan hatte.« Er griff nach dem Saum seines grauen Shirts und hob es hoch.

Clary hielt den Atem an, denn auf der glatten Haut seiner Brust, direkt über seinem Herzen, war Liliths Mal nicht länger zu sehen – nur noch eine weiße Narbe an der Stelle, wo ihn das Engelsschwert durchbohrt hatte. Spontan streckte Clary die Hand aus, um ihn zu berühren.

Doch Jace wich zurück und schüttelte den Kopf. Enttäuschung zeichnete sich auf Clarys Gesicht ab, bevor sie ihre Gefühle verbergen konnte. Gleichzeitig rollte Jace sein Shirt wieder hinunter und wandte sich ihr zu. »Clary… dieses Feuer… es ist noch immer in mir.«

Verständnislos starrte sie ihn an. »Was meinst du damit?«

Jace holte tief Luft und streckte ihr die Hände entgegen, die Handflächen nach unten. Sie sahen aus wie immer: schlank und vertraut, die Voyance-Rune auf seinem rechten Handrücken überlagert von einer Vielzahl weißer Narben. Aber während sie beide darauf starrten, begannen Jace’ Hände leicht zu zittern, bis sie schließlich durchscheinend schimmerten. Genau wie Glorious’ Klinge schien auch seine Haut sich in Glas zu verwandeln… in Glas, unter dem eine goldene Substanz gefangen war, die sich bewegte, ihre Farbe veränderte und brannte. Durch seine transparente Haut konnte Clary die Konturen seines Skeletts erkennen: goldene Knochen, zusammengehalten von flammenden Sehnen.

Im nächsten Moment hörte sie, wie Jace scharf die Luft einsog. Er schaute auf und ihre Blicke trafen sich. Seine Augen leuchteten golden. Sie hatten schon immer einen goldfarbenen Ton besessen, doch Clary hätte schwören können, dass dieses Gold sich nun ebenfalls bewegte und brannte. Jace’ Atmung ging stoßweise und auf seinen Wangen und Schlüsselbeinen glitzerten Schweißperlen.

»Du hast recht«, sagte Clary. »Unsere Probleme unterscheiden sich tatsächlich von denen anderer Paare.«

Sprachlos starrte Jace sie an. Dann ballte er die Hände langsam zu Fäusten, woraufhin das Feuer verschwand und seine ganz normalen, vertrauten und unversehrten Hände zurückließ. Schließlich brachte er ein ersticktes Lachen hervor: »Ist das alles, was dir dazu einfällt?«

»Nein. Mir fällt noch viel mehr dazu ein. Zum Beispiel: Was ist hier eigentlich los? Sind deine Hände jetzt Waffen? Bist du jetzt Die menschliche Fackel? Was um alles in der Welt…«

»Ich weiß nicht, was ›Die menschliche Fackel‹ ist, aber… okay, hör zu, die Stillen Brüder haben mir erklärt, dass ich jetzt das Himmlische Feuer in mir trage. In meinen Adern. In meiner Seele. Als ich aus dem Koma erwacht bin, hatte ich das Gefühl, ich hätte Feuer geschluckt. Alec und Isabelle haben anfangs gedacht, es handelte sich nur um eine vorübergehende Nachwirkung des Schwerts. Doch als der Effekt nicht nachließ und die beiden die Brüder der Stille holten, meinte Bruder Zachariah, er wisse nicht, wie lange die Wirkung andauern würde. Außerdem hab ich ihm eine Verbrennung verpasst: Er berührte meine Hand, als er mir das alles erklärte, und ich spürte plötzlich, wie eine Art Stromschlag durch mich hindurchzuckte.«

»Eine schlimme Verbrennung?«

»Nein, nur eine kleine Brandblase, aber trotzdem…«

»Deswegen willst du mich nicht berühren«, erkannte Clary auf einmal. »Du hast Angst, du könntest mich verbrennen.«

Jace nickte. »Etwas Derartiges gab’s noch nie, Clary. Noch nie. Das Schwert hat mich zwar nicht umgebracht, aber es hat dieses… dieses tödliche Etwas in meinem Inneren hinterlassen. Etwas, das so mächtig ist, dass es vermutlich jeden herkömmlichen Menschen töten würde und möglicherweise auch jeden herkömmlichen Schattenjäger.« Er holte tief Luft. »Im Moment versuchen die Stillen Brüder herauszufinden, wie ich dieses Feuer vielleicht kontrollieren oder sogar loswerden kann. Aber wie du dir sicher vorstellen kannst, stehe ich nicht an oberster Stelle ihrer Prioritätenliste.«

»Weil die Suche nach Sebastian Vorrang hat. Du hast bestimmt gehört, dass ich seine Wohnung zerstört habe. Ich weiß zwar, dass er sich auch auf andere Weise fortbewegt, aber…«

»So kenn ich mein Mädchen. Aber Sebastian hat noch was in der Hinterhand… andere Verstecke. Leider hab ich keine Ahnung, wo die sein könnten. Er hat es mir nie verraten.« Jace beugte sich vor, so nah, dass Clary die schillernden Farben in seinen Augen sehen konnte. »Seit ich aus dem Koma aufgewacht bin, haben die Stillen Brüder mich praktisch keine Minute allein gelassen. Sie mussten die Zeremonie erneut an mir durchführen… du weißt schon, das Ritual, das nach der Geburt jedes Schattenjägerkindes vollzogen wird, um es vor Dämonen zu schützen. Und dann haben sie meinen Geist durchforstet, auf der Suche nach der kleinsten Information über Sebastian… nach Dingen, die ich möglicherweise über ihn weiß, jedoch vergessen oder verdrängt hatte. Aber…« Frustriert schüttelte Jace den Kopf. »Aber da ist einfach nichts. Ich kannte seine Pläne bis zu der Zeremonie in Irland. Doch ich hab keine Ahnung, was er danach vorhat. Wo er als Nächstes zuschlagen wird. Der Rat weiß inzwischen, dass Sebastian mit Dämonen zusammenarbeitet, deswegen wurden die Schutzschilde verstärkt, vor allem rund um Idris. Aber ich hab das Gefühl, dass uns diese ganze Geschichte möglicherweise ein nützliches Detail geliefert hat – irgendein Geheimnis, das nur mir bekannt ist, an das wir jedoch nicht herankommen.«

»Aber selbst wenn du etwas wüsstest, Jace, dann würde Sebastian einfach seine Pläne ändern«, warf Clary ein. »Er weiß, dass er dich verloren hat. Ihr beide wart fest miteinander verbunden. Und ich hab ihn aufschreien hören, als ich dich mit dem Schwert… durchbohrt hab.« Bei der Erinnerung daran schauderte Clary. »Dieser Schrei klang furchtbar verloren. Ich denke, auf eine seltsame Weise hat Sebastian wirklich etwas an dir gelegen. Und obwohl das alles einfach nur schrecklich war, haben wir beide etwas daraus gewinnen können, das irgendwann einmal vielleicht nützlich sein wird.«

»Und das wäre…?«

»Wir verstehen ihn. Ich meine, sofern irgendjemand Sebastian überhaupt verstehen kann. Und das kann er auch nicht ungeschehen machen, indem er seine Pläne ändert.«

Jace nickte langsam. »Weißt du, bei wem ich noch das Gefühl hatte, ich würde ihn inzwischen besser verstehen? Bei meinem Vater.«

»Valen… nein«, berichtigte Clary sich, als sie Jace’ Miene sah. »Du meinst Stephen.«

»Ich habe mir seine Briefe noch mal angesehen und die anderen Dinge, die in dem Kästchen waren, das Amatis mir gegeben hat. Er hatte einen Brief für mich aufgesetzt, den ich nach seinem Tod lesen sollte. Darin fordert er mich auf, ein besserer Mann zu werden, als er es gewesen ist.«

»Das bist du jetzt schon«, sagte Clary. »Während der kurzen Zeit in der Wohnung, als du wieder du selbst warst, da war es dir wichtig, das Richtige zu tun… wichtiger als dein eigenes Leben.«

»Ich weiß«, seufzte Jace und starrte auf seine narbenübersäten Fingerknöchel. »Das ist ja das Merkwürdige: Ich weiß es. Ich hab immer so stark an mir gezweifelt, aber jetzt kenne ich den Unterschied. Zwischen Sebastian und mir. Zwischen Valentin und mir. Sogar den Unterschied zwischen den beiden: Valentin hat ernsthaft geglaubt, er würde das Richtige tun. Er hat Dämonen gehasst. Aber Sebastian… Die Kreatur, die er für seine Mutter hält, ist eine Dämonin. Sebastian würde fröhlich eine Rasse Dunkler Nephilim anführen, die Dämonen anbeten, während dieselben Dämonen unschuldige Menschen in Scharen niedermetzeln. Valentin war zumindest der Überzeugung, dass es die Aufgabe der Schattenjäger sei, die Menschheit zu beschützen; dagegen hält Sebastian sie für Ungeziefer. Er will auch niemanden beschützen. Ihn interessiert nur das, was er noch nicht hat – und nur so lange, wie er es noch nicht hat. Und er kennt nur eine einzige echte Emotion: Hass, wenn nämlich jemand seine Pläne vereitelt.«

Clary dachte einen Moment nach. Sie hatte beobachtet, auf welche Weise Sebastian Jace und auch sie angesehen hatte; sie wusste, dass er sich tief in seinem Inneren einsam fühlte, so einsam wie die schwarze unendliche Leere des Alls. Einsamkeit trieb ihn mindestens so sehr an wie die Gier nach Macht – Einsamkeit und das Bedürfnis nach Liebe, ohne dabei zu begreifen, dass Liebe zu den Dingen zählte, die man sich verdienen musste. Clary seufzte, sagte aber nur: »Na, dann lass uns mit dem Vereiteln seiner Pläne anfangen.«

Ein mattes Lächeln huschte über Jace’ Gesicht. »Du weißt, dass ich dich gern bitten würde, dich aus der Sache rauszuhalten, oder? Uns steht ein brutaler Kampf bevor – brutaler, als der Rat es sich gerade vorstellt.«

»Aber du wirst mich nicht bitten«, erwiderte Clary. »Weil dich das nämlich zu einem Dummkopf machen würde.«

»Weil wir dich zur Erschaffung von Runen benötigen?«

»Ja. Erstens deswegen und zweitens… Hast du dir selbst eigentlich nicht zugehört? Das, was du eben gesagt hast… darüber, dass wir uns gegenseitig beschützen?«

»Dir sollte klar sein, dass ich diese Rede geübt habe. Vor dem Spiegel. Kurz bevor du hierhergekommen bist.«

»Und was wolltest du mir damit eigentlich sagen?«

»Ich bin mir nicht sicher«, räumte Jace ein, »aber ich weiß, dass ich dabei eine verdammt gute Figur abgegeben habe.«

»Mein Gott – ich hatte ganz vergessen, wie nervig dein nicht-besessenes Ich sein kann«, murrte Clary. »Muss ich dich wirklich daran erinnern? Du selbst hast gesagt, du müsstest akzeptieren, dass du mich nicht vor allem und jedem beschützen kannst. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, uns gegenseitig zu beschützen: wenn wir zusammen sind. Wenn wir uns den Dingen gemeinsam stellen. Wenn wir einander vertrauen.« Clary schaute Jace direkt in die Augen. »Ich hätte dich nicht daran hindern dürfen, dich dem Rat zu stellen. Ich sollte deine Entscheidungen respektieren. Genau wie du meine respektieren solltest. Denn wir werden sehr lange zusammen sein – und es gibt nur einen Weg, wie das Ganze funktionieren kann.«

Jace’ Hand schob sich zentimeterweise über die Bettdecke in Clarys Richtung. »Als ich unter Sebastians Einfluss stand…«, setzte er mit heiserer Stimme an. »Das kommt mir jetzt wie ein böser Traum vor. Diese grässliche Wohnung… dieser Schrank voller Klamotten, die für deine Mutter bestimmt waren…«

»Dann erinnerst du dich also«, bemerkte Clary leise.

Seine Fingerspitzen erreichten ihre Hand und Clary wäre beinahe zurückgezuckt. Beide hielten den Atem an, während Jace sie berührte. Clary saß reglos da und beobachtete, wie sich seine Schultern langsam entspannten und der besorgte Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand.

»Ich erinnere mich an jede Einzelheit«, sagte er. »Das Boot in Venedig. Der Club in Prag. Die Nacht in Paris, als ich kurzfristig ich selbst war.«

Clary schoss das Blut in die Wangen und ihr Gesicht begann zu glühen.

»Wir beide haben etwas durchgemacht, das niemand außer uns jemals richtig verstehen wird. Und das hat mich etwas erkennen lassen: Gemeinsam sind wir stärker – immer und überall.« Jace hob den Kopf. Er wirkte blass, aber in seinen Augen loderte das Feuer. »Ich werde Sebastian töten«, verkündete er. »Ich werde ihn für das töten, was er mir angetan hat und was er dir angetan hat und was er Max angetan hat. Ich werde ihn töten für alles, was er getan hat und noch tun wird. Der Rat will seinen Kopf und wird Jäger nach ihm aussenden. Aber ich will, dass er durch meine Hand stirbt.«

Bei diesen Worten streckte Clary ihren Arm aus und berührte ihn an der Wange. Ein Zittern ging durch Jace’ Körper und er senkte leicht die Lider. Clary hatte erwartet, dass sich seine Haut warm anfühlen würde, doch sie war kühl. »Und was wäre, wenn ich diejenige bin, die ihn tötet?«

»Mein Herz ist dein Herz«, erklärte Jace. »Meine Hände sind deine Hände.« Seine honigfarbenen Augen wanderten träge wie flüssiger Honig über Clarys Körper – er schaute sie auf eine Weise an, als würde er sie zum ersten Mal seit ihrem Betreten der Krankenstation richtig wahrnehmen: von den windzerzausten Haaren zu den Stiefeln und wieder zurück. Als sich ihre Blicke schließlich wieder trafen, war Clarys Mund wie ausgedörrt.

»Weißt du noch, wie ich dir ganz am Anfang mal gesagt habe, ich wäre mir zu neunzig Prozent sicher gewesen, dass das Auftragen einer Rune auf deiner Haut dich nicht umbringen würde? Und wie du mir daraufhin eine Ohrfeige verpasst und gesagt hast, das sei für die restlichen zehn Prozent gewesen? Erinnerst du dich?«, fragte Jace.

Clary nickte.

»Bis dahin hatte ich immer angenommen, ein Dämon würde mich eines Tages töten. Ein abtrünniger Schattenweltler. Oder eine Waffe in einer Schlacht. Aber damals ist mir klar geworden, dass ich genauso gut auch auf der Stelle sterben könnte, wenn ich dich nicht küssen dürfte, und zwar bald.«

Langsam fuhr sich Clary mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Na ja, das hast du dann ja auch getan. Mich geküsst, meine ich.«

Jace hob die Hand und nahm eine von Clarys Locken. Er war ihr jetzt so nahe, dass sie die Wärme seines Körpers spürte und den Geruch seiner Seife, seiner Haut und seiner Haare. »Aber nicht oft genug«, murmelte er und ließ ihre Locke durch die Finger gleiten. »Selbst wenn ich dich jeden Tag meines restlichen Lebens von morgens bis abends küssen würde, wäre das noch nicht oft genug«, raunte er und neigte den Kopf.

Clary hob ihm automatisch das Gesicht entgegen; sie konnte gar nichts dagegen machen. Ihre Gedanken kehrten zu jenem Moment in Paris zurück, als sie sich an ihm festgehalten hatte, als wäre es das letzte Mal… was ja auch beinahe der Fall gewesen wäre. Sie erinnerte sich daran, wie er geschmeckt, sich angefühlt und geatmet hatte. Sie konnte ihn auch jetzt atmen hören. Seine Wimpern kitzelten an ihrer Wange. Ihre Lippen trennten nur Millimeter – und dann gar nichts mehr. Leicht streifte sein Mund über ihre Lippen. Dann wurde der Kuss intensiver; sie drängten enger zueinander…

Im nächsten Moment spürte Clary, wie zwischen ihnen ein Funke übersprang – nicht schmerzhaft, eher wie leichte Reibungselektrizität. Hastig wich Jace zurück. Sein Gesicht war gerötet. »Daran müssen wir wahrscheinlich noch arbeiten«, murmelte er.

Clary fühlte sich zwar leicht schwindlig, aber sie stammelte: »Okay.«

Noch immer außer Atem, starrte Jace einen Moment geradeaus. »Es gibt da etwas, das ich dir geben möchte.«

»Das hab ich mir schon gedacht.«

Bei diesen Worten schaute er ruckartig auf und musste fast widerstrebend grinsen. »Nein, nicht das.« Er griff unter den Kragen seines T-Shirts, holte seine Kette mit dem Morgenstern-Ring hervor, zog sie sich über den Kopf und ließ sie in Clarys Hand gleiten. »Alec hat für mich den Ring von Magnus zurückgeholt. Wirst du ihn wieder tragen?«

Clary schloss die Hand um die Kette und den Ring, noch warm von seiner Haut. »Immer.«

Sein verschmitztes Grinsen verwandelte sich in ein sanftes Lächeln. Clary nahm ihren Mut zusammen und legte ihm den Kopf auf die Schulter. Sie spürte, wie er den Atem anhielt, sich aber nicht von der Stelle rührte. Einen Moment saß er reglos da, dann ließ die Anspannung in seinem Körper langsam nach und sie schmiegten sich aneinander – allerdings nicht heiß und leidenschaftlich, sondern sanft und zärtlich.

Schließlich räusperte Jace sich. »Das bedeutet, dass das, was wir fast getan hätten… was wir in Paris beinahe getan hätten…«

»Den Eiffelturm besichtigen?«

Lächelnd schob er ihr eine Locke hinters Ohr. »Du lässt mich aber auch keine Sekunde vom Haken, oder? Ach egal… schließlich ist das eines der Dinge, die ich an dir liebe. Na jedenfalls, diese andere Sache, die wir in Paris fast getan hätten… die dürfte vermutlich für eine Weile vom Tisch sein. Es sei denn, du willst dieses Baby-ein-Kuss-von-dir-und-ich-steh-in-Flammen wörtlich nehmen.«

»Also keine Küsse?«

»Na ja, küssen geht vermutlich schon. Aber der Rest…«

Clary drückte ihre Wange leicht an Jace’ Gesicht. »Für mich ist das okay, wenn es für dich okay ist.«

»Natürlich ist das für mich nicht okay – ich bin ein Teenager. In meinen Augen ist das das Schlimmste, was passieren konnte… zumindest seit ich erfahren habe, wofür man Magnus aus Peru verbannt hat«, brummte Jace, doch dann nahmen seine Augen einen sanften Ausdruck an. »Aber das ändert nichts an dem, was wir füreinander empfinden. Es kommt mir vor, als hätte die ganze Zeit über ein Stück meiner Seele gefehlt… und dieses Stück bist du, Clary. Ich weiß, ich hab dir mal gesagt, dass ich nicht wüsste, ob es einen Gott gibt oder nicht, aber dass wir so oder so auf uns allein gestellt wären. Doch das stimmt nicht: Mit dir zusammen bin ich nie allein.«

Clary schloss die Augen, damit Jace ihre Tränen nicht sehen konnte… Tränen des Glücks, zum ersten Mal seit langer Zeit. Obwohl Jace seine Hände ganz bewusst in seinem Schoß verschränkte, empfand Clary ein derart überwältigendes Gefühl der Erleichterung, dass alles andere plötzlich unwichtig war. Die Sorge, wo Sebastian stecken mochte, die Angst vor einer unbekannten Zukunft, all das trat in den Hintergrund. Denn nichts davon spielte eine Rolle. Sie waren zusammen und Jace war wieder er selbst – das war das Einzige, das zählte. Clary spürte, wie er den Kopf drehte und sie sanft auf den Scheitel küsste.

»Ich wünschte wirklich, du hättest diesen Pullover nicht angezogen«, murmelte er ihr ins Ohr.

»Na, das ist doch schon mal ’ne prima Übung für dich«, erwiderte Clary und drückte ihre Lippen kurz an seine Wange. »Ab morgen trag ich dann Netzstrümpfe.« Und dann hörte sie ihn leise lachen – warm und vertraut an ihrer Seite.

»Bruder Enoch«, sagte Maryse und erhob sich von ihrem Stuhl hinter dem Schreibtisch. »Danke, dass ihr so schnell hergekommen seid.«

Geht es um Jace?, fragte Bruder Zachariah, den Maryse ebenfalls in die Bibliothek gebeten hatte und in dessen Gedanken sie einen Hauch Besorgnis zu entdecken glaubte. Aber das bildete sie sich wahrscheinlich nur ein. Ich habe heute bereits mehrmals nach ihm gesehen. Sein Zustand ist unverändert, fuhr Zachariah fort.

Enoch trat näher an Maryse heran. Und ich habe Nachforschungen im Archiv und in den alten Dokumenten zum Himmlischen Feuer angestellt. Dort finden sich tatsächlich Informationen dazu, wie man das Feuer möglicherweise freisetzen kann, aber du musst Geduld haben. Es besteht kein Grund, uns herbeizurufen. Sollten wir irgendwelche Neuigkeiten haben, werden wir dich sofort in Kenntnis setzen.

»Es hat nichts mit Jace zu tun«, erklärte Maryse. Sie trat um den Tisch herum, wobei ihre Absätze laut auf dem Parkett klackten. »In diesem Fall geht es um etwas völlig anderes.« Sie warf einen vielsagenden Blick auf den Holzboden mit den Intarsien, die die Umrisse des Engels mit dem Schwert und dem Kelch zeigten: Auf einer Stelle, wo sich normalerweise kein Teppich befand, lag nun ein Läufer – nicht flach ausgebreitet, sondern über ein unregelmäßig geformtes Bündel drapiert. Maryse bückte sich, packte einen Zipfel des Läufers und riss ihn zur Seite.

Die Brüder der Stille keuchten nicht laut auf – natürlich nicht, denn schließlich konnten sie keinen Laut von sich geben. Doch in Maryses Kopf ertönte ein Echo ihrer Bestürzung und ihres Entsetzens. Bruder Enoch wich einen Schritt zurück, während Bruder Zachariah sich eine Hand vors Gesicht hielt, als könnte er seine blinden Augen dadurch vor dem Anblick auf dem Boden bewahren.

»Heute Morgen war das noch nicht hier«, sagte Maryse. »Aber als ich am Nachmittag wieder hergekommen bin, erwartete mich diese Überraschung.«

Im ersten Moment hatte sie gedacht, ein großer Vogel wäre irgendwie in die Bibliothek gelangt und darin gestorben, nachdem er sich beim Aufprall gegen eines der hohen Fenster den Nacken gebrochen hatte. Doch als sie näher herangetreten war, hatte sie erkannt, worum es sich tatsächlich handelte. Den Stillen Brüdern gegenüber erzählte sie jedoch weder von dem furchtbaren Schock, der ihr wie ein Pfeil durch die Eingeweide geschossen war, noch davon, wie sie zum Fenster getaumelt war und sich in die Blumenbeete erbrochen hatte, als ihr bewusst wurde, was sie da sah:

Ein paar weiße Schwingen – allerdings nicht einheitlich weiß, sondern in vielen, miteinander verschmelzenden Farben: helles Silber, violette Streifen, dunkles Blau… jede Feder in Gold gefasst. Und dann, am Ansatz, blutige Reste von abgetrennten Knochen und Sehnen. Engelsschwingen, die einem Engel bei lebendigem Leibe abgeschnitten worden waren. Engelssekret, von der Farbe flüssigen Goldes, hatte sich auf dem Boden verteilt. Auf den Schwingen lag ein zusammengefalteter Zettel, an das New Yorker Institut adressiert.

Nachdem Maryse sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, war sie in die Bibliothek zurückgekehrt, hatte den Zettel an sich genommen und ihn gelesen. Die Nachricht war kurz, nur eine einzige Zeile, und mit einem Namen in einer seltsam vertrauten Schrift unterzeichnet. Denn darin erkannte sie Valentins Handschrift wieder: seine schwungvollen Buchstaben, sein kräftiger, sicherer Federstrich. Doch nicht Valentins Name stand unter dem Brief, sondern der seines Sohnes.

Jonathan Christopher Morgenstern.

Maryse hielt den Zettel Bruder Zachariah entgegen, der ihn nahm und auseinanderfaltete. Genau wie Maryse las er das einzige altgriechische Wort, das in einer kunstvollen Handschrift auf dem Papierbogen prangte:

Erchomai, stand dort.

Ich komme.

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