I Kein böser Engel

Liebe ist ein Kobold; Liebe ist ein Teufel; es gibt keinen bösen Engel, als die Liebe.

William Shakespeare, »Liebes Leid und Lust«[1]

1 Die letzte Ratssitzung

Zwei Wochen später

»Wie lange wird es denn noch dauern, bis das Urteil endlich gefällt ist?«, fragte Clary. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen mit Warten verstrichen war, aber es fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an. In Isabelles schwarz und pink dekoriertem Zimmer gab es keine Uhren – nur Kleiderhaufen, Bücherstapel, Unmengen von Waffen und einen Frisiertisch mit wahllos herumliegenden Make-up-Utensilien, benutzten Haarbürsten und offenen Schubladen, aus denen Spitzenslips, hauchdünne Seidenstrümpfe und Federboas hervorquollen. Das Ganze erinnerte an die Künstlergarderobe von Ein Käfig voller Narren, aber im Laufe der vergangenen zwei Wochen hatte Clary so viel Zeit inmitten dieses glitzernden und glänzenden Durcheinanders verbracht, dass es allmählich eine beruhigende Wirkung auf sie ausübte.

Isabelle stand mit Church auf dem Arm am Fenster. Geistesabwesend streichelte sie den Kater, der sie aus unheilvollen gelben Augen musterte. Auf der anderen Seite des Fensters tobte ein schwerer Novembersturm und der Regen lief wie Klarlack an den Scheiben herunter. »Nicht mehr lange«, erwiderte sie gedehnt. Sie trug kaum Make-up, nur etwas Wimperntusche, wodurch sie jünger wirkte und ihre dunklen Augen größer erschienen. »Wahrscheinlich fünf Minuten oder so.«

Clary saß auf Izzys Bett, zwischen herumliegenden Modezeitschriften und klirrenden Seraphklingen, und musste mehrfach schlucken, um den bitteren Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Ich bin gleich wieder zurück. Ich brauch nur fünf Minuten.

Das waren ihre letzten Worte auf der Dachterrasse gewesen – zu dem Jungen, den sie mehr als alles andere auf der Welt liebte. Inzwischen hatte sie das Gefühl, dass es möglicherweise ihre letzten Worte für Jace gewesen sein könnten.

Clary erinnerte sich noch genau an jenen Augenblick: Die Dachterrasse. Die kristallklare Oktobernacht. Die kalt funkelnden Sterne am wolkenlosen schwarzen Himmel. Die Steinplatten, mit schwarzen Runen verunstaltet und mit Blut und Dämonensekret beschmiert. Jace’ Mund auf ihren Lippen – das einzig Warme in dieser eisigen Welt. Der Morgenstern-Ring an ihrer Halskette. Die Liebe, die kreisen macht die Sonne wie die Sterne. Ihr letzter Blick hinüber zu Jace, als sich die Tür des Aufzugs geschlossen und dieser sie in die Schatten des Gebäudes hinuntergezogen hatte. Sie hatte die anderen im Foyer getroffen, ihre Mutter, Luke und Simon umarmt. Aber wie immer war ein Teil von ihr bei Jace zurückgeblieben, auf der Dachterrasse, allein mit ihm hoch oben über der kalten, leuchtenden, elektrisch funkelnden Stadt.

Maryse und Kadir waren in den Aufzug gestiegen und hochgefahren, um zu Jace zu stoßen und sich die Überreste von Liliths Ritual anzusehen. Es hatte etwa zehn Minuten gedauert, ehe Maryse schließlich zurückgekehrt war, allein, ohne Kadir. Als die Aufzugstür aufschwang und Clary ihr Gesicht sah, kreidebleich, angespannt und aufgewühlt, da wusste sie sofort, dass etwas Schreckliches passiert war.

Die darauffolgenden Minuten erlebte Clary wie in einem Albtraum. Die Gruppe der Schattenjäger im Foyer stürmte auf Maryse zu; Alec löste sich von Magnus und Isabelle sprang von der Bank auf. Weiße Lichtstrahlen durchschnitten die Dunkelheit wie Kamerablitze an einem Tatort, als ein Nephilim nach dem anderen seine Seraphklinge zückte und in die Höhe hielt. Während Clary sich durch die Menge arbeitete, hörte sie bruchstückweise, was vorgefallen war: Die Dachterrasse hatte verlassen dagelegen; Jace war verschwunden. Der gläserne Sarg, in dem Sebastian geschwebt hatte, war zertrümmert; die Glasscherben lagen überall verstreut. Blut, frisches Blut, tropfte von dem Sockel, auf dem der Sarg gestanden hatte.

Die Schattenjäger einigten sich rasch auf einen Plan und strömten dann in alle Richtungen davon, um die Gegend um das Gebäude herum abzusuchen. Mit blaue Funken sprühenden Fingern kam Magnus auf Clary zu und fragte, ob sie einen Gegenstand von Jace besaß, mit dem er versuchen konnte, den jungen Nephilim zu orten. Benommen gab Clary ihm den Morgenstern-Ring und zog sich anschließend in eine Ecke zurück, um Simon anzurufen. Sie hatte gerade ihr Handy zugeklappt, als eine Schattenjägerstimme alle anderen übertönte: »Orten? Das funktioniert doch nur, wenn er noch lebt. Aber bei der Blutmenge ist das nicht sehr wahrscheinlich…«

Irgendwie war das der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Fortdauernde Unterkühlung, Erschöpfung und Schock machten sich schlagartig bemerkbar und Clary spürte, wie ihre Knie nachgaben. Ihre Mutter konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Danach war alles dunkel und verschwommen. Als sie am nächsten Morgen in ihrem Bett in Lukes Haus aufwachte, setzte sie sich ruckartig und mit wild pochendem Herzen auf, fest davon überzeugt, dass sie einen Albtraum gehabt hatte.

Aber während sie sich aus den zerwühlten Bettlaken kämpfte, erzählten ihr die verblassenden Blutergüsse an ihren Armen und Beinen eine andere Geschichte, eine Geschichte, die durch den fehlenden Morgenstern-Ring bestätigt wurde. Hastig sprang Clary in ihre Jeans, streifte einen Kapuzenpullover über und wankte ins Wohnzimmer, wo Jocelyn, Luke und Simon mit düsterer Miene dasaßen. Obwohl sich die Frage eigentlich erübrigte, stieß sie dennoch hektisch hervor: »Hat man ihn gefunden? Ist Jace wieder da?«

Langsam erhob Jocelyn sich aus ihrem Sessel. »Nein, Süße, er ist weiterhin wie vom Erdboden verschluckt…«

»Aber nicht tot? Man hat keinen Leichnam gefunden?« Clary ließ sich neben Simon auf das Sofa fallen. »Nein – er ist nicht tot. Das würde ich wissen

Während Clary nun auf Isabelles Bett saß, erinnerte sie sich wieder daran, wie Simon ihre Hand gehalten hatte, als Luke die wenigen Informationen zusammengefasst hatte: Jace war noch immer verschwunden, genau wie Sebastian. Außerdem hatte Luke eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte lautete: Das Blut auf dem Sockel hatte identifiziert werden können – es stammte von Jace. Aber die gute Nachricht war: Es handelte sich um deutlich weniger Blut als ursprünglich angenommen. Offenbar hatte es sich mit dem Wasser aus dem zertrümmerten Sarg vermischt und so den Eindruck einer gewaltigen Blutmenge erweckt. Daher war es durchaus möglich, dass Jace überlebt hatte – was auch immer mit ihm passiert sein mochte.

»Aber was genau ist denn passiert?«, hakte Clary nach.

Luke schüttelte den Kopf, seine blauen Augen schauten traurig. »Das weiß niemand, Clary.«

In dem Moment fühlte es sich so an, als würde Eiswasser durch ihre Adern strömen. »Ich will bei der Suche helfen. Irgendwas tun. Und nicht nutzlos rumsitzen, während Jace vermisst wird.«

»Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Sorgen machen«, bemerkte Jocelyn grimmig. »Der Rat will dich nämlich sprechen.«

Unsichtbare Eiskristalle knackten in Clarys Gelenken und Sehnen, als sie aufstand. »Prima. Von mir aus. Ich werde ihnen alles erzählen, was sie wissen wollen, wenn sie dafür Jace finden.«

»Du wirst ihnen alles erzählen, was sie wissen wollen, weil sie das Engelsschwert haben.« Verzweiflung schwang in Jocelyns Stimme mit. »Ach, Süße, es tut mir so leid.«

Nach zwei Wochen ständiger Befragungen, nach etlichen Zeugenaussagen und nachdem sie das Engelsschwert etwa ein Dutzend Mal in den Händen gehalten und Bericht erstattet hatte, saß sie jetzt hier in Isabelles Zimmer und wartete darauf, dass der Rat über ihr weiteres Schicksal entschied. Bei der Erinnerung an das Engelsschwert fuhr Clary ein Schauer über den Rücken: Es hatte sich angefühlt, als würden sich winzige Angelhaken in ihre Haut bohren und ihr die Wahrheit förmlich aus dem Körper ziehen. Sie hatte auf dem Boden gekniet, inmitten der Sprechenden Sterne, das Schwert in den Händen, und ihre eigene Stimme gehört, die den Ratsmitgliedern alles erzählte: wie Valentin den Erzengel Raziel herbeigerufen und wie sie ihrem Vater die Macht über den Engel aus der Hand genommen hatte, indem sie seinen Namen mit ihrem eigenen überschrieb. Wie der Engel ihr eine Gunst gewährt und sie diese genutzt hatte, um Jace von den Toten zurückzuholen. Außerdem hatte sie dem Rat berichtet, wie Lilith von Jace Besitz ergriffen und versucht hatte, mit Simons Blut Sebastian wiederzubeleben – Clarys Bruder, den Lilith als ihren Sohn betrachtet hatte. Und wie Simons Kainsmal Lilith vernichtet hatte, weshalb sie Sebastian ebenfalls als besiegt und nicht länger als eine Gefahr betrachtet hatten.

Clary seufzte und klappte ihr Handy auf, um nach der Uhrzeit zu sehen. »Die Ratsmitglieder sitzen jetzt schon seit einer Stunde zusammen und beraten sich«, sagte sie. »Ist das normal? Oder ist das ein schlechtes Zeichen?«

Isabelle setzte Church auf den Boden, der sich miauend beschwerte. Dann kam sie zum Bett und hockte sich neben Clary. Die junge Schattenjägerin erschien zwar noch schlanker als sonst – genau wie Clary hatte sie während der vergangenen zwei Wochen Gewicht verloren –, wirkte aber in ihrer schwarzen Röhrenhose und dem taillierten grauen Samttop elegant wie eh und je. Die Wimperntusche war leicht verschmiert. Eigentlich hätte sie dadurch aussehen müssen wie ein Waschbär, doch stattdessen wirkte sie nur noch mehr wie ein französischer Filmstar. Als Izzy mit den Händen gestikulierte, klimperten ihre Elektrumarmbänder mit den Runenanhängern melodisch. »Nein, das ist kein schlechtes Zeichen«, erklärte sie. »Es bedeutet lediglich, dass die Ratsmitglieder viel zu besprechen haben.« Nachdenklich drehte sie den Lightwood-Ring an ihrem Finger. »Mach dir keine Sorgen. Schließlich hast du nicht gegen das Gesetz verstoßen und das ist die Hauptsache.«

Clary seufzte. Nicht einmal die Wärme von Isabelles Schulter an ihrem Oberarm konnte das Eis in ihren Adern zum Schmelzen bringen. Ihr war klar, dass sie streng genommen kein einziges Gesetz gebrochen hatte, aber sie wusste auch, dass der Rat furchtbar wütend auf sie war. Schattenjäger durften niemanden von den Toten erwecken, aber das galt nicht für den Erzengel; trotzdem war ihre Bitte an den Engel, Jace ins Leben zurückzuholen, von derart großer Tragweite gewesen, dass sie und Jace beschlossen hatten, niemandem davon zu erzählen.

Aber jetzt war die ganze Sache doch noch ans Licht gekommen und hatte die Nephilimgemeinschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Clary wusste, dass die Ratsmitglieder sie bestrafen wollten – und sei es nur deshalb, weil ihre Bitte solch katastrophale Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Tief in ihrem Inneren wünschte sie sich fast, man würde sie bestrafen… ihr die Knochen brechen, die Fingernägel herausreißen, ihren Verstand mit den messerscharfen Gedanken der Stillen Brüder durchforsten. Eine Art Teufelspakt: ihr eigener Schmerz im Tausch gegen Jace’ unversehrte Rückkehr. Das würde ihr auch gegen ihre Gewissensbisse helfen, weil sie Jace allein auf der Dachterrasse zurückgelassen hatte – selbst wenn Isabelle und die anderen ihr schon hundert Mal versichert hatten, das sei lächerlich. Schließlich hatten sie alle angenommen, dass es dort oben ungefährlich für ihn war. Und außerdem: Wenn Clary bei ihm geblieben wäre, würde sie jetzt wahrscheinlich ebenfalls zu den Vermissten zählen.

»Hör auf damit«, sagte Isabelle.

Einen Moment lang war Clary sich nicht sicher, ob Izzy mit ihr oder mit dem Kater sprach. Denn Church zog mal wieder seine Show ab, die er gern inszenierte, wenn man ihn absetzte: Er lag auf dem Rücken, alle viere in die Luft gestreckt, und stellte sich tot, um seinem Frauchen ein schlechtes Gewissen zu machen. Doch als Isabelle ihre schwarzen Haare nach hinten warf und Clary anfunkelte, erkannte sie, dass sie gemeint war und nicht der Kater. »Womit soll ich aufhören?«, fragte sie.

»In düsteren Gedanken zu versinken, was dir für schreckliche Dinge zustoßen könnten – oder was für schreckliche Dinge du dir sogar wünschst, weil du lebst und Jace… verschwunden ist.« Isabelles Stimme machte einen kleinen Satz wie die hüpfende Nadel eines Tonabnehmers auf einer Schallplatte. Die Worte, dass Jace vielleicht tot war, brachte sie nicht über die Lippen – sie und Alec weigerten sich, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

Und Isabelle hatte ihr auch nie Vorwürfe gemacht, weil sie solch ein gewaltiges Geheimnis nicht mit ihr geteilt hatte, überlegte Clary. Tatsächlich hatte sie sich in letzter Zeit als ihre unerschütterliche Beschützerin entpuppt: Isabelle hatte sie jeden Tag an der Tür zum Ratssaal abgefangen, sich fest bei Clary untergehakt, um dann gemeinsam an der Meute finster starrender, murmelnder Nephilim vorbeizumarschieren. Und sie hatte während endlos langer Ratsbefragungen geduldig auf Clary gewartet und jedem einen scharfen Blick zugeworfen, der es wagte, sie auch nur schräg anzusehen. Clary war vollkommen überrascht gewesen. Sie hätte sich und Isabelle nicht unbedingt als beste Freundinnen bezeichnet – schließlich gehörten sie beide eher zu der Sorte Mädchen, die mit Jungs besser klarkamen als mit anderen weiblichen Wesen. Aber Isabelle war ihr nicht von der Seite gewichen, worüber Clary ebenso verwundert wie dankbar war.

»Ich kann einfach nicht anders«, erwiderte Clary nun. »Wenn ich an der Suche teilnehmen dürfte – oder wenigstens irgendetwas tun dürfte –, dann wäre es nicht ganz so schlimm, glaub ich.«

»Ich weiß nicht recht.« Isabelle klang müde. Während der vergangenen zwei Wochen waren sie und Alec jeden Abend nach sechzehnstündigen Patrouillen und Suchaktionen erschöpft ins Institut zurückgewankt.

Als Clary herausfand, dass es ihr verboten war, sich an den Suchtrupps zu beteiligen oder auf sonstige Weise nach Jace zu suchen, bis der Rat seinen Beschluss gefasst hatte, war sie so wütend geworden, dass sie ein Loch in ihre Schlafzimmertür getreten hatte.

»Manchmal kommt mir das alles so nutzlos vor«, fügte Isabelle hinzu.

Eine eisige Kälte kroch knackend durch Clarys Knochen. »Soll das heißen, du glaubst, er ist tot?«

»Nein, natürlich nicht. Ich glaube nur, dass er unmöglich noch in New York sein kann.«

»Aber in anderen Städten werden doch ebenfalls Suchaktionen durchgeführt, oder nicht?« Reflexartig griff Clary an ihren Hals und vergaß, dass der Morgenstern-Ring sich nicht länger dort befand. Magnus hatte ihn noch immer, um Jace zu orten, obwohl bisher nichts dabei herausgekommen war.

»Selbstverständlich suchen sie auch in anderen Städten nach ihm.« Isabelle beugte sich vor und berührte vorsichtig die winzige Silberglocke, die statt des Rings um Clarys Hals hing. »Was ist das?«, fragte sie neugierig.

Clary zögerte. Die Glocke war ein Geschenk der Elbenkönigin. Nein, das stimmte nicht ganz, denn die Königin des Lichten Volkes machte keine Geschenke. Diese Silberglocke diente nur dazu, Kontakt mit ihr aufzunehmen, wenn Clary ihre Hilfe benötigte. Als mehr und mehr Tage ohne ein Zeichen von Jace verstrichen, hatte Clary sich immer wieder dabei ertappt, wie ihre Hand nach der Glocke tastete. Doch bisher hatte sie sich nicht getraut, sie zu läuten, weil sie wusste, dass sie ohne eine Furcht einflößende Gegenleistung keine Unterstützung von der Elbenkönigin bekommen würde.

Doch ehe Clary Isabelles Frage beantworten konnte, wurde die Tür geöffnet. Ruckartig setzten beide Mädchen sich auf, dabei umklammerte Clary eines von Isabelles rosa Zierkissen so fest, dass sich die Strasssteinchen in ihre Handflächen drückten.

»Hi.« Eine schlanke Gestalt betrat das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu: Alec, Isabelles älterer Bruder, trug die offizielle Ratskleidung – eine schwarze Robe, mit silbernen Runen durchwirkt – offen über seiner Jeans und einem schwarzen Langarmshirt. Die dunkle Kleidung ließ seine helle Haut noch blasser erscheinen und seine kristallblauen Augen noch blauer leuchten. Seine Haare waren genauso schwarz und glatt wie die seiner Schwester, allerdings kürzer, sodass sie ihm nur bis zum Kinn reichten. Und er hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

Clarys Herz begann, wild zu schlagen. Alec wirkte nicht sehr glücklich. Was auch immer für Neuigkeiten er hatte, sie konnten nicht gut sein.

Isabelle fand als Erste ihre Stimme wieder. »Wie ist die Sitzung gelaufen?«, fragte sie leise. »Wie lautet das Urteil?«

Schweigend ging Alec zu ihrem Frisiertisch und setzte sich auf den Stuhl, sodass er Izzy und Clary über die Lehne hinweg ansehen konnte. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre dieser Anblick komisch gewesen: Alec war ziemlich groß und hatte lange Beine wie ein Tänzer, die er nun unbeholfen um den Stuhl schlang, der dadurch wie ein Möbelstück aus einem Puppenhaus wirkte. »Clary«, setzte er an. »Jia Penhallow hat das Urteil verkündet: Du bist von allen Vorwürfen freigesprochen. Du hast gegen kein einziges Gesetz verstoßen und Jia ist der Überzeugung, dass du durch die jetzige Situation schon genug gestraft bist.«

Isabelle atmete hörbar aus und lächelte. Einen Moment lang brach ein Anflug von Erleichterung die dicke Eisschicht auf, die Clary zu erdrücken drohte. Man würde sie nicht bestrafen – sie nicht in der Stadt der Stille einkerkern, einem Ort, von dem aus sie Jace nicht helfen konnte. Luke, der als Repräsentant der Werwölfe bei der Urteilsverkündung dabei gewesen war, hatte versprochen, Jocelyn sofort nach dem Ende der Ratssitzung anzurufen, doch Clary griff trotzdem nach ihrem Handy; die Aussicht darauf, ihrer Mutter zur Abwechslung einmal gute Nachrichten überbringen zu können, war einfach zu verlockend.

»Clary«, sagte Alec in dem Augenblick, als sie ihr Telefon aufklappte. »Warte.«

Erstaunt schaute Clary ihn an: Sein Gesichtsausdruck war noch immer so ernst wie der eines Leichenbestatters. Plötzlich wurde sie von einer bösen Vorahnung gepackt und legte ihr Handy auf das Bett. »Alec – was ist los?«, fragte sie leise.

»Nicht deinetwegen hat der Rat so lange getagt«, setzte Alec an. »Es gab noch etwas anderes zu besprechen.«

Das eisige Gefühl kehrte schlagartig zurück. Clary zitterte. »Jace?«

»Nicht direkt.« Alec beugte sich vor und umfasste die Stuhllehne mit beiden Händen. »In den frühen Morgenstunden ist ein Bericht aus dem Moskauer Institut eingetroffen. Die Schutzschilde über der Wrangelinsel sind gestern zerstört worden. Inzwischen hat man zwar einen Reparaturtrupp losgeschickt, aber die Tatsache, dass so wichtige Schutzschilde so lange außer Wirkung gesetzt waren… na ja, das hat jetzt für den Rat oberste Priorität.«

Die Schutzschilde waren von der ersten Schattenjägergeneration errichtet worden. Wie Clary aus dem Codex wusste, umgaben sie die Erde wie eine Art magisches Abwehrsystem. Zwar gelang es manchen Dämonen, diese Schranken zu durchbrechen, aber nur mit erheblichem Aufwand, sodass die große Mehrheit dieser Höllenwesen ferngehalten und die Welt dadurch vor einer gewaltigen Dämoneninvasion bewahrt wurde. Clary erinnerte sich an Jace’ Worte, als er ihr vor einer gefühlten Ewigkeit erklärt hatte: Früher gab es nur kleine Invasionen von Dämonen, mit denen man leicht fertig werden konnte. Aber allein seit dem Jahr meiner Geburt sind mehr Dämonen durch die Schranken gedrungen als in allen Jahren davor zusammengenommen.

»Okay, das ist übel«, räumte Clary ein. »Aber ich wüsste nicht, was das mit Jace zu tun hat…«

»Der Rat setzt seine eigenen Prioritäten«, unterbrach Alec sie. »Während der vergangenen zwei Wochen hatte die Suche nach Jace und Sebastian absoluten Vorrang. Aber inzwischen hat man jeden Winkel der Schattenwelt durchkämmt, ohne auch nur eine Spur von ihnen zu finden. Keine von Magnus’ Ortungsbemühungen hat etwas ergeben. Elodie, die Frau, bei der der echte Sebastian Verlac aufgewachsen ist, hat bestätigt, dass niemand versucht hat, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Das war ohnehin ziemlich weit hergeholt. Auch von den bekannten Mitgliedern aus Valentins ehemaligem Kreis wurden keine ungewöhnlichen Aktivitäten berichtet. Und die Stillen Brüder haben noch nicht herausfinden können, was das Ritual, das Lilith vollzogen hat, genau bewirken sollte und ob es überhaupt erfolgreich war. Man nimmt allgemein an, dass Sebastian – den die Ratsmitglieder natürlich bei seinem richtigen Namen, Jonathan, nennen – Jace entführt hat, aber das ist uns ja nicht neu.«

»Und was jetzt?«, fragte Isabelle. »Bedeutet das, dass die Suchtrupps verstärkt werden? Mehr Patrouillen durchgeführt werden?«

Alec schüttelte den Kopf. »Die Ratsmitglieder haben nicht davon gesprochen, die Suche zu intensivieren«, sagte er leise. »Im Gegenteil: Sie stufen die Priorität herunter. Inzwischen sind zwei Wochen verstrichen, ohne Ergebnis. Die Spezialeinheiten, die extra aus Idris angereist sind, kehren nach Hause zurück. Das Problem mit den Schutzschilden hat jetzt Vorrang. Ganz zu schweigen davon, dass der Rat sich derzeit in schwierigen Verhandlungen befindet, die Gesetze für die Neuzusammensetzung der Kongregation überarbeiten, neben dem neuen Konsul auch einen neuen Inquisitor ernennen und die ungleiche Behandlung von Schattenweltlern beenden muss… Von diesen Aufgaben will man sich nicht komplett ablenken lassen.«

Clary starrte Alec an. »Sie wollen nicht, dass Jace’ Verschwinden ihren Zeitplan zur Überarbeitung irgendwelcher dämlicher alter Gesetze durcheinanderwirft? Das heißt, sie geben auf?«

»Nein, so kann man das nicht sagen…«

»Alec«, stieß Isabelle scharf hervor.

Ihr Bruder holte tief Luft und schlug resigniert die Hände vors Gesicht. Er hatte lange Finger, die voller Narben waren, genau wie Jace, dachte Clary. Das augenförmige Runenmal aller Nephilim leuchtete auf dem Rücken seiner rechten Hand. »Clary, für dich – für uns – ging es bei dieser Suche immer um Jace. Der Rat interessiert sich natürlich auch für Jace, aber vorrangig für Sebastian. Denn er stellt die Gefahr dar. Er hat die Schutzschilde von Alicante zerstört. Er ist ein Massenmörder. Jace ist…«

»Nur ein weiterer Schattenjäger«, fiel ihm Isabelle ins Wort. »Wir sterben und verschwinden ständig.«

»Selbstverständlich ist man ihm für seine heldenhaften Taten in der Großen Schlacht dankbar«, räumte Alec ein. »Aber letztendlich hat der Rat keinen Zweifel gelassen: Die Suche wird zwar nicht eingestellt, aber auch nicht mehr so intensiv vorangetrieben. Das Ganze ist eine Geduldsprobe. Man wartet darauf, dass Sebastian den nächsten Schritt macht. In der Zwischenzeit steht die Suche nach Jace nur noch an dritter Stelle auf der Prioritätenliste. Wenn überhaupt. Man erwartet von uns, dass wir unser normales Leben wieder aufnehmen.«

Normales Leben? Clary konnte es einfach nicht glauben. Ein normales Leben ohne Jace?

»Genau dasselbe wurde uns auch nach Max’ Tod geraten«, bemerkte Izzy mit erstickter Stimme, während ihre schwarzen Augen vor Zorn brannten. »Man hat uns erzählt, dass wir den Kummer schneller hinter uns lassen könnten, wenn wir unser normales Leben wieder aufnehmen würden.«

»Das soll angeblich helfen«, murmelte Alec hinter seinen Fingern.

»Dann erzähl das mal Dad. Ist er überhaupt aus Idris angereist, um an der Sitzung teilzunehmen?«

Alec schüttelte den Kopf und nahm die Hände herunter. »Nein. Falls es euch irgendwie ein Trost ist… während der Sitzung haben sich eine Menge Leute für die Fortsetzung der Suche starkgemacht: Magnus, Luke natürlich, Konsulin Penhallow, sogar Bruder Zachariah. Aber letztendlich konnten sie nichts ausrichten.«

Ruhig musterte Clary den jungen Schattenjäger. »Alec, spürst du denn gar nichts?«, fragte sie.

Alecs Augen verdunkelten sich und für einen Moment erinnerte Clary sich an den Jungen, der sie bei ihrer Ankunft im Institut gehasst hatte – der Junge mit den abgekauten Nägeln und dem löchrigen Pullover und dem superempfindlichen Ego. »Ich weiß, dass dich die Sache ziemlich mitnimmt, Clary«, erwiderte er scharf, »aber wenn du damit andeuten willst, dass Izzy und ich uns weniger um Jace sorgen als du…«

»Nein, natürlich nicht«, versicherte Clary hastig. »Ich meinte eigentlich eure Parabatai-Verbindung. Im Codex hab ich vor Kurzem von dieser Zeremonie gelesen und weiß, dass die beiden Parabatai dadurch auf besondere Weise miteinander verbunden sind. Du kannst bestimmte Dinge von Jace wahrnehmen. Dinge, die euch im Kampf helfen. Daher dachte ich… na ja, kannst du vielleicht fühlen, ob Jace noch lebt?«

»Clary.« Isabelle klang besorgt. »Ich dachte, du wolltest nicht…«

»Er lebt«, sagte Alec vorsichtig. »Glaubst du, ich wäre noch derart handlungsfähig, wenn Jace nicht mehr leben würde? Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, etwas läuft total schief. Das kann ich spüren. Aber er atmet zumindest noch.«

»Könnte es sich bei dem, was du als ›schieflaufen‹ bezeichnest, vielleicht darum handeln, dass er irgendwo gefangen gehalten wird?«, fragte Clary bedrückt.

Nachdenklich schaute Alec zum Fenster, gegen dessen Scheibe graue Regenschwaden klatschten. »Möglicherweise. Ich kann es nicht erklären. Etwas Vergleichbares hab ich noch nie gefühlt.«

»Aber Jace lebt.«

Alec blickte Clary direkt in die Augen. »Da bin ich mir absolut sicher.«

»Dann pfeif auf den Rat. Wir werden Jace auf eigene Faust finden«, verkündete Clary.

»Clary… wenn das möglich wäre… meinst du nicht, dass wir dann längst…«, setzte Alec an.

»Bisher haben wir nur das getan, was der Rat von uns verlangt hat«, warf Isabelle ein. »Patrouillen, Suchtrupps. Aber es gibt noch andere Mittel und Wege.«

»Wege, die gegen das Gesetz verstoßen, meinst du wohl«, erwiderte Alec zögerlich.

Clary hoffte, er würde jetzt nicht den Schattenjäger-Wahlspruch zitieren: Dura lex sed lex – das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz. Das würde sie jetzt nicht ertragen können. »Die Elbenkönigin hat angeboten, mir einen Gefallen zu tun«, sagte sie rasch. »Bei der Siegesfeier in Idris.« Die Erinnerung an jene Nacht, in der sie so glücklich gewesen war, versetzte ihr einen Stich ins Herz, und sie brauchte einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen. »Und sie hat mir einen Weg gezeigt, um mit ihr Kontakt aufzunehmen.«

»Die Königin des Lichten Volkes macht keine Geschenke.«

»Das weiß ich. Was auch immer sie im Gegenzug verlangt, ich werde es auf mich nehmen.« Clary erinnerte sich wieder an die Worte der Elfe, die ihr die Silberglocke überreicht hatte. Du würdest alles tun, um ihm zu helfen. Ganz gleich, was es dich kosten würde, ganz gleich, was du dem Himmel oder der Hölle dafür schulden würdest, habe ich recht? »Ich möchte nur, dass einer von euch mich begleitet. Ich bin nicht besonders gut darin, diese Feensprache immer richtig zu treffen. Dadurch kann der mögliche Schaden zumindest begrenzt werden. Aber wenn die Königin irgendetwas tun kann…«

»Ich komme mit«, sagte Isabelle sofort.

Alec warf seiner Schwester einen finsteren Blick zu. »Wir haben bereits mit dem Lichten Volk gesprochen. Der Rat hat die Feenwesen intensiv befragt. Und sie können ja nicht lügen.«

»Der Rat hat sie gefragt, ob sie wüssten, wo Jace und Sebastian sind, aber nicht, ob sie bereit wären, nach ihnen zu suchen«, entgegnete Clary. »Die Elbenkönigin wusste von meinem Vater, wusste von dem Engel, den er herbeigerufen und gefangen gehalten hatte, und sie kannte die Wahrheit über mein Blut und das von Jace. Ich denke, in dieser Welt passieren nur wenige Dinge, über die sie nicht genau Bescheid weiß.«

»Das stimmt«, bestätigte Isabelle mit zunehmender Begeisterung in der Stimme. »Du weißt doch, dass man den Feenwesen die richtigen Fragen stellen muss, um irgendwelche nützlichen Informationen aus ihnen herauszukriegen, Alec. Sie lassen sich nur schwer verhören, selbst wenn sie verpflichtet sind, die Wahrheit zu sagen. Aber ein Gefallen, den sie von sich aus anbieten, ist etwas vollkommen anderes.«

»Dafür ist das damit verbundene Risiko völlig unkalkulierbar«, erwiderte Alec. »Wenn Jace wüsste, dass ich Clary erlaube, die Elbenkönigin aufzusuchen, dann würde er…«

»Das ist mir egal«, unterbrach Clary ihn. »Jace würde für mich dasselbe tun. Versuch mir nicht zu erzählen, dass das nicht stimmt. Wenn ich verschwunden wäre…«

»Würde er die ganze Welt in Schutt und Asche legen, um dich aus den Trümmern ausgraben zu können. Ich weiß«, räumte Alec leicht erschöpft ein. »Glaubt ihr wirklich, ich würde das nicht auch wollen? Ich versuche doch nur…«

»Wie ein älterer Bruder zu handeln«, ergänzte Isabelle. »Ich versteh schon.«

Einen Moment lang sah Alec aus, als müsste er um seine Fassung ringen. »Wenn dir etwas zustoßen würde, Isabelle – nach dem, was mit Max passiert ist, und nun Jace…«

Izzy sprang auf, durchquerte den Raum und schlang die Arme um Alec. Ihre dunklen Haare, die exakt denselben Farbton besaßen, schoben sich ineinander, als Isabelle ihrem Bruder etwas ins Ohr flüsterte.

Mit einem leichten Anflug von Neid beobachtete Clary die beiden. Sie hatte sich immer einen Bruder gewünscht. Jetzt hatte sie einen: Sebastian. Es schien, als hätte sie sich einen Welpen zu Weihnachten erhofft und wäre stattdessen mit einem Höllenhund überrascht worden. Sie sah zu, wie Alec seiner Schwester liebevoll durch die Haare fuhr, dann nickte und sie losließ.

»Wir gehen gemeinsam«, verkündete er. »Aber ich muss wenigstens Magnus erzählen, was wir vorhaben. Alles andere wäre nicht fair.«

»Du kannst mein Handy benutzen«, sagte Isabelle und streckte ihm das zerbeulte pinkrosa Mobiltelefon entgegen.

Doch Alec schüttelte den Kopf. »Er wartet unten, zusammen mit den anderen. Du wirst Luke ebenfalls irgendeine Ausrede auftischen müssen, Clary. Denn ich bin mir sicher, er erwartet, dass du ihn nach Hause begleitest. Außerdem meinte er, dass es deiner Mutter wegen dieser ganzen Geschichte ziemlich mies geht.«

»Sie gibt sich die Schuld an Sebastians Existenz.« Clary stand auf. »Auch wenn sie die ganze Zeit gedacht hat, er wäre tot.«

»Das ist doch nicht ihr Fehler.« Isabelle nahm die goldene Peitsche vom Wandhaken und wickelte sie um ihr Handgelenk, sodass sie wie eine Reihe glänzender Armbänder wirkte. »Und es macht ihr doch auch niemand einen Vorwurf.«

»Das spielt keine Rolle«, wandte Alec ein. »Nicht, wenn man sich selbst die Schuld gibt.«

Schweigend machten die drei sich auf den Weg durch die Gänge des Instituts, in dem es untypischerweise von Schattenjägern nur so wimmelte. Einige der Nephilim gehörten den Spezialeinheiten an, die Idris zur Unterstützung in diesem Fall entsandt hatte. Aber niemand von ihnen schenkte Isabelle, Alec oder Clary besondere Beachtung. Anfangs hatte Clary das Gefühl gehabt, man würde sie von allen Seiten anstarren, und geflüsterte Bemerkungen wie »Valentins Tochter« hatten sie beinahe dazu gebracht, nicht mehr ins Institut zu kommen. Doch inzwischen hatte sie oft genug vor dem Rat ausgesagt, dass ihr Anblick für die meisten Schattenjäger nichts Besonderes mehr war.

Der Aufzug brachte sie hinunter in das Mittelschiff des Instituts, das mit Elbenlichtfackeln und Wachskerzen hell erleuchtet war. Zahlreiche Ratsmitglieder und ihre Familien standen in den Gängen und unterhielten sich. Luke und Magnus saßen in einer der Kirchenbänke, in ein Gespräch vertieft. Daneben entdeckte Clary eine groß gewachsene Frau mit blauen Augen, die genau wie Luke aussah. Ihre eigentlich grauen Haare waren braun gefärbt und lockig, doch Clary erkannte sie trotzdem wieder: Lukes Schwester Amatis.

Als Magnus Alec erblickte, stand er auf und ging zu ihm hinüber; Izzy schien eine Bekannte in einer der anderen Bänke zu erspähen und marschierte direkt auf sie zu – wie üblich, ohne irgendjemandem zu erzählen, was sie vorhatte. Clary schlenderte hinüber zu Luke und Amatis; beide wirkten sehr erschöpft und Amatis klopfte ihrem Bruder mitfühlend auf die Schulter. Luke umarmte Clary und auch Amatis gratulierte ihr zu ihrem Freispruch, woraufhin sie stumm nickte. Sie fühlte sich wie betäubt, als wäre sie gar nicht richtig anwesend, und reagierte mehr oder weniger auf Autopilot.

Aus dem Augenwinkel sah sie Magnus und Alec. Die beiden unterhielten sich, die Köpfe dich beieinander – so wie Clary es auch schon bei anderen Paaren beobachtet hatte: einander eng zugewandt, allein in ihrem eigenen, kleinen Universum. Obwohl Clary sich freute, die beiden glücklich zu sehen, schmerzte sie der Anblick. Und sie fragte sich, ob sie selbst etwas Ähnliches jemals wieder erleben würde oder es überhaupt erleben wollte. Unwillkürlich musste sie an Jace’ Worte denken: Aber ich will niemand anderen außer dir. Ich will noch nicht mal jemand anderen als dich wollen.

»Erde an Clary«, bemerkte Luke in dem Moment. »Sollen wir nach Hause fahren? Deine Mutter will dich unbedingt sehen und sie möchte sich bestimmt gern noch in Ruhe mit Amatis unterhalten, ehe sie morgen nach Idris zurückkehrt. Ich dachte, wir könnten zusammen eine Kleinigkeit essen gehen. Du darfst das Restaurant auswählen«, sagte er und versuchte dabei, die Sorge in seiner Stimme zu überspielen.

Doch Clary konnte sie trotzdem hören. Sie hatte in letzter Zeit nicht viel gegessen und ihre Kleidung hing ihr allmählich ziemlich locker von den Schultern. »Mir ist eigentlich nicht nach Feiern zumute«, stellte sie fest. »Jedenfalls nicht, solange der Rat die Suche nach Jace als weniger wichtig eingestuft hat.«

»Clary, das bedeutet nicht, dass die Suche vollkommen eingestellt würde«, erklärte Luke.

»Ich weiß. Es ist nur so… wie in diesen Berichterstattungen, in denen davon geredet wird, dass die ›Such- und Rettungsaktion‹ jetzt nur noch eine Leichensuche ist. Genau so klingt es jedenfalls.« Clary musste schlucken. »Na jedenfalls habe ich sowieso daran gedacht, mit Isabelle und Alec zu Taki’s zu gehen und da was zu essen«, sagte sie. »Einfach… was ganz Normales machen.«

Amatis spähte in Richtung Tür. »Draußen regnet es ziemlich heftig.«

Clary spürte, wie sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog. Und sie fragte sich, ob dieses Lächeln wohl genauso falsch wirkte, wie es sich anfühlte. »Mir passiert schon nichts. Ich bin ja nicht aus Zucker.«

»Aber versprich mir, dass du auch wirklich etwas isst«, verlangte Luke und drückte ihr etwas Geld in die Hand, sichtlich erleichtert, dass sie etwas Normales unternehmen und mit ihren Freunden essen gehen wollte.

»Okay.« Trotz eines Anflugs von schlechtem Gewissen gelang es Clary, ihm ein wenigstens halbwegs aufrichtiges Lächeln zu schenken, ehe sie sich auf den Weg machte.

Magnus und Alec standen nicht mehr dort, wo sie sich kurz zuvor noch unterhalten hatten. Fragend schaute Clary sich um und entdeckte schließlich Izzys vertrauten schwarzen Haarschopf in der Menge. Die junge Schattenjägerin lehnte an der großen Doppelflügeltür des Instituts und sprach mit jemandem, den Clary nicht sehen konnte. Als sie näher kam, erkannte sie plötzlich und mit einem leichten Schreck ein Gesicht in der Gruppe rund um Isabelle: Aline Penhallow, deren glänzende schwarze Haare zu einer modischen, schulterlangen Frisur geschnitten waren. Neben Aline stand ein schlankes Mädchen mit platinblonden Ringellocken; sie hatte sie nach hinten gebunden, wodurch ihre leicht spitzen Ohren zum Vorschein kamen. Das Mädchen trug die Ratsrobe und Clary bemerkte, dass ihre Augen einen strahlenden, ungewöhnlichen Blaugrünton besaßen – eine Farbe, die in Clary zum ersten Mal seit zwei Wochen den Wunsch weckte, ihre Zeichenstifte hervorzuholen.

»Muss doch irgendwie merkwürdig sein, dass deine Mutter die neue Konsulin ist«, sagte Isabelle gerade zu Aline, als Clary sich zu ihnen gesellte. »Nicht, dass Jia schlechter wäre als… Hey, Clary. Aline, du erinnerst dich doch an Clary, oder?«

Die beiden Mädchen nickten sich zu. Clary hatte Aline mal beim Knutschen mit Jace überrascht. Damals war dieser Anblick einfach schrecklich gewesen, doch nun versetzte ihr die Erinnerung daran keinen Stich mehr. Denn inzwischen hatte Clary einen Punkt erreicht, an dem sie erleichtert gewesen wäre, wenn sie Jace bei einem Kuss mit einer anderen ertappt hätte – schließlich würde das bedeuten, dass er noch lebte.

»Und das hier ist Helen Blackthorn, Alines Freundin«, fügte Isabelle übertrieben betont hinzu.

Verärgert warf Clary ihr einen Blick zu. Hielt Isabelle sie etwa für bescheuert? Außerdem erinnerte sie sich daran, dass Aline ihr erzählt hatte, sie habe Jace nur versuchsweise geküsst, als eine Art Experiment, um herauszufinden, welche Sorte von Jungs ihr Typ war. Offenbar gar keiner.

»Helens Familie leitet das Institut in Los Angeles. Helen, das ist Clary Fray«, fuhr Isabelle fort.

»Valentins Tochter«, sagte Helen und betrachtete Clary überrascht und ein wenig beeindruckt.

Clary zuckte zusammen. »Ich versuche, nicht allzu oft darüber nachzudenken.«

»’tschuldigung. Ich versteh schon, warum du das nicht willst«, erwiderte Helen und errötete, wobei ihre sehr helle, fast schon perlmuttartig schimmernde Haut einen leichten Rosaton annahm. »Ich habe mich übrigens dafür ausgesprochen, dass die Suche nach Jace weiterhin oberste Priorität hat. Tut mir leid, dass wir überstimmt wurden.«

»Danke«, sagte Clary. Da sie nicht länger über dieses Thema sprechen wollte, wandte sie sich an Aline und meinte: »Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung deiner Mutter. Das muss doch toll sein, dass sie jetzt die neue Konsulin ist.«

Aline zuckte die Achseln. »Sie ist jetzt noch viel mehr unterwegs als sonst.« Dann wandte sie sich an Isabelle: »Hast du gewusst, dass dein Dad sich für den Posten des Inquisitors beworben hat?«

Clary spürte, wie Isabelle neben ihr erstarrte.

»Nein. Nein, das hab ich nicht gewusst.«

»Ich war auch überrascht«, fuhr Aline fort. »Ich dachte, sein Herz hinge an der Leitung des hiesigen Instituts…« Plötzlich verstummte Aline, schaute an Clary vorbei und meinte dann: »Helen, ich glaub, dein Bruder versucht gerade, den größten Wachsflecken der Welt zu fabrizieren. Wahrscheinlich solltest du besser eingreifen.«

Helen schnaubte genervt, murmelte irgendetwas über zwölfjährige Jungs und verschwand in dem Augenblick in der Menge, als Alec sich einen Weg zu ihnen bahnte und Aline zur Begrüßung herzlich umarmte. Manchmal vergaß Clary, dass die Penhallows und die Lightwoods sich schon seit Jahren kannten…

»War das gerade deine Freundin?«, fragte Alec und schaute Helen nach.

Aline nickte. »Ja, Helen Blackthorn.«

»Ich hab gehört, dass durch die Adern ihrer Familie Feenblut fließen soll«, sagte Alec.

Ah, dachte Clary, das erklärt die spitzen Ohren. Das Blut der Nephilim war zwar dominant, sodass das Kind eines Feenwesens und eines Schattenjägers auf jeden Fall auch ein Nephilim wurde, aber manchmal schlug das Feenblut eben doch durch und machte sich noch Generationen später auf eigentümliche Weise bemerkbar.

»Ja, ein wenig«, bestätigte Aline. »Hör mal, Alec, ich möchte mich bei dir bedanken.«

Verwundert schaute Alec sie an. »Wofür?«

»Für das, was du in der Halle des Abkommens getan hast: Magnus in aller Öffentlichkeit zu küssen«, erklärte Aline. »Das hat mir den nötigen Anstoß gegeben, es meinen Eltern zu erzählen… ich meine, mich zu outen. Und wenn ich das nicht getan hätte, wäre ich danach vermutlich nicht in der Lage gewesen, Helen anzusprechen, als ich sie das erste Mal traf… ich hätte einfach nicht den Mut dazu gehabt.«

»Ach ja?« Alec wirkte verblüfft, als hätte er nie darüber nachgedacht, welche Auswirkungen seine Handlungen auf andere Menschen haben konnten – Menschen, die nicht zu seinem engsten Familienkreis gehörten. »Und deine Eltern… wie haben sie darauf reagiert?«

Aline rollte mit den Augen. »Sie ignorieren es. Als wäre es nur eine Phase, die vorübergeht, wenn man nicht darüber spricht.«

Clary erinnerte sich daran, was Isabelle über die Haltung des Rats zur Homosexualität gesagt hatte: Wenn jemand schwul ist, dann wird nicht darüber gesprochen.

»Aber es könnte schlimmer sein«, fügte Aline hinzu.

»Definitiv«, bestätigte Alec mit einem so bitteren Ton in der Stimme, dass Clary ihn erstaunt musterte.

Aline schaute ihn an und lächelte verständnisvoll. »Das tut mir leid – wenn deine Eltern nicht…«

»Sie haben kein Problem damit«, warf Isabelle etwas zu scharf ein.

»Na ja, wie dem auch sei. Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen. Jedenfalls nicht jetzt, wo Jace verschwunden ist. Ihr macht euch bestimmt furchtbare Sorgen.« Aline holte tief Luft. »Ich bin mir sicher, dass ihr schon die dämlichsten Dinge über ihn zu hören bekommen habt – so wie die Leute nun mal reden, wenn sie nicht wissen, was sie sagen sollen. Ich… ich wollte euch nur schnell was erzählen.« Ungeduldig wich sie einem vorbeischlendernden Ratsmitglied aus und trat näher an die Lightwood-Geschwister und Clary heran. »Alec, Izzy…«, setzte sie mit gesenkter Stimme an, »ich erinnere mich noch gut an einen eurer Ferienaufenthalte in Idris, als ihr uns besucht habt. Ich war dreizehn und Jace war… ich glaub, er war zwölf. Damals wollte er unbedingt in den Brocelind-Wald, also haben wir uns ein paar Pferde geliehen und sind losgeritten. Und natürlich haben wir uns total verirrt. Dieses Gebiet ist schließlich nicht umsonst für sein undurchdringliches Dickicht berüchtigt. Jedenfalls wurde es immer dunkler und der Wald immer dichter und ich immer ängstlicher. Ich dachte, wir müssten dort sterben. Aber Jace hatte nicht die geringste Angst. Für ihn bestand überhaupt kein Zweifel daran, dass wir wieder aus dem Wald hinausfinden würden. Es hat zwar Stunden gedauert, aber letztendlich hat er es geschafft: Er hat uns da rausgelotst. Ich war ihm total dankbar, aber er hat mich nur angesehen, als hätte ich den Verstand verloren. Für ihn war es selbstverständlich, dass er einen Weg aus dem Wald finden würde. Etwas anderes kam gar nicht infrage. Ich will damit nur sagen: Er wird einen Weg zu euch zurück finden. Ich weiß es einfach.«

Clary konnte sich nicht erinnern, dass Izzy in ihrer Gegenwart jemals geweint hätte, und sie gab sich auch jetzt alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Aber ihre Augen glänzten verdächtig. Und auch Alec schaute auf seine Schuhe. Plötzlich spürte Clary, wie eine Woge aus Kummer und Leid sie zu überwältigen drohte, doch sie unterdrückte sie mit aller Macht. Sie durfte jetzt nicht an Jace denken, wie er sich als Zwölfjähriger im dunklen Wald verirrt hatte, weil sie sonst daran denken musste, wo er sich jetzt wohl befand – irgendwo eingesperrt, allein in der Dunkelheit, wartend, dass sie zu ihm kam und ihm half… Sobald sie darüber nachdachte, würde sie komplett zusammenbrechen. »Danke, Aline«, presste sie stattdessen hervor, da weder Isabelle noch Alec in der Lage waren zu sprechen. »Danke.«

Das Mädchen schenkte ihr ein schüchternes Lächeln. »Ich bin sicher, er findet zurück.«

»Aline!«, rief Helen in dem Moment und zog mit festem Griff einen Jungen hinter sich her, dessen Hände mit blauem Wachs verschmiert waren. Er hatte wohl mit den Kerzen in den riesigen Ständern herumgespielt, die die Seitengänge des Kirchenschiffs erhellten. Dem Aussehen nach musste er um die zwölf Jahre alt sein; ein lausbübisches Grinsen lag auf seinem kleinen Gesicht und seine Augen funkelten schelmisch. Derselbe aufsehenerregende Blaugrünton wie bei seiner Schwester, dachte Clary, allerdings besaß er dunkelbraune Haare. »Ich glaube, wir sollten uns besser auf den Weg machen, ehe Jules noch das gesamte Institut verwüstet. Ganz zu schweigen davon, dass ich keine Ahnung habe, wo Tibs und Livvy stecken könnten.«

»Sie sind dahinten und essen Wachs«, erklärte der Junge – Jules – hilfsbereit.

»Oh Gott«, stöhnte Helen und schaute dann entschuldigend in die Runde. »Tut mir leid. Aber ich bin die Zweitälteste von uns und hab noch sechs jüngere Geschwister. Bei uns geht es immer zu wie in einem Zoo.«

Jules betrachtete Alec, dann Isabelle und schließlich Clary. »Wie viele Brüder und Schwestern habt ihr denn?«, fragte er.

Helen erbleichte. Doch Isabelle erklärte mit bemerkenswert ruhiger Stimme: »Wir sind zu dritt.«

Mit großen Augen musterte Jules Clary und meinte dann: »Du siehst den anderen gar nicht ähnlich.«

»Wir sind auch nicht miteinander verwandt«, sagte Clary. »Ich hab keine Geschwister.«

»Keinen einzigen Bruder oder Schwester?« Jules klang ziemlich erstaunt, als hätte Clary ihm gerade erzählt, sie besäße Schwimmhäute zwischen den Zehen. »Bist du deshalb so traurig?«

Clary musste an Sebastian denken, mit den weißblonden Haaren und den schwarzen Augen. Schön wär’s, dachte sie. Wenn ich doch nur keinen Bruder hätte, denn dann wäre all das hier nicht passiert. Ein heißer Anflug von Hass jagte durch ihren Körper und wärmte ihr eisiges Blut. »Ja«, bestätigte sie leise, »deshalb bin ich so traurig.«

2 Dornen

Simon wartete vor dem Institut auf Clary, Alec und Isabelle. Er stand unter einem Mauervorsprung, der ihn notdürftig vor dem schlimmsten Regen abschirmte, und drehte sich um, als die drei das Gebäude verließen. Clary sah, dass die dunklen Haare ihm vor lauter Nässe an Hals und Nacken klebten. Mit einer ungeduldigen Handbewegung schob er sie zur Seite und schaute Clary fragend an.

»Ich bin von allen Vorwürfen freigesprochen«, erklärte sie, doch als sich ein Lächeln auf Simons Gesicht ausbreitete, schüttelte sie den Kopf. »Aber die Suche nach Jace hat nicht mehr oberste Priorität. Ich… bin mir sicher, dass der Rat ihn für tot hält.«

Kopfschüttelnd senkte Simon die Augen und blickte auf seine nasse Jeans und das T-Shirt, ein zerknittertes graues Ringershirt mit farblich abgesetztem Kragen und der Aufschrift clearly i have made some bad decisions. »Tut mir echt leid«, meinte er mitfühlend.

»So ist der Rat nun mal«, erklärte Isabelle. »Vermutlich hätten wir nichts anderes erwarten dürfen.«

»Basia coquum«, sagte Simon. »Oder wie auch immer dieses Nephilim-Motto heißt.«

»Unser Motto lautet: Facilis descensus Averni – ›der Abstieg zur Hölle ist leicht‹«, berichtigte Alec ihn. »Und du hast gerade gesagt: ›Küss den Koch.‹«

»Verdammt«, stieß Simon hervor. »Ich hab doch gewusst, dass Jace mich verarscht.« Als ihm seine feuchten dunklen Haare erneut in die Augen fielen, schob er sie ein weiteres Mal so ungeduldig zurück, dass Clary einen kurzen Blick auf das silbern schimmernde Kainsmal auf seiner Stirn werfen konnte. »Und was machen wir jetzt?«, fragte er.

»Jetzt besuchen wir die Königin des Lichten Volkes«, verkündete Clary. Sie berührte die Glocke an ihrer Halskette, während sie Simon rasch von der Elfe Kaelie erzählte, die an Lukes und Jocelyns Polterabend zu ihr gekommen war und ihr die Hilfe der Elbenkönigin angeboten hatte.

Simon musterte sie skeptisch. »Das ist doch diese arrogante rothaarige Dame, die dich gezwungen hat, Jace zu küssen, oder? Ich mag sie nicht.«

»Ist das alles, woran du dich im Zusammenhang mit der Königin erinnerst? Dass sie Clary dazu gebracht hat, mit Jace zu knutschen?«, meinte Isabelle aufgebracht. »Die Königin des Lichten Volkes ist gefährlich. Damals hat sie sich mit uns nur ein wenig amüsiert. Normalerweise treibt sie schon vor dem Frühstück wenigstens eine Handvoll Menschen in den Wahnsinn.«

»Ich bin kein Mensch«, sagte Simon. »Nicht mehr.« Er warf Isabelle einen kurzen Blick zu, schaute dann rasch zu Boden und wandte sich anschließend an Clary: »Möchtest du, dass ich mitkomme?«

»Ich denke, es wäre gut, dich dabeizuhaben. Tageslichtler, Kainsmal – mit manchen Dingen müsste selbst die Elbenkönigin zu beeindrucken sein.«

»Ich würde nicht darauf wetten«, bemerkte Alec.

Clary schaute an ihm vorbei und fragte: »Wo ist Magnus?«

»Er meinte, es sei wohl besser, wenn er uns nicht begleitet. Anscheinend verbindet ihn und die Elbenkönigin eine gemeinsame Geschichte.«

Verwundert zog Isabelle die Augenbrauen hoch.

»Nicht die Art von Geschichte«, erwiderte Alec gereizt. »Eher eine Fehde. Obwohl…«, fügte er leise hinzu, »so wie Magnus vor meiner Zeit herumgekommen ist, würde mich das auch nicht wundern.«

»Alec!« Isabelle blieb abrupt stehen, um mit ihrem Bruder zu reden, während Clary ihren Schirm mit einem Klick aufspringen ließ. Simon hatte ihr den Taschenschirm vor Jahren im Museum of Natural History gekauft und Clary sah ihn grinsen, als er das Dinosauriermuster wiedererkannte.

»Lust auf einen Spaziergang?«, fragte er und bot ihr seinen Arm an.

Der Regen prasselte unablässig vom Himmel und bildete kleine Rinnsale, die sich vor den Gullis stauten und von den Rädern vorbeifahrender Taxis in einem Schwall auf den Gehweg gespritzt wurden. Seltsam, dachte Simon – obwohl er keine Kälte mehr spürte, fühlte sich die völlig durchnässte Kleidung auf seiner Haut noch immer unangenehm an. Vorsichtig warf er einen Blick über die Schulter, zu Alec und Isabelle. Seit die drei aus dem Institut gekommen waren, hatte Isabelle ihm noch nicht richtig in die Augen gesehen, und Simon fragte sich, was sie wohl dachte. Sie schien mit ihrem Bruder viel zu besprechen zu haben, und als sie an der Ecke zur Park Avenue kurz stehen blieben, hörte er, wie sie Alec fragte: »Und, was hältst du jetzt davon? Dass Dad sich für den Posten des Inquisitors beworben hat?«

»Für mich klingt das nach einem ziemlich langweiligen Job.«

Isabelles transparenter Regenschirm war über und über mit bunten Blumen dekoriert – und das mit Abstand Mädchenhafteste, das Simon je an ihr gesehen hatte. Kein Wunder, dass Alec sich nicht bei seiner Schwester unterstellen wollte und sich stattdessen lieber dem Regen aussetzte, dachte er.

»Keine Ahnung, warum Dad auf die Stelle überhaupt scharf sein sollte«, fügte Alec hinzu.

»Es interessiert mich nicht, ob der Job langweilig ist«, zischte Isabelle im Flüsterton. »Wenn er den Posten bekommt, wird er ständig in Idris sein. Die ganze Zeit. Er kann nicht das Institut leiten und als Inquisitor arbeiten. Schließlich kann er nicht zwei Jobs gleichzeitig machen.«

»Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, Izzy: Er ist auch jetzt schon ständig in Idris.«

»Alec…« Der Rest ihrer Worte ging im Straßenlärm unter, als eine Ampel grün wurde und der Verkehr weiterbrauste. Clary versuchte, einer Wasserfontäne auszuweichen, und wäre dabei fast gegen Simon gestoßen, der sie reflexartig an der Hand packte.

»’tschuldigung«, murmelte sie.

Ihre Hand fühlte sich klein und kalt in der seinen an.

»Ich habe gerade nicht aufgepasst«, fügte sie hinzu.

»Ich weiß«, sagte Simon, darum bemüht, nicht allzu besorgt zu klingen. Seit zwei Wochen hatte Clary nun schon »gerade nicht aufgepasst«. Anfangs hatte sie viel geweint und dann war sie wütend geworden – weil sie nicht an der Suche nach Jace teilnehmen durfte und der Rat sie tagelang wieder und wieder befragte. Wie eine Gefangene musste sie zu Hause herumsitzen, solange sie unter Verdacht stand. Doch die meiste Zeit war sie auf sich selbst wütend gewesen, weil ihr beim besten Willen keine Rune einfiel, die bei der Suche helfen konnte. Ganze Nächte saß sie am Schreibtisch, die Stele so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten und Simon schon befürchten musste, Clary würde sie in der Mitte zerbrechen. Sie versuchte, ihren Verstand dazu zu zwingen, ihr irgendein Bild zu liefern mit dem Hinweis, wo Jace sich befand. Doch Nacht für Nacht passierte rein gar nichts.

Sie sah älter aus, überlegte Simon, während sie durch eine Lücke in der Steinmauer an der Fifth Avenue den Central Park betraten. Älter, aber keineswegs schlechter; nur eben ganz anders als das Mädchen, mit dem er damals in den Pandemonium Club gegangen war – an jenem Abend, der alles verändert hatte. Klar war sie in der Zwischenzeit gewachsen, aber das war noch nicht alles: Ihre Miene wirkte ernster, ihr Gang besaß mehr Kraft und Anmut und ihre grünen Augen zuckten weniger hin und her, schauten konzentrierter. Sie entwickelte allmählich immer größere Ähnlichkeit mit Jocelyn, stellte Simon überrascht fest.

In einem Kreis aus leise tropfenden Bäumen blieb Clary stehen; die dichten Zweige schützten vor dem starken Regen und die beiden Mädchen lehnten ihre Schirme gegen einen Baumstamm. Dann nahm Clary die Glocke von der Halskette und hielt sie in ihrer offenen Handfläche. Mit ernstem Gesichtsausdruck schaute sie die anderen der Reihe nach an. »Wenn ich die Glocke läute, gehe ich damit ein großes Risiko ein«, sagte sie, »und ich bin mir sicher, wenn ich das tue, werde ich keinen Rückzieher machen können. Falls also einer von euch nicht mitkommen möchte, ist das vollkommen in Ordnung. Ich verstehe das.«

Simon streckte den Arm aus und legte seine Hand über Clarys. Er brauchte nicht lange nachzudenken: Wo Clary hinging, da ging auch er hin. Sie hatten schon zu vieles gemeinsam durchgestanden, als dass irgendetwas anderes infrage gekommen wäre. Isabelle folgte seinem Beispiel und schließlich auch Alec. Von seinen langen schwarzen Wimpern tropfte der Regen wie Tränen, aber seine Miene wirkte entschlossen. Die vier hielten einander fest an den Händen.

Dann läutete Clary die Silberglocke.

Im nächsten Moment kam es ihr so vor, als würde sich die Welt um sie herum bewegen. Es fühlte sich aber ganz und gar nicht wie die Reise durch ein Portal an – als wäre sie in einen Meeresstrudel geraten –, sondern eher wie eine Fahrt in einem Karussell, das sich immer schneller drehte. Clary wurde schwindlig und sie musste nach Luft schnappen, als die Kreiselbewegung abrupt endete und sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Doch Isabelle, Alec und Simon hielten sie noch immer an den Händen.

Die vier Jugendlichen lösten sich voneinander und Clary schaute sich um. Sie war schon einmal hier gewesen, in diesem dunkelbraunen Erdgang, dessen Wände aussahen, als wären sie aus Tigeraugenquarz gemeißelt. Der Boden schimmerte, glatt poliert von kleinen Elbenfüßen, die seit Jahrtausenden diesen Weg gegangen waren. Glitzernde Goldpartikel in den Wänden strahlten Licht aus und am Ende des Gangs hing ein bunter Vorhang, der langsam vor und zurück schwang, als würde er durch einen Luftzug bewegt – obwohl es hier unten nicht den geringsten Windhauch gab. Als Clary näher kam, erkannte sie, dass der Querbehang aus Schmetterlingen genäht war. Manche der Falter lebten noch und ihr Todeskampf ließ den Vorhang leicht flattern.

Clary schluckte den bitteren Geschmack in ihrem Mund hinunter. »Hallo?«, rief sie. »Ist da jemand?«

Im nächsten Moment wurde der Vorhang raschelnd beiseitegeschoben und der Elbenritter Meliorn betrat den Gang. Er trug dieselbe weiße Rüstung wie bei ihrer letzten Begegnung, nun jedoch mit dem gleichen Siegel auf der linken Brust, das auch Lukes Ratsrobe zierte und ihn als Mitglied der Kongregation auswies – dem vierfachen C. Eine frische Narbe schimmerte direkt unterhalb seiner blattgrünen Augen. Kühl musterte er Clary. »Man begrüßt die Königin des Lichten Volkes nicht mit einem barbarischen ›Hallo‹, als würde man einen Bediensteten herbeirufen«, teilte er ihr frostig mit. »Die korrekte Form der Anrede lautet ›Seid gegrüßt‹.«

»Aber wie kann ich sie grüßen, wenn ich nicht einmal weiß, ob sie überhaupt hier ist?«, erwiderte Clary.

Meliorn warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Wenn die Königin nicht anwesend und bereit wäre, dich zu empfangen, hätte das Läuten der Glocke dich nicht hierhergebracht. Und jetzt komm und sag deinen Begleitern, dass sie mir folgen sollen.«

Clary gab den anderen ein Zeichen und tauchte dann hinter Meliorn durch den Vorhang aus gemarterten Schmetterlingen hindurch, wobei sie die Schultern krümmte in der Hoffnung, nicht mit den Falterflügeln in Berührung zu kommen.

Der Reihe nach betraten die vier die Gemächer der Königin. Verwundert schaute Clary sich um: Der Raum sah völlig anders aus als bei ihrem letzten Besuch. Der Boden bestand aus schwarzen und weißen Steinquadern und erinnerte an ein gigantisches Schachbrett, in dessen Mitte die Elbenkönigin auf einem weißen, mit Gold verzierten Diwan ruhte. Ranken mit spitzen Dornen hingen wie Schnüre von der Decke und auf jedem Dorn war ein Irrlicht aufgespießt. Während sie ihr Leben aushauchten, flackerte ihr einst so helles Leuchten kläglich und tauchte den Raum in ein gedämpftes Licht.

Außer Meliorn, der sich direkt neben der Königin postierte, war nicht ein einziger ihrer Höflinge anwesend. Langsam setzte die Elbenkönigin sich auf. Sie war so schön wie eh und je: ihr Kleid ein durchscheinendes Gewebe aus Silber- und Goldfäden, ihr Haar so schimmernd wie glänzendes Kupfer. Lasziv drapierte sie es über ihre weißen Schultern. Clary fragte sich, wozu sie sich überhaupt die Mühe machte: Denn von allen Anwesenden im Raum war Simon der Einzige, den ihre Schönheit möglicherweise berühren konnte, aber er hasste sie aus ganzem Herzen.

»Seid gegrüßt, Nephilim, Tageslichtler«, sagte die Königin und neigte den Kopf in ihre Richtung. »Valentinstochter, was führt dich zu mir?«

Clary öffnete ihre Hand. Die schimmernde Silberglocke wirkte wie ein lebender Vorwurf. »Ihr habt mir durch Eure Dienerin ausrichten lassen, dass ich diese Glocke läuten soll, wenn ich jemals Eure Hilfe brauchen würde.«

»Aber du hast mir doch mitgeteilt, dass du keinen Gefallen von mir benötigen würdest. Weil du bereits alles hättest, was du dir nur wünschen könntest«, entgegnete die Königin.

Verzweifelt versuchte Clary, sich daran zu erinnern, wie Jace sich während der ersten Audienz am Lichten Hof verhalten hatte, wie er die Königin umgarnt und ihr geschmeichelt hatte. Er hatte plötzlich ganz neue Worte und Formulierungen verwendet. Ratlos warf Clary einen Blick über die Schulter zu Isabelle und Alec, doch Isabelle machte nur eine gereizte Handbewegung und gab ihr zu verstehen, sie solle einfach fortfahren. »Die Dinge ändern sich«, sagte Clary vorsichtig.

Die Königin reckte genüsslich ihre langen Beine. »Nun gut. Und was wünschst du von mir?«

»Ich möchte, dass Ihr Jace Lightwood findet.«

In dem darauffolgenden Schweigen hörte man nur noch die gedämpften Schmerzensschreie der Irrlichter. Schließlich sagte die Königin: »Du musst uns für sehr mächtig halten, wenn du glaubst, das Lichte Volk könnte dort Erfolg haben, wo der Rat versagt hat.«

»Der Rat will Sebastian finden. Aber mich interessiert Sebastian nicht. Ich will Jace«, erklärte Clary. »Außerdem weiß ich, dass Ihr über mehr Informationen verfügt, als Ihr zugeben wollt. Ihr habt vorausgesagt, dass das hier passieren würde. Niemand sonst wusste davon. Außerdem denke ich nicht, dass Ihr mir diese Glocke geschickt habt, noch dazu in derselben Nacht, in der Jace verschwunden ist, ohne genau zu wissen, dass sich etwas zusammenbraute.«

»Möglicherweise habe ich davon gewusst«, sagte die Königin und betrachtete ihre schimmernden Zehennägel.

»Mir ist aufgefallen, dass die Feenwesen gern ›möglicherweise‹ sagen, wenn sie irgendetwas zu verbergen haben«, bemerkte Clary. »Dadurch brauchen sie keine direkte Antwort zu geben.«

»Möglicherweise«, spöttelte die Königin mit einem belustigten Lächeln.

»›Eventuell‹ ist auch ein schönes Wort«, schlug Alec vor.

»Genau wie ›unter Umständen‹«, fügte Izzy hinzu.

»›Vielleicht‹ ist ebenfalls nicht schlecht«, warf Simon ein. »Zugegeben, es klingt ziemlich modern, bringt aber den Kern der Sache sehr schön rüber.«

Die Königin wischte die Bemerkungen der vier beiseite, als handelte es sich um Bienen, die ihren Kopf umschwirrten. »Ich traue dir nicht, Valentinstochter«, beschied sie Clary von oben herab. »Es gab einmal eine Zeit, da erbat ich einen Gefallen von dir, doch dieser Moment ist verstrichen. Meliorn hat seinen Sitz in der Kongregation eingenommen. Ich wüsste nicht, was du mir noch zu bieten hättest.«

»Wenn Ihr das glauben würdet, hättet Ihr mir die Glocke niemals geschickt«, konterte Clary.

Einen Moment kreuzten sich ihre Blicke. Die Königin war atemberaubend schön, aber hinter ihrem Gesicht verbarg sich etwas, das Clary an die Knochen eines kleinen Tiers denken ließ, die langsam in der Sonne bleichten. Schließlich erwiderte die Königin: »Nun gut. Möglicherweise kann ich dir helfen. Aber ich erwarte eine Gegenleistung.«

»Das ist ja mal ’ne Überraschung«, murmelte Simon. Er hatte die Hände in die Taschen gestopft und musterte die Königin voller Abscheu.

Alec lachte laut auf.

In dem Moment blitzten die Augen der Königin und einen Sekundenbruchteil später stieß der junge Schattenjäger einen bestürzten Schrei aus und taumelte rückwärts. Fassungslos starrte er auf seine Hände: Die Haut wurde fleckig und runzlig, seine Gelenke schwollen an und die Finger krümmten sich nach innen. Sein Rücken formte sich zu einem Buckel, das Haar ergraute und die blauen Augen verblassten und versanken in tiefen Falten. Erschrocken schnappte Clary nach Luft. Dort, wo sich Alec befunden hatte, stand nun ein alter Mann, altersgebeugt, weißhaarig und auf zittrigen Beinen.

»Wie schnell die Anmut der Sterblichen doch dahinschwindet«, amüsierte sich die Königin. »Sieh dich an, Alexander Lightwood. Ich gewähre dir einen Vorgeschmack auf dein Ebenbild in gerade einmal sechzig Jahren. Was wird dein Hexenmeister wohl dann von deiner Schönheit halten?«

Alecs Brust hob und senkte sich stoßweise. Sofort eilte Isabelle zu ihm und nahm seinen Arm. »Alec, keine Sorge. Das ist nur ein Zauberglanz.« Aufgebracht wandte sie sich an die Königin. »Hebt diese Täuschung auf! Nehmt den Zauber von ihm!«

»Wenn du und deinesgleichen mir mehr Respekt entgegenbringt, werde ich mich möglicherweise dazu bereiterklären.«

»Das werden wir«, versicherte Clary ihr hastig. »Wir entschuldigen uns für jede Unhöflichkeit.«

Gekränkt rümpfte die Königin die Nase. »Ich vermisse ja euren Jace«, klagte sie. »Von euch allen war er der Attraktivste und Wohlerzogenste.«

»Wir vermissen ihn ebenfalls«, sagte Clary leise. »Es war nicht unsere Absicht, uns unhöflich zu benehmen. Wir Menschen können manchmal recht schwierig sein, wenn wir Kummer haben.«

»Pah!«, schnaubte die Königin, schnippte aber mit den Fingern, worauf der Zauberglanz von Alec abfiel. Er war wieder er selbst, wenn auch etwas verstört und kreidebleich im Gesicht. Die Königin bedachte ihn mit einem überlegenen Blick und wandte sich dann wieder Clary zu: »Es gibt da ein Paar Ringe, die einst meinem Vater gehörten. Ich wünsche die Rückkehr dieser Objekte, da sie von Elfenhand gefertigt sind und große Macht besitzen. Die Ringe erlauben uns, miteinander zu sprechen, per Gedankenübertragung, genau wie eure Brüder der Stille. Wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, befinden sich die Ringe derzeit in einem Schaukasten im Institut.«

»Ich erinnere mich, dass ich so was Ähnliches schon mal gesehen habe«, meinte Isabelle gedehnt. »Zwei Elbenringe in einer Vitrine, auf der Galerie der Bibliothek.«

»Ihr wollt, dass ich für Euch etwas aus dem Institut stehle?«, fragte Clary überrascht. Von allen Gefallen, die sie als Gegenleistung in Betracht gezogen hatte, rangierte Diebstahl definitiv im unteren Bereich der Liste.

»Es handelt sich nicht um Raub, wenn ein Objekt seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgebracht wird«, erwiderte die Königin.

»Und dann werdet Ihr Jace für uns finden?«, hakte Clary nach. »Und sagt jetzt nicht ›möglicherweise‹. Was genau werdet Ihr tun?«

»Ich werde euch bei der Suche nach ihm behilflich sein«, erklärte die Königin. »Ich gebe euch mein Wort, dass meine Unterstützung von unschätzbarem Wert sein wird. So kann ich euch beispielsweise verraten, warum all eure Ortungsversuche vergebens gewesen sind. Ich kann euch verraten, in welcher Stadt er sich höchstwahrscheinlich befindet…«

»Aber der Rat hat Euch doch befragt«, warf Simon ein. »Wie habt Ihr es geschafft, die Ratsmitglieder anzulügen?«

»Sie haben einfach nicht die richtigen Fragen gestellt.«

»Warum habt Ihr sie belogen?«, fragte Isabelle fordernd. »Wem gegenüber seid Ihr zur Loyalität verpflichtet?«

»Ich bin niemandem verpflichtet. Aber Jonathan Morgenstern könnte ein mächtiger Verbündeter werden, wenn ich ihn mir nicht vorher zum Feind mache. Warum sollte ich ihn in Gefahr bringen oder seinen Zorn heraufbeschwören, ohne gleichzeitig einen Vorteil daraus zu ziehen? Das Lichte Volk ist sehr alt; wir treffen keine unüberlegten Entscheidungen, sondern warten erst einmal ab, in welche Richtung der Wind sich dreht.«

»Aber diese Ringe bedeuten Euch so viel, dass Ihr dafür in Kauf nehmen würdet, ihn zu verärgern?«, hakte Alec nach.

Statt einer Antwort zeigte die Königin nur ein laszives verheißungsvolles Lächeln. »Ich denke, das reicht für heute«, sagte sie schließlich. »Bringt mir die Ringe und wir unterhalten uns weiter.«

Clary zögerte und schaute fragend zu Alec und Isabelle. »Seid ihr damit einverstanden? Ich meine, dass wir etwas aus dem Institut stehlen?«

»Wenn das bedeutet, dass wir dadurch Jace finden, dann ja«, erklärte Isabelle.

Alec nickte. »Was auch immer dafür nötig sein sollte.«

Clary wandte sich wieder der Königin zu, die sie erwartungsvoll musterte. »Dann haben wir also eine Abmachung.«

Die Königin streckte sich und lächelte zufrieden. »Gehabt euch wohl, kleine Schattenjäger. Und noch eine Warnung, obwohl ihr diese durch nichts verdient habt: Ihr solltet euch gut überlegen, ob es wirklich weise ist, die Suche nach eurem Freund voranzutreiben. Denn wie bei vielen verlorenen Kostbarkeiten gilt auch in diesem Falle: Wenn ihr ihn wiederfindet, könnte euer Freund möglicherweise nicht mehr so sein, wie ihr ihn in Erinnerung habt.«

Es war fast elf Uhr, als Alec die Haustür von Magnus’ Wohnung in Greenpoint erreichte. Isabelle hatte ihren Bruder überredet, zusammen mit Clary und Simon noch ins Taki’s zu fahren und etwas zu essen. Obwohl Alec zuerst protestiert hatte, war er nun froh, dass er mitgegangen war. Denn er hatte etwas Ablenkung gebrauchen können, um seine Nerven nach dem Vorfall am Lichten Hof wieder zu beruhigen. Magnus sollte nicht merken, wie sehr ihn der Zauberglanz der Elbenkönigin erschüttert hatte.

Im Gegensatz zu früher musste Alec nicht mehr klingeln, damit Magnus ihn hereinließ: Er besaß jetzt einen Schlüssel – eine Tatsache, auf die er insgeheim sehr stolz war. Rasch schloss er die Tür auf und ging zur Treppe. Dabei kam er an der Wohnung von Magnus’ Nachbarn vorbei. Obwohl Alec den Mietern der Erdgeschosswohnung noch nie persönlich begegnet war, schienen sie eine ziemlich stürmische Beziehung zu führen. Eines Abends hatte einmal ein Kleiderberg im Flur herumgelegen, mit einer Nachricht am Kragen einer Jacke: »An den verlogensten lügnerischsten Lügner.« Und jetzt lehnte ein Blumenstrauß an der Wohnungstür, mit einer kleinen Karte, auf der »BITTE VERZEIH MIR« zu lesen war. Das war das Besondere an New York: Man erfuhr immer mehr über seine Nachbarn, als man eigentlich wissen wollte.

Magnus’ Tür stand einen Spalt offen und der Klang leiser Musik drang in den Flur: Tschaikowski. Alec spürte, wie sich seine Schultern entspannten, während er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss drückte. Er konnte sich zwar nie sicher sein, wie das Loft wohl aussehen würde – im Moment war es minimalistisch eingerichtet, mit weißen Sofas, roten Stapeltischen und riesigen Schwarz-Weiß-Fotos von Paris an den Wänden –, aber die Wohnung fühlte sich von Tag zu Tag vertrauter an, fast schon wie sein Zuhause. Und sie roch nach den Dingen, die er mit Magnus in Verbindung brachte: Tusche, Eau de Cologne, Lapsang-Souchong-Tee und der leicht verbrannte karamellartige Geruch von Magie. Alec nahm den Großen Vorsitzenden Miau Tse-tung, der dösend auf einer Fensterbank lag, auf den Arm und marschierte dann zu Magnus’ Arbeitszimmer.

Als Alec den Raum betrat, schaute Magnus auf. Er trug ein für seine Verhältnisse fast schon dezentes Outfit: Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit Nieten an Kragen und Bündchen. Seine schwarzen Haare hingen lose herab, durcheinander und zerzaust, als wäre er sich wieder und wieder verärgert mit den Händen hindurchgefahren. Seine katzenartigen Augen wirkten erschöpft. Bei Alecs Anblick ließ er den Stift fallen und grinste. »Der Große Vorsitzende mag dich.«

»Er mag jeden, der ihn hinter dem Ohr krault«, erwiderte Alec und verlagerte das Gewicht des dösenden Katers so, dass dessen Schnurren durch seine Brust zu vibrieren schien.

Magnus lehnte sich zurück, streckte die Arme aus und gähnte herzhaft. Der Schreibtisch war mit Zetteln übersät, dicht beschrieben mit Buchstaben und Zeichnungen – überall dasselbe Muster, Variationen der Symbole, mit denen der Boden der Dachterrasse verunstaltet gewesen war. »Und, wie war die Elbenkönigin?«

»Wie immer.«

»Ein eiskaltes Miststück?«

»Ja, könnte man sagen.« Alec erzählte Magnus die Kurzfassung der Ereignisse am Lichten Hof. Darin war er ziemlich gut – Dinge knapp zusammenzufassen, kein Wort zu viel. Leute, die ununterbrochen quasselten, hatte er noch nie verstanden, genauso wenig wie Jace’ Begeisterung für komplizierte Wortspielereien.

»Ich mach mir Sorgen um Clary«, sagte Magnus. »Ich fürchte, das Ganze wächst ihr über ihren kleinen Rotschopf.« Alec setzte Miau Tse-tung auf den Tisch, wo sich der Kater prompt zusammenrollte und weiterschlief. »Sie will Jace finden. Kann man ihr das verübeln?«

Magnus’ Augen nahmen einen sanfteren Ausdruck an. Er hakte einen Finger in den Bund von Alecs Jeans und zog ihn näher zu sich heran. »Willst du damit sagen, dass du dasselbe tun würdest, wenn es um mich ginge?«

Statt einer Antwort wandte Alec das Gesicht ab und schaute auf den Papierbogen, den Magnus gerade beiseitegeschoben hatte. »Du brütest schon wieder über diesen Symbolen?«

Mit leicht enttäuschter Miene ließ Magnus Alec los. »Es muss einfach einen Schlüssel geben, um sie zu knacken. Irgendeine Sprache, an die ich noch nicht gedacht habe. Irgendetwas Uraltes«, sagte er. »Das hier ist alte Schwarze Magie, sehr düster… anders als alles, was ich je gesehen habe.« Erneut warf er einen Blick auf das Papier, den Kopf leicht zur Seite geneigt. »Kannst du mir mal die Schnupftabakdose reichen? Da drüben, die silberne Dose.«

Alec folgte Magnus’ ausgestrecktem Arm, entdeckte ein kleines Silberkästchen am anderen Ende des großen Tischs, beugte sich hinüber und griff danach. Es sah aus wie eine Miniaturtruhe mit winzigen Metallbeinen; auf dem gewölbten Deckel waren die Initialen W. S. in Diamanten eingelegt.

W, überlegte Alec. Will?

Will? Ach du liebe Güte. Das ist ewig her, hatte Magnus geantwortet, als Alec mehr über den Mann wissen wollte, mit dessen Namen Camille ihn aufgezogen hatte.

Alec biss sich auf die Lippe. »Was ist das?«

»Eine Schnupftabakdose«, erwiderte Magnus, ohne von dem Papierbogen aufzuschauen. »Das hab ich doch gerade gesagt.«

»Schnupftabak? Hat das was mit ›Schnupfen‹ zu tun?« Alec musterte das Kästchen misstrauisch.

Magnus sah ihn an und lachte. »Nein, nichts mit Erkältung. Im siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert war das Schnupfen von Tabak sehr beliebt. Aber heute nutze ich die Dose nur noch zur Aufbewahrung von Krimskrams«, erklärte er und streckte die Hand aus.

Zögernd gab Alec ihm die Dose. »Hast du dich je gefragt…?«, setzte er an, hielt dann inne und versuchte es erneut: »Stört es dich, dass Camille irgendwo da draußen ist? Dass sie fliehen konnte?« Und dass das allein meine Schuld ist, dachte Alec, sprach es aber nicht laut aus. Magnus musste ja nicht unbedingt davon erfahren.

»Camille ist schon immer irgendwo da draußen gewesen«, erwiderte Magnus. »Ich weiß, dass der Rat nicht allzu begeistert darüber ist, aber ich bin daran gewöhnt, dass sie ihr eigenes Leben führt und ich nichts von ihr höre. Wenn es mich jemals gestört hat, dann muss das schon sehr lange zurückliegen.«

»Aber du hast sie geliebt. Früher mal.«

Magnus strich mit den Fingern über die Diamanten auf dem Deckel der Tabakdose. »Das dachte ich zumindest.«

»Und liebt sie dich noch immer?«

»Das denke ich eher nicht«, erwiderte Magnus trocken. »Bei unserer letzten Begegnung war sie nicht sehr umgänglich. Was natürlich damit zusammenhängen könnte, dass ich einen achtzehnjährigen Freund mit einer Rune für besondere Ausdauer habe und sie nicht…«

Alec errötete und stammelte: »Als derjenige, der hier gerade zum Objekt gemacht wird… protestiere ich entschieden gegen diese Beschreibung.«

»Camille war schon immer eifersüchtig«, fuhr Magnus grinsend fort.

Und Magnus war schon immer geschickt darin, schnell das Thema zu wechseln, dachte Alec. Der Hexenmeister hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er nicht gern über sein früheres Liebesleben redete. Doch an irgendeinem Punkt dieses Gesprächs hatte sich Alecs Gefühl der Geborgenheit und Vertrautheit, das Gefühl von Zuhause verflüchtigt. Ganz gleich wie jung Magnus auch aussehen mochte – und in diesem Moment wirkte er mit seinen nackten Füßen und den zerzausten Haaren wie ein Achtzehnjähriger –, sie beide trennte ein endloses, unüberwindliches Meer der Zeit.

Magnus klappte die Dose auf, nahm ein paar Reißzwecken heraus und befestigte damit den Papierbogen auf der Tischoberfläche. Als er schließlich aufschaute und Alecs Gesichtsausdruck sah, stutzte er: »Alles in Ordnung?«

Statt einer Antwort beugte Alec sich hinab und nahm Magnus an den Händen. Verwundert ließ der Hexenmeister sich hochziehen, doch bevor er etwas sagen konnte, zog Alec ihn fest an sich und küsste ihn. Magnus stöhnte leise auf, packte die Rückseite von Alecs T-Shirt, zupfte es hoch und fuhr mit seinen kühlen Fingern über Alecs Rückgrat, woraufhin Alec sich noch enger an ihn drückte und Magnus mit seinem Körper gegen die Tischkante presste. Nicht, dass dieser etwas dagegen einzuwenden gehabt hätte.

»Komm«, murmelte Alec Magnus ins Ohr. »Es ist spät. Lass uns ins Bett gehen.«

Magnus biss sich auf die Lippe und warf einen Blick über die Schulter, auf die Papiere und Zettel auf dem Tisch mit den uralten Silben in längst vergessenen Sprachen. »Warum gehst du nicht schon vor?«, meinte er. »Ich komm gleich nach – gib mir fünf Minuten.«

»Okay.« Alec richtete sich auf, wohl wissend, dass aus den fünf Minuten leicht fünf Stunden werden konnten, wenn Magnus in seine Arbeit vertieft war. »Dann bis gleich.«

»Pst.« Clary presste einen Finger an ihre Lippen, während sie die Eingangstür von Lukes Haus aufschloss und Simon mit einer Handbewegung aufforderte vorzugehen. Im Flur brannte kein Licht und auch das Wohnzimmer lag dunkel und still vor ihnen. Clary scheuchte Simon in ihr Zimmer und lief dann rasch in Richtung Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Doch plötzlich erstarrte sie.

Die Stimme ihrer Mutter drang in den Flur und Clary konnte die Anspannung darin hören. So wie Jace’ spurloses Verschwinden Clarys größte Schreckensvision war, durchlitt auch Jocelyn gerade ihren schlimmsten Albtraum. Die Tatsache, dass ihr Sohn lebte und draußen in der Welt herumlief, buchstäblich zu allem fähig, schien sie innerlich zu zerreißen.

»Aber der Rat hat sie freigesprochen«, erwiderte Luke mit bemüht gesenkter Stimme auf der anderen Seite der Schlafzimmertür. »Man wird sie nicht bestrafen.«

»Das ist alles nur meine Schuld.« Jocelyn klang gedämpft, als hätte sie den Kopf an Lukes Schulter gedrückt. »Wenn ich diese… diese Kreatur nicht zur Welt gebracht hätte, dann würde Clary das jetzt nicht durchstehen müssen.«

»Aber du hast doch nicht wissen können…« Lukes Stimme ging in ein leises Murmeln über.

Obwohl Clary wusste, dass er recht hatte, verspürte sie eine plötzlich aufflackernde Wut auf ihre Mutter. Jocelyn hätte Sebastian schon in der Krippe töten sollen, ehe er auch nur die Chance hatte, aufzuwachsen und ihr aller Leben zu ruinieren. Im nächsten Moment war sie über sich selbst entsetzt, dass sie so etwas auch nur denken konnte. Abrupt machte sie kehrt, stürmte in ihr Zimmer am anderen Ende des Hauses und schloss die Tür so sorgfältig hinter sich, als würde sie verfolgt.

Simon, der auf dem Bett saß und auf seiner Nintendo DS spielte, schaute überrascht auf. »Alles klar bei dir?«

Clary versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Simon war ein vertrauter Anblick in diesem Raum – schließlich hatten sie schon seit ihrer Kindheit gemeinsam in Lukes Gästezimmer übernachtet. Clary hatte sich nach Kräften bemüht, dem Raum eine persönliche Note zu geben und zu ihrem Zimmer zu machen: Fotos von ihr und Simon, von den Lightwoods, von Jace und von ihrer Familie steckten wahllos im Rahmen des Spiegels über der Frisierkommode. Luke hatte ihr ein Zeichenbrett geschenkt und ihre Malutensilien lagen ordentlich sortiert in den Fächern des kleinen Wandregals. Außerdem hatte Clary ein paar Poster ihrer Lieblings-Animes aufgehängt: Fullmetal Alchemist, Rurouni Kenshin, Bleach.

Es gab auch zahlreiche Beweise für ihr jetziges Leben als Schattenjägerin: eine dicke Ausgabe des Codex mit ihren handschriftlichen Anmerkungen und Skizzen am Rand, ein ganzes Regalbrett mit Büchern zu okkulten und paranormalen Themen, ihre Stele auf ihrem Schreibtisch und ein neuer Globus, den Luke ihr geschenkt hatte und der Idris in Gold gefasst im Zentrum Europas zeigte.

Simon, der jetzt im Schneidersitz auf dem Bett hockte, zählte zu den wenigen Dingen, die sowohl zu Clarys altem als auch zu ihrem neuen Leben gehörten. Fragend musterte er sie mit seinen dunklen Augen, die sein Gesicht noch blasser erscheinen ließen; das Kainsmal auf seiner Stirn war kaum zu erkennen.

»Meine Mom…«, setzte Clary an und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. »Es geht ihr echt nicht gut.«

»Ist sie denn nicht erleichtert? Ich meine, weil man dich von allen Vorwürfen freigesprochen hat?«

»Sie kommt einfach nicht über Sebastian hinweg… Sie gibt sich an allem die Schuld.«

»Aber das war doch nicht ihr Fehler, dass er sich so entwickelt hat. Dafür trägt Valentin die Verantwortung.«

Clary schwieg. Sie erinnerte sich wieder an den fürchterlichen Gedanken, der eben in ihr hochgekommen war: Ihre Mutter hätte Sebastian direkt nach der Geburt töten sollen.

»Ihr beide fühlt euch schuldig für Dinge, die ihr nicht in der Hand habt«, sagte Simon. »Du machst dir Vorwürfe, weil du Jace allein auf der Dachterrasse zurückgelassen hast…«

Ruckartig hob Clary den Kopf und sah Simon scharf an. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie ihm gegenüber erwähnt hatte, sich die Schuld an Jace’ Verschwinden zu geben. »Ich hab doch nie…«

»Aber du kannst es auch nicht leugnen«, entgegnete Simon. »Der entscheidende Punkt ist doch: Ich habe Jace ebenfalls da oben zurückgelassen, genau wie Isabelle und Alec… und Alec ist sein Parabatai. Wir hätten unmöglich vorhersehen können, was passieren würde. Wenn du geblieben wärst, wäre das Ganze vielleicht sogar noch schlimmer geworden.«

»Vielleicht.« Clary wollte nicht darüber reden. Sie wich Simons Blick aus und ging ins Bad, um ihren flauschigen Pyjama anzuziehen und sich die Zähne zu putzen. Sorgfältig vermied sie jeden Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Sie hasste es, dass sie so blass aussah und dunkle Ringe unter den Augen hatte. Missmutig riss sie sich zusammen: Sie war stark und sie würde nicht zusammenbrechen. Denn sie hatte einen Plan. Auch wenn dieser Plan ein wenig verrückt war und etwas mit einem Diebstahl im Institut zu tun hatte.

Als sie fertig war, band sie ihre lockigen Haare zu einem Pferdeschwanz und trat genau in dem Moment aus dem Bad, als Simon eine Flasche in seine Kuriertasche zurückgleiten ließ – zweifellos das Blut, das er bei Taki’s gekauft hatte. Clary ging zum Bett und zerzauste ihm die Haare. »Du kannst die Flaschen gern in den Kühlschrank stellen«, meinte sie. »Falls du es nicht lauwarm trinken magst.«

»Ehrlich gesagt, ist eiskaltes Blut noch schlimmer als lauwarmes. Es schmeckt am besten aufgewärmt, aber ich glaub nicht, dass deine Mom sehr begeistert wäre, wenn ich dafür einen ihrer Töpfe verunstalte.«

»Hat Jordan was dagegen?«, hakte Clary nach und fragte sich, ob Jordan sich überhaupt noch daran erinnerte, dass Simon bei ihm wohnte. In der vergangenen Woche hatte Simon jede Nacht bei ihr verbracht. In den ersten Nächten nach Jace’ Verschwinden hatte sie nicht schlafen können. Obwohl sie sich fünf Decken über den Kopf gezogen hatte, wollte ihr einfach nicht warm werden. Zitternd lag sie wach und stellte sich vor, wie eiskaltes Blut träge durch ihre Adern floss und Eiskristalle langsam ein korallenartiges Gebilde um ihr Herz bildeten. Schwarze Ozeane, Treibeis und gefrorene Seenplatten beherrschten ihre Träume – und Jace, dessen Gesicht stets hinter Schatten, einer Atemwolke oder seinen eigenen schimmernden Haaren verborgen lag, während er sich von ihr abwandte. Und obwohl Clary vor Erschöpfung immer wieder die Augen zufielen, schreckte sie jedes Mal nach wenigen Minuten wieder hoch, weil sie im Traum zu ertrinken drohte.

Am ersten Tag der endlosen Befragungen war sie von der Ratssitzung ausgelaugt nach Hause zurückgekommen und sofort ins Bett gefallen. Doch sie hatte nicht schlafen können, bis sie irgendwann ein Klopfen an ihrer Scheibe hörte. Kurz darauf war Simon durch ihr Fenster geklettert, wobei er beinahe kopfüber auf ihren Zimmerboden gestürzt wäre. Wortlos hatte er sich neben sie ins Bett gelegt. Seine Haut war kalt gewesen und er hatte nach Stadtluft und erstem Nachtfrost gerochen.

Clary hatte sich schweigend an seine Schulter gekuschelt, woraufhin die Anspannung, die ihren Körper fest im Griff hielt, sich etwas löste. Simons Hand war zwar kühl, aber auch vertraut, genau wie das Gewebe seiner Cordjacke an ihrem Arm.

»Wie lange kannst du bleiben?«, fragte sie in die Dunkelheit.

»So lange du willst.«

Clary drehte sich auf die Seite und sah ihn an. »Hat Izzy denn nichts dagegen?«

»Sie hat mich zu dir geschickt. Denn sie meinte, du könntest nicht schlafen – und wenn du dich durch meine Anwesenheit besser fühlst, kann ich die ganze Nacht bleiben. Oder wenigstens so lange, bis du einschläfst.«

Erleichtert atmete Clary auf. »Bleib die ganze Nacht. Bitte.«

Und Simon war geblieben. In jener Nacht hatte sie zum ersten Mal keine Albträume gehabt.

Solange Simon an ihrer Seite lag, war ihr Schlaf traumlos und leer, ein dunkler Ozean des Nichts. Ein Zustand schmerzloser Bewusstlosigkeit.

»Das Blut ist Jordan ziemlich egal«, sagte Simon nun. »Er interessiert sich in erster Linie dafür, dass ich mit mir selbst im Reinen bin, mit dem, was ich bin. Ich soll mit meinem inneren Vampir in Kontakt treten, blablabla.«

Langsam krabbelte Clary neben Simon auf das Bett, nahm ein Kissen und drückte es an sich. »Unterscheidet sich dein innerer Vampir denn von deinem… äußeren?«

»Definitiv. Er will, dass ich bauchnabelfreie T-Shirts und so einen Mafia-Hut trage. Aber ich kämpfe dagegen an.«

Clary lächelte matt. »Dann ist dein innerer Vampir also wie Magnus?«

»Warte, da fällt mir was ein.« Simon wühlte in seiner Kuriertasche, holte zwei Mangas hervor und wedelte damit triumphierend vor Clarys Nase herum. »Magical Love Gentleman Band fünfzehn und sechzehn«, verkündete er. »Überall ausverkauft; hab die letzten bei ›Midtown Comics‹ ergattert.«

Clary nahm die beiden Hefte und betrachtete die bunten Cover. Vor nicht allzu langer Zeit wäre sie vor Begeisterung laut jubelnd durchs Zimmer gehüpft; aber jetzt brachte sie nur noch ein Lächeln und ein »Danke« zustande. Doch dann ermahnte sie sich, dass Simon extra die Mühe auf sich genommen hatte, die Mangas für sie zu besorgen – selbst wenn sie sich im Moment überhaupt nicht vorstellen konnte, sich mit Lesen abzulenken. »Du bist der Beste«, sagte sie und stupste ihn mit der Schulter an. Simon war ein echter Freund. Dann lehnte sie sich in die Kissen zurück, die Mangas auf dem Schoß. »Und nochmals danke dafür, dass du zum Lichten Hof mitgekommen bist. Ich weiß, dass der Ort bei dir miese Erinnerungen weckt, aber… zusammen mit dir fühle ich mich einfach immer stärker.«

»Das war klasse, wie du die Königin rumgekriegt hast.« Simon rutschte neben Clary, sodass sich ihre Schultern berührten und beide an die Decke starrten, mit den vertrauten Rissen und den alten, selbstklebenden Leuchtsternen, die längst nicht mehr strahlten. »Und, wirst du das wirklich machen? Die Ringe für die Königin stehlen?«, fragte er.

»Ja.« Clary ließ den angehaltenen Atem aus ihrer Lunge entweichen. »Morgen Mittag. Dann findet eine interne Sitzung der Division statt, an der alle teilnehmen werden. Der perfekte Moment, um zuzuschlagen.«

»Das gefällt mir nicht, Clary.«

Sofort spürte Clary, wie sich ihr Körper anspannte. »Was gefällt dir nicht?«

»Dass du irgendwas mit dem Lichten Volk zu tun hast. Feenwesen sind Lügner.«

»Sie können nicht lügen.«

»Du weißt, was ich meine. ›Feenwesen sind Täuscher‹ klingt halt irgendwie lahm.«

Clary drehte den Kopf und schaute Simon an, während ihr Kinn an seinem Schlüsselbein ruhte. Automatisch legte er den Arm um ihre Schultern und zog sie näher an sich. Sein Körper war kühl, sein T-Shirt noch feucht vom Regen und seine sonst glatten Haare vom Wind zerzaust. »Glaub mir, ich bin auch nicht scharf darauf, mit dem Lichten Hof zusammenarbeiten zu müssen. Aber dasselbe würde ich auch für dich tun«, erwiderte Clary. »Und du würdest es für mich tun, oder etwa nicht?«

»Natürlich würde ich das. Aber das Ganze ist trotzdem eine miese Idee.« Simon drehte den Kopf und sah sie an. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Als mein Vater gestorben ist…«

Erneut versteifte sich Clarys Körper. »Jace ist nicht tot.«

»Ich weiß. Das wollte ich ja auch gar nicht sagen. Es ist nur so… du brauchst nicht zu sagen, dass du mit mir stärker bist als ohne mich. Denn ich bin doch immer bei dir. Der Kummer gibt dir das Gefühl, allein zu sein, aber das bist du nicht. Ich weiß, du glaubst nicht an… an Religion, so wie ich, aber du kannst doch wenigstens glauben, dass du von Menschen umgeben bist, die dich lieben, oder?« Hoffnungsvoll schaute er sie aus großen Augen an, die noch immer denselben dunkelbraunen Farbton besaßen wie früher, gleichzeitig aber auch anders wirkten… als wäre eine neue Schicht hinzugekommen. Genau wie seine Haut gleichzeitig porenfrei und durchscheinend wirkte.

Ich glaube es ja, dachte Clary. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das eine Rolle spielt. Sanft stupste sie ihn wieder mit der Schulter an. »Hör mal, kann ich dir eine Frage stellen? Es ist zwar persönlich, aber auch ziemlich wichtig.«

Vorsichtig fragte Simon: »Worum geht’s?«

»Diese ganze Kainsmal-Geschichte… wenn ich dich also jetzt versehentlich im Schlaf trete, wird mir dann eine unsichtbare Kraft sieben Mal gegen das Schienbein treten?«, fragte Clary und spürte, wie er leise lachte.

»Schlaf endlich, Fray.«

3 Gefallene Engel

»Mann, ich dachte schon, du hättest total vergessen, dass du noch hier wohnst«, sagte Jordan in dem Moment, in dem Simon mit dem Hausschlüssel in der Hand das Wohnzimmer ihres kleinen Appartements betrat. Normalerweise lümmelte Jordan immer auf dem Futonsofa herum, die langen Beine über der Seitenlehne und den Controller der Xbox in Reichweite. Und auch heute befand er sich auf seinem Lieblingsplatz – allerdings saß er diesmal aufrecht auf dem Sofa, die breiten Schultern leicht nach vorn gebeugt und die Hände in den Taschen, die Fernbedienung war nirgends zu sehen. Bei Simons Anblick wirkte er erleichtert – und einen Augenblick später wusste Simon auch, wieso.

Jordan war nicht allein. Ihm direkt gegenüber, in einem orangefarbenen Sessel mit genopptem Samtpolster – der genau wie die anderen Möbel in Jordans Wohnung nicht zum Rest der Einrichtung passte – saß Maia, die wild gelockten Haare zu zwei Zöpfen gezähmt. Bei ihrer letzten Begegnung auf Jocelyns und Lukes Polterabend war sie extrem schick gewesen, doch jetzt trug sie wieder ihre Alltagsuniform: Jeans mit ausgefranstem Saum, ein langärmeliges Shirt und eine karamellbraune Lederjacke. Sie schien sich genauso unbehaglich zu fühlen wie Jordan, saß kerzengerade da und schaute immer wieder verlegen zum Fenster. Als sie Simon erblickte, sprang sie dankbar auf und umarmte ihn. »Hi, ich bin nur kurz vorbeigekommen, um mich zu erkundigen, wie es dir geht«, begrüßte sie ihn.

»Mir geht’s gut. Zumindest den Umständen entsprechend.«

»Ich meinte damit eigentlich nicht diese ganze Geschichte mit Jace«, erwiderte Maia. »Ich dachte eher an dich. Wie kommst du zurecht?«

»Ich?« Simon war verblüfft. »Gut so weit. Ich mach mir halt Sorgen um Isabelle und Clary. Du weißt ja, dass sie vom Rat befragt worden ist…«

Maia nickte und ließ Simon los. »Ja, ich hab gehört, dass sie von jedem Verdacht freigesprochen wurde. Das ist klasse. Aber ich musste die ganze Zeit an dich denken. Und an das, was mit deiner Mutter passiert ist.«

»Woher weißt du davon?« Simon warf Jordan einen scharfen Blick zu, doch der schüttelte kaum merklich den Kopf – er hatte nichts ausgeplaudert.

Verlegen spielte Maia mit ihrem Zopf. »Ich hab Eric zufällig in der Stadt getroffen. Er hat mir erzählt, was passiert ist, und dass du deshalb in den letzten zwei Wochen bei keinem der Gigs von ›Millennium Lint‹ mitgespielt hast.«

»Äh, die Band hat inzwischen ihren Namen geändert – sie heißt jetzt ›Midnight Burrito‹«, erklärte Jordan.

Verärgert warf Maia ihm einen Blick zu, woraufhin Jordan noch tiefer in den Polstern des Sofas versank. Simon fragte sich, worüber sich die beiden wohl unterhalten hatten, bevor er nach Hause gekommen war. »Hast du mit irgendjemand anderem aus deiner Familie geredet?«, erkundigte Maia sich besorgt. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren voller Anteilnahme.

Simon wusste, dass er sich kindisch verhielt, aber irgendetwas an der Art und Weise, wie sie ihn anschaute, gefiel ihm nicht. Es kam ihm so vor, als würde das Problem durch ihre Sorge erst real werden, wohingegen er sonst so tun konnte, als wäre überhaupt nichts passiert. »Ja, hab ich«, sagte er. »Mit meiner Familie ist alles in Ordnung.«

»Wirklich?«, hakte Jordan nach. »Du hast nämlich dein Handy hier vergessen. Und deine Schwester hat etwa alle fünf Minuten angerufen. Den ganzen Tag über. Gestern auch.«

Ein eisiges Gefühl breitete sich in Simons Magen aus. Er nahm das Telefon von Jordan entgegen und schaute auf das Display: siebzehn Anrufe in Abwesenheit, alle von Rebecca. »Mist«, murmelte er. »Das hatte ich eigentlich vermeiden wollen.«

»Na ja, sie ist deine Schwester«, sagte Maia. »War doch klar, dass sie dich irgendwann anrufen würde.«

»Ich weiß, aber ich hab versucht, sie da rauszuhalten – hab ihr Nachrichten aufs Band gesprochen, wenn ich wusste, dass sie nicht da war und so. Ich… ich schätze, ich wollte wohl vor dem Unvermeidlichen davonlaufen.«

»Und was jetzt?«

Simon legte das Handy auf die Fensterbank. »Ihr weiterhin aus dem Weg gehen?«

»Nein, mach das nicht«, sagte Jordan und nahm die Hände aus den Taschen. »Du solltest mit deiner Schwester reden.«

»Und was genau soll ich ihr sagen?« Simons Ton klang schärfer, als er beabsichtigt hatte.

»Deine Mutter hat ihr bestimmt irgendetwas erzählt«, erwiderte Jordan. »Sie macht sich wahrscheinlich Sorgen.«

Simon schüttelte den Kopf. »Sie kommt in ein paar Wochen sowieso zu Thanksgiving nach Hause. Bis dahin will ich sie nicht mit reinziehen, in das, was zwischen mir und meiner Mutter läuft.«

»Aber sie hängt da schon mit drin. Sie ist Teil deiner Familie«, entgegnete Maia. »Außerdem: Das, was mit deiner Mutter los ist, gehört jetzt zu deinem Leben.«

»In dem Fall will ich Rebecca lieber ganz aus meinem Leben raushalten.« Simon wusste, dass er unvernünftig reagierte, konnte aber nichts dagegen machen. Seine Schwester war… besonders. Anders. Ein Teil seines Lebens, der bis jetzt von all diesem Irrsinn unberührt geblieben war. Möglicherweise der einzige Teil.

Genervt riss Maia die Hände hoch und wandte sich an Jordan: »Sag doch auch mal was! Schließlich bist du doch sein Praetor-Beistand.«

»Ach, kommt schon«, protestierte Simon, bevor Jordan den Mund aufmachen konnte. »Hat einer von euch beiden vielleicht noch Kontakt zu seinen Eltern? Oder anderen Familienmitgliedern?«

Maia und Jordan tauschten rasch einen Blick und dann meinte Jordan gedehnt: »Nein, aber wir hatten auch vorher schon keine gute Beziehung zu ihnen…«

»Womit dann alles gesagt wäre«, erwiderte Simon. »Wir sind alle Waisen. Waisen im Sturm.«

»Du kannst deine Schwester nicht einfach ignorieren«, beharrte Maia.

»Und ob ich das kann.«

»Und was ist, wenn Rebecca heimkommt und euer Haus aussieht wie das Filmset von Der Exorzist? Und deine Mom nicht erklären kann, wo du steckst?« Jordan beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. »Dann wird deine Schwester die Polizei rufen und deine Mutter wird in einer Nervenklinik landen.«

»Ich glaub einfach nicht, dass ich schon dazu bereit bin, ihre Stimme zu hören«, widersprach Simon, obwohl er wusste, dass er die Diskussion verloren hatte. »Auf jeden Fall muss ich jetzt dringend weg, aber ich verspreche, ihr eine SMS zu schicken.«

»Okay«, sagte Jordan, schaute dabei jedoch nicht Simon, sondern Maia an, als hoffte er, sie würde seine Fortschritte mit Simon bemerken und wohlwollend nicken.

Simon fragte sich, ob Jordan und Maia sich während der vergangenen zwei Wochen, in denen er kaum in der Wohnung gewesen war, überhaupt gesehen hatten. Aber wenn er an die angespannte Stimmung dachte, die bei seiner Rückkehr im Wohnzimmer geherrscht hatte, tippte er auf Nein; allerdings konnte man sich bei den beiden nie sicher sein.

»Das ist doch schon mal ein Anfang«, fügte Jordan hinzu.

Der goldfarbene Aufzug setzte sich ratternd in Bewegung und hielt im zweiten Geschoss des Instituts. Clary holte tief Luft und betrat den Flur. Genau wie Alec und Isabelle ihr versichert hatten, war das Gebäude still und menschenleer. Von draußen drang nur das leise Rauschen des Verkehrs auf der York Avenue an ihr Ohr. Clary stellte sich vor, sie könnte hören, wie die im Sonnenlicht tanzenden Staubpartikel gegeneinanderprallten. Entlang der Wand befand sich eine Reihe Kleiderhaken, an denen die Bewohner des Instituts bei ihrer Rückkehr ihre Mäntel aufhängen konnten. Eine von Jace’ schwarzen Jacken hing noch immer dort, die Ärmel baumelten gespenstisch leer herab.

Clary schauderte und machte sich dann auf den Weg zur Bibliothek. Dabei erinnerte sie sich, wie Jace sie zum ersten Mal durch diese Gänge geführt und ihr mit unbekümmerter Stimme von den Schattenjägern und von Idris erzählt hatte, einer Welt, von deren Existenz sie nicht einmal geahnt hatte. Während er redete, hatte sie ihn heimlich beobachtet – zumindest hatte sie das damals gedacht, aber heute wusste sie, dass Jace nichts entging. Sie hatte das Licht gesehen, das von seinen hellen Haaren reflektierte, die schnellen Bewegungen seiner schlanken Hände, das Spiel seiner Muskeln, während er mit den Armen gestikulierte.

Ohne auf einen anderen Nephilim zu treffen, erreichte sie schließlich die Bibliothek und stieß die Tür auf. Dieser Raum jagte ihr immer noch einen Schauer über den Rücken; daran hatte sich seit ihrem ersten Besuch nichts geändert. Der kreisförmige, innerhalb eines Turms errichtete Saal besaß eine Empore, die sich direkt oberhalb der hohen Bücherregale an der Wand entlangzog. In der Raummitte stand der massive Schreibtisch, den Clary noch immer mit Hodge in Verbindung brachte: eine gewaltige Tischplatte – aus einem Eichenholzblock geschnitzt –, die auf den Rücken zweier kniender Engel ruhte. Fast erwartete Clary, dass Hodge sich dahinter erhob, seinen scharfäugigen Raben Hugo auf der linken Schulter.

Rasch schüttelte sie die Erinnerungen daran ab und lief zur Wendeltreppe am hinteren Ende des Raums. Sie trug Jeans und Turnschuhe mit Gummisohlen und auf ihren Fußknöcheln prangte eine Unhörbarkeitsrune; die Stille war fast unheimlich, während sie die Stufen hinaufsprang und die Empore betrat. Auch hier standen Bücher, allerdings hinter Glas verschlossen. Einige der Wälzer waren uralt, mit ausgefransten Einbänden und Rücken, die nur noch von wenigen Fäden zusammengehalten wurden. Bei anderen handelte es sich eindeutig um Werke Schwarzer oder gefährlicher Magie: Von unaussprechlichen Kulten, Des Dämons Pocken, Ein praktischer Ratgeber zur Auferweckung der Toten.

Zwischen den abgeschlossenen Bücherschränken standen Schaukästen, in denen Exemplare seltener und außergewöhnlicher Objekte ausgestellt waren – ein zierlicher Glasflakon mit einem riesigen Smaragd als Stöpsel; eine Krone mit einem Diamanten, die nicht so aussah, als würde sie jemals auf einen menschlichen Kopf passen; ein Anhänger in der Gestalt eines Engels, dessen Schwingen aus Zahnrädern und Metallteilen gefertigt waren. Und in der letzten Vitrine, genau wie Isabelle es beschrieben hatte, lagen zwei glänzende Goldringe, geformt wie aufgerollte Blätter und mit überaus filigranen Verzierungen.

Natürlich war auch dieser Schaukasten verschlossen, aber eine Entriegelungsrune – die Clary mit äußerster Vorsicht auftrug, damit deren Kraft nicht den Glasdeckel sprengte und unerwünschte Besucher anlockte – ließ das Schloss aufspringen. Behutsam öffnete Clary die Vitrine. Doch erst in dem Moment, in dem sie ihre Stele wieder in die Tasche schob, zögerte sie.

War das hier wirklich sie? Wollte sie tatsächlich den Rat bestehlen, um damit die Königin des Lichten Volkes zu bezahlen? Jace hatte ihr nämlich einmal erklärt, dass deren Versprechen immer mit einem dicken Pferdefuß verbunden waren.

Clary schüttelte den Kopf, als wollte sie ihre Zweifel vertreiben – und erstarrte: Die Tür der Bibliothek schwang auf. Sie konnte deutlich das Quietschen der Türscharniere hören, dann gedämpfte Stimmen und Schritte, die langsam näher kamen. Ohne lange nachzudenken, ließ Clary sich auf den Boden fallen und presste sich flach auf die kalten Holzdielen der Empore.

»Du hast recht gehabt, Jace«, tönte eine spöttische und schrecklich vertraute Stimme durch die Bibliothek. »Das Institut ist tatsächlich wie ausgestorben.«

Das Blut in Clarys Adern verwandelte sich schlagartig zu Eis: Sie konnte sich nicht bewegen, nicht atmen. Seit dem Moment, als sie zusehen musste, wie ihr Vater Jace ein Schwert in die Brust rammte, hatte Clary keinen solchen Schock mehr erlebt. Äußerst vorsichtig robbte sie zur Kante der Empore und spähte hinunter.

Und dann biss sie sich heftig auf die Lippe, um nicht laut aufzuschreien.

Das schräg ansteigende Turmdach war in der Mitte mit einem großen Oberlicht versehen. Sonnenstrahlen fielen durch dieses Fenster in den Raum und erhellten einen Teil des Fußbodens wie ein Scheinwerfer eine Bühne. Von Clarys erhöhter Position aus konnte sie das polierte Parkett mit den Intarsien aus Glas, Marmor und Halbedelsteinen erkennen, die zusammen ein Muster ergaben – den Erzengel Raziel, den Kelch und das Schwert. Und auf einer der ausgebreiteten Engelsschwingen stand Jonathan Christopher Morgenstern.

Sebastian.

So also sah ihr Bruder aus. So sah er tatsächlich aus, lebend, in Bewegung und beseelt. Groß und schlank in schwarzer Kampfmontur, ein bleiches, kantiges Gesicht. Im Gegensatz zu ihrer ersten Begegnung in Idris, als er sich die Haare dunkel gefärbt hatte, um dem echten Sebastian Verlac ähnlicher zu sehen, schimmerten seine eigenen Haare silberweiß – eine Farbe, die besser zu ihm passte. Seine schwarzen Augen sprühten vor Energie. Als Clary ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er wie Schneewittchen in einem Glassarg getrieben, die rechte Hand nur noch ein bandagierter Stumpf. Doch nun schien diese Hand, an der ein silbernes Armband glänzte, wieder vollkommen intakt zu sein – nichts deutete darauf hin, dass sie jemals verletzt oder sogar abgetrennt gewesen war.

Und neben ihm stand jemand, dessen goldblondes Haar im hellen Sonnenschein leuchtete: Jace. Aber nicht der Jace, den Clary sich während der vergangenen zwei Wochen so oft in ihrer düsteren Fantasie ausgemalt hatte – zusammengeschlagen, blutig, gefoltert, halb verhungert, eingesperrt in einem dunklen Kerker, wo er vor Schmerzen schrie oder nach ihr rief. Dort unten stand der Jace, wie sie ihn in Erinnerung hatte, wenn sie sich erlaubte, an ihn zu denken: gesund und lebendig und wunderschön. Er hatte die Hände achtlos in die Taschen seiner Jeans geschoben und trug über seinem weißen T-Shirt, durch das seine Runenmale hindurchschimmerten, eine neue hellbraune Wildlederjacke, die den warmen Goldton seiner Haut perfekt ergänzte. Langsam legte er den Kopf in den Nacken, als würde er das Gefühl der Sonne auf seinem Gesicht genießen. »Ich habe immer recht, Sebastian«, erklärte er. »Das solltest du inzwischen wissen.«

Sebastian warf ihm einen langen Blick zu und lächelte dann.

Clary starrte ihn an. Das Lächeln wirkte tatsächlich echt. Aber konnte sie sich da wirklich sicher sein? Sebastian hatte auch ihr einmal ein Lächeln geschenkt und das hatte sich als gemeine Lüge herausgestellt.

»Und wo stehen jetzt die Bücher zum Thema ›Beschwörung‹? Verbirgt sich hinter diesem Chaos hier irgendein System?«, fragte Sebastian.

»Nein, eigentlich nicht. Die Bücher sind jedenfalls nicht alphabetisch sortiert. Die Anordnung folgt eher Hodges Spezialsystem.«

»Ist er der Typ, den ich getötet habe? Wirklich zu dumm«, bemerkte Sebastian. »Vielleicht sollte ich oben mit der Suche anfangen und du hier unten.« Er marschierte zur Treppe, die zur Empore hinaufführte.

Clarys Herz begann vor Furcht zu rasen. Mit Sebastian verband sie nur Mord, Blut, Schmerz und Entsetzen. Sie wusste zwar, dass Jace gegen ihn gekämpft und ihn besiegt hatte, aber dabei wäre er selbst fast gestorben. In einem Kampf von Angesicht zu Angesicht würde sie ihren Bruder niemals besiegen können. Hektisch fragte sie sich, ob sie sich wohl über die Brüstung der Empore stürzen konnte, ohne sich dabei die Beine zu brechen. Und falls ja, was würde dann geschehen? Wie würde Jace reagieren?

Sebastian setzte gerade einen Fuß auf die unterste Stufe, als Jace ihn zurückrief: »Warte mal. Hier stehen sie ja. Eingeordnet unter ›Magie, nicht tödliche.‹«

»Nicht tödlich? Wo bleibt denn da der Spaß?«, murrte Sebastian, nahm aber den Fuß von der Treppe und ging zu Jace hinüber. »Das ist wirklich eine ganz eigenartige Bibliothek«, stellte er fest und las im Vorbeigehen einige der Titel laut vor: »›Ernährung und Pflege von Hauskobolden‹, ›Dämonen enthüllt‹.« Er zog das Buch aus dem Regal und lachte leise in sich hinein.

»Und worum geht’s da?« Jace schaute auf, ein Lächeln um die Mundwinkel.

In diesem Moment wäre Clary am liebsten nach unten gestürmt und hätte sich ihm in die Arme geworfen; der Drang war so überwältigend, dass sie sich erneut auf die Lippe beißen musste.

»Das ist Pornografie«, erklärte Sebastian. »Sieh selbst: Dämonen… enthüllt.«

Jace stellte sich schräg hinter Sebastian und stützte sich mit einer Hand auf dessen Schulter ab, während er einen Blick in das Buch warf.

Es erschien Clary, als würde sie Jace mit Alec beobachten, mit jemandem, in dessen Gegenwart er sich so ungezwungen fühlte, dass er ihn ohne langes Nachdenken berühren konnte – aber auf eine schreckliche, grundverkehrte Art und Weise.

»Okay, und woran erkennst du das?«, fragte Jace.

Sebastian schlug das Buch zu und klopfte Jace damit leicht auf die Schulter. »Über manche Dinge weiß ich eben mehr als du. Hast du die Bücher?«

»Ja, hier.« Jace schnappte sich einen Stapel schwerer Wälzer von einem nahe stehenden Tisch. »Haben wir noch Zeit, um kurz zu meinem Zimmer zu gehen? Ich bräuchte ein paar Dinge…«

»Was willst du denn mitnehmen?«

Jace zuckte die Achseln. »Hauptsächlich Klamotten und ein paar Waffen.«

Doch Sebastian schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Wir müssen hier schnell wieder raus. Also nimm nur das, was du als Notausstattung brauchst.«

»Meine Lieblingsjacke gehört zur Notausstattung«, widersprach Jace.

Clary hatte wirklich das Gefühl, als würde er mit Alec reden oder irgendeinem anderen seiner Freunde.

»Diese Jacke ist fast wie ich – angenehm und trendy«, fügte Jace hinzu.

»Hör zu, wir haben mehr als genug Geld«, entgegnete Sebastian. »Kauf dir neue Klamotten. Und außerdem: In ein paar Wochen wirst du dieses Institut leiten. Dann kannst du deine Lieblingsjacke am Fahnenmast hochziehen und als deine persönliche Flagge hissen.«

Jace lachte – jenes weiche, warme Lachen, das Clary so liebte. »Ich warne dich: Diese Jacke ist so heiß, dass sie das ganze Institut in Flammen aufgehen lassen könnte.«

»Das wäre nicht das Schlechteste… es ist eh viel zu trostlos hier.« Sebastian packte Jace im Rücken seiner neuen Wildlederjacke und zog ihn zur Seite. »So, und jetzt verschwinden wir. Pass auf die Bücher auf.« Er schaute auf seine andere Hand, an der ein dünner Silberring glänzte, und drehte diesen mit dem Daumen, während er Jace weiterhin festhielt.

»Hey, glaubst du…«, setzte Jace an, verstummte dann aber.

Einen Moment lang dachte Clary, er hätte sich unterbrochen, weil er nach oben geschaut und sie entdeckt hatte – sein Gesicht zeigte tatsächlich zur Decke. Aber noch während sie erschrocken die Luft anhielt, verschwanden Sebastian und Jace wie zwei Trugbilder in flirrender Hitze.

Langsam ließ Clary den Kopf auf den Arm sinken. Ihre Lippe blutete an der Stelle, wo sie sie aufgebissen hatte; sie schmeckte das Blut in ihrem Mund. Sie wusste, dass sie eigentlich sofort aufspringen, nach unten stürmen und aus dem Institut flüchten sollte – schließlich hatte sie hier nichts zu suchen. Aber das Eis in ihren schockgefrorenen Adern war so dick, dass sie fürchtete, in tausend Scherben zu zerbrechen, wenn sie auch nur einen Finger rührte.

Alec wachte auf, als Magnus ihn an der Schulter rüttelte.

»Komm schon, Zuckerschnecke«, sagte er. »Zeit zum Aufstehen.«

Benommen schälte Alec sich aus den Decken und Kissen und blinzelte seinen Freund an. Obwohl Magnus kaum geschlafen hatte, wirkte er unverschämt munter. Seine Haare waren nass und tropften auf das weiße Hemd, machten es durchsichtig. Außerdem trug er eine löchrige Jeans mit ausgefranstem Saum, was in der Regel bedeutete, dass er den Tag in der Wohnung verbringen würde.

»›Zuckerschnecke‹?«, fragte Alec.

»Ich wollte es mal ausprobieren.«

Entschieden schüttelte Alec den Kopf. »Kommt nicht infrage.«

Magnus zuckte die Achseln. »Also gut, ich werd mir was anderes überlegen.« Er hielt Alec einen angeschlagenen blauen Becher mit Kaffee entgegen – Kaffee so wie Alec ihn mochte: schwarz und mit Zucker. »Wach auf.«

Alec setzte sich auf, rieb sich die Augen und nahm den Becher. Der erste herbe Schluck sandte einen prickelnden Energieschub durch seine Nervenbahnen. Und er erinnerte sich wieder an die Nacht zuvor: Er hatte wach gelegen und darauf gewartet, dass Magnus endlich ins Bett kam, doch irgendwann hatte ihn die Müdigkeit übermannt und er war gegen fünf Uhr morgens eingeschlafen. »Ich werd’ heut nicht zur Ratssitzung gehen«, verkündete er.

»Ich weiß, aber du wolltest dich mit deiner Schwester und den anderen im Central Park am Turtle Pond treffen. Du hast mich extra gebeten, dich daran zu erinnern.«

Alec schwang die Beine über die Bettkante. »Wie spät ist es?«

Sanft nahm Magnus ihm den Becher aus der Hand, damit Alec den Kaffee nicht verschüttete, und stellte ihn auf den Nachttisch. »Keine Sorge – du hast etwa eine Stunde«, erklärte er beruhigend, beugte sich dann vor und presste seine Lippen auf Alecs.

Sofort erinnerte Alec sich wieder an ihren ersten gemeinsamen Kuss, hier in dieser Wohnung, und am liebsten hätte er die Arme um Magnus geschlungen und ihn an sich gezogen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Stattdessen stand er auf, löste sich von seinem Freund und ging zur Kommode. Er hatte eine eigene Schublade für seine Klamotten, einen Platz im Bad für seine Zahnbürste, einen Haustürschlüssel – eigentlich ausreichend Raum im Leben seines Freundes, und dennoch konnte er die kalte Angst, die in seinem Magen rumorte, einfach nicht loswerden.

Magnus hatte sich wieder auf das Bett fallen lassen und beobachtete Alec mit einem Arm hinter dem Kopf. »Trag doch den Schal da«, sagte er und zeigte auf einen blauen Kaschmirschal, der an einem Haken hing. »Der passt so gut zu deinen Augen.«

Alec musterte den Schal. Plötzlich erfasste ihn eine heiße Wut – auf den Schal, auf Magnus und vor allem auf sich selbst. »Lass mich raten: Der Schal ist hundert Jahre alt und wurde dir von Königin Victoria persönlich kurz vor ihrem Tod überreicht – für besondere Verdienste um das Königshaus oder was weiß ich«, knurrte er.

Ruckartig setzte Magnus sich auf. »Was ist los? Was hast du?«

Finster starrte Alec ihn an. »Bin ich dein neuestes Objekt in dieser Wohnung?«

»Ich denke, diese Ehre gebührt dem Großen Vorsitzenden. Schließlich ist Miau Tse-tung gerade mal zwei Jahre alt.«

»Ich sagte ›neuestes‹, nicht ›jüngstes‹«, fauchte Alec. »Wer ist W. S.? Steht die Abkürzung etwa für Will?«

Magnus schüttelte verständnislos den Kopf, als hätte er Wasser in den Ohren. »Was zum Teufel…? Du meinst die Schnupftabakdose? W. S. steht für Woolsey Scott. Er…«

»Hat die Praetor Lupus gegründet. Ich weiß.« Alec stieg in seine Jeans und zog den Reißverschluss hoch. »Das hattest du bereits erwähnt und außerdem ist er eine historische Persönlichkeit. Und seine Schnupftabakdose liegt in deiner Schreibtischschublade. Was fliegt da sonst noch alles drin rum? Vielleicht Jonathan Shadowhunters Nagelschere?«

Magnus’ Katzenaugen bekamen einen kalten Ausdruck. »Was ist los mit dir, Alexander? Ich belüge dich nicht. Wenn du irgendetwas über mich wissen willst, kannst du mich einfach fragen.«

»Blödsinn«, entgegnete Alec unverblümt, während er sein Hemd zuknöpfte. »Du bist nett und witzig und vieles mehr, aber alles andere als mitteilsam, Zuckerschnecke. Du kannst stundenlang über die Probleme anderer Leute reden, aber über dich oder deine Vergangenheit rückst du nichts raus, und wenn ich dich danach frage, windest du dich wie ein Wurm am Angelhaken.«

»Vielleicht liegt das ja daran, dass du mich nicht fragen kannst, ohne gleich einen Streit vom Zaun zu brechen… einen Streit darüber, dass ich ewig leben werde und du nicht«, konterte Magnus aufgebracht. »Oder daran, dass das Thema Unsterblichkeit sich mehr und mehr zu einer dritten Person in unserer Beziehung entwickelt, Alec.«

»In unserer Beziehung sollte es keine dritte Person geben.«

»Ganz genau.«

Alec schnürte es die Kehle zu. Es gab tausend Dinge, die er eigentlich sagen wollte, aber er war mit Worten nie so geschickt gewesen wie Jace oder Magnus. Stattdessen riss er den blauen Schal vom Haken und schlang ihn sich trotzig um den Hals. »Meinetwegen brauchst du nicht aufzubleiben. Kann sein, dass ich heute Nacht auf Patrouille muss«, knurrte er und marschierte hinaus. Als er die Wohnungstür hinter sich zuschlug, hörte er, wie Magnus ihm etwas hinterherrief.

»Und der Schal ist von Gap! Nur damit du’s weißt. Den hab ich erst letztes Jahr gekauft!«

Genervt rollte Alec mit den Augen und lief die Treppe zur Eingangshalle hinunter. Die nackte Glühbirne, die die Stufen normalerweise beleuchtete, war durchgebrannt, daher lag der Flur so finster vor ihm, dass Alec die Gestalt, die aus den Schatten trat, erst beim zweiten Hinsehen bemerkte. Vor Schreck ließ er seinen Schlüssel fallen, der rasselnd auf dem Boden landete.

Lautlos kam die Gestalt auf ihn zu. Alec konnte nicht erkennen, wer oder was sich unter der Kutte verbarg – weder Alter noch Geschlecht, nicht einmal die Spezies. Die Stimme, die unter der weiten Kapuze hervordrang, klang tief und krächzend: »Ich habe eine Nachricht für dich, Alec Lightwood. Eine Nachricht von Camille Belcourt.«

»Wollen wir heute Abend gemeinsam auf Patrouille gehen?«, fragte Jordan etwas unvermittelt.

Überrascht drehte Maia sich zu ihm um. Jordan lehnte mit dem Rücken an der Küchentheke, die Ellbogen hinter ihm auf die glatte Oberfläche gestützt. Seine Haltung hatte etwas derart Gleichgültiges an sich, dass es schon fast einstudiert wirkte. Das war das Problem, wenn man jemanden so gut kannte, überlegte Maia: Man konnte ihm schlecht etwas vortäuschen und auch dessen vorgetäuschtes Verhalten schlecht ignorieren – obwohl das im Moment wesentlich einfacher gewesen wäre.

»Gemeinsam auf Patrouille gehen?«, wiederholte sie. Simon war in seinem Zimmer, um sich umzuziehen. Maia hatte ihm angeboten, ihn bis zur U-Bahn-Station zu begleiten, und wünschte nun, sie hätte nichts gesagt. Sie wusste, dass sie sich schon früher bei Jordan hätte melden sollen – nach ihrer letzten Begegnung, als sie ihn unvorsichtigerweise geküsst hatte. Aber dann war Jace verschwunden und die ganze Welt schien auf den Kopf gestellt, was ihr die passende Ausrede geliefert hatte, sich nicht mit dem Thema zu befassen.

Natürlich war es wesentlich einfacher, nicht an seinen Ex zu denken, der einem das Herz gebrochen und die Verwandlung zum Werwolf verursacht hatte, solange er nicht direkt vor einem stand – noch dazu in einem grünen T-Shirt, das sich genau an den richtigen Stellen an seinen schlanken muskulösen Körper schmiegte und seine grün-braunen Augen perfekt zur Geltung brachte.

»Ich dachte, die Suche nach Jace würde eingestellt«, sagte sie ausweichend und schaute weg.

»Na ja, nicht vollständig eingestellt, eher reduziert. Aber ich bin Mitglied der Praetor und nicht des Rats. Ich kann in meiner Freizeit also nach Jace suchen.«

»Stimmt«, murmelte Maia.

Jordan spielte mit irgendetwas auf der Küchentheke, schob es nervös hin und her, doch sein Blick ruhte noch immer auf ihr. »Möchtest du… Früher wolltest du doch nach Stanford aufs College gehen. Möchtest du immer noch dort studieren?«, fragte er.

Maias Herz machte einen Sprung. »Ich hab nicht mehr darüber nachgedacht, seit ich…« Sie räusperte sich. »Seit meiner Verwandlung.«

Sofort lief Jordan rot an. »Du hattest… ich meine, du wolltest doch immer nach Kalifornien ziehen. Du hattest vor, Geschichte zu studieren, und ich wollte mitkommen, um zu surfen. Weißt du noch?«

Langsam schob Maia die Hände in die Taschen ihrer Lederjacke. Sie hatte das Gefühl, unendlich wütend auf ihn sein zu müssen – sie war es aber nicht. Lange Zeit hatte sie Jordan die Schuld daran gegeben, dass sie ihren Traum von einem normalen menschlichen Leben mit Schule und Ausbildung und später vielleicht einmal einem Haus und Familie aufgeben musste. Aber in der Polizeiwache gab es genügend andere Werwölfe, die ihre Träume und Talente weiterhin verfolgten. Bat beispielsweise. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen, ihr Leben auf Sparflamme zu setzen. »Ja, ich erinnere mich«, sagte sie nun.

Jordans Wangen röteten sich noch stärker. »Um noch mal auf heute Abend zurückzukommen: Bisher hat noch niemand den Brooklyn Navy Yard durchsucht, deshalb dachte ich… Aber allein macht das keinen richtigen Spaß. Wenn du allerdings keine Lust hast mitzukommen…«

»Nein, nein«, sagte Maia; die Worte klangen in ihren Ohren, als stammten sie von einer anderen Person. »Ich meine: doch, klar. Ich komme mit.«

»Wirklich?« Jordans grün-braune Augen leuchteten auf.

Maia verfluchte sich innerlich. Sie sollte ihm keine falschen Hoffnungen machen – nicht, solange sie sich nicht sicher war, was sie selbst empfand. Es fiel ihr immer noch schwer zu glauben, dass ihm wirklich etwas an ihr lag.

Das Praetor-Lupus-Medaillon glänzte an seinem Hals, als er sich vorbeugte, und Maia konnte den vertrauten Seifenduft riechen – und darunter den Wolfsgeruch. Sie schaute zu ihm hoch… gerade als Simon aus seinem Zimmer kam und sich den Kapuzenpulli überstreifte.

Beim Anblick der beiden blieb er abrupt stehen. Mit hochgezogenen Augenbrauen wanderte sein Blick von Jordan zu Maia. »Hör mal, ich kann auch allein zur U-Bahn gehen«, versicherte er Maia, wobei ein leises Lächeln seine Lippen umspielte. »Falls du lieber hierbleiben willst…«

»Nein, nein.« Hastig nahm Maia die Hände aus den Taschen, die sie dort die ganze Zeit über nervös zu Fäusten geballt hatte. »Nein, ich komm mit. Jordan, ich… ich seh dich dann später.«

»Bis nachher!«, rief er ihr nach, doch Maia drehte sich nicht mehr um – sie beeilte sich, Simon ins Treppenhaus zu folgen.

Simon trottete allein den sanft ansteigenden Hügel hinauf und hörte die Rufe der Frisbee-Spieler auf der Sheep Meadow hinter sich wie weit entfernt spielende Musik. Es war ein strahlender Novembertag, frisch und windig, und die Sonne ließ das restliche Laub der Bäume in bunten Farben aufleuchten – Scharlachrot, Goldorange, Bernsteingelb.

Die Hügelkuppe war mit Felsbrocken übersät – von hier aus ließ sich gut erkennen, dass das Gelände früher nur eine Wildnis aus Wald und Steinen gewesen war. Isabelle saß auf einem der massiven Felsen; sie trug ein langes Kleid aus flaschengrüner Seide und darüber einen schwarzen, mit Silberfaden bestickten Mantel. Als Simon näher kam, schaute sie auf und strich sich die langen dunklen Haare aus dem Gesicht. »Ich dachte, Clary begleitet dich«, rief sie ihm zu. »Wo ist sie?«

»Noch im Institut, aber auf dem Weg hierher«, erklärte Simon, hockte sich dann neben Isabelle auf den Felsblock und steckte die Hände in die Taschen seiner Windjacke. »Sie hat mir eine SMS geschickt – sie müsste gleich hier sein.«

»Alec ist ebenfalls auf dem Weg…«, setzte Isabelle an, verstummte aber, als Simons Tasche plötzlich vibrierte – oder vielmehr, als das Handy in seiner Tasche brummte. »Ich glaub, da hat dir jemand ’ne Nachricht geschickt.«

Simon zuckte die Achseln. »Darum kümmer ich mich später.«

Isabelle warf ihm unter ihren langen Wimpern einen skeptischen Blick zu. »Na, wie schon gesagt, Alec ist auch auf dem Weg hierher. Er musste die ganze Strecke von Brooklyn aus…«

Erneut brummte Simons Telefon und hörte damit gar nicht mehr auf.

»Okay, jetzt reicht’s. Wenn du nicht rangehst, mach ich das eben.« Isabelle beugte sich vor und griff blitzschnell in seine Jackentasche.

Dabei streiften ihre Haare sein Kinn, sodass er ihr Vanilleparfüm und den Duft ihrer Haut riechen konnte. Als sie das Handy aus der Tasche zog und sich wieder aufrichtete, war er erleichtert und enttäuscht zugleich.

Fragend spähte Isabelle auf das Display. »Rebecca? Wer ist Rebecca?«

»Meine Schwester.«

Isabelle entspannte sich. »Sie will sich mit dir treffen. Sie schreibt, sie hätte dich seit einer Ewigkeit nicht gesehen, seit…«

Rasch schnappte Simon sich sein Telefon und schaltete es aus, ehe er es wieder in seine Tasche gleiten ließ. »Ich weiß, ich weiß.«

»Willst du sie denn nicht sehen?«

»Mehr als… mehr als fast alles andere. Aber ich will nicht, dass sie es erfährt. Das mit mir.« Simon hob einen Stock auf und warf ihn den Hügel hinunter. »Du weißt ja, was passiert ist, als meine Mom davon erfahren hat.«

»Dann triff dich doch an einem öffentlichen Ort mit ihr. Irgendwo, wo sie nicht ausflippen kann. Weit weg von eurem Elternhaus.«

»Aber selbst wenn sie nicht ausflippt, könnte sie mich immer noch so ansehen, wie meine Mom mich angesehen hat«, erwiderte Simon mit leiser Stimme. »So, als wäre ich ein Monster.«

Vorsichtig berührte Isabelle Simon am Handgelenk. »Meine Mutter hat Jace vor die Tür gesetzt, weil sie dachte, er wäre Valentins Sohn und ein Spion – und hat es anschließend furchtbar bereut. Und meine Eltern gewöhnen sich gerade an den Gedanken, dass Alec mit Magnus zusammen ist. Ich bin mir sicher, dass auch deine Mutter sich irgendwann an dein Vampirdasein gewöhnen wird. Versuch, deine Schwester auf deine Seite zu bringen. Das hilft bestimmt.« Isabelle neigte den Kopf leicht zur Seite. »Manchmal denke ich, Geschwister verstehen mehr als Eltern. Der Erwartungsdruck ist nicht so groß. Ich könnte Alec niemals aus meinem Leben verbannen – ganz gleich, was er getan hätte. Niemals. Und Jace auch nicht«, fügte sie hinzu, drückte Simons Arm und ließ ihn dann los. »Mein kleiner Bruder ist tot. Ich werde ihn nie wiedersehen. Tu das deiner Schwester nicht an.«

»Was soll er ihr nicht antun?«, fragte in dem Moment eine Stimme. Alec kam den Hügel hinaufgestapft und kickte dabei trockenes Laub aus dem Weg. Er trug wie üblich einen fransigen Pullover über der Jeans und hatte einen dunkelblauen Schal um den Hals gewickelt, der farblich zu seinen Augen passte.

Der Schal musste ein Geschenk von Magnus sein, dachte Simon. Alec konnte ihn unmöglich selbst gekauft haben – die Idee farblich aufeinander abgestimmter Kleidung lag jenseits seiner Vorstellungswelt.

Isabelle räusperte sich. »Simons Schwester möchte…«, setzte sie an, doch weiter kam sie nicht. Denn im nächsten Moment fegte ein kalter Wind über den Hügel und wirbelte die trockenen Blätter auf. Isabelle riss schützend die Hände vors Gesicht, um den Staub abzuhalten, als die Luft plötzlich transparent zu schimmern begann und sich die unverkennbaren Anzeichen eines sich öffnenden Portals ankündigten. Einen Sekundenbruchteil später stand Clary vor ihnen, mit der Stele in der Hand und tränenüberströmtem Gesicht.

4 Unsterblichkeit

»Und du bist dir absolut sicher, dass es Jace war?«, fragte Isabelle bestimmt zum hundertsten Mal – zumindest kam es Clary so vor.

Clary biss sich auf ihre ohnehin schon wunde Lippe und zählte innerlich bis zehn. »Hallo, Isabelle – ich bin’s!«, erwiderte sie schließlich. »Glaubst du ernsthaft, ich würde Jace nicht erkennen?« Fragend schaute sie zu Alec hoch, der über ihnen stand und dessen blauer Schal im Wind flatterte. »Könntest du jemand anderen mit Magnus verwechseln?«

»Nein. Niemals«, erklärte Alec wie aus der Pistole geschossen. Seine dunkelblauen Augen schauten voller Sorge. »Es ist nur… ich meine, natürlich stellen wir dir diese Frage. Das Ganze ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«

»Möglicherweise wird er als Geisel gehalten«, überlegte Simon und lehnte sich mit dem Rücken an einen Felsbrocken. In der Herbstsonne hatten seine Augen die Farbe von dunklem Kaffee. »Könnte doch sein, dass Sebastian ihm droht, er würde jemandem, an dem Jace etwas liegt, was antun, falls der sich seinen Plänen widersetzt.«

Alle Augen richteten sich auf Clary, aber sie schüttelte nur frustriert den Kopf. »Ihr habt die beiden nicht zusammen erlebt. Keine Geisel würde sich so verhalten. Jace wirkte total entspannt.«

»Dann muss er besessen sein«, stellte Alec fest. »Wie damals, als Lilith von ihm Besitz ergriffen hatte.«

»Genau das hab ich anfangs auch gedacht. Aber als er unter Liliths Einfluss stand, hat er sich wie ein Roboter verhalten und wieder und wieder dieselben Sachen geplappert. Doch das hier war eindeutig Jace. Er hat die gleichen Witze gerissen wie sonst auch. Und so gelächelt wie sonst auch.«

»Vielleicht leidet er ja unter dem Stockholm-Syndrom«, mutmaßte Simon. »Ihr wisst schon: wenn die Geisel einer Gehirnwäsche unterzogen wird und mit dem Geiselnehmer zu sympathisieren beginnt.«

»Das scheint mir unwahrscheinlich«, warf Alec ein und wandte sich dann wieder an Clary: »Wie hat er ausgesehen? War er verletzt oder irgendwie angeschlagen? Kannst du die beiden genauer beschreiben?«

Auch diese Frage stellte er nicht zum ersten Mal. Clary seufzte, und während der Wind trockenes Laub um ihre Füße wirbelte, erzählte sie den anderen erneut, wie Jace ausgesehen hatte: gesund und munter. Genau wie Sebastian. Die beiden hatten einen völlig entspannten Eindruck gemacht. Jace’ Kleidung war sauber gewesen – sauber, stylish, normal wie immer. Und Sebastian hatte einen langen schwarzen Trenchcoat aus schwerer Wolle getragen, der sehr teuer aussah.

»Klingt nach einer Burberry-Werbung für Dämonen«, bemerkte Simon, als Clary ihre Beschreibung beendet hatte.

Isabelle warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Möglicherweise verfolgt Jace ja einen Plan«, sagte sie. »Vielleicht versucht er, Sebastian hereinzulegen. Sein Vertrauen zu erschleichen, um herauszufinden, was er vorhat.«

»Jace hätte doch wohl versucht, uns auf irgendeine Art zu benachrichtigen, wenn er so was vorhätte«, warf Alec ein. »Statt uns in helle Panik zu versetzen. Alles andere wäre einfach nur grausam.«

»Es sei denn, das damit verbundene Risiko wäre zu groß für ihn. Er würde davon ausgehen, dass wir ihm vertrauen. Und das tun wir ja auch«, erwiderte Isabelle mit erhobener Stimme und schlang dann zitternd die Arme um ihren Körper. Ein kalter Wind pfiff durch die fast kahlen Bäume, die den Kiesweg säumten.

»Vielleicht sollten wir den Rat informieren«, sagte Clary und hörte ihre eigene Stimme wie aus großer Entfernung. »Das Ganze ist… Ich habe keine Ahnung, wie wir diese Situation allein in den Griff kriegen sollen.«

»Wir dürfen den Rat nicht informieren«, stellte Isabelle mit harter Stimme klar.

»Und warum nicht?«

»Wenn der Rat der Meinung ist, dass Jace mit Sebastian kooperiert, dann wird der Befehl erteilt, ihn auf der Stelle zu töten«, erklärte Alec. »So lautet nun mal das Gesetz.«

»Selbst wenn Isabelle recht hat? Wenn Jace nur zum Schein mitspielt?«, fragte Simon zweifelnd. »Wenn er versucht, Sebastians Vertrauen zu gewinnen, um an wichtige Information zu kommen?«

»Das lässt sich aber nicht beweisen. Und wenn wir seinen Plan überall herumposaunen und Sebastian irgendwie davon erfährt, wird er Jace sehr wahrscheinlich umbringen«, gab Alec zu bedenken. »Falls Jace aber besessen ist, werden die Ratsmitglieder ihn töten. Wir dürfen ihnen also auf gar keinen Fall etwas erzählen.« Er klang resolut. Clary schaute ihn überrascht an; normalerweise war Alec derjenige, der sich am strengsten an die Vorschriften hielt.

»Wir reden hier über Sebastian«, erklärte Izzy. »Es gibt wohl kaum jemanden, den der Rat mehr hasst – abgesehen von Valentin, aber der ist tot. Fast jeder Nephilim kennt jemanden, der in der Großen Schlacht umgekommen ist, und Sebastian war derjenige, der die Schutzschilde zerstört hat.«

Clary scharrte mit den Schuhen im Kies. Die ganze Situation erschien ihr wie ein böser Traum… aus dem sie jeden Moment aufwachen müsste. »Und was machen wir jetzt?«

»Wir reden mit Magnus. Vielleicht hat er ja eine Idee.« Alec zupfte an seinem Schal herum. »Er wird sich nicht an die Kongregation wenden. Jedenfalls nicht, wenn ich ihn darum bitte.«

»Das würde ich ihm auch raten«, meinte Isabelle empört. »Ansonsten wäre er der mieseste Freund aller Zeiten.«

»Ich hab doch gesagt, dass er nicht losrennen und uns verpetzen wird…«

»Hat das eigentlich noch irgendeinen Sinn?«, unterbrach Simon die beiden Geschwister. »Ich meine, der Besuch bei der Elbenkönigin? Jetzt, da wir wissen, dass Jace besessen ist oder sich möglicherweise ganz bewusst versteckt hält…«

»Man versäumt keine Verabredung mit der Königin des Lichten Volkes«, erwiderte Isabelle bestimmt. »Jedenfalls nicht, wenn einem sein Leben lieb ist.«

»Aber sie wird Clary die Ringe abnehmen und uns nichts Neues erzählen«, hielt Simon dagegen. »Inzwischen wissen wir mehr als beim ersten Besuch. Und würden ihr andere Fragen stellen. Aber auf die wird sie garantiert nicht eingehen. Die Königin wird nur die bereits gestellten Fragen beantworten. So sind die Feenwesen nun mal. Sie machen keine Geschenke. Und sie würde sicherlich auch nicht zulassen, dass wir erst mit Magnus reden und dann wieder zu ihr kommen.«

»Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.« Clary rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und registrierte dann, dass sie trocken blieben. Irgendwann hatten ihre Tränen aufgehört zu fließen – Gott sei Dank. Sie hätte der Königin nicht total verheult gegenübertreten wollen. »Denn ich hab die Ringe nicht«, fügte sie hinzu.

Isabelle blinzelte. »Wie bitte?«

»Nachdem ich Jace und Sebastian gesehen habe, war ich viel zu aufgewühlt, um sie mitzunehmen. Ich bin einfach aus dem Institut gestürmt und hab mich hierher teleportiert.«

»Na, dann können wir auch nicht zur Königin«, bemerkte Alec. »Wenn du nicht das getan hast, was sie von dir verlangt, wird sie wahrscheinlich ausrasten.«

»Mehr als nur ausrasten«, ergänzte Isabelle. »Du hast ja gesehen, was sie mit Alec gemacht hat. Und das war nur ein Zauberglanz. Wahrscheinlich wird sie dich in einen Hummer verwandeln oder so was.«

»Die Königin hat es gewusst«, überlegte Clary. »Sie sagte wörtlich: ›Wenn ihr ihn wiederfindet, könnte euer Freund möglicherweise nicht mehr so sein, wie ihr ihn in Erinnerung habt.‹« Die Stimme der Königin hallte in Clarys Gedanken noch einen Moment nach und ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Sie konnte verstehen, warum Simon die Feenwesen so sehr hasste. Denn diese verstanden es jedes Mal, genau die Worte zu finden, die sich wie ein Splitter im Hirn festsetzten – schmerzhaft und nicht zu ignorieren oder zu beseitigen. »Die Königin spielt nur mit uns. Sie will unbedingt diese Ringe haben, aber ich glaube nicht, dass auch nur die geringste Chance besteht, dass sie uns wirklich hilft.«

»Okay«, meinte Isabelle skeptisch. »Aber wenn sie davon wusste, dann weiß sie vielleicht noch mehr. Und wer sonst kann uns helfen, wenn wir uns nicht an den Rat wenden dürfen?«

»Magnus«, erklärte Clary. »Er versucht schon die ganze Zeit, Liliths Beschwörungsformel zu entschlüsseln. Wenn ich ihm erzähle, was ich gesehen habe, bringt ihn das vielleicht weiter.«

Simon verdrehte die Augen. »Wie gut, dass wir denjenigen kennen, der mit Magnus zusammen ist. Sonst würden wir uns wahrscheinlich ständig fragen, was zum Teufel wir als Nächstes tun sollen. Oder wir würden versuchen, Limonade zu verkaufen, um Geld für Magnus’ Bezahlung zusammenzukratzen.«

Diese Bemerkung entlockte Alec nur ein müdes Lächeln. »Du könntest nur dann durch den Verkauf von Limonade genügend Geld zusammenbekommen, wenn du Meth daruntermischen würdest.«

»Das sagt man doch nur so. Wir sind uns alle der Tatsache bewusst, dass die Dienste deines Freundes nicht billig sind. Ich wünschte nur, wir müssten nicht mit jedem Problem zu ihm rennen.«

»Das geht ihm genauso«, erwiderte Alec. »Magnus muss heute irgendeinen Auftrag erledigen, aber ich rede am Abend mit ihm und dann können wir uns morgen früh bei ihm in der Wohnung treffen.«

Clary nickte, obwohl sie sich im Moment nicht einmal vorstellen konnte, am nächsten Morgen wieder aus dem Bett zu steigen. Sie wusste zwar: Je eher sie mit Magnus redeten, desto besser, aber sie fühlte sich total erschöpft und ausgelaugt, als hätte sie in der Bibliothek literweise Blut verloren.

Inzwischen war Isabelle näher an Simon herangetreten. »Sieht so aus, als hätten wir den Rest des Tages frei. Sollen wir zu Taki’s fahren? Du könntest dir ein großes Glas Blut bestellen.«

Simon warf Clary einen langen, besorgten Blick zu. »Möchtest du mitkommen?«

»Nein, ist schon okay. Ich werd mir ein Taxi holen und nach Williamsburg zurückfahren. Ich sollte ein bisschen Zeit mit meiner Mutter verbringen. Die ganze Geschichte mit Sebastian zerreißt sie innerlich und jetzt noch das…«

Isabelles schwarzes Haar wehte im Wind, als sie heftig den Kopf schüttelte. »Du darfst ihr nichts davon erzählen. Luke hat einen Sitz in der Kongregation. Er kann diese Informationen nicht zurückhalten und du wiederum darfst von deiner Mutter nicht verlangen, dass sie ihm die Geschichte verschweigt.«

»Ich weiß.« Clary betrachtete die besorgten Gesichter ihrer Freunde. Wie hatte es nur so weit kommen können?, überlegte sie. Früher hatte sie nie Geheimnisse vor ihrer Mutter gehabt – jedenfalls keine richtigen – und jetzt fuhr sie nach Hause und unterschlug ihr und Luke Informationen von gravierender Tragweite. Gleichzeitig redete sie völlig offen mit Leuten wie Alec und Isabelle Lightwood und Magnus Bane – Personen, von deren Existenz sie vor sechs Monaten nicht einmal geahnt hatte. Es war seltsam, wie sich die eigene Welt urplötzlich auf ihrer Achse verlagern konnte und sich alles Vertraute ins Gegenteil verkehrte.

Aber wenigstens hatte sie immer noch Simon an ihrer Seite – der beständige, verlässliche Simon. Clary drückte ihm rasch einen Kuss auf die Wange, winkte den anderen zum Abschied zu und machte sich dann auf den Weg. Dabei spürte sie genau, wie die drei ihr sorgenvoll nachschauten, während sie den Park durchquerte und die letzten trockenen Blätter wie winzige Knochen unter ihren Schuhen knackten und knirschten.

Alec hatte gelogen: Nicht Magnus hatte für den Nachmittag schon andere Pläne, sondern er selbst.

Er wusste, dass sein Vorhaben ein Fehler war, aber er konnte einfach nichts dagegen machen: Das Ganze war wie eine Sucht… dieser Drang, mehr zu erfahren. Und nun stand er hier, tief unter der Erde, das Elbenlicht in der Hand, und fragte sich, was zum Teufel er gerade tat.

Genau wie alle New Yorker U-Bahn-Stationen roch auch diese nach Rost, Wasser, Metall und Moder. Aber im Gegensatz zu allen anderen Haltestellen, die Alec kannte, herrschte hier eine unheimliche Stille. Abgesehen von ein paar Stockflecken, die durch einen Wasserschaden entstanden sein mussten, wirkten die Wände und der Bahnsteig sauber. Über Alec erhoben sich breite Gewölbedecken, die in regelmäßigen Abständen von Kronleuchtern durchbrochen wurden. Die Deckenbögen waren mit grünen Fliesen gekachelt, daneben verrieten weiße Fliesen mit blauen Großbuchstaben den Namen der Haltestelle: CITY HALL.

Die U-Bahnstation City Hall war bereits seit 1945 außer Betrieb, wurde aber von der Stadt New York als historisches Bauwerk weiterhin instand gehalten; hin und wieder nutzten die Züge der Linie 6 die Haltestelle als Wendegelegenheit, doch niemand stieg hier ein oder aus. Alec hatte sich im City Hall Park durch eine Lüftungsluke gezwängt, die fast komplett von Hartriegelsträuchern überwuchert war, und dann in die Station hinunterfallen lassen – aus einer Höhe, die jedem normalen Menschen vermutlich beide Beine gebrochen hätte. Nun blieb er einen Moment ruhig stehen, atmete die staubige Luft ein und spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.

Das war der Ort, den er aufsuchen sollte – so hatte es in dem Brief gestanden, den ihm der Vampir-Domestik in Magnus’ Eingangshalle überreicht hatte. Zunächst war Alec fest entschlossen gewesen, das Ganze zu vergessen. Aber er hatte es auch nicht geschafft, den Brief einfach wegzuwerfen. Stattdessen hatte er den Papierbogen zusammengeknüllt und in die Tasche seiner Jeans gestopft – woraufhin ihm die Worte den ganzen Tag über, selbst im Central Park, permanent im Hinterkopf herumgespukt waren.

Genau wie die gesamte Situation mit Magnus ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte. Alec konnte einfach nicht aufhören, sich deswegen Sorgen zu machen – so als würde man mit der Zunge immer wieder gegen einen kaputten Zahn stoßen, obwohl man wusste, dass das die Situation womöglich nur noch schlimmer machte. Magnus hatte nichts Falsches getan – schließlich war es nicht seine Schuld, dass er Hunderte von Jahren alt war und schon andere Beziehungen geführt hatte. Trotzdem brachte dieser Gedanke Alecs Seelenfrieden durcheinander. Und dass er im Hinblick auf die Situation mit Jace auch nicht viel schlauer war als am Tag zuvor, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht: Er musste unbedingt mit jemandem reden, musste sich irgendwohin wenden, irgendetwas tun.

Und darum stand er nun hier. Und sie war ebenfalls hier, daran zweifelte Alec keine Sekunde. Langsam ging er über den Bahnsteig. Durch eine kleine Luke in der Gewölbedecke fiel Licht aus dem darüberliegenden Park auf den Boden; die vier Fliesenreihen, die sternförmig von der Lichtkuppel abgingen, erinnerten an die Beine einer Spinne. Am Ende des Bahnsteigs befand sich eine schmale Treppe, deren Stufen sich in der Dunkelheit verloren. Alec fiel auf, dass sie durch einen Zauberglanz getarnt war: Jeder Irdische, der die Treppe hinaufschaute, würde nur eine Betonwand sehen, wohingegen er einen offenen Torbogen wahrnahm. Leise eilte er die Stufen hinauf.

Kurz darauf fand er sich in einem dämmrigen Raum mit niedriger Decke wieder; durch die Amethystglasscheiben des Oberlichts fiel nur ein schwacher Lichtschimmer. In einer Ecke des düsteren Raums stand ein Samtsofa mit einer hohen, geschwungenen und vergoldeten Rückenlehne – und auf dem Sofa saß Camille.

Die Vampirdame war so schön, wie Alec sie in Erinnerung hatte, auch wenn sie bei ihrer letzten Begegnung nicht besonders vorteilhaft ausgesehen hatte: schmutzig, blutverklebt und an ein Leitungsrohr in einem Rohbau gekettet. Doch nun trug sie einen eleganten schwarzen Hosenanzug mit roten hochhackigen Pumps und ihre hellen Haare ergossen sich in sanften Wellen über ihre Schultern. Auf dem Schoß hielt sie ein aufgeschlagenes Buch – La Place de l’Étoile von Patrick Modiano. Alecs Französischkenntnisse reichten aus, um den Titel zu übersetzen: »Der Platz des Sterns.«

Camille schaute Alec ruhig an, als hätte sie mit seinem Kommen gerechnet.

»Hallo, Camille«, begrüßte er sie.

Die Vampirdame blinzelte langsam. »Alexander Lightwood«, sagte sie schließlich. »Ich habe deine Schritte auf der Treppe wiedererkannt.« Sie stützte den Kopf auf eine Hand und schenkte Alec ein Lächeln – ein Lächeln, das distanziert wirkte und keinerlei Wärme ausstrahlte. »Ich nehme nicht an, dass du mir eine Nachricht von Magnus überbringst?«, fügte sie hinzu.

Alec schwieg.

»Natürlich nicht«, beantwortete Camille ihre eigene Frage. »Ich Dummerchen! Als ob Magnus wüsste, wo du gerade steckst…«

»Woher hast du gewusst, dass ich es bin? Eben auf der Treppe?«, fragte Alec.

»Du bist ein Lightwood«, erklärte Camille. »Und deine Familie gibt niemals auf. Ich wusste, du würdest dich mit dem, was ich dir in jener Nacht gesagt habe, nicht zufriedengeben. Die Nachricht, die ich dir heute zukommen ließ, war nur eine kleine Gedächtnisstütze.«

»Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, was du mir versprochen hast. Oder war das eine Lüge?«

»In jener Nacht hätte ich alles versprochen, nur um freizukommen«, erwiderte die Vampirdame. »Aber ich habe nicht gelogen.« Langsam beugte sie sich vor; ihre grünen Augen leuchteten und waren düster zugleich. »Du bist ein Nephilim, Mitglied des Rats und der Kongregation. Auf mich ist ein Kopfgeld ausgesetzt, wegen des Mordes an mehreren Schattenjägern. Aber ich weiß, dass du nicht hier bist, um mich dem Rat zu übergeben. Du suchst Antworten.«

»Ich will wissen, wo Jace ist«, erwiderte Alec.

»Sicher möchtest du das«, bestätigte Camille. »Doch du weißt natürlich, dass es keinen Grund gibt, warum ich eine Antwort darauf haben sollte. Und genauso ist es auch: Ich weiß es nicht. Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüsste. Mir ist lediglich bekannt, dass Jace von Liliths Sohn entführt wurde, und ich habe keinerlei Veranlassung, ihr gegenüber loyal zu sein. Lilith existiert nicht mehr. Und natürlich bin ich darüber informiert, dass Suchtrupps ausgeschickt wurden, um mich aufzuspüren und herauszufinden, was ich möglicherweise weiß. Doch ich kann dir hier und jetzt versichern: Ich habe nicht die geringste Kenntnis über seinen Verbleib. Wenn ich wüsste, wo dein Freund sich aufhält, würde ich es dir sagen. Schließlich will ich die Nephilim nicht noch mehr gegen mich aufbringen.« Camille fuhr sich mit einer Hand durch ihr dichtes blondes Haar. »Aber deswegen bist du nicht hier. Gib es zu, Alexander.«

Alec spürte, wie sein Atem schneller ging. Er hatte sich diesen Moment oft vorgestellt, vor allem nachts, wenn er wach neben Magnus gelegen hatte, auf dessen ruhige Atmung gelauscht und seine eigenen Atemzüge gezählt hatte. Jeder Atemzug brachte ihn einen Schritt näher in Richtung Alter und Tod. Jede Nacht dem Ende ein Stück näher. »Du hast gesagt, du kennst eine Möglichkeit, mich unsterblich zu machen«, entgegnete Alec. »Du hast gesagt, du wüsstest einen Weg, wie Magnus und ich für immer zusammenbleiben könnten.«

»Das habe ich tatsächlich gesagt? Wie interessant.«

»Ich will, dass du es mir jetzt verrätst.«

»Und das werde ich auch«, bekräftigte Camille und legte das Buch beiseite. »Gegen entsprechende Bezahlung.«

»Keine Bezahlung«, widersprach Alec. »Ich habe dich freigelassen. Und jetzt wirst du mir erzählen, was ich wissen will. Oder ich werde dich dem Rat übergeben. Der wird dich an das Dach des Instituts ketten und in Ruhe den Sonnenaufgang abwarten.«

Camilles Augen bekamen einen harten Ausdruck. »Drohungen schätze ich nicht.«

»Dann gib mir die Information, die ich haben will.«

Langsam erhob die Vampirdame sich vom Sofa, strich mit den Händen über die Vorderseite ihrer Anzugjacke und glättete die Falten. »Komm doch und hol sie dir, Schattenjäger.«

Schlagartig platzten die angestaute Frustration, die Angst und die Verzweiflung der vergangenen zwei Wochen aus ihm heraus: Alec stürmte auf Camille zu, die sich mit ausgefahrenen Fangzähnen auf ihn stürzte. Dem jungen Nephilim blieb kaum Zeit, seine Seraphklinge zu zücken, als sie auch schon zum Sprung ansetzte. Er hatte schon zuvor gegen Vampire gekämpft; ihre Schnelligkeit und Kraft war erstaunlich und es kam ihm jedes Mal so vor, als würde er gegen einen heranbrausenden Tornado antreten. Rasch warf er sich zur Seite, rollte sich ab, kam wieder auf die Beine und trat eine fallende Leiter in Camilles Richtung. Die Leiter hielt die Vampirin gerade lange genug auf, dass Alec das Engelsschwert heben und dessen Namen flüstern konnte: »Nuriel.«

Das Licht der Waffe flammte auf wie ein heller Stern und ließ Camille einen Moment zögern, dann aber stürzte sie sich erneut auf Alec. Dabei kratzte sie ihm mit ihren langen Fingernägeln Wange und Schulter auf. Alec spürte das warme Blut hervordrängen; blitzschnell wirbelte er um die eigene Achse und schlug mit dem Engelsschwert nach Camille. Sie sprang hoch in die Luft, knapp außerhalb seiner Reichweite, und lachte spöttisch.

Alec stürmte zur Treppe, die zum Bahnsteig hinunterführte, dicht gefolgt von Camille, doch er war schneller: Leichtfüßig wich er zur Seite aus, wirbelte herum, drückte sich mit den Füßen von der Wand ab und sprang im selben Moment auf die Vampirin zu, als diese die Stufen hinunterhechtete, sodass sie in der Luft zusammenprallten: Camille schrie wie wild und schlug nach ihm, doch Alec hielt sie am Arm fest – selbst als beide krachend auf dem Bahnsteig landeten und der Aufprall ihm die Luft aus den Lungen presste. Um sie besiegen zu können, musste er sie am Boden halten. Alec schickte Jace ein stummes Dankesgebet – dafür, dass er ihn gezwungen hatte, im Fechtsaal wieder und wieder Salti zu üben, bis Alec sich von nahezu jeder Oberfläche abstoßen und wenigstens ein oder zwei Sekunden in der Luft umherwirbeln konnte.

Während sie über den Bahnsteig rollten, schlug er immer wieder mit der Seraphklinge auf sie ein, aber Camille wehrte seine Angriffe mühelos ab, indem sie sich so schnell bewegte, dass ihre Silhouette vor Alecs Augen zu verschwimmen begann. Gleichzeitig trat sie ihn mit ihren hochhackigen Schuhen und bohrte ihm die spitzen Absätze in die Oberschenkel. Alec zuckte zusammen und fluchte und Camille ließ eine beeindruckende Schimpftirade über Alecs Liebesleben mit Magnus und ihr eigenes Liebesleben mit dem Hexenmeister vom Stapel. Und vermutlich hätte sie ihm noch mehr an den Kopf geworfen, wenn die beiden nicht die Mitte des Bahnsteigs erreicht hätten, wo durch die Luke in der Decke ein kreisrunder Sonnenstrahl auf den Boden fiel. Sofort packte Alec Camille am Handgelenk und drückte ihre Hand nach unten, direkt ins Licht.

Die Vampirin kreischte ohrenbetäubend auf und gewaltige Brandblasen bildeten sich auf ihrer weißen Haut. Alec konnte die Hitze, die von ihrer brodelnden Hand ausging, förmlich spüren. Rasch verschränkte er seine Finger mit Camilles und riss ihre Hand hoch, zurück in die Schatten. Camille fauchte und schnappte nach ihm, doch Alec rammte ihr den Ellbogen in den Mund, sodass ihre Lippe aufplatzte. Rubinrotes Vampirblut – leuchtender als menschliches Blut – tropfte ihr aus dem Mundwinkel.

»Hast du jetzt endlich genug? Oder willst du noch mehr?«, knurrte Alec und senkte ihre Hand mit den bereits verheilenden und zu rosa Flecken verblassenden Brandblasen in Richtung des Sonnenstrahls.

»Nein!«, stieß Camille keuchend hervor, hustete – und begann dann zu beben, bis ihr ganzer Körper unkontrolliert zuckte. Alec benötigte einen Augenblick, um zu erkennen, dass sie lachte – trotz des ganzen Bluts. »Das hab ich gebraucht, einen guten Kampf. Jetzt fühl ich mich gleich viel lebendiger, kleiner Nephilim. Eigentlich sollte ich dir danken.«

»Du kannst mir danken, indem du mir meine Frage beantwortest«, erwiderte Alec keuchend. »Oder ich werde dich einäschern. Ich habe keine Lust mehr auf deine Spielchen.«

Camilles Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. Die Wunden in ihrem blutverschmierten Gesicht waren bereits verheilt. »Es gibt keinen Weg, dich unsterblich zu machen. Jedenfalls nicht ohne den Einsatz von Schwarzer Magie oder durch deine Verwandlung zum Vampir – und diese Optionen hast du ja bereits abgelehnt.«

»Aber du hast doch gesagt… du hast gesagt, es gäbe noch eine andere Möglichkeit, wie Magnus und ich zusammen sein könnten…«

»Oh, ja, natürlich, die gibt es.« Camilles Augen funkelten. »Du magst zwar nicht in der Lage sein, dich selbst unsterblich zu machen, kleiner Nephilim – zumindest nicht zu den Bedingungen, die dir angenehm wären. Aber du kannst Magnus seine Unsterblichkeit nehmen.«

Clary saß in ihrem Zimmer in Lukes Wohnung, einen Stift in der Hand, einen Bogen Papier auf dem Schreibtisch vor sich. Die Sonne war bereits untergegangen und die Schreibtischlampe warf ihr helles Licht auf eine Rune, an der Clary gerade zu arbeiten begonnen hatte.

Die Idee dazu war ihr auf dem Heimweg gekommen, in einem Abteil der Linie L, als sie aus dem Fenster gestarrt hatte. Es war eine völlig neue Rune, die sich mit nichts aus dem Grauen Buch vergleichen ließ – also war Clary von der Haltestelle nach Hause gestürmt, solange sie das Bild noch deutlich vor Augen hatte, hatte die Fragen ihrer Mutter abgewiegelt, sich in ihr Zimmer verzogen und hastig zu Papier und Bleistift gegriffen…

Als kurz darauf jemand leise an der Tür klopfte, schob Clary das Papier mit der angefangenen Runenzeichnung rasch unter ein leeres Blatt, und eine Sekunde später kam ihre Mutter auch schon ins Zimmer.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Jocelyn und hielt abwehrend eine Hand hoch, als Clary zu protestieren begann. »Du willst in Ruhe gelassen werden. Aber Luke hat gekocht und du musst etwas essen.«

Clary warf ihrer Mutter einen skeptischen Blick zu: »Das Gleiche gilt für dich.« Genau wie sie selbst neigte auch Jocelyn dazu, bei Stress jeglichen Appetit zu verlieren. Ihre Wangen wirkten inzwischen ziemlich eingefallen. Eigentlich hätte ihre Mutter jetzt Vorbereitungen für ihre Flitterwochen treffen sollen, die Koffer packen und sich auf eine tolle Reise an einen schönen, weit entfernten Ort freuen. Doch die Hochzeit war auf unbestimmte Zeit verschoben und Clary konnte durch die Wand hören, wie ihre Mutter nachts weinte. Clary kannte diese Tränen nur zu gut: Sie entsprangen einer Mischung aus Wut und Gewissensbissen – einem Gefühl, das einem sagte: Das ist alles nur meine Schuld.

»Ich werde etwas essen, wenn du auch einen Happen isst«, bot Jocelyn nun an und zwang sich zu einem Lächeln. »Luke hat Nudeln gekocht.«

Langsam drehte Clary sich auf ihrem Stuhl um. Dabei neigte sie ihren Körper bewusst so zur Seite, dass ihre Mutter nicht auf den Schreibtisch sehen konnte. »Mom«, setzte sie an. »Ich wollte dich mal was fragen.«

»Worum geht’s?«

Clary knabberte an ihrem Stift – eine schlechte Angewohnheit, die sie bereits seit ihren allerersten Malversuchen begleitete. »Als ich mit Jace in der Stillen Stadt war, haben die Brüder mir erzählt, dass nach der Geburt eines Schattenjägerkindes ein Ritual vollzogen wird: Sowohl die Brüder der Stille als auch die Eisernen Schwestern versehen das Neugeborene mit einer Reihe von Schutzzaubern. Und da habe ich mich gefragt…«

»Ob diese Zeremonie auch bei dir durchgeführt wurde?«

Clary nickte.

Jocelyn holte tief Luft und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Das Ritual wurde vollzogen«, bestätigte sie. »Ich habe Magnus alle nötigen Vorbereitungen treffen lassen: Ein Bruder der Stille war anwesend – jemand, der zur Verschwiegenheit verpflichtet war – und eine Hexe, die die Eisernen Schwestern vertrat. Anfangs wollte ich nichts von der Zeremonie wissen: Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass du vielleicht in Gefahr schweben könntest, nachdem ich dich so sorgfältig verborgen gehalten hatte. Aber Magnus hat mich schließlich überredet und damit auch recht behalten.«

Neugierig musterte Clary ihre Mutter. »Wer war denn die Hexe?«

»Jocelyn!«, rief Luke in diesem Moment aus der Küche. »Das Wasser kocht über!«

Rasch drückte Jocelyn Clary einen Kuss auf die Stirn. »Tut mir leid. Küchenkrise! Kommst du in fünf Minuten zum Essen?«

Clary nickte, während ihre Mutter bereits aus dem Zimmer lief, und wandte sich wieder ihrem Schreibtisch zu. Die angefangene Rune leuchtete ihr vom Papier entgegen und ließ ihr keine Ruhe. Sofort machte Clary sich wieder an die Arbeit und vervollständigte die Zeichnung. Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück und betrachtete ihr Werk. Das Design erinnerte ein wenig an eine Entriegelungsrune, aber diese Rune hier war so schlicht wie ein Kreuz und so frisch auf dieser Welt wie ein Neugeborenes. Und aus ihr sprach eine unterschwellige Drohung – eine dunkle Aura, die bezeugte, dass sie aus Clarys Zorn und Schuldgefühlen und einer ohnmächtigen Wut entsprungen war.

Es handelte sich um ein mächtiges Symbol. Doch obwohl Clary genau wusste, was die Rune bedeutete und wozu sie diente, fiel ihr beim besten Willen nicht ein, wie sie sie in der jetzigen Situation sinnvoll nutzen konnte. Als wäre sie mit dem Wagen auf einer einsamen Landstraße liegen geblieben und hätte beim verzweifelten Herumwühlen im Kofferraum eine Verlängerungsschnur gefunden anstatt eines Starthilfekabels.

Clary hatte das Gefühl, von ihrer eigenen Fähigkeit ausgelacht zu werden. Mit einem unterdrückten Fluchen warf sie den Stift auf den Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen.

Die Innenräume des ehemaligen Marinehospitals waren sorgfältig gekalkt, was den Wandflächen einen unheimlichen Glanz verlieh. Viele der Fenster hatte man mit Brettern zugenagelt, doch selbst in diesem Dämmerlicht konnte Maia dank ihres gesteigerten Sehvermögens alle Einzelheiten erkennen: herabgerieselter Putz auf den nackten Böden der Gänge, Spuren von den Ständern der Baulampen in den Dielen, kurze Kabelabschnitte, die unter dicken Farbklecksen an den Wänden klebten, Mäuse, die in den dunklen Ecken herumhuschten.

Plötzlich sprach eine Stimme sie von hinten an: »Ich hab den gesamten Ostflügel durchsucht. Nichts. Wie sieht’s bei dir aus?«

Maia drehte sich um. Jordan stand hinter ihr; er trug eine dunkle Jeans und eine schwarze Sweatshirtjacke mit halb geöffnetem Reißverschluss über einem grünen T-Shirt. Maia schüttelte den Kopf. »Auch im Westflügel nicht die geringste Spur. Nur ziemlich morsche Treppen und ein paar interessante architektonische Details, falls du dich für so was interessierst.«

Verneinend schüttelte Jordan den Kopf. »Dann lass uns verschwinden. Dieser Ort hier ist mir unheimlich.«

Maia konnte ihm nur zustimmen und war erleichtert, dass nicht sie es laut hatte aussprechen müssen. Gemeinsam stiegen sie eine Treppe hinunter, deren Geländer mit so viel heruntergerieseltem Putz bedeckt war, dass es fast so aussah, als würde Schnee darauf liegen. Maia war sich nicht ganz sicher, warum sie eingewilligt hatte, mit Jordan auf Patrouille zu gehen, aber sie musste zugeben, dass sie beide ein ganz ordentliches Team abgaben. Mit Jordan konnte man gut auskommen – trotz der Dinge, die sich kurz vor Jace’ Verschwinden zwischen ihnen abgespielt hatten, zeigte er sich respektvoll und hielt einen gewissen Abstand, ohne dass sie sich dabei unwohl fühlte.

Der Mond warf sein helles Licht auf die beiden jungen Werwölfe, als sie das alte Hospital verließen, auf den Vorplatz hinaustraten und sich noch einmal zu dem großen weißen Marmorgebäude umschauten, dessen zugenagelte Fenster wie blinde Augen wirkten. Ein knorriger Baum, der seine letzten Blätter abwarf, kauerte neben der Eingangstür.

»Na, das war echt die reinste Zeitverschwendung«, bemerkte Jordan.

Verstohlen sah Maia in seine Richtung: Jordan musterte das ehemalige Marinehospital und das kam ihr gelegen. Denn sie betrachtete ihn gern, wenn er nicht zu ihr hinschaute. Auf diese Weise konnte sie die Konturen seines Kinns studieren, die leicht gelockten dunklen Haare in seinem Nacken, die geschwungene Linie seines Schlüsselbeins unter dem V-Ausschnitt seines T-Shirts, ohne ihm dabei gleich Hoffnungen zu machen.

Als sie ihn kennengelernt hatte, war er ein attraktiver Indie-Rocker gewesen, mit kantigen Zügen und langen Wimpern, doch inzwischen war er älter geworden – mit narbigen Fingerknöcheln und Muskeln, die sich unter seinem eng anliegenden T-Shirt geschmeidig hin und her bewegten. Geblieben waren jedoch der Olivton seiner Haut, der von seinen italienischen Wurzeln zeugte, und die grünbraunen Augen, jetzt allerdings mit einem goldenen Ring um die Pupille – ein Kennzeichen der Lykanthropie. Die gleichen Pupillen, die auch ihr jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenschauten. Die Pupillen, die sie seinetwegen besaß.

»Maia?« Jordan musterte sie fragend. »Was meinst du?«

»Hm?« Sie blinzelte. »Ich, äh… Nein, es war nicht besonderes sinnvoll, das Hospital zu durchsuchen. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wieso man uns überhaupt zum Brooklyn Navy Yard geschickt hat. Warum sollte Jace hier auf der alten Werft sein? Er war doch eh kein großer Fan von Schiffen.«

Jordans fragender Gesichtsausdruck bekam eine deutlich düstere Note. »So manche Leiche, die auf irgendwelchen Wegen in den East River gelangt, wird hier an Land gespült. Hier an dieser alten Marinewerft.«

»Heißt das, wir suchen inzwischen nach einem Leichnam?«

»Keine Ahnung.« Achselzuckend wandte Jordan sich ab und setzte sich in Bewegung. Seine festen Schuhe brachten das trockene Gras zum Rascheln. »Vielleicht habe ich ja einen Punkt erreicht, wo ich nur noch deshalb weitersuche, weil es sich falsch anfühlt, einfach aufzugeben.« Seine Schritte waren langsam, gemächlich und die beiden Jugendlichen gingen Seite an Seite, wobei sich ihre Schultern fast berührten.

Maia heftete ihren Blick auf die Skyline Manhattans auf der anderen Seite des Flusses – ein Flimmern heller weißer Lichter, die sich auf dem Wasser spiegelten. Als sie sich der seichten Wallabout Bay näherten, kamen die Brooklyn Bridge und das hell erleuchtete Rechteck des South-Street-Seaport-Viertels in Sicht. Maia konnte den fast schon chemischen Geruch des Flusses wahrnehmen, den Dreck und Dieselgestank der Marinewerft und den Geruch des Kleingetiers, das durch das Gras huschte. »Ich glaube nicht, dass Jace tot ist«, sagte sie schließlich. »Ich denke, er möchte nicht gefunden werden.«

Verwundert schaute Jordan sie an. »Willst du damit sagen, dass wir nicht weiter nach ihm suchen sollten?«

»Nein.« Maia zögerte. Inzwischen hatten sie das Ufer erreicht, das an dieser Stelle von einer niedrigen Mauer gesäumt wurde. Zwischen ihnen und dem Fluss lag nur noch ein schmaler Streifen Asphalt. Während Maia weiterging, ließ sie ihre Hand über die Mauerkrone gleiten. »Als ich damals nach New York abgehauen bin, wollte ich nicht, dass mich jemand findet. Aber es hätte mir gut gefallen, wenn jemand so intensiv nach mir gesucht hätte, wie wir jetzt nach Jace…«

»Hast du Jace gemocht?«, fragte Jordan in neutralem Ton.

»Gemocht? Na ja, jedenfalls nicht so…«

Jordan lachte. »So hab ich das gar nicht gemeint. Obwohl er ja allgemein als umwerfend attraktiv gilt.«

»Ziehst du gerade diese Hetero-Nummer ab, bei der man so tut, als könne man nicht beurteilen, ob andere Kerle attraktiv sind oder nicht? Nehmen wir mal Jace und den haarigen Typen aus dem Deli an der Ninth Street… die sehen für dich beide gleich aus?«

»Na ja, der behaarte Typ hat diesen großen Leberfleck, deshalb denke ich, dass Jace leicht vorne liegt. Vorausgesetzt du stehst auf diesen kantigen blonden Dressman-Look.« Jordan warf Maia durch seine dichten Wimpern einen langen Blick zu.

»Die Dunkelhaarigen haben mir schon immer besser gefallen«, erwiderte sie leise.

Nachdenklich schaute Jordan auf den Fluss hinaus. »So einer wie Simon.«

»Na ja… ja.« Maia hatte schon eine ganze Weile nicht mehr auf diese Weise an Simon gedacht. »Ich schätze schon.«

»Und du magst Musiker.« Jordan streckte sich und zupfte ein Blatt von einem herabhängenden Zweig, der über ihre Köpfe ragte. »Ich meine, ich bin Sänger, Bat war DJ und Simon…«

»Ich mag Musik.« Maia strich sich die Haare aus dem Gesicht.

»Und was magst du sonst noch?«, fragte Jordan, während er das Blatt zwischen seinen Fingern zerrupfte. Dann hielt er inne, hievte sich auf die niedrige Mauer und wandte sich Maia wieder zu. »Ich meine, gibt es irgendetwas, das dir so gut gefällt, dass du dir vorstellen könntest, damit deinen Lebensunterhalt zu verdienen?«

Überrascht sah Maia ihn an. »Wie meinst du das?«

»Weißt du noch, wie ich die hier bekommen hab?« Jordan zog seine Sweatshirtjacke aus. Das T-Shirt, das er darunter trug, hatte kurze Ärmel, sodass die Sanskrit-Worte der Shanti-Mantras zum Vorschein kamen, die sich um seine Bizepse wanden.

Maia erinnerte sich noch sehr gut daran: Ihre gemeinsame Freundin Valerie hatte sie tätowiert, in ihrem Tattooshop in Red Bank… nach Ladenschluss und umsonst. Vorsichtig trat Maia einen Schritt näher. Da Jordan auf der Mauer saß und sie stand, befanden sie sich fast auf Augenhöhe. Maia streckte eine Hand aus und zeichnete mit dem Finger zögernd die Buchstaben auf seinem linken Oberarm nach. Bei ihrer Berührung schloss Jordan die Augen.

»Führe uns vom Unwirklichen zum Wirklichen«, las sie laut vor. »Führe uns vom Dunkel zum Licht. Führe uns vom Tod zur Unsterblichkeit.« Seine Haut fühlte sich unter ihren Fingerkuppen ganz glatt an. »Das ist aus den Upanishaden.«

»Die Mantras waren deine Idee. Du warst immer diejenige, die ständig gelesen hat. Du warst diejenige, die immer alles gewusst hat…« Jordan schlug die Lider auf und sah Maia direkt an; seine Augen schimmerten einen Ton heller als das Wasser des Flusses hinter ihm. »Maia, was auch immer du machen möchtest, ich werde dich dabei unterstützen. Ich hab von dem Gehalt, das die Praetor Lupus mir zahlen, fast alles beiseitegelegt. Das könnte ich dir geben… Damit könntest du die Studiengebühren für Stanford bezahlen. Na ja, zumindest einen Großteil davon. Falls du noch immer studieren willst.«

»Ich weiß nicht recht«, erwiderte Maia, während sich ihre Gedanken überschlugen. »Als ich mich dem Rudel angeschlossen hab, dachte ich, man könnte nebenher nichts anderes machen. Ich dachte, es ginge darum, als Werwolf im Rudel zu leben, ohne eigene Identität. Das erschien mir der sicherste Weg. Aber vielleicht hast du recht. Luke führt schließlich auch sein eigenes Leben… er hat eine Buchhandlung. Und du… du bist bei den Praetor. Ich schätze, man kann wohl mehr als nur eines auf einmal sein.«

»Du warst schon immer viel mehr.« Jordans Stimme klang heiser, rau. »Weißt du noch, was du eben gesagt hast… dass dir damals nach deiner Flucht nach New York der Gedanke gefallen hätte, wenn jemand nach dir gesucht hätte…« Jordan holte tief Luft. »Ich hab nach dir gesucht, Maia. Ich hab nie aufgehört, nach dir zu suchen.«

Maia schaute in seine grünbraunen Augen. Jordan verharrte reglos; nur seine Hände gruben sich in seine Knie, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. Langsam beugte Maia sich vor. Sie war ihm nun so nahe, dass sie den dunklen Schatten seiner Bartstoppeln sehen, seinen Geruch wahrnehmen konnte – diese typische Mischung aus Wolfsgeruch, Zahnpasta und Mann. Vorsichtig legte Maia ihre Finger auf Jordans Hände. »Na ja«, sagte sie. »Jetzt hast du mich gefunden.«

Nur noch wenige Zentimeter trennten ihre Gesichter voneinander. Maia spürte Jordans Atem an ihren Lippen, bevor er sie küsste. Sie beugte sich noch weiter vor und schloss dabei die Augen. Seine Lippen waren noch genauso weich, wie sie sie in Erinnerung hatte; sein Mund streifte behutsam über ihre Lippen und sandte kleine Schauer durch ihren Körper. Maia schlang die Arme um Jordans Nacken, schob ihre Finger unter die gelockten dunklen Haare und berührte sanft die nackte Haut im Genick und am Rand seines abgewetzten T-Shirts.

Jordan zog sie näher an sich. Er zitterte. Maia spürte die Wärme, die von seinem muskulösen Körper ausging, während seine Hände über ihren Rücken glitten. »Maia«, wisperte er. Langsam hob er den Saum ihres Sweatshirts an, schob seine Finger darunter und umfasste ihre Hüften. Seine Lippen bewegten sich an ihrem Mund: »Ich liebe dich. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.«

Jetzt gehörst du nur noch mir. Und so wird es immer sein.

Maias Puls begann zu hämmern und sie riss sich von ihm los, während sie gleichzeitig das Sweatshirt hinunterzog. »Jordan – hör auf.«

Sofort hielt Jordan inne und ein verwirrter, bestürzter Ausdruck zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Tut mir leid. Hab ich was falsch gemacht? Außer dir hab ich niemanden mehr geküsst, jedenfalls nicht seit…« Er verstummte.

Maia schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht… ich… ich kann einfach nicht.«

»Okay«, sagte Jordan. Er wirkte sehr verwundbar und ziemlich durcheinander. »Wir brauchen nichts… ich meine, wir müssen ja nichts tun…«

Verzweifelt suchte Maia nach den richtigen Worten. »Das ist mir einfach alles zu viel.«

»Es war nur ein Kuss.«

»Du hast gesagt, dass du mich lieben würdest.« Ihre Stimme zitterte. »Und du hast mir deine gesamten Ersparnisse angeboten. Ich kann das nicht von dir annehmen.«

»Was kannst du nicht annehmen?«, fragte er leise und verletzt. »Mein Geld oder meine Liebe?«

»Weder noch. Ich kann das einfach nicht, okay? Nicht mit dir, nicht jetzt«, sagte Maia und entfernte sich langsam von ihm.

Jordan schaute ihr nach, die Lippen leicht geöffnet.

»Lass mich jetzt allein, bitte«, fügte Maia hinzu, drehte sich dann um und hastete den Weg zurück, den sie gekommen waren.

5 Valentins Sohn

Ein weiteres Mal träumte sie von eisigen Landschaften. Bitterkalte Tundra, so weit das Auge reichte, langsam treibende Eisschollen auf den schwarzen Fluten des Nordpolarmeers, schneebedeckte Berge und schließlich eine aus Eis gehauene Stadt mit glitzernden Türmen, wie die Dämonentürme von Alicante.

Vor der vereisten Stadt lag ein zugefrorener See. Clary rutschte einen steilen Hang hinab, um zum Ufer zu gelangen, obwohl sie nicht wusste, warum sie das tat. In der Mitte des Sees standen zwei dunkle Gestalten auf der Eisfläche. Als Clary sich stolpernd und schlitternd dem See näherte ihre Hände brannten von der Berührung mit dem Eis, und Schnee drang in ihre Schuhe, erkannte sie, dass es sich bei einer der beiden Gestalten um einen Jungen handelte mit schwarzen Schwingen, die sich wie Krähenflügel hinter seinem Rücken ausbreiteten. Seine Haare schimmerten so weiß wie das umliegende Eis. Sebastian. Und neben Sebastian stand Jace, dessen goldblondes Haar die einzige Farbe in der vereisten Landschaft aus schwarzen und weißen Schattierungen war. Als Jace sich von Sebastian abwandte und auf Clary zuging, brachen hinter seinem Rücken weißgolden schimmernde Schwingen hervor.

Clary schlitterte die letzten Meter zur zugefrorenen Böschung hinunter und fiel dort erschöpft und keuchend auf die Knie. Ihre Hände bluteten und waren blau angelaufen, ihre Lippen waren gesprungen und ihre Lungenflügel schmerzten bei jedem eisigen Atemzug. »Jace«, wisperte sie.

Einen Sekundenbruchteil später war er bei ihr und half ihr auf, während seine Schwingen sie warm umfingen. Im nächsten Moment begann ihr Körper aufzutauen, vom Herz über die Adern bis hin zu ihren Händen und Füßen, die mit einem schmerzhaften und zugleich angenehmen Prickeln wieder zum Leben erwachten.

»Clary«, sagte Jace und strich ihr sanft übers Haar. »Versprichst du mir, nicht zu schreien?«

Clary schlug die Augen auf. Einen Moment fühlte sie sich derartig orientierungslos, dass sich die Welt um sie herum zu drehen schien wie auf einem Kettenkarussell. Doch schließlich erkannte sie, dass sie sich in ihrem Zimmer in Lukes Haus befand: der vertraute Futon, ihr Kleiderschrank mit dem gesprungenen Spiegel in der Tür, die Fenster, die auf den East River hinausgingen, und der Heizkörper, der leise rauschte und fauchte. Silbernes Dämmerlicht drang durch die Fensterscheiben und über dem Schrank glühte das rote Lämpchen des Rauchmelders. Clary lag auf der Seite, unter einem Berg von Decken, und ihr Rücken fühlte sich angenehm warm an. Ein fremder Arm drückte auf ihre Hüfte. Einen kurzen Augenblick – während dieses dämmrigen, nicht ganz klaren Zustands zwischen Schlafen und Wachen – fragte sie sich, ob Simon in der Nacht vielleicht durch das Fenster geklettert war und sich neben sie gelegt hatte, so wie sie schon als Kinder oft in einem Bett übernachtet hatten.

Aber Simon strahlte keine Körperwärme aus.

Clarys Herz machte einen Satz. Sie war schlagartig hellwach und drehte sich unter der Bettdecke um. Neben ihr lag Jace, den Kopf in die Hand gestützt, und schaute sie an. Im schwachen Mondlicht schimmerte sein Haar wie ein Heiligenschein und seine Augen funkelten golden wie die einer Katze. Er war vollständig bekleidet und trug noch immer das kurzärmelige weiße T-Shirt, in dem Clary ihn auch in der Bibliothek gesehen hatte. Und seine nackten Arme waren mit Runen übersät, die sich wie Ranken um seine Muskeln wanden.

Überrascht schnappte Clary nach Luft. Jace, ihr Jace, hatte sie noch nie auf diese Weise betrachtet. Natürlich hatte er sie bereits verlangend angeschaut, aber nicht mit diesem lauernden, raubtierartigen, verschlingenden Blick, der ihren Puls beschleunigte und ihren Herzschlag außer Takt brachte.

Clary öffnete den Mund – um seinen Namen zu sagen oder laut zu schreien? Sie wusste es selbst nicht und hatte auch keine Zeit mehr, es herausfinden, da Jace sich genau in dem Augenblick blitzschnell bewegte: In dem einen Moment lag er noch neben ihr und im nächsten bereits auf ihr, eine Hand fest auf ihren Mund gepresst. Seine Beine umspannten ihre Hüften und sie konnte seinen schlanken, muskulösen Körper spüren, der sie auf die Matratze presste.

»Ich werde dir nicht wehtun«, sagte Jace. »Ich würde dich niemals verletzen. Aber ich will nicht, dass du schreist. Ich muss unbedingt mit dir reden.«

Clary funkelte ihn wütend an.

Zu ihrer Überraschung begann Jace zu lachen – sein vertrautes, leises Lachen. »Ich kenne dich einfach zu gut, Clary Fray. Sobald ich meine Hand von deinem Mund nehme, wirst du losschreien. Oder dein Training nutzen und mir die Handgelenke brechen. Komm schon, versprich mir, dass du nicht schreien wirst. Schwör es beim Erzengel.«

Dieses Mal rollte Clary mit den Augen.

»Okay, du hast recht«, räumte Jace ein. »Mit meiner Hand auf dem Mund kannst du schlecht schwören. Ich werd sie jetzt wegnehmen. Und falls du doch schreist…« Er neigte den Kopf leicht zur Seite und seine blassgoldenen Haare fielen ihm in die Augen. »Dann werde ich verschwinden«, sagte er und nahm die Hand weg.

Clary lag reglos da und holte keuchend Luft, während sie weiterhin den Druck von Jace’ Körper auf ihrem Leib spürte. Sie wusste, dass er schneller war als sie und dass er jede ihrer Attacken problemlos kontern würde. Doch momentan schien er die Situation als ein Spiel zu betrachten, als einen Spaß. Er beugte sich tiefer zu ihr herab und Clary merkte, dass ihr Trägertop hochgerutscht war und sie seine flache, harte Bauchmuskulatur auf ihrer nackten Haut spüren konnte. Blut schoss ihr ins Gesicht und sie errötete.

Aber trotz ihrer heißen Wangen hatte sie das Gefühl, als würden eisige Nadeln durch ihre Adern jagen. »Was tust du hier?«, stieß sie hervor.

Mit einem enttäuschten Ausdruck in den Augen richtete Jace sich wieder auf. »Das ist eigentlich nicht die Reaktion, die ich mir gewünscht habe. Ich hatte eher so was wie ein ›Halleluja‹ erwartet. Schließlich kehrt dein Freund nicht jeden Tag von den Toten zurück.«

»Ich wusste, dass du nicht tot bist«, erwiderte Clary mit noch immer leicht tauben Lippen. »Ich hab dich in der Bibliothek gesehen. Zusammen mit…«

»Oberst von Gatow?«

»Sebastian.«

Jace lachte leise in sich hinein. »Ich hab gewusst, dass du ebenfalls dort warst. Ich konnte es fühlen.«

Clary spürte, wie sich ihr ganzer Körper anspannte. »Du hast mich glauben lassen, du wärst verschwunden… die ganze Zeit«, entgegnete sie. »Ich hab gedacht, du… ich hab wirklich gedacht, dass du möglicherweise nicht mehr…« Sie verstummte, konnte es einfach nicht über die Lippen bringen. Nicht mehr lebst. »Das war die Hölle. Wenn ich dir so was angetan hätte…«

»Clary.« Erneut beugte Jace sich über sie.

Seine Hände ruhten warm auf ihren Handgelenken, sein Atem strich sanft über ihr Ohr. Clary konnte jeden einzelnen Zentimeter spüren, an denen sich ihre Körper berührten, nackte Haut an nackter Haut – und es fiel ihr furchtbar schwer, sich zu konzentrieren.

»Ich konnte nicht anders. Die Sache war viel zu gefährlich. Wenn ich dich informiert hätte, hättest du dich entscheiden müssen: Entweder dem Rat mitzuteilen, dass ich noch lebe – und damit zuzulassen, dass man mich jagt –, oder das Ganze zu verschweigen, was dich in den Augen der Ratsmitglieder zu meiner Komplizin gemacht hätte. Und dann, nachdem du mich in der Bibliothek gesehen hattest, musste ich erst recht abwarten. Ich musste herausfinden, ob du mich noch immer liebst oder ob du zum Rat gehen und alles erzählen würdest. Aber das hast du nicht getan. Ich musste mich einfach vergewissern, dass ich dir mehr bedeute als das Gesetz. Und das stimmt doch, oder?«

»Ich weiß es nicht«, wisperte Clary. »Ich weiß es wirklich nicht. Wer bist du?«

»Ich bin noch immer ich – Jace«, erklärte er. »Und ich liebe dich noch immer.«

Heiße Tränen schossen Clary in die Augen. Sie blinzelte und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Langsam senkte Jace den Kopf und küsste sanft ihre Wangen und dann ihren Mund. Clary konnte ihre eigenen Tränen schmecken, die salzigen Tropfen auf seinen Lippen, die ihren Mund sanft und behutsam öffneten. Clary spürte, wie Jace’ vertrauter Geruch und Körper sie überwältigten, und sie presste sich für einen Sekundenbruchteil an ihn. Das blinde Bedürfnis ihres Körpers ließ sie sämtliche Zweifel vergessen; sie wollte ihn ganz nah bei sich haben, ihn nicht mehr gehen lassen – als plötzlich die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde.

Jace löste sich von ihr und Clary stieß ihn weg und zerrte den Saum ihres Trägertops hinunter. Vollkommen ungerührt setzte Jace sich auf und grinste die Gestalt im Türrahmen an. »Also, echt«, meinte er leicht tadelnd. »Du hast wirklich das mieseste Timing, seit Napoleon auf die Idee kam, der tiefste Winter sei der richtige Zeitpunkt für eine Invasion Russlands.«

In der Tür stand Sebastian.

Aus der Nähe konnte Clary deutlich erkennen, dass er sich seit ihrer ersten Begegnung in Idris verändert hatte: Seine Haare waren papierweiß, seine Augen wie schwarze Tunnel, gesäumt von langen Wimpern, die an Spinnenbeine erinnerten. Er trug ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und Clary entdeckte eine rote Narbe, die sich wie ein gerilltes Armband um sein rechtes Handgelenk wand, während in seiner Handfläche eine ziemlich frische, wulstige Narbe leuchtete.

»Dir ist schon klar, dass du da gerade meine Schwester schändest«, bemerkte er in Jace’ Richtung, wobei eine gewisse Belustigung aus seiner Miene sprach.

»Tut mir leid«, erwiderte Jace, aber er klang nicht so. Dann ließ er sich geschmeidig auf die Bettdecke zurücksinken. »Wir konnten uns einfach nicht mehr bremsen.«

Clary schnappte nach Luft, was selbst in ihren eigenen Ohren überlaut klang. »Raus!«, knurrte sie in Sebastians Richtung.

Doch dieser lehnte sich lässig an den Türrahmen, woraufhin Clary verblüfft die Ähnlichkeit zwischen Sebastians und Jace’ Bewegungen registrierte. Die beiden sahen einander zwar nicht ähnlich, aber sie bewegten sich auf die gleiche Weise… als ob…

Als ob sie von ein und derselben Person ausgebildet worden waren.

»Na, na, na«, tadelte Sebastian, »spricht man so mit seinem großen Bruder?«

»Magnus hätte dich nicht zurückverwandeln sollen – dann würdest du noch heute wie ein Kleiderständer in Ragnor Fells Hütte herumstehen«, fauchte Clary.

»Ach, das weißt du noch? Ich fand ja, dass wir an diesem Tag unheimlich viel Spaß zusammen hatten«, entgegnete Sebastian spöttisch und Clary erinnerte sich mit einem mulmigen Gefühl im Magen daran, wie er sie zu den niedergebrannten Mauern von Jocelyns Elternhaus geführt hatte, wie er sie inmitten der Ruinen geküsst hatte, obwohl er die ganze Zeit wusste, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie tatsächlich zueinander standen – und wie er sich darüber gefreut hatte, dass sie selbst vollkommen ahnungslos gewesen war.

Clary warf Jace einen raschen Seitenblick zu. Er wusste ganz genau, dass Sebastian sie geküsst hatte. Sebastian hatte ihn damit aufgezogen, woraufhin Jace ihn beinahe getötet hatte. Doch nun wirkte er nicht wütend; stattdessen schien er amüsiert und bestenfalls leicht verärgert darüber, dass man Clary und ihn unterbrochen hatte.

»Das sollten wir unbedingt noch mal machen«, schlug Sebastian vor und betrachtete eingehend seine Fingernägel. »Ein wenig Zeit mit der Familie verbringen.«

»Es interessiert mich nicht, was du denkst. Du bist nicht mein Bruder«, schnaubte Clary. »Du bist ein Mörder.«

»Ich wüsste wirklich nicht, wieso das eine das andere ausschließen sollte. War bei unserem guten alten Dad ja auch nicht der Fall«, erwiderte Sebastian und ließ seinen Blick wieder zu Jace schweifen. »Normalerweise mische ich mich ja höchst ungern in das Liebesleben eines Freundes ein, aber ich hab echt keine Lust, ewig lange hier draußen im Flur rumzustehen. Zumal ich kein Licht einschalten kann. Das ist total langweilig.«

Jace richtete sich auf und zog sein hochgerutschtes T-Shirt zurecht. »Gib uns fünf Minuten.«

Sebastian seufzte übertrieben und schloss dann die Tür.

Wütend starrte Clary Jace an: »Was zum Teu…«

»Achte auf deine Worte, Fray!« Jace’ Augen funkelten belustigt. »Und entspann dich.«

Doch Clary zeigte aufgebracht mit dem Finger auf die Tür. »Du hast gehört, was er gesagt hat. Über den Tag, als er mich geküsst hat. Damals hat er genau gewusst, dass ich seine Schwester bin. Jace…«

Plötzlich flammte etwas in Jace’ Augen auf und trübte ihren Goldton – doch es schien, als wären Clarys Worte von einer Teflonschicht abgeperlt, ohne den geringsten Eindruck zu hinterlassen.

Betroffen zog Clary sich zurück. »Jace, hast du überhaupt mitbekommen, was ich gesagt habe? Hörst du mir eigentlich zu?«

»Ich verstehe ja, dass du dich unwohl fühlst, während dein Bruder draußen im Flur wartet. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, dich zu küssen.« Jace grinste auf eine Weise, die Clary zu jedem anderen Zeitpunkt hinreißend gefunden hätte. »Es schien mir nur in dem Moment eine gute Idee.«

Clary stieg aus dem Bett und starrte auf Jace hinab, während sie gleichzeitig nach ihrem Morgenmantel griff, der am Bettpfosten hing, und sich darin einhüllte.

Jace beobachtete sie, unternahm aber nichts, um sie aufzuhalten, obwohl seine Augen in der Dunkelheit schimmerten.

»Ich… ich kapier das nicht«, sagte Clary. »Zuerst verschwindest du spurlos und jetzt kommst du zurück mit… mit ihm und tust so, als ob ich nicht den geringsten Grund hätte auszuflippen…«

»Das hab ich dir doch schon erklärt«, erwiderte Jace. »Ich musste erst sichergehen, dass du mich noch liebst. Und ich wollte nicht, dass du meinen Aufenthaltsort erfährst, während der Rat dich noch verhört. Ich dachte, das wäre einfach zu schwer für dich…«

»Schwer?«, fauchte Clary atemlos vor Wut. »Prüfungen sind schwer. Hindernisrennen sind schwer. Aber dass du einfach verschwunden bist… das hat mich fast umgebracht, Jace. Und was glaubst du eigentlich, was du Alec damit angetan hast? Und Isabelle? Oder Maryse? Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie die vergangenen Wochen für sie gewesen sind? Kannst du dir das vorstellen? Nichts zu wissen… ununterbrochen zu suchen…«

Erneut huschte dieser eigenartige Ausdruck über Jace’ Gesicht, als würde er sie hören, aber nicht wirklich verstehen. »Ach ja, richtig, das wollte ich dich auch noch fragen.« Er lächelte wie ein Engel. »Suchen alle nach mir?«

»Ob alle nach dir suchen…« Clary schüttelte den Kopf und zog den Morgenmantel enger um sich. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, sich vor ihm abzuschirmen – vor ihm und dieser Vertrautheit und Schönheit und diesem umwerfenden, raubtierartigen Lächeln, aus dem sprach, dass er bereit war, alles mit ihr zu tun, ganz gleich, wer draußen im Flur wartete.

»Ich hatte ja gehofft, man würde Flugblätter aufhängen, so wie bei vermissten Katzen«, bemerkte er. »Gesucht: ein erstaunlich attraktiver Teenager. Hört auf den Namen ›Jace‹ oder auch ›Heißer Typ‹.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»›Heißer Typ‹ gefällt dir nicht? Meinst du ›Zuckerschnäuzchen‹ wäre besser? Oder ›Sexgott‹? Obwohl Letzteres vielleicht ein wenig zu weit geht…«

»Halt die Klappe!«, fauchte Clary wütend. »Und verschwinde!«

»Ich…« Jace wirkte bestürzt und Clary erinnerte sich daran, wie überrascht er gewesen war, als sie ihn auf dem Hang hinter dem Herrenhaus von sich gestoßen hatte. »Also gut, von mir aus. Dann bin ich jetzt eben ernst. Clarissa, ich bin hier, weil ich möchte, dass du mit mir kommst.«

»Mit dir? Wohin?«

»Begleite mich einfach«, sagte er und fügte dann zögernd hinzu: »Mich und Sebastian. Dann werde ich dir alles erklären.«

Einen Moment war Clary wie erstarrt und ihre Blicke trafen sich. Das Mondlicht betonte die geschwungenen Konturen seiner Lippen, die Form seiner Wangenknochen, die Schatten seiner Wimpern, die Wölbung seines Adamsapfels. »Als ich beim letzten Mal ›mit dir gekommen‹ bin, hab ich das Bewusstsein verloren und bin inmitten einer Zeremonie voller schwarzer Magie aufgewacht.«

»Das war ich nicht. Das war Lilith.«

»Der Jace Lightwood, den ich kenne, könnte keine zwei Sekunden im selben Raum mit Jonathan Morgenstern sein, ohne nicht wenigstens zu versuchen, ihn zu töten.«

»Kann sein, aber es würde leider nicht gut für mich ausgehen«, erwiderte Jace leichthin, angelte sich seine Stiefel vom Boden und streifte sie über, während er noch auf dem Bett lag. »Wir sind aneinander gebunden, er und ich. Verletzt du ihn, werde ich bluten.«

»Aneinander gebunden? Was meinst du damit?«

Jace warf die hellen Haare in den Nacken und ignorierte Clarys Frage. »Das Ganze ist viel größer, als du verstehen könntest, Clary. Sebastian hat einen Plan. Er ist bereit, viel dafür zu tun… Opfer zu bringen. Wenn du mir nur die Gelegenheit geben würdest, es dir zu erklären…«

»Er hat Max umgebracht, Jace«, entgegnete Clary. »Deinen kleinen Bruder.«

Jace zuckte zusammen und einen Moment lang flammte in Clary die Hoffnung auf, dass sie zu ihm durchgedrungen war. Doch dann glättete sich seine Miene wieder wie ein straff gezogenes Bettlaken. »Das war… das war nur ein Unfall. Außerdem ist Sebastian ebenso sehr mein Bruder wie Max es war.«

»Nein.« Clary schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das ist er nicht – er ist mein Bruder. Glaub mir, ich wünschte, es wäre nicht der Fall, aber so ist es nun mal. Sebastian hätte nie geboren werden dürfen…«

»Wie kannst du so was sagen?«, fragte Jace fordernd und schwang die Beine über die Bettkante. »Hast du je darüber nachgedacht, dass die Welt vielleicht nicht so schwarz und weiß ist, wie du glaubst?« Er beugte sich vor, hob seinen Waffengurt auf und band ihn sich um. »Natürlich, es hat diesen Krieg gegeben und viele Leute wurden verletzt, Clary, aber damals sah die Situation völlig anders aus. Inzwischen weiß ich, dass Sebastian niemandem, den ich liebe, absichtlich Schaden zufügen würde. Er dient einer größeren Sache. Und dabei sind Kollateralschäden manchmal nicht zu vermeiden…«

»Hast du deinen eigenen Bruder gerade eben echt als Kollateralschaden bezeichnet?«, rief Clary ungläubig. Sie hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen.

»Clary, du hörst nicht zu. Das hier ist wichtig…«

»So wie das, was Valentin für wichtig gehalten hat?«

»Valentin hat sich geirrt«, erwiderte Jace. »Er hatte recht, was den Rat anbelangt… dass dieser korrumpiert ist. Aber mit seinen Vorstellungen, wie man das ändern sollte, lag er völlig daneben. Dagegen hat Sebastian hundertprozentig recht. Wenn du dir nur mal eine Minute Zeit nehmen und uns zuhören würdest…«

»›Uns‹«, schnaubte Clary. »Gott. Jace…« Er schaute sie vom Bett aus an, und obwohl Clary spürte, wie es ihr das Herz brach, überschlugen sich ihre Gedanken förmlich: Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie ihre Stele abgelegt hatte. Fragte sich, ob sie vielleicht an das scharfe Papierschneidemesser herankam, das in ihrer Nachttischschublade lag. Und ob sie sich wohl dazu überwinden konnte, es zu benutzen.

»Clary?« Jace neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte sie. »Du… du liebst mich doch noch immer, oder?«

»Ich liebe Jace Lightwood«, sagte sie. »Aber ich habe keine Ahnung, wer du bist.«

Jace’ Miene veränderte sich, doch bevor er etwas erwidern konnte, zerriss ein Schrei die nächtliche Stille. Ein Schrei und das Klirren von zersplitterndem Glas.

Clary erkannte die Stimme sofort – Jocelyn! Ohne Jace noch eines Blickes zu würdigen, riss sie die Tür auf, raste durch den Flur und stürmte ins Wohnzimmer.

Der große, offene Wohnbereich war von der Küche nur durch eine Theke getrennt – und dort stand Clarys Mutter, in Yogahose und einem zerlöcherten T-Shirt, die Haare zu einem zerzausten Knoten hochgesteckt. Jocelyn war anscheinend in die Küche gegangen, um sich etwas zu trinken zu holen: Glasscherben lagen vor ihren Füßen und Wasser sickerte in den grauen Teppichboden. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, sie wirkte so bleich wie weißer Sand. Gebannt blickte sie ins Wohnzimmer und Clary wusste, ohne den Kopf drehen zu müssen, wen Jocelyn dort anstarrte.

Ihren Sohn.

Sebastian lehnte an der Wand, in der Nähe der Wohnzimmertür, mit ausdrucksloser Miene. Langsam senkte er die Lider und musterte Jocelyn durch die dichten Wimpern. Irgendetwas an seiner Haltung, an seinem Blick erinnerte Clary an ein Foto… die Aufnahme, die Hodge vom siebzehnjährigen Valentin gemacht hatte. Sebastian hätte diesem Bild entsprungen sein können.

»Jonathan«, wisperte Jocelyn.

Clary stand wie erstarrt da, selbst als Jace aus dem Flur ins Wohnzimmer platzte. Im Bruchteil einer Sekunde erfasste er die Szenerie vor ihm und blieb abrupt stehen. Seine linke Hand schwebte über seinem Waffengurt, die schlanken Finger nur wenige Zentimeter vom Heft seines Dolches entfernt, und Clary wusste, dass er nur einen Wimpernschlag benötigen würde, um die Waffe zu zücken.

»Ich heiße jetzt Sebastian«, verkündete Clarys Bruder. »Mir ist klar geworden, dass ich den Namen, den du zusammen mit meinem Vater für mich ausgewählt hast, nicht länger tragen wollte. Ihr habt mich beide betrogen und ich möchte so wenig wie möglich an euch erinnert werden.«

Vor Jocelyns Füßen bildete das Wasser zwischen den Glasscherben bereits einen dunklen Fleck auf dem Teppichboden. Zögernd trat sie einen Schritt vor und ihr Blick huschte suchend über Sebastians Gesicht. »Ich habe geglaubt, du wärst tot«, wisperte sie. »Tot. Ich habe die Überreste deiner verbrannten Asche gesehen.«

Sebastian musterte sie aus zusammengekniffenen schwarzen Augen. »Wenn du eine richtige Mutter wärst… eine gute Mutter«, setzte er an, »dann hättest du gewusst, dass ich noch am Leben war. Ein kluger Mann hat mal gesagt: Mütter tragen den Schlüssel zu unserer Seele ein Leben lang in ihrer Brust. Aber du hast meinen weggeworfen.«

Ein Röcheln drang tief aus Jocelyns Kehle. Sie klammerte sich Halt suchend an die Theke. Clary wollte zu ihr laufen, aber ihre Füße waren wie festgenagelt. Was auch immer gerade zwischen ihrem Bruder und ihrer Mutter passierte – es hatte nichts mit ihr zu tun.

»Erzähl mir nicht, du bist nicht wenigstens ein kleines bisschen froh, mich zu sehen, Mutter«, fuhr Sebastian fort, doch trotz der eindringlichen Worte klang seine Stimme seltsam tonlos. »Bin ich denn nicht alles, was du dir von einem Sohn nur wünschen könntest?« Er breitete die Arme aus. »Stark, attraktiv und dem guten alten Dad wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Jocelyn schüttelte den Kopf; ihr Gesicht war aschgrau. »Was willst du, Jonathan?«

»Ich will das, was alle wollen«, erwiderte Sebastian. »Ich will das, was mir zusteht. In diesem Fall das Vermächtnis der Familie Morgenstern.«

»Das Vermächtnis der Morgensterns besteht aus Tod und Verwüstung«, sagte Jocelyn. »Aber wir sind hier keine Morgensterns. Weder ich noch meine Tochter.« Sie richtete sich auf. Ihre Hände umklammerten zwar noch immer die Theke, doch Clary konnte sehen, wie ein Teil des alten Feuers in Jocelyns Miene zurückkehrte. »Wenn du jetzt gehst, Jonathan, werde ich dem Rat nichts von deinem Besuch hier erzählen.« Ihr Blick zuckte zu Jace hinüber. »Oder von dir. Wenn die Ratsmitglieder wüssten, dass du mit ihm zusammenarbeitest, würden sie euch beide töten lassen.«

Reflexartig stellte Clary sich vor Jace, der über ihre Schulter hinweg zu Jocelyn schaute. »Seit wann interessierst du dich dafür, ob ich lebe oder sterbe?«, fragte Jace.

»Ich interessiere mich dafür, weil ich weiß, dass es meiner Tochter etwas bedeutet«, erklärte Jocelyn. »Und das Gesetz ist hart, zu hart. Das, was mit dir passiert ist… vielleicht kann es ja rückgängig gemacht werden.« Dann kehrte ihr Blick zu Sebastian zurück. »Aber für dich… meinen Jonathan… ist es längst zu spät.« Die Hand, die gerade noch die Theke umklammert hatte, schnellte mit Lukes Kindjal vor. Tränen glitzerten auf Jocelyns Gesicht, doch ihr Griff um den Dolch war fest und entschlossen.

»Ich sehe genauso aus wie er, nicht wahr?«, fragte Sebastian, ohne sich von der Stelle zu rühren. Er schien die Waffe kaum zu bemerken. »Genau wie Valentin. Deswegen schaust du mich auch so an, mit diesem Blick.«

Jocelyn schüttelte den Kopf. »Du siehst aus wie immer… so wie du schon immer ausgesehen hast. Wie ein Dämonenwesen.« Abgrundtiefe Trauer sprach aus ihrer Stimme. »Es tut mir so leid.«

»Was tut dir leid?«

»Dass ich dich nicht gleich nach der Geburt getötet habe«, sagte Jocelyn, löste sich von der Theke und wirbelte den Kindjal in der Hand herum.

Während Clary angespannt zuschaute, blieb Sebastian vollkommen reglos. Seine dunklen Augen folgten jeder Bewegung seiner Mutter, die drohend auf ihn zukam. »Ist es das, was du willst: meinen Tod?«, fragte er, breitete die Arme aus, als wollte er Jocelyn umarmen, und trat einen Schritt vor. »Nur zu! Töte dein eigenes Kind. Ich werde dich nicht aufhalten.«

»Sebastian!«, rief Jace.

Clary warf ihm einen ungläubigen Blick zu. Hatte er tatsächlich besorgt geklungen?

Gleichzeitig trat Jocelyn einen weiteren Schritt vor. Der Dolch in ihrer Hand wirbelte um die eigene Achse, und als sie schließlich innehielt, zeigte die Spitze direkt auf Sebastians Herz.

Trotzdem rührte er sich noch immer nicht von der Stelle. »Na los«, forderte er sie leise auf und neigte den Kopf leicht zur Seite. »Oder bringst du es einfach nicht fertig? Du hättest mich direkt nach der Geburt töten können. Aber das hast du nicht getan.« Sebastian senkte die Stimme. »Vielleicht weißt du ja, dass Mutterliebe nicht an Bedingungen geknüpft sein sollte. Wenn du mich mehr geliebt hättest, wärst du vielleicht in der Lage gewesen, mich zu retten.«

Einen Moment lang starrten sie einander an – Mutter und Sohn. Eisgrüne Augen trafen auf kohlschwarze. Tiefe Falten – von denen Clary hätte schwören können, dass sie zwei Wochen zuvor noch nicht da gewesen waren – hatten sich in die Haut um Jocelyns Mundwinkel gegraben. »Du spielst uns doch nur etwas vor«, erwiderte sie mit zittriger Stimme. »Du empfindest rein gar nichts, Jonathan. Dein Vater hat dich gelehrt, menschliche Gefühle vorzutäuschen, so wie man einem Papagei das Wiederholen von Worten beibringt. Aber der Vogel versteht nicht, was er da plappert, und das Gleiche gilt für dich. Ich wünschte… Gott, ich wünsche mir wirklich, du könntest es verstehen. Aber…« Mit einer raschen Bewegung riss Jocelyn den Dolch herum und ließ ihn in einem perfekten Bogen aufwärtsschnellen.

Die Waffe hätte sich von unten unter Sebastians Rippen und tief in sein Herz gebohrt, wenn dieser nicht blitzschnell reagiert hätte. Er zuckte zurück und wirbelte zur Seite, sodass die Spitze der Klinge nur eine flache Schnittwunde auf seiner Brust hinterließ.

Jace, der neben Clary stand, hielt bestürzt die Luft an, woraufhin Clary sich zu ihm umdrehte. Ein roter Fleck breitete sich auf seinem weißen T-Shirt aus. Vorsichtig berührte er die Stelle und betrachtete dann seine blutigen Fingerkuppen. Wir sind aneinander gebunden. Verletzt du ihn, werde ich bluten.

Ohne lange nachzudenken, stürmte Clary durch das Wohnzimmer und warf sich zwischen Jocelyn und Sebastian. »Mom«, keuchte sie. »Hör auf!«

Doch Jocelyn, den Dolch noch immer in der Hand und den Blick fest auf Sebastian gerichtet, knurrte nur: »Clary, geh aus dem Weg.«

In dem Moment begann Sebastian zu lachen. »Ist das nicht süß? Eine kleine Schwester, die ihren großen Bruder verteidigt.«

»Ich verteidige nicht dich«, erwiderte Clary, ohne die Augen von Jocelyns Gesicht abzuwenden. »Alles, was mit Jonathan geschieht, passiert auch Jace. Hast du mich verstanden, Mom? Wenn du ihn tötest, stirbt Jace. Er blutet schon. Mom, bitte!«

Jocelyn umklammerte den Dolch zwar weiterhin, doch ein Zögern zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Clary…«

»Du meine Güte, was für ein Dilemma«, bemerkte Sebastian. »Bin mal gespannt, wie ihr das Problem löst. Schließlich hab ich nicht den geringsten Grund zu verschwinden.«

»Oh doch, den hast du«, drang im nächsten Moment eine Stimme aus dem Flur – Luke, der barfuß mit Jeans und einem alten Pullover im Türrahmen erschien. Er wirkte zerzaust und ohne seine Brille seltsamerweise deutlich jünger. Außerdem hielt er eine abgesägte Schrotflinte in der Hand, deren Lauf direkt auf Sebastian gerichtet war. »Das hier ist eine Winchester Pump Gun, Kaliber 12. Damit legen wir im Rudel die Wölfe um, die abtrünnig und zu bösartigen Einzelgängern geworden sind«, sagte er. »Selbst wenn ich dich nicht töte, kann ich dich damit noch immer umpusten, Valentinssohn.«

Es schien, als würden alle Anwesenden gleichzeitig nach Luft schnappen – bis auf Luke und Sebastian, der mit einem spöttischen Grinsen auf Luke zumarschierte, als würde er die Flinte gar nicht wahrnehmen. »›Valentinssohn‹«, sagte er. »Denkst du das wirklich von mir? Unter anderen Umständen hättest du mein Pate sein können.«

»Unter anderen Umständen…«, setzte Luke an und legte seinen Finger an den Abzug, »hättest du ein Mensch sein können.«

Abrupt blieb Sebastian stehen. »Das Gleiche könnte man von dir behaupten, Werwolf.«

Clary hatte das Gefühl, als würde die Welt sich unendlich viel langsamer drehen: Luke nahm Sebastian über den Lauf der Flinte ins Visier, während dieser einfach dastand und grinste. »Luke«, krächzte Clary. Das Ganze erschien ihr wie einer jener Albträume, in denen sie laut schreien wollte, aber nur ein Wispern hervorbrachte. »Luke, tu es nicht.«

Ihr Stiefvater krümmte den Finger am Abzug – und dann schien Jace wie aus dem Nichts in Aktion zu treten, sprang im Bruchteil einer Sekunde nach vorn und warf sich auf Luke, während gleichzeitig die Waffe losging.

Der Schuss verfehlte sein Ziel und die Kugeln zertrümmerten eine der Fensterscheiben. Aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte Luke rückwärts. Sofort riss Jace ihm die Waffe aus der Hand, schleuderte sie aus dem zerborstenen Fenster und wandte sich wieder dem älteren Mann zu. »Luke…«, setzte er an.

Doch Luke versetzte ihm einen Faustschlag.

Trotz der ganzen Situation empfand Clary den Anblick von Luke – Luke, der Jace unzählige Male gegenüber Jocelyn, gegenüber Maryse und gegenüber dem Rat verteidigt hatte, Luke, der im Grunde seines Herzens sanft und freundlich war, Luke, der Jace nun tatsächlich mitten ins Gesicht schlug – so schockierend, als hätte er statt des Jungen sie geschlagen.

Der Schlag traf Jace vollkommen unvorbereitet und warf ihn rückwärts gegen die Wand.

Und Sebastian, der bis auf Spott und Abscheu keine echten Gefühle gezeigt hatte, knurrte – knurrte und zog einen langen, dünnen Dolch aus seinem Gürtel. Bestürzt riss Luke die Augen auf und versuchte, sich wegzudrehen, doch Sebastian war schneller als er… schneller als jeder andere, den Clary jemals gesehen hatte. Schneller als Jace. Er rammte Luke den Dolch tief in die Brust, drehte ihn herum und zog ihn mit einem Ruck wieder heraus. Die Klinge war bis zum Heft blutrot. Während Clary starr vor Entsetzen zusah, taumelte Luke rückwärts gegen die Wand, rutschte daran herunter und hinterließ dabei eine breite Blutspur.

In dem Moment schrie Jocelyn auf. Das Geräusch war schlimmer als der Knall der Kugeln, die das Fenster zertrümmert hatten, obwohl Clary alles nur wie aus weiter Ferne oder unter Wasser zu hören schien. Wie angewurzelt stand sie da und blickte auf Luke hinab, der auf dem Boden zusammengebrochen war, wo sich der Teppich um ihn herum mehr und mehr blutrot verfärbte.

Erneut hob Sebastian den Dolch – und dieses Mal stürzte Clary sich auf ihn, rammte ihn, so fest sie konnte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch obwohl sie ihn kaum von der Stelle bewegte, ließ er die Waffe fallen und wandte sich ihr zu. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und blutete. Clary hatte keine Ahnung, wieso – bis Jace in ihr Blickfeld kam und sie das Blut an seinem Mund sah, dort, wo Lukes Faust ihn getroffen hatte.

»Das reicht!«, fauchte Jace, packte Sebastian an seiner Jacke und hielt ihn fest. Er war blass im Gesicht, mied jeden Blick in Lukes oder Clarys Richtung. »Hör auf! Deswegen sind wir nicht hierhergekommen.«

»Lass mich los…«

»Nein.« Jace beugte sich vor und schnappte sich Sebastians Hand. Sein Blick kreuzte sich kurz mit Clarys, seine Lippen formten Worte und dann blitzte etwas silbern auf – der Ring an Sebastians Finger. Eine Sekunde später waren beide fort, verschwunden zwischen zwei Atemzügen – und im selben Augenblick flog etwas metallisch Glitzerndes durch die Luft und bohrte sich dort in die Wand, wo die beiden gerade noch gestanden hatten.

Lukes Kindjal.

Clary wirbelte zu ihrer Mutter herum, die den Dolch geworfen hatte. Doch Jocelyn hastete bereits zu Luke, kniete sich neben ihn auf den blutgetränkten Teppich und zog ihn auf ihren Schoß. Luke hatte die Augen geschlossen; Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. Sebastians blutbeschmierter Dolch lag nur wenige Schritte entfernt.

»Mom«, wisperte Clary. »Ist er…«

»Der Dolch war aus Silber«, stieß Jocelyn mit zittriger Stimme hervor. »Luke wird nicht so schnell heilen können wie sonst… nicht so schnell, wie er müsste… jedenfalls nicht ohne besondere Behandlung.« Behutsam berührte sie sein Gesicht mit den Fingerspitzen.

Erleichtert stellte Clary fest, dass sich Lukes Brust, wenn auch sehr flach, langsam hob und senkte. Sie konnte spüren, wie ihr heiße Tränen in die Augen schossen, und war einen Moment lang verwundert, wie ruhig ihre Mutter blieb. Andererseits war Jocelyn dieselbe Frau, die einst vor den Ruinen ihres Elternhaus gestanden hatte, umgeben von der Asche und den verkohlten Überresten ihrer Familie, darunter ihre Eltern und ihr Sohn, und die trotzdem ihr Leben wieder aufgenommen hatte.

»Hol mir ein paar Handtücher aus dem Bad«, befahl sie. »Wir müssen die Blutung stoppen.«

Clary rappelte sich auf und taumelte fast blind in Lukes kleines, gefliestes Bad. Hinter der Tür hing ein graues Handtuch am Haken. Clary zerrte ungeduldig daran und brachte es ins Wohnzimmer. Jocelyn hielt Luke mit einer Hand auf ihrem Schoß, während sie mit dem Mobiltelefon in der anderen Hand telefonierte und gerade das Gespräch beendete. Hastig ließ sie das Handy fallen und griff nach dem Handtuch, das Clary ihr reichte. Sie faltete es zusammen und presste es fest auf die Wunde in Lukes Brust.

Entsetzt beobachtete Clary, wie sich das Gewebe des grauen Handtuchs mit Blut vollsog und scharlachrot verfärbte. »Luke«, wisperte sie. Doch er regte sich nicht. Sein Gesicht war inzwischen aschgrau.

»Ich habe gerade sein Rudel angerufen«, sagte Jocelyn, ohne ihre Tochter dabei anzusehen. Und Clary wurde bewusst, dass ihre Mutter bisher keine einzige Frage zu Jace und Sebastian gestellt hatte – oder wieso sie und Jace zusammen hergestürmt waren. Jocelyns einzige Sorge galt momentan Luke. »Ein paar der Rudelmitglieder sind in der Nähe auf Patrouille. Sobald sie hier sind, brechen wir auf. Jace wird auf jeden Fall zurückkommen, um dich zu holen.«

»Das weißt du doch gar nicht…«, wisperte Clary trotz ihrer trockenen Kehle.

»Doch, das weiß ich«, erwiderte Jocelyn. »Valentin ist nach fünfzehn Jahren zurückgekommen, um mich zu holen. So sind die Morgenstern-Männer nun mal gestrickt: Sie geben niemals auf. Er wird wieder und wieder hier auftauchen, um dich zu holen.«

Jace ist nicht Valentin. Doch Clary brachte die Worte nicht über ihre Lippen. Am liebsten hätte sie sich neben Luke gekniet, seine Hand genommen, ganz fest gehalten und ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Gleichzeitig erinnerte sie sich daran, wie Jace sie berührt hatte, wie seine Hände ihren Körper gestreichelt hatten. Geknickt ließ sie den Kopf sinken: Das war alles nur ihre Schuld. Sie verdiente es nicht, Luke zu trösten – oder sich selbst. Was sie verdiente, waren Schmerz und Schuldgefühle.

Plötzlich waren Schritte auf den Stufen vor dem Haus zu hören, dann leises Stimmengewirr. Ruckartig hob Jocelyn den Kopf. Das Rudel.

»Clary, geh in dein Zimmer und pack deine Sachen«, befahl sie. »Nimm alles mit, was du unbedingt brauchst, und nur so viel, wie du tragen kannst. Wir werden nicht hierher zurückkehren.«

6 Keine Waffe dieser Welt

Der erste Schnee fiel: Weiße Flocken schwebten wie Federn aus dem stahlgrauen Himmel herab, während Clary und ihre Mutter durch die Greenpoint Avenue eilten, die Köpfe gegen den eisigen Wind gesenkt, der vom East River heraufwehte.

Seit sie Luke in der ehemaligen Polizeiwache zurückgelassen hatten, die dem Rudel als Hauptquartier diente, hatte Jocelyn kein einziges Wort gesagt. Die ganze Situation war wie im Nebel an Clary vorbeigezogen: Das Rudel, das seinen Anführer in die Wache trug, ein Mitglied, das mit einem Sanitätskasten herbeigeeilt kam, ihre Mutter, die sich genau wie sie selbst angestrengt bemühte, einen Blick auf Luke zu werfen, während die Werwölfe ihre Reihen um ihn zu schließen schienen. Clary wusste natürlich, warum sie ihn nicht in ein irdisches Krankenhaus bringen konnten, aber es war ihr schwergefallen, fast unerträglich schwer, ihn in dem weiß gekalkten Raum zurückzulassen, der dem Rudel als Krankenstation diente.

Dabei war es nicht so, dass die Wölfe Jocelyn oder Clary nicht mochten. Es lag vielmehr daran, dass Lukes Verlobte und ihre Tochter keine Rudelmitglieder waren – und auch nie welche sein würden. Clary hatte sich nach Maia umgesehen, auf der Suche nach einer Verbündeten, aber das Mädchen war nicht da gewesen. Schließlich hatte Jocelyn Clary hinausgeschickt, weil sich bereits zu viele Leute in der Krankenstation drängten, und Clary hatte sich draußen vor dem Raum auf den Boden gehockt, ihren Rucksack auf den Knien. Nie zuvor hatte sie sich so allein gefühlt wie in diesem Moment, um zwei Uhr morgens im menschenleeren Flur. Wenn Luke sterben würde…

Sie konnte sich an ein Leben ohne ihn kaum noch erinnern. Und sie verdankte es Luke und Jocelyn, dass sie bedingungslose Liebe kennengelernt hatte. Eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen beinhaltete Luke, der sie hochhob und in die Astgabel des Apfelbaums auf seiner Farm setzte. Auf der Krankenstation lag er mit rasselnder Atmung, während sein Zweiter Offizier, Bat, den Sanitätskasten auspackte. Clary erinnerte sich, dass es hieß, Todgeweihte würden kurz vor ihrem Ableben nur noch röchelnd atmen. Sie konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, was das Letzte war, worüber sie mit Luke gesprochen hatte. Es hieß doch immer, man müsste sich an die letzten Worte erinnern, die man zu jemandem gesagt hatte, bevor derjenige starb…

Als Jocelyn endlich aus dem Krankenzimmer trat, wirkte sie vollkommen erschöpft. Müde streckte sie Clary ihre Hand entgegen und half ihr beim Aufstehen.

»Ist er…«, setzte Clary an.

»Sein Zustand ist stabil«, erklärte Jocelyn, warf dann einen Blick in beide Richtungen des Flurs und fügte hinzu: »Wir sollten aufbrechen.«

»Aber wohin denn?«, fragte Clary verwirrt. »Ich dachte, wir bleiben hier… bei Luke. Ich will ihn nicht allein lassen.«

»Das will ich auch nicht«, erwiderte Jocelyn fest. Und Clary musste an die junge Frau denken, die Idris den Rücken gekehrt und alles zurückgelassen hatte, was ihr lieb und vertraut war, um ganz auf sich allein gestellt ein neues Leben zu beginnen. »Aber wir können nicht zulassen, dass Jace und Jonathan dich hier aufspüren. Das würde das Rudel in Gefahr bringen und Luke erst recht. Und das Hauptquartier ist der erste Ort, an dem Jace nach dir suchen wird.«

»Und wohin…?«, setzte Clary an, unterbrach sich aber, da ihr die Antwort dämmerte. An wen hatten sie sich jedes Mal gewandt, wenn sie in den vergangenen Wochen Hilfe gebraucht hatten?

Inzwischen war der bröckelnde Gehweg der Greenpoint Avenue wie mit einer Schicht Puderzucker bestäubt. Vor ihrem Aufbruch hatte Jocelyn einen langen Mantel übergestreift, doch darunter trug sie noch immer die Sachen, die mit Lukes Blut getränkt waren. Sie hatte die Lippen zusammengekniffen und hielt den Blick fest auf die Straße geheftet. Clary fragte sich, ob ihre Mutter wohl ähnlich ausgesehen hatte, als sie Idris verließ: ihre Stiefel mit grauer Asche überzogen, der Engelskelch unter ihrem Mantel versteckt.

Clary schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen. Offenbar ging ihre Fantasie mit ihr durch – sie sah Dinge, die sie gar nicht wissen konnte. Aber vielleicht versuchte ihr Verstand auch nur, die schrecklichen Bilder zu verdrängen, die sie kurz zuvor tatsächlich gesehen hatte.

Plötzlich kam ihr Sebastians Anblick wieder in den Sinn, wie er Luke den Dolch in die Brust gerammt hatte, und sie hörte erneut Jace’ vertraute Stimme, als er von »Kollateralschäden« sprach.

Denn wie bei vielen verlorenen Kostbarkeiten gilt auch in diesem Falle: Wenn ihr ihn wiederfindet, könnte euer Freund möglicherweise nicht mehr so sein, wie ihr ihn in Erinnerung habt.

Jocelyn zitterte und schlug ihre Kapuze hoch, um ihre Haare zu bedecken. Weiße Schneeflocken hatten sich bereits in ihre leuchtend roten Locken gemischt. Sie blieb stumm, während sie durch die menschenleere Straße eilten, die von polnischen und russischen Restaurants, Friseurläden und Schönheitssalons gesäumt war.

Plötzlich blitzte vor Clarys innerem Auge ein Bild auf – dieses Mal eine echte Erinnerung, kein Werk ihrer Fantasie: Ihre Mutter scheuchte sie mitten in der Nacht über eine dunkle Straße, an deren Rändern sich schmutzige Schneehaufen auftürmten. Dann ein niedriger grauer und bleierner Himmel

Sie hatte dieses Bild schon einmal gesehen… als die Brüder der Stille zum ersten Mal in ihrem Verstand herumgewühlt hatten. Jetzt begriff sie auch, worum es dabei ging: eine Erinnerung an die Zeit, als ihre Mutter sie regelmäßig zu Magnus gebracht hatte, um ihr Gedächtnis manipulieren zu lassen. Auch damals musste es tiefer Winter gewesen sein, aber Clary erkannte die Greenpoint Avenue aus ihrer Erinnerung wieder.

Kurz darauf erhob sich vor ihnen das Lagergebäude aus rotem Backstein, in dem Magnus wohnte. Jocelyn drückte die Glastür auf und gemeinsam drängten sie sich in den übel riechenden Eingang, wobei Clary durch den Mund zu atmen versuchte, während ihre Mutter ein, zwei, drei Mal auf Magnus’ Klingel drückte. Schließlich sprang die Tür auf und sie eilten die wacklige Treppe hinauf.

Die Wohnungstür stand weit offen und Magnus lehnte bereits wartend am Rahmen. Er trug einen kanariengelben Pyjama und grüne Pantoffeln mit Alien-Gesichtern, inklusive wippender insektenartiger Fühler. Seine stachligen schwarzen Haare waren zerzaust und seine goldgrünen Augen sahen müde aus. »Sankt Magnus’ Heim für bedürftige Schattenjäger in Not heißt euch willkommen«, sagte er zur Begrüßung mit tiefer Stimme und breitete die Arme aus. »Die Gästezimmer sind dort drüben. Schuhe abputzen nicht vergessen!« Dann trat er einen Schritt zurück, ließ Clary und Jocelyn ein und drückte die Wohnungstür hinter ihnen fest ins Schloss. Das Loft war dieses Mal in einer Art viktorianischem Dekor gehalten: Sofas mit hohen Rückenlehnen und große, vergoldete Spiegel an allen Wänden, während sich blütenförmige Lichterketten um die Metallsäulen wanden.

Vor dem Hauptraum ging ein kleiner Flur ab, der zu drei Gästezimmern führte. Clary wählte willkürlich eines auf der rechten Seite. Der Raum war orangefarben gestrichen, genau wie ihr ehemaliges Zimmer in Park Slope, und verfügte über ein Schlafsofa und ein kleines Fenster, von dem man die dunklen Scheiben eines geschlossenen Restaurants sehen konnte. Miau Tse-tung lag zusammengerollt auf der Bettdecke, die Nase unter dem Schwanz vergraben. Clary setzte sich neben ihn, kraulte ihm die Ohren und spürte das wohlige Schnurren, das durch seinen kleinen, pelzigen Körper vibrierte. Während sie ihn streichelte, fiel ihr Blick auf den Ärmel ihres hastig übergestreiften Sweatshirts: Er war dunkel verfärbt und blutverkrustet. Lukes Blut.

Clary stand auf und riss sich wütend das Sweatshirt vom Leib. Dann fischte sie eine saubere Jeans und ein schwarzes Thermo-Shirt mit V-Ausschnitt aus ihrem Rucksack und zog sich schnell an. Schließlich warf sie einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, das ihr blasses Gesicht zeigte, ihre schneefeuchten, schlaff herabhängenden Locken und ihre Sommersprossen, die sich wie Farbkleckse von ihrer bleichen Haut abhoben. Aber es spielte jetzt keine Rolle, wie sie aussah: Ihre Gedanken wanderten zu Jace und wie er sie geküsst hatte – eine Erinnerung, die bereits Tage zurückzuliegen schien – und ihr Magen schmerzte, als hätte sie unzählige winzige Messer verschluckt.

Einen langen Moment hielt sie sich am Bettsofa fest, bis der Schmerz schließlich verebbte. Dann holte sie tief Luft und marschierte durch den Flur zum Wohnzimmer.

Ihre Mutter saß auf einem der Stühle mit den vergoldeten Lehnen; ihre langen Künstlerfinger umklammerten einen Becher mit heißer Zitrone. Magnus lümmelte auf einem knallrosa Sofa, die Füße mit den grünen Pantoffeln auf dem Beistelltisch abgelegt. »Die Rudelmitglieder haben Luke stabilisieren können«, erzählte Jocelyn gerade mit erschöpfter Stimme. »Allerdings wissen sie nicht, für wie lange. Zuerst dachten sie, die Klinge sei mit Silberpulver präpariert gewesen, doch dann stellte sich heraus, dass es sich um eine andere Substanz handeln muss. Die Spitze des Dolchs…« Jocelyn schaute hoch, sah Clary und verstummte.

»Ist schon okay, Mom. Ich bin alt genug, um zu erfahren, was mit Luke los ist.«

»Na ja, man weiß es eben nicht genau«, sagte Jocelyn leise. »Die Spitze des Dolchs, den Sebastian benutzt hat, ist gegen eine von Lukes Rippen geprallt und abgebrochen und hat sich dabei in den Knochen gebohrt. Aber sie kann nicht entfernt werden. Denn sie… sie bewegt sich.«

»Sie bewegt sich?«, wiederholte Magnus verwirrt.

»Als man versucht hat, die Klingenspitze herauszuholen, hat sie sich tiefer in den Knochen gebohrt und ihn fast gespalten«, erklärte Jocelyn. »Luke ist ein Werwolf – seine Verletzungen verheilen schnell, aber die Spitze sitzt tief in seinem Körper und zerfetzt seine inneren Organe, wodurch sich die Wunde nicht schließen kann.«

»Dämonenmetall«, sagte Magnus. »Kein Silber.«

Jocelyn beugte sich vor. »Denkst du, du kannst ihm helfen? Ich werde zahlen, was immer du verlangst…«

Langsam stand Magnus auf. Seine Pantoffeln mit den Alien-Gesichtern und seine schlafzerzauste Frisur wirkten fehl am Platz, dem Ernst der Lage nicht angemessen. »Ich weiß es nicht.«

»Aber du hast doch auch Alec geheilt«, warf Clary ein. »Als der Dämonenfürst ihn verwundet hatte…«

Magnus ging unruhig auf und ab. »Damals wusste ich, was Alec fehlte, doch dieses Mal habe ich keine Ahnung, um welche Sorte von Dämonenmetall es sich handelt. Natürlich könnte ich herumexperimentieren, verschiedene Heilformeln ausprobieren, aber das ist nicht der schnellste Weg, Luke zu helfen.«

»Und was ist der schnellste Weg?«, fragte Jocelyn.

»Die Praetor Lupus, die Wolfsgarde«, erklärte Magnus. »Ich kannte den Mann, der sie gegründet hat – Woolsey Scott. Aufgrund gewisser… Vorfälle hat er sich für die genaue Wirkungsweise von Dämonenmetallen und Dämonengiften bei Lykanthropen interessiert und seine Erkenntnisse niedergeschrieben, so wie die Brüder der Stille mögliche Heilmethoden für Nephilim jahrhundertelang schriftlich festgehalten haben. Leider sind die Praetor im Laufe der Zeit sehr verschwiegen geworden und haben sich von der Welt abgeschottet. Aber jemand aus ihren Reihen könnte Zugriff auf ihr gesammeltes Wissen erhalten.«

»Luke gehört ihnen nicht an«, gab Jocelyn zu bedenken. »Und die Namen ihrer Mitglieder sind geheim…«

»Aber Jordan…«, warf Clary ein. »Jordan ist Mitglied der Praetor. Er kann es herausfinden. Ich rufe ihn sofort an…«

»Ich werde ihn anrufen«, sagte Magnus. »Ich habe zwar keinen Zugang zum Hauptquartier der Praetor, aber ich kann über Jordan eine Nachricht übermitteln lassen, die unserem Anliegen zusätzliches Gewicht verleihen dürfte. Bin gleich wieder da.« Er schlappte in die Küche, wobei die Insektenfühler auf seinen Pantoffeln sanft hin und her wogten wie Seetang in einer Meeresströmung.

Clary wandte sich wieder ihrer Mutter zu, die in ihren Becher mit dem dampfenden Getränk starrte. Heiße Zitrone war eines ihrer liebsten Stärkungsmittel – auch wenn Clary einfach nicht verstand, wieso jemand warmes, saures Wasser trinken wollte. Die Schneeflocken hatten Jocelyns Haare durchnässt und jetzt begannen sie, sich beim Trocknen zu kräuseln, so wie Clarys eigene Haare sich bei feuchtem Wetter kringelten. »Mom«, sagte Clary leise, woraufhin ihre Mutter aufschaute. »Den Dolch, den du geworfen hast… in Lukes Wohnzimmer… war der gegen Jace gerichtet?«

»Nein, gegen Jonathan«, erwiderte Jocelyn. Sie würde ihn niemals Sebastian nennen, das wusste Clary.

»Es ist nur so…« Clary holte tief Luft. »Im Grunde ist es fast dasselbe. Du hast es ja selbst gesehen. Als du Sebastian mit dem Dolch verletzt hast, begann Jace zu bluten. Es scheint, als wären die beiden irgendwie… das Spiegelbild des anderen. Verletzt man Sebastian, dann blutet Jace. Tötet man Sebastian, dann stirbt Jace.«

»Clary.« Jocelyn rieb sich die müden Augen. »Können wir das bitte ein anderes Mal besprechen?«

»Aber du glaubst doch, dass er zurückkommen wird, um mich zu holen – Jace, meine ich. Ich muss sichergehen, dass du ihn nicht verletzen wirst…«

»Tja, da kannst du dir nicht sicher sein. Weil ich das nämlich nicht versprechen werde, Clary. Ich kann es einfach nicht.« Ihre Mutter musterte sie mit eindringlichem Blick. »Ich hab euch beide aus deinem Zimmer kommen sehen.«

Clary errötete. »Ich möchte nicht…«

»Was? Nicht darüber reden? Tja, Pech. Du hast das Thema selbst angesprochen. Und du kannst von Glück reden, dass ich nicht mehr der Nephilimgemeinschaft angehöre. Wie lange hast du schon gewusst, wo Jace steckt?«

»Ich weiß nicht, wo er steckt. Ich habe heute Nacht zum ersten Mal seit seinem Verschwinden mit ihm gesprochen. Allerdings habe ich ihn gestern im Institut beobachtet – zusammen mit Seb… mit Jonathan – und ich habe Alec, Isabelle und Simon davon erzählt. Aber ich konnte sonst niemanden einweihen. Wenn der Rat Jace in die Finger bekommt… Das kann ich einfach nicht zulassen.«

Jocelyn musterte sie aus ihren grünen Augen. »Und warum nicht?«

»Weil er immer noch Jace ist. Weil ich ihn liebe.«

»Er ist nicht mehr Jace – darum geht es ja gerade, Clary. Er ist nicht mehr der Junge, der er einmal war. Kannst du das denn nicht verstehen…?«

»Natürlich verstehe ich das. Ich bin doch nicht blöd. Aber ich glaube an ihn. Ich habe schon einmal miterlebt, wie er von einem Dämon besessen war und sich davon befreit hat. Ich bin mir sicher, irgendwo steckt der echte Jace noch immer tief in ihm drin. Und ich bin davon überzeugt, dass es einen Weg gibt, um ihn zu retten.«

»Und was, wenn nicht?«

»Das musst du mir erst mal beweisen.«

»Man kann ein Negativum nicht beweisen, Clarissa. Ich weiß, dass du ihn liebst. Du hast ihn schon immer geliebt… viel zu sehr. Denkst du, ich hätte deinen Vater nicht geliebt? Denkst du, ich hätte ihm nicht jede nur erdenkliche Chance eingeräumt? Und jetzt sieh dir an, was dabei herausgekommen ist. Jonathan. Wenn ich nicht bei deinem Vater geblieben wäre, würde er heute nicht existieren…«

»Und ich auch nicht. Falls du das vergessen haben solltest: Ich wurde nach meinem Bruder geboren, nicht vorher«, entgegnete Clary und musterte ihre Mutter mit einem scharfen Blick. »Oder willst du damit sagen, du würdest liebend gern auf mich verzichten, wenn du Jonathan dadurch loswerden könntest? «

»Nein, ich…«, setzte Jocelyn an, verstummte aber im nächsten Moment.

An der Wohnungstür ertönte das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels, dann schwang die Tür auf und Alec erschien. Er trug einen langen, ledernen Staubmantel über einem blauen Pullover und weiße Schneeflocken schmolzen auf seinen schwarzen Haaren. Von der Kälte glühten seine Wangen apfelrot, aber der Rest seines Gesichts war bleich. »Wo ist Magnus?«, fragte er.

Als er in Richtung Küche schaute, bemerkte Clary eine Wunde an seinem Kiefer, direkt unterhalb des Ohrs, etwa von der Größe eines Daumenabdrucks.

»Alec!« Magnus eilte ins Wohnzimmer und warf seinem Freund quer durch den Raum eine Kusshand zu. Offenbar hatte er seine Pantoffeln abgelegt, denn er war nun barfuß. Seine katzenartigen Augen leuchteten beim Anblick von Alec auf.

Clary kannte diesen Blick. Genau auf dieselbe Art und Weise schaute sie Jace an. Aber Alec erwiderte Magnus’ Blick nicht; er streifte den Mantel ab und hing ihn an einen Haken an der Wand. Alec war sichtlich aufgebracht. Seine Hände zitterten und seine breiten Schultern wirkten angespannt.

»Hast du meine SMS bekommen?«, fragte Magnus.

»Ja. Ich war ohnehin nur ein paar Häuserblocks entfernt.« Alec schaute zu Clary und dann zu ihrer Mutter; auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Sorge und Unentschlossenheit. Obwohl er zu Jocelyns Polterabend eingeladen gewesen war und sie auch schon bei anderen Gelegenheiten gesehen hatte, konnte man nicht behaupten, dass sie einander gut kannten. »Stimmt es, was Magnus sagt? Du hast Jace wieder gesehen?«, wandte er sich schließlich an Clary.

»Und Sebastian«, bestätigte Clary.

»Aber Jace… wie ging es… ich meine, was für einen Eindruck hat er auf dich gemacht?«, hakte Alec nach.

Clary wusste genau, was er meinte – ausnahmsweise verstanden sie und Alec einander besser als alle anderen im Raum. »Jace spielt keine Spielchen mit Sebastian«, erklärte sie leise. »Er hat sich wirklich verändert. Er ist überhaupt nicht mehr er selbst.«

»Inwiefern?«, fragte Alec fordernd und mit einer seltsamen Mischung aus Wut und Verletzlichkeit. »Wie hat er sich verändert?«

Clarys Jeans hatte am Knie ein Loch, an dem sie einen Moment abwesend herumzupfte und dabei über die darunterliegende Haut kratzte. »Wie er redet. Er glaubt an Sebastian. Glaubt an das, was er tut – was auch immer das sein mag. Als ich ihn daran erinnert habe, dass Sebastian Max getötet hat, schien ihn das überhaupt nicht zu kümmern.« Clarys Stimme brach. »Er meinte, Sebastian sei ebenso sehr sein Bruder, wie Max es war.«

Alec wurde noch blasser und seine roten Apfelbäckchen stachen wie Blutflecke von seiner hellen Haut ab. »Hat er irgendetwas über mich gesagt? Oder Izzy? Hat er nach uns gefragt?«

Clary schüttelte den Kopf; sie konnte den Ausdruck auf Alecs Gesicht kaum ertragen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie auch Magnus Alec musterte. Trauer spiegelte sich in seiner Miene und Clary fragte sich, ob er wohl noch immer eifersüchtig auf Jace war oder einfach nur mit Alec mitfühlte.

»Warum ist er bei dir zu Hause aufgetaucht?« Alec schüttelte den Kopf. »Ich versteh das nicht.«

»Er wollte, dass ich mit ihm mitkomme. Dass ich mich ihm und Sebastian anschließe. Ich schätze, er möchte ihr kleines, unheiliges Duo in ein kleines, unheiliges Trio verwandeln«, erwiderte Clary achselzuckend. »Vielleicht fühlt er sich ja einsam. Sebastian ist bestimmt nicht die angenehmste Gesellschaft.«

»Das wissen wir nicht«, widersprach Magnus. »Beim Scrabble könnte er beispielsweise ganz fantastisch sein.«

»Sebastian ist ein Mörder und ein Psychopath«, sagte Alec tonlos. »Und Jace weiß das auch.«

»Aber Jace ist im Moment nicht er selbst…«, setzte Magnus an und verstummte dann, als das Telefon klingelte. »Ich geh schon. Wer weiß, wer noch alles auf der Flucht vor dem Rat ist und einen Platz zum Übernachten braucht? Es ist ja nicht so, als ob es in dieser Stadt irgendwelche Hotels gäbe«, murmelte er und trottete in die Küche.

Alec warf sich auf das Sofa und schaute seinem Freund nach. »Magnus arbeitet zu viel«, sagte er besorgt. »Er hat sich die ganzen letzten Nächte um die Ohren geschlagen, um diese Runen zu entziffern.«

»Hat der Rat ihn damit beauftragt?«, fragte Jocelyn.

»Nein«, erwiderte Alec gedehnt. »Er tut es für mich. Weil er weiß, wie viel Jace mir bedeutet.« Alec zog seinen Ärmel hoch und zeigte Jocelyn die Parabatai-Rune auf der Innenseite seines Unterarms.

»Du hast gewusst, dass Jace nicht tot ist«, sagte Clary und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Weil ihr beide Parabatai seid, weil zwischen euch eine besondere Verbindung besteht. Aber du hast auch gesagt, du könntest spüren, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt.«

»Weil Jace besessen ist«, erklärte Jocelyn. »Das hat ihn verändert. Valentin hat genau das Gleiche berichtet, als Luke sich in einen Schattenweltler verwandelt hat… er meinte, dass er es spüren konnte… dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.«

Doch Alec schüttelte den Kopf. »Als Jace von Lilith besessen war, hab ich überhaupt nichts gespürt«, gab er zu bedenken. »Nur jetzt kann ich etwas fühlen… irgendetwas ist nicht richtig… irgendwie falsch.« Betreten schaute er auf seine Schuhe. »Man kann spüren, wenn der eigene Parabatai stirbt – es ist so, als wäre man mit einer Art Kordel an etwas gebunden und diese würde reißen und man würde ins Bodenlose fallen.« Alec schaute auf und blickte Clary direkt in die Augen. »In Idris hab ich das einmal gespürt, während der Schlacht. Aber der Moment war so kurz… und als ich nach Alicante zurückkehrte, war Jace quicklebendig. Daraufhin bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte.«

Clary musste an Jace und den blutgetränkten Sand am Ufer des Lyn-Sees denken. Nein, das hast du dir nicht eingebildet.

»Aber das, was ich jetzt spüre, fühlt sich anders an«, fuhr Alec fort. »Es kommt mir so vor, als wäre Jace zwar nicht auf dieser Welt, aber auch nicht tot. Und auch nicht eingesperrt… nur einfach nicht hier.«

»Das trifft es genau«, bestätigte Clary. »Bei beiden Malen, als ich Jace und Sebastian gesehen habe, schien es, als würden sie sich einfach in Luft auflösen. Kein Portal oder so was. Einen Moment lang waren sie hier und im nächsten schon verschwunden.«

»Wenn ihr von hier und dort sprecht und von dieser Welt und jener«, sagte Magnus, der gähnend in den Wohnraum zurückkehrte, »dann redet ihr im Grunde über verschiedene Dimensionen. Aber es gibt nur wenige Hexenmeister, die die Kunst der Dimensionsmagie beherrschen. Mein alter Freund Ragnor gehörte dazu. Die Dimensionen liegen nicht einfach nebeneinander – sie sind vielmehr zusammengefaltet, wie Papier. Und dort, wo sie sich überschneiden, können Dimensionsfalten entstehen, die verhindern, dass jemand mithilfe von Magie aufgespürt werden kann. Denn man ist ja nicht hier, sondern dort.«

»Vielleicht ist das ja der Grund, warum wir Jace nicht orten können? Und wieso Alec ihn nicht fühlen kann?«, mutmaßte Clary.

»Durchaus denkbar.« Magnus klang fast beeindruckt. »Das würde aber bedeuten, dass es wirklich keine Möglichkeit gibt, die beiden gegen ihren Willen zu finden. Und auch keine Möglichkeit, uns eine Nachricht zukommen zu lassen, falls es dir gelingen sollte, sie trotzdem aufzuspüren. Bei dem Ganzen handelt es sich um eine hochkomplexe, aufwändige Form der Magie. Sebastian muss in der Tat über einige Beziehungen verfügen…« In dem Moment schrillte die Türklingel, worauf alle Anwesenden erschrocken zusammenfuhren. Nur Magnus rollte mit den Augen und meinte: »Jetzt beruhigt euch mal wieder.« Dann verschwand er im Flur und kehrte kurz darauf mit einem Mann in einer langen, pergamentfarbenen Robe mit blutroten Runen an Saum und Ärmeln ins Wohnzimmer zurück. Obwohl der Mann die Kapuze hochgeschlagen hatte und sein Gesicht im Schatten lag, schien er trocken zu sein, als wäre er mit keiner Schneeflocke in Berührung gekommen. Als er die Kapuze zurückschlug, war Clary nicht im Geringsten überrascht, darunter das Gesicht von Bruder Zachariah zu sehen.

Ruckartig stellte Jocelyn ihre Tasse auf dem Beistelltisch ab, den Blick fest auf den Bruder der Stille geheftet, von dem Clary nur die dunklen Haare und die hohen, mit Runennarben übersäten Wangenknochen erkennen konnte, nicht aber die Augen. »Du…«, setzte Jocelyn an, verstummte für einen Moment und fügte dann hinzu: »Aber Magnus hat mir gesagt, dass die Brüder der Stille niemals…«

Unerwartete Ereignisse erfordern unerwartete Maßnahmen. Bruder Zachariahs Stimme schwebte durch den Raum und berührte Clarys Verstand; und der Ausdruck auf den Gesichtern der anderen verriet ihr, dass diese ihn ebenfalls hören konnten. Ich werde weder den Rat noch die Kongregation darüber in Kenntnis setzen, was sich hier und jetzt ereignet. Denn falls sich mir die Gelegenheit bietet, den letzten Erben der Familie Herondale zu retten, stufe ich dies als wesentlich wichtiger ein als meine dem Rat geschuldete Treue.

»Na, das wäre dann ja geklärt«, bemerkte Magnus. Er und der Stille Bruder bildeten ein seltsames Paar: der eine bleich und in heller Robe und der andere in einem knallgelben Pyjama. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten bezüglich Liliths Runen?«, fragte der Hexenmeister.

Ich habe diese Runen sorgfältig studiert und mir sämtliche Zeugenaussagen im Rat angehört, erklärte Bruder Zachariah. Und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei Liliths Zeremonie um ein Doppelritual gehandelt hat. Zunächst nutzte sie den Biss des Tageslichtlers, um Jonathan Morgensterns Bewusstsein wiederzuerwecken. Sein Körper war zwar noch geschwächt, aber sein Verstand und sein Wille waren lebendig. Ich glaube, als Jace Herondale mit ihm allein auf der Dachterrasse zurückblieb, nutzte Jonathan die Macht von Liliths Runen und zwang Jace, den verwunschenen Kreis zu betreten, der ihn umgab. Ab diesem Moment wird Jace’ Wille seinem unterworfen gewesen sein. Ich denke, er wird sich Jace’ Blut bedient haben, um die erforderliche Kraft zu gewinnen, die er benötigte, um sich zu erheben und von der Dachterrasse zu fliehen. Und Jace hat er mit sich genommen.

»Und das hat irgendwie eine Verbindung zwischen den beiden erschaffen?«, hakte Clary nach. »Denn als meine Mutter Sebastian mit einem Messer verletzt hat, begann Jace zu bluten.«

Ja. Lilith hat eine Art Verbrüderungsritual vollzogen, ähnlich dem unserer Parabatai-Zeremonie, allerdings deutlich mächtiger und gefährlicher. Die beiden sind nun untrennbar miteinander verbunden. Sollte einer der beiden sterben, wird der andere ihm unweigerlich folgen. Keine Waffe dieser Welt kann den einen verletzen, ohne den anderen ebenfalls zu verwunden.

»Du hast gesagt, die beiden sind untrennbar miteinander verbunden«, setzte Alec an und beugte sich vor. »Bedeutet das… ich meine, Jace hasst Sebastian. Er hat unseren kleinen Bruder ermordet.«

»Und Sebastian kann Jace auch nicht sonderlich ins Herz geschlossen haben. Er war sein Leben lang furchtbar eifersüchtig auf ihn, weil er glaubte, Jace wäre Valentins Liebling«, fügte Clary hinzu.

»Ganz zu schweigen davon, dass Jace ihn getötet hat«, bemerkte Magnus. »Das müsste eigentlich jeden abstoßen.«

»Aber es scheint, als würde Jace sich an keinen dieser Vorfälle erinnern… oder es einfach nicht glauben wollen«, stellte Clary frustriert fest.

Er erinnert sich durchaus. Doch die Kraft dieses Bundes sorgt dafür, dass Jace’ Verstand sich an diesen Tatsachen vorbeibewegt, so wie Wasser die Felsen in einem Flussbett umströmt. Das Ganze besitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Zauber, mit dem Magnus deinen Geist belegt hatte, Clarissa: Jedes Mal, wenn du Teile der Verborgenen Welt gesehen hast, hat dein Verstand sie abgelehnt und sich anderen Dingen zugewandt. Deshalb ist es vollkommen sinnlos, mit Jace über Jonathan zu diskutieren. Die Wahrheit vermag ihre Verbindung nicht zu trennen.

Clary musste an den Moment zurückdenken, als sie Jace daran erinnert hatte, dass Sebastian für Max’ Tod verantwortlich war: Jace’ Gesicht hatte sich einen Moment nachdenklich verzogen und dann wieder geglättet, als hätte er ihre Worte sofort wieder vergessen.

Vielleicht könnt ihr ja einen gewissen Trost aus der Tatsache schöpfen, dass Jonathan Morgenstern genauso sehr an Jace gebunden ist wie dieser an ihn. Daher kann er Jace keinen Schaden zufügen. Er würde es gar nicht wollen, fügte Zachariah hinzu.

Genervt warf Alec die Hände hoch. »Soll das heißen, dass die beiden sich jetzt lieben? Dass sie beste Freunde sind?« Aus seiner Stimme sprachen Schmerz und Eifersucht.

Nein. Die beiden sind jetzt der jeweils andere. Sie sehen, was der andere sieht. Und sie wissen, dass der andere für sie irgendwie unentbehrlich ist. Sebastian ist der Anführer, das Haupt der beiden. Alles, was er glaubt, wird auch Jace glauben. Alles, was er will, wird Jace tun.

»Dann ist er also besessen«, sagte Alec tonlos.

Bei einer Besessenheit ist ein Teil des ursprünglichen Bewusstseins häufig noch intakt. Diejenigen, die einmal besessen waren, berichten oft, dass sie ihre eigenen Handlungen wie von außen beobachtet haben, dass sie um Hilfe geschrien haben, aber nicht gehört werden konnten. Doch Jace ist nach wie vor Herr seiner Sinne. Er hält sich selbst für geistig vollkommen gesund. Und er ist davon überzeugt, dass Sebastians Wünsche genau das sind, was er selbst auch will.

»Und was wollte er dann von mir?«, fragte Clary mit zittriger Stimme. »Warum ist er heute Nacht in meinem Zimmer aufgetaucht?« Sie hoffte inständig, dass ihre Wangen nicht glühten, und versuchte, die Erinnerung zu verdrängen – die Erinnerung daran, wie sie ihn geküsst hatte, wie sich sein Körper hart auf ihren gepresst hatte.

Er liebt dich noch immer, erklärte Bruder Zachariah in erstaunlich sanftem Ton. Du bist der Dreh- und Angelpunkt seiner Welt. Daran hat sich nichts geändert.

»Und das ist auch der Grund, warum wir Lukes Haus verlassen mussten«, sagte Jocelyn angespannt. »Jace wird zurückkommen, um Clary zu holen. Deswegen konnten wir auch nicht im Hauptquartier des Rudels bleiben. Ich habe keine Ahnung, wo wir sicher sind…«

»Hier«, erwiderte Magnus. »Ich kann einen Wall aus Schutzzaubern errichten, der Jace und Sebastian fernhalten wird.«

Clary sah, wie sich große Erleichterung in den Augen ihrer Mutter abzeichnete. »Danke«, sagte Jocelyn.

Doch Magnus winkte ab: »Es ist mir eine Ehre. Ich liebe es, wütende Schattenjäger abzuwehren, insbesondere wenn sie auch noch besessen sind.«

Er ist nicht besessen, ermahnte Bruder Zachariah den Hexenmeister.

»Ach, das sind doch nur Haarspaltereien«, flötete Magnus. »Bleibt die Frage: Was haben die beiden jetzt vor? Welche Pläne schmieden sie?«

»Als Clary die beiden in der Bibliothek gesehen hat, meinte Sebastian zu Jace, dass er in ein paar Wochen ohnehin das Institut leiten würde«, warf Alec ein. »Das heißt also, dass sie irgendetwas aushecken.«

»Vermutlich wollen sie Valentins Werk fortsetzen«, überlegte Magnus laut. »Nieder mit den Schattenweltlern, Tod allen uneinsichtigen Schattenjägern, blablabla…«

»Kann schon sein«, räumte Clary ein, aber sie war sich nicht ganz sicher. »Jace hat irgendwas gesagt… dass Sebastian einer größeren Sache dient.«

»Weiß der Himmel, was sich dahinter verbirgt«, schnaubte Jocelyn. »Ich war jahrelang mit einem Fanatiker verheiratet – ich weiß, was ›einer größeren Sache dienen‹ bedeutet. Es bedeutet, dass man Unschuldige foltert, brutale Morde begeht, seinen ehemaligen Freunden den Rücken kehrt… und das alles im Namen einer Sache, die man für bedeutend hält, für wichtiger als man selbst, die aber in Wirklichkeit nichts anderes ist als Gier und kindisches Gehabe, verpackt in eine blumige Sprache.«

»Mom«, protestierte Clary, besorgt darüber, dass Jocelyn so verbittert klang.

Doch Jocelyn wandte sich bereits an Bruder Zachariah. »Du hast gesagt, keine Waffe dieser Welt könnte den einen verletzen, ohne den anderen ebenfalls zu verwunden«, konstatierte sie. »Keine Waffe, von der du weißt…«

Plötzlich leuchteten Magnus’ Augen auf, wie die Pupillen einer Katze im Licht eines Scheinwerfers. »Du meinst…«

»Die Eisernen Schwestern«, bestätigte Jocelyn. »Sie sind die unangefochtenen Expertinnen auf dem Gebiet der Waffenkunde. Möglicherweise wissen sie ja eine Antwort.«

Soweit Clary wusste, waren die Eisernen Schwestern der Schwesterorden der Stillen Brüder, doch im Gegensatz zu diesen verzichteten sie darauf, sich Augen und Mund zuzunähen. Allerdings lebten sie noch zurückgezogener – in fast völliger Abgeschiedenheit auf einer alten Festung, deren Standort unbekannt war. Nur äußerst selten ließen sie sich in der Öffentlichkeit blicken und nahmen in der Regel weder an Ratssitzungen noch am Leben in Alicante teil. Die Aufgabe dieser Frauen bestand nicht im Kampf, sondern in der Kreation: Ihre Hände schufen die Waffen, die Stelen, die Seraphklingen, die den Nephilim das Überleben ermöglichten.

Es gab Runen, die ausschließlich die Eisernen Schwestern meißeln konnten, und nur sie verstanden es, die silberweiße Substanz namens Adamant zu Dämonentürmen, Stelen und Elbenlichtsteinen zu verarbeiten und kannten alle damit verbundenen Geheimnisse.

Es wäre möglich, sagte Bruder Zachariah nach einer langen Pause.

»Wenn Sebastian getötet werden könnte… falls es eine Waffe gibt, die ihn töten, aber Jace unversehrt lassen würde… bedeutet das dann, dass Jace nicht länger unter seinem Einfluss stehen würde?«, fragte Clary.

Nach einer noch längeren Pause nickte Bruder Zachariah und bestätigte: Das scheint mir wahrscheinlich.

»Dann sollten wir uns auf den Weg zu diesen Schwestern machen.« Die Erschöpfung lastete wie ein wuchtiger Mantel auf Clarys Schultern, drückte schwer auf ihre Lider und hinterließ einen sauren Geschmack in ihrem Mund. Gähnend rieb sie sich die Augen, im Versuch, die Müdigkeit zu vertreiben. »Jetzt sofort.«

»Ich kann nicht mitkommen«, warf Magnus ein. »Der Zugang zur Adamant-Zitadelle ist nur Schattenjägerinnen gestattet.«

»Und du gehst auch nicht«, beschied Jocelyn Clary in ihrem strengsten Du-wirst-nicht-mit-Simon-nach-Mitternacht-durch-die-Clubs-ziehen-Tonfall. »Hier, innerhalb der Schutzschilde, bist du wesentlich sicherer.«

»Isabelle«, meinte Alec. »Isabelle könnte die Eisernen Schwestern aufsuchen.«

»Hast du denn eine Ahnung, wo sie gerade steckt?«, fragte Clary.

»Zu Hause, vermute ich mal«, erwiderte Alec und zuckte die Achseln. »Ich kann sie anrufen…«

»Ich kümmere mich darum«, warf Magnus ein, fischte sein Handy aus der Tasche und tippte mit der Geschwindigkeit des geübten Benutzers eine SMS in die Tasten. »Es ist schon spät und wir müssen sie ja nicht unbedingt wecken. Im Grunde brauchen wir alle etwas Ruhe. Vor morgen früh werde ich ohnehin niemanden zu den Eisernen Schwestern teleportieren.«

»Ich werde Isabelle begleiten«, verkündete Jocelyn. »Nach mir sucht niemand und sie sollte nicht allein zu den Schwestern aufbrechen. Ich mag zwar keine Schattenjägerin mehr sein, aber ich war mal eine, und es reicht, wenn eine von uns diese Anforderung erfüllt.«

»Das ist nicht fair«, protestierte Clary.

Doch ihre Mutter würdigte sie nicht einmal eines Blickes. »Clary…«

Wütend sprang Clary auf. »Während der vergangenen zwei Wochen bin ich fast wie eine Gefangene behandelt worden«, stieß sie mit zitternder Stimme hervor. »Der Rat hat mir untersagt, nach Jace zu suchen. Und jetzt ist er endlich zu mir gekommen – zu mir – und ich darf dich nicht einmal zu den Eisernen Schwestern begleiten…«

»Es ist zu gefährlich. Jace verfolgt wahrscheinlich jeden deiner Schritte…«

In dem Moment verlor Clary vollends die Beherrschung: »Jedes Mal, wenn du versuchst, mich in Sicherheit zu bringen, ruinierst du mein Leben!«

»Nein, je mehr du dich mit Jace einlässt, desto mehr ruinierst du dein Leben!«, fauchte ihre Mutter zurück. »Jedes Risiko, das du eingegangen bist, jede Gefahr, in die du dich gestürzt hast… das war immer nur seinetwegen! Er hat dir ein Messer an die Kehle gedrückt, Clarissa…«

»Das war nicht er«, erwiderte Clary leise und todernst. »Glaubst du wirklich, ich würde auch nur eine Sekunde mit jemandem zusammenbleiben, der mich mit einem Messer bedroht hat – selbst wenn ich ihn lieben würde? Vielleicht hast du ja zu lange in der Welt der Irdischen gelebt, Mom, aber da draußen gibt es so was wie Magie. Die Person, die mich verletzt hat, war nicht Jace, sondern eine Dämonin, die sein Gesicht trug. Und die Person, nach der wir jetzt suchen, ist auch nicht Jace. Aber wenn er stirbt…«

»Besteht nicht die geringste Chance, dass wir Jace jemals zurückbekommen«, beendete Alec Clarys Satz.

»Diese Chance besteht möglicherweise schon jetzt nicht mehr«, entgegnete Jocelyn. »Herrgott noch mal, Clary, sieh dir doch mal die Fakten an. Du dachtest, du und Jace wärt Geschwister! Du hast alles aufgegeben, nur um ihn zu retten, und ein Dämonenfürst hat ihn benutzt, um an dich heranzukommen! Wann wirst du endlich der Tatsache ins Auge sehen, dass ihr beide nicht füreinander bestimmt seid?«

Ruckartig wich Clary zurück, als hätte ihre Mutter sie geschlagen. Bruder Zachariah stand reglos wie eine Statue da, als hätte niemand auch nur die Stimme erhoben, während Magnus und Alec Mutter und Tochter stumm anstarrten. Jocelyns Gesicht war rot vor Zorn und ihre Augen blitzten wütend. Clary, die nicht für sich garantieren konnte, machte auf dem Absatz kehrt, marschierte durch den Flur in Magnus’ Gästezimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

»Okay, ich bin hier«, rief Simon. Eine kalte Brise pfiff über die weitläufige Dachterrasse und er stopfte die Hände in die Hosentaschen. Im Grunde spürte er die Kälte nicht, aber er hatte das Gefühl, als müsste er sie spüren. Erneut hob er die Stimme: »Ich bin da. Wo steckst du?«

Die Dachterrasse des Greenwich Hotel, die zu dieser Stunde geschlossen war und deshalb menschenleer dalag, war wie ein englischer Garten gestaltet – mit sorgfältig gestutzten Zwergbuchsbäumen, eleganten Gartenmöbeln aus Korbgeflecht und Glas sowie dunkelroten Sonnenschirmen, die im Wind flatterten. Die nackten Spaliergitter der Kletterrosen überzogen die halbhohen Steinmauern am Dachrand wie ein Spinnennetz. Über die Mauerkronen hinweg konnte Simon die Lichter von New York City erkennen.

»Ich bin hier drüben«, sagte eine Stimme und ein schlanker Schemen löste sich aus einem Korbsessel und erhob sich. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du überhaupt noch auftauchen würdest, Tageslichtler.«

»Raphael«, murmelte Simon resigniert. Dann ging er auf den jungen Vampir zu, quer über die Holzplanken, die sich zwischen den Blumenbeeten und künstlich angelegten Teichen mit den glitzernden Quarzsteinen hin und her wanden. »Ja, das hab ich mich auch gefragt«, bestätigte er. Inzwischen konnte er den anderen Vampir deutlich erkennen. Eigentlich besaß Simon ein hervorragendes Nachtsehvermögen und lediglich Raphaels Fähigkeit, mit der Umgebung zu verschmelzen, hatte dafür gesorgt, dass Simon ihn nicht schon früher entdeckt hatte.

Raphael trug einen schwarzen Anzug mit aufgekrempelten Ärmeln, unter denen Manschettenknöpfe in Form von Handschellen zum Vorschein kamen. Er besaß noch immer das Antlitz eines unschuldigen Engels, doch der Blick, mit dem er Simon musterte, war eiskalt. »Wenn das Oberhaupt des Manhattaner Vampirclans dein Erscheinen verlangt, dann hast du gefälligst zu kommen, Lewis.«

»Und was hättest du gemacht, wenn ich nicht aufgetaucht wäre? Mich mit einem Pfahl durchbohrt?« Simon breitete die Arme aus. »Nur zu! Tu, was immer du willst. Tob dich richtig aus.«

»Dios, bist du langweilig«, erwiderte Raphael. Hinter ihm konnte Simon das Glitzern von Chrom erkennen – Raphaels Vampirmotorrad, das an der Mauer lehnte.

Simon senkte die Arme. »Du bist schließlich derjenige, der mich sprechen wollte.«

»Ich hab einen Job für dich«, sagte Raphael.

»Echt? Seid ihr in eurem Hotel personell unterbesetzt?«

»Ich brauche einen Leibwächter.«

Simon musterte Raphael. »Hast du in letzter Zeit zu oft Bodyguard gesehen? Denn ich werd mich auf keinen Fall in dich verlieben und dich in meinen kräftigen Armen herumtragen.«

Raphael warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Ich würde dir einen zusätzlichen Bonus zahlen, wenn du während der Arbeit den Mund hältst.«

Verwundert starrte Simon den Vampirjungen an: »Du meinst das wirklich ernst?«

»Ich würde mir wohl kaum die Mühe machen herzukommen, wenn ich es nicht ernst meinen würde. Wenn mir nach Scherzen zumute wäre, würde ich meine Zeit mit jemandem verbringen, den ich mag.« Raphael ließ sich wieder in den Korbsessel sinken. »Camille Belcourt läuft frei in New York herum. Die Schattenjäger sind voll und ganz damit beschäftigt, sich um diese dämliche Angelegenheit mit Valentins Sohn zu kümmern und haben keine Lust, Camille aufzuspüren. Aber sie stellt für mich eine akute Bedrohung dar, weil sie die Kontrolle über den Clan wieder an sich reißen will. Obwohl die meisten Clanmitglieder mir treu ergeben sind, könnte sie sich durch meinen Tod sofort wieder an die Spitze der Hierarchie katapultieren.«

»Verstehe«, sagte Simon gedehnt. »Aber warum fragst du ausgerechnet mich?«

»Du bist ein Tageslichtler. Andere können mich in der Nacht beschützen, aber du bist derjenige, der mir auch am Tag den Rücken freihalten kann, wenn die meisten unserer Art hilflos sind. Außerdem trägst du das Kainsmal. Wenn du dich zwischen Camille und mich stellst, wird sie es nicht wagen, mich anzugreifen.«

»Das mag zwar alles richtig sein, aber ich werd den Job trotzdem nicht übernehmen.«

Raphael starrte Simon ungläubig an. »Und warum nicht?«

In dem Moment platzte Simon der Kragen: »Machst du Witze? Weil du in der ganzen Zeit seit meiner Verwandlung zum Vampir nicht ein einziges Mal irgendwas für mich getan hast. Stattdessen hast du dich nach Kräften bemüht, mir das Leben so schwer wie möglich zu machen und mich dann zu töten. Also, nur für dich in Vampirsprache und zum Mitschreiben: Es ist mir ein Vergnügen, Euer Gnaden, es Euch hier und jetzt ein für alle Mal mitzuteilen: nur über meine Leiche!«

»Es ist nicht klug, sich jemanden wie mich zum Feind zu machen, Tageslichtler. Als Freunde…«

Simon lachte ungläubig: »Warte mal: Waren wir Freunde? Das ist dein Verständnis von Freundschaft?«

Blitzartig schossen Raphaels Fangzähne hervor. Er musste in der Tat sehr sauer sein, stellte Simon fest. »Ich weiß, warum du mich abweist, Tageslichtler: Nicht aufgrund irgendeines angeblichen Gefühls von Ablehnung, sondern weil du dich so intensiv mit den Schattenjägern beschäftigst, dass du glaubst, einer von ihnen zu sein. Wir haben dich gesehen, zusammen mit den Nephilim. Statt deine Nächte auf der Jagd zu verbringen, wie es eigentlich sein sollte, vertrödelst du sie mit Valentins Tochter. Und obendrein wohnst du mit einem Werwolf zusammen. Du bist eine Schande.«

»Stellst du dich eigentlich bei jedem Vorstellungsgespräch so ungeschickt an?«

Raphael fletschte die Zähne. »Du musst dich entscheiden, Tageslichtler, ob du ein Vampir bist oder ein Schattenjäger.«

»In dem Fall stimme ich für Schattenjäger. Denn nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Vampiren sind die meisten von euch nichts als miese, kleine Blutsauger – entschuldige bitte das schlechte Wortspiel.«

»Du begehst einen schweren Fehler«, knurrte Raphael und erhob sich.

»Ich hab dir doch schon gesagt…«

Doch der Vampirjunge unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Eine Große Finsternis wird kommen. Und sie wird die Menschheit mit Feuer und Schatten von der Erde vertilgen, und wenn sie sich gelegt hat, wird von deinen heißgeliebten Schattenjägern keiner mehr übrig sein. Wir, die Kinder der Nacht, werden die Finsternis überstehen, denn wir leben in der Dunkelheit. Aber wenn du weiterhin verleugnest, wer du bist, wirst auch du vernichtet werden und niemand wird einen Finger rühren, um dir zu helfen.«

Ohne darüber nachzudenken, griff Simon sich an die Stirn und berührte das Kainsmal.

Doch Raphael lachte freudlos. »Ah ja, das Engelszeichen auf deiner Haut. Doch im Zeitalter der Finsternis werden sogar die Engel vernichtet werden. Ihre Macht wird dir nicht helfen. Also fang besser schon einmal an zu beten, Tageslichtler, dass du dieses Zeichen nicht verlierst, ehe der Krieg beginnt. Denn solltest du es verlieren, werden deine Feinde Schlange stehen, um dich zu töten. Und ich werde in vorderster Front dabei sein.«

Clary hatte eine ganze Weile auf Magnus’ Bettsofa gelegen, die Hände im Nacken verschränkt. Sie hatte gehört, wie ihre Mutter den Flur zu einem der angrenzenden Gästezimmer durchquert und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Durch die Zimmertür konnte Clary Magnus und Alec hören, die sich mit gesenkten Stimmen im Wohnzimmer unterhielten. Natürlich konnte sie warten, bis die beiden schlafen gegangen waren, aber Alec hatte erzählt, dass Magnus die letzten Nächte immer lange aufgeblieben war, um Liliths Runen zu entziffern. Und obwohl Bruder Zachariah deren Bedeutung offenbar entschlüsselt hatte, konnte sie nicht darauf vertrauen, dass Alec und Magnus sich bald zurückziehen würden.

Entschlossen setzte Clary sich auf, woraufhin Miau Tse-tung schläfrig protestierte. Nachdem sie eine Weile in ihrem Rucksack gewühlt hatte, holte sie eine transparente Plastikbox hervor und klappte sie auf. Darin lagen ihre Zeichenstifte, ein paar Kreidestummel – und ihre Stele.

Clary stand auf, schob die Stele in ihre Jackentasche, nahm ihr Mobiltelefon vom Tisch und tippte eine SMS: KOMM ZU TAKI’S. WARTE DORT AUF DICH. Dann sah sie zu, wie die Nachricht gesendet wurde, ließ das Handy in ihre Jeans gleiten und holte tief Luft.

Sie wusste, dass dies Magnus gegenüber nicht fair war. Schließlich hatte er ihrer Mutter versprochen, auf sie aufzupassen – und dazu zählte nicht, dass sie sich heimlich aus seiner Wohnung stahl. Aber sie selbst hatte bewusst den Mund gehalten, hatte nichts versprochen. Und außerdem ging es hier um Jace.

Du würdest alles tun, um ihm zu helfen. Ganz gleich, was es dich kosten würde, ganz gleich, was du dem Himmel oder der Hölle dafür schulden würdest, habe ich recht?

Clary holte ihre Stele hervor, setzte die Spitze auf die orange gestrichene Wand und begann, ein Portal zu zeichnen.

Ein lautes, wummerndes Hämmern riss Jordan aus dem Schlaf. Instinktiv fuhr er hoch, rollte sich zur Seite und landete in der Hocke auf dem Boden neben dem Bett. Das jahrelange Training bei den Praetor hatte ihm schnelle Reflexe beschert und einen besonders leichten Schlaf. Ein rascher Blick in den Raum verriet ihm, dass er leer war – lediglich der Mond warf einen Lichtkegel auf den Fußboden.

Das Wummern ertönte erneut und dieses Mal erkannte Jordan, worum es sich dabei handelte: Jemand hämmerte gegen die Wohnungstür. Da er wie immer nur mit Boxershorts bekleidet geschlafen hatte, sprang er hastig in seine Jeans, streifte ein T-Shirt über, riss die Tür seines Zimmers auf und marschierte in den Flur. Falls da draußen eine Horde betrunkener Studenten herumlief und sich einen Spaß daraus machte, an jeder einzelnen Wohnung im Haus zu hämmern, konnten sie sich auf einen stinkwütenden Werwolf gefasst machen.

Jordan streckte die Hand nach der Tür aus – und hielt inne. Vor seinem inneren Auge tauchte wieder dieses Bild auf, genau wie in den langen Stunden, bevor er endlich eingeschlafen war: Maia, die auf dem Gelände der alten Marinewerft vor ihm weggelaufen war; der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie sich von ihm gelöst hatte. Er hatte sie zu sehr bedrängt, das wusste er, hatte zu viel verlangt, zu früh. Hatte wahrscheinlich alles vermasselt. Es sei denn… vielleicht hatte sie es sich ja anders überlegt. Als sie noch zusammen gewesen waren, hatte es eine Zeit gegeben, in der ihre Beziehung fast nur aus leidenschaftlichen Streitereien und gleichermaßen leidenschaftlichen Versöhnungen bestanden hatte.

Jordans Herz begann, wie wild zu klopfen, und er riss die Tür auf – und blinzelte verblüfft. Vor der Tür stand Isabelle Lightwood, deren lange, glänzend schwarze Haare ihr fast bis zur Taille reichten. Sie trug schwarze, kniehohe Wildlederstiefel, eng sitzende Jeans und ein rotes Seidentop, über dessen Ausschnitt der rote Anhänger, den sie nur selten ablegte, dunkel glitzerte.

»Isabelle?«, stammelte Jordan, unfähig, die Überraschung – oder vielmehr Enttäuschung – in seiner Stimme zu verbergen.

»Ja… und du kannst mir glauben, ich bin nicht deinetwegen hier«, erwiderte sie, schob sich an ihm vorbei und stolzierte in die Wohnung. Sie roch nach Schattenjägern – ein Duft wie von sonnengewärmtem Glas – und einem zarten Rosenparfüm. »Ich bin auf der Suche nach Simon«, fügte sie hinzu.

Jordan musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Es ist zwei Uhr morgens.«

Doch Isabelle zuckte nur die Achseln. »Er ist ein Vampir.«

»Aber ich nicht.«

»Ohhhhh? Hab ich dich geweckt?« Ein amüsiertes Lächeln umspielte Isabelles Mundwinkel, dann streckte sie den Arm aus, schnippte mit einer raschen Handbewegung gegen den obersten Knopf von Jordans Jeans und streifte dabei mit der Fingernagelspitze über seinen flachen Bauch.

Jordan spürte, wie seine Muskeln zuckten. Izzy war umwerfend, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Aber sie war auch ein wenig beängstigend und er fragte sich, wie der zurückhaltende Simon überhaupt mit ihr zurechtkam.

»Vielleicht solltest du die besser ganz zuknöpfen. Hübsche Boxershorts, nebenbei bemerkt«, fügte Isabelle hinzu und wandte sich in Richtung von Simons Zimmer.

Jordan folgte ihr, wobei er seine Jeans zuknöpfte und vor sich hin murmelte, dass an Unterwäsche mit tanzenden Pinguinen absolut nichts Verwunderliches sei.

Doch Isabelle ignorierte ihn und steckte den Kopf in Simons Zimmer. »Er ist nicht da«, stellte sie fest, schlug die Tür wieder zu, lehnte sich an die Wand und musterte Jordan. »Hattest du nicht gesagt, es ist zwei Uhr morgens?«

»Ja. Vermutlich ist er bei Clary. In letzter Zeit übernachtet er dort ziemlich oft.«

Isabelle biss sich auf die Lippe. »Richtig. Natürlich.«

Allmählich beschlich Jordan das Gefühl, dass er etwas Falsches gesagt hatte, ohne genau zu wissen, was. »Gibt es einen Grund, warum du hierhergekommen bist? Ich meine, ist was passiert? Irgendwas Schlimmes?«, fragte er vorsichtig.

»Irgendwas Schlimmes?« Genervt riss Isabelle die Arme in die Höhe. »Du meinst, mal abgesehen von der Tatsache, dass mein Bruder verschwunden ist und von diesem miesen Dämon, der meinen jüngeren Bruder umgebracht hat, einer Gehirnwäsche unterzogen wurde… und auch abgesehen von der Tatsache, dass meine Eltern sich scheiden lassen und Simon bei Clary hockt…« Sie verstummte abrupt und marschierte an Jordan vorbei in den Wohnraum.

Hastig ging er ihr nach. Als er das Wohnzimmer betrat, rumorte sie bereits in der angrenzenden Küche herum und durchstöberte die Schränke.

»Habt ihr nicht irgendwas zu trinken im Haus? Einen anständigen Barolo? Oder einen Sagrantino?«

Jordan nahm Isabelle an den Schultern und schob sie sanft aus der Küche. »Setz dich«, sagte er. »Ich hol dir einen Tequila.«

»Tequila?«

»Tequila ist das Einzige, was wir im Haus haben. Entweder das oder Hustensaft.«

Isabelle ließ sich auf einen der Barhocker an der Küchentheke sinken und machte eine auffordernde Handbewegung. Eigentlich hatte Jordan erwartet, dass sie lange rote oder pinkfarbene, perfekt manikürte Fingernägel besaß, passend zum restlichen Erscheinungsbild, doch da hatte er sich geirrt: Isabelle war eine Schattenjägerin. Ihre Hände waren mit Narben übersät, die Nägel kurz geschnitten. Die Voyance-Rune auf ihrer rechten Hand schimmerte schwarz. »Von mir aus«, murmelte sie.

Jordan holte eine Flasche Cuervo hervor, schraubte den Deckel ab, schenkte ein Glas ein und ließ es über die Theke zu Isabelle gleiten.

Sie griff danach, kippte den Inhalt in einem Zug hinunter, runzelte die Stirn und knallte das Glas auf die Theke. »Das reicht nicht«, sagte sie, beugte sich über die Theke und nahm Jordan die Flasche aus der Hand. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und nahm zwei, drei tiefe Schlucke. Als sie die Flasche wieder absetzte, waren ihre Wangen leicht gerötet.

»Wo lernt man denn so zu trinken?«, fragte Jordan. Er war sich nicht ganz sicher, ob er beeindruckt oder besorgt sein sollte.

»In Idris liegt das Mindestalter für Alkohol bei fünfzehn Jahren. Aber im Grunde kümmert sich niemand darum. Ich hab schon als kleines Kind bei Familienfeiern mit Wasser verdünnten Wein getrunken«, erklärte Isabelle und zuckte die Achseln, doch diese Geste wirkte etwas unkoordinierter als sonst.

»Okay. Also, falls du eine Nachricht für Simon hinterlassen willst oder ich ihm was ausrichten soll oder…«

»Nein.« Isabelle trank einen weiteren Schluck aus der Flasche. »Ich hab ordentlich vorgeglüht und bin extra hierhergekommen, um mit ihm zu reden, und natürlich steckt er bei Clary. War ja klar!«

»Ich hab gedacht, du wärst diejenige gewesen, die ihn überhaupt auf die Idee gebracht hat.«

»Ja.« Isabelle knibbelte am Etikett der Tequila-Flasche. »Stimmt.«

»Na, dann sag ihm doch einfach, er soll damit wieder aufhören«, schlug Jordan in einem Ton vor, der in seinen Ohren ganz vernünftig klang.

»Das kann ich nicht machen«, erwiderte Isabelle erschöpft. »Ich bin es ihr schuldig.«

Jordan stützte sich auf die Theke. Er kam sich vor wie ein Barkeeper aus einer dieser Fernsehserien, der seinen Gästen weise Ratschläge erteilt. »Was schuldest du ihr denn?«

»Mein Leben«, sagte Isabelle.

Verwundert starrte Jordan sie an. Das ging jetzt über seine Barkeeperfähigkeiten und Kummerkasten-Ratschläge weit hinaus. »Clary hat dir das Leben gerettet?«

»Sie hat Jace das Leben gerettet. Dabei hätte sie vom Erzengel Raziel alles verlangen können, aber sie hat meinen Bruder gerettet. Ich hab in meinem ganzen Leben bisher nur einer Handvoll Leuten vertraut. Wirklich vertraut. Meiner Mutter, Alec, Jace und Max. Und einen davon hab ich bereits verloren. Clary ist der einzige Grund, warum ich nicht noch einen verloren habe.«

»Meinst du, du wirst jemals jemandem wirklich vertrauen können, der nicht mit dir verwandt ist?«

»Mit Jace bin ich nicht verwandt. Jedenfalls nicht richtig«, bemerkte Isabelle, vermied aber jeden Blickkontakt mit Jordan.

»Du weißt, was ich meine«, erwiderte Jordan und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Simons Zimmertür.

Izzy runzelte die Stirn. »Schattenjäger leben nach einem Ehrenkodex, Werwolf«, sagte sie und klang dabei wie eine typische arrogante Nephilim – was Jordan wieder daran erinnerte, warum so viele Schattenweltler die Nephilim nicht ausstehen konnten. »Clary hat einen Lightwood gerettet. Ich schulde ihr dafür mein Leben. Wenn ich ihr das nicht geben kann – und ich wüsste nicht, welche Verwendung sie dafür hätte –, dann sollte ich ihr zumindest etwas geben, das dafür sorgt, dass sie weniger unglücklich ist.«

»Du kannst ihr nicht Simon geben. Simon ist eine eigenständige Person, Isabelle. Er geht, wohin er will.«

»Sieht so aus«, bestätigte Isabelle. »Aber es scheint ihm nichts auszumachen, dahin zu gehen, wo sie ist, oder?«

Jordan zögerte. Irgendetwas an Isabelles Worten wirkte nicht ganz stimmig – andererseits hatte sie nicht vollkommen unrecht: Simon ging mit Clary auf eine lockere, entspannte Weise um, die er bei niemandem sonst zeigte. Da er selbst bisher nur ein einziges Mal verliebt gewesen war und dieses Mädchen nach wie vor liebte, fühlte Jordan sich nicht qualifiziert, zu diesem Thema Ratschläge zu erteilen; allerdings erinnerte er sich daran, wie Simon ihn leicht sarkastisch gewarnt hatte, dass Clary »einen richtigen, festen Freund, den Inbegriff eines festen Freundes« besitze. Jordan konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sich hinter diesem Sarkasmus vielleicht Eifersucht verborgen hatte, aber er war sich auch nicht sicher, ob man seine erste große Liebe jemals vergessen konnte – insbesondere dann, wenn man dieses Mädchen tagtäglich vor der Nase hatte.

In dem Moment schnippte Isabelle ungeduldig mit den Fingern. »He, du! Hörst du mir überhaupt zu?« Sie neigte den Kopf leicht zu Seite, blies sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und warf Jordan einen scharfen Blick zu. »Was läuft da eigentlich zwischen dir und Maia?«

»Nichts.« Dieses einzelne Wort sprach Bände. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich irgendwann mal nicht mehr hassen wird.«

»Möglicherweise nie«, erwiderte Isabelle. »Schließlich hat sie gute Gründe dafür.«

»Vielen Dank!«

»Ich halte nichts von Beschönigungen«, erklärte Izzy und schob die Tequila-Flasche von sich fort. Dann heftete sie ihre dunklen, funkelnden Augen auf Jordan und meinte mit gesenkter, verführerischer Stimme: »Komm mal her, Werwolf.«

Jordan musste schlucken; seine Kehle war plötzlich ganz trocken. Er erinnerte sich daran, wie er Isabelle draußen vor dem Ironworks in ihrem langen roten Kleid gesehen und gedacht hatte: Das ist das Mädchen, mit dem Simon Maia hintergangen hat? Keine der beiden gehörte zu der Sorte von Mädchen, die den Eindruck erweckte, dass man sie ungestraft betrügen konnte.

Und keine der beiden gehörte zu der Sorte von Mädchen, denen man etwas abschlug. Vorsichtig ging Jordan um die Theke herum auf Isabelle zu. Er war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt, als sie plötzlich den Arm ausstreckte, ihn am Handgelenk packte und zu sich heranzog. Ihre Hände glitten über seine Unterarme, dann über seine ausgeprägten Oberarmmuskeln und seine kräftigen Schultern. Sein Puls schnellte sprunghaft in die Höhe und er konnte die Wärme wahrnehmen, die ihr Körper ausstrahlte, und ihren Geruch, eine Mischung aus ihrem Parfüm und süßlichem Tequila.

»Du bist echt umwerfend«, sagte Isabelle, während ihre Hände nach vorn wanderten und sich flach auf seine Brust legten. »Und das weißt du auch, stimmt’s?«

Jordan fragte sich, ob sie wohl durch das T-Shirt hindurch spüren konnte, wie schnell sein Herz schlug. Natürlich wusste er, welche Blicke viele Mädchen, und manchmal auch Jungs, ihm auf der Straße zuwarfen – schließlich sah er sich selbst jeden Tag im Spiegel, aber er hatte nie viel darum gegeben. Denn sein Interesse galt schon seit so langer Zeit ausschließlich Maia, dass es nie eine Rolle gespielt hatte; für ihn hatte immer nur gezählt, ob sie ihn noch attraktiv fand, falls sie sich jemals wiedersehen würden. Und er war auch schon oft angemacht worden, aber nur selten von Mädchen, die so schön waren wie Isabelle, und noch nie von jemandem, der so unverblümt war. Einen Moment lang fragte Jordan sich, ob sie ihn wohl küssen würde. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte er außer Maia niemanden mehr geküsst. Aber Isabelle schaute zu ihm hoch, mit großen dunklen Augen und leicht geöffneten Lippen… Lippen so rot wie Erdbeeren. Ob sie wohl auch nach Erdbeeren schmeckten, wenn er sie küsste?

»Aber es ist mir völlig egal«, sagte die junge Schattenjägerin.

»Isabelle, ich glaub nicht, dass… Warte mal, was hast du gerade gesagt?«

»Dabei sollte es mir nicht egal sein«, fuhr Isabelle fort. »Ich meine, natürlich ist da Maia, deshalb würde ich dir ohnehin nicht einfach so die Kleider vom Leib reißen. Aber das Entscheidende ist: Ich will es auch gar nicht. Obwohl ich normalerweise immer wollen würde.«

»Ah«, atmete Jordan auf. Er verspürte Erleichterung, aber auch einen winzigen Anflug von Enttäuschung. »Na, das ist doch gut, oder?«

»Ich muss ständig an ihn denken«, murrte Isabelle. »Das ist schrecklich. So was ist mir noch nie passiert.«

»Du meinst Simon?«

»Dieser kleine, schmächtige irdische Mistkerl«, stieß sie hervor und nahm die Hände von Jordans Brust. »Nur, dass er das gar nicht mehr ist… schmächtig, meine ich… und auch kein Irdischer mehr. Und ich bin gern mit ihm zusammen. Er bringt mich zum Lachen. Und ich mag die Art und Weise, wie er lächelt. Du weißt schon: Zuerst zuckt ein Mundwinkel hoch, dann der andere… Na ja, dir ist das sicher schon aufgefallen, schließlich lebst du mit ihm unter einem Dach.«

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Jordan.

»Und er fehlt mir… ich vermisse ihn, wenn er nicht da ist«, gestand Isabelle. »Ich dachte… ich weiß auch nicht genau, aber seit jener Nacht mit dieser Sache mit Lilith… danach hatte sich unser Verhältnis verändert. Doch jetzt hängt er ständig bei Clary herum. Und ich darf ihr deswegen nicht mal böse sein.«

»Du hast deinen Bruder verloren.«

Verwundert schaute Isabelle zu ihm hoch. »Was meinst du?«

»Na ja, Simon reißt sich ein Bein aus, um Clary aufzumuntern, weil sie Jace verloren hat«, erläuterte Jordan. »Aber Jace ist dein Bruder. Sollte Simon sich nicht auch ein Bein ausreißen, um dich aufzumuntern? Vielleicht bist du ja gar nicht sauer auf Clary, sondern auf Simon.«

Isabelle musterte Jordan schweigend. Schließlich sagte sie: »Aber wir sind doch gar nicht zusammen. Er ist nicht mein fester Freund. Ich mag ihn einfach nur.« Dann runzelte sie die Stirn. »So ein Mist. Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gesagt habe. Ich muss betrunkener sein, als ich dachte.«

»Das hab ich schon aus deinen vorherigen Bemerkungen geschlossen.« Jordan schenkte ihr ein Lächeln.

Isabelle erwiderte sein Lächeln zwar nicht, senkte aber die Lider und betrachtete ihn durch ihre dichten Wimpern. »Du bist gar nicht so übel«, bemerkte sie. »Wenn du willst, kann ich Maia ein paar Nettigkeiten über dich erzählen.«

»Nein, danke«, erwiderte Jordan, der sich nicht sicher war, was genau Izzy unter Nettigkeiten verstand, und es lieber nicht herausfinden wollte. »Aber es ist vollkommen normal, wenn man in schwierigen Zeiten mit dem Menschen zusammen sein möchte, den man…« Fast hätte er »liebt« gesagt, doch dann wurde ihm bewusst, dass Isabelle dieses Wort nicht benutzt hatte, und schwenkte rasch um: »… an dem einem was liegt. Allerdings glaub ich nicht, dass Simon weiß, was du für ihn empfindest.«

Isabelle riss die Augen auf und klimperte mit den Wimpern. »Spricht er denn manchmal von mir?«

»Er denkt, dass du wirklich stark bist«, erklärte Jordan. »Und dass du ihn überhaupt nicht brauchst. Ich glaube, er fühlt sich… irgendwie überflüssig in deinem Leben. Nach dem Motto: Was kann ich ihr schon geben, wenn sie bereits perfekt ist? Warum sollte sie einen Typen wie mich überhaupt wollen?« Jordan hielt inne. Eigentlich hatte er nicht so viel erzählen wollen, und außerdem war er sich nicht sicher, ob seine Worte nicht weniger auf Simon als vielmehr auf ihn und Maia gemünzt waren.

»Dann meinst du also, ich soll ihm sagen, was ich fühle?«, fragte Isabelle mit dünner Stimme.

»Ja. Definitiv. Sag ihm, was du für ihn empfindest.«

»Okay.« Isabelle schnappte sich die Tequila-Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. »Dann marschier ich jetzt sofort zu Clarys Haus und sag’s ihm.«

Ein leises Gefühl der Unruhe regte sich in Jordans Brust. »Das kannst du nicht machen. Es ist fast drei Uhr nachts…«

»Wenn ich bis morgen warte, verlier ich den Mut«, verkündete Isabelle in jenem vernünftigen Ton, den nur sehr Betrunkene anschlugen, und trank einen weiteren Schluck aus der Flasche. »Ich werd einfach da rübermarschieren und dann werd ich ans Fenster klopfen und ihm sagen, was ich für ihn empfinde.«

»Weißt du denn überhaupt, welches Fenster Clarys ist?«

Isabelle kniff die Augen leicht zusammen. »Hm, nein.«

Plötzlich zeichnete sich vor Jordans innerem Auge die schreckliche Vorstellung ab, wie eine betrunkene Isabelle Jocelyn und Luke aus dem Schlaf riss. »Dann lass es lieber, Isabelle.« Er beugte sich vor, um ihr den Tequila abzunehmen.

Doch Isabelle wandte sich mit der Flasche ruckartig von ihm ab. »Ich glaub, ich ändere gerade meine Meinung über dich«, stieß sie in leicht drohendem Ton hervor, der noch viel Furcht einflößender gewesen wäre, wenn sie Jordan dabei hätte ansehen können, ohne zu schielen. »Ich glaub, ich mag dich eigentlich gar nicht mehr.« Dann stand sie auf, starrte mit einem überraschten Ausdruck in den Augen auf ihre Füße – und kippte nach hinten.

Nur dank seiner blitzschnellen Reflexe gelang es Jordan, sie aufzufangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug.

7 Durch der Nymphen Macht

Clary trank bereits ihre dritte Tasse Kaffee, als Simon endlich die Tür zu Taki’s aufdrückte und das Restaurant betrat. Er trug eine Jeans, eine rote Sweatshirtjacke – warum sollte er sich mit Wollmänteln herumschlagen, wenn er die Kälte doch nicht mehr spürte? – und schwere Lederstiefel. Als er sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte, drehten sich viele Köpfe nach ihm um. Simon hatte sich zu einem echten Hingucker entwickelt, seit Isabelle sich um seinen Kleidungsstil kümmerte, überlegte Clary, während er auf sie zukam.

Schneeflocken hingen in seinen braunen Haaren, aber während Alecs Wangen von der Kälte gerötet waren, wirkte Simons Gesicht unverändert bleich. Er rutschte auf die Sitzbank auf der gegenüberliegenden Tischseite und musterte Clary ruhig aus seinen funkelnden dunklen Augen. »Ihr habt mich gerufen?«, fragte er und ließ seine Stimme so tief wie Graf Dracula klingen.

»Genau genommen hab ich eine SMS geschickt«, erwiderte Clary, schob ihm die Speisekarte zu, aufgeklappt auf der Seite mit Vampirgerichten. Sie hatte schon zuvor einen Blick darauf geworfen, aber der Gedanke an Blutwurst und Blutshakes ließ sie schaudern. »Hoffentlich hab ich dich nicht geweckt«, fügte sie hinzu.

»Nein, nein«, winkte Simon ab. »Du glaubst nicht, wo ich gerade herkomme…« Er verstummte, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Hey.« Unvermittelt waren seine Finger unter ihrem Kinn und hoben Clarys Kopf an. Das Lächeln war aus seinen Augen verschwunden; stattdessen lag nun tiefe Sorge darin. »Was ist passiert? Irgendwelche Nachrichten von Jace?«

»Wisst ihr schon, was ihr wollt?«, fragte in dem Moment eine Stimme: Kaelie, die blauäugige Feenkellnerin, die Clary die Glocke der Königin überbracht hatte. Sie musterte die junge Schattenjägerin lange und grinste dann – ein überhebliches Grinsen, bei dem Clary innerlich die Zähne zusammenbeißen musste.

Clary bestellte ein Stück Apfelkuchen und Simon orderte einen heißen Kakao mit einem Schuss Blut. Nachdem Kaelie die Speisekarten an sich genommen hatte und abgedampft war, wandte Simon sich sofort wieder seiner Freundin zu, woraufhin Clary tief Luft holte und ihm alles über die Ereignisse der Nacht berichtete: Jace’ Auftauchen in ihrem Zimmer, seine Worte, die Auseinandersetzung im Wohnzimmer und Lukes Verwundung. Außerdem erzählte sie ihm, was Magnus über Dimensionsfalten und andere Welten gesagt hatte… und dass es keine Möglichkeit gab, jemanden zu orten, der sich in einer dieser Dimensionsfalten versteckt hielt. Und auch keinen Weg, demjenigen eine Nachricht zu übermitteln.

Während Clary kein Detail ausließ – nur kurz unterbrochen von Kaelie, die die Bestellung brachte –, wurden Simons Augen immer dunkler. Als sie geendet hatte, ließ er den Kopf in die Hände sinken.

»Simon?« Clary berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Essen und Getränke standen unangetastet auf dem Tisch. »Was hast du? Machst du dir Sorgen wegen Luke…?«

»Das ist alles meine Schuld.« Simon hob den Kopf und schaute Clary an; seine Augen waren allerdings trocken. Vampirtränen sind mit Blut vermischt, dachte Clary – das hatte sie irgendwo mal gelesen. »Wenn ich Sebastian nicht gebissen hätte…«

»Das hast du doch für mich getan. Und mich damit vor dem sicheren Tod bewahrt«, sagte Clary sanft. »Du hast mir das Leben gerettet.«

»Und du hast meines sechs oder sieben Mal gerettet. Da erschien es nur fair…« Simons Stimme brach und Clary erinnerte sich daran, wie er auf der Dachterrasse auf den Knien gekauert und Sebastians schwarzes Blut erbrochen hatte.

»Es bringt nichts, sich mit Selbstvorwürfen zu zerfleischen«, warf Clary ein. »Ich hab dich auch nicht nur hierher bestellt, um dir zu erzählen, was passiert ist. Ich meine, das hätte ich letztendlich natürlich gemacht, aber nicht vor morgen früh. Ich hätte damit gewartet, wenn nicht…«

Müde warf Simon ihr einen argwöhnischen Blick zu und nippte an seinem Becher. »Wenn nicht was?«

»Ich habe einen Plan.«

Simon stöhnte. »So was hatte ich schon befürchtet.«

»So schrecklich sind meine Pläne nun auch nicht.«

»Nein, Isabelles Pläne sind schrecklich. Deine dagegen…«, Simon zeigte mit dem Finger auf Clary, »… deine Pläne sind glatter Selbstmord. Bestenfalls.«

Clary lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Willst du meinen Plan nun hören oder nicht? Du musst ihn auf jeden Fall geheim halten.«

»Ich würde mir eher die Augen ausstechen, als eines deiner Geheimnisse preiszugeben«, sagte Simon und schaute gleich darauf besorgt. »Warte mal – hältst du es für wahrscheinlich, dass das tatsächlich erforderlich sein könnte?«

»Keine Ahnung«, murmelte Clary und stützte das Gesicht in die Hände.

»Schieß los.« Simon klang resigniert.

Clary seufzte und griff in ihre Tasche. Dann holte sie einen kleinen Samtbeutel hervor und stülpte ihn über dem Tisch um. Zwei goldene Ringe fielen heraus und landeten mit einem leisen Klirren auf der Tischplatte.

Verwirrt starrte Simon auf die Ringe. »Willst du heiraten?«

»Natürlich nicht, du Blödmann.« Clary beugte sich vor und senkte die Stimme: »Simon, das hier sind die Ringe. Die Ringe, die die Elbenkönigin in ihren Besitz bringen will.«

»Ich dachte… Hattest du nicht gesagt, du hättest die Ringe nicht…« Simon verstummte und schaute Clary an.

»Da hab ich gelogen. Ich hab die Ringe aus der Vitrine genommen. Aber nachdem ich Jace in der Bibliothek beobachtet hatte, wollte ich sie der Königin nicht mehr übergeben. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir die Ringe noch mal brauchen könnten. Außerdem war mir klar geworden, dass die Königin uns garantiert keine nützlichen Informationen liefern würde. Daher erschienen mir die Ringe wichtiger als ein weiteres Schwätzchen mit der Elbenkönigin.«

Hektisch schnappte Simon sich die Ringe, um sie vor Kaelie zu verbergen, die gerade an ihrem Tisch vorbeiging. »Clary, du kannst nicht einfach irgendwelche Dinge an dich nehmen, die die Königin haben will, und sie dann für dich behalten! Es ist echt gefährlich, sie sich zur Feindin zu machen«, warnte er leise.

Clary warf ihm einen flehentlichen Blick zu. »Können wir wenigstens ausprobieren, ob sie überhaupt funktionieren?«

Simon seufzte und reichte ihr einen der Ringe, der sich sehr leicht anfühlte und so glatt und geschmeidig wie reines Gold. Einen Moment lang fürchtete Clary, dass der Ring zu groß sein könnte, doch als sie ihn über ihren rechten Zeigefinger schob, schien er sich wie von selbst an ihren Finger anzupassen, bis er perfekt saß. Ein kurzer Blick zu Simon, der auf seine eigene rechte Hand starrte, verriet Clary, dass er dasselbe fühlte.

»Okay, dann mal los«, forderte Simon Clary auf. »Sag was. Du weißt schon, mithilfe deiner Gedanken.«

Clary wandte sich ihm zu und kam sich ziemlich absurd vor, so als sollte sie in einem Bühnenstück auftreten, dessen Text sie nicht gelernt hatte. Simon?

Simon blinzelte. »Ich glaub… Kannst du das noch mal wiederholen?«

Dieses Mal gab Clary sich Mühe und versuchte, sich ganz auf Simon zu konzentrieren – auf seine typisch simonhafte Art, auf seine Gedankenwelt, auf das Gefühl, das der Klang seiner Stimme auslöste, auf seine Nähe, sein Flüstern, seine Geheimnisse und auf die Art und Weise, wie er sie zum Lachen brachte. Also, dachte Clary im Plauderton, jetzt, da ich in deinen Verstand eingedrungen bin: Möchtest du vielleicht ein paar mentale Nacktbilder von Jace sehen?

Simon zuckte zusammen. »Das hab ich gehört! Und nein, danke.«

Begeisterung durchflutete Clary: Die Ringe funktionierten tatsächlich. »Denk mal was zurück«, forderte sie.

Seine Reaktion erfolgte in weniger als einer Sekunde. Clary konnte Simon so deutlich hören wie Bruder Zachariah – eine tonlose Stimme in ihren Gedanken. Du hast Jace nackt gesehen?

Na ja, nicht vollständig nackt, aber

»Das genügt«, stieß Simon hervor, und obwohl seine Stimme zwischen Belustigung und Sorge schwankte, funkelten seine Augen. »Sie funktionieren. Heilige Scheiße, die Ringe funktionieren tatsächlich.«

Clary beugte sich vor. »Dann kann ich dir also meinen Plan verraten?«

Vorsichtig berührte Simon den Ring an seinem Finger, spürte das feine Filigranmuster mit den zarten Blattadern. Klar.

Sofort begann Clary zu erzählen – aber sie hatte noch längst nicht das Ende ihrer Erläuterungen erreicht, als Simon in lauten Protest ausbrach: »Nein. Auf keinen Fall!«

»Simon«, sagte Clary betont ruhig, »das ist ein perfekter Plan.«

»Meinst du den Plan, bei dem du Jace und Sebastian in irgendeine unbekannte Dimensionsfalte folgst und wir beide diese Ringe zur Kommunikation benutzen, damit diejenigen von uns, die in dieser Dimension zurückbleiben, euch dort orten können? Meinst du diesen Plan?«

»Genau.«

»Nein«, widersprach Simon. »Nein, dieser Plan ist nicht perfekt.«

Clary lehnte sich zurück. »Du kannst nicht einfach ›Nein‹ sagen.«

»Dieser Plan betrifft auch mich! Und ob ich Nein sagen kann! Nein.«

»Simon…«

Doch Simon klopfte auf die Bank neben sich, als würde dort jemand sitzen. »Darf ich dir meinen guten, alten Freund Nein vorstellen?«

»Vielleicht können wir ja einen Kompromiss schließen«, schlug Clary vor und aß ein Stück von ihrem Apfelkuchen.

»Nein.«

»SIMON.«

»›Nein‹ ist ein Zauberwort«, meinte Simon. »Das funktioniert folgendermaßen: Du sagst, ›Simon, ich habe einen irrsinnigen, selbstmörderischen Plan. Würdest du mir dabei helfen?‹ Und ich sage dann, ›Oh nein, kommt nicht infrage.‹«

»Ich mach’s trotzdem«, verkündete Clary.

Wortlos starrte Simon sie über den Tisch hinweg an. »Was?«

»Ich werde diesen Plan durchziehen, ob du mir nun hilfst oder nicht«, erwiderte Clary. »Selbst wenn ich die Ringe nicht nutzen kann, werde ich Jace folgen, in welche Dimensionsfalte auch immer, und dann versuchen, euch von dort aus zu benachrichtigen… ich kann mich ja heimlich fortschleichen und die nächste Telefonzelle suchen oder so. Falls das möglich ist. Ich werde diesen Plan durchführen, Simon. Allerdings hab ich eine wesentlich bessere Überlebenschance, wenn du mir hilfst. Und für dich ist damit nicht die geringste Gefahr verbunden.«

»Es interessiert mich nicht, ob das für mich gefährlich werden könnte«, zischte Simon und beugte sich über den Tisch. »Mich interessiert, was mit dir passiert! Verdammt, Clary, ich bin praktisch unzerstörbar. Lass mich gehen und du bleibst hier.«

»Ja, klar. Jace würde das auch kein bisschen merkwürdig finden«, schnaubte Clary. »Du kannst ihm ja sagen, du seist schon immer heimlich in ihn verliebt gewesen und könntest es nicht ertragen, noch länger von ihm getrennt zu sein.«

»Ich könnte ihm sagen, dass ich über die ganze Geschichte nachgedacht habe und seiner und Sebastians Weltanschauung voll und ganz zustimme und deshalb beschlossen habe, mich ihnen anzuschließen.«

»Du weißt doch noch nicht mal, welche Weltanschauung sie vertreten.«

»Da ist was dran. Wahrscheinlich hätte ich mehr Glück, wenn ich ihm erzähle, ich sei in ihn verliebt. Jace glaubt schließlich ohnehin, dass alle in ihn verliebt sind.«

»Was in meinem Fall auch einfach stimmt«, sagte Clary.

Schweigend musterte Simon sie über den Tisch hinweg und meinte dann nach einer langen Pause: »Dir ist es wirklich ernst damit. Du willst das durchziehen. Auch ohne mich – ohne jedes Sicherheitsnetz.«

»Es gibt nichts, was ich für Jace nicht tun würde.«

Simon lehnte den Kopf gegen die hohe Rückenlehne der Sitzbank. Das Kainsmal schimmerte silbern auf seiner Stirn. »Sag so was nicht«, erwiderte er.

»Würdest du für diejenigen, die du liebst, nicht auch alles tun?«

»Für dich würde ich fast alles tun«, sagte Simon leise. »Ich würde für dich sterben. Das weißt du genau. Aber würde ich jemand anderen… einen unschuldigen Menschen töten? Oder sogar mit dem Leben unzähliger Unschuldiger spielen? Mit der ganzen Welt? Ist das wirklich Liebe, wenn man jemandem sagt: Vor die Wahl gestellt zwischen dir und jedem anderen Leben auf dem Planeten, würde ich mich für dich entscheiden? Ist das… ich weiß auch nicht… ist das überhaupt noch eine moralisch vertretbare Art von Liebe?«

»Liebe ist weder moralisch noch unmoralisch – Liebe ist einfach Liebe«, erwiderte Clary.

»Ich weiß«, räumte Simon ein. »Aber die Taten, die wir im Namen der Liebe begehen… die sind moralisch oder unmoralisch. Und normalerweise würde das auch keine Rolle spielen, denn normalerweise würde Jace – ganz gleich wie sehr er mir auf die Nerven geht – von dir nichts verlangen, das gegen deine Natur ginge. Weder für ihn noch für irgendjemand anderen. Aber im Moment ist er nicht er selbst, oder? Und ich bin mir einfach nicht sicher, Clary. Ich bin mir nicht sicher, was er noch alles von dir verlangen wird.«

Clary stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch auf; plötzlich fühlte sie sich sehr müde. »Möglicherweise ist er im Moment nicht er selbst. Aber er ist derjenige, der dem richtigen Jace am nächsten kommt. Und ohne ihn führt kein Weg zum richtigen Jace zurück.« Clary hob den Kopf und schaute Simon eindringlich an. »Oder willst du mir vielleicht sagen, dass es ohnehin hoffnungslos ist?«

Simon schwieg lange und Clary konnte sehen, dass seine angeborene Ehrlichkeit mit dem Bedürfnis rang, seine beste Freundin zu beschützen. Endlich meinte er: »So was würde ich nie sagen. Schließlich bin ich noch immer jüdischen Glaubens, auch wenn ich ein Vampir bin. Tief in meinem Herzen glaube ich, auch wenn ich die Worte nicht mehr aussprechen kann. G…« Er stockte und musste schlucken. »Er hat einen Bund mit uns geschlossen – genau wie die Nephilim glauben, dass Raziel einen Bund mit ihnen geschlossen hat. Und wir glauben an sein Versprechen. Und deswegen darf man niemals die Hoffnung, die Hatikva, aufgeben, denn wenn du die Hoffnung am Leben erhältst, wird sie dich am Leben erhalten.« Simon wirkte ein wenig beschämt. »Das hat jedenfalls mein Rabbi immer gesagt.«

Behutsam griff Clary über den Tisch und legte ihre Hand auf Simons. Er sprach nur selten mit ihr oder anderen über seine Religion, aber sie wusste, dass er seinen Glauben nicht verloren hatte. »Heißt das, du machst mit?«, fragte sie.

Simon stöhnte. »Ich denke, das heißt, du hast meinen Geist gebrochen und mich willenlos gemacht.«

»Fantastisch.«

»Dir ist schon klar, dass du mich damit in die Position desjenigen drängst, der allen anderen die frohe Kunde überbringen darf – deiner Mutter, Luke, Alec, Izzy, Magnus…«

»Ich hätte wohl nicht behaupten sollen, dass für dich keine Gefahr damit verbunden ist«, räumte Clary kleinlaut ein.

»Stimmt«, bestätigte Simon. »Wenn deine Mutter irgendwann an meinem Fußknöchel nagt wie eine wütende Bärenmutter, die von ihrem Jungen getrennt wurde, dann denk dran, dass ich das alles nur für dich getan habe.«

Jordan war kaum wieder eingeschlafen, als es erneut an der Haustür hämmerte. Er rollte sich auf die Seite und stöhnte. Der Wecker an seinem Bett zeigte 04.00 Uhr in blinkenden gelben Ziffern.

Weiteres Hämmern. Widerwillig schwang Jordan sich auf die Beine, streifte die Jeans über und taumelte in den Flur. Verschlafen riss er die Wohnungstür auf. »Was ist denn jetzt schon wieder…«, stieß er hervor, doch die Worte erstarben ihm auf den Lippen.

Maia stand vor ihm im Treppenhaus. Sie trug Jeans und eine karamellbraune Lederjacke und hatte die Haare mit bronzefarbenen Stäbchen hochgesteckt. Eine einzelne Locke hatte sich aus dem Knoten befreit und baumelte gegen ihre Schläfe.

Jordan juckte es in den Fingern, die Locke wieder hinter Maias Ohr zu schieben. Doch stattdessen versteckte er die Hände in den Hosentaschen.

»Nettes Hemd«, bemerkte Maia trocken, warf einen vielsagenden Blick auf Jordans nackte Brust und rückte den Rucksack auf ihrer Schulter zurecht.

Jordans Herz machte einen Satz. Hatte sie vor, die Stadt zu verlassen? Wollte sie aus New York weggehen, um von ihm fortzukommen?

»Hör zu, Jordan…«, setzte Maia an.

»Was’n los? Wer is’n da?« Die Stimme, die im nächsten Moment hinter Jordan ertönte, klang rau und so zerknittert wie das Bett, dem sie vermutlich gerade entstiegen war.

Jordan sah, wie Maia der Mund offen stehen blieb. Als er ihrem Blick über seine Schulter folgte, stand dort Isabelle, nur mit einem von Simons T-Shirts bekleidet, und rieb sich die Augen.

Maia klappte vernehmlich den Mund zu. »Ich bin’s«, erwiderte sie nicht besonders freundlich. »Bist du… besuchst du Simon?«

»Was? Nein, Simon ist gar nicht da.«

Halt die Klappe, Isabelle, dachte Jordan panisch.

»Er ist…« Die junge Schattenjägerin machte eine vage Handbewegung. »Ausgegangen.«

Maias Wangen nahmen eine dunkelrote Tönung an. »Hier stinkt’s ja wie in einer Bar.«

»Das ist Jordans billiger Tequila«, erläuterte Isabelle abschätzig. »Das kommt davon…«

»Und ist das auch sein T-Shirt?«, fragte Maia.

Isabelle schaute an sich herab und dann wieder zu Maia. Erst jetzt schien ihr zu dämmern, was das andere Mädchen dachte, und sie sprudelte hektisch hervor: »Oh. Nein. Maia…«

»Also zuerst hat Simon mich mit dir betrogen und nun du und Jordan…«

»Simon hat auch mich mit dir betrogen«, entgegnete Isabelle. »Aber zwischen mir und Jordan… da läuft nichts. Ich bin hergekommen, um mit Simon zu reden, aber er war nicht da. Deshalb hab ich beschlossen, mich in seinem Zimmer aufs Ohr zu hauen. Und genau das werde ich jetzt auch wieder tun.«

»Nein, warte«, sagte Maia scharf. »Vergiss Simon und Jordan. Ich hab Neuigkeiten und das geht auch dich an.«

Isabelle hatte bereits die Hand an Simons Zimmertür, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Ihr verschlafenes Gesicht erbleichte. »Jace«, sagte sie leise. »Bist du deshalb da?«

Maia nickte.

Isabelle sank gegen die Tür. »Ist er…?« Ihre Stimme brach. Dann setzte sie erneut an. »Hat man ihn gefunden…?«

»Er ist von sich aus zurückgekommen. Wegen Clary«, sagte Maia und schwieg einen Moment. »Und er hatte Sebastian dabei. Es kam zum Streit, bei dem Luke verletzt wurde. Er schwebt in Lebensgefahr.«

Ein leises, trockenes Röcheln drang aus Isabelles Kehle. »Jace? Jace hat Luke verletzt?«

Doch Maia wich ihrem Blick aus. »Ich hab keine Ahnung, was genau passiert ist. Ich weiß nur, dass Jace und Sebastian Clary holen wollten, dass es zu einem Kampf gekommen ist und dass Luke schwer verletzt wurde.«

»Clary…?«

»Der geht’s gut. Sie ist bei Magnus, zusammen mit ihrer Mutter.« Maia wandte sich an Jordan: »Magnus hat mich gebeten, dich aufzusuchen. Er konnte dich wohl trotz mehrfacher Versuche telefonisch nicht erreichen. Magnus möchte, dass du ihm einen Kontakt zu den Praetor Lupus herstellst.«

»Einen Kontakt zu den Praetor…« Jordan schüttelte den Kopf. »Man kann die nicht einfach anrufen: 0800-WERWOLF–Service-Hotline. So funktioniert das nicht.«

Maia verschränkte die Arme. »Und wie erreichst du sie dann?«

»Ich habe einen Mentor. Er setzt sich mit mir in Verbindung, wenn er es für nötig hält. In Notfällen kann ich ihn auch anrufen…«

»Das hier ist ein Notfall.« Maia schob die Daumen durch die Gürtelschlaufen ihrer Jeans. »Luke könnte sterben und Magnus meinte, die Praetor hätten vielleicht Informationen, die ihn retten könnten.« Mit großen dunklen Augen schaute sie Jordan an.

Eigentlich sollte ich es ihr sagen, überlegte Jordan. Dass die Praetor sich nicht gern in die Angelegenheiten des Rats hineinziehen ließen; dass sie es vorzogen, für sich zu bleiben und sich um ihre eigentliche Aufgabe zu kümmern – die Unterstützung neuer Schattenweltler. Und dass er nicht garantieren konnte, dass sie einwilligen würden, Luke zu helfen. Sehr wahrscheinlich würden sie dieses Ansinnen schlicht ablehnen.

Doch Maia hatte ihn um Hilfe gebeten. Dies war ein Gefallen, den er ihr erweisen konnte und der vielleicht einen Schritt auf dem langen Weg der Wiedergutmachung bedeuten konnte – Wiedergutmachung für das, was er ihr angetan hatte.

»Okay«, willigte er ein. »Dann sollten wir am besten zum Hauptquartier der Praetor fahren und dort persönlich vorstellig werden. Die Zentrale befindet sich in North Fork, dem nördlichen Ausläufer von Long Island. Ziemlich weit draußen. Wir können meinen Transporter nehmen.«

»Prima.« Maia schob ihren Rucksack höher. »Ich hab mir schon gedacht, dass wir vielleicht woandershin müssen; deshalb hab ich gleich meine Klamotten mitgebracht.«

»Maia«, setzte Isabelle stockend an. Sie hatte so lange nichts gesagt, dass Jordan ihre Anwesenheit fast vergessen hatte. Er drehte sich zu ihr um und sah, dass sie an der Wand neben Simons Tür lehnte, die Arme um sich geschlungen, als wäre ihr furchtbar kalt. »Ist mit ihm alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Mit Luke?« Maia zuckte zusammen. »Nein, er…«

»Jace.« Isabelles Stimme war kaum noch ein Flüstern. »Ist mit Jace alles okay? Hat man ihn verletzt oder verhaftet oder…«

»Ihm geht’s gut«, erwiderte Maia tonlos. »Er ist wieder verschwunden. Zusammen mit Sebastian.«

»Und was ist mit Simon?« Isabelles Blick huschte zu Jordan. »Du hast gesagt, er wäre bei Clary…«

Maia schüttelte den Kopf. »Nein, da war er nicht.« Ihre Hand umklammerte den Rucksackgurt über ihrer Schulter. »Aber eines wissen wir jetzt – und das wird dir bestimmt nicht gefallen: Jace und Sebastian sind irgendwie miteinander verbunden. Verletzt oder tötet man Jace, dann verletzt beziehungsweise tötet man auch Sebastian. Und umgekehrt. Das sagt zumindest Magnus.«

»Weiß der Rat davon?«, hakte Isabelle sofort nach. »Das hat man dem Rat doch nicht mitgeteilt, oder?«

Erneut schüttelte Maia den Kopf. »Noch nicht.«

»Aber er wird es herausfinden«, sagte Isabelle. »Das ganze Rudel weiß Bescheid. Und irgendjemand wird plaudern. Und dann geht die Hetzjagd los. Man wird Jace umbringen, nur um Sebastian zu töten. Der Rat wird ihn auf jeden Fall töten wollen.« Plötzlich hob sie die Hände und fuhr sich durch die dichten schwarzen Haare. »Ich will zu meinem Bruder«, stieß sie hervor. »Ich will zu Alec.«

»Na, das trifft sich gut«, sagte Maia. »Denn Magnus hat nach seinem Anruf noch eine SMS hinterhergeschickt: Er hat geahnt, dass du hier bist, und hat eine Nachricht für dich. Er will, dass du zu ihm in seine Wohnung in Brooklyn kommst, und zwar sofort.«

In den Straßen herrschte eine solche Eiseskälte, dass weder die Thermis-Rune, die Isabelle rasch aufgetragen hatte, noch der dünne Parka aus Simons Kleiderschrank verhindern konnten, dass sie am ganzen Leib zitterte. Sie stemmte die vordere Glastür auf, huschte in den Eingangsbereich und drückte auf Magnus’ Klingel.

Kurz darauf betätigte jemand den Türöffner und die Haustür sprang auf. Langsam stieg Isabelle die Treppe hinauf und ließ dabei ihre Hand über das splittrige Holzgeländer streifen. Ein Teil von ihr wäre am liebsten die Stufen hinaufgerannt, da sie wusste, dass Alec dort oben war und ihre Gefühle verstehen würde. Ein anderer Teil von ihr – der Teil, der die Probleme ihrer Eltern jahrelang vor ihren Brüdern geheim gehalten hatte – hätte sich am liebsten in eine Ecke verkrochen, um mit seinem Kummer allein zu sein. Und der Teil von ihr, der es hasste, auf andere Leute zu vertrauen – weil sie einen ja sowieso im Stich ließen, oder etwa nicht? –, und der stolz verkünden konnte, dass Isabelle Lightwood niemand anderen brauchte, dieser Teil erinnerte sie nun daran, dass sie hierhergekommen war, weil man sie gerufen hatte. Die anderen brauchten sie.

Isabelle machte es nichts aus, gebraucht zu werden. Im Gegenteil: Sie mochte es. Das war auch der Grund, warum sie eine Weile gebraucht hatte, um mit Jace klarzukommen, als er aus dem Portal aus Idris gestiegen war: ein dünner Zehnjähriger mit gehetzten, blassgoldenen Augen. Während Alec von Jace sofort hellauf begeistert gewesen war, hatte Isabelle ihm seine Selbstbeherrschung anfangs ziemlich übel genommen. Denn als ihre Mutter erzählt hatte, dass Jace’ Vater vor den Augen des Jungen umgebracht worden war, hatte Isabelle sich vorgestellt, er würde mit Tränen in den Augen zu ihr kommen, auf der Suche nach Trost und vielleicht sogar ein paar nützlichen Ratschlägen. Doch Jace schien niemanden zu brauchen. Selbst als Zehnjähriger hatte er bereits über einen scharfen Verstand und eine ebenso scharfe Zunge verfügt. Genau genommen war er ihr sehr ähnlich, hatte Isabelle damals zu ihrer Bestürzung festgestellt.

Letztendlich hatte die Dämonenjagd sie jedoch zusammengeschweißt – ihre gemeinsame Liebe für scharfe Waffen, schimmernde Seraphklingen, den lustvollen Schmerz beim Auftragen der Runenmale und das schnelle, jeden anderen Gedanken ausschaltende Handeln im Kampf. Und als Alec mit Jace allein losziehen und seine Schwester nicht auf die Jagd mitnehmen wollte, hatte Jace für sie Partei ergriffen: »Wir brauchen sie. Sie ist die beste Kämpferin weit und breit. Abgesehen von mir natürlich.«

Und allein für diese Worte hatte Isabelle ihn geliebt.

Inzwischen stand sie vor Magnus’ Wohnungstür. Licht fiel durch einen Spalt unter dem Türblatt ins Treppenhaus und Isabelle konnte gedämpfte Stimmen hören. Entschlossen drückte sie die Tür auf, ließ sich von der Woge der Wärme umhüllen, die ihr entgegenströmte, und trat dankbar ein.

Die Wärme stammte von einem knisternden Feuer im Kamin – obwohl das Gebäude gar keine Schornsteine besaß und die Flammen im typisch blaugrünlichen Ton eines Hexenfeuers leuchteten. Magnus und Alec, der eine schwarze Jogginghose und ein weißes T-Shirt mit ausgefranstem Kragen trug, saßen auf einem der Sofas in der Nähe der Feuerstelle. Als Isabelle den Wohnraum betrat, sprang Alec auf und lief barfuß auf sie zu, um sie in die Arme zu nehmen.

Einen Moment lang stand Isabelle einfach nur da, umschlungen von den Armen ihres Bruders, und hörte seinen ruhigen Herzschlag, während seine Hände ihr ein wenig verlegen zuerst den Rücken und dann die Haare tätschelten. »Izzy«, sagte er, »es wird alles wieder gut.«

Aufgebracht schob Isabelle ihn von sich und wischte sich die Augen. Gott – nichts war schlimmer als weinen. »Wie kannst du so was sagen?«, fauchte sie. »Wie soll auch nur irgendwas wieder gut werden – nach dem, was heute passiert ist?«

»Izzy.« Alec nahm eine von Isabelles Haarsträhnen und zupfte sanft daran. Die Geste erinnerte Isabelle daran, wie er ihr früher immer an den Zöpfen gezogen hatte, deutlich unsanfter als nun. »Bitte verlier jetzt nicht die Nerven. Wir brauchen dich«, sagte er und fügte dann mit gesenkter Stimme hinzu: »Du riechst nach Tequila – weißt du das?«

Isabelle schaute zu Magnus, der sie beide aus unergründlichen Katzenaugen vom Sofa aus beobachtete. »Wo ist Clary?«, fragte sie. »Und ihre Mutter? Ich dachte, sie wären hier.«

»Sie schlafen«, erklärte Alec. »Wir dachten, sie könnten etwas Ruhe vertragen.«

»Und ich etwa nicht?«

»Hast du mit ansehen müssen, wie dein Verlobter beziehungsweise Stiefvater vor deinen Augen niedergestochen wurde?«, konterte Magnus. Unter seinem Morgenmantel aus schwarzer Seide trug er nun einen gestreiften Pyjama. »Isabelle Lightwood«, begann er, setzte sich auf und verschränkte die Hände locker im Schoß. »Wie Alec bereits sagte, wir brauchen dich.«

Isabelle richtete sich auf und nahm die Schultern zurück. »Wofür braucht ihr mich?«

»Du sollst die Eisernen Schwestern aufsuchen«, erläuterte Alec. »Wir benötigen eine Waffe, die Jace und Sebastian trennt, damit sie unabhängig voneinander verletzt werden können… Na ja, du weißt schon, was ich meine. Damit Sebastian getötet werden kann, ohne Jace zu schaden. Es ist nämlich nur noch eine Frage der Zeit, wann der Rat erfährt, dass Jace nicht Sebastians Geisel ist… sondern mit ihm zusammenarbeitet…«

»Aber das ist doch nicht Jace«, protestierte Isabelle.

»Mag sein, dass es sich nicht um den richtigen Jace handelt, aber wenn er stirbt, dann stirbt auch euer Jace mit ihm«, sagte Magnus.

»Wie du weißt, reden die Eisernen Schwestern nur mit Frauen«, fuhr Alec fort. »Und Jocelyn kann sie nicht allein aufsuchen, weil sie keine Schattenjägerin mehr ist.«

»Was ist mit Clary?«

»Sie hat gerade erst ihre Schattenjägerausbildung begonnen und weiß nicht, welche Fragen zu stellen sind oder wie sie die Schwestern richtig anreden muss. Aber du und Jocelyn, ihr wisst Bescheid. Und Jocelyn meinte, sie sei schon mal dort gewesen und könne dir den Weg zeigen, sobald wir euch an den Wall aus Schutzzaubern rund um die Adamant-Zitadelle teleportiert haben. Ihr würdet dann morgen früh gemeinsam dorthin reisen.«

Isabelle dachte einen Moment darüber nach. Die Vorstellung, endlich eine Aufgabe zu bekommen und eine aktive, wichtige Rolle zu übernehmen, erfüllte sie mit Erleichterung. Ihr wäre es zwar lieber gewesen, man hätte ihr einen Auftrag erteilt, der das Töten von Dämonen und das Amputieren von Sebastians Beinen beinhaltet hätte, aber der Besuch bei den Eisernen Schwestern war besser als gar nichts. Die Legenden, die sich um die Adamant-Zitadelle rankten, verliehen dem Hauptsitz der Schwesternschaft die Aura eines verbotenen, weit entfernten Ortes, und die Schwestern ließen sich noch viel seltener in der Öffentlichkeit blicken als die Brüder der Stille. Isabelle hatte bisher noch keine dieser Frauen zu Gesicht bekommen. »Wann brechen wir auf?«, fragte sie.

Alec lächelte zum ersten Mal seit ihrer Ankunft und streckte die Hand aus, um ihr durch die Haare zu wuscheln. »So kenn ich meine Isabelle.«

»Lass das.« Isabelle tauchte unter dem Arm ihres Bruders hindurch; dabei sah sie, wie Magnus sie beide vom Sofa aus angrinste.

Eine Sekunde später stemmte er sich hoch und fuhr sich mit der Hand durch die ohnehin schon strubbligen schwarzen Haare. »Ich hab drei Gästezimmer«, verkündete er. »In einem schläft Clary, im zweiten ihre Mutter. Ich begleite dich zum dritten.«

Die Zimmer lagen an einem schmalen, fensterlosen Flur, der vom Wohnraum abging. Zwei der drei Türen waren geschlossen. Magnus winkte Isabelle durch die dritte Tür in einen Raum, dessen Wände knallrosa gestrichen waren. Von den silbernen Gardinenstangen hingen schwarze Vorhänge, die von Handschellen zusammengehalten wurden. Und der Bettbezug war mit einem Muster aus dunkelroten Herzchen bedruckt.

Isabelle schaute sich um. Sie war unruhig und nervös und kein bisschen müde. »Nette Handschellen. Ich versteh schon, warum du Jocelyn nicht hier untergebracht hast.«

»Ich brauchte auf die Schnelle eine Halterung für die Vorhänge«, erwiderte Magnus achselzuckend. »Hast du irgendetwas dabei, in dem du schlafen kannst?«

Isabelle nickte nur; sie wollte nicht zugeben, dass sie Simons T-Shirt aus seiner Wohnung mitgebracht hatte. Vampire besaßen zwar keinen Eigengeruch, aber in dem Gewebe hing noch schwach der Duft von Simons Waschpulver. »Irgendwie ist das komisch«, bemerkte sie. »Du verlangst, dass ich sofort hier auftauche, nur um mich dann ins Bett zu schicken und mir mitzuteilen, dass wir erst morgen früh aufbrechen.«

Magnus lehnte sich an die Wand neben der Tür, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Isabelle aus zusammengekniffenen Katzenaugen. Einen Moment erinnerte er sie an Church – nur dass er sie wahrscheinlich nicht so schnell kratzen würde. »Ich liebe deinen Bruder«, sagte Magnus unvermittelt. »Das weißt du, oder?«

»Falls du mein Einverständnis möchtest, um ihn zu heiraten – nur zu«, erwiderte Isabelle. »Außerdem ist der Herbst eine hervorragende Jahreszeit für eine Hochzeit. Du könntest einen orangefarbenen Smoking tragen.«

»Aber er ist nicht glücklich«, fuhr Magnus fort, als hätte Isabelle überhaupt nichts gesagt.

»Natürlich ist er nicht glücklich«, fauchte die junge Schattenjägerin. »Jace…«

»Jace«, sagte Magnus und ballte die herabhängenden Hände zu Fäusten.

Verwundert starrte Isabelle ihn an. Denn sie hatte immer angenommen, dass er nichts gegen Jace hätte, ihn sogar mögen würde, nachdem die Frage bezüglich Alecs Präferenzen in Sachen Liebe einmal geklärt war. Sie holte tief Luft und meinte dann: »Ich dachte, du und Jace… ihr seid Freunde.«

»Darum geht es gar nicht«, erwiderte Magnus. »Aber es gibt nun mal bestimmte Menschen – Menschen, die das Universum offenbar für ein besonderes Schicksal auserwählt hat. Für besondere Gunstbezeugungen und besondere Qualen. Gott weiß, wir alle fühlen uns zu dem hingezogen, was schön und gebrochen ist; das habe ich auch schon erlebt. Aber manche Menschen sind so kaputt, dass sie nicht repariert werden können – oder falls doch, dann nur mit derartig viel Liebe und Aufopferung, dass es den anderen zerstört.«

Langsam schüttelte Isabelle den Kopf. »Ich verstehe nicht, wovon du redest. Jace ist unser Bruder, aber für Alec… Jace ist auch Alecs Parabatai.«

»Ich weiß, was es mit diesen Brüdern im Kampf auf sich hat«, erklärte Magnus. »Ich habe einmal zwei Parabatai gekannt, die einander so nahe standen, dass sie fast wie ein und dieselbe Person wirkten. Weißt du, was passiert, wenn einer der beiden stirbt… was mit demjenigen geschieht, der übrig bleibt?«

»Hör auf!« Isabelle presste die Hände auf die Ohren, ließ sie dann aber langsam sinken. »Wie kannst du es wagen, Magnus Bane?«, stieß sie hervor. »Wie kannst du es wagen, diese ganze Sache noch schlimmer zu machen, als sie bereits ist?!«

»Isabelle.« Magnus’ Hände hatten sich wieder entspannt und er schaute ein wenig betreten, als hätte sein Gefühlsausbruch ihn selbst überrascht. »Es tut mir leid. Manchmal vergesse ich einfach… dass du trotz all deiner Selbstbeherrschung und Stärke die gleiche Empfindsamkeit und Verwundbarkeit besitzt wie Alec.«

»Alec ist nicht schwach«, widersprach Isabelle.

»Das habe ich auch nicht behauptet«, erwiderte Magnus. »In Treue zu seiner Liebe zu stehen, dazu gehört Stärke. Aber die Sache ist die: Ich habe dich seinetwegen hierherkommen lassen. Weil es nun mal bestimmte Dinge gibt, die ich nicht für ihn tun kann, die ich ihm nicht geben kann.« Einen Moment lang wirkte Magnus selbst irgendwie verwundbar. »Du kennst Jace genauso lange, wie Alec ihn kennt. Du verstehst seine Gefühle auf eine Weise, wie ich es in diesem Fall nicht kann. Und außerdem liebt er dich.«

»Natürlich liebt er mich. Ich bin seine Schwester.«

»Blutsverwandtschaft bedeutet nicht automatisch Liebe«, entgegnete Magnus bitter. »Frag nur mal Clary.«

Clary flog durch das Portal wie eine Kugel durch einen Gewehrlauf und schoss pfeilschnell am anderen Ende heraus. Wild mit den Armen rudernd, traf sie mit den Füßen hart auf dem Boden auf und brachte zunächst eine perfekte Landung zustande. Doch dieser Moment war nur von kurzer Dauer. Denn noch schwindlig von der Portalreise verlor sie das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf den Rücken, wobei der Rucksack ihren Sturz abfederte. Sie seufzte resigniert – eines Tages mussten sich die vielen Trainingsstunden doch endlich mal bemerkbar machen! Dann rappelte sie sich auf und klopfte sich den Staub von der Jeans.

Sie befand sich direkt vor Lukes Haus. Aus dem Augenwinkel sah sie den glitzernden Fluss und die City, die am anderen Ufer wie ein Wald aus Lichtern aufragte. Lukes Haus lag unverändert da, so wie sie es vor wenigen Stunden verlassen hatte: dunkel und verriegelt. Clary musste schlucken und ging ein paar Schritte über den Schotterweg in Richtung Eingang.

Vorsichtig berührte sie den Ring an ihrer rechten Hand. Simon?

Die Antwort kam sofort. Ja?

Wo bist du?

Auf dem Weg zur U-Bahn. Hast du dich nach Hause teleportiert?

Zu Lukes Haus. Wenn Jace wirklich – wie ich glaube – kommt, um mich zu holen, dann wird er hier auftauchen.

Einen Moment herrschte Stille, dann meinte Simon: Okay, du weißt ja, wie du mich erreichen kannst, falls du mich brauchst.

Ja, weiß ich. Clary holte tief Luft. Simon?

Ja?

Ich hab dich lieb.

Erneute Stille, dann: Ich dich auch.

Und das war alles. Kein Signal wie nach dem Auflegen des Telefonhörers. Clary spürte lediglich, dass ihre Verbindung beendet wurde, als würde in ihrem Gehirn ein Kabel durchtrennt. Und sie fragte sich, ob Alec das wohl gemeint hatte, als er vom Zerreißen eines Parabatai-Bundes gesprochen hatte.

Langsam ging sie das letzte Stück auf Lukes Haus zu und stieg die Stufen hinauf. Dies war ihr Zuhause. Wenn Jace wirklich vorhatte, sie zu holen, dann würde er hier zuerst nach ihr suchen. Clary ließ sich auf die oberste Stufe sinken, zog den Rucksack auf ihren Schoß und wartete.

Simon stand vor dem Kühlschrank in seiner Wohnung und trank einen letzten Schluck kaltes Blut, während die Erinnerung an Clarys lautlose Stimme und das telepathische Gespräch langsam verblasste. Er war gerade erst nach Hause gekommen: Die Wohnung lag im Dunkeln, der Kühlschrank brummte laut und der Wohnraum roch seltsam nach… Tequila? Vielleicht hatte Jordan sich ja einen genehmigt; seine Zimmertür war zumindest geschlossen. Allerdings konnte Simon ihm keinen Vorwurf machen, dass er schlief – schließlich war es nach vier Uhr morgens.

Er stellte die Flasche in den Kühlschrank zurück und ging in sein Zimmer. Dies war seit einer Woche das erste Mal, dass er wieder zu Hause schlief. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, mit jemandem das Bett zu teilen und einen warmen Körper neben sich zu spüren, gegen den er sich nachts anlehnen konnte. Es gefiel ihm, wie Clary sich im Schlaf an ihn schmiegte, zusammengekuschelt und den Kopf auf ihre Hand gelegt. Und ehrlich gesagt gefiel es ihm auch, dass sie nicht schlafen konnte, solange er nicht bei ihr war. Dadurch hatte er das Gefühl, unentbehrlich zu sein und gebraucht zu werden – auch wenn die Tatsache, dass es Clarys Mutter offenbar nicht kümmerte, ob er im Bett ihrer Tochter schlief oder nicht, deutlich dokumentierte, dass Jocelyn ihn anscheinend für eine ebenso große sexuelle Gefahr hielt wie einen Goldfisch.

Natürlich hatten Clary und er schon oft das Bett geteilt, vor allem im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren. Wahrscheinlich trug das auch zu Jocelyns Gelassenheit bei, sinnierte er und drückte die Tür zu seinem Zimmer auf. Die meisten dieser Nächte hatten sie mit so leidenschaftlichen Aktivitäten verbracht wie etwa einem Wettstreit, wer am längsten dafür brauchte, ein Erdnussbuttertörtchen zu verputzen. Oder sie hatten einen tragbaren DVD-Player mit ins Bett geschmuggelt und…

Er blinzelte verblüfft. Sein Zimmer sah zwar aus wie immer: kahle Wände, Stapelregale aus Kunststoff zum Aufbewahren seiner Kleidung, seine Gitarre, die an einem Haken an der Wand hing, und eine Matratze auf dem Fußboden. Aber auf dem Bett lag ein Blatt Papier, ein weißes Quadrat vor dem dunklen Hintergrund des durchgescheuerten schwarzen Bettbezugs. Und Simon kannte die rasch hingekritzelte Handschrift – sie stammte von Isabelle.

Er nahm den Zettel und las:

Simon, ich hab versucht, dich anzurufen, aber dein Handy scheint ausgeschaltet zu sein. Ich weiß nicht, wo du im Moment steckst. Und ich weiß auch nicht, ob Clary dir bereits erzählt hat, was heute Nacht passiert ist. Aber ich muss jetzt rüber zu Magnus’ Wohnung und hätte dich wirklich gerne bei mir.

Obwohl ich sonst keine Angst kenne, hab ich gerade große Angst um Jace. Ich fürchte um das Leben meines Bruders. Ich hab dich noch nie um einen Gefallen gebeten, Simon, aber ich bitte dich jetzt darum: bitte komm.

Isabelle.

Simon ließ den Brief aus der Hand fallen. Und er war bereits aus der Wohnung und auf dem Weg zur unteren Haustür, bevor das Papier auch nur den Boden berührte.

Als Simon Magnus’ Wohnung betrat, empfing ihn Stille. Nur im Kamin knisterte ein Feuer. Magnus saß auf einem der schwer gepolsterten Sofas, die Füße auf den Couchtisch gelegt, während Alec fest schlief; sein Kopf ruhte in Magnus’ Schoß. Der Hexenmeister starrte nachdenklich in die Flammen, als schaute er in die Vergangenheit, und zwirbelte dabei geistesabwesend eine von Alecs schwarzen Haarsträhnen. Bei diesem Anblick musste Simon an das denken, was Magnus ihm einmal zum Thema Unsterblichkeit gesagt hatte – Eines Tages werden wir zwei die Einzigen sein, die noch übrig sind. Der Gedanke ließ ihn schaudern.

In dem Moment blickte Magnus auf. »Isabelle hat dich hergerufen, ich weiß«, sagte er mit gesenkter Stimme, als wolle er Alec nicht wecken. »Sie wartet im Gästezimmer auf dich: durch den Flur und die erste Tür links.«

Simon nickte Magnus noch kurz zu und eilte dann in die angegebene Richtung. Er verspürte eine ungewohnte Nervosität, als würde er sich auf ein erstes Date vorbereiten. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Isabelle ihn noch nie um seine Hilfe oder seine Anwesenheit gebeten oder ihm durch irgendetwas zu verstehen gegeben, dass sie ihn brauchte.

Zögernd drückte er die Tür zum ersten Raum auf der linken Seite auf und trat ein. Im Zimmer herrschte vollständige Dunkelheit und ohne sein Vampirsehvermögen hätte Simon gar nichts gesehen. Doch nun erkannte er die Umrisse eines Kleiderschranks, mit Kleidungsstücken übersäte Sessel und ein Bett mit zerwühlter Bettdecke. Isabelle lag auf der Seite und schlief; ihre schwarzen Haare waren wie ein Fächer über das Kopfkissen ausgebreitet.

Simon hielt inne und betrachtete das Mädchen mit großen Augen. Er hatte Isabelle noch nie schlafend gesehen. Sie wirkte jünger als sonst: Ihre Gesichtszüge waren entspannt, ihre langen Wimpern streiften ihre hohen Wangenknochen und ihr Mund war leicht geöffnet. Sie hatte die Füße angezogen und trug nur ein T-Shirt – eines von seinen T-Shirts: ein abgetragenes blaues Ding mit dem Aufdruck DER LOCHNESS-ABENTEUERCLUB: AUF DER SUCHE NACH ANTWORTEN, AUF DER FLUCHT VOR TATSACHEN.

Behutsam schloss Simon die Tür hinter sich; seine Enttäuschung war größer als erwartet. Ihm war gar nicht der Gedanke gekommen, dass Isabelle schon schlafen könnte. Er hatte mit ihr reden, ihre Stimme hören wollen. Leise zog er seine Schuhe aus und legte sich neben sie. Auf jeden Fall beanspruchte sie mehr Platz im Bett als Clary. Isabelle war hochgewachsen, fast so groß wie er, aber als er ihr seine Hand auf die Schulter legte, fühlten sich ihre Knochen zart und zerbrechlich an. Vorsichtig fuhr er mit den Fingern über ihren Arm. »Izzy?«, fragte er. »Isabelle?«

Sie murmelte und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Simon beugte sich vor – sie roch nach Alkohol und Rosenparfüm. Na, das klärte dann ja so manches. Er hatte vorgehabt, sie in die Arme zu nehmen und sanft zu küssen, aber »Simon Lewis, Schänder bewusstloser Frauen« war nicht gerade die Grabinschrift, mit der er sich für die Nachwelt verewigt sehen wollte.

Also legte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Risse im Putz, dazu einige Wasserflecken. Magnus sollte dringend jemanden kommen lassen, der das ausbesserte, überlegte er.

In dem Moment rührte Isabelle sich, als hätte sie seine Anwesenheit gespürt; sie drehte sich ihm zu und drückte ihre weiche Wange gegen seine Schulter. »Simon?«, fragte sie schlaftrunken.

»Ja.« Behutsam berührte er ihr Gesicht.

»Du bist tatsächlich gekommen«, murmelte Isabelle, legte ihren Arm über seine Brust und kuschelte sich an seine Schulter. »Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst.«

Sanft zeichneten seine Finger ein Muster auf ihren Arm. »Das ist doch selbstverständlich.«

Ihre nächsten Worte klangen gedämpft, als sie gegen seinen Hals murmelte: »Tut mir leid, dass ich schlafe.«

Simon lächelte still in der Dunkelheit. »Ist schon okay. Selbst wenn du mich nur herbestellt hättest, um dich zu halten, während du schläfst… selbst dann noch hätte ich es getan.«

Isabelle versteifte sich kurz neben ihm, entspannte sich aber wieder. »Simon?«

»Ja?«

»Kannst du mir eine Geschichte erzählen?«

Verwundert blinzelte Simon in die Dunkelheit. »Was für eine Geschichte?«

»Irgendwas, wo die Guten gewinnen und die Bösen sterben. Und anschließend auch tot bleiben.«

»Also so was wie ein Märchen?«, fragte Simon und zermarterte sich das Hirn. Er kannte nur die Disney-Versionen der meisten Märchen und als Erstes schoss ihm ein Bild von Arielle mit ihrem Muschel-Bikinitop durch den Kopf. Als Achtjähriger war er in die Meerjungfrau total verknallt gewesen… aber das schien jetzt nicht der geeignete Moment, um das zu erwähnen.

»Nein.« Isabelles Antwort klang nur noch wie ein Wispern. »Wir haben das Thema Märchen regelmäßig im Unterricht. Ein Großteil der darin beschriebenen Magie existiert tatsächlich… aber, egal. Ich möchte lieber irgendwas hören, das ich noch nicht kenne.«

»Okay. Da weiß ich was.« Simon strich Isabelle übers Haar und fühlte, wie ihre Wimpern seinen Hals streiften, als sie die Augen schloss. »Es war einmal vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten Galaxis…«

Clary wusste nicht, wie lange sie schon auf den Stufen vor Lukes Haus gesessen hatte, als endlich der Morgen anbrach und die aufgehende Sonne den Himmel dunkelrosa färbte, während der Fluss wie ein stahlblaues Band vor ihr zu leuchten begann. Sie zitterte heftig, zitterte bereits so lange, dass sich ihr ganzer Körper wie ein zusammengezogener Eisklumpen anfühlte. Die beiden Wärme-Runen, die sie aufgetragen hatte, waren vollkommen nutzlos gewesen; Clary hatte das Gefühl, dass ihr Zittern vor allem psychologische Gründe hatte.

Würde er kommen? Wenn er tief in sich drin noch immer der richtige Jace war – und daran glaubte sie fest –, dann würde er herkommen. Als er ihr zugeraunt hatte, dass er sie holen würde, da hatte sie gewusst, dass er damit so bald wie möglich meinte. Jace war nicht besonders geduldig. Und er spielte keine Spielchen.

Aber ihnen blieb nicht endlos viel Zeit: Die Sonne würde immer höher steigen, der neue Tag anbrechen und ihre Mutter würde sie wieder auf Schritt und Tritt beobachten. Und sie würde die Suche nach Jace aufgeben müssen – mindestens für einen weiteren Tag, wenn nicht sogar länger.

Clary schloss die Augen gegen die blendende Helligkeit des Sonnenaufgangs, lehnte sich zurück und stützte die Ellbogen auf den Treppenabsatz. Einen Moment lang erlaubte sie sich zu träumen – von einer Welt, in der alles beim Alten war, in der sich nichts verändert hatte, in der sie Jace am Nachmittag zum Training oder am Abend zum Essen treffen würde und er sie in seinen Armen halten und sie zum Lachen bringen würde, so wie er es immer getan hatte.

Warme Sonnenstrahlen tasteten sanft über ihr Gesicht. Widerstrebend schlug Clary die Lider auf.

Und da war er. Geschmeidig stieg er die Stufen zu ihr hinauf, geräuschlos wie eine Katze, lautlos wie immer. Er trug ein dunkelblaues Sweatshirt, das sein helles Haar wie Sonnenlicht strahlen ließ. Clary setzte sich auf; ihr Herz klopfte wie wild. Der helle Sonnenschein schien Jace’ Konturen in Licht zu malen. Der Anblick erinnerte Clary an jenen Abend in Idris, als das Feuerwerk den Himmel erhellt hatte und die Funken auf die Erde hinabgingen – wie Engel, die aus dem Himmel herabfielen.

Er blieb vor ihr stehen und streckte ihr die Hände entgegen; Clary ergriff sie und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Seine blassgoldenen Augen streiften suchend über ihr Gesicht. »Ich war mir nicht sicher, ob du da sein würdest«, sagte er.

»Seit wann bist du dir meiner nicht mehr sicher?«

»Du warst vorhin ziemlich wütend.« Er berührte ihr Gesicht, umfasste ihre Wange mit der Hand. Eine breite Narbe erstreckte sich quer über seine Handfläche; Clary konnte den rauen Wulst auf ihrer Haut fühlen.

»Und wenn ich nicht hier gewesen wäre, was hättest du dann getan?«, fragte sie.

Er zog sie an sich. Auch er zitterte und der Wind zerzauste seine blonden, schimmernden Haare. »Wie geht es Luke?«

Die Erwähnung von Lukes Namen jagte einen weiteren Schauer durch Clarys Körper. Jace, der annahm, dass sie fror, zog sie noch fester an sich. »Er wird wohl durchkommen«, erwiderte sie zurückhaltend. Das ist alles deine Schuld. Deine Schuld!

»Ich hab nicht gewollt, dass er verletzt wird.« Jace hatte die Arme um sie geschlungen und seine Finger fuhren langsam über ihre Wirbelsäule. »Glaubst du mir das?«

»Jace…«, setzte Clary an. »Warum bist du hier?«

»Um dich erneut zu bitten: Komm mit mir.«

Clary schloss die Augen. »Und du willst mir nicht verraten, wohin?«

»Vertrauen«, sagte er leise. »Du musst Vertrauen haben. Aber du musst auch wissen: Wenn du mich begleitest, gibt es kein Zurück. Jedenfalls nicht für sehr lange Zeit.«

Unwillkürlich musste Clary an jenen Abend denken, als sie das Java Jones verlassen hatte und er draußen vor dem Café auf sie gewartet hatte. In diesem Moment hatte sich ihr Leben auf eine Weise verändert, die sich nicht mehr umkehren ließ.

»Ein Zurück hat es ohnehin nie gegeben. Nicht mit dir«, erklärte sie und öffnete die Augen. »Lass uns aufbrechen.«

Er lächelte, so strahlend wie die Sonne, die erneut hinter den Wolken hervorbrach, und sie spürte, wie sich sein Körper entspannte. »Bist du sicher?«

»Absolut.«

Im nächsten Moment beugte er sich vor und küsste sie. Clary streckte die Arme aus, um sich an ihm festzuhalten, und schmeckte gleichzeitig etwas Bitteres auf seinen Lippen. Dann senkte sich die Dunkelheit herab wie ein Theatervorhang am Ende eines Aktes.

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