II Gewisse dunkle Dinge

Te amo como se aman ciertas cosas oscuras

(Ich liebe dich, wie man gewisse dunkle Dinge liebt)

Pablo Neruda, »Soneto XVII«

8 Ignis aurum probat

Maia war zwar noch nie auf Long Island gewesen, aber in ihrer Vorstellung hatte sie sich immer einen Ort ausgemalt, der große Ähnlichkeit mit New Jersey besaß – überwiegend kleinstädtische Vorortstraßen, wo all die Leute, die in New York oder Philadelphia arbeiteten, tatsächlich wohnten.

Sie hatte ihren Rucksack in den Laderaum von Jordans Transporter geworfen – ein sehr ungewohnter Anblick. Als sie noch zusammen waren, hatte er einen zerbeulten roten Toyota gefahren, dessen Innenraum immer mit zerdrückten Kaffeebechern und zerknitterten Fastfood-Tüten übersät war und in dem der Aschenbecher vor Zigarettenstummeln überquoll, die bis zum Filter hinuntergeraucht waren. Dagegen wirkte die Fahrerkabine dieses Transporters vergleichsweise sauber – abgesehen von einem Papierstapel auf dem Beifahrersitz, den Jordan kommentarlos beiseiteräumte, als Maia in den Wagen kletterte.

Während der Fahrt durch Manhattan zum Long Island Expressway sprachen sie kaum miteinander und irgendwann döste Maia ein, die Wange an die kühle Fensterscheibe gelehnt. Sie erwachte erst wieder, als sie über eine Bodenwelle auf der Straße holperten und sie leicht nach vorn geworfen wurde. Sie blinzelte und rieb sich die Augen.

»’tschuldigung«, sagte Jordan zerknirscht. »Ich wollte dich eigentlich schlafen lassen, bis wir da sind.«

Maia setzte sich auf und schaute sich um. Der Himmel klarte am Horizont bereits auf. Sie fuhren über eine zweispurige Asphaltstraße, die auf beiden Seiten von Feldern gesäumt war. In der Ferne ragte hin und wieder eine Farm oder ein Silo auf, dazwischen standen Häuser mit Holzverschalung und umlaufenden Lattenzäunen. »Das ist echt hübsch hier«, stellte Maia überrascht fest.

»Ja«, bestätigte Jordan, wechselte den Gang und räusperte sich. »Aber da du jetzt sowieso wach bist… Ehe wir zum Praetor House kommen, kann ich dir vorher noch was anderes zeigen?«

Maia zögerte nur einen Moment und nickte dann.

Inzwischen rumpelte der Transporter über einen einspurigen, matschigen Schotterweg mit Bäumen auf beiden Seiten, von denen die meisten ihr Laub bereits verloren hatten. Maia kurbelte die Scheibe hinunter, um die Luft zu schnuppern: Bäume, Salzwasser, verrottende Blätter, kleine Tiere im hohen Gras. Sie holte erneut tief Luft, als der Wagen von der Straße abbog und auf einem kleinen runden Wendeplatz anhielt. Vor ihnen lag der Strand – heller Sand, der sich bis zum dunkelstahlblauen Wasser erstreckte, darüber ein fast fliederfarbener Himmel. Maia warf Jordan einen Blick zu.

Gedankenverloren starrte er geradeaus. »Ich bin früher oft hierhergekommen… während meiner Ausbildung im Praetor House«, sagte er. »Manchmal nur, um aufs Meer zu schauen und meine Gedanken zu ordnen. Die Sonnenaufgänge hier… Jeder ist anders, aber sie sind alle wunderschön.«

»Jordan.«

Er schaute sie nicht an, blickte stattdessen weiter aufs Meer. »Ja?«

»Es tut mir leid… es tut mir leid, dass ich einfach so abgehauen bin, in der Werft.«

»Ist schon okay.« Jordan ließ langsam die Luft aus seinen Lungen entweichen.

Doch Maia konnte an der Haltung seiner Schultern und der Art und Weise, wie seine Hand den Schalthebel umklammerte, erkennen, dass es nicht okay war. Und sie bemühte sich, nicht auf die angespannten Muskeln zu starren, die die Wölbung seines Bizeps noch deutlicher hervortreten ließen.

»Für dich war das ziemlich viel auf einmal, das kapier ich schon. Ich wollte nur…«

»Wir sollten es langsam angehen lassen. An unserer Freundschaft arbeiten.«

»An einer Freundschaft bin ich nicht interessiert«, erwiderte Jordan.

Maia konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. »Nicht?«

Jordan nahm die Hand vom Schalthebel und umfasste das Lenkrad. Warme Luft strömte aus den Heizungsschlitzen in den Wagen und mischte sich mit der kühleren Luft, die durch Maias geöffnetes Seitenfenster hereinwehte. »Wir sollten das nicht gerade jetzt besprechen.«

»Ich möchte das aber jetzt besprechen«, entgegnete Maia. »Und zwar jetzt sofort. Ich will mir keine Gedanken über uns beide machen müssen, während wir im Praetor House sind.«

Unbehaglich rutschte Jordan in seinem Sitz hin und her und biss sich auf die Lippe. Seine zerzausten braunen Haare waren ihm in die Stirn gefallen. »Maia…«

»Wenn du an einer Freundschaft nicht interessiert bist, was sind wir dann füreinander? Sind wir wieder Feinde?«

Langsam drehte er den Kopf, seine Wange gegen die Lehne des Fahrersitzes gedrückt. Diese Augen… genau wie Maia sie in Erinnerung hatte: Nussbraun mit grünen, blauen und goldenen Sprenkeln. »Ich bin deshalb nicht an einer Freundschaft interessiert, weil ich dich noch immer liebe, Maia«, erklärte Jordan. »Weißt du eigentlich, dass ich seit unserer Trennung kein Mädchen mehr angefasst, noch nicht einmal mehr geküsst habe?«

»Isabelle…«

»Isabelle wollte sich nur betrinken und über Simon reden.« Jordan nahm die Hände vom Lenkrad, streckte sie halb in Maias Richtung, ließ sie dann aber in seinen Schoß sinken, mit einem resignierten Ausdruck auf dem Gesicht. »Ich habe immer nur dich geliebt. Der Gedanke an dich hat mich durch das harte Trainingsprogramm gebracht. Die Vorstellung, dass ich eines Tages vielleicht in der Lage wäre, dir gegenüber alles wiedergutzumachen. Und das werde ich auch, auf jede erdenkliche Weise… mit einer Ausnahme.«

»Du willst nicht mit mir befreundet sein.«

»Ich will nicht nur mit dir befreundet sein. Ich liebe dich, Maia. Ich habe dich schon immer geliebt und werde dich immer lieben. Aber einfach nur mit dir befreundet zu sein… das würde mich umbringen.«

Maia schaute hinaus auf den Ozean. Die Sonne tauchte gerade über der Wasseroberfläche auf und die Strahlen ließen das Meer lila, golden und blau aufleuchten. »Hier ist es wirklich wunderschön.«

»Das ist auch der Grund, warum ich regelmäßig hergekommen bin. Ich konnte oft nicht schlafen und hab mir dann hier den Sonnenaufgang angesehen.« Seine Stimme klang leise.

»Und kannst du jetzt schlafen?«, fragte Maia und wandte sich ihm wieder zu.

Jordan schloss die Augen. »Maia… wenn deine Antwort Nein lautet und du nichts außer Freundschaft willst… dann sag es einfach. Reiß das Pflaster mit einem Ruck ab, okay?«

Maia betrachtete ihn: Er wirkte gefasst, als wappnete er sich für einen Tiefschlag. Seine Wimpern warfen Schatten auf seine Wangenknochen und an seiner Kehle leuchteten blasse Narben auf der dunklen Haut – Überbleibsel von Wunden, die sie ihm zugefügt hatte. Ruhig öffnete sie den Sicherheitsgurt und rutschte über die Sitzbank auf ihn zu. Sie hörte, wie Jordan überrascht keuchte, doch er rührte sich nicht von der Stelle, als sie sich vorbeugte und ihn auf die Wange küsste. Maia holte tief Luft und atmete seinen Duft ein: dieselbe Seife, dasselbe Shampoo, aber kein Zigarettenqualm mehr, der in der Kleidung hing. Derselbe Junge. Sie hauchte ihm kleine Küsse auf die Wange, bis hinunter zum Mundwinkel, und dann rückte sie noch näher an ihn heran und drückte ihre Lippen sanft auf seinen Mund.

Jordans Lippen öffneten sich unter Maias Berührung und er stöhnte tief in der Kehle. Werwölfe gingen normalerweise nicht besonders zärtlich miteinander um, doch Jordans Hände lagen leicht auf Maias Hüften, als er sie anhob und auf seinen Schoß setzte. Dann schlang er die Arme um sie, während ihr Kuss intensiver wurde.

Das Gefühl seines Körpers, die Wärme seiner Arme, die sie durch seine Cordjacke spüren konnte, sein schneller Herzschlag, der Geschmack seines Mundes, das Aufeinandertreffen von Lippen, Zähnen und Zunge – all das raubte Maia fast den Atem. Sie schob die Hände in seinen Nacken und schmiegte sich an ihn, während ihre Finger mit seinen Haaren spielten, so seidenweich und dicht, wie sie sie in Erinnerung hatte.

Als sie sich schließlich voneinander lösten, hatten Jordans Augen einen glasigen Glanz. »Darauf habe ich seit Jahren gewartet«, sagte er.

Behutsam fuhr Maia ihm mit dem Finger über das Schlüsselbein. Sie konnte spüren, wie ihr eigenes Herz raste. Ein paar Minuten lang waren sie nicht zwei Werwölfe auf geheimer Mission gewesen, sondern einfach nur zwei Teenager, die in einem Wagen am Strand knutschten. »Hast du dir den Kuss so ungefähr vorgestellt?«

»Es war viel besser.« Ein Lächeln umspielte Jordans Mundwinkel. »Bedeutet das…?«

»Na ja«, erwiderte Maia. »So was zählt nicht unbedingt zu den Dingen, die man mit Freunden macht, oder?«

»Ach nein? Ich fürchte, das werd ich Simon sagen müssen. Er dürfte schwer enttäuscht sein.«

»Jordan!« Maia knuffte ihn leicht gegen die Schulter, lächelte dabei aber… genau wie er: Ein ungewöhnlich breites, überglückliches Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Sie beugte sich vor, drückte ihr Gesicht in seine Halsbeuge und atmete seinen Geruch ein, zusammen mit der frischen Morgenluft.

Ihr Kampf führte sie mitten über den zugefrorenen See, während die Eisstadt in der Ferne wie eine Fackel leuchtete. Ein Engel mit goldenen Schwingen und ein Engel mit Schwingen, die wie schwarze Flammen glühten. Clary stand auf der Eisfläche, während um sie herum Blut und Federn vom Himmel fielen. Die goldenen Federn brannten wie Feuer auf ihrer Haut, doch die schwarzen Federn waren kalt wie Eis.

Ruckartig schreckte Clary aus dem Schlaf hoch; ihr Herz schlug wie wild und ihre Beine und Arme hatten sich in der Bettdecke verheddert. Sie setzte sich auf und schob die Decke bis zur Taille hinunter. Sie befand sich in einem Raum mit weiß verputzten Wänden, aber ohne Fenster – eine Pendelleuchte aus schwarzem Glas an der Decke bildete die einzige Lichtquelle. Das Bett, in dem sie saß, war aus schwarzem Holz und sie trug noch dieselbe Kleidung wie in der Nacht zuvor. Rasch glitt sie aus dem Bett, stellte die nackten Fußsohlen auf einen kalten Steinboden und schaute sich nach ihrem Rucksack um.

Sie entdeckte ihn fast sofort: Er thronte auf einem schwarzen Ledersessel. Als sie ihn öffnete und mit der Hand darin herumtastete, erkannte sie verärgert, aber kein bisschen überrascht, dass jemand den Rucksack bereits durchsucht hatte. Ihre transparente Plastikbox mit den Malutensilien und ihrer Stele war verschwunden. Man hatte ihr nur ihre Haarbürste sowie eine Jeans und Wechselwäsche gelassen. Wenigstens steckte der goldene Ring noch immer auf ihrem Finger.

Clary berührte ihn leicht und dachte intensiv an Simon. Ich bin drin.

Keine Antwort.

Simon?

Noch immer keine Reaktion. Ein mulmiges Gefühl beschlich Clary, das sie jedoch tapfer hinunterschluckte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, wie spät es war oder wie lange sie ohnmächtig gewesen war. Möglicherweise schlief Simon ja. Sie durfte jetzt nicht in Panik geraten und gleich annehmen, dass der Ring nicht funktionierte. Von nun an hieß es, auf Autopilot zu schalten: Sie musste herausfinden, wo sie war, und dabei möglichst viele Informationen sammeln. Schließlich konnte sie später noch einmal versuchen, Simon zu erreichen.

Clary holte tief Luft und konzentrierte sich auf ihre unmittelbare Umgebung. Zwei Türen führten aus dem Zimmer. Sie öffnete die erste und entdeckte dahinter ein kleines Bad mit viel Glas und Chrom und einer frei stehenden Kupferbadewanne. Auch hier gab es keine Fenster. Clary duschte schnell, trocknete sich anschließend mit einem flauschigen weißen Handtuch ab und schlüpfte in saubere Jeans und ein Sweatshirt. Dann lief sie zum Schlafzimmer zurück, schnappte sich ihre Schuhe und drückte die zweite Tür auf.

Bingo. Hier befand sich also der Rest – des Hauses? Der Wohnung? Vor ihr lag ein großer Raum, der fast zur Hälfte von einem langen Glastisch eingenommen wurde. Auch hier hingen schwarze Pendelleuchten von der Decke und warfen tanzende Lichter und Schatten an die Wände. Alles war sehr modern gehalten – angefangen von den schwarzen Lederstühlen bis hin zu dem großen Kamin mit der eleganten Chromumrandung, in dem ein knisterndes Feuer brannte. Also musste noch irgendjemand anderes hier sein… oder konnte zumindest noch nicht lange weg sein, überlegte Clary.

Außerdem befanden sich in dem Raum noch ein großer Fernseher, mehrere niedrige Ledersofas und ein glänzender schwarzer Sofatisch, auf dem Videospiele und diverse Fernbedienungen herumlagen. Eine gläserne Wendeltreppe führte in ein oberes Stockwerk. Clary schaute sich kurz um und stieg dann die Stufen hinauf. Das Glas war so makellos, dass sie den Eindruck hatte, eine unsichtbare Himmelsleiter hinaufzusteigen.

Das obere Geschoss war im Großen und Ganzen wie das Erdgeschoss gehalten – weiße Wände, schwarzer Steinboden und ein langer Flur, von dem mehrere Räume abgingen. Die erste Tür führte in ein großes Schlafzimmer. Ein riesiges Bett aus Palisanderholz mit hauchdünnen weißen Vorhängen nahm einen Großteil der Fläche ein. Aber an einer Wand befanden sich mehrere Fenster mit dunkelblau getönten Scheiben. Clary durchquerte das Zimmer und schaute hinaus.

Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie wohl wieder in Alicante war. Denn sie blickte über einen Kanal auf ein anderes Gebäude, dessen Fenster mit grünen Läden verschlossen waren. Der Himmel wirkte grau, das Wasser schimmerte in einem dunklen Grünblau und rechts von ihr führte eine Brücke über den Kanal. Zwei Leute standen auf der Brücke; einer der beiden hielt sich einen Fotoapparat vors Gesicht und knipste eifrig. Also nicht Alicante. Dann vielleicht Amsterdam? Oder Venedig? Fieberhaft suchte Clary das Fenster nach einem Griff ab, doch es schien sich nicht öffnen zu lassen. Sie trommelte heftig gegen die Scheibe und rief laut, aber die beiden Touristen bemerkten sie nicht und schlenderten kurz darauf weiter.

Clary wandte sich wieder dem Schlafzimmer zu, ging zu einem der Schränke und riss die Türen auf. Ihr Herz machte einen Satz. Der Schrank war bis zum Rand mit Kleidungsstücken gefüllt – für eine Frau. Hinreißende Kleider aus Spitze und Seide und mit Perlen und Stoffblumen. In den Schubladen stapelten sich Spitzenhemdchen und Unterwäsche, Trägertops aus Baumwolle und Seide, sorgfältig zusammengelegte Nylonstrümpfe. Clary entdeckte außerdem jede Menge Röcke, aber keine einzige Jeans oder Stoffhose. Auch Schuhe standen ordentlich aufgereiht in den Fächern. Einen Moment lang starrte sie verwundert auf die Sachen und fragte sich, ob wohl noch ein anderes Mädchen hier lebte oder ob Sebastian seit Neuestem lieber Frauenkleidung trug. Doch an sämtlichen Kleidungsstücken hingen noch die Preisschilder und alle hatten Clarys Größe. Aber damit nicht genug, dämmerte es Clary langsam – die Kleidung zeichnete sich auch durch exakt die Schnitte und Farben aus, die ihr besonders gut standen: Blau-, Grün- und Gelbtöne und für eine zierliche Figur geschnitten. Schließlich nahm Clary eines der etwas schlichteren Oberteile aus dem Schrank, eine dunkelgrüne, kurzärmlige Bluse mit Seidenrüschen an der Knopfleiste. Rasch zog sie ihr Sweatshirt aus, streifte die Bluse über und betrachtete sich im Spiegel in der Schranktür.

Sie passte perfekt… sie schmiegte sich um ihre Taille und machte dadurch das Beste aus ihrer zierlichen Figur. Außerdem betonte das Grün ihre Augen. Mit einem Ruck riss Clary das Preisschild ab, weil sie nicht sehen wollte, wie viel die Bluse gekostet hatte, und eilte aus dem Zimmer, wobei ihr ein Schauer über den Rücken lief.

Beim nächsten Raum handelte es sich eindeutig um Jace’ Reich – das erkannte Clary im selben Augenblick, in dem sie es betrat. Denn das Zimmer roch nach ihm, nach seinem Eau de Toilette, seiner Seife und dem Duft seiner Haut. Außerdem war es so aufgeräumt wie sein Zimmer im Institut: Das schwarz gebeizte Bett mit dem weißen Bettzeug tadellos gemacht, alle Bücher ordentlich gestapelt und nach italienischen, französischen und lateinischen Titeln sortiert. Der Silberdolch der Herondales mit dem Vogelmuster auf dem Heft steckte in der verputzten Wand. Als Clary näher trat, konnte sie erkennen, dass er ein Foto aufgespießt hatte. Ein Foto von Jace und ihr, das Izzy aufgenommen hatte. Clary erinnerte sich noch genau an den Moment: ein klarer Tag Anfang Oktober, Jace hockte auf den Stufen vor dem Institut, ein Buch auf dem Schoß. Sie selbst saß eine Stufe über ihm, eine Hand auf seiner Schulter und leicht vorgebeugt, um einen Blick auf seine Lektüre zu werfen. Seine Hand lag geistesabwesend auf ihrer und er lächelte. Da sie an jenem Tag sein Gesicht nicht hatte sehen können, war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie umwerfend er damals gelächelt hatte… Der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu. Sie beeilte sich, das Zimmer zu verlassen, und musste ein paarmal tief Luft holen.

So geht das nicht, ermahnte sie sich streng. Nicht jeder Anblick des jetzigen Jace durfte sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlen. Sie musste so tun, als würde es keine Rolle spielen – als würde sie überhaupt keinen Unterschied bemerken.

Entschlossen betrat sie den nächsten Raum, ein weiteres Schlafzimmer und etwa so groß wie das von Jace, doch im Gegensatz dazu herrschte hier ein schreckliches Chaos: Das Bett mit den schwarzen Seidenlaken und der Bettdecke war total zerwühlt, der Schreibtisch aus Glas und Edelstahl mit Büchern und Dokumenten übersät. Auf dem Boden und jeder anderen freien Fläche lagen Kleidungsstücke herum: Jeans und Jacken und T-Shirts und Teile einer Kampfmontur. Clarys Blick fiel auf etwas, das auf dem Nachttisch thronte und silbern glänzte. Langsam trat sie näher und starrte ungläubig darauf.

Es handelte sich um das kleine Kästchen ihrer Mutter. Das Kästchen mit den Initialen J. C. – dasselbe Kästchen, das Jocelyn einmal im Jahr hervorgeholt und über dessen Inhalt sie lautlos geweint hatte. Clary kannte den Inhalt des Kästchens nur zu gut – eine Haarlocke, so fein und weiß wie die Samen einer Pusteblume; Stofffetzen von einem Kinderhemdchen; ein Babyschuh, der so klein war, dass er mühelos auf Clarys Handfläche gepasst hätte. Erinnerungsstücke an ihren Bruder – eine Art Collage des Kindes, das ihre Mutter sich gewünscht hatte, von dem sie geträumt hatte, bis Valentin diesen Traum vernichtet und seinen eigenen Sohn in ein Monster verwandelt hatte.

J. C.

Jonathan Christopher.

Clarys Magen zog sich krampfhaft zusammen. Hastig machte sie kehrt und prallte gegen eine Wand aus Muskeln. Dann schlang sich ein Paar Arme fest um sie und Clary sah, dass sie schlank, aber muskulös waren, mit hellen Härchen auf leicht gebräunter Haut. Einen Augenblick dachte sie, Jace würde sie halten, und ihre Anspannung ließ nach.

»Was hast du in meinem Zimmer gemacht?«, raunte Sebastian ihr ins Ohr.

Isabelle war darauf trainiert, jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit aufzuwachen. Selbst ein leichter Kater konnte nicht verhindern, dass ihr innerer Wecker sie auch jetzt aus dem Schlaf riss. Langsam setzte sie sich auf und betrachtete blinzelnd Simon, der neben ihr lag.

Noch nie zuvor hatte sie mit jemand anderem gemeinsam die ganze Nacht in einem Bett verbracht – es sei denn, man zählte die Nächte mit, in denen sie als Vierjährige Angst vor einem Gewitter gehabt und sich im Bett ihrer Eltern verkrochen hatte. Sie konnte nicht anders, als Simon anzustarren, als wäre er irgendeine exotische Tierart. Er lag auf dem Rücken, mit leicht geöffnetem Mund, seine Haare waren ihm in die Augen gefallen. Gewöhnliche braune Haare, gewöhnliche braune Augen. Das T-Shirt war leicht hochgerutscht. Simon besaß nicht so ausgeprägte Muskeln wie ein Schattenjäger. Sein Bauch war zwar glatt und flach, aber alles andere als ein Waschbrettbauch. Und sein Gesicht besaß immer noch weiche, kindliche Züge. Was also faszinierte sie so an ihm? Natürlich war er ausgesprochen niedlich, aber vor ihm hatte sie sich nur mit umwerfenden Elbenrittern und sexy Schattenjägern verabredet…

»Isabelle«, sagte Simon in dem Moment und ohne die Augen zu öffnen. »Hör auf, mich anzustarren.«

Gereizt seufzte Isabelle und schwang sich aus dem Bett. Dann wühlte sie in ihrer Tasche nach ihrer Kampfmontur, holte sie hervor und machte sich auf die Suche nach dem Bad.

Das Badezimmer lag etwa auf der Hälfte des Flurs und als Isabelle fast davorstand, flog die Tür auf und Alec tauchte aus einer Dampfwolke auf. Er hatte sich ein Handtuch um die Hüften geschlungen, ein weiteres um die Schultern gelegt und rubbelte sich gerade die feuchten schwarzen Haare trocken.

Eigentlich durfte sie nicht überrascht sein, ihn zu sehen, überlegte Isabelle. Genau wie sie selbst war auch er darauf trainiert, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen. »Du riechst nach Sandelholz«, sagte sie statt einer Begrüßung. Sie hasste den Geruch von Sandelholz und bevorzugte süße Düfte – Vanille, Zimt, Gardenie.

Spöttisch musterte Alec seine Schwester. »Wir mögen Sandelholz.«

Isabelle verzog das Gesicht. »Entweder ist das jetzt ein Fall von Pluralis Majestatis oder du und Magnus verwandelt euch in eines dieser Paare, die sich für eine einzige Person halten. ›Wir mögen Sandelholz.‹ – ›Wir lieben Sinfoniekonzerte.‹ – ›Wir hoffen, dir gefällt unser Weihnachtsgeschenk‹ – was meines Erachtens nur eine billige Ausrede ist, um sich vor dem Kauf von zwei Geschenken zu drücken.«

Alec blinzelte sie unter feuchten Wimpern an. »Eines Tages wirst auch du es verstehen…«

»Wenn du mir jetzt sagst, dass ich es verstehen werde, wenn ich verliebt bin, dann ersticke ich dich mit deinem Handtuch.«

»Und wenn du mich weiterhin daran hinderst, in mein Zimmer zu gehen und mich anzuziehen, werd’ ich Magnus beauftragen, einen Trupp Kobolde herbeizuzaubern, der dir die langen Haare verfilzt.«

»Ach, geh mir aus dem Weg.« Isabelle trat spielerisch nach Alecs Fußknöchel, bis er sich in aller Ruhe beiseitebequemte und den Flur entlangschlenderte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, wenn sie sich nach ihm umdrehte, würde er ihr die Zunge herausstrecken. Deshalb verzichtete sie darauf. Stattdessen schloss sie sich im Bad ein, stieg in die Dusche und drehte den Wasserhahn voll auf. Dann warf sie einen Blick auf die Duschprodukte auf der Ablage und stieß einen sehr undamenhaften Fluch aus.

Sandelholzshampoo, Sandelholzpflegespülung, Sandelholzseife. Igitt.

Als sie schließlich wieder aus dem Bad kam, mit hochgesteckten Haaren und vollständig in ihre Kampfmontur gekleidet, stellte sie fest, dass Alec, Magnus und Jocelyn bereits im Wohnraum auf sie warteten. Auf dem Tisch standen Donuts, die sie dankend ablehnte, und Kaffee, den sie dankend annahm. Großzügig goss sie sich Milch in den Becher, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schaute zu Jocelyn, die zu ihrer Überraschung ebenfalls Schattenjägerkleidung trug.

Eigentlich seltsam, überlegte Isabelle – ständig erzählten ihr die Leute, wie ähnlich sie ihrer Mutter sei, obwohl sie das selbst überhaupt nicht sehen konnte. Und nun fragte sie sich, ob sie Maryse wohl auf die gleiche Weise ähnelte wie Clary ihrer Mutter: Sie hatten dieselbe Haarfarbe, aber auch dieselben Gesichtszüge, dieselbe Kopfhaltung, denselben entschlossenen Zug ums Kinn. Und sie erweckten beide den Eindruck, dass diese Person zwar wie eine Porzellanpuppe aussehen mochte, aber darunter aus hartem Stahl geschmiedet war. Allerdings wünschte Isabelle, sie hätte genau wie Clary, die die grünen Augen von ihrer Mutter mitbekommen hatte, die blauen Augen ihrer Eltern Maryse und Robert geerbt. Blau war so viel interessanter als Schwarz.

»Genau wie im Fall der Stillen Stadt gibt es auch nur eine einzige Adamant-Zitadelle, aber viele unterschiedliche Zugänge zur Festung der Eisernen Schwestern«, erklärte Magnus. »Der nächste Eingang befindet sich in der alten Augustinerabtei auf Staten Island. Alec und ich werden uns mit euch auf den Grymes Hill teleportieren und dann dort auf euch warten, denn wir können euch nicht den ganzen Weg begleiten.«

»Ich weiß«, bestätigte Isabelle. »Weil ihr nämlich Jungs seid. Iiih bääh!«

»Du solltest das ernst nehmen, Isabelle«, warnte Alec und zeigte mit dem Finger auf sie. »Die Eisernen Schwestern lassen sich nicht mit den Brüdern der Stille vergleichen. Sie sind wesentlich weniger umgänglich und mögen es überhaupt nicht, gestört zu werden.«

»Ich verspreche, ich werde mich tadellos benehmen«, erklärte Isabelle und stellte den leeren Kaffeebecher auf den Tisch. »Okay, dann mal los.«

Magnus musterte sie einen Moment misstrauisch, zuckte dann aber die Achseln. Seine Haare waren mit Gel zu einer Million spitzer Stacheln gestylt und seine Augen schwarz umrandet, wodurch sie noch katzenartiger wirkten als sonst. Er schob sich an Isabelle vorbei zur Wand und murmelte dabei lateinische Worte. Kurz darauf erschienen die vertrauten Umrisse eines Portals: Der geheimnisvolle, mit schimmernden Symbolen versehene Türbogen nahm Gestalt an und es kam ein kalter, scharfer Wind auf, der Isabelle die Haare aus dem Gesicht wehte.

Jocelyn trat als Erste vor und passierte das Portal. Es schien, als würde sie in eine glitzernde Wasserwoge eintauchen: Ein silberner Dunstschleier umhüllte sie und schwächte die Farbe ihrer leuchtend roten Haare ab, während sie hindurchschritt.

Als Nächste folgte Isabelle. Sie war an das magenumdrehende Achterbahngefühl gewöhnt, das mit jeder Nutzung eines Portals verbunden war. Ein tonloses Dröhnen rauschte in ihren Ohren und presste ihr die Luft aus den Lungen. Sie schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als der Wirbelwind sie freigab und sie in hartem Gestrüpp landete. Rasch rappelte sie sich auf, klopfte sich vertrocknetes Gras von den Knien und sah dann, dass Jocelyn sie anschaute. Clarys Mutter öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, schloss ihn jedoch wieder, als Alec neben Isabelle ins Gebüsch fiel und kurz darauf Magnus, während sich das schimmernde, schwach sichtbare Portal hinter ihm schloss.

Selbst der Transport durch das Portal hatte Magnus’ Haaren nichts anhaben können. Stolz zupfte er an einer der stachligen Spitzen. »Sieh dir das mal an«, wandte er sich an Isabelle.

»Magie?«

»Haargel. 3,99 Dollar bei Ricky’s.«

Isabelle rollte nur mit den Augen und machte sich dann mit der neuen Umgebung vertraut. Sie befanden sich auf einer Hügelkuppe, die mit dürrem Gestrüpp und vertrocknetem Gras überwuchert war. Weiter unten standen herbstdunkle Bäume und in der Ferne konnte Isabelle die Konturen der Verrazano-Narrows Bridge unter einem wolkenlosen Himmel erkennen, die Staten Island mit Brooklyn verband. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie die alte Klosteranlage, die sich direkt hinter ihnen aus dem trockenen Laub erhob: ein großes Ziegelsteingebäude, dessen Fenster fast alle zertrümmert oder mit Brettern vernagelt waren. Hier und dort leuchtete ein buntes Graffiti. Truthahngeier, aufgescheucht von der Ankunft der vier, umkreisten den zum Teil eingestürzten Glockenturm.

Verwundert kniff Isabelle die Augen zu Schlitzen und fragte sich, ob das Gebäude wohl mit einem Zauberglanz getarnt war. Falls ja, musste es sich um einen sehr mächtigen Schutz handeln, denn sie konnte nichts außer der verfallenen Klosteranlage erkennen, sosehr sie sich auch anstrengte.

»Das Bauwerk ist nicht mit einem Zauberglanz versehen – es ist genau so, wie du es vor dir siehst«, sagte Jocelyn in dem Moment direkt neben Isabelle und stapfte auf die Abtei zu, wobei ihre schweren Stiefel das verdorrte Gras niederdrückten.

Magnus zögerte kurz, zuckte dann die Achseln und ging ihr nach, dicht gefolgt von Isabelle und Alec. Falls es einmal einen Weg gegeben hatte, war er inzwischen vollständig mit dichtem dunklem, bedrohlich wirkendem Gestrüpp zugewuchert. Als sie sich dem Eingang näherten, bemerkte Isabelle, dass das Gras an manchen Stellen niedergebrannt und mit Pentagrammen und Runenkreisen besprüht war.

»Das Werk von Irdischen«, sagte Magnus und hielt einen Zweig für Isabelle beiseite. »Sie treiben ihre kleinen Spielchen mit der Magie, ohne wirklich zu verstehen, was sie da tun. Häufig fühlen sie sich von kraftvollen Orten – Zentren der Macht – wie diesem hier magisch angezogen, ohne sagen zu können, wieso. Und dann lungern sie eine Weile herum, betrinken sich und besprühen die Mauern mit ihren Zeichen, als könnte man der Magie einen menschlichen Stempel aufdrücken…« Inzwischen hatten sie eine mit Brettern zugenagelte Tür in der Außenmauer der Abtei erreicht. »Da wären wir.«

Angestrengt starrte Isabelle auf die Tür. Auch dieses Mal konnte sie auf den ersten Blick keinen Zauberglanz erkennen, doch als sie sich konzentrierte, kam ein schwacher Schimmer zum Vorschein – wie Sonnenstrahlen, die von einer Wasserfläche reflektiert wurden.

Jocelyn und Magnus tauschten einen Blick, dann wandte Jocelyn sich an Isabelle: »Bist du bereit?«

Als Isabelle nickte, ging Clarys Mutter kurzerhand voraus und verschwand durch die Bretter der Tür.

Erwartungsvoll schaute Magnus Isabelle an, während Alec sich zu ihr vorbeugte und seine Schwester leicht an der Schulter berührte. »Keine Sorge«, meinte er. »Es wird schon gut gehen, Izzy.«

Entschlossen hob Isabelle das Kinn. »Ich weiß«, erwiderte sie und folgte dann Jocelyn.

Erschrocken hielt Clary die Luft an, doch bevor sie etwas erwidern konnte, hörte sie Schritte auf der Treppe und Jace tauchte am anderen Ende des Flurs auf.

Sofort ließ Sebastian sie los, wirbelte sie herum und fuhr ihr mit einem wolfsartigen Lächeln durch die Haare. »Schön, dich wiederzusehen, Schwesterherz.«

Clary war sprachlos – im Gegensatz zu Jace. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber eine schwarze Lederjacke, aber keine Schuhe. Lautlos kam er auf sie zu. »Hast du Clary gerade umarmt?«, fragte er und schaute Sebastian verwundert an.

Sebastian zuckte die Achseln. »Sie ist meine Schwester. Ich freu mich, sie wiederzusehen.«

»Aber du bist nicht gerade der Typ, der andere umarmt«, stellte Jace fest.

»Ich hatte keine Zeit, ein Willkommensgeschenk zu kaufen.«

»Es ist alles in Ordnung«, pflichtete Clary ihrem Bruder mit einer abwiegelnden Handbewegung bei. »Ich bin gestolpert. Und er hat mich aufgefangen… damit ich nicht hinfalle.«

Falls es Sebastian überraschte, dass sie ihn verteidigte, ließ er es sich nicht anmerken. Mit ausdrucksloser Miene sah er zu, wie Clary auf Jace zuging, der sie zur Begrüßung auf die Wange küsste, seine Finger kühl auf ihrer Haut. »Was hast du hier oben gemacht?«, fragte er.

»Ich hab dich gesucht«, erklärte Clary achselzuckend. »Ich bin aufgewacht und konnte dich nirgends finden. Und da dachte ich, du würdest vielleicht noch schlafen.«

»Wie ich sehe, hast du den Kleiderschrank entdeckt.« Sebastian deutete auf Clarys grüne Bluse. »Gefallen dir die Sachen?«

Jace warf ihm einen scharfen Blick zu. »Wir waren kurz draußen, um was fürs Mittagessen einzukaufen«, erklärte er Clary. »Nichts Besonderes. Nur ein bisschen Brot und Käse. Hast du Hunger?«

Wenige Minuten später fand sich Clary an dem großen Glastisch wieder. Anhand der aufgetischten Lebensmittel – Brot, verschiedene italienische Käsesorten, Salami, Prosciutto, Trauben, Feigenkonfitüre und mehrere Flaschen Rotwein – schloss sie, dass sie mit ihrer zweiten Vermutung richtig gelegen hatte: Sie befanden sich in Venedig. Jace saß ihr gegenüber und Sebastian am Kopf des Tischs. Der Anblick erinnerte Clary auf unheimliche Weise an jenen Abend in Renwicks Ruine, als sie Valentin kennengelernt hatte und dieser sich zwischen Jace und sie ans Kopfende des großen Tischs gesetzt, ihnen Wein angeboten und dann eröffnet hatte, sie seien Bruder und Schwester.

Verstohlen warf sie ihrem leiblichen Bruder einen Blick zu und musste dabei an den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter denken, als sie ihn gesehen hatte. Valentin. Aber Sebastian war nicht das exakte Ebenbild ihres gemeinsamen Vaters. Clary hatte Bilder von Valentin gesehen, als er so alt war wie sie jetzt. Die harten Kanten ihres Vaters wirkten in Sebastians Gesicht durch die feinen Züge ihrer Mutter abgemildert; außerdem war er zwar groß, aber nicht so breitschultrig, sondern anmutiger, raubtierartiger. Er besaß Jocelyns hohe Wangenknochen und fein geschwungene Lippen sowie Valentins dunkle Augen und weißblonde Haare.

Im nächsten Moment schaute Sebastian auf, als hätte er ihren Blick gespürt. »Wein?«, fragte er und hob die Flasche.

Clary nickte, obwohl sie den Geschmack von Wein eigentlich noch nie gemocht hatte und seit dem Abend in Renwicks Ruine regelrecht hasste. Sie räusperte sich, während Sebastian ihr Glas füllte, und meinte: »Also… diese Wohnung hier… ist das deine?«

»Sie hat unserem Vater gehört«, erklärte Sebastian und stellte die Flasche ab. »Und sie bewegt sich… von einer Welt in die andere… zwischen unserer und anderen hin und her. Valentin hat sie sowohl als Rückzugsort wie auch als Transportmittel genutzt. Er hat mich ein paarmal mit hierhergenommen und mir gezeigt, wie man hinein- und hinauskommt und wie man damit reist.«

»Die Wohnung hat keine Eingangstür.«

»Doch – wenn man weiß, wo sie ist«, entgegnete Sebastian. »Dad hatte sich ein paar nette Tricks einfallen lassen.«

Clary warf Jace einen Blick zu, doch der schüttelte nur den Kopf: »Mir hat er diese Wohnung nie gezeigt. Ich wusste nicht einmal, dass sie überhaupt existierte.«

»Das Ganze erinnert mich an ein… typisches Junggesellendomizil«, sagte Clary. »Ich hätte nicht gedacht, dass Valentin…«

»Einen Flachbildfernseher besitzt?«, ergänzte Jace grinsend. »Das Gerät empfängt zwar keine TV-Sender, aber man kann damit DVDs abspielen. Und während wir in unserem Landhaus nur einen alten Eisschrank hatten, der mit Elbenlicht betrieben wurde, hat Valentin hier eine ultramoderne Kühl-Gefrier-Kombination einbauen lassen.«

»Die war für Jocelyn«, warf Sebastian ein.

Verwundert schaute Clary auf. »Ach ja?«

»All diese modernen Sachen. Die Geräte. Und die Klamotten. Zum Beispiel die Bluse, die du trägst. Sie waren für unsere Mutter gedacht. Für den Fall, dass sie sich entschließen würde zurückzukehren.« Sebastian schaute sie aus seinen dunklen Augen an.

Plötzlich wurde Clary leicht übel. Das hier ist mein Bruder und wir reden über unsere Eltern, dachte sie mit einem Anfall von Schwindelgefühl. Das Ganze war einfach zu viel und ging zu schnell, um es in so kurzer Zeit verarbeiten zu können. Bisher hatte sie keine Gelegenheit gehabt, sich Sebastian als ihren lebenden, atmenden Bruder vorzustellen. Als sie herausgefunden hatte, wer er wirklich war, da war er bereits tot gewesen.

»Tut mir leid, wenn das für dich irgendwie merkwürdig ist«, meinte Jace entschuldigend und zeigte auf die Bluse. »Wenn du willst, können wir dir andere Sachen kaufen.«

Vorsichtig berührte Clary den Ärmel. Der feine Stoff fühlte sich seidig, teuer an. Tja, das erklärte dann ja wohl, wieso die Kleidungsstücke in ihrer Größe waren und in Farben, die ihr besonders gut standen. Weil sie genau wie ihre Mutter aussah. Clary holte tief Luft. »Ist schon okay«, erwiderte sie. »Aber… was macht ihr eigentlich die ganze Zeit? Einfach nur mit dieser Wohnung herumreisen und…«

»Die Welt sehen?«, ergänzte Jace leichthin. »Es gibt Schlimmeres.«

»Aber das könnt ihr doch nicht bis in alle Ewigkeit machen.«

Sebastian, der bisher kaum etwas gegessen, aber bereits zwei Gläser Wein getrunken hatte, nippte an seinem dritten Glas. Seine Augen funkelten. »Warum nicht?«

»Na ja, weil… weil der Rat euch beide sucht und ihr nicht für immer und ewig davonlaufen und euch irgendwo verstecken könnt…« Clary verstummte, als sie den Blick auffing, den die beiden Jungen miteinander tauschten – einen Blick, den zwei Vertraute wechselten, die ein gemeinsames Geheimnis hatten. Ein Blick, den Jace vor langer Zeit das letzte Mal mit jemand anderem in ihrer Gegenwart getauscht hatte.

»Ist das eine Frage oder eine Feststellung?«, erkundigte sich Sebastian leise und gedehnt.

»Sie hat ein Recht darauf, unsere Pläne zu erfahren«, warf Jace ein. »Sie ist mit hierhergekommen, in dem Wissen, dass sie nicht zurückkann.«

»Das ist nur ein Vertrauensvorschuss«, erwiderte Sebastian und fuhr mit dem Finger über den Rand des Weinglases – eine Geste, die Clary auch bei Valentin beobachtet hatte. »Sie vertraut dir. Weil sie dich liebt. Nur deshalb ist sie hier. Oder etwa nicht?«

»Und was, wenn es so wäre?«, konterte Clary. Vermutlich konnte sie versuchen, irgendeinen anderen Grund zu erfinden, aber Sebastians dunkle Augen musterten sie scharf und sie bezweifelte, dass er ihr glauben würde. »Ich vertraue Jace.«

»Aber mir nicht«, sagte Sebastian.

Clary wählte ihre nächsten Worte mit äußerster Vorsicht: »Wenn Jace dir vertraut, dann will auch ich dir vertrauen. Außerdem bist du mein Bruder. Das zählt schließlich auch.« Die Lüge hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund. »Aber ich kenne dich eben kaum.«

»Dann sollten wir vielleicht ein wenig Zeit miteinander verbringen, damit du mich besser kennenlernst«, meinte Sebastian. »Und dann weihen wir dich in unsere Pläne ein.«

Dann weihen wir dich ein. In unsere Pläne. In Sebastians Vorstellung gab es nur ihn und Jace – aber nicht Jace und Clary.

»Mir gefällt es nicht, sie im Unklaren zu lassen«, protestierte Jace.

»Wir verraten es ihr in einer Woche. Welchen Unterschied macht schon eine Woche?«

Jace warf ihm einen Blick zu. »Vor zwei Wochen warst du noch tot.«

»Na ja, ich habe ja auch nicht zwei Wochen vorgeschlagen«, räumte Sebastian ein. »Das wäre schließlich total irrsinnig.«

Ein zufriedenes Lächeln umspielte Jace’ Mundwinkel und er schaute Clary fragend an.

»Ich bin bereit zu warten, bis ihr mir vertraut«, verkündete sie. Sie wusste, das war die richtige Antwort, auch wenn sie sie hasste. »Ganz gleich, wie lange das dauern wird.«

»Eine Woche«, sagte Jace.

»Eine Woche«, bestätigte Sebastian. »Und ich will, dass sie hier in der Wohnung bleibt. Kein Kontakt zu niemandem. Keine Ausflüge auf eigene Faust.«

Jace lehnte sich zurück. »Was ist, wenn ich dabei bin?«

Sebastian warf ihm unter seinen langen Wimpern einen abschätzenden Blick zu. Er überlegte, wie viel er Jace erlauben durfte, staunte Clary. Wie lang er die Leine lassen sollte, an der er seinen »Bruder« führte. »Okay«, sagte er schließlich herablassend, »solange du bei ihr bist.«

Stumm schaute Clary auf ihr Weinglas. Sie hörte, wie Jace eine Antwort murmelte, konnte ihn dabei aber nicht ansehen. Die Vorstellung, dass jemand anderes Jace eine Erlaubnis erteilte – Jace, der immer nur getan hatte, was er wollte –, diese Vorstellung bereitete ihr Übelkeit. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte Sebastian die Weinflasche über den Schädel gezogen, doch sie wusste, dass das nicht ging. Verletzt man den einen, wird der andere bluten.

»Wie schmeckt der Wein?«, fragte Sebastian mit einem spöttischen Unterton in der Stimme.

Clary leerte das Glas in einem Zug und verschluckte sich fast an dem bitteren Geschmack. »Hervorragend.«

Isabelle fand sich in einer fremdartigen Landschaft wieder – eine ausgedehnte dunkelgrüne Ebene unter einem tief hängenden grauschwarzen Wolkenhimmel. Die junge Schattenjägerin zog ihre Kapuze hoch und schaute sich fasziniert um. Nie zuvor hatte Isabelle einen derart weiten Himmel gesehen. Dasselbe galt für die gewaltige offene Landschaft vor ihr, die wie ein Smaragd moosgrün schimmerte. Als sie einen Schritt machte, erkannte sie, dass es sich tatsächlich um Moos handelte: Es wuchs neben und auf den schwarzen Felsbrocken, die über die anthrazitfarbene Erde verteilt waren.

»Das ist eine Vulkanebene«, erklärte Jocelyn. Sie stand neben Isabelle und der Wind löste mehrere rotgoldene Strähnen aus ihrem sorgfältig festgesteckten Haarknoten. In diesem Moment sah sie Clary so ähnlich, dass es Isabelle schon fast unheimlich war. »Das waren früher mal Lavafelder. Vermutlich zeichnet sich die gesamte Region durch vulkanische Aktivität aus. Bei der Arbeit mit Adamant benötigen die Schwestern für ihre Schmieden unvorstellbar hohe Temperaturen.«

»Man sollte meinen, dass es hier dann etwas wärmer wäre«, murmelte Isabelle.

Jocelyn warf ihr einen amüsierten Blick zu, setzte sich in Bewegung und schlug scheinbar willkürlich eine Richtung ein. »Manchmal bist du deiner Mutter unglaublich ähnlich, das überrascht mich immer wieder, Isabelle«, bemerkte sie.

»Ich betrachte das als ein Kompliment«, erwiderte Isabelle mit leicht zusammengekniffenen Augen – niemand beleidigte ihre Familie!

»Das war auch nicht als Beleidigung gedacht.«

Während Isabelle Clarys Mutter folgte, hielt sie den Blick auf den Horizont gerichtet, wo sich der dunkle Himmel mit dem smaragdgrünen Boden traf. »Wie gut hast du meine Eltern gekannt?«, fragte sie.

Verwundert warf Jocelyn ihr einen Blick zu. »Ziemlich gut, als wir alle noch in Idris lebten. Aber ich habe sie jahrelang nicht gesehen. Bis jetzt.«

»Wart ihr schon befreundet, als sie geheiratet haben?«

Der Weg, den Jocelyn eingeschlagen hatte, führte einen steilen Hang hinauf, daher kam ihre Antwort ein wenig atemlos: »Ja.«

»Waren sie… ineinander verliebt?«

Abrupt blieb Jocelyn stehen und drehte sich dann zu dem Mädchen um. »Isabelle, worum geht’s hier eigentlich wirklich?«

»Um Liebe?«, schlug Isabelle vor, nachdem sie einen Moment überlegt hatte.

»Keine Ahnung, wie du auf die Idee kommst, dass ausgerechnet ich eine Expertin auf diesem Gebiet bin.«

»Na ja, du hast es immerhin geschafft, dass Luke sein ganzes Leben lang auf dich gewartet hat, bis du schließlich einer Heirat zugestimmt hast. Das ist beeindruckend. Ich wünschte, ich besäße auch eine solche Macht über Männer.«

»Die hast du. Und das ist nichts, was man sich wünschen sollte«, sagte Jocelyn und steckte die gelösten Haarsträhnen zurück in den Knoten.

Der Anblick ließ Isabelle leicht zusammenzucken. Denn trotz Jocelyns Ähnlichkeit mit Clary erinnerten sie deren schlanke, elegante Hände mit den geschmeidigen, langen Fingern an Sebastians Hände. Vor ihrem inneren Auge sah Isabelle wieder, wie sie eine dieser Hände abgetrennt hatte, in einem Tal in Idris – ihre Peitsche war durch Haut und Knochen gegangen wie ein Messer durch weiche Butter.

»Deine Eltern sind nicht perfekt, Isabelle, weil niemand perfekt ist. Sie sind komplexe Persönlichkeiten. Und sie haben gerade ein Kind verloren. Falls dieses Gespräch also darum geht, dass dein Vater vorerst in Idris bleibt…«

»Mein Vater hat meine Mutter betrogen«, platzte Isabelle heraus und hätte sich im nächsten Moment am liebsten dafür geohrfeigt. Sie hatte dieses Geheimnis jahrelang gewahrt und es erschien ihr wie ein Verrat, es jetzt Jocelyn zu erzählen.

Doch Jocelyns Gesicht nahm einen weicheren Ausdruck an und ihre Augen waren voller Mitgefühl. »Ich weiß.«

Bestürzt holte Isabelle scharf Luft. »Wissen alle davon?«

Jocelyn schüttelte den Kopf. »Nein. Nur ein paar wenige. Ich… war in einer privilegierten Position, daher weiß ich davon. Mehr kann ich dir nicht sagen.«

»Wer war es?«, fragte Isabelle fordernd. »Mit wem hat er meine Mutter betrogen?«

»Niemand, den du kennst, Isabelle…«

»Du weißt doch gar nicht, wen ich kenne und wen nicht!«, entgegnete Isabelle gereizt. »Und hör endlich auf, meinen Namen auf diese Weise zu sagen… so als wäre ich ein kleines Kind.«

»Es steht mir nicht zu, es dir zu erzählen«, erwiderte Jocelyn tonlos und setzte sich wieder in Bewegung.

Isabelle kraxelte ihr hastig hinterher, obwohl der Weg nun noch steiler anstieg – eine grüne Wand vor einem stürmischen Himmel. »Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren. Schließlich geht es um meine Eltern. Und wenn du es mir nicht verrätst, dann werde ich…« Sie verstummte abrupt und schnappte nach Luft.

Sie hatten die Kuppe des Hügels erreicht – vor ihnen erhob sich urplötzlich eine Festung aus dem Boden wie eine rasch erblühende Blüte. Die Anlage war vollständig aus silberweißem Adamant errichtet, auf dem sich der verhangene Himmel spiegelte. Hohe Türme mit Spitzen aus Elektrum ragten bis in die Wolken hinauf und die ganze Burg war von einer massiven, ebenfalls aus Adamant gefertigten Mauer umgeben, in der sich nur ein einziges Tor befand: zwei gewaltige, in die Erde gerammte Klingen, die einander kreuzten und wie eine gigantischen Schere aussahen.

»Die Adamant-Zitadelle«, sagte Jocelyn.

»Danke. Darauf war ich selbst auch schon gekommen«, fauchte Isabelle.

Jocelyn schnaubte – ein Geräusch, das Isabelle nur zu gut von ihren eigenen Eltern kannte und das garantiert »Teenager« in der Elternsprache bedeutete. Dann machte Jocelyn sich daran, den Hügel hinabzusteigen.

Von der ganzen Kletterei genervt, setzte Isabelle sich vor Clarys Mutter und marschierte los. Sie war größer als Jocelyn und hatte längere Beine und sah nicht ein, warum sie auf sie warten sollte, wenn diese weiterhin darauf bestand, sie wie ein kleines Kind zu behandeln. Wütend stapfte die junge Schattenjägerin den Hang hinunter, zerquetschte dabei das Moos unter ihren schweren Stiefeln, bis sie das scherenartige Tor erreichte, hindurchging…

Und erstarrte. Sie stand auf einer schmalen Felsnase. Vor ihr öffnete sich eine tiefe Schlucht, an deren Grund ein Fluss aus rotgoldener Lava brodelte und die Festung vollständig umschloss. Auf der anderen Seite der Schlucht – für einen Sprung viel zu weit entfernt, selbst für Schattenjäger – befand sich der einzig erkennbare Zugang zur Festung: eine geschlossene Zugbrücke.

»Manche Dinge sind nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheinen«, bemerkte Jocelyn hinter ihr.

Erschrocken zuckte Isabelle zusammen, dann funkelte sie Clarys Mutter an. »Das ist echt nicht der geeignete Ort, um sich an andere heranzuschleichen.«

Doch Jocelyn verschränkte nur die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue. »Hodge hat dir doch sicher beigebracht, wie man sich der Adamant-Zitadelle richtig nähert«, sagte sie. »Schließlich steht sie allen Schattenjägerinnen offen, die gute Beziehungen zum Rat unterhalten.«

»Selbstverständlich hat er das«, erwiderte Isabelle hochmütig, zermarterte sich insgeheim aber das Hirn, bis sie sich wieder erinnerte. Nur diejenigen, in deren Adern das Blut der Nephilim fließt… Sie griff sich in die Haare und zog eines der metallenen Essstäbchen heraus. Als sie dessen Boden drehte, klickte es und ein schmaler Dolch mit einer Tapferkeitsrune auf der Klinge kam zum Vorschein.

Entschlossen hob Isabelle die Hände über die Schlucht. »Ignis aurum probat«, intonierte sie und schnitt sich mit dem Dolch die linke Handfläche auf. Ein kurzer, brennender Schmerz schoss durch ihren Arm; dann quoll Blut aus der Wunde, ein rubinroter Strom, der in die tiefe Schlucht tropfte.

Plötzlich blitzte ein blaues Licht auf, gefolgt von einem lauten Quietschen: Die Zugbrücke senkte sich langsam herab.

Mit einem Lächeln wischte Isabelle die Klinge an ihrer Kampfmontur ab. Eine weitere Drehbewegung verwandelte den Dolch in ein dünnes Metallstäbchen zurück, das sie sich wieder ins Haar steckte.

»Weißt du auch, was das bedeutet?«, fragte Jocelyn, die Augen auf die herabgleitende Brücke geheftet.

»Was?«

»Das, was du gerade gesagt hast. Das Motto der Eisernen Schwestern.«

Die Zugbrücke hatte sich fast vollständig gesenkt. »Es bedeutet ›Gold prüft man im Feuer‹.«

»Richtig«, bestätigte Jocelyn. »Aber dabei geht es nicht nur ums Schmieden oder Metallbearbeitung. Diese Worte bedeuten auch, dass Widrigkeiten die Charakterstärke eines Menschen prüfen. In schwierigen Zeiten, in Zeiten der Not und Dunkelheit zeigt sich, wer ein leuchtendes Vorbild sein kann.«

»Ach, wirklich?«, meinte Izzy. »Dann will ich dir mal was sagen: Ich hab die schwierigen, dunklen Zeiten gründlich satt. Vielleicht will ich ja gar nicht leuchten.«

Mit einem lauten Dröhnen krachte die Zugbrücke vor ihren Füßen auf den Felsvorsprung. »Wenn du auch nur ein bisschen von deiner Mutter hast«, erwiderte Jocelyn, »bleibt dir gar nichts anderes übrig.«

9 Die Eisernen Schwestern

Alec hob den Elbenlichtstein hoch über seinen Kopf, sodass die leuchtend hellen Strahlen zwischen seinen Fingern hindurchschienen und mal diesen und mal jenen Bereich der ehemaligen U-Bahn-Station City Hall ausleuchteten. Als eine Maus quiekend über den staubigen Bahnsteig huschte, zuckte er erschrocken zusammen. Er war zwar ein Schattenjäger und hatte sich schon an einigen dunklen Orten herumgetrieben, aber diese stille, verlassene Haltestelle hatte etwas an sich, das ihn frösteln ließ.

Vielleicht spürte Alec aber auch nur den kalten Hauch seiner Treulosigkeit – denn er hatte im selben Moment, in dem Magnus aufgebrochen war, ebenfalls seinen Wachposten auf Staten Island verlassen und die nächste Fähre genommen. Er hatte nicht lange darüber nachgedacht, sondern einfach gehandelt, ganz automatisch. Wenn er sich beeilte, war er bestimmt wieder da, bevor Isabelle und Jocelyn von den Eisernen Schwestern zurückkehrten und ehe irgendjemand seine Abwesenheit bemerken konnte.

»Camille!«, rief Alec laut. »Camille Belcourt!« In der Ferne hörte er ein helles Lachen, das von den Wänden der Haltestelle widerhallte. Und dann stand sie urplötzlich am oberen Ende der Treppe, eine Silhouette im grellen Schein des Elbenlichts. »Alexander Lightwood«, sagte sie. »Komm doch herauf.« Dann verschwand sie.

Alec folgte den tanzenden Lichtstrahlen seines Elbensteins die Stufen hinauf und fand Camille dort wieder, wo sie ihn auch bei seinem ersten Besuch empfangen hatte – in der Vorhalle der U-Bahn-Station. Sie hatte sich in ein langes, tailliertes Samtkleid aus einer längst vergangenen Epoche gehüllt und trug die weißblonden Haare hochgesteckt, während ihre Lippen dunkelrot schimmerten. Alec ging davon aus, dass sie wohl sehr schön sein musste, obwohl er nicht gerade ein Kenner auf dem Gebiet weiblicher Reize war. Außerdem trug die Tatsache, dass er sie hasste, auch nicht unbedingt positiv zu seinem Urteilsvermögen bei. »Was soll diese Kostümierung?«, fragte er fordernd.

Camille lächelte. Ihre Haut war glatt und makellos weiß, ohne dunkle Linien – offensichtlich hatte sie erst vor Kurzem Blut getrunken. »Ein Maskenball in der Innenstadt. Ich habe hervorragend gespeist. Aber warum bist du hier, Alexander? Dürstet es dich nach einem guten Gespräch?«

Wenn er Jace wäre, überlegte Alec, dann hätte er jetzt eine passende Antwort parat, irgendein cleveres Wortspiel oder eine geschickt verklausulierte Beleidigung. Aber er war nun mal nicht Jace. Alec biss sich auf die Lippe und erwiderte lediglich: »Du hast mir gesagt, ich solle zurückkommen, wenn ich an deinem Angebot interessiert wäre.«

Lasziv fuhr die Vampirdame mit der Hand über den Rücken des Diwans, dem einzigen Möbelstück im Raum. »Und nun bist du zu dem Schluss gekommen, dass es dich interessiert.«

Alec nickte.

Camille lachte leise in sich hinein. »Aber du verstehst schon, was du da verlangst?«

Alecs Herz raste und er fragte sich, ob sie es hören konnte. »Du hast gesagt, du könntest Magnus sterblich machen. Damit er so ist wie ich.«

»Ja, das habe ich gesagt«, bestätigte Camille, deren volle Lippen sich dann aber zu einem dünnen Strich zusammenpressten. »Allerdings muss ich gestehen, dass ich gewisse Zweifel an deinem Interesse gehegt habe. Schließlich bist du recht überstürzt aufgebrochen.«

»Lass die Spielchen«, sagte Alec. »So sehr interessiert mich dein Angebot nun auch wieder nicht.«

»Das ist eine Lüge«, erwiderte Camille beiläufig. »Denn sonst wärst du wohl kaum hier.« Langsam bewegte sie sich um den Diwan herum auf Alec zu und studierte sein Gesicht. »Aus der Nähe siehst du Will gar nicht so ähnlich, wie ich zunächst angenommen hatte«, verkündete sie. »Du hast zwar dieselbe Haarfarbe und denselben hellen Teint, aber eine andere Gesichtsform… dein Kinn erscheint mir etwas weicher, weniger ausgeprägt…«

»Halt den Mund«, fauchte Alec. Okay, das war jetzt zwar nicht so geistreich wie Jace, aber besser als gar nichts. »Ich will nichts mehr von Will hören.«

»Wie du wünschst.« Camille räkelte sich verführerisch wie eine Katze. »Vor vielen, vielen Jahren, als Magnus und ich noch ein Liebespaar waren, lagen wir gemeinsam im Bett… nach einer recht leidenschaftlichen Nacht.« Sie sah, wie Alec zusammenzuckte, und lächelte. »Und du weißt ja, wie sich das beim Bettgeflüster so ergibt: Man offenbart sich gegenseitig seine Schwächen, seine Geheimnisse. Magnus berichtete mir, es existiere da eine Beschwörungsformel, die einem Hexenwesen seine Unsterblichkeit rauben könnte.«

»Und warum finde ich dann nicht einfach heraus, um welche Formel es sich dabei handelt, und wende sie selbst an?«, konterte Alec mit gehobener, brüchiger Stimme. »Wozu brauch ich dich dann noch?«

»Erstens brauchst du mich, weil du ein Schattenjäger bist und keine Ahnung hast, wie man eine Beschwörungsformel anwendet«, entgegnete Camille ruhig. »Und zweitens: Wenn du Magnus die Unsterblichkeit nimmst, weiß er sofort, dass du es gewesen bist. Vollziehe ich jedoch das Ritual, dann wird er annehmen, ich hätte aus Rache gehandelt. Aus reiner Boshaftigkeit. Und mich kümmert es nicht, was Magnus denkt. Aber dich schon.«

Alec musterte sie mit festem Blick. »Das würdest du für mich tun, als eine Art Gefälligkeit?«

Camille lachte – ihr typisches, glockenhelles Lachen. »Selbstverständlich nicht«, beschied sie ihm. »Du erweist erst mir eine Gefälligkeit und ich dann dir. Auf diese Weise werden solche Angelegenheiten geregelt.«

Alecs Finger schlossen sich so fest um den Elbenlichtstein, dass die Kanten tief in seine Hand schnitten. »Und was erwartest du von mir?«

»Ach, nur eine Kleinigkeit«, säuselte Camille. »Ich möchte lediglich, dass du Raphael Santiago tötest.«

Die Brücke, die über die tiefe Schlucht um die Adamant-Zitadelle führte, war mit Klingen gespickt, welche in unregelmäßigen Abständen mit der Spitze nach oben aus dem Boden ragten. Daher ließ sich die Brücke nur mit äußerster Vorsicht überqueren. Isabelle bereitete diese Aufgabe kaum Probleme, aber sie war überrascht, wie leicht und geschickt sich auch Jocelyn ihren Weg suchte. Sie war immerhin seit fünfzehn Jahren nicht mehr als Schattenjägerin aktiv gewesen.

Als Isabelle schließlich das andere Ende der Brücke erreichte, war ihre Dexteritas-Rune fast vollständig in ihrer Haut verschwunden. Nur noch ein blasser Fleck zeugte von dem Runenmal, das zusätzliche Geschicklichkeit verlieh. Jocelyn befand sich nur einen Schritt hinter ihr, und so nervig Isabelle Clarys Mutter auch finden mochte, in diesem Moment war sie einfach nur froh, als Jocelyn ihre Hand hob und der Elbenlichtstein helle Strahlen zwischen ihren Fingern hindurchsandte und den Bereich vor ihnen beleuchtete.

Die Mauern bestanden aus silberweißem Adamant und schienen von innen heraus ein schwaches Licht auszustrahlen. Auch der Boden war aus Dämonenstein gefertigt und zeigte in der Mitte einen schwarzen Kreis. Im Inneren dieses Kreises leuchtete das Symbol der Eisernen Schwestern – ein Herz, durchbohrt von einer Klinge.

Wispernde Stimmen veranlassten Isabelle, sich vom Anblick dieses Herzens loszureißen und aufzuschauen. In einer der glatten weißen Mauern war ein Schatten aufgetaucht, der näher kam und zunehmend klarer wurde. Plötzlich schien ein Abschnitt der Wand nach hinten zu gleiten und eine Frau trat hervor.

Die Frau trug ein langes, weites und weiß schimmerndes Gewand, das an den Handgelenken und unter der Brust mit silberweißen Schnüren – Dämonendraht – zusammengebunden war. Ihr Gesicht zeigte keine einzige Falte und wirkte dennoch uralt, sodass sich ihr Alter unmöglich schätzen ließ. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel. Die obere Gesichtshälfte war mit einer kunstvoll verschnörkelten Tätowierung versehen, die an eine Halbmaske erinnerte und ihre Augen umrandete – Augen von der Farbe orangegelber Flammen.

»Wer wünscht die Eisernen Schwestern zu sprechen?«, fragte sie. »Nennt eure Namen.«

Isabelle schaute zu Jocelyn, die ihr jedoch mit einer Geste zu verstehen gab, sie solle als Erste reden. Also räusperte sich die junge Schattenjägerin kurz und setzte dann an: »Ich bin Isabelle Lightwood und das hier ist Jocelyn Fr… Fairchild. Wir sind hierhergekommen, um eure Hilfe zu erbitten.«

»Jocelyn Morgenstern«, berichtigte die Frau. »Geborene Fairchild – so leicht kannst du Valentins Spuren nicht aus deiner Vergangenheit entfernen. Hattest du der Nephilimgemeinschaft nicht den Rücken gekehrt?«

»Das ist richtig«, bestätigte Jocelyn. »Ich bin verstoßen. Aber Isabelle ist eine Tochter der Nephilim. Ihre Mutter…«

»… leitet das New Yorker Institut«, ergänzte die Frau. »Wir mögen hier zwar sehr abgeschieden leben, haben aber durchaus unsere Informationsquellen. Mein Name ist Schwester Cleophas und ich bin eine Schöpferin. Ich forme den Adamant, den die anderen Schwestern bearbeiten. An die Peitsche, die du so geschickt um dein Handgelenk gewickelt hast, kann ich mich noch gut erinnern.« Sie zeigte auf Isabelle. »Das Gleiche gilt für die Kugel an deiner Kehle…«

»Wenn ihr Schwestern so vieles wisst«, hob Jocelyn an, während Isabelle verstohlen nach dem Rubinanhänger an ihrem Hals tastete, »wisst ihr dann auch, warum wir hier sind? Weshalb wir euch aufsuchen?«

Schwester Cleophas senkte die Lider und lächelte langsam. »Im Gegensatz zu unseren stummen Brüdern können wir keine Gedanken lesen. Deswegen vertrauen wir Schwestern auf ein Netzwerk aus Informationen, von denen die meisten sehr zuverlässig sind. Ich nehme an, euer Besuch hängt mit dieser Geschichte zusammen, in die Jace Lightwood – dessen Schwester immerhin hier vor mir steht – und dein Sohn Jonathan Morgenstern verwickelt sind?«

»Wir befinden uns in einer schwierigen Situation«, erklärte Jocelyn. »Jonathan Morgenstern schmiedet ein Komplott gegen die Nephilim, genau wie einst sein Vater. Der Rat hat einen Hinrichtungsbefehl gegen ihn erlassen. Dagegen wird Jace – Jonathan Lightwood – von seiner Familie, die sich nichts zu Schulden hat kommen lassen, und auch von meiner Tochter sehr geliebt. Das Problem ist nun, dass Jace und Jonathan aneinander gebunden sind, und zwar durch sehr alte Blutmagie.«

»Blutmagie? Welche Art von Blutmagie?«

Jocelyn holte Magnus’ Aufzeichnungen aus ihrer Jackentasche und reichte sie der Eisernen Schwester. Diese nahm sie entgegen und studierte die Zettel intensiv mit ihren feurig glühenden Augen. Dabei stellte Isabelle überrascht fest, dass Cleophas sehr lange Finger besaß – keine eleganten, sondern grotesk lange Glieder, so als hätte man sie mit Gewalt gedehnt. Ihre Hände erinnerten an Albinospinnen und ihre Fingernägel waren pfeilspitz und mit Elektrum verstärkt.

Schließlich schüttelte Cleophas den Kopf. »Wir Schwestern beschäftigen uns nur selten mit Blutmagie.« Das Feuer in ihren Augen schien kurz aufzuflackern und dann wieder zu verblassen und eine Sekunde später tauchte ein weiterer Schatten hinter der milchglasartigen Oberfläche der Adamant-Wand auf.

Dieses Mal schaute Isabelle genau zu, wie eine zweite Schwester die Mauer passierte: Es schien, als würde jemand aus einer dichten weißen Dunstwolke hervortreten.

»Schwester Dolores«, sagte Cleophas und reichte ihr Magnus’ Aufzeichnungen.

Dolores’ Erscheinungsbild ähnelte dem ihrer Mitschwester: dieselbe hochgewachsene, hagere Gestalt, dasselbe weiße Kleid, dieselben langen Haare. Diese waren allerdings fast vollständig ergraut und zu zwei Zöpfen geflochten, die von Golddraht zusammengehalten wurden. Trotz der grauen Haare wirkte ihr Gesicht jedoch faltenfrei und ihre feuerfarbenen Augen strahlten hell.

»Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?«, fragte Cleophas.

Dolores warf einen flüchtigen Blick auf die Aufzeichnungen. »Eine Verbrüderungsformel«, sagte sie. »Unserer eigenen Parabatai-Zeremonie nicht unähnlich, allerdings handelt es sich hier um einen Dämonenpakt.«

»Und was genau ist daran dämonisch?«, fragte Isabelle fordernd. »Wenn die Parabatai-Formel harmlos ist…«

»Ist sie das denn?«, bemerkte Cleophas spöttisch, doch ein scharfer Blick von ihrer Mitschwester ließ sie verstummen.

»Das Parabatai-Ritual bindet zwei Individuen, lässt ihnen aber ihren freien Willen«, erklärte Dolores. »Diese Formel hier bindet ebenfalls zwei Personen, wobei die eine der anderen jedoch untergeordnet ist. Das, was die Primärperson der beiden glaubt, wird auch die Sekundärperson glauben; das, was der Erste will, wird auch der Zweite wollen. Das Ritual nimmt dem untergeordneten Partner den freien Willen und genau deswegen ist das Ganze ein Dämonenpakt. Denn unsere Willensfreiheit ist das, was uns zu Geschöpfen des Himmels macht.«

»Dieser Pakt scheint auch zu bedeuten: Wenn einer von beiden verwundet wird, blutet der andere ebenfalls«, sagte Jocelyn. »Müssen wir also davon ausgehen, dass das auch für den Tod gilt?«

»Ja. Keiner der beiden wird den Tod des anderen überleben. Auch dies ist nicht Bestandteil unseres Parabatai-Rituals, weil es zu grausam wäre.«

»Unsere Frage an die Schwesternschaft lautet nun: Gibt es irgendeine Waffe oder könntet ihr möglicherweise eine schmieden, die den einen der beiden verletzen kann, ohne dem anderen Schaden zuzufügen? Oder eine Waffe, die sie vielleicht trennen könnte?«, fragte Jocelyn.

Erneut schaute Dolores auf Magnus’ Aufzeichnungen und reichte sie dann Jocelyn zurück. Genau wie die Hände ihrer Mitschwester waren auch ihre Finger lang und dünn und weiß wie Seide. »Keine Waffe, die wir geschmiedet haben oder jemals schmieden könnten, ist dazu fähig.«

Isabelles Hände ballten sich zu Fäusten, bis sich die Nägel in ihre Handflächen gruben. »Soll das heißen, es gibt nichts, was uns helfen könnte?«

»Nichts in dieser Welt«, sagte Dolores. »Eine im Himmel oder in der Hölle geschmiedete Klinge wäre möglicherweise dazu in der Lage. Zum Beispiel das Flammenschwert des Erzengels Michael, mit dem Josua in der Schlacht um Jericho gekämpft hat, denn es ist von Himmlischem Feuer erfüllt. Und dann gibt es da noch Klingen, die in der Finsternis des Höllenschlunds geschmiedet wurden – auch sie könnten euch vielleicht helfen. Allerdings wüsste ich nicht, wie man diese in seinen Besitz bringen sollte.«

»Und wenn wir es wüssten, würde das Gesetz uns untersagen, es euch zu verraten«, fügte Cleophas schroff hinzu. »Außerdem ist euch doch sicher bewusst, dass wir den Rat über euren Besuch in Kenntnis setzen müssen…«

»Was ist mit Josuas Schwert?«, unterbrach Isabelle die Eiserne Schwester. »Kommt ihr da irgendwie dran? Oder wir vielleicht?«

»Nur ein Engel kann euch dieses Schwert überreichen«, erwiderte Dolores. »Und wer einen Engel herbeiruft, wird von Himmlischem Feuer vernichtet.«

»Aber Raziel…«, setzte Isabelle an.

Cleophas presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. »Raziel hat uns die Engelsinsignien hinterlassen, damit wir ihn in der Stunde der höchsten Not anrufen können. Aber diese einzige Chance wurde vertan, als Valentin ihn heraufbeschwor. Wir werden ihn nie wieder veranlassen können, uns beizustehen. Es war ein Verbrechen, die Insignien auf diese Weise zu nutzen. Und es gibt nur einen einzigen Grund, warum Clarissa Morgenstern vor einer Strafe verschont bleibt: Nicht sie, sondern ihr Vater hat Raziel herbeigerufen.«

»Mein Mann hat auch noch einen anderen Engel heraufbeschworen«, sagte Jocelyn leise. »Den Engel Ithuriel. Er hat ihn viele Jahre gefangen gehalten.«

Beide Schwestern zögerten einen Moment, dann erwiderte Dolores: »Einen Engel einzuschließen, ist das kälteste aller Verbrechen. Der Rat würde dem niemals zustimmen. Und selbst wenn es euch gelingen würde, einen Engel herbeizurufen, so könntet ihr ihn niemals zwingen, eure Befehle auszuführen. Dafür existiert keine Beschwörungsformel. Ihr könnt keinen Engel dazu bringen, euch das Schwert des Erzengels zu überreichen; möglicherweise kann man einem Engel etwas mit Gewalt nehmen, doch es gibt kein größeres Verbrechen. Und es wäre besser, euer Jonathan stirbt, als dass ein Engel so entehrt wird.«

Als Isabelle, deren Wut von Minute zu Minute gestiegen war, dies hörte, explodierte sie förmlich: »Genau das ist das Problem mit euch – mit euch allen! Was auch immer man mit euch anstellt, um euch von Schattenjägern zu Eisernen Schwestern oder Stillen Brüdern zu machen, das Ganze raubt euch sämtliche Gefühle. Wir mögen zwar Engelsblut in uns haben, aber wir besitzen auch eine menschliche Seite. Ihr versteht einfach nicht, was Liebe ist oder was Menschen aus Liebe oder für ihre Familie tun…«

Die Flamme in Dolores’ orangegelben Augen flackerte hell auf. »Ich hatte einst eine Familie«, entgegnete sie. »Einen Mann und Kinder. Alle wurden von Dämonen ermordet. Ich habe alles verloren. Aber ich besaß schon immer handwerkliches Geschick, die Begabung, Dinge mit meinen Händen zu gestalten, also schloss ich mich den Eisernen Schwestern an. Den inneren Frieden, den ich hier empfinde, hätte ich sonst nirgendwo gefunden. Aus diesem Grund wählte ich den Namen Dolores, ›die Schmerzensreiche‹. Also unterstell uns nicht, wir wüssten nichts über Qualen oder menschliche Gefühle.«

»Ihr wisst überhaupt nichts«, fauchte Isabelle. »Ihr seid so hart und kalt wie Dämonenstein. Kein Wunder, dass ihr euch damit umgebt.«

»Ignis aurum probat Gold prüft man im Feuer, Isabelle Lightwood«, entgegnete Cleophas.

»Ach, haltet doch den Mund!«, knurrte Isabelle. »Ihr habt uns echt geholfen, alle beide!« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück, wobei sie den Klingen, die die Brücke in eine Todesfalle verwandelten, kaum Beachtung schenkte – ihr jahrelanges Training ermöglichte es ihr, mit traumwandlerischer Sicherheit zurück auf die andere Seite zu gelangen. Wütend stapfte sie weiter, und erst als sie das Tor passiert hatte, brach sie zusammen. Unter dem weiten grauen Himmel und zwischen Moos und Vulkangestein fiel sie auf die Knie und begann, stumm zu schluchzen, allerdings ohne jede Träne.

Eine gefühlte Ewigkeit später hörte sie leise Schritte. Dann kniete Jocelyn sich neben sie und nahm sie in die Arme – und seltsamerweise machte es Isabelle nichts aus. Obwohl sie Jocelyn nie besonders gemocht hatte, strahlte diese Umarmung etwas derart allumfassend Mütterliches aus, dass Isabelle sich an sie lehnte, fast gegen ihren eigenen Willen.

»Möchtest du wissen, was die Schwestern noch gesagt haben, nachdem du weg warst?«, fragte Jocelyn, als sich Isabelle etwas beruhigt hatte.

»Garantiert irgendwas in der Art, dass ich eine Schande für alle Schattenjäger bin, und so weiter und so fort…«

»Cleophas sagte wörtlich: Du würdest eine hervorragende Eiserne Schwester abgeben und falls du dich jemals dafür interessieren solltest, bräuchtest du ihnen nur Bescheid zu geben.« Jocelyn strich Isabelle sanft über das Haar.

Trotz allem brachte Isabelle ein ersticktes Lachen zustande. Dann schaute sie Jocelyn an. »Verrat es mir«, sagte sie.

Jocelyns Hand hielt in der Bewegung inne. »Was soll ich dir verraten?«

»Wer es war. Mit wem mein Vater eine Affäre hatte. Du verstehst das nicht: Jedes Mal, wenn ich eine Frau im Alter meiner Mutter sehe, frage ich mich, ob sie vielleicht diejenige war. Lukes Schwester. Die Konsulin. Du…«

Jocelyn seufzte. »Annamarie Highsmith. Sie starb während Valentins Angriff auf Alicante. Ich bezweifle, dass du sie je kennengelernt hast.«

Isabelle öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Schließlich meinte sie: »Ich hatte noch nicht mal ihren Namen gehört.«

»Gut.« Vorsichtig schob Jocelyn eine von Isabelles Haarsträhnen wieder hinter ihr Ohr. »Und fühlst du dich nun besser, jetzt, da du es weißt?«

»Klar«, schwindelte Isabelle und starrte zu Boden. »Ich fühl mich viel besser.«

Nach dem Mittagessen hatte Clary behauptet, sie sei müde, und sich in das Zimmer im Erdgeschoss zurückgezogen. Hinter sorgfältig verschlossener Tür hatte sie erneut versucht, Simon zu erreichen, obwohl ihr durchaus bewusst war, dass er aufgrund des Zeitunterschieds – er in New York und sie in Venedig – sehr wahrscheinlich gerade schlief. Zumindest hoffte Clary inständig, dass er schlief: Diese Erklärung war wesentlich angenehmer als der Gedanke, dass die Ringe vielleicht nicht funktionierten.

Clary war gerade mal eine halbe Stunde in ihrem Zimmer, als es an der Tür klopfte. Sie rief »herein«, lehnte sich zurück und stützte sich dabei so auf ihre Hände, dass der Ring an ihrem Finger nicht zu sehen war.

Die Tür schwang langsam auf. Jace stand im Rahmen und schaute herein. Clary erinnerte sich an eine schwüle Nacht im Hochsommer, ein Klopfen an ihrer Tür. Jace. Frisch geduscht, in Jeans und grauem T-Shirt, seine noch feuchten Locken umgaben sein Gesicht wie ein goldener Heiligenschein. Die Verletzungen und blauen Flecken waren bereits zu einem hellen Grau verblasst und er hielt beide Hände hinter dem Rücken versteckt.

»Hi«, sagte er nun. Diesmal waren seine Hände deutlich zu sehen und er trug ein bequemes Sweatshirt, dessen Bronzeton die Farbe seiner Augen besonders gut zur Geltung brachte. Kein einziger Bluterguss verunstaltete sein Gesicht und auch die tiefen Schatten unter seinen Augen, an deren Anblick Clary sich fast schon gewöhnt hatte, waren verschwunden.

Ist er etwa glücklich in diesem Zustand? Wirklich glücklich? Und wenn ja, wovor versuchst du ihn dann zu bewahren? Entschlossen schob Clary die Stimme in ihrem Kopf beiseite und zwang sich zu einem Lächeln. »Was gibt’s?«

Jace grinste – ein freches Grinsen, das dafür sorgte, dass das Blut in Clarys Adern ein klein wenig schneller pulsierte. »Lust auf eine Verabredung?«

Da sie auf diese Frage überhaupt nicht vorbereitet war, konnte Clary nur stottern: »Eine was?«

»Eine Verabredung«, wiederholte Jace. »Oft auch ›eine Vereinbarung, an die man sich halten muss‹, aber in diesem Fall ›ein Angebot für einen Abend voll glühend heißer Leidenschaft und Romantik mit meiner Wenigkeit‹.«

»Wirklich?« Clary war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. »Glühend heiß?«

»Hey, wir reden hier von mir«, erwiderte Jace. »Mein Anblick bei einer Partie Scrabble reicht in der Regel schon aus, um die meisten Frauen in Ohnmacht fallen zu lassen. Und jetzt stell dir nur mal vor, wie das erst wird, wenn ich mir tatsächlich Mühe gebe.«

Zögernd setzte Clary sich auf und schaute an sich herab. Jeans, grünes Seidentop. Sie musste unwillkürlich an die Kosmetikartikel in diesem schreinartigen Schlafzimmer denken und wünschte, sie hätte etwas Lipgloss dabei.

Doch Jace streckte ihr seine Hand entgegen und meinte: »Du siehst klasse aus. Lass uns gehen.«

Clary nahm seine Hand und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. »Ich weiß nicht so recht…«

»Ach, komm schon.« In seiner Stimme schwang jener spöttische, verführerische Ton mit, an den sie sich noch gut erinnerte: An jenem Abend hatten sie sich zum ersten Mal etwas besser kennengelernt… damals, als Jace sie zum Gewächshaus im Dachgeschoss des New Yorker Instituts geführt hatte, um ihr die Mitternachtsblume zu zeigen. »Wir sind in Italien. In Venedig. Eine der schönsten Städte der Welt. Es wär doch eine Schande, sie nicht wenigstens ein bisschen zu erkunden, oder?«, fuhr er fort und zog Clary mit einem kleinen Ruck an sich, sodass sie gegen seine Brust fiel. Der Stoff seines Sweatshirts fühlte sich weich an und er roch vertraut. Clarys Herz machte einen Satz. »Aber wir könnten natürlich auch hierbleiben«, fügte er ein wenig atemlos hinzu.

»Damit ich in Ohnmacht fallen kann, während du mit einem dreifachen Wortwert haushoch punktest?«, spottete Clary und löste sich von ihm. »Und erspar mir deine Witze zum Thema ›Punkten‹.«

»Verdammt, Weib, du kannst meine Gedanken lesen«, grinste Jace. »Gibt es denn kein einziges schmutziges Wortspiel, das du nicht vorhersiehst?«

»Das ist meine besondere magische Begabung: Ich kann es dir ansehen, wenn du an etwas Schmutziges denkst.«

»Also in fünfundneunzig Prozent aller Fälle.«

Clary lehnte den Kopf in den Nacken und schaute zu ihm hoch. »Fünfundneunzig Prozent? Und woran denkst du während der restlichen fünf Prozent?«

»Ach, an das Übliche – du weißt schon: Dämonen, die ich töten könnte, Runen, die ich noch lernen muss, Leute, die mich vor Kurzem genervt haben, Leute, die mich vor längerer Zeit genervt haben, Enten.«

»Enten?«

Doch Jace fegte Clarys Frage beiseite, nahm sie an den Schultern und schob sie sanft aus dem Zimmer, bis sie beide auf die Küchenwand schauten. Dann meinte er: »Okay. Und jetzt sieh mal genau hin.«

Einen Moment später schienen die Wände des Raums zu verschwinden – Clary hatte keine Ahnung, wie das funktionierte – und sie traten auf eine Kopfsteingasse hinaus. Überrascht schnappte sie nach Luft, drehte sich um und sah nur das durchgehende Mauerwerk eines alten Natursteingebäudes, dessen Fenster hoch über ihnen lagen. Sie standen an einem Kanal, der von mehreren Reihen ähnlicher Häuser gesäumt war. Als Clary den Kopf reckte und nach links schaute, konnte sie in der Ferne erkennen, dass sich der Kanal zu einer breiteren Wasserstraße öffnete, die von imposanten Gebäuden flankiert war. Und über all dem lag der Geruch von Wasser und feuchtem Stein.

»Cool, oder?«, sagte Jace stolz.

Clary wandte sich ihm wieder zu und schaute ihn an. »Enten?«, fragte sie erneut.

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ich hasse Enten. Keine Ahnung, wieso. Hab sie einfach schon immer gehasst.«

Es war noch früh am Morgen, als Maia und Jordan am Praetor House, dem Hauptsitz der Praetor Lupus, eintrafen. Jordans Transporter rumpelte über die lange, helle Auffahrt, die sich zwischen gepflegten Rasenflächen hindurchwand und zu einem imposanten Gebäude führte, das sich wie der Bug eines Ozeanriesen in der Ferne erhob. Dahinter konnte Maia eine Reihe von Bäumen erkennen und dahinter wiederum die blauen Fluten des Sound.

»Hast du etwa hier deine Ausbildung absolviert?«, fragte sie. »Dieser Ort ist einfach himmlisch.«

»Lass dich nicht täuschen«, erwiderte Jordan lächelnd. »Das hier ist ein Trainingslager, mit der Betonung auf ›Training‹.«

Maia warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Jordan lächelte noch immer. Im Grunde hatte er die ganze Zeit, seit sie ihn im Morgengrauen auf dem Parkplatz am Strand geküsst hatte, ein breites Grinsen im Gesicht. Ein Teil von ihr fühlte sich, als hätte sie eine unsichtbare Macht in ihre Vergangenheit zurückgeworfen – in eine Zeit, in der sie Jordan mehr als alles andere geliebt hatte. Aber ein anderer Teil von ihr fühlte sich vollkommen orientierungslos, als wäre sie in einer unbekannten Landschaft aufgewacht… weit weg von ihrer vertrauten Umgebung, von ihrem gewohnten Alltag und der Geborgenheit ihres Rudels.

Das Ganze war sehr merkwürdig, überlegte sie. Nicht schlecht, einfach nur… merkwürdig.

Jordan brachte den Wagen in der kreisrunden Auffahrt vor dem Haus zum Stehen. Wie Maia nun aus der Nähe erkennen konnte, bestanden dessen Außenmauern aus beigem Sandstein – dieselbe gelbbraune Farbe wie das Fell eines Wolfs. Am oberen Ende einer wuchtigen Steintreppe thronte eine schwarze Doppelflügeltür. Eine große Sonnenuhr in der Mitte der Auffahrt verriet Maia, das es inzwischen sieben Uhr morgens war; am Rand der Uhr erkannte sie die eingravierten Worte: ZÄHL DIE HEITREN STUNDEN NUR. Sie öffnete die Wagentür und sprang aus der Fahrerkabine, als auch schon die Flügel der Haustür aufschwangen und eine laute Stimme rief: »Praetor Kyle!«

Maia und Jordan schauten gleichzeitig hoch. Ein Mann mittleren Alters in einem anthrazitgrauen Anzug stieg die Treppe hinunter; graue Strähnen durchzogen sein blondes Haar. Jordans Miene glättete sich und es wurde unmöglich, sie zu deuten. »Praetor Scott«, begrüßte er den Mann. »Darf ich vorstellen: Das ist Maia Roberts, Mitglied des Garroway-Rudels. Maia, dies ist Praetor Scott. Er leitet die Praetor Lupus, könnte man sagen.«

»Die Scotts stehen dieser Institution seit dem 19. Jahrhundert vor«, erklärte der Mann und warf Maia einen kurzen Blick zu, die daraufhin als Zeichen des Respekts den Kopf leicht neigte. »Jordan, ich muss gestehen, dass wir so schnell nicht mit deiner Rückkehr gerechnet hatten. Die Situation mit dem Vampir in Manhattan, diesem Tageslichtler…«

»Ist unter Kontrolle«, warf Jordan hastig ein. »Aber deswegen sind wir nicht hier. Es geht um etwas ganz anderes.«

Praetor Scott hob fragend die buschigen Augenbrauen. »Jetzt hast du meine Neugier geweckt.«

»Es handelt sich um eine ziemlich dringende Angelegenheit«, sagte Maia. »Luke Garroway, der Anführer unseres Rudels…«

Doch Scott warf Maia einen Blick zu, der sie augenblicklich verstummen ließ. Er mochte zwar keinem Rudel angehören, aber er war ein Alphatier – das ging aus seinem gesamten Verhalten hervor. »Die Praetor bestimmen selbst, welche Angelegenheiten sie als dringend erachten«, teilte er Maia kühl mit und musterte sie aus graugrünen Augen. An seiner Kehle, unter dem Kragen seines Hemds, glitzerte der Bronzeanhänger der Praetor Lupus mit dem Abdruck einer Wolfstatze. »Und wir sind auch kein Hotel, das ungeladenen Gästen offen steht. Jordan hat dich auf gut Glück hierhergebracht, und das weiß er auch. Wäre er nicht einer unserer vielversprechendsten Absolventen, würde ich euch wahrscheinlich beide wieder fortschicken.«

Jordan schob die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans und schaute betreten zu Boden.

Doch einen Augenblick später legte Praetor Scott ihm eine Hand auf die Schulter. »Aber du bist nun mal einer unserer vielversprechendsten Absolventen«, sagte er. »Und du wirkst erschöpft. Ich kann dir ansehen, dass du die ganze Nacht auf den Beinen gewesen bist. Kommt, wir besprechen das Ganze in meinem Büro.«

Scotts Büro lag am Ende eines langen verwinkelten Flurs, der mit eleganten dunklen Holzvertäfelungen versehen war. Durch das Gebäude hallten fröhliche Stimmen und ein Schild mit der Aufschrift »HAUSORDNUNG« hing an der Wand neben dem Treppenhaus.

HAUSORDNUNG

– Kein Gestaltwandeln in den Fluren.

– Kein Heulen.

– Kein Silber.

– Das Tragen von Kleidung ist vorgeschrieben. ZU JEDER TAGES- UND NACHTZEIT.

– Keine Kämpfe. Keine Beißereien.

– Alle Lebensmittel müssen namentlich gekennzeichnet sein, ehe sie in den Gemeinschaftskühlschrank gestellt werden.

Der Duft von frisch zubereitetem Frühstück wehte durch die Gänge und ließ Maias Magen knurren.

Praetor Scott lächelte. »Ich lass uns einen Teller mit ein paar Häppchen kommen, falls ihr Hunger habt«, bemerkte er amüsiert.

»Danke«, murmelte Maia.

Inzwischen hatten sie das Ende des Flurs erreicht und Scott öffnete eine Tür mit der Aufschrift »BÜRO«. Doch im nächsten Augenblick runzelte er die Stirn. »Rufus«, sagte er. »Was machst du denn hier?«

Maia spähte an Scott vorbei. Das Büro war ein großer Raum, in dem ein liebenswertes Durcheinander herrschte. Ein rechteckiges Panoramafenster ging auf eine weitläufige Rasenfläche hinaus, auf der sich mehrere Gruppen hauptsächlich junger Leute in schwarzen Trainingssachen tummelten und offensichtlich Frühsport betrieben. Die Wände des Büros waren von Regalen gesäumt, in denen etliche Bücher zum Thema »Lykanthropie« standen. Die meisten waren in Latein verfasst, aber Maia erkannte das Wort lupus.

Scotts Schreibtisch bestand aus einer schweren Marmorplatte, die auf den Statuen zweier knurrender Wölfe ruhte. Davor standen zwei Stühle. Und auf einem dieser Stühle saß ein großer Mann – ein Werwolf – leicht nach vorn gebeugt und mit verschränkten Händen.

»Praetor«, setzte er mit tiefer, heiserer Stimme an. »Ich hatte gehofft, mit Ihnen über diesen Vorfall in Boston reden zu können.«

»Du meinst den Vorfall, bei dem du deinem dir anvertrauten Schützling das Bein gebrochen hast?«, erwiderte Scott trocken. »Darüber werden wir selbstverständlich noch reden, Rufus, aber nicht jetzt. Im Moment erfordert eine dringendere Angelegenheit meine Aufmerksamkeit.«

»Aber, Praetor…«

»Das wäre dann alles, Rufus«, entgegnete Scott im dominanten Tonfall eines Alphawolfs, dessen Befehlen nicht widersprochen werden durfte. »Denk daran: Dies ist ein Ort zur Resozialisierung. Und dazu gehört auch, dass man lernt, Autoritäten zu respektieren.«

Rufus gab ein unterdrücktes Knurren von sich und erhob sich von seinem Stuhl. Erst in diesem Moment wurde Maia bewusst, wie groß der Werwolf mit dem glatt rasierten Schädel tatsächlich war: Er ragte turmhoch über ihr und sogar über Jordan auf und sein schwarzes T-Shirt spannte über einer gewaltigen Brust und massiven Oberarmmuskeln. Auf seiner Wange prangten mehrere tiefe, von Krallen verursachte Narben wie Furchen in einem Ackerboden. Finster musterte er Maia, dann marschierte er an den dreien vorbei und hinaus in den Flur.

»Offensichtlich sind manche von uns leichter zu resozialisieren als andere«, murmelte Jordan in Richtung der wieder geschlossenen Tür.

Als sich Rufus’ schwere Schritte entfernten, warf Scott sich in den Bürostuhl hinter seinem Schreibtisch und drückte einen Knopf auf einer erstaunlich modern wirkenden Gegensprechanlage. Nachdem er mit knappen Worten Frühstück bestellt hatte, lehnte er sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ich bin ganz Ohr«, sagte er.

Während Jordan die Ereignisse der vergangenen Tage zusammenfasste, hatte Maia Mühe, sich auf seinen Bericht zu konzentrieren. Ihr Blick streifte immer wieder durch den Raum und sie fragte sich, wie es wohl gewesen wäre, hier in diesem eleganten Haus mit festen Regeln und Vorschriften aufzuwachsen statt in der relativ uneingeschränkten Freiheit des Rudels.

Nach einer Weile klopfte es an der Tür und ein vollständig in Schwarz gekleideter Werwolf – das schien die vorgeschriebene Kleidung der Praetor zu sein – betrat das Büro mit einem Zinntablett in den Händen. Leicht enttäuscht betrachtete Maia das Frühstück: Roastbeef, Käse und Proteindrinks. Es stimmte zwar, dass Werwölfe eine eiweißreichere Kost benötigten als normale Leute, aber Roastbeef zum Frühstück?

»Du musst wissen, dass raffinierter Zucker schädlich für Werwölfe ist«, wandte Praetor Scott sich an Maia, als diese mit spitzen Fingern ihren Proteindrink nahm und vorsichtig daran nippte. »Wenn man eine Weile darauf verzichtet, wird sich auch das Verlangen danach legen. Hat dein Rudelanführer dir das denn nicht erklärt?«

Maia versuchte, sich Luke – der zum Frühstück gern Pfannkuchen in lustigen Formen zubereitete – dabei vorzustellen, wie er ihr einen Vortrag über Zucker hielt. Doch es gelang ihr nicht. Allerdings war dies auch nicht der richtige Moment, das zu erwähnen. »Natürlich hat er mir das gesagt«, schwindelte sie. »Aber in stressigen Zeiten falle ich schon mal in alte Gewohnheiten zurück.«

»Ich verstehe deine Sorge um deinen Leitwolf«, erklärte Scott, an dessen Handgelenk eine goldene Rolex glitzerte. »Normalerweise verfolgen wir eine strikte Politik der Nichteinmischung in Angelegenheiten, die nicht in direktem Zusammenhang mit Schattenwesen-Frischlingen stehen. Und dabei räumen wir Werwölfen keine Priorität gegenüber anderen Schattenweltlern ein, auch wenn ausschließlich Lykanthropen den Praetor beitreten dürfen.«

»Aber genau deshalb brauchen wir Ihre Hilfe«, warf Jordan ein. »Rudel sind von Natur aus ständig unterwegs, nie lange sesshaft. Sie haben nicht die Möglichkeit, gesammeltes Wissen in Bibliotheken zu archivieren. Ich will damit nicht sagen, dass sie nicht auch über besondere Kenntnisse verfügen, aber diese werden in der Regel mündlich überliefert und jedes Rudel weiß unterschiedliche Dinge. Wir könnten zwar von Rudel zu Rudel ziehen und vielleicht sogar auf eines stoßen, das weiß, wie Luke geheilt werden kann, doch dazu fehlt uns einfach die Zeit. Das hier…«, erklärte er und zeigte auf die Bücherregale an den Wänden, »ist die einzige Dokumentensammlung der Werwölfe, die dem Archiv der Stillen Brüder oder dem Spirallabyrinth der Hexenwesen nahekommt.«

Doch Scott schien von Jordans Worten nicht überzeugt. Daraufhin stellte Maia ihren Proteinshake ab und fügte hinzu: »Luke ist ja nicht einfach nur der Anführer unseres Rudels – er ist auch der Repräsentant der Werwölfe in der Kongregation. Wenn Sie uns dabei helfen würden, ihn zu heilen, könnten Sie darauf vertrauen, dass die Praetor Lupus in der Kongregation immer eine Stimme hätten, die im Sinne der Wolfsgarde abstimmt.«

Scotts Augen funkelten. »Interessant«, bemerkte er. »Nun gut. Ich werde einen Blick in die Bücher unserer Bibliothek werfen, was vermutlich ein paar Stunden dauern wird. Jordan, ich schlage vor, dass du dich etwas hinlegst und ausruhst, ehe du nach Manhattan zurückfährst. Wir wollen doch nicht, dass du dich mit deinem Wagen um den nächsten Baum wickelst.«

»Ich könnte fahren…«, bot Maia an.

»Du siehst mindestens so erschöpft aus wie er. Jordan, du weißt ja, dass dir hier im Praetor House immer ein Bett zur Verfügung steht, auch wenn du deine Ausbildung bereits abgeschlossen hast. Und da Nick durch einen Spezialauftrag außer Haus ist, kann Maia sein Bett benutzen. Warum ruht ihr euch nicht eine Weile aus und ich lasse euch rufen, wenn ich mit der Recherche fertig bin?«, schlug er vor, wirbelte mit seinem Bürostuhl herum und widmete sich den Büchern in den Regalen.

Mit einer Geste gab Jordan Maia zu verstehen, dass dies ihr Stichwort zum Aufbruch war. Sie erhob sich, wischte sich ein paar Krümel von ihrer Jeans und war schon fast bei der Tür, als Praetor Scott sie erneut ansprach.

»Ach ja, noch etwas, Maia Roberts…«, setzte er an und in seiner Stimme schwang ein warnender Unterton mit. »Ich hoffe doch sehr, dass dir eines bewusst ist: Wenn du im Namen anderer Leute Versprechungen machst, dann ist es deine Aufgabe, dass diese auch eingehalten werden.«

Als Simon aufwachte, fühlte er sich noch immer total erschöpft und blinzelte müde in die Dunkelheit. Die dichten schwarzen Vorhänge vor den Fenstern ließen nur wenig Licht in den Raum dringen, doch seine innere Uhr verriet ihm, dass es inzwischen Vormittag sein musste – eine Vermutung, die durch die Tatsache bestätigt wurde, dass Isabelle verschwunden war. Die Bettdecke lag zurückgeschlagen am Fußende und das Laken auf ihrer Seite des Betts war zerwühlt.

Schon Vormittag, und er hatte seit Clarys Aufbruch keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Simon zog seine rechte Hand hervor und betrachtete den goldenen Ring an seinem Finger. In das feine Metall waren entweder Muster oder aber Worte in einer Schrift eingraviert, die er nicht kannte.

Er biss die Zähne zusammen, setzte sich auf und berührte den Ring. Clary?

Ihre Antwort kam sofort und deutlich und Simon wäre vor Erleichterung fast aus dem Bett gefallen. Simon. Gott sei Dank.

Kannst du reden?

Nein. Eine gewisse Anspannung schien in ihrer Stimme mitzuschwingen, die Simon eher spüren als hören konnte. Ich bin zwar froh, dass du dich meldest, aber gerade ist es etwas schwierig. Ich bin nicht allein.

Aber es geht dir gut?

Mit mir ist alles in Ordnung. Bisher ist noch nichts Nennenswertes passiert. Ich versuche, Informationen zu sammeln. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich. Versprochen.

Okay. Pass gut auf dich auf.

Du auch.

Und dann war die Verbindung beendet. Simon schob die Beine über den Rand der Matratze und bemühte sich, seine vom Schlaf zerzausten Haare wenigstens ein bisschen zu glätten. Dann sah er nach, ob sonst schon jemand wach war.

Offensichtlich waren alle lange vor ihm aufgestanden: Alec, Magnus, Jocelyn und Isabelle saßen am großen Tisch in Magnus’ Wohnzimmer, jeder einen Becher Kaffee vor sich. Im Gegensatz zu Alec und Magnus, die beide in Jeans auf ihren Stühlen hockten, trugen Jocelyn und Isabelle ihre Schattenjägermontur und Isabelle hatte ihre Peitsche um den rechten Arm gewickelt. Als Simon eintrat, schaute sie auf, lächelte jedoch nicht. Auch ihre Schultern wirkten angespannt und ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

»Es hat schon seinen Grund, warum das Ritual der Engelsinsignien so kompliziert war.« Magnus ließ die Zuckerdose herbeischweben und schaufelte sich einen Löffel in den Kaffee. »Engel handeln auf Geheiß Gottes, aber nicht auf das der Menschen – nicht einmal, wenn es sich dabei um Schattenjäger handelt. Wagt man es, einen Engel herbeizurufen, muss man damit rechnen, von seinem himmlischen Zorn vernichtet zu werden. Der eigentliche Zweck des Insignien-Rituals bestand nicht darin, Raziel heraufzubeschwören – das Ritual diente vorrangig dazu, denjenigen, der ihn herbeirief, vor dem Zorn des Erzengels zu schützen, sobald dieser erschien.«

»Valentin…«, setzte Alec an.

»Ja, Valentin hat neben Raziel auch noch einen rangniederen Engel heraufbeschworen. Aber der hat nicht ein einziges Mal zu ihm gesprochen, oder? Und ihm überhaupt nicht geholfen, auch wenn Valentin ihm Blut abgezapft hat. Bei all dem muss Valentin unglaublich mächtige Beschwörungsformeln eingesetzt haben, nur um den Engel zu binden. So wie ich das verstehe, hat Valentin die Lebensenergie des Engels mit dem Landsitz der Waylands verknüpft, weshalb das Haus mit dem Tod des Engels in sich zusammenstürzte.« Mit einem blau lackierten Fingernagel tippte er gegen den Kaffeebecher. »Damit hat er sich selbst verdammt. Ob man nun an Himmel und Hölle glaubt oder nicht, er hat sich selbst der Verdammnis preisgegeben. Denn als er Raziel heraufbeschwor, hat dieser ihn niedergestreckt, nicht zuletzt als Vergeltung für das, was Valentin seinem Engelsbruder angetan hatte.«

»Warum reden wir über das Rufen von Engeln?«, fragte Simon und setzte sich ans Kopfende des langen Tischs.

»Isabelle und Jocelyn waren bei den Eisernen Schwestern und haben nach einer Waffe gefragt, die gegen Sebastian eingesetzt werden kann, ohne gleichzeitig Jace Schaden zuzufügen«, erklärte Alec.

»Und, gibt es so eine Waffe?«

»Nicht in dieser Welt«, sagte Isabelle. »Eine Himmelswaffe könnte vielleicht etwas bewirken oder eine Klinge mit dämonischen Kräften… entstanden aus einem Dämonenpakt. Wir haben gerade die erste Alternative diskutiert.«

»Die darin besteht, einen Engel herbeizurufen, damit er euch seine Waffe gibt?«

»Das wäre nicht das erste Mal«, hielt Magnus dagegen. »Raziel gab Jonathan Shadowhunter das Engelsschwert. In den alten Überlieferungen erschien Josua in der Nacht vor der Schlacht um Jericho ein Engel und gab ihm ein Schwert.«

»Und ich dachte, Engel würden sich nur für Frieden interessieren und nicht für Waffen«, meinte Simon.

Magnus schnaubte. »Engel sind nicht einfach nur Botschafter. Sie sind auch Krieger. Von Michael heißt es, er habe ganze Heerscharen geführt. Und sie bringen nicht sehr viel Geduld auf… Engel, meine ich. Insbesondere nicht für die Schicksalsschläge der Menschen. Jeder, der versucht hätte, Raziel ohne den Schutz der Engelsinsignien heraufzubeschwören, wäre vermutlich auf der Stelle niedergestreckt worden. Dagegen lassen sich Dämonen wesentlich leichter heraufbeschwören – sie sind einfach viel zahlreicher und noch dazu in der Regel recht schwach. Andererseits hilft uns ein schwacher Dämon aber auch nur in begrenztem Maße weiter…«

»Wir können keinen Dämon heraufbeschwören«, protestierte Jocelyn bestürzt. »Der Rat…«

»Ich dachte, du hättest schon vor Jahren aufgehört, dich dafür zu interessieren, was der Rat von dir denkt«, warf Magnus ein.

»Es geht doch gar nicht um mich«, sagte Jocelyn. »Sondern um euch. Um Luke. Meine Tochter. Wenn die Ratsmitglieder davon erfahren…«

»Aber sie werden es ja nicht erfahren, oder?« Alecs sonst so sanfte Stimme klang ungewöhnlich hart. »Es sei denn, du erzählst es ihnen.«

Jocelyn blickte von Isabelles ausdruckslosem Gesicht zu Magnus’ fragenden Augen und dann zu Alec, der sie entschlossen anschaute. »Zieht ihr das wirklich in Erwägung? Einen Dämon heraufzubeschwören?«, hakte sie nach.

»Nun ja, nicht einfach irgendeinen Dämon«, meinte Magnus. »Sondern Azazel.«

»Azazel?« Jocelyns Miene verfinsterte sich und ihr Blick wanderte über die Gesichter der anderen, als suche sie Unterstützung.

Doch Izzy und Alec schauten schweigend in ihre Becher und Simon zuckte nur die Achseln. »Ich weiß nicht, wer dieser Azazel ist«, erklärte er. »War das nicht der Kater bei den Schlümpfen?« Er blickte suchend in die Runde, aber Isabelle schaute nur auf und rollte mit den Augen. Clary?, dachte Simon.

Ihre Antwort kam sofort, wobei Sorge in ihrer Stimme mitschwang. Was ist los? Was ist passiert? Hat meine Mom schon herausgefunden, dass ich weg bin?

Noch nicht, erwiderte Simon in Gedanken. Ist Azazel der Kater bei den Schlümpfen?

Einen Moment lang herrschte Funkstille, dann erklärte Clary: Das ist Azraël, Simon. Und ab jetzt bitte keine Fragen mehr zu den Schlümpfen. Und dann war sie auch schon wieder weg.

Simon schaute von seiner Hand auf und sah, dass Magnus ihn zweifelnd musterte. »Azazel ist kein Kater Sylvester«, erläuterte er, »sondern ein Dämonenfürst. Erster Bannerträger der Höllenarmeen und Waffenschmied. Einst war er ein Engel – bis er die Menschheit die Fertigung von Waffen lehrte, ein Wissen, das bis dahin nur den Engeln vorbehalten war. Dies verursachte dann auch seinen Fall und heute ist er ein Dämon. ›Die ganze Erde ist verdorben durch die Wirkungen Azazels Lehre. Ihm also schreibe das ganze Verbrechen zu.‹«

Verwundert starrte Alec Magnus an. »Woher weißt du das alles?«

»Er ist ein Freund von mir«, sagte Magnus. Und als er die Mienen der anderen sah, fügte er seufzend hinzu: »Okay, also nicht direkt. Aber so steht es im Buch Henoch.«

»Das Ganze scheint ziemlich gefährlich zu sein«, bemerkte Alec stirnrunzelnd. »Es klingt danach, als ob er sogar noch mächtiger wäre als ein Dämonenfürst. Fast wie Lilith.«

»Glücklicherweise ist er bereits gebunden«, erklärte Magnus. »Wenn man ihn heraufbeschwört, wird sein Geist erscheinen, aber sein Körper bleibt an die zerklüfteten Felsen der Wüste Dudael gebunden.«

»Die zerklüfteten Felsen von… ach, egal«, sagte Isabelle und steckte ihre langen, dunklen Haare zu einem Knoten hoch. »Er ist der Dämon der Waffen. Na prima. Ich finde, wir sollten es ausprobieren.«

»Ich kann nicht glauben, dass ihr das auch nur in Erwägung zieht«, warf Jocelyn ein. »Ich habe bei Valentin hautnah miterlebt, wohin es führen kann, wenn man nur über Halbwissen zu Dämonen verfügt. Clary…« Sie verstummte, als spürte sie Simons Blick auf sich, und wandte sich dann ihm zu: »Simon, weißt du, ob Clary schon wach ist? Wir haben sie schlafen lassen, aber inzwischen ist es fast elf.«

Simon zögerte. »Ich weiß es nicht.« Genau genommen war das ja nicht gelogen, beruhigte er sich selbst. Wo auch immer Clary sich befinden mochte: Theoretisch war es möglich, dass sie gerade schlief. Auch wenn er vor zwei Minuten noch mit ihr gesprochen hatte.

Verwundert schaute Jocelyn ihn an. »Aber hast du denn nicht bei ihr im Zimmer geschlafen?«

»Nein, ich… ich war…« Simon verstummte, da ihm klar wurde, dass er sich selbst gerade eine Grube gegraben hatte. Magnus besaß drei Gästezimmer. In einem hatte Jocelyn übernachtet, im zweiten Clary. Was offensichtlich bedeutete, dass er im dritten Zimmer geschlafen hatte, zusammen mit…

»Isabelle?«, warf Alec mit hoch erhobenen Augenbrauen ein. »Du hast in Isabelles Zimmer geschlafen?«

Doch Isabelle winkte nur abschätzig ab. »Kein Grund zur Sorge, Bruderherz. Es ist nichts passiert. Andererseits…«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie Alecs Schultern sich entspannten, »andererseits war ich natürlich total betrunken und völlig weggetreten. Im Grunde hätte er also alles mit mir machen können, ohne dass ich auch nur aufgewacht wäre.«

»Also ich muss doch sehr bitten«, protestierte Simon. »Ich hab nichts weiter getan, als dir die gesamte Handlung von Krieg der Sterne zu erzählen.«

»Ich glaub nicht, dass ich mich daran erinnern kann«, erwiderte Isabelle und nahm sich einen Keks vom Teller in der Tischmitte.

»Ach, nein? Und wer war dann Luke Skywalkers Sandkastenfreund?«

»Biggs Darklighter«, antwortete Isabelle wie aus der Pistole geschossen und schlug dann mit der flachen Hand auf den Tisch. »Das ist so gemein!« Trotzdem grinste sie breit, während sie an ihrem Keks knabberte.

»Ah«, meinte Magnus. »Junge Nerd-Liebe. Eine wundervolle Sache, doch gleichzeitig auch Ziel für Spott – und Quelle der Erheiterung für diejenigen unter uns, die ein wenig kultivierter sind.«

»Okay, das reicht.« Jocelyn stand auf. »Ich werde jetzt Clary holen. Wenn ihr vorhabt, einen Dämon heraufzubeschwören, will ich nicht dabei sein – genauso wenig will ich, dass meine Tochter dabei ist.« Entschlossen marschierte sie in Richtung des schmalen Flurs.

Blitzschnell versperrte Simon ihr den Weg. »Das kannst du nicht machen«, protestierte er.

Jocelyn musterte ihn mit fester Miene. »Ich weiß, was du jetzt sagen willst, Simon… dass dies hier der sicherste Ort für uns sei. Aber wenn ein Dämon heraufbeschworen werden soll, will ich nicht…«

»Darum geht’s gar nicht«, unterbrach Simon sie und holte tief Luft – was ihm aber auch nicht half, weil sein Blut keinen Sauerstoff mehr aufnehmen konnte. Ihm war etwas mulmig zumute. »Du kannst Clary nicht wecken, weil… weil sie gar nicht hier ist.«

10 Die Wilde Jagd

Jordans ehemaliges Zimmer im Praetor House sah genauso aus wie jedes andere Studentenzimmer: An den beiden Seitenwänden standen zwei flache Metallrahmenbetten, durch ein Fenster voneinander getrennt, das auf die grünen Rasenflächen drei Stockwerke tiefer hinausging. Jordans Zimmerhälfte war relativ kahl. Es schien, als hätte er die meisten Fotos und Bücher nach Manhattan mitgenommen; allerdings hingen noch ein paar mit Reißzwecken befestigte Schnappschüsse vom Meer und vom Strand an der Wand, direkt neben einem angelehnten Surfbrett. Maias Herz machte einen Satz, als sie das Foto von Jordan und ihr im goldenen Rahmen auf dem Nachttisch entdeckte. Es war in Ocean City aufgenommen worden, im Hintergrund sah man den Strand und den langen Holzpier.

Jordan warf einen kurzen Blick auf das Bild, schaute dann zu Maia und errötete. Er hievte seine Tasche aufs Bett und zog seine Jacke aus, Maia den Rücken zugekehrt.

»Wann kommt denn dein Zimmergenosse wieder zurück?«, fragte die junge Werwölfin in die unbehagliche Stille hinein. Sie war sich nicht sicher, warum sie beide plötzlich so verlegen reagierten. In Jordans Wagen waren sie alles andere als schüchtern gewesen, doch hier, in seinem ehemaligen Zimmer, schienen sich die Jahre, in denen sie nicht miteinander gesprochen hatten, wie ein Keil zwischen sie zu schieben.

»Das kann niemand so genau sagen. Nick ist mit einem Spezialauftrag betraut. Und die sind sehr gefährlich. Möglicherweise kommt er überhaupt nicht mehr zurück.« Jordan klang resigniert, während er seine Jacke über die Rückenlehne eines Stuhls legte. »Warum ruhst du dich nicht ein paar Minuten aus? Ich spring kurz unter die Dusche«, fügte er hinzu und marschierte dann in Richtung Bad.

Mit Erleichterung registrierte Maia, dass das Zimmer ein eigenes Bad hatte – im Moment war sie nicht in der Stimmung für einen dieser Gemeinschaftswaschräume am Ende des Ganges. »Jordan…«, setzte sie an, doch er hatte die Badezimmertür bereits hinter sich geschlossen. Maia konnte hören, wie das Wasser aufgedreht wurde. Seufzend kickte sie ihre Schuhe von den Füßen und legte sich auf Nicks Bett, dessen dunkelblaue Wolldecke ein bisschen nach Tannenzapfen roch. Maia schaute an die Zimmerdecke hoch und sah, dass sie mit Fotos übersät war. Von jeder Aufnahme lächelte sie derselbe blonde, etwa siebzehn Jahre alte Junge an – Nick, vermutete Maia. Er wirkte glücklich. Ob Jordan ebenfalls glücklich gewesen war, hier im Praetor House?

Sie streckte den Arm aus und drehte das Foto auf Jordans Nachttisch zu sich. Die Aufnahme war vor Jahren entstanden, als Jordan noch ziemlich schmächtig gewesen war, mit großen hellbraunen Augen, die sein ganzes Gesicht beherrschten. Sie hielten sich in den Armen und wirkten sonnendurchglüht und glücklich. Die Sommersonne hatte ihre Haut sichtbar gebräunt und Maias Haare hatten helle Strähnchen bekommen. Jordan hatte ihr den Kopf zugewandt, als wollte er ihr etwas zuflüstern oder sie küssen. Maia konnte sich nicht daran erinnern. Nicht mehr.

Ihre Gedanken wanderten zu dem Jungen, auf dessen Bett sie sich nun ausruhte, der Junge, der vielleicht nicht mehr zurückkehrte. Unwillkürlich musste sie an Luke denken, der im Sterben lag, und an Alaric und Gretel und Justine und Theo und all die anderen Rudelmitglieder, die im Kampf gegen Valentin ihr Leben verloren hatten. Dann dachte sie an Max und Jace, zwei Opfer in den Reihen der Lightwoods. Wenn sie ehrlich war, glaubte sie nicht mehr daran, dass der richtige Jace jemals zu ihnen zurückkehren würde. Schließlich wanderten ihre Gedanken seltsamerweise zu Daniel – dem Bruder, um den sie nie getrauert hatte. Zu ihrer Überraschung spürte sie, wie ihr Tränen brennend in die Augen stiegen.

Ruckartig setzte Maia sich auf. Sie hatte das Gefühl, als würde sich die ganze Welt auf den Kopf stellen und sie müsste sich verzweifelt festklammern, um nicht in einen pechschwarzen Abgrund zu stürzen. Maia konnte spüren, wie die Schatten immer näher kamen. Nun, da Jace verloren und Sebastian irgendwo da draußen war, konnte die Zukunft nur noch finsterer werden. Und es würde noch mehr Verletzte und noch mehr Tote geben. Sie musste sich eingestehen, dass die wenigen Minuten in der Morgendämmerung, in denen sie und Jordan sich geküsst hatten, die Momente gewesen waren, in denen sie sich seit Wochen zum ersten Mal wieder lebendig gefühlt hatte.

Wie in Trance stand sie auf, durchquerte den Raum und öffnete die Badezimmertür. Die Duschkabine befand sich in einer Ecke und durch die Milchglasscheiben konnte sie Jordans Silhouette erkennen. Maia bezweifelte, dass er über den prasselnden Wasserstrahl hinweg hören konnte, wie sie ihr Sweatshirt auszog und dann aus ihrer Jeans und ihrer Unterwäsche schlüpfte. Sie holte tief Luft, ging leise zur Duschkabine, schob die Tür auf und trat in die Dusche. Heißer Dampf schlug ihr entgegen.

Jordan wirbelte herum und strich sich die nassen Haare aus den Augen. Sein Gesicht war gerötet und ließ seine Augen glänzen, als hätte das Wasser sie poliert. Vielleicht lag es aber nicht nur am heißen Wasser, dass ihm das Blut in den Kopf stieg, als er sie ansah – von Kopf bis Fuß. Maia erwiderte seinen Blick ruhig und kein bisschen verlegen und beobachtete dann, wie der Praetor-Lupus-Anhänger in seiner feuchten Halskehle schimmerte und der Schaum über Jordans Schultern und Brust glitt, während er sie anstarrte und gegen das Wasser in seinen Augen anblinzelte. Er war wunderschön, aber das hatte sie schließlich schon immer gewusst.

»Maia?«, fragte er stockend. »Ist alles okay…?«

»Sch.« Maia drückte ihren Zeigefinger an seine Lippen und zog mit der anderen Hand die Tür der Duschkabine hinter sich zu. Dann trat sie näher an Jordan heran, schlang beide Arme um ihn, damit das heiße Wasser die Dunkelheit von ihnen beiden abspülen konnte. »Nicht reden. Küss mich.«

Und das tat er.

»Was, beim Erzengel, soll das heißen – Clary ist nicht hier?«, fragte Jocelyn fordernd. Ihr Gesicht war kreidebleich. »Woher willst du das wissen, wenn du selbst gerade erst aufgewacht bist? Wo ist sie hingegangen?«

Simon schluckte. Jocelyn war für ihn immer so etwas wie eine zweite Mutter gewesen und ihren ausgeprägten Beschützerinstinkt gegenüber ihrer Tochter war er schon lange gewohnt. Bisher hatte sie ihn stets für einen Verbündeten in dieser Angelegenheit gehalten, als jemanden, der sich zwischen Clary und die Gefahren dieser Welt stellen würde. Doch nun sah sie ihn an, als wäre er ihr Feind. »Clary hat mir letzte Nacht eine SMS geschickt…«, fing Simon an, verstummte aber, als Magnus ihn heranwinkte.

»Du kannst dich genauso gut auch wieder hinsetzen«, sagte er. Isabelle und Alec starrten Simon mit großen Augen an, wohingegen der Hexenmeister nicht besonders überrascht zu sein schien. »Erzähl uns, was hier los ist, und zwar von Anfang an. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass das eine Weile dauern könnte.«

Simons Bericht nahm tatsächlich einige Zeit in Anspruch, war aber nicht annähernd so lang, wie er im Stillen gehofft hatte. Als er fertig war, die Augen fest auf Magnus’ zerkratzten Tisch geheftet, hob er den Kopf und bemerkte, dass Jocelyn ihn mit einem Blick musterte, der so kalt war wie Polarwasser.

»Du hast meine Tochter gehen lassen… mit Jace… an irgendeinen unauffindbaren und nicht aufzuspürenden Ort, wo keiner von uns sie erreichen kann?«

Betreten schaute Simon auf seine Hände. »Ich kann sie erreichen«, widersprach er und hielt seine rechte Hand mit dem goldenen Ring hoch. »Das hab ich doch eben gesagt. Ich hab nach dem Aufwachen mit ihr Kontakt gehabt. Sie meinte, es ginge ihr gut.«

»Du hättest sie gar nicht erst gehen lassen dürfen!«

»Ich hatte keine Wahl – sie wäre so oder so gegangen. Und da dachte ich, es sei besser, wenn sie dann wenigstens eine Art Rettungsleine hat – wenn ich sie schon nicht aufhalten kann.«

»Fairerweise muss man sagen, dass wohl niemand sie hätte stoppen können. Clary macht, was sie will«, meinte Magnus und wandte sich an Jocelyn. »Du kannst sie nicht wie in einem Käfig halten.«

»Ich habe dir vertraut«, fauchte Jocelyn den Hexenmeister an. »Wie ist sie hier rausgekommen?«

»Sie hat ein Portal erschaffen.«

»Aber du hast doch gesagt, deine Wohnung wäre durch Schutzschilde gesichert…«

»Um Gefahren fernzuhalten, nicht, um meine Gäste einzusperren. Jocelyn, deine Tochter ist nicht dumm und sie tut, was sie für richtig hält. Du kannst sie nicht aufhalten. Niemand kann das. Da ähnelt sie sehr ihrer Mutter.«

Einen Moment lang starrte Jocelyn Magnus mit halb offen stehendem Mund an – und Simon begriff, dass Magnus Clarys Mutter natürlich schon seit deren Jugend gekannt haben musste, als sie Valentin und seinen Kreis verraten hatte und während des Aufstands fast umgekommen war. »Clary ist noch ein Kind«, entgegnete sie aufgebracht und fragte Simon: »Du hast also mit ihr gesprochen? Mithilfe dieser… dieser Ringe? Nachdem sie die Wohnung verlassen hat?«

»Zuletzt vor ein paar Minuten«, bestätigte Simon. »Sie meinte, es ginge ihr gut. Und es sei alles in Ordnung.«

Statt beruhigt zu sein, wirkte Jocelyn nur noch wütender. »Natürlich hat sie das gesagt! Ich kann einfach nicht fassen, dass du ihr das erlaubt hast, Simon. Du hättest sie daran hindern müssen…«

»Ja, wie denn? Hätte ich sie vielleicht fesseln sollen… mit Handschellen an den Restauranttisch ketten?«, rief Simon ungläubig.

»Wenn es nicht anders gegangen wäre. Du bist stärker als sie. Ich bin schwer enttäuscht…«

Da stand Isabelle auf. »Okay, das reicht jetzt«, funkelte sie Jocelyn an. »Es ist total unfair, Simon wegen etwas runterzumachen, das Clary ganz allein beschlossen hat. Und selbst wenn Simon sie für dich festgehalten hätte – was dann? Hättest du sie für immer und ewig einsperren wollen? Irgendwann hättest du sie ja doch mal freilassen müssen, und was dann? Dann würde sie nicht mal mehr Simon vertrauen, denn dir vertraut sie ja ohnehin nicht mehr, weil du ihr die Erinnerungen gestohlen hast. Und wenn ich mich richtig entsinne, hast du das deshalb getan, weil du sie schützen wolltest. Aber wenn du sie nicht ständig derart übermäßig beschützt hättest, dann wüsste sie jetzt vielleicht besser, was gefährlich ist und was nicht. Und sie wäre etwas weniger geheimnistuerisch – und nicht so leichtsinnig!«

Alle Anwesenden starrten Isabelle an und Simon musste daran denken, was Clary ihm einmal gesagt hatte: Izzy mochte zwar nur selten Reden schwingen, aber wenn sie einmal eine hielt, dann sorgte sie dafür, dass sie auch Gewicht hatte.

Jocelyn war kreidebleich. »Ich werde jetzt zur alten Polizeiwache zu Luke fahren«, sagte sie. »Simon, ich erwarte alle vierundzwanzig Stunden einen Bericht von dir, dass es meiner Tochter gut geht. Wenn ich nicht jeden Abend von dir höre, werde ich mich an den Rat wenden.« Damit marschierte sie aus der Wohnung und knallte die Tür so fest hinter sich zu, dass sich ein langer Riss im Putz der Mauer bildete.

Isabelle setzte sich wieder an den Tisch, dieses Mal direkt neben Simon. Er sagte nichts, sondern streckte ihr nur stumm seine Hand entgegen. Izzy drückte sie schweigend und verschränkte ihre Finger mit Simons.

»Also«, sagte Magnus schließlich und beendete damit die betretene Stille, »wer hilft mir, Azazel heraufzubeschwören? Denn wir brauchen dazu eine Unmenge an Kerzen.«

Jace und Clary verbrachten den Tag in Venedig: Sie schlenderten durch die labyrinthartigen winzigen Gassen entlang der Kanäle, deren Gewässer in allen Farben von Dunkelgrün bis Trübblau schimmerten. Sie schlängelten sich zwischen den Touristen auf dem Markusplatz hindurch, spazierten über die Seufzerbrücke und tranken im berühmten Café Florian aus kleinen Tassen kräftigen Espresso. Die verwirrend verschlungenen Straßen erinnerten Clary ein wenig an Alicante, obwohl der Hauptstadt von Idris Venedigs Flair des eleganten Verfalls fehlte. Es gab weder breite Straßen noch Autos, nur gewundene kleine Gassen und Brücken, die über Kanäle mit malachitgrünem Wasser führten. Als der Himmel den tiefblauen Ton der spätherbstlichen Abenddämmerung annahm, gingen überall einladende Lichter und Lampen an – in winzigen Boutiquen, in Bars und Restaurants, die wie aus dem Nichts aufzutauchen schienen und genauso schnell wieder in den Schatten verschwanden, während Clary und Jace daran vorbeischlenderten und die Lichter und das Lachen der Gäste hinter sich ließen.

Als Jace Clary fragte, ob sie hungrig sei, nickte sie entschieden. Inzwischen hatte sie einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil sie noch keine Informationen aus Jace herausbekommen hatte und sich ehrlich gesagt ganz gut amüsierte. Während sie eine Brücke zum Stadtteil Dorsoduro überquerten, einem der ruhigeren, weniger touristischen Viertel, nahm sich Clary vor, an diesem Abend irgendetwas aus Jace herauszuquetschen – irgendetwas, das es wert war, es an Simon weiterzugeben.

Jace hielt Clarys Hand, als sie eine weitere Brücke überquerten und die Straße auf einen weiten Platz an einen großen, fast flussbreiten Kanal führte. Rechts von ihnen erhob sich die Basilika einer Barockkirche, während am gegenüberliegenden Kanalufer weitere Lichter entzündet wurden und bunte Farben auf das Wasser warfen, die glitzerten und schillerten. Clary juckte es in den Fingern und sie wünschte, sie hätte ihre Malutensilien dabei, um das verblassende Licht des Abendhimmels und die dunklen Fluten, in denen sich die eckigen Konturen der Bauwerke reflektierten, festhalten zu können. Die gesamte Szenerie war in stahlblaues Licht getaucht. Irgendwo läuteten Kirchenglocken.

Clary verstärkte ihren Griff um Jace’ Hand. Sie fühlte sich so weit weg von ihrem bisherigen Leben, auf eine Weise entrückt, wie sie es selbst von Idris nicht kannte. Venedig teilte mit Alicante zwar die Atmosphäre eines Ortes ohne Zeit, losgelöst von der Vergangenheit, als wäre man in ein Gemälde gestiegen oder zwischen die Seiten eines Buches gekrochen. Aber bei der italienischen Lagunensiedlung handelte es sich auch um eine reale Stadt, deren Existenz Clary aus der Schule kannte und die sie schon immer hatte besuchen wollen. Clary warf Jace, der gerade über den Kanal schaute, einen Seitenblick zu. Das stahlblaue Licht umhüllte auch ihn und ließ seine Augen dunkler erscheinen, genau wie die Schatten unter seinen Wangenknochen und die Konturen seines Mundes.

Als er ihren Blick bemerkte, wandte er sich ihr zu und lächelte. Er führte sie um die Kirche herum und über ein paar bemooste Stufen zu einem Pfad entlang des Kanals. Das ganze Viertel roch nach feuchtem Stein, Wasser, Moder und vielen, vielen Jahrhunderten. Während sich der Himmel verdunkelte, durchbrach plötzlich, nur wenige Schritte von Clary entfernt, etwas die Wasseroberfläche. Sie hörte ein Platschen und schaute gerade noch rechtzeitig zum Kanal, um eine grünhaarige Frau aus den Fluten aufsteigen zu sehen. Die Frau lächelte sie an. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht, aber haifischartige Zähne und die gelben Augen eines Fischs. Perlenketten wanden sich durch ihre Haare. Eine Sekunde später versank sie wieder im Wasser, ohne dessen Oberfläche auch nur zu kräuseln.

»Eine Nixe«, sagte Jace. »Hier in Venedig gibt es mehrere alte Familien, die schon seit Ewigkeiten in den Kanälen leben. Das ist ein wenig merkwürdig. Denn eigentlich sind sie weiter draußen viel besser dran, wo sie sich im sauberen Meerwasser von Fischen ernähren könnten statt wie hier von Abfall.« Er schaute gen Westen, wo die Sonne bereits untergegangen war. »Die gesamte Stadt versinkt im Meer«, erzählte er. »In hundert Jahren wird ganz Venedig unter Wasser liegen. Stell dir das mal vor: Man geht tauchen und kann die Spitze des Markusdoms berühren.« Er zeigte quer über den breiten Kanal.

Beim Gedanken daran, dass all diese Schönheit dann verloren war, überkam Clary ein Gefühl der Trauer. »Kann man denn gar nichts dagegen tun?«

»Du willst eine ganze Stadt anheben? Oder das Meer zurückhalten? Nein, dagegen lässt sich nicht viel tun«, erwiderte Jace. Inzwischen hatten sie eine Treppe erreicht, die wieder nach oben führte. Eine Brise kam übers Wasser und wehte ihm die goldblonden Haare aus Stirn und Nacken. »Alle Dinge folgen dem Gesetz der Entropie. Das gesamte Universum strebt auseinander, die Sterne bewegen sich voneinander fort und Gott allein weiß, was durch die Risse zwischen ihnen hindurchdringt.« Er schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Okay, das klang jetzt wahrscheinlich ein wenig verrückt.«

»Vielleicht lag es am Wein, den wir zum Mittagessen hatten.«

»Keine Sorge, ich vertrag schon das ein oder andere Glas.«

Sie bogen um eine Ecke und vor ihnen entfaltete sich plötzlich eine glitzernde Märchenlandschaft. Clary blinzelte, bis sich ihre Augen an das helle Licht gewöhnt hatten. Ein kleines Restaurant hatte zusätzlich zu den Tischen im Inneren des Gebäudes auch zahlreiche Tische auf den Gehweg gestellt. Dazwischen ragten mit Lichterketten versehene Terrassenheizstrahler auf, wie ein Wald magischer Bäume. Jace löste sich kurz von Clary, um ihnen einen Tisch zu organisieren, und bald darauf saßen sie am Rand des Kanals und lauschten dem Plätschern des Wassers, das gegen die Uferbefestigung schwappte, und dem gluckernden Geräusch mehrerer kleiner Boote, die sich im Gezeitenstrom auf und ab bewegten.

Ein Gefühl der Müdigkeit überkam Clary in Wogen, wie das Schwappen des Meeres an den Seiten des Kanals. Sie sagte Jace, was sie essen wollte, und überließ es ihm, auf Italienisch zu bestellen. Als der Kellner wieder gegangen war, stützte sie erleichtert die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf auf die Hände sinken. »Ich glaub, ich habe einen Jetlag«, erklärte sie. »Dimensionsübergreifenden Jetlag.«

»Dir ist schon klar, dass die Zeit eine Dimension ist«, meinte Jace.

»Pedant.« Clary schnippte einen Brotkrumen aus dem Körbchen auf dem Tisch in Jace’ Richtung.

Jace grinste. »Ich hab letztens versucht, alle sieben Todsünden zusammenzukriegen«, erzählte er. »Habgier, Neid, Völlerei, Ironie, Pedanterie…«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ironie keine Todsünde ist.«

»Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sehr wohl eine ist.«

»Wollust«, sagte Clary. »Wollust ist eine Todsünde.«

»Und Spanking.«

»Ich denke, das gehört zu Wollust.«

»Und ich denke, es sollte eine eigene Kategorie erhalten«, meinte Jace. »Habgier, Neid, Völlerei, Ironie, Pedanterie, Wollust und Spanking.« Die weißen Glühlämpchen der Lichterketten spiegelten sich in seinen Augen.

Er sah wunderschön aus, schöner als je zuvor, überlegte Clary. Schöner und dementsprechend distanzierter – unerreichbar. Sie erinnerte sich an seine Worte über die sinkende Stadt und den Raum zwischen den Sternen und dann fielen ihr zwei Zeilen aus einem Song von Leonard Cohen ein, den Simons Band mehr schlecht als recht gecovert hatte: »There is a crack in everything/That’s how the light gets in.« Auch in Jace’ Gelassenheit musste es einen Riss geben – einen Weg, mit dessen Hilfe sie zum richtigen Jace vordringen konnte, der ihrer Überzeugung nach noch immer irgendwo in diesem Körper steckte.

Jace musterte sie aus bernsteinfarbenen Augen. Er streckte den Arm aus, um ihre Hand zu berühren. Erst nach einem kurzen Moment erkannte Clary, dass seine Finger ihren Goldring streiften. »Was ist das für ein Ring?«, fragte er. »Ich wusste gar nicht, dass du einen Elbenring besitzt.«

Obwohl seine Bemerkung beiläufig klang, setzte Clarys Herz einen Schlag aus. Sie war nicht sehr geübt darin, Jace direkt ins Gesicht zu lügen. »Er hat Isabelle gehört«, erwiderte sie achselzuckend. »Sie hat das ganze Zeug entrümpelt, das ihr Ex, dieser Elbenritter Meliorn, ihr geschenkt hatte. Und ich fand den Ring ganz hübsch und deshalb meinte Izzy, dass ich ihn haben könne.«

»Was ist mit dem Morgenstern-Ring?«

Hier konnte sie ruhig bei der Wahrheit bleiben, überlegte Clary. »Ich hab ihn Magnus gegeben, um dich zu orten.«

»Magnus.« Jace sprach den Namen aus, als wäre der Hexenmeister ein Fremder. Dann holte er Luft und fragte: »Hast du immer noch das Gefühl, dass mit mir mitzukommen, die richtige Entscheidung war?«

»Ich bin froh, bei dir zu sein. Und außerdem… na ja, ich wollte schon immer mal nach Italien. Ich bin bisher kaum verreist, bin nicht ein einziges Mal im Ausland gewesen…«

»Du warst in Alicante«, erinnerte Jace sie.

»Okay, mal abgesehen von magischen Ländern, die sonst niemand sehen kann, bin ich noch nicht wirklich viel herumgekommen. Simon und ich haben immer geplant, nach dem Highschool-Abschluss als Rucksacktouristen durch Europa zu reisen…« Clary verstummte. »Das klingt jetzt ziemlich albern.«

»Nein, überhaupt nicht.« Jace beugte sich über den Tisch und schob Clary eine Locke hinters Ohr. »Bleib bei mir. Wir können die ganze Welt bereisen.«

»Ich bin bei dir. Ich hab nicht vor wegzugehen.«

»Gibt es irgendeinen Ort, den du unbedingt sehen möchtest? Paris? Budapest? Den Schiefen Turm von Pisa?«

Nur wenn der Sebastian auf den Kopf fällt, dachte Clary. »Können wir nach Idris?«, fragte sie stattdessen. »Ich meine, die Wohnung kann doch dahin reisen, oder?«

»Nein, sie kann die Schutzschilde nicht passieren.« Jace’ Hand streifte sanft über Clarys Wange. »Ich hab dich wirklich vermisst«, murmelte er.

»Du hattest also keine romantischen Dates mit Sebastian, solange wir voneinander getrennt waren?«

»Ich hab alles versucht«, grinste Jace, »aber ganz gleich wie sehr ich ihn auch abgefüllt habe, er hat sich einfach nicht rumkriegen lassen.«

Clary griff nach ihrem Weinglas. Allmählich gewöhnte sie sich an den Geschmack. Sie konnte spüren, wie der Wein durch ihre Kehle rann, warm durch ihre Adern floss und dem Abend eine traumhafte Stimmung verlieh. Sie befand sich in Italien, zusammen mit ihrem wunderschönen Freund, an einem wunderschönen Abend, mit hervorragendem Essen, das einem auf der Zunge zerging. Eigentlich war dies einer jener Momente, an die man sich noch sein Leben lang erinnern würde. Trotzdem hatte Clary das Gefühl, als würde sie nur den Zipfel dieses Glücks zu fassen bekommen – denn jedes Mal, wenn sie Jace ansah, schien es ihren Fingern zu entgleiten. Wie konnte es sein, dass er Jace war und gleichzeitig auch wieder nicht? Wie konnte man mit gebrochenem Herzen glücklich sein?

Sie lagen dicht gedrängt unter Jordans Decke in dem schmalen Bett, das nur für eine Person gedacht war. Maia schmiegte ihren Kopf in seine Armbeuge, während warme Sonnenstrahlen ihr auf Gesicht und Schultern fielen.

Jordan hatte sich auf einen Arm gestützt und leicht über sie gebeugt; mit der anderen Hand fuhr er ihr durch die Haare, zupfte sanft an ihren Locken und ließ sie durch die Finger gleiten. »Deine Haare haben mir gefehlt«, sagte er und gab Maia einen Kuss auf die Stirn.

Ein Kichern bildete sich tief in Maias Kehle – jene Art von Kichern, die das ausgelassene Gefühl der Verliebtheit begleitete. »Nur meine Haare?«, lachte sie.

»Nein.« Jordan grinste und seine grünbraunen Augen unter den zerzausten Haaren leuchteten. »Deine Augen ebenfalls.« Er küsste Maias Lider, eines nach dem anderen. »Deine Lippen.« Er küsste auch ihren Mund, worauf Maia ihre Finger durch die Halskette mit dem Praetor-Lupus-Anhänger auf seiner nackten Brust schob. »Einfach alles an dir.«

Nachdenklich wickelte Maia die Kette um ihre Finger. »Jordan… es tut mir leid… dass ich dich angeschnauzt habe… wegen dem Geld und wegen Stanford. Es war einfach nur so viel auf einmal.«

Jordans Augen verdunkelten sich und er senkte den Kopf. »Ich weiß doch, dass du für dich selbst sorgen kannst. Ich wollte nur… ich wollte einfach nur etwas für dich tun.«

»Ich weiß«, flüsterte Maia. »Ich weiß, du machst dir Sorgen, ob ich dich überhaupt brauche, aber ich will nicht mit dir zusammen sein, weil ich dich brauche. Ich will mit dir zusammen sein, weil ich dich liebe.«

Erneut leuchteten seine Augen auf – voller Zweifel, voller Hoffnung. »Du… ich meine, hältst du es für möglich, dass du so etwas wieder für mich empfinden könntest?«

»Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, Jordan«, flüsterte Maia. Im nächsten Moment zog Jordan sie so fest an sich und küsste sie so leidenschaftlich, dass es fast wehtat. Maia drängte sich an ihn und wahrscheinlich hätte der Kuss wieder dort geendet, wo er in der Dusche geendet hatte, wenn nicht jemand plötzlich laut an der Tür geklopft hätte.

»Praetor Kyle!«, rief eine Stimme. »Aufwachen! Praetor Scott wünscht dich unten in seinem Büro zu sprechen.«

Jordan, der Maia noch immer fest im Arm hielt, fluchte unterdrückt. Lachend fuhr Maia ihm mit der Hand über den Nacken und schlang ihre Finger in seine Haare. »Meinst du, Praetor Scott kann noch einen Moment warten?«, wisperte sie.

»Ich fürchte, er hat einen Schlüssel für dieses Zimmer und wird ihn auch benutzen, wenn ihm danach zumute ist.«

»Ist schon okay«, murmelte Maia und streifte Jordans Ohr mit den Lippen. »Wir haben jede Menge Zeit, oder? Alle Zeit der Welt.«

Der Große Vorsitzende Miau Tse-tung lag vor Simon auf dem Tisch, in tiefen Schlaf versunken und alle vier Beine in die Luft gestreckt. Das war zumindest schon mal ein Anfang, dachte Simon. Denn seit seiner Verwandlung zum Vampir schienen viele Tiere ihn nicht mehr zu mögen. Sie gingen ihm möglichst aus dem Weg und fauchten oder bellten, wenn er ihnen zu nahe kam. Für Simon, der Tiere immer geliebt hatte, war das ziemlich bitter. Aber als Haustier eines Hexenmeisters lernte man wahrscheinlich, seltsame Wesen um sich herum zu akzeptieren, vermutete Simon.

Wie sich herausstellte, hatte Magnus in Bezug auf die Kerzen nicht übertrieben. Simon machte gerade eine kurze Pause und trank einen Schluck Kaffee; erstaunlicherweise blieb er in seinem Magen und das Koffein dämpfte seinen Hunger. Den ganzen Nachmittag hatten sie Magnus dabei geholfen, das richtige Umfeld für Azazels Beschwörung zu schaffen: In den umliegenden Lebensmittelgeschäften und Kiosken hatten sie sämtliche Bestände an Teelichtern und Opferkerzen aufgekauft und diese dann in Magnus’ Wohnzimmer in einem sorgfältig arrangierten Kreis aufgestellt. Anschließend hatten Isabelle und Alec die Holzdielen jenseits des Kreises mit einer Mischung aus Salz und getrockneter Tollkirsche bestreut – streng nach Anweisungen des Hexenmeisters, der dazu aus Verbotene Riten: Das Handbuch eines Schwarzkünstlers aus dem Fünfzehnten Jahrhundert vorlas.

»Was hast du mit meinem Kater angestellt?«, wandte Magnus sich in forderndem Ton an Simon, als er mit einer Kanne frischem Kaffee ins Wohnzimmer kam; mehrere Becher schwebten um seinen Kopf herum, wie ein Modell der Planeten, die die Sonne umkreisen. »Du hast sein Blut getrunken, stimmt’s? Dabei hast du doch gesagt, du hättest keinen Hunger!«

Simon war empört: »Erstens: Nein, ich habe nicht von seinem Blut getrunken! Dem Kater geht’s gut!« Er pikste Miau Tse-tung in den Bauch, woraufhin der Kater gähnte. »Und zweitens: Du hast mich gefragt, ob ich Hunger habe, als du gerade Pizza bestellt hast. Ich habe Nein gesagt, weil ich keine Pizza vertrage. Ich war einfach nur höflich.«

»Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, dich an meinem Kater zu vergreifen.«

»Deinem Kater geht es bestens!«, wiederholte Simon aufgebracht und streckte die Hände nach dem Stubentiger aus, der daraufhin entrüstet aufsprang und über den Tisch stolzierte. »Noch Fragen?«

»Okay, okay…« Magnus warf sich auf den Stuhl am Kopfende des Tischs. Die Becher landeten mit einem lauten Klirren auf der Tischplatte, als Alec und Izzy gerade fertig wurden und sich aufrichteten. Magnus klatschte in die Hände. »Alle mal herkommen! Es wird Zeit für eine Besprechung. Ich werde euch jetzt beibringen, wie man einen Dämon heraufbeschwört.«

Praetor Scott erwartete sie bereits in seinem Büro. Vor ihm auf dem Schreibtisch stand ein kleines Bronzekästchen.

Maia und Jordan nahmen ihm gegenüber Platz und Maia fragte sich, ob man ihrem Gesicht wohl ansehen konnte, was sie und Jordan kurz zuvor getan hatten. Andererseits schien sich der Praetor nicht sonderlich für sie zu interessieren.

Mit beiden Händen schob er das Kästchen in Jordans Richtung. »Darin ist eine Salbe zum Auftragen auf Garroways Wunde«, erklärte er. »Sie sollte das Gift aus seinem Blut ziehen und dafür sorgen, dass sich das Dämonenmetall aus dem Körper herausarbeitet. In ein paar Tagen müsste er wieder auf den Beinen sein.«

Maias Herz machte einen Satz: Endlich einmal gute Neuigkeiten. Sie schnappte sich das Kästchen, bevor Jordan danach greifen konnte, und öffnete es. Das Gefäß war bis zum Rand mit einer dunklen, wächsernen Salbe gefüllt, die intensiv nach Kräutern duftete, wie zerstoßene Lorbeerblätter.

»Ich…«, setzte Praetor Scott an und schaute rasch zu Jordan.

»Maia sollte das Kästchen an sich nehmen«, bestätigte Jordan. »Sie steht Garroway sehr nahe und außerdem gehört sie seinem Rudel an. Die anderen Mitglieder vertrauen ihr.«

»Willst du damit sagen, dass sie den Praetor Lupus nicht vertrauen?«

»Die Hälfte der Rudelmitglieder hält die Praetor für ein Märchen«, erklärte Maia und fügte noch rasch ein »Sir« hinzu.

Praetor Scott wirkte verärgert, doch ehe er irgendetwas entgegnen konnte, klingelte sein Telefon. Nach kurzem Zögern nahm er den Hörer ab. »Scott«, meldete er sich und erwiderte nach einem Moment, »Ja… ja, in Ordnung.« Als er wieder auflegte, umspielte ein nicht ganz so freundliches Lächeln seine Lippen. »Praetor Kyle, ich bin froh, dass du ausgerechnet heute vorbeigekommen bist«, verkündete er. »Warte bitte noch einen Moment. Diese Angelegenheit betrifft auch dich.«

Maia wunderte sich über seine Ankündigung, aber noch viel mehr wunderte sie sich einen Moment später, als eine Ecke des Büros zu schimmern begann und sich dort ein Schatten abzeichnete und langsam Form annahm. Es war, als würden sie beim Entwickeln eines Negativfilms zusehen. Bald konnte Maia die Gestalt eines Jungen mit kurzem, glattem dunkelbraunem Haar ausmachen. Eine goldene Kette glänzte an seiner braunen Kehle. Er wirkte schmächtig und zart wie ein Chorknabe, aber irgendetwas in seinen Augen ließ ihn deutlich älter erscheinen. Die Figur war leicht transparent. Eine Projektion!, schoss es Maia durch den Kopf. Sie hatte schon oft davon gehört, aber noch nie eine aus nächster Nähe erlebt.

»Raphael«, sagte Maia, als sie den Jungen erkannte.

Überrascht warf Praetor Scott ihr einen Blick zu. »Du kennst den Anführer des New Yorker Vampirclans?«

»Wir sind uns schon einmal begegnet… im Brocelind-Wald«, antwortete Raphael und musterte Maia desinteressiert. »Sie ist mit dem Tageslichtler befreundet, mit Simon.«

»Dein Schutzbefohlener«, wandte Scott sich an Jordan, als hätte dieser das vergessen.

Jordan runzelte die Stirn. »Ist ihm irgendetwas zugestoßen?«, fragte er. »Ist mit Simon alles in Ordnung?«

»Hier geht’s nicht um den Tageslichtler«, schnaubte Raphael. »Ich bin wegen dieser abtrünnigen Vampirin hier, Maureen Brown.«

»Maureen?«, stieß Maia hervor. »Aber sie ist doch erst… dreizehn?«

»Ein bösartiger Vampir ist und bleibt ein bösartiger Vampir«, entgegnete Raphael. »Und Maureen hat eine beachtliche Schneise durch TriBeCa und die Lower East Side geschlagen. Zahlreiche Verletze und mindestens sechs Tote. Bisher ist es uns gelungen, das Ganze zu vertuschen, aber…«

»Maureen ist Nicks Schutzbefohlene«, bemerkte Praetor Scott stirnrunzelnd. »Aber er hat sie bisher nicht finden können, nicht die geringste Spur. Möglicherweise müssen wir jemanden mit mehr Erfahrung aussenden.«

»Ich rate Ihnen dringend dazu«, forderte Raphael. »Wenn die Schattenjäger im Moment nicht mit ihrem eigenen… Notfall beschäftigt wären, hätten sie sich garantiert längst eingeschaltet. Und nach der Geschichte mit Camille ist eine Einmischung der Nephilim das Letzte, was unser Clan gebrauchen kann.«

»Verstehe ich das richtig, dass Camille ebenfalls noch immer untergetaucht ist?«, fragte Jordan. »Simon hat uns alles erzählt, was in der Nacht passiert ist, als Jace verschwand. Und Maureen scheint das zu tun, was Camille ihr befiehlt.«

»Camille ist kein Schattenwesen-Frischling und interessiert uns daher nicht«, verkündete Scott.

»Ich weiß, aber… wenn man sie findet, dann findet man möglicherweise auch Maureen. Das ist alles, was ich damit sagen wollte«, erklärte Jordan.

»Wenn sie bei Camille wäre, würde sie nicht in diesem Tempo morden«, warf Raphael ein. »Camille würde sie daran hindern. Sie mag zwar blutrünstig sein, aber sie kennt auch das Gesetz – und die Division! Sie würde dafür sorgen, dass Maureen mit ihren Aktivitäten außerhalb deren Sichtweite bleibt. Nein, Maureens Verhalten trägt alle Kennzeichen eines Vampirs, der bösartig geworden ist.«

»Dann hast du wohl recht«, sagte Jordan und lehnte sich zurück. »Nick sollte tatsächlich Verstärkung bekommen oder…«

»… Oder es könnte ihm etwas zustoßen? Vielleicht würde dir das ja helfen, dich in Zukunft besser auf deine Aufgaben zu konzentrieren. Auf deinen eigenen Schutzbefohlenen«, meinte Praetor Scott.

Jordan starrte ihn einen Moment sprachlos an. »Simon ist nicht für Maureens Verwandlung verantwortlich«, protestierte er. »Das hab ich doch schon erklärt…«

Doch Scott wischte Jordans Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Ja, das weiß ich. Sonst hätten wir dich längst von diesem Auftrag abgezogen, Kyle. Aber dein Schützling hat sie nun einmal gebissen, noch dazu unter deiner Aufsicht. Und ihre Beziehung zum Tageslichtler – so weit hergeholt sie auch sein mag – ist der Grund dafür, dass sie letztendlich verwandelt wurde.«

»Der Tageslichtler ist gefährlich«, tönte Raphael mit glitzernden Augen. »Das hab ich schon immer gesagt.«

»Nein, er ist nicht gefährlich!«, protestierte Maia energisch. »Simon hat ein gutes Herz.« Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Jordan ihr einen kurzen Seitenblick zuwarf, aber der Moment war so schnell vorüber, dass sie sich fragte, ob sie sich das nur eingebildet hatte.

»Blablabla«, erwiderte Raphael abschätzig. »Ihr Werwölfe scheint euch nicht auf die aktuelle Angelegenheit konzentrieren zu können. Ich habe Ihnen vertraut, Praetor, denn Schattenwesen-Frischlinge sind Ihr Aufgabengebiet. Aber wenn Maureen weiterhin wie eine Wilde durch New York zieht, wirft das ein schlechtes Licht auf meinen Clan. Wenn ihr sie nicht bald findet, werde ich jeden verfügbaren Vampir herbeirufen. Denn letztendlich…«, schloss er und grinste, wodurch seine spitzen Fangzähne zum Vorschein kamen, »letztendlich ist es unsere Aufgabe, sie zu töten.«

Nach dem Abendessen schlenderten Clary und Jace zur Wohnung zurück. Nebel zog durch die menschenleeren Gassen und das Wasser in den Kanälen glitzerte wie Glas. Als sie um eine Ecke bogen, standen sie plötzlich an einem stillen Kanal, der auf beiden Seiten von alten Häusern flankiert wurde. Die Fensterläden waren bereits geschlossen. Boote schaukelten sanft auf den Fluten, jedes ein schwarzer Halbmond auf der Wasseroberfläche.

Jace lachte leise und löste seine Hand aus Clarys. Im Schein der Straßenlaterne leuchteten seine Augen golden. Er ging zum Rand des Kanals und kniete sich hin.

Im nächsten Moment sah Clary, wie eine Stele weißsilbern aufblitzte, und dann löste sich eines der Boote aus seiner Vertäuung und trieb langsam vom Ufer weg.

Rasch steckte Jace die Stele zurück in seinen Gürtel, machte einen Satz und landete leichtfüßig auf der Holzbank im Bug des Boots. Dann streckte er Clary die Hand entgegen. »Komm.«

Zweifelnd schaute Clary von Jace zum Boot und schüttelte den Kopf. Es war kaum größer als ein Kanu und schwarz gestrichen; allerdings wirkte die Farbe feucht und das Holz war an mehreren Stellen gesplittert. Das Boot erschien ihr so klein und zerbrechlich wie ein Spielzeug. Vor ihrem inneren Auge sah Clary bereits, wie sie es zum Kentern brachte und sie beide im eisgrünen Kanal landeten. »Ich kann nicht. Wenn ich reinspringe, kippt es bestimmt um.«

Ungeduldig schüttelte Jace den Kopf. »Du schaffst das schon«, sagte er. »Schließlich hab ich dich trainiert.« Und wie zum Beweis trat er einen Schritt zurück, auf den schmalen Bootsrand direkt neben der Ruderdolle, und schaute zu Clary hinüber, den Mund zu einem amüsierten Grinsen verzogen.

Nach allen physikalischen Gesetzen hätte das Boot eigentlich seitlich kentern müssen, überlegte Clary. Doch Jace balancierte leicht und mit geradem Rücken auf dem Dollbord, als würde er aus nichts als Rauch bestehen. Hinter ihm erhob sich eine Kulisse aus Wasser und Stein, Kanal und Brücken; weit und breit war kein einziges modernes Gebäude in Sicht. Mit seinen leuchtenden Haaren und seiner stolzen Haltung sah er aus wie ein Adeliger aus der Renaissance.

Erneut streckte er ihr einladend die Hand entgegen. »Erinnere dich: Du bist so leicht, wie du dich fühlst.«

Und Clary erinnerte sich… erinnerte sich an die vielen Trainingsstunden, in denen sie gelernt hatte, richtig zu fallen, zu balancieren und nach einem Sprung so aufzukommen, wie Jace es vorgemacht hatte: als wäre man eine Ascheflocke, die sanft zu Boden schwebt. Clary holte tief Luft und sprang. Das grüne Wasser floss unter ihr hindurch und sie landete im Bug des Boots, schwankte einen Moment, fing sich dann aber schnell.

Erleichtert atmete sie auf und hörte, wie Jace lachte, während er vom Dollbord in die Bootsmitte hüpfte. Das Boot leckte leicht und das eingedrungene Wasser glitzerte auf dem Boden. Da er einen Kopf größer war als Clary, die nun auf dem Holzsitz im Bug balancierte, befanden sie sich ungefähr auf Augenhöhe.

Jace legte seine Hände um ihre Taille. »So«, meinte er. »Wohin soll’s denn gehen?«

Clary schaute sich um. Inzwischen war das Boot weit von der Anlegestelle abgetrieben. »Stehlen wir dieses Boot etwa?«

»›Stehlen‹ ist so ein hässliches Wort«, sinnierte Jace.

»Als was willst du es denn sonst bezeichnen?«

Mühelos hob Jace sie hoch und wirbelte sie herum, ehe er sie wieder absetzte. »Als einen Extrem-Schaufensterbummel«, erklärte er und zog sie fester an sich.

Clary versteifte sich, dann verloren ihre Füße den Halt und Jace und sie landeten in der gewölbten Bootsmitte, die glatt und feucht war und nach Kanalwasser und nassem Holz roch. Im nächsten Moment fand sie sich auf Jace wieder; ihre Knie rechts und links seiner Hüften. Wasser durchtränkte sein Sweatshirt, doch es schien ihn nicht zu kümmern.

Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, wodurch der Saum seines Shirts hochrutschte. »Du hast mich mit der Kraft deiner Leidenschaft buchstäblich umgehauen«, bemerkte er. »Gut gemacht, Fray.«

»Du bist nur deshalb hingefallen, weil du es wolltest. Ich kenne dich«, erwiderte Clary. Der Mond leuchtete wie ein Scheinwerfer auf sie herab – als wären sie die einzigen Menschen unter dem Himmel. »Du rutschst niemals aus.«

Behutsam berührte Jace Clarys Gesicht. »Ich mag vielleicht nicht ausrutschen, aber auch ich habe meine Schwächen.«

Clarys Herz raste und sie musste schlucken, ehe sie bemüht locker antwortete: »Das ist wahrscheinlich der schlimmste Spruch, den du je gebracht hast.«

»Wer sagt, dass das ein Spruch war?«

Das Boot schaukelte und Clary stützte sich mit den Händen auf Jace’ Brust ab. Ihre Hüften pressten sich an seine und sie sah, wie seine Augen sich weiteten und die Farbe veränderten – von frech funkelndem Gold zu einem dunklen Ton, während die Pupillen die Iris in sich aufzunehmen schienen. Und darin konnte Clary sich selbst und den Nachthimmel erkennen.

Jace stemmte sich auf einen Ellbogen und schob Clary eine Hand in den Nacken. Sie spürte, wie er sich ihr entgegenhob, wie sein Mund ihre Lippen streifte, doch sie wich zurück, entzog sich dem Kuss. Dabei sehnte sie sich nach ihm, sehnte sich so sehr, dass sie sich unglaublich leer fühlte, als hätte das Verlangen ein Loch in ihr Inneres gebrannt. Ihr Verstand sagte ihr: Dies hier ist nicht Jace, jedenfalls nicht ihr Jace. Doch ihr Körper erinnerte sich noch gut an ihn: an seine Muskeln und das Gefühl seiner Wärme und an den Duft seiner Haut und Haare. Und ihr Körper wollte ihn unbedingt zurückhaben.

Clary gestattete ihren Lippen ein Lächeln an Jace’ Mund, als würde sie ihn nur necken. Dann rollte sie sich auf die Seite und schmiegte sich auf dem feuchten Bootsboden an ihn. Jace protestierte nicht; stattdessen schlang er den Arm um sie und lag ruhig da, während sich das Boot unter ihnen in den sanften Wellen wiegte. Gern hätte Clary ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, doch sie verzichtete darauf.

»Wir treiben immer weiter«, stellte sie fest.

»Ich weiß. Aber es gibt da was, das ich dir zeigen wollte…« Jace schaute zum Himmel. Der Mond lag hinter einem großen weißen Wolkenschwaden, der an ein Segel erinnerte. Jace’ Brust hob und senkte sich regelmäßig, seine Finger spielten mit Clarys Haaren.

Clary lag reglos neben ihm und wartete und beobachtete, wie die Sterne langsam über den Himmel zogen wie eine astronomische Uhr. Und sie fragte sich, worauf sie wohl warteten, bis sie schließlich etwas hörte: Ein tiefes, langes Rauschen, wie Wasser, das durch einen gebrochenen Deich dringt. Der Himmel verfinsterte sich und begann zu wirbeln, als plötzlich mehrere Gestalten über das Firmament stürmten. Durch die Wolken und die große Entfernung konnte Clary nicht viel erkennen. Es schienen Männer mit langen Haaren wie Zirruswolken zu sein, die auf Pferden ritten, deren Hufe wie frisches Blut glänzten. Der Klang eines Jagdhorns schallte durch die Nacht. Die Sterne bebten und der Nachthimmel zog sich zusammen, bis die Männer hinter dem Mond verschwanden.

Langsam ließ Clary die angehaltene Luft aus den Lungen weichen. »Was war denn das?«

»Die Wilde Jagd«, erklärte Jace. Seine Stimme klang gedankenverloren und träumerisch. »Odins Jagd. Das Wilde Heer. Es gibt viele Namen dafür. Dabei handelt es sich um Elben, die die weltliche Gerichtsbarkeit verachten. Sie preschen in ewiger Jagd über den Himmel. Jedes Jahr ist es einem Sterblichen gestattet, sich ihnen während einer einzigen Nacht anzuschließen – doch wer sich an der Jagd beteiligt, für den gibt es kein Zurück mehr.«

»Warum sollte irgendjemand so etwas wollen?«

Jace drehte sich und lag plötzlich auf Clary, drückte sie auf den Boden des Boots. Clary nahm die feuchten Planken kaum wahr. Sie spürte nur die Hitze, die in Wogen von Jace’ Körper abstrahlte. Seine Augen funkelten und er stützte sich so auf, dass Clary nicht zerquetscht wurde, aber jeden Teil seines Körpers spüren konnte – die Wölbung seiner Hüftknochen, die Nieten seiner Jeans, die reliefartigen Wölbungen seiner Narben. »Die Vorstellung hat etwas sehr Verlockendes… sich einfach fallen zu lassen«, raunte er. »Findest du nicht?«

Clary öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Jace küsste sie bereits. Sie hatte schon so viele Küsse mit ihm getauscht – sanfte, weiche Küsschen, harte, verzweifelte Küsse, ein kurzes Streifen der Lippen zum Abschied und Küsse, die gar kein Ende nehmen wollten. Auch dieser Kuss unterschied sich nicht von den vorherigen. So wie die Erinnerung an einen Bewohner eines Hauses auch lange nach dessen Fortgehen noch in den Räumen verweilen kann – als eine Art psychischer Abdruck –, so erinnerte sich Clarys Körper an Jace. Erinnerte sich an seinen Geschmack, an die leichte Neigung seines Munds auf ihren Lippen, an das Gefühl seiner Narben unter ihren Fingerkuppen und die Konturen seines Körpers unter ihren Händen. Clary zweifelte nicht länger und streckte die Arme aus, um ihn fester an sich zu ziehen.

Jace drehte sich auf die Seite und zog sie mit sich, während das Boot unter ihnen schaukelte. Sie konnte das Gluckern des Wassers hören, als seine Hände über ihren Körper bis zur Taille glitten und seine Finger die empfindsame Haut ihres unteren Rückens streichelten.

Clarys Hände schoben sich in seine Haare und sie schloss die Augen, eingehüllt in Nebelschwaden und die Geräusche und Gerüche des Wassers. Die Zeit schien stillzustehen und es gab nichts außer Jace’ Mund auf ihren Lippen, dem sanften Schaukeln des Boots und dem Gefühl seiner Hände auf ihrer Haut. Irgendwann – es ließ sich unmöglich schätzen, ob Stunden oder nur Minuten vergangen waren – hörte sie den Schall einer lauten Stimme: eine wütende, italienische Stimme, die die Stille der Nacht zerriss.

Jace löste sich von Clary mit einem trägen, bedauernden Ausdruck in den Augen. »Ich glaube, wir sollten besser verschwinden.«

Benommen schaute Clary ihn an. »Warum?«

»Weil das der Typ ist, dessen Boot wir gestohlen haben.« Jace setzte sich auf und zog sein Sweatshirt herunter. »Und er wird jeden Moment die Polizei rufen.«

11 Ihm also schreibe das ganze Verbrechen zu

Während der Beschwörung durfte kein Strom eingeschaltet sein, erklärte Magnus. Deshalb wurde die Wohnung nur vom Schein der unzähligen Teelichter und Opferkerzen erhellt. Die Kerzen standen in einem Kreis in der Raummitte und brannten unterschiedlich hoch und hell, doch alle besaßen eine ähnlich bläulich weiße Flamme.

Im Inneren des Kreises hatte Magnus ein Pentagramm gezeichnet und mit einem Ebereschenzweig das Muster der einander überlappenden Dreiecke in den Holzboden gebrannt. In den Flächen zwischen den Linien des Pentagramms leuchteten Symbole, die Simon noch nie gesehen hatte – weder Buchstaben noch Runen – und die trotz der Wärme der Kerzen für eine frostige bedrohliche Aura sorgten.

Inzwischen war es draußen bereits dunkel geworden, jene Art von Dunkelheit, die mit den frühen Sonnenuntergängen des nahenden Winters einherging. Isabelle, Alec, Simon und schließlich auch Magnus nahmen jenseits der Kreislinie jeweils eine Position ein, die einer der vier Himmelsrichtungen entsprach. Magnus las währenddessen in einer Art Singsang aus dem Handbuch Verbotene Riten vor und seine Stimme hob und senkte sich wie im Gebet. Doch die lateinischen Worte, die er sprach, klangen wie die verdrehte, düstere Version einer Anrufung Gottes.

Die Flammen loderten auf und die in den Boden geritzten Symbole begannen, schwarz zu schwelen. Miau Tse-tung, der das Ganze aus einer Ecke des Wohnzimmers beobachtet hatte, fauchte verängstigt und floh in die Schatten. Die bläulich weißen Flammen flackerten immer höher, bis Simon Magnus auf der anderen Seite des Pentagramms kaum noch erkennen konnte. Im Raum wurde es nun immer wärmer, während der Hexenmeister die Formeln immer schneller psalmodierte, die feuchte Hitze seine schwarzen Haare kräuselte und sich Schweißperlen auf seinen Wangenknochen bildeten. »Quod tumeraris: per Jehovam, Gehennam, et consecratam aquam quam nunc spargo, signumque crucis quod nunc facio, et per vota nostra, ipse nunc surgat nobis dicatus Azazel!«

Plötzlich schoss aus der Mitte des Pentagramms eine Stichflamme empor. Eine dicke schwarze Rauchsäule stieg auf, verteilte sich langsam durch den Raum und verursachte bei allen Anwesenden, bis auf Simon, einen unangenehmen Hustenanfall. Dann begann der Rauch, wie ein Mahlstrom zu wirbeln und sich allmählich zu der Gestalt eines Mannes zu verdichten.

Simon blinzelte verwundert. Er wusste zwar nicht, was er erwartet hatte, doch mit diesem Anblick hatte er nicht gerechnet: In der Mitte des Pentagramms stand ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit kastanienbraunen Haaren, der weder jung noch alt zu sein schien – sein altersloses Gesicht wirkte unmenschlich und kalt. Er trug einen eleganten schwarzen Anzug und glänzende schwarze Schuhe. Dunkelrote Striemen um seine Handgelenke zeugten von einer Art Fesselung – aus Seil oder Metall –, die im Laufe vieler Jahre deutliche Spuren auf seiner Haut hinterlassen hatte. In seinen Augen loderten rote Flammen.

»Wer wagt es, Azazel heraufzubeschwören?«, fragte er fordernd; seine Stimme klang wie das Schleifen von Metall auf Metall.

»Ich!«, erwiderte Magnus und klappte das Buch in seinen Händen resolut zu. »Magnus Bane.«

Langsam wandte Azazel den Kopf, der sich unnatürlich auf seinem Hals zu drehen schien wie bei einer Schlange. »Hexenmeister«, knurrte er, »ich weiß, wer du bist.«

Spöttisch hob Magnus eine Augenbraue. »Tatsächlich?«

»Beschwörer. Bändiger. Vernichter des Dämons Marbas. Sohn des…«

»Danke, das reicht!«, warf Magnus hastig ein. »Es gibt nicht den geringsten Grund, hier ins Detail zu gehen.«

»Doch, doch, den gibt es durchaus«, widersprach Azazel in vernünftigem, fast schon amüsiertem Ton. »Wenn du infernalische Unterstützung suchst, warum hast du dann nicht deinen Vater heraufbeschworen?«

Alec starrte Magnus mit offenem Mund an und Simon empfand Mitleid mit dem jungen Schattenjäger. Keiner von ihnen hatte wohl vermutet, dass der Hexenmeister selbst wusste, wer sein Vater war – abgesehen von dem Umstand, dass es sich um einen Dämon handelte, der Magnus’ Mutter vorgegaukelt hatte, er sei ihr Ehemann. Ganz offensichtlich wusste Alec darüber auch nicht mehr als die anderen – worüber er wahrscheinlich nicht allzu glücklich war, überlegte Simon.

»Mein Vater und ich stehen nicht auf besonders gutem Fuß miteinander«, erklärte Magnus. »Mir wäre es lieber, ihn nicht zu involvieren.«

Azazel hob die Hände. »Wie du wünschst, Gebieter. Du bindest mich innerhalb des Siegels. Was verlangst du von mir?«

Obwohl Magnus schwieg, ließ sich an Azazels Miene ablesen, dass der Hexenmeister auf telepathischem Wege mit ihm kommunizierte. Die Flammen in den Augen des Dämons loderten und tanzten wie bei Kindern, die begierig einer Geschichte lauschten.

»Ganz schön clever, diese Lilith«, bemerkte der Dämon schließlich. »Ziemlich raffiniert von ihr, den Jungen von den Toten wiederzuerwecken und sein Überleben zu sichern, indem sie ihn mit jemandem verbindet, dessen Tod ihr nicht riskieren wollt. Sie war schon immer sehr gut darin, menschliche Gefühle zu manipulieren, viel besser als die meisten von uns. Vermutlich weil sie selbst einst fast menschlich war.«

»Und?«, fragte Magnus ungeduldig. »Gibt es eine Möglichkeit, den Bund zwischen den beiden zu zertrennen?«

Azazel schüttelte den Kopf. »Nicht, ohne dabei beide zu töten.«

»Und was ist mit einer Möglichkeit, Sebastian zu treffen, ohne Jace dabei Schaden zuzufügen?«, hakte Isabelle eifrig nach, worauf sie sich von Magnus einen Blick einfing, der sie verstummen ließ.

»Nicht mit einer Waffe, die ich schmieden oder beschaffen könnte«, erklärte Azazel. »Ich kann nur Waffen herstellen, die dämonische Kräfte besitzen. Allerdings könnte wahrscheinlich ein Blitz aus der Hand eines Engels das Böse in Valentins Sohn versengen und damit den Bund zwischen den beiden aufheben oder das Wesen dieses Bundes insgesamt weniger boshaft werden lassen. Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte…«

»Nur zu«, sagte Magnus und kniff die katzenartigen Augen zu Schlitzen.

»Ich wüsste da eine einfache Lösung, wie man die beiden voneinander trennen könnte. Euer Junge bliebe dabei am Leben und die Gefahr, die von dem anderen ausgeht, wird neutralisiert. Ich würde dafür auch nur eine Kleinigkeit als Gegenleistung fordern.«

»Du bist mein Diener«, konterte Magnus. »Wenn du dieses Pentagramm jemals wieder verlassen willst, tust du, was ich dir sage – ohne irgendwelche Gegenleistungen zu verlangen.«

Der Dämon fauchte wütend und Flammen stiegen von seinen Lippen auf. »Wenn ich nicht hier gebunden bin, dann bin ich dort gebunden. Für mich macht das keinen großen Unterschied.«

»›Hier ist Hölle, ich bin nicht aus ihr‹«, sagte Magnus in einem Tonfall, als würde er aus einem alten Werk zitieren.

Azazel schenkte ihm ein gefühlloses Lächeln. »Du magst zwar nicht so stolz wie der alte Doktor Faustus sein, Hexenmeister, aber du bist ungeduldig. Ich bin mir sicher, meine Bereitschaft, in diesem Pentagramm zu verharren, hält länger an als deine Lust, darüber wachen zu müssen, dass ich es nicht verlasse.«

»Ach, ich weiß nicht«, widersprach Magnus. »Mein Einrichtungsstil war schon immer etwas unkonventionell und deine Anwesenheit hier verleiht dem Interieur das gewisse Etwas.«

»Magnus!«, warf Alec ein, sichtlich nicht begeistert von der Idee, dass ein unsterblicher Dämon in der Wohnung seines Freundes Quartier beziehen könnte.

»Eifersüchtig, kleiner Schattenjäger?«, wandte Azazel sich grinsend an Alec. »Keine Sorge: Dein Hexenmeister ist nicht mein Typ und außerdem hab ich nicht die geringste Lust, den Unmut seines…«

»Das reicht«, schnitt Magnus ihm das Wort ab. »Sag uns, welche ›Kleinigkeit‹ du dir als Gegenleistung für deinen Plan vorstellst.«

Azazel verschränkte die Hände – er hatte raue, blutrote Arbeiterhände mit schwarzen Fingernägeln. »Eine glückliche Erinnerung. Von jedem von euch. Etwas, das mich erheitert, während ich wie Prometheus an seinen Fels gebunden bin.«

»Eine Erinnerung?«, wiederholte Isabelle verwundert. »Das heißt, sie würde dann aus unserem Gehirn verschwinden? Wir wären nicht mehr in der Lage, sie uns ins Gedächtnis zu rufen?«

Spöttisch musterte Azazel sie durch die Flammen hindurch. »Was bist du, meine Kleine? Eine Nephilim? Genau, ich würde deine Erinnerung nehmen und sie zu meiner machen. Du würdest nicht länger wissen, dass du jene Erinnerung überhaupt hattest. Allerdings stelle ich eine Bedingung: Verzichte bitte darauf, mir eine deiner Erinnerungen an die Dämonen zu geben, die du im Mondenschein niedergemetzelt hast. An derartigen Dingen kann ich mich nicht erfreuen. Nein, ich möchte, dass diese Erinnerung… persönlich ist.« Er grinste und seine Zähne schimmerten wie ein eisernes Fallgatter.

»Ich bin alt«, sinnierte Magnus, »ich habe viele Erinnerungen und würde eine davon hergeben, wenn es sein muss. Aber ich kann nicht für euch sprechen. Niemand sollte sich gezwungen fühlen, so etwas aufgeben zu müssen.«

»Ich mach’s«, sagte Isabelle sofort. »Für Jace.«

»Ich auch, natürlich«, pflichtete Alec ihr bei und wandte sich erwartungsvoll an Simon.

Dieser musste plötzlich an Jace denken… wie er sich in dem kalten Lagerraum auf Valentins Jacht die Pulsader aufgeschnitten und ihm sein Blut gegeben hatte. Wie er sein Leben für Simon aufs Spiel gesetzt hatte. Möglicherweise hatte Jace das hauptsächlich Clarys wegen getan, aber Simon stand trotzdem in seiner Schuld. »Ich bin dabei«, verkündete er.

»Gut«, sagte Magnus. »Dann versucht, euch jetzt alle eine glückliche Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen. Ein wirklich schönes Erlebnis. Etwas, das euch beim Gedanken daran Freude bereitet«, fügte er hinzu und warf dem selbstgefälligen Dämon im Inneren des Pentagramms einen säuerlichen Blick zu.

»Ich bin so weit«, meinte Isabelle. Sie stand mit geschlossenen Augen und kerzengeradem Rücken da, als wappnete sie sich gegen einen heftigen Schmerz.

Magnus ging zu ihr, legte seine Finger an ihre Stirn und murmelte leise vor sich hin.

Angespannt beobachtete Alec seinen Freund und schloss dann ebenfalls die Augen. Auch Simon folgte hastig seinem Beispiel und versuchte, sich eine glückliche Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen. Vielleicht irgendeinen schönen Moment mit Clary? Doch viele seiner Erinnerungen waren nun durch die Sorge um sie getrübt. Vielleicht ein Erlebnis aus ihrer gemeinsamen Kindheit? Unerwartet drängte sich ein anderes Bild in den Vordergrund: ein heißer Sommertag auf Coney Island, Simon auf den Schultern seines Vaters, während Rebecca mit einer Handvoll Luftballons in der kleinen Faust hinter ihnen herlief; der Blick hinauf zum Himmel, auf der Suche nach wiedererkennbaren Formen und Gestalten in den Wolkenformationen; das fröhliche Lachen seiner Mutter. Nein, dachte Simon, nicht diese Erinnerung. Die will ich nicht verlieren… Doch im selben Moment spürte er eine kühle Berührung auf seiner Stirn. Er schlug die Augen auf und sah, wie Magnus die Hand sinken ließ. Simon blinzelte ihn an; sein Gehirn schien leer gefegt. »Aber ich habe doch an gar nichts gedacht«, protestierte er.

Magnus musterte ihn aus traurigen Katzenaugen. »Doch, das hast du«, erklärte er.

Benommen schaute Simon sich um; ihm war ein wenig schwindlig. Die anderen sahen ebenfalls so aus, als würden sie aus einem seltsamen Traum erwachen. Simon fing Isabelles Blick auf, bemerkte das Flattern ihrer dunklen Wimpern und fragte sich, woran sie wohl gedacht hatte, welche glückliche Erinnerung sie aufgegeben hatte.

Ein tiefes Grollen aus dem Pentagramm lenkte Simons Aufmerksamkeit von Izzy auf Azazel, der so nah wie möglich an den Rand des Fünfsterns getreten war und aus dessen Kehle ein hungriges Knurren aufstieg.

Magnus wandte sich mit angewidertem Gesichtsausdruck dem Dämon zu; seine Hand war zur Faust geballt und zwischen seinen Fingern schimmerte etwas Helles hindurch, als hielte er einen Elbenlichtstein. Dann drehte er sich leicht zur Seite und schleuderte es blitzschnell in die Mitte des Pentagramms.

Simons Vampirsehvermögen erfasste das Objekt dennoch: Es handelte sich um eine Lichtkugel, die sich im Flug zu einem Kreis ausdehnte, der etliche Bilder enthielt. Simon sah das Fragment eines azurblauen Ozeans, den Saum eines Satinkleids, das sich nach außen bauschte, während die Trägerin um die eigene Achse wirbelte, eine Momentaufnahme von Magnus’ Gesicht, einen jungen Mann mit blauen Augen…

Azazel breitete die Arme aus und der Kreis mit den Bildern verschwand in seinem Körper wie aufgewirbelter Müll im Triebwerk eines Düsenflugzeugs. Der Dämon keuchte; seine Augen, die bis dahin wie rote Flammen geflackert hatten, strahlten nun wie ein Freudenfeuer und seine Stimme knackte und knisterte: »Ahhhh. Köstlich.«

»Nun zu deinem Teil unserer Abmachung«, erwiderte Magnus scharf.

Azazel leckte sich die Lippen. »Die Lösung zu eurem Problem sieht folgendermaßen aus: Ihr entlasst mich in die Welt und ich hole mir Valentins Sohn und bringe ihn lebend in die Hölle. Auf diese Weise wird er nicht sterben und damit auch nicht Jace. Valentins Sohn würde diese Welt verlassen und die Verbindung zwischen den beiden langsam verglühen. So kann euer Freund eines Tages gänzlich frei sein.«

»Und was passiert, nachdem wir dich in die Welt entlassen haben?«, fragte Magnus gedehnt. »Du kehrst anschließend zurück und lässt dich erneut binden?«

Der Dämon lachte. »Natürlich nicht, du törichter Hexenmeister. Der Preis für meine Gefälligkeit ist meine Freiheit.«

»Freiheit?«, wiederholte Alec ungläubig. »Ein Fürst der Finsternis auf freiem Fuß? Wir haben dir bereits unsere Erinnerungen gegeben…«

»Die Erinnerungen waren nur der Preis für meinen Plan«, erwiderte Azazel. »Meine Freiheit ist der Lohn für dessen Umsetzung.«

»Das ist Betrug und das weißt du ganz genau«, schnaubte Magnus. »Du verlangst das Unmögliche.«

»Genau wie ihr«, entgegnete Azazel. »Nach den herrschenden Gesetzen ist euer Freund für immer verloren. ›Wenn jemand dem HERRN ein Gelübde tut oder einen Eid schwört, dass er seine Seele verbindet, der soll sein Wort nicht aufheben.‹ Und gemäß Liliths Beschwörungsformel sind die Seelen der beiden miteinander verbunden… und beide haben dem zugestimmt.«

»Jace hätte niemals zugestimmt…«, setzte Alec an.

»Er hat die Worte gesprochen«, erwiderte Azazel. »Ob nun aus freien Stücken oder unter Zwang – das spielt keine Rolle. Ihr verlangt von mir, einen Bund zu trennen, den nur der Himmel trennen kann. Aber der Himmel wird euch nicht helfen; das wisst ihr so gut wie ich. Aus diesem Grund beschwören die Menschen schließlich Dämonen und nicht Engel, oder etwa nicht? Dies ist der Preis, den ihr für mein Einschreiten zahlt. Wenn ihr ihn nicht zahlen wollt, müsst ihr lernen, den Verlust zu akzeptieren.«

Magnus’ angespanntes Gesicht war bleich. »Wir werden uns zurückziehen und darüber beraten, ob dein Angebot annehmbar ist. In der Zwischenzeit verbanne ich dich.« Er wedelte mit der Hand, woraufhin Azazel verschwand und den Geruch von verkohltem Holz im Raum hinterließ.

Die vier starrten einander fassungslos an. »Azazel verlangt etwas, das unmöglich ist, das ist euch doch klar, oder?«, fragte Alec schließlich.

»Theoretisch ist alles möglich«, erklärte Magnus und schaute gedankenverloren vor sich hin, als blickte er in einen Abgrund. »Aber die Vorstellung, einen Dämonenfürsten in die Welt zu entlassen… und nicht einfach irgendeinen Dämonenfürsten, sondern einen Fürsten der Finsternis, der an zweiter Stelle steht, direkt hinter Luzifer persönlich. Die Zerstörung, die er anrichten könnte…«

»Wäre es nicht denkbar, dass Sebastian eine ebenso große Schneise der Verwüstung schlägt?«, warf Isabelle ein.

»Wie Magnus schon gesagt hat: Alles ist möglich«, sagte Simon bitter.

»In den Augen des Rats gibt es kaum ein größeres Verbrechen«, erklärte Magnus. »Der- oder diejenigen, die Azazel auf die Welt loslassen, wären im Handumdrehen gesuchte Verbrecher.«

»Aber wenn dadurch Sebastian vernichtet würde…«, setzte Isabelle an.

»Wir haben keinerlei Beweise dafür, dass Sebastian irgendetwas ausheckt«, hielt Magnus dagegen. »Soweit wir wissen, könnte er genauso gut auch nur nach Idris ziehen und sich dort in einem hübschen Häuschen auf dem Land niederlassen wollen.«

»Zusammen mit Clary und Jace?«, fragte Alec ungläubig.

Magnus zuckte die Achseln. »Wer weiß, was er von ihnen will? Vielleicht ist er ja einfach nur einsam.«

»Nein – er hat Jace nicht von dieser Dachterrasse gekidnappt, weil er dringend einen ›Bruder‹ braucht«, entgegnete Isabelle. »Sebastian plant irgendetwas, da bin ich mir sicher.«

Fragend schauten die drei zu Simon. »Clary versucht gerade herauszufinden, was er vorhat. Aber dazu braucht sie etwas Zeit. Und kommt mir jetzt nicht mit ›Wir haben aber keine Zeit‹«, fügte Simon hinzu. »Das weiß Clary selbst.«

Nachdenklich fuhr Alec sich durch die dunklen Haare. »Okay, aber wir haben gerade einen ganzen Tag vergeudet. Einen Tag, den wir überhaupt nicht hatten. Ab jetzt keine weiteren blöden Ideen mehr.« Seine Stimme klang ungewöhnlich scharf.

»Alec«, sagte Magnus und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Alec stand reglos da und starrte wütend zu Boden. »Alles okay mit dir?«, fragte er.

Doch Alec schaute ihn nur kühl an. »Wer warst du gleich noch mal?«

Bestürzt schnappte Magnus nach Luft und wirkte zum ersten Mal wirklich beunruhigt. Der Moment war nur kurz, doch Simon hatte es mitbekommen. »Alexander«, setzte Magnus erneut an.

»War wohl etwas zu früh, um schon Witze über diese glücklichen Erinnerungen zu machen«, meinte Alec.

»Ach wirklich?«, schnaubte Magnus mit erhobener Stimme. Doch bevor er noch irgendetwas sagen konnte, schwang die Tür auf und Maia und Jordan betraten das Wohnzimmer. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet und Maia trug Jordans Lederjacke, wie Simon mit leichter Verblüffung feststellte.

»Wir kommen gerade von der alten Polizeiwache«, rief Maia aufgeregt. »Luke ist zwar noch nicht aus dem Koma erwacht, aber allem Anschein nach wird er wieder auf die Beine kommen…« Sie verstummte und warf einen Blick auf das noch schwelende Pentagramm, die schwarzen Rauchwolken und die versengten Stellen auf dem Fußboden. »Okay, und was habt ihr hier inzwischen getrieben?«

Dank eines Zauberglanzes und Jace’ Fähigkeit, sich einhändig auf eine alte Gewölbebrücke zu schwingen, gelang es Clary und ihm, der italienischen Polizei zu entkommen. Nachdem sie eine Weile gerannt waren, ließen sie sich lachend und prustend gegen eine Hauswand sinken, Seite an Seite, mit verschränkten Händen. Einen kurzen Augenblick lang war Clary einfach nur glücklich. Sie musste den Kopf an Jace’ Schulter drücken und sich in scharfem Ton ermahnen, dass dieser Junge nicht der richtige Jace war, bevor ihr Lachen schließlich verstummte.

Jace schien ihr plötzliches Schweigen als Zeichen von Müdigkeit zu deuten. Er hielt Clary locker an der Hand, während sie sich auf den Rückweg machten – zu dem schmalen Kanal mit einer Brücke an beiden Enden. Zwischen den beiden Brücken erkannte Clary das kahle, unauffällige Stadthaus wieder, das sie Stunden zuvor verlassen hatten, und sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief.

»Ist dir kalt?«, fragte Jace, zog sie an sich und küsste sie. Er war so viel größer als Clary, dass er sich dafür entweder bücken oder sie hochheben musste – was er in diesem Fall tat. Clary unterdrückte ein Keuchen, als er sie um sich herumwirbelte und einfach durch die Hausmauer hindurchschwang. Erst dann setzte er sie ab, trat die Tür, die wie aus dem Nichts hinter ihnen erschienen war, mit Schwung zu und wollte gerade seine Jacke abstreifen, als ein gedämpftes Lachen aus der Dunkelheit erklang.

Sofort löste sich Clary von Jace, während der Raum in helles Licht getaucht wurde.

Sebastian lümmelte auf dem Sofa, die Füße auf dem Couchtisch. Sein blondes Haar war zerzaust und seine Augen glänzten dunkel. Er war nicht allein. Zwei Mädchen saßen links und rechts von ihm: eine spärlich bekleidete Blondine in einem glitzernden Minirock und einem tief ausgeschnittenen paillettenbesetzten Top, die eine Hand auf Sebastians Brust gelegt hatte, und ein etwas jüngeres, sanfter wirkendes Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren, einem roten Stirnband und einem schwarzen Spitzenkleid.

Clary spürte, wie ihre innere Anspannung beim Anblick der Dunkelhaarigen wuchs. Eine Vampirin, schoss es ihr durch den Kopf. Sie konnte nicht sagen, woher sie das wusste, aber es gab überhaupt keinen Zweifel. Vielleicht hatte sie es am wächsernen weißen Glanz der Haut oder den leeren Augen erkannt. Oder vielleicht lernte sie auch einfach nur, solche Dinge zu spüren – so wie alle Nephilim die Anwesenheit von Schattenwesen instinktiv erfassten.

Und die Dunkelhaarige wusste, dass Clary Bescheid wusste, denn sie grinste und zeigte ihre kleinen spitzen Zähne. Dann beugte sie sich vor und fuhr mit den Fangzähnen über Sebastians Schlüsselbein. Dessen Lider senkten sich daraufhin flatternd, blonde Wimpern über dunklen Augen. Er ignorierte Jace und warf Clary einen lasziven Blick zu.

»Und, hast du dein kleines Date genossen?«, fragte er sie träge.

Clary wünschte, sie hätte darauf eine unfreundliche Antwort geben können; stattdessen nickte sie nur stumm.

»Na dann, willst du dich nicht zu uns setzen?«, fragte Sebastian und deutete auf sich und die beiden Mädchen. »Auf ein Glas Wein?«

Die Dunkelhaarige lachte und wandte sich auf Italienisch und in fragendem Ton an Sebastian.

»No«, erklärte Sebastian. »Lei è mia sorella.«

Das Mädchen richtete sich wieder auf und musterte Clary enttäuscht. Clary spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Und dann fühlte sie plötzlich Jace’ Hand – seine rauen schwieligen Fingerspitzen an ihrer Handfläche. »Nein, ich denke, wir gehen besser nach oben. Bis morgen früh dann«, sagte er.

Sebastian hob die Hand und winkte zum Abschied mit den Fingern, wobei sein Morgenstern-Ring im Licht der Deckenlampe wie ein Leuchtfeuer funkelte. »Ci vediamo.«

Jace führte Clary aus dem Raum und die Glastreppe hinauf. Erst als sie den oberen Flur erreichten, hatte Clary das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Der veränderte Jace war eine Sache, aber Sebastian war etwas völlig anderes – eine Aura immanenter Bedrohung ging ständig von ihm aus wie Rauch von einem Feuer.

»Was hat er gesagt?«, fragte Clary. »Ich meine das auf Italienisch.«

»Er hat gesagt, ›Nein, sie ist meine Schwester‹«, erläuterte Jace, übersetzte aber nicht, was das Mädchen Sebastian gefragt hatte.

»Macht er das oft?«, erkundigte Clary sich. Inzwischen standen sie vor Jace’ Zimmer. »Irgendwelche Mädchen mit nach Hause bringen?«

Sanft berührte Jace Clarys Gesicht. »Sebastian tut, was er will, und ich stelle keine Fragen«, sagte er. »Von mir aus könnte er ein baumhohes rosa Kaninchen im Bikini mit nach Hause bringen – es geht mich nichts an. Aber falls du wissen willst, ob ich irgendwelche Mädchen mit hierhergebracht habe, dann lautet die Antwort: nein. Ich will niemanden außer dir.«

Das hatte Clary zwar gar nicht gefragt, aber sie nickte trotzdem, als wäre sie erleichtert. »Ich mag nicht mehr nach unten gehen«, sagte sie.

»Du kannst heute Nacht bei mir schlafen.« Jace’ goldene Augen funkelten in der Dunkelheit. »Oder im großen Schlafzimmer. Du weißt, ich würde dich niemals…«

»Ich will bei dir sein«, unterbrach Clary ihn mit einer Bestimmtheit, die sie selbst überraschte. Vielleicht war aber auch die Vorstellung, allein in dem Raum zu übernachten, in dem Valentin einst geschlafen und den er wieder mit ihrer Mutter zu beziehen gehofft hatte, einfach zu viel für Clary. Oder es lag daran, dass sie einfach nur müde war und bisher nur eine einzige Nacht mit Jace im selben Bett verbracht hatte. Sie hatten Seite an Seite geschlafen und einander nur leicht an der Hand berührt, als läge ein gezücktes Schwert zwischen ihnen.

»Gib mir eine Sekunde, um mein Zimmer aufzuräumen. Da drin herrscht das totale Chaos.«

»Ja klar! Als ich das letzte Mal in deinem Zimmer war, hab ich doch tatsächlich ein Staubflöckchen auf der Fensterbank gesehen. Darum solltest du dich dringend kümmern.«

Jace nahm eine von Clarys Strähnen und ließ die Locke durch seine Finger gleiten. »Ich will ja nicht unbedingt gegen meine eigenen Interessen handeln, aber brauchst du irgendwas zum Schlafen? Einen Pyjama oder…«

Clary dachte an den reich gefüllten Kleiderschrank in Valentins Schlafzimmer – irgendwann würde sie sich an die Vorstellung gewöhnen müssen, also konnte sie genauso gut auch gleich damit anfangen. »Ich hol mir schnell ein Nachthemd.«

Als sie wenige Augenblicke vor der geöffneten Schublade stand und auf den Inhalt starrte, ging ihr auf, dass die Schlafsachen, die Männer für eine geliebte Frau besorgten, nicht unbedingt zu der Sorte von Nachtwäsche zählte, die sie sich selbst ausgesucht hätte. Normalerweise schlief Clary in Trägerhemd und Pyjamashorts, aber sämtliche Kleidungsstücke in der Schublade bestanden entweder aus Seide oder Spitze oder einem Hauch von nichts – oder einer Kombination aus allen dreien. Letztendlich entschied sie sich für ein Nachthemd aus hellgrüner Seide, das eine Handbreit über ihrem Knie endete. Clarys Gedanken wanderten zu der Blondine mit den rot lackierten Fingernägeln, dem Mädchen, das Sebastians Brust gekrault hatte. Ihre eigenen Fingernägel waren abgeknabbert und ihre Zehennägel hatten, wenn überhaupt, bisher nur transparenten Nagellack zu sehen bekommen. Clary fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, wenn sie mehr wie Isabelle wäre: sich der eigenen femininen Macht so bewusst, dass man diese wie eine Waffe einsetzen konnte, statt verwirrt darauf zu starren wie jemand, der bei einer Einweihungsparty ein Geschenk erhält, aber nicht weiß, wo er es hinstellen soll.

Rasch berührte Clary den goldenen Ring an ihrem Finger, damit er ihr Glück brachte, und ging dann in Jace’ Zimmer. Der junge Schattenjäger saß auf dem Bett, nur mit einer schwarzen Pyjamahose bekleidet, und las im gelblichen Schein der Nachttischlampe ein Buch. Clary stand einen Moment da und betrachtete ihn. Sie konnte das feine Spiel der Muskeln unter seiner Haut erkennen, als er die Seiten umblätterte – und sie konnte Liliths Mal sehen, direkt über seinem Herzen. Dieses Symbol besaß keinerlei Ähnlichkeit mit dem schwarzen Gitterwerk seiner übrigen Runenmale: Es schimmerte silbrig-rot, wie mit Blut gemischtes Quecksilber. Und es wirkte vollkommen falsch.

Als die Tür mit einem leisen Klicken hinter Clary ins Schloss glitt, schaute Jace auf und Clary konnte zusehen, wie sich seine Miene veränderte. Sie selbst mochte zwar kein allzu großer Fan von diesem Nachthemd sein, aber das konnte man von Jace nicht behaupten. Der Ausdruck auf seinem Gesicht jagte ihr ein elektrisierendes Prickeln über die Haut.

»Ist dir kalt?«, fragte Jace und schlug die Bettdecke zur Seite. Clary krabbelte ins Bett, während er sein Buch achtlos auf den Nachttisch warf und ihr dann unter die Bettdecke folgte, bis sie nebeneinanderlagen, die Gesichter einander zugewandt. Im Boot auf dem Kanal hatten sie scheinbar stundenlang dagelegen und sich geküsst, doch das hier war etwas völlig anderes. Denn das Küssen hatte im Grunde in aller Öffentlichkeit stattgefunden, unter freiem Himmel und für die ganze Stadt sichtbar. Aber das hier ging wesentlich weiter: Jetzt lagen sie beide unter einer Decke, während ihr Atem und die Wärme ihrer Körper miteinander verschmolzen. Hier gab es niemanden, der sie hätte beobachten können, niemanden, der sie hätte aufhalten können – und auch keinen Grund zum Aufhören. Als Jace die Hand ausstreckte und seine Finger an ihre Wange legte, hatte Clary das Gefühl, als müsste das Rauschen des Bluts in ihren Ohren sie taub werden lassen.

Sie lagen so dicht beieinander, dass Clary das Muster aus hell- und dunkelgoldenen Flecken in seinen Augen erkennen konnte, das wie ein Mosaikopal aussah. Obwohl ihr die ganze Zeit kalt gewesen war, hatte sie nun das Gefühl, als würde sie gleichzeitig glühen und sich auflösen, mit ihm verschmelzen – und dabei berührten sie einander kaum. Ihr Blick wanderte zu den Stellen seines Körpers, an denen er besonders verwundbar war: seine Schläfen, seine Augen, der Pulsschlag an seiner Kehle. Genau dort wollte sie ihn küssen, seinen Herzschlag an ihren Lippen spüren.

Jace’ narbenüberzogene rechte Hand glitt über ihre Wange und dann über ihre Schulter und Seite, in einer einzigen sanften Berührung bis hinunter zu ihrer Hüfte. Clary verstand nun, warum Männer diese Art Wäsche so sehr mochten: Die Seide erzeugte keinerlei Reibung – es war, als würde man mit der Hand über eine Glasfläche streifen. »Sag mir, was du möchtest«, raunte er im Flüsterton, der den heiseren Klang seiner Stimme jedoch nicht ganz kaschieren konnte.

»Ich möchte einfach nur, dass du mich im Arm hältst. Während ich schlafe. Im Moment möchte ich nichts anderes«, murmelte Clary.

Seine Finger, die zärtliche Kreise auf ihrer Hüfte gemalt hatten, hielten inne. »Das ist alles?«

Nein, das war keineswegs alles, was sie wollte. In Wahrheit wollte sie ihn küssen, bis sie jedes Gefühl für Raum und Zeit verlor – bis sie vergaß, wer sie war und warum sie hier war, genau wie in dem Boot. Sie wollte ihn wie eine Droge benutzen.

Aber das war im Augenblick keine gute Idee.

Jace beobachtete sie, ruhelos wie immer, und Clary musste an ihre erste Begegnung denken: Damals hatte sie gedacht, dass sein Erscheinungsbild sie an das eines Löwen erinnerte – wunderschön und extrem gefährlich. Das hier ist ein Test, schoss es ihr durch den Kopf, und möglicherweise ein ziemlich gefährlicher. »Ja, das ist alles«, bestätigte sie.

Seine Brust hob und senkte sich stoßweise; Liliths Mal schien unter seiner Haut zu pulsieren und seine Hand schloss sich fest um Clarys Hüfte. Sie konnte ihre eigene Atmung hören, so flach wie ein Strand bei Ebbe. Dann zog Jace sie an sich und rollte sie auf die Seite, bis sie wie zwei Löffel aneinandergeschmiegt dalagen, ihr Rücken an seiner Brust. Clary unterdrückte ein Keuchen: Seine Haut war glühend heiß, fast als hätte er Fieber. Aber seine Arme, die sie umfingen, fühlten sich vertraut an. Die beiden kuschelten sich aneinander, so wie sie es schon oft getan hatten: ihr Kopf unter seinem Kinn, ihre Wirbelsäule an seinem muskulösen Bauch, ihre Beine an seine Schenkel gedrückt.

»Na gut«, raunte Jace und sein warmer Atem in ihrem Nacken bereitete Clary am ganzen Körper eine wohlige Gänsehaut. »Dann schlafen wir jetzt.«

Und dabei blieb es dann auch. Langsam entspannte sich Clarys Körper und auch ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder. Jace’ Arme um sie herum fühlten sich genauso an wie immer. Behaglich. Clary schmiegte ihre Finger um seine Hände, schloss die Augen und stellte sich vor, dass ihr Bett sich von diesem seltsamen Gefängnis löste und durch den Weltraum schwebte oder auf der Meeresoberfläche trieb – nur sie beide und niemand sonst.

Auf diese Weise schlief sie ein. Es war die beste Nacht und der tiefste Schlaf seit Wochen.

Simon saß auf der Kante von Magnus’ Gästebett und starrte auf die Reisetasche auf seinem Schoß.

Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen zu ihm. Magnus berichtete Maia und Jordan von den Ereignissen der vergangenen Nacht, wobei Isabelle gelegentlich ein Detail hinzufügte. Irgendwann schlug Jordan vor, etwas beim Chinesen zu bestellen, damit sie in der Zwischenzeit nicht verhungerten. Maia lachte und erklärte, solange sie nicht bei »Jade Wolf« ordern würden, hätte sie nichts einzuwenden.

Verhungern, überlegte Simon. Sein Hunger hatte sich schon vor einer Weile bemerkbar gemacht und zog an seinen Adern. Es war nicht mit dem Hunger zu vergleichen, den er als Mensch verspürt hatte. Simon fühlte sich wie ausgehöhlt – eine bodenlose Leere tief in seinem Inneren. Wenn man ihm einen Schlag versetzen würde, dann würde er wie eine Glocke hallen, dachte er.

»Simon.« Die Tür war aufgegangen und Isabelle betrat das Gästezimmer. Ihre langen schwarzen Haare reichten ihr fast bis zur Taille. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Mir geht’s gut.«

Isabelle sah die Reisetasche auf seinem Schoß und ihre Schultern versteiften sich. »Haust du ab?«

»Na ja, ich hatte nicht vor, ewig hierzubleiben«, erklärte Simon. »Ich meine, letzte Nacht war… was anderes. Du hattest mich ja hergebeten…«

»Richtig«, bestätigte Izzy mit ungewöhnlich heiterer Stimme. »Du kannst zusammen mit Jordan zurückfahren. Ganz nebenbei: Hast du das mit ihm und Maia bemerkt?«

»Was soll ich bemerkt haben?«

Isabelle senkte die Stimme: »Zwischen den beiden hat es gefunkt… während ihres Ausflugs ist definitiv was passiert. Die machen total auf Pärchen.«

»Tja, das ist schön.«

»Bist du eifersüchtig?«

»Eifersüchtig?«, wiederholte Simon verwirrt.

»Na ja, Maia und du…« Isabelle wedelte mit der Hand und warf ihm unter halb gesenkten Lidern einen Blick zu. »Ihr beide wart doch…«

»Ach so. Nein. Nein, überhaupt nicht. Ich freu mich für Jordan. Das wird ihn sehr glücklich machen«, fügte Simon hinzu und meinte es auch so.

»Gut«, murmelte Isabelle und Simon stellte fest, dass ihre Wangen gerötet waren, allerdings bestimmt nicht von der Kälte. »Würdest du heute Nacht hierbleiben, Simon?«

»Bei dir?«

Isabelle nickte, schaute ihn aber dabei nicht an. »Alec fährt gleich zum Institut, um sich ein paar Klamotten zu holen. Er hat mich gefragt, ob ich mitkommen will, aber ich… ich möchte viel lieber hier bei dir bleiben.« Sie hob das Kinn und sah Simon nun direkt an. »Ich möchte nicht allein schlafen. Wenn ich hierbleibe, bleibst du dann auch?«

Simon spürte, wie schwer ihr diese Frage fiel. »Klar«, sagte er so lässig wie möglich und versuchte gleichzeitig, jeden Gedanken an seinen Hunger zu verdrängen. Als er das letzte Mal sein nagendes Hungergefühl ignoriert hatte, hatte es damit geendet, dass Jordan ihn von der halb bewusstlosen Maureen wegzerren musste. Aber damals hatte er mehrere Tage lang nicht gegessen. Diese Situation hier war etwas anderes. Inzwischen kannte er seine Grenzen – da war er sich absolut sicher. »Natürlich«, sagte er erneut. »Das wäre klasse.«

Camille warf Alec von ihrem Diwan aus einen spöttischen Blick zu. »Und was denkt Magnus, wo du gerade steckst?«

Alec, der aus einer Holzbohle und zwei Betonsteinen eine Art Sitzbank improvisiert hatte, streckte die langen Beine aus und schaute auf seine Stiefel. »Er glaubt, ich wär im Institut, um mir ein paar Sachen zu holen. Eigentlich wollte ich ja nach Spanish Harlem, aber stattdessen bin ich hierhergekommen.«

Die Vampirdame kniff die Augen zu Schlitzen. »Und wieso?«

»Weil ich es einfach nicht kann. Ich kann Raphael nicht umbringen.«

Entnervt riss Camille die Hände in die Höhe. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Verbindet dich vielleicht irgendeine persönliche Beziehung mit ihm?«

»Ich kenne ihn kaum«, erwiderte Alec. »Wenn ich ihn töte, verstoße ich damit bewusst gegen den Bündnisvertrag. Nicht, dass ich nicht schon zuvor gegen das Gesetz verstoßen hätte, aber es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Gesetzesverstoß für einen guten Zweck oder aus egoistischen Gründen.«

»Oh, gütiger Gott.« Camille hatte sich vom Diwan erhoben und begann, unruhig auf und ab zu gehen. »Erspar mir Nephilim mit einem Gewissen.«

»Es tut mir leid.«

Camilles Augen verengten sich erneut zu Schlitzen. »Leid? Ich werd dir zeigen…«, fauchte sie, verstummte dann aber und fuhr nach einem Moment in einem etwas ruhigeren Ton fort: »Alexander, was soll denn nun aus dir und Magnus werden? Wenn du dich weiterhin so verhältst wie bisher, wirst du ihn verlieren.«

Alec beobachtete die Vampirin, die mit katzenhafter Geschmeidigkeit durch den Raum schritt, auf ihrem Gesicht der Ausdruck interessierter Anteilnahme. »Wo wurde Magnus geboren?«, stieß er hervor.

Camille lachte. »Du weißt nicht einmal seinen Geburtsort? Du meine Güte! Batavia, wenn du es unbedingt wissen willst.« Sie schnaubte, als sie Alecs verständnislosen Blick sah. »In Indonesien. Natürlich war das damals noch Niederländisch-Indien. Magnus’ Mutter war eine Einheimische, soweit ich weiß, sein Vater irgendein langweiliger Kolonialbeamter. Nun ja, natürlich nicht sein leiblicher Vater.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Und wer ist sein leiblicher Vater?«

»Magnus’ Vater? Ein Dämon natürlich.«

»Ja, aber welcher Dämon?«

»Welche Rolle spielt das denn schon, Alexander?«

»Ich hab den Eindruck…«, fuhr Alec hartnäckig fort, »dass es sich um einen ziemlich mächtigen, hochrangigen Dämon handelt. Aber Magnus will nicht über ihn reden.«

Seufzend ließ Camille sich wieder auf den Diwan fallen. »Selbstverständlich will er das nicht. Man muss sich in einer Beziehung immer etwas Geheimnisvolles bewahren, Alec Lightwood. Ein Buch, das man noch nicht gelesen hat, ist stets aufregender als eines, dessen Inhalt man auswendig kennt.«

»Du meinst, ich erzähle ihm zu viel?« Alec stürzte sich begierig auf jeden winzigen Brocken Information, den Camille ihm hinwarf. Irgendwo tief im Inneren dieser schönen, kalten Hülle steckte eine Person, die eine einzigartige Erfahrung mit ihm teilte – Magnus zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Die Vampirin musste doch irgendetwas wissen, irgendeinen Hinweis, irgendein Geheimnis, das ihn daran hindern würde, das Ganze total zu vermasseln.

»Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Andererseits wandelst du ja erst seit so kurzer Zeit auf Erden, dass ich mir nicht vorstellen kann, was es da viel zu erzählen gibt. Gewiss sind dir längst die Anekdoten ausgegangen«, bemerkte Camille spitz.

»Na ja, wenn ich das richtig sehe, hat deine Taktik, ihm gar nichts zu erzählen, auch nicht gerade großartig funktioniert.«

»Ich war aber auch nicht derart versessen darauf, ihn zu halten, wie du es offenbar bist.«

»Aber mal angenommen…«, setzte Alec an – wider besseres Wissen, aber unfähig, den Mund zu halten, »nur mal angenommen, du hättest Magnus halten wollen, was hättest du dann anders gemacht?«

Camille seufzte theatralisch. »Du bist noch zu jung, um das zu verstehen, aber du musst wissen, dass jeder von uns bestimmte Dinge vor anderen geheim hält. Wir verstecken sie vor unseren Liebsten, weil wir uns von unserer besten Seite präsentieren wollen. Aber wenn es sich um die wahre Liebe handelt, erwarten wir von unserem Geliebten, dass er es einfach versteht, ohne erst danach fragen zu müssen. In so einer Partnerschaft – einer Beziehung, die über Jahrhunderte andauert – gibt es eine unausgesprochene Verbundenheit.«

»A-aber«, stammelte Alec, »ich hätte gedacht, Magnus würde wollen, dass ich mich ihm öffne. Es ist mir schon schwergefallen, mich gegenüber Leuten zu öffnen, die ich mein Leben lang kenne – Isabelle oder Jace…«

Camille schnaubte. »Das ist ein weiterer Punkt«, teilte sie ihm von oben herab mit. »Sobald du deine wahre Liebe gefunden hast, brauchst du keine anderen Menschen mehr in deinem Leben. Kein Wunder, dass Magnus den Eindruck hat, sich dir gegenüber nicht öffnen zu können, wenn du auf diese anderen Leute angewiesen bist. Wahre Liebe sollte jeden Wunsch und jedes Bedürfnis des jeweils anderen erfüllen können… Hörst du mir auch zu, Alexander? Meine Ratschläge sind wertvoll und ein Privileg…«

Das erste Licht der Morgendämmerung erhellte den Raum. Clary setzte sich auf und schaute nach Jace, der noch schlief. Er lag auf der Seite und seine blonden Haare schimmerten in der Farbe von fahlem Messing. Seine Hand hatte er unter die Wange geschoben, wie ein kleines Kind. Die sternförmige Narbe an seiner Schulter leuchtete silbrig und lenkte Clarys Blick auf das Muster aus alten Runenmalen, das Arme, Rücken und die Seiten seines Körpers überzog. Sie fragte sich, ob andere Leute diese Narben wohl genauso schön fanden wie sie oder ob ihr die Male nur deshalb so gefielen, weil sie ihn liebte und sie ein Teil von ihm waren. Jedes Runenmal erzählte eine Geschichte seiner Vergangenheit und manche hatten ihm sogar das Leben gerettet.

Jace murmelte im Schlaf und drehte sich auf den Rücken. Seine Hand mit der schwarz schimmernden Voyance-Rune lag quer auf seinem Bauch. Darüber befand sich die einzige Rune, die Clary nicht schön fand: Liliths Mal, das Symbol, das Jace mit Sebastian verband.

Es schien zu pulsieren, genau wie Isabelles rubinroter Anhänger, wie ein zweites Herz.

Lautlos wie eine Katze schlich Clary sich ans Kopfende des Betts, hockte sich auf ihre Knie, streckte einen Arm aus und zog den Herondale-Dolch aus der Wand. Das Foto von Jace und ihr flatterte herab und drehte sich in der Luft, ehe es mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden landete.

Clary schluckte und schaute wieder auf Jace. Selbst jetzt wirkte er so lebendig, als würde er von innen glühen… als würde ein inneres Feuer ihn leuchten lassen. Das Runenmal auf seiner Brust pulsierte in einem gleichmäßigen Rhythmus.

Sie hob den Dolch.

Mit einem Ruck erwachte Clary aus dem Schlaf; ihr Herz raste. Der Raum um sie herum drehte sich wie ein Karussell. Es war noch immer dunkel, Jace’ Arm lag um ihre Schulter und sein warmer Atem streifte ihren Nacken. Sie konnte seinen Puls an ihrer Wirbelsäule spüren. Clary schloss die Augen und schluckte den bitteren Geschmack im Mund hinunter.

Es war ein Traum gewesen… nur ein Traum.

Aber jetzt bestand nicht mehr die geringste Chance, wieder einzuschlafen. Vorsichtig setzte Clary sich auf, schob Jace’ Arm behutsam zur Seite, kletterte aus dem Bett und zuckte zusammen, als ihre Füße die Fliesen berührten. Der Fußboden war eiskalt. Im Halbdunkel fand sie die Türklinke, drückte die Tür auf… und erstarrte.

Kronleuchter erhellten den fensterlosen Flur. Mehrere Lachen einer zähen dunklen Flüssigkeit verunstalteten den Steinboden. Auf einer der weiß gestrichenen Wände leuchtete ein blutiger Handabdruck und etliche Blutspritzer lenkten von dort Clarys Blick zur Glastreppe, wo ein langer, schmieriger Fleck düster schimmerte.

Clary schaute zu Sebastians Zimmer. Alles schien ruhig – die Tür war geschlossen und unter dem Türschlitz fiel kein Licht hindurch. Plötzlich musste Clary an das blonde Mädchen in dem paillettenbesetzen Top denken und musterte den blutverschmierten Handabdruck erneut. Das Ganze war wie eine Botschaft – eine hoch erhobene Hand, die »Stopp!« rief.

Im nächsten Moment schwang Sebastians Tür auf und ihr Bruder trat hinaus in den Flur. Er trug ein Thermo-Shirt über einer schwarzen Jeans und sein silberweißes Haar wirkte zerzaust. Er gähnte verschlafen, doch als er Clary erblickte, stutzte er und starrte sie aufrichtig verwundert an. »Was machst du denn hier?«

Clary zuckte zusammen und atmete tief ein. Die Luft schmeckte metallisch. »Was ich hier mache? Was treibst du denn gerade?«

»Ich wollte nach unten, um ein paar Handtücher zu holen und diese Sauerei hier wegzumachen«, antwortete Sebastian sachlich. »Vampire und ihre kleinen Spielchen…«

»Für mich sieht das nicht nach einem Spiel aus«, entgegnete Clary. »Dieses Mädchen – diese irdische Blondine, die unten neben dir gesessen hat –, was habt ihr mit ihr gemacht?«

»Als sie die Fangzähne gesehen hat, bekam sie es mit der Angst zu tun. Das kann schon mal passieren.« Beim Anblick von Clarys Miene brach er in Gelächter aus. »Aber sie hat sich wieder beruhigt… und wollte sogar noch mehr. Im Moment liegt sie in meinem Bett und schläft. Sieh ruhig nach, falls du dich vergewissern willst, ob sie noch lebt.«

»Nein… das ist nicht nötig.« Clary senkte den Blick und wünschte, sie hätte sich noch irgendetwas über dieses dünne Nachthemd gezogen. Irgendwie fühlte sie sich nackt. »Was ist mit dir?«, fragte sie.

»Du willst wissen, ob es mir gut geht?« So hatte es Clary nicht gemeint, aber Sebastian wirkte erfreut und sie ließ ihn in dem Glauben. Er zog den Kragen seines Shirts beiseite, sodass Clary zwei kreisrunde Bisswunden direkt über seinem Schlüsselbein sehen konnte. »Ich könnte allerdings eine Iratze vertragen.«

Clary schwieg.

»Komm mit nach unten«, sagte er und forderte sie mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. Dann stapfte er barfuß an ihr vorbei in Richtung der gläsernen Treppe. Nach kurzem Zögern ging Clary ihm nach. Auf dem Weg ins Erdgeschoss schaltete Sebastian das Licht an, sodass die Küche vollständig beleuchtet war, als sie die letzte Stufe erreichten. »Wein?«, fragte er und öffnete die Kühlschranktür.

Clary ließ sich auf einem der Hocker an der Küchentheke nieder und strich ihr Nachthemd glatt. »Nein, nur Wasser.« Dann sah sie zu, wie er zwei Gläser Mineralwasser einschenkte – eines für sie und eines für sich selbst. Seine geschmeidigen, fließenden Bewegungen hatte er wohl von Jocelyn, doch die Kontrolle über seinen Körper musste Valentin ihm eingeimpft haben. Das Ganze erinnerte Clary daran, wie Jace sich bewegte: wie ein durchtrainierter Tänzer.

Sebastian schob ihr das Wasser über die Theke zu, während er selbst das Glas schon zum Mund führte. Er stürzte das Wasser in einem Zug hinunter und knallte das leere Glas auf die Küchentheke. »Wahrscheinlich weißt du das längst, aber solche Spielchen mit Vampiren machen echt durstig.«

»Wieso sollte ich das wissen?« Clarys Tonfall war deutlich schärfer als beabsichtigt.

Sebastian zuckte die Achseln. »Ich bin davon ausgegangen, du hättest irgendwelche Beißspielchen mit diesem Tageslichtler getrieben.«

»Simon und ich haben nie irgendwelche Beißspielchen gespielt«, erwiderte Clary eisig. »Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum sich jemand freiwillig als Blutspender für Vampire zur Verfügung stellt. Ich dachte, du würdest alle Schattenwesen hassen und verachten?«

»Nein«, sagte Sebastian. »Verwechsel mich nicht mit Valentin.«

»Ja, klar«, murmelte Clary. »Das war ein echt schwerer Fehler.«

»Es ist nicht meine Schuld, dass ich so aussehe wie er und du so wie sie.« Beim Gedanken an Jocelyn verzog er angewidert den Mund.

Clary funkelte ihn böse an.

»Da, jetzt machst du es schon wieder. Ständig siehst du mich so an.«

»Wie denn?«

»Als ob ich zum Spaß Tierheime niederbrenne und meine Zigaretten an Waisenkindern ausdrücke.« Sebastian goss sich ein weiteres Glas Wasser ein. Als er dabei den Kopf wegdrehte, sah Clary, dass die Bisswunden an seiner Kehle bereits verheilten.

»Du hast ein kleines Kind getötet«, entgegnete sie scharf, obwohl sie wusste, dass sie eigentlich den Mund halten und weiterhin so tun sollte, als würde sie Sebastian nicht für ein Monster halten. Aber der Gedanke an Max brachte sie in Rage. Vor ihrem inneren Auge war er noch so lebendig wie an jenem Abend im Institut, als er auf dem roten Sofa in der Eingangshalle geschlafen hatte, mit leicht verrutschter Brille und das Buch, in dem er gelesen hatte, neben sich auf dem Boden. »Das werd ich dir nie verzeihen, niemals.«

Sebastian zog scharf die Luft ein. »Ach so ist das«, sagte er. »Dann bekennst du also jetzt schon Farbe, Schwesterherz?«

»Was hast du denn gedacht?« Clarys Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren dünn und erschöpft, trotzdem zuckte Sebastian zusammen, als hätte sie ihn angefaucht.

»Würdest du mir glauben, wenn ich dir versichere, dass es ein Unfall war?«, fragte er und stellte das Glas auf die Theke. »Es war nicht meine Absicht, ihn zu töten. Ich wollte nur, dass er das Bewusstsein verliert, damit er nichts verraten kann…«

Doch Clary brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Schweigen. Sie wusste, dass sie den Hass in ihren Augen nicht verbergen konnte – sosehr sie es auch versuchte, es war unmöglich.

»Ich meine es wirklich ernst. Ich wollte ihn nur bewusstlos schlagen, wie Isabelle. Aber ich hab meine eigene Kraft unterschätzt.«

»Und was ist mit Sebastian Verlac? Dem richtigen Sebastian Verlac? Den hast du umgebracht, oder etwa nicht?«

Sebastian blickte auf seine Hände, als wären sie ihm vollkommen fremd: Eine Silberkette mit einem flachen Metallschild, wie bei einem Namenskettchen, wand sich um sein rechtes Handgelenk und kaschierte die Wunde an der Stelle, an der Isabelle ihm die Hand abgetrennt hatte. »Er hätte sich eben nicht wehren dürfen…«, sagte er.

Angewidert machte Clary Anstalten, von ihrem Hocker zu rutschen, doch Sebastian packte sie am Handgelenk und zog sie zu sich. Seine Haut war glühend heiß und Clary erinnerte sich wieder an jenen Moment in Idris, als ihre Haut nach Sebastians Berührung wie Feuer gebrannt hatte.

»Jonathan Morgenstern hat Max getötet. Aber was wäre, wenn ich nicht mehr diese Person bin? Ist dir nicht aufgefallen, dass ich noch nicht mal mehr diesen Namen benutze?«, fragte er.

»Lass mich los!«

»Du glaubst doch, dass Jace sich verändert hat«, sagte Sebastian leise. »Du bist davon überzeugt, dass er nicht mehr derselbe ist… dass mein Blut ihn verändert hat. Oder etwa nicht?«

Clary nickte stumm.

»Warum kannst du dann nicht glauben, dass das umgekehrt auch möglich ist? Vielleicht hat sein Blut ja auch mich verändert. Vielleicht bin ich nicht mehr der, der ich früher war.«

»Du hast Luke niedergestochen«, konterte Clary. »Jemanden, an dem mir sehr viel liegt. Jemanden, den ich liebe…«

»Er hätte mich sonst mit seiner Schrotflinte abgeknallt«, erwiderte Sebastian. »Du liebst ihn, aber ich kenne ihn kaum. Ich habe mein Leben verteidigt… und das von Jace. Verstehst du das denn nicht?«

»Wahrscheinlich würdest du mir alles erzählen, wenn du damit mein Vertrauen gewinnen könntest.«

»Würde es die Person, die ich einst war, interessieren, ob du mir vertraust?«

»Wenn dir das irgendwie nützlich wäre ….«

»Vielleicht will ich ja nur eine Schwester.«

Bei diesen Worten schaute Clary unwillkürlich auf und starrte ihn ungläubig an. »Du weißt doch gar nicht, was eine Familie ist. Oder was du mit einer Schwester machen solltest, wenn du eine hättest.«

»Aber ich habe eine«, sagte er leise. Blutflecken schimmerten am Kragen seines Thermo-Shirts, an der Stelle, wo seine Haut den Stoff berührte. »Ich gebe dir eine Chance. Du sollst sehen, dass das, was Jace und ich vorhaben, das Richtige ist. Kannst du mir ebenfalls eine Chance geben?«

Clary dachte an den Sebastian, den sie in Idris kennengelernt hatte: Sie hatte ihn heiter erlebt und freundlich, distanziert, ironisch, leidenschaftlich und zornig. Aber noch nie flehend.

»Jace vertraut dir«, fuhr er fort. »Aber ich nicht. Er ist davon überzeugt, du liebst ihn genug, um alles aufzugeben, was dir je wichtig gewesen ist, nur um bei ihm zu sein. Ganz gleich, was auch passiert.«

Unwillkürlich presste Clary die Kiefer zusammen. »Woher willst du wissen, dass das nicht stimmt?«, brachte sie schließlich hervor.

Sebastian lachte. »Ich weiß es, weil du meine Schwester bist.«

»Wir haben nicht das Geringste gemein«, fauchte Clary, und als sie sah, wie sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, verkniff sie sich den Rest ihrer Worte. Doch es war bereits zu spät.

»Das ist genau das, was ich auch gesagt hätte«, bemerkte er. »Ach, komm schon, Clary. Jetzt bist du schon mal hier und du kannst nicht zurück. Du hast dich Jace auf Gedeih und Verderb angeschlossen. Dann kannst du den Rest auch mitmachen. Nimm teil an dem, was passiert. Dann kannst du dir ein eigenes Urteil bilden… auch über mich.«

Clary vermied jeglichen Blickkontakt, nickte dann aber kaum merklich.

Sebastian hob eine Hand und strich Clary die Haare aus den Augen. Dabei spiegelte sich das Licht der Küchenbeleuchtung auf seinem Armband.

Jetzt erst sah Clary, dass mehrere Buchstaben in das Silber geätzt waren: Acheronta movebo. Mutig legte sie ihre Finger auf sein Handgelenk. »Was bedeutet das?«

Sebastian warf einen Blick auf ihre Hand, die das Silber an seinem Handgelenk berührte. »Es bedeutet ›So soll es immer den Tyrannen ergehen!‹. Ich trage es, um mich immer an den Rat zu erinnern. Angeblich haben die Römer diese Worte gerufen, die Caesar ermordeten, bevor er zu einem Diktator werden konnte.«

»Verräter«, sagte Clary und ließ ihre Hand sinken.

Sebastians dunkle Augen blitzten kurz auf. »Nein – Freiheitskämpfer. Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben, Schwesterherz.«

»Und du planst, diesen Teil hier zu schreiben?«

Er grinste sie an und seine Augen funkelten. »Darauf kannst du wetten.«

12 Der Urstoff des Himmels

Als Alec in Magnus’ Wohnung zurückkehrte, waren sämtliche Lichter ausgeschaltet – nur das Wohnzimmer wurde von einem bläulich weißen Schein erhellt. Es dauerte einen Moment, bis der junge Schattenjäger begriff, dass das Licht vom Pentagramm stammte.

Noch an der Tür zog er leise seine Schuhe aus und schlich in Magnus’ Schlafzimmer. Der Raum lag dunkel vor ihm; lediglich über dem Fenster hing eine bunte Lichterkette. Magnus lag auf dem Rücken und schlief, die Decke bis zur Taille hochgezogen, eine Hand flach auf dem nabellosen Bauch.

Alec zog sich rasch bis auf die Boxershorts aus und kletterte vorsichtig ins Bett, in der Hoffnung, seinen Freund nicht zu wecken. Er hatte jedoch nicht mit Miau Tse-tung gerechnet, der sich unter die Decke gekuschelt hatte. Alecs Ellbogen landete auf dem Schwanz des Katers, woraufhin dieser laut miauend aus dem Bett schoss und Magnus sich blinzelnd aufsetzte.

»Was ist los?«, fragte er.

»Nichts«, sagte Alec und verfluchte innerlich alle Katzen.

»Was hast du denn so lange gemacht?« Magnus rollte sich auf die Seite und berührte Alecs nackte Schulter. »Du bist ja ganz kalt und du riechst nach Nachtluft.«

»Ich bin noch ein bisschen spazieren gegangen«, erklärte Alec. Zum Glück war der Raum so dunkel, dass Magnus sein Gesicht nicht richtig sehen konnte: Er wusste, dass er ein grauenhafter Lügner war.

»Wo warst du denn spazieren?«

Man muss sich in einer Beziehung immer etwas Geheimnisvolles bewahren, Alec Lightwood.

»Hier und dort«, erwiderte Alec leichthin. »Wo genau, bleibt mein Geheimnis.«

»Bleibt dein Geheimnis?«

Alec nickte.

Resigniert ließ Magnus sich in seine Kissen fallen. »Aha, na dann«, murmelte er und schloss die Augen. »Hast du mir wenigstens was mitgebracht?«

Alec beugte sich vor und küsste Magnus auf den Mund. »Nur das hier«, sagte er leise und wollte sich wieder zurückziehen.

Doch Magnus, auf dessen Gesicht sich ein feines Lächeln ausbreitete, hatte ihn bereits an den Armen gepackt. »Wenn du mich schon so unsanft aus dem Schlaf reißt, dann soll es sich wenigstens lohnen«, grinste er und zog Alec auf sich.

Da sie bereits eine Nacht gemeinsam in einem Bett verbracht hatten, wäre Simon nicht auf die Idee gekommen, dass die zweite Nacht mit Isabelle so kompliziert werden würde. Andererseits war Isabelle dieses Mal nüchtern und hellwach und erwartete ganz offensichtlich etwas von ihm. Das Problem war nur: Er war sich nicht sicher, was.

Er hatte ihr eines seiner Hemden zum Schlafen gegeben und schaute höflich weg, während sie unter die Bettdecke kroch und dicht an die Wand rückte, damit er genügend Platz hatte.

Simon zog lediglich Schuhe und Socken aus und krabbelte dann einfach in Jeans und T-Shirt zu Isabelle. Einen Augenblick lang lagen sie nebeneinander, dann drehte Isabelle sich zu ihm und platzierte unbeholfen einen Arm über seine Hüfte. Im nächsten Moment stießen ihre Knie gegeneinander und einer von Isabelles Zehennägeln kratzte ihm über den Knöchel, woraufhin Simon sich vorbeugte und ihre Köpfe gegeneinanderkrachten.

»Aua!«, rief Isabelle entrüstet. »Solltest du das nicht besser können?«

Simon musterte sie verwundert. »Wieso?«

»Na ja, all die Nächte, die du in Clarys Bett verbracht hast, eng umschlungen in eurer platonischen Umarmung«, sagte Isabelle und drückte ihr Gesicht an seine Schulter, sodass ihre Stimme gedämpft klang. »Da hab ich mir gedacht…«

»Wir haben nur geschlafen«, erklärte Simon. Er wollte ihr nicht erzählen, dass Clary sich perfekt an seinen Körper schmiegte, dass das Ganze so natürlich war wie Atmen, dass der Duft ihrer Haare ihn an seine Kindheit erinnerte und an sonnige, unkomplizierte und unbeschwerte Tage. Er hatte so eine Ahnung, dass ihm das jetzt nicht weiterhelfen würde.

»Ich weiß. Aber ich schlafe niemals einfach nur. Mit niemandem«, erwiderte Isabelle gereizt. »In der Regel bleib ich nicht mal die ganze Nacht.«

»Aber du hast doch gesagt, dass du bleiben willst…«

»Ach, Klappe!«, entgegnete Isabelle und küsste Simon, was es aber auch nicht besser machte.

Natürlich hatte Simon die junge Schattenjägerin schon geküsst und er liebte ihre weichen Lippen und ihre langen dunklen Haare. Doch als sie sich an ihn presste, wurden ihm auch die Wärme ihres Körpers, ihre langen, nackten Beine, der schnelle Rhythmus ihres Herzschlags bewusst – und er spürte seine Fangzähne, die mit einem Ruck hervorschnellten. Hastig zog er sich von Isabelle zurück.

»Was ist denn jetzt schon wieder? Willst du mich nicht küssen?«

»Doch, schon«, versuchte Simon zu erwidern, doch seine Fangzähne waren im Weg.

Isabelles Augen weiteten sich. »Oh, du hast Hunger«, stellte sie fest. »Wann hast du denn das letzte Mal Blut getrunken?«

»Gestern«, brachte Simon mit einiger Mühe hervor.

Langsam ließ Isabelle sich in das Kissen sinken. Ihre Augen waren unfassbar groß und glänzten schwarz. »Dann solltest du jetzt etwas trinken«, sagte sie. »Du weißt ja, was passiert, wenn du das nicht tust.«

»Ich hab aber kein Blut dabei. Ich müsste zurück in Jordans Wohnung«, erläuterte Simon. Seine Fangzähne hatten sich bereits leicht zurückgezogen.

Isabelle packte seinen Arm und hielt ihn fest. »Du brauchst kein kaltes Tierblut zu trinken. Ich bin doch hier.«

Der Schock, den ihre Worte auslösten, zuckte wie ein Stromschlag durch Simons Körper und ließ seine Nervenenden sirren. »Das ist nicht dein Ernst!«

»Doch, klar.« Isabelle machte sich daran, das Hemd aufzuknöpfen, und entblößte ihre Kehle und das Schlüsselbein mit dem feinen Adergeflecht unter ihrer blassen Haut. Im nächsten Moment stand ihr Hemd weit offen.

Obwohl ihr blauer BH mehr Haut bedeckte als so manches Bikinitop, spürte Simon, wie sein Mund ganz trocken wurde. Ihr rubinroter Anhänger leuchtete warnend an ihrem Hals. Isabelle.

Als würde sie seine Gedanken lesen, nahm Isabelle ihre Haare beiseite und drapierte sie über eine Schulter, sodass ihre Kehle an einer Seite frei lag. »Willst du denn nicht…?«

Simon packte ihre Handgelenke. »Isabelle, nicht«, sagte er eindringlich. »Ich kann mich nicht beherrschen… ich hab das nicht unter Kontrolle. Ich könnte dich verletzen, dich töten.«

»Aber das wirst du nicht. Du kannst dich sehr wohl beherrschen. Schließlich hast du das bei Jace auch gekonnt.«

»Auf Jace steh ich aber nicht.«

»Nicht mal ein kleines bisschen?«, fragte Isabelle neckend. »Weil das nämlich irgendwie scharf wäre. Also gut, dann eben nicht. Aber so oder so: Du hast ihn gebissen, als du völlig ausgehungert warst und im Sterben lagst… und dich trotzdem beherrscht.«

»Bei Maureen hab ich mich nicht beherrschen können – Jordan musste mich von ihr runterzerren.«

»Aber letztendlich hättest du dich rechtzeitig unter Kontrolle gebracht.« Isabelle legte Simon einen Finger auf die Lippen und fuhr dann mit dem Nagel sanft über seine Kehle und über seine Brust, bis zu der Stelle, wo einmal sein Herz geschlagen hatte. »Ich vertraue dir.«

»Vielleicht solltest du das aber nicht.«

»Ich bin eine Schattenjägerin. Ich kann mich wehren, falls es sein muss.«

»Jace hat sich nicht gewehrt.«

»Jace spielt gern mit dem Gedanken an den Tod«, schnaubte Isabelle. »Ich nicht.« Dann schob sie sich auf seinen Schoß, schlang die Beine um seine Hüften – sie war erstaunlich gelenkig – und rutschte näher, bis ihre Lippen Simons Mund streiften.

Er sehnte sich danach, sie zu küssen, sehnte sich so sehr danach, dass sein ganzer Körper schmerzte. Zaghaft öffnete er den Mund, suchte ihre Zunge und fühlte im nächsten Augenblick einen stechenden Schmerz. Seine Zunge war über die rasiermesserscharfe Kante seiner Fangzähne gefahren. Simon schmeckte sein eigenes Blut, zog sich abrupt zurück und wandte das Gesicht ab. »Ich kann nicht, Isabelle.« Er schloss die Augen und spürte Isabelle in seinem Schoß, warm und weich, verlockend, quälend. Seine Fangzähne schmerzten; sein ganzer Körper fühlte sich an, als würden sich stachlige Drähte durch seine Adern winden. »Ich will nicht, dass du mich so siehst«, stöhnte er.

»Simon.« Behutsam berührte Isabelle seine Wange und drehte sein Gesicht zu sich. »Aber das bist nun mal du…«

Seine Fangzähne glitten langsam wieder zurück, schmerzten aber immer noch. Simon legte die Hände vors Gesicht und murmelte zwischen seinen Fingern hindurch: »Das kannst du unmöglich wollen. Mich kannst du unmöglich wollen. Meine eigene Mutter hat mich rausgeworfen. Ich habe Maureen gebissen, obwohl sie noch ein Kind ist. Ich meine, sieh mich doch mal an – sieh dir an, was ich bin, wo ich lebe, was ich mache. Ich bin ein Niemand.«

Isabelle strich ihm sachte übers Haar.

Vorsichtig spähte Simon zwischen seinen Fingern hindurch. Aus dieser Nähe konnte er erkennen, dass ihre Augen gar nicht schwarz, sondern dunkelbraun waren, mit goldenen Sprenkeln. Er war sich sicher, dass er Mitleid darin sehen konnte. Simon wusste nicht, welche Antwort er von ihr erwartete. Isabelle, die Jungs nur benutzte und dann wegwarf. Isabelle, die wunderschön und stark und perfekt war und nichts und niemanden brauchte – schon gar keinen Vampir, der noch nicht mal zum Vampir taugte. Er konnte ihren Atem spüren. Sie duftete süßlich, nach Blut, Sterblichkeit, Gardenien.

»Du bist kein Niemand«, erwiderte sie. »Simon. Bitte. Bitte lass mich dich ansehen.«

Widerstrebend senkte Simon die Hände. Er konnte Isabelle nun noch deutlicher erkennen. Sie sah im Mondlicht sanft und wunderschön aus, ihre Haut cremig weiß, ihre Haare wie ein schwarzer Wasserfall.

Sie hob eine Hand. »Sieh dir die mal an«, sagte sie und berührte die weißen Narben der verheilten Runenmale, die ihre silbrig helle Haut wie Schneeflocken bedeckten – an ihrer Kehle, ihren Armen, auf den Rundungen ihrer Brüste. »Hässlich, oder nicht?«

»Nichts an dir ist hässlich, Izzy«, erwiderte Simon, aufrichtig bestürzt.

»Mädchen sollten nicht mit Narben übersät sein«, fuhr Isabelle sachlich fort. »Aber dich stören sie nicht.«

»Die Narben sind ein Teil von dir… Selbstverständlich stören sie mich nicht.«

Bedächtig berührte Isabelle seine Lippen mit einem Finger. »Deine Fangzähne sind ein Teil von dir… ein Teil des Vampirs, der du nun mal bist. Ich hab dich letzte Nacht nicht gebeten vorbeizukommen, weil mir sonst niemand eingefallen wäre. Ich möchte mit dir zusammen sein, Simon. Das jagt mir zwar eine Heidenangst ein, aber ich möchte es trotzdem«, sagte sie mit schimmernden Augen.

Einen kurzen Moment fragte Simon sich, ob es sich dabei wohl um Tränen handelte, doch dann beugte er sich vor und küsste sie. Und dieses Mal war der Kuss nicht so unbeholfen. Dieses Mal schmiegte sie sich an ihn und plötzlich lag Simon unter Isabelle. Ihre langen schwarzen Haare fielen nach vorn und umgaben sie beide wie ein Vorhang. Leise flüsterte Isabelle ihm etwas zu, während er mit den Händen über ihren Rücken strich und die Narben unter seinen Fingerspitzen spürte. Gern hätte er ihr gesagt, dass sie für ihn wie Körperschmuck waren – Zeugnisse ihrer Tapferkeit, die sie nur noch schöner machten. Aber dann hätte er ihren Kuss unterbrechen müssen und das wollte er auf keinen Fall.

Isabelle stöhnte leise auf und wand sich in seinen Armen; ihre Finger fuhren durch Simons Haar, während sie sich zusammen auf die Seite drehten, bis sie schließlich unter ihm lag und er ihre warmen, weichen Rundungen erkundete, sie schmeckte und ihren Geruch wahrnahm – der Duft ihrer Haut, Salz, Parfüm und… Blut. Erneut erstarrte Simon…

Was Isabelle nicht entging. Behutsam nahm sie ihn an den Schultern; ihre Augen funkelten in der Dunkelheit. »Tu es«, wisperte sie.

Simon konnte ihren schnellen, pulsierenden Herzschlag an seiner Brust spüren.

»Ich will es«, forderte sie ihn leise auf.

Er schloss die Augen, presste seine Stirn gegen ihre und versuchte, sich etwas zu beruhigen. Seine Fangzähne waren wieder herausgefahren und drückten hart und schmerzhaft gegen seine Unterlippe. »Nein.«

Isabelle schlang ihre langen, perfekten Beine um ihn, verschränkte ihre Fußgelenke hinter Simons Taille und hielt ihn auf diese Weise fest. »Ich möchte, dass du es tust.« Ihre Brüste pressten sich gegen seinen Brustkorb, als sie sich ihm entgegenhob und ihm ihre Kehle darbot.

Der Duft ihres Blutes erfüllte den Raum, betörte all seine Sinne. »Hast du keine Angst?«, flüsterte er.

»Doch, schon. Aber ich möchte es trotzdem.«

»Isabelle – ich kann nicht…« Dann biss er sie. Seine rasiermesserscharfen Zähne glitten durch ihre Haut und in die Ader an ihrer Kehle wie ein Messer durch die Schale eines Apfels. Das Blut explodierte in seinem Mund. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges erlebt. In jener Nacht mit Jace war er kaum noch am Leben gewesen; bei Maureen hatten ihn seine Schuldgefühle fast erdrückt, noch während er von ihr trank. Und er hatte bei beiden nicht das Gefühl gehabt, dass es ihnen gefallen hatte.

Doch Isabelle keuchte, riss die Augen auf und hob sich ihm mit dem ganzen Körper entgegen. Sie schnurrte wie eine Katze, streichelte seine Haare, seinen Rücken – kleine, drängende Bewegungen ihrer Hände, die ihn aufforderten: Hör nicht auf. Hör jetzt nicht auf!

Wärme strömte aus ihren Adern in seinen Magen und entfachte ein Feuer in seinem Körper. Er konnte den kräftigen, beständigen Rhythmus ihrer Wärme spüren, die pulsierend durch ihre Adern jagte. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl, als würde er wieder leben, und sein Herz machte einen Satz vor freudiger Erregung…

Im nächsten Moment zog er sich zurück. Simon wusste zwar nicht, wie es ihm gelang, aber er löste sich von Isabelle und rollte sich auf den Rücken, während sich seine Finger in die Matratze gruben. Obwohl seine Fangzähne langsam zurückglitten, bebte er weiterhin am ganzen Körper. Der Raum um ihn herum begann zu schimmern und zu schillern, wie jedes Mal in den ersten Sekunden nach dem Genuss von warmem, menschlichem Blut. »Izzy…«, wisperte er. Er fürchtete sich davor, sie anzusehen, fürchtete, dass sie ihn nun, da seine Zähne nicht länger in ihrer Kehle vergaben waren, voller Abscheu oder Entsetzen anstarren würde.

»Was ist?«

»Du hast mich nicht aufgehalten«, sagte Simon mit einer Mischung aus Vorwurf und Hoffnung in der Stimme.

»Ich wollte nicht.«

Simon betrachtete Isabelle. Sie lag auf dem Rücken; ihre Brust hob und senkte sich rasch, als wäre sie gerannt. An ihrer Kehle prangten zwei deutliche Bisswunden, von denen dünne, blutige Rinnsale bis zu ihrem Schlüsselbein hinabliefen. Einem Instinkt folgend, der offenbar tief in seinem Inneren geschlummert hatte, beugte er sich vor und leckte das Blut von ihrer Kehle und schmeckte Salz, schmeckte Isabelle.

Sie erbebte und ihre Finger zitterten in seinen Haaren. »Simon…«

Sofort zog er sich zurück.

Isabelle schaute ihn aus großen dunklen, ernsten Augen an; ihre Wangen waren gerötet. »Ich…«

»Ja?« Einen verrückten Moment glaubte er, sie wollte »Ich liebe dich« sagen.

Stattdessen schüttelte Isabelle den Kopf, gähnte und schob einen Finger durch die Gürtelschlaufe seiner Jeans. Ihre Fingerkuppen spielten mit der nackten Haut an seiner Taille.

Irgendwo hatte Simon mal gelesen, Gähnen sei ein Zeichen für Blutverlust, und Panik erfasste ihn. »Ist alles okay mit dir? Hab ich zu viel getrunken? Fühlst du dich erschöpft? Bist du…«

Sofort rutschte Isabelle näher an ihn heran. »Mir geht’s gut. Du hast dich rechtzeitig unter Kontrolle gebracht. Außerdem bin ich eine Nephilim. Wir ersetzen verlorenes Blut in einem Drittel der Zeit, die herkömmliche Menschen benötigen.«

»Hat…« Simon brachte es kaum über sich, sie zu fragen. »Hat es dir gefallen?«

»Ja.« Ihre Stimm klang heiser. »Ja, es hat mir gefallen.«

»Wirklich?«

Isabelle kicherte. »Hast du das denn nicht gemerkt?«

»Ich dachte, du würdest vielleicht nur so tun und mir was vormachen.«

Träge stützte sie sich auf einen Ellbogen und schaute ihn aus ihren funkelnden dunklen Augen an.

Wie können Augen nur so dunkel sein und gleichzeitig so funkeln?, fragte Simon sich.

»Ich täusche nichts vor, Simon«, erklärte sie. »Ich lüge nicht und ich tue auch nicht so als ob.«

»Du bist eine Herzensbrecherin, Isabelle Lightwood«, sagte Simon so leichthin wie möglich, während ihr Blut noch immer wie flüssiges Feuer durch ihn hindurchrauschte. »Jace hat mal zu Clary gesagt, du würdest mir das Herz herausreißen und mit hochhackigen Stiefeln darauf herumtrampeln.«

»Das war damals. Aber du hast dich verändert.« Isabelle musterte ihn. »Inzwischen hast du keine Angst mehr vor mir.«

Sanft berührte er ihr Gesicht. »Und du hast vor gar nichts Angst.«

»Ach, ich weiß nicht recht.« Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht. »Vielleicht wirst du mir ja das Herz brechen.« Bevor Simon etwas erwidern konnte, küsste sie ihn, und er fragte sich, ob sie ihr eigenes Blut schmecken konnte. »Und jetzt halt die Klappe. Ich will schlafen«, sagte sie, kuschelte sich an ihn und schloss die Augen.

Irgendwie passten sie jetzt hervorragend zusammen. Nichts fühlte sich mehr seltsam an, nichts drückte mehr oder stieß unbequem gegeneinander. Allerdings erinnerte es Simon nicht an sonnige Kindheitstage. Das hier fühlte sich fremd an und heiß und aufregend und mächtig und… anders. Simon lag noch eine ganze Weile wach, schaute zur Decke und streichelte geistesabwesend über Isabelles seidige schwarze Haare. Er hatte das Gefühl, als hätte ein Tornado ihn erfasst und ihn an einem weit entfernten Ort wieder ausgespuckt, wo alles fremd war. Schließlich drehte er den Kopf zur Seite und küsste Izzy federleicht auf die Stirn, woraufhin sie sich ein wenig bewegte und irgendetwas murmelte, die Augen aber nicht öffnete.

Als Clary am nächsten Morgen erwachte, schlief Jace noch fest. Er hatte sich auf die Seite gedreht und einen Arm ausgestreckt, sodass er ihre Schulter gerade noch berührte. Sanft küsste Clary ihn auf die Wange und kletterte aus dem Bett. Sie wollte eigentlich ins Bad, um zu duschen, doch die Neugier war größer. Leise ging sie zur Zimmertür, öffnete sie lautlos und spähte hinaus.

Das Blut auf dem Boden war verschwunden, die weiße Wand wieder makellos. Der gesamte Flur wirkte so sauber, dass Clary sich fragte, ob sie das Ganze wohl geträumt hatte – das Blut, das Gespräch mit Sebastian in der Küche, einfach alles. Zögernd trat sie einen Schritt vor und legte ihre Finger auf die Stelle an der Wand, wo der blutige Handabdruck gewesen war…

»Guten Morgen.«

Clary wirbelte herum. Vor ihr stand ihr Bruder. Er war geräuschlos aus seinem Zimmer gekommen, stand nun in der Mitte des Flurs und musterte sie mit einem schiefen Lächeln. Offenbar hatte er gerade geduscht; seine feuchten Haare schimmerten silberhell, fast metallisch.

»Hast du vor, nur noch das zu tragen?«, fragte er und beäugte ihr Nachthemd.

»Nein, ich hab nur…« Clary wollte ihm nicht erzählen, dass sie nur nachgesehen hatte, ob der Flur noch blutverschmiert war.

Sebastian betrachtete sie schweigend, amüsiert, aber auch überlegen.

Hastig trat Clary den Rückzug an. »Ich geh mich besser umziehen.« Sebastian rief ihr etwas hinterher, aber sie konnte auf seine Kommentare jetzt verzichten und stürmte zurück in Jace’ Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Einen Moment später hörte sie Stimmen im Flur – Sebastian und eine weibliche Stimme, die in melodisch klingendem Italienisch sprach. Das Mädchen von gestern Abend, schoss es Clary durch den Kopf. Die Blondine, von der Sebastian behauptet hatte, sie würde in seinem Zimmer schlafen. Erst in diesem Augenblick wurde Clary bewusst, wie sehr sie davon überzeugt gewesen war, dass er log.

Aber er hatte die Wahrheit gesagt. Ich gebe dir eine Chance, hatte er gesagt. Kannst du mir ebenfalls eine Chance geben?

Konnte sie das? Schließlich ging es hier um Sebastian. Fieberhaft dachte Clary darüber nach, während sie duschte und sich anzog. Die Kleidung in dem großen Schrank hatte Valentin speziell für Jocelyn ausgesucht und sie unterschied sich so grundlegend von Clarys Stil, dass ihr die Wahl schwerfiel. Letztendlich entschied sie sich für eine Jeans – dem Preisschild nach zu urteilen eine teure Designer-Marke – und eine Seidenbluse mit Tupfen und einer Schleife am Kragen, deren Retro-Look ihr gefiel. Dann warf sie ihre eigene Samtjacke über und kehrte in Jace’ Zimmer zurück. Er war verschwunden und Clary brauchte nicht lange zu raten, wohin: Aus dem Erdgeschoss drang das Klappern von Geschirr, das Geräusch lachender Stimmen und der Duft von frisch zubereitetem Frühstück zu ihr herauf.

Eilig sprang Clary die Treppe hinunter, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm, blieb dann aber auf der untersten Stufe abrupt stehen und spähte in die Küche. Sebastian lehnte mit verschränkten Armen am Kühlschrank, während Jace etwas in einer Pfanne zubereitete. Es duftete nach Zwiebeln und Eiern. Er war barfuß, seine Haare waren zerzaust und sein Hemd hatte er nur nachlässig zugeknöpft. Jace’ Anblick versetzte Clary einen Stich ins Herz: Nie zuvor hatte sie ihn so gesehen, am frühen Morgen, noch umgeben von der warmen Aura des Schlafs, und sie empfand abgrundtiefe Trauer bei dem Gedanken, dass all diese »ersten Male« mit einem Jace geschahen, der nicht wirklich ihr Jace war.

Auch wenn er glücklich wirkte, keine dunklen Ringe mehr unter den Augen hatte und lachte, als er die Eier in der Pfanne wendete und ein fertiges Omelette auf einen Teller gleiten ließ…

Einen Moment später raunte Sebastian ihm etwas zu, woraufhin Jace sich umdrehte und Clary lächelnd ansah. »Rühreier oder Spiegeleier?«, fragte er.

»Rühreier. Ich wusste gar nicht, dass du so was kannst.« Clary stieg die letzte Stufe hinunter und ging zur Küchentheke. Durch die Fenster fiel Sonnenlicht herein – Clary konnte nur schätzen, dass es später Vormittag sein musste, da sie bisher keine einzige Uhr im Haus gefunden hatte – und die Küche glänzte vor Glas und Chrom.

»Wer kann denn keine Eier braten?«, fragte Jace sich laut.

Sofort hob Clary die Hand – genau wie Sebastian. Erschrocken zuckte sie zusammen und nahm den Arm hastig wieder herunter, doch Sebastian hatte es gesehen und grinste. Ständig trug er dieses Grinsen im Gesicht, ärgerte Clary sich im Stillen und sie wünschte, sie könnte es ihm von der Visage wischen. Stattdessen wandte sie den Blick ab und machte sich daran, aus den Lebensmitteln auf dem Tisch ihr Frühstück zusammenzustellen: Brot, Butter, Marmelade und Schinken. Dazu Orangensaft und Tee. Die Jungs ließen es sich gut gehen, überlegte sie. Andererseits: Wenn sie sich an Simon orientierte, hatten Teenagerjungs eigentlich immer Hunger. Nachdenklich warf Clary einen Blick aus dem Fenster – und stutzte. Die Aussicht zeigte nicht länger den Kanal, sondern einen weit entfernten Hügel, auf dem eine Burg thronte.

»Wo sind wir denn jetzt?«, fragte sie.

»Prag«, erklärte Sebastian. »Jace und ich haben hier was zu erledigen.« Dann schaute auch er aus dem Fenster und fügte hinzu: »Wir sollten bald aufbrechen.«

Clary schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. »Kann ich mitkommen?«

Doch Sebastian schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Warum nicht?« Clary verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist das vielleicht irgendein Männerding, an dem ich nicht teilnehmen darf? Lasst ihr euch denselben Haarschnitt verpassen?«

Jace reichte ihr einen Teller mit Rühreiern, schaute aber in Sebastians Richtung. »Vielleicht könnte sie ja doch mitkommen«, sagte er. »Das, was wir zu erledigen haben… ist schließlich nicht gefährlich.«

Sebastians Augen waren wie der Wald in Robert Frosts Gedicht: dunkel und tief. Und sie gaben nichts preis. »Alles kann sich in eine Gefahr verwandeln.«

»Okay, es ist deine Entscheidung«, erwiderte Jace achselzuckend, nahm sich eine Erdbeere, schob sie in den Mund und leckte sich den Fruchtsaft von den Fingern.

An diesem Gespräch zeigte sich der himmelweite Unterschied zwischen diesem Jace und ihrem, dachte Clary. Ihr Jace zeichnete sich durch eine entschlossene und alles umfassende Wissbegierde aus: Er hätte niemals einfach nur die Achseln gezuckt und sich einem fremden Plan angeschlossen. Ihr Jace war wie der Ozean, der unablässig gegen eine Felsküste brandete, dieser Jace dagegen war wie… ein ruhiger Fluss, der in der Sonne glitzerte.

Vielleicht, weil er glücklich ist?

Clarys Hand umklammerte die Gabel, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie hasste diese kleine, nagende Stimme in ihrem Kopf. Genau wie die Königin des Lichten Volkes säte die Stimme Zweifel, wo eigentlich kein Platz für Zweifel war, und stellte Fragen, auf die es keine Antwort gab.

»Ich hol mal meine Klamotten«, sagte Jace, stopfte sich eine weitere Erdbeere in den Mund und sprang die Treppe hinauf.

Nachdenklich schaute Clary ihm nach: Die transparenten Glasstufen schienen in diesem Licht unsichtbar zu sein, wodurch der Eindruck entstand, als würde er nach oben fliegen statt laufen.

»Du isst deine Eier ja gar nicht.« Sebastian war um die Küchentheke herumgekommen – immer noch völlig geräuschlos, verdammt!, fluchte Clary innerlich – und musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Ein schwacher Akzent färbte seine Worte, eine Mischung aus der Sprachmelodie der Bewohner von Idris und einem eher britischen Akzent. Clary fragte sich, ob er das bisher besser versteckt hatte oder ob es ihr einfach nur nicht aufgefallen war.

»Ehrlich gesagt, mag ich keine Eier«, gestand sie.

»Aber das wolltest du Jace nicht sagen, weil er so glücklich war, für dich Frühstück machen zu können.«

Da dies den Nagel auf den Kopf traf, schwieg Clary.

»Ist doch komisch, oder nicht?«, setzte Sebastian an. »Die Lügen, die die ›guten‹ Menschen erzählen. Wahrscheinlich wird er dir für den Rest deines Lebens morgens Eier servieren und du würgst sie dann hinunter, weil du ihm nicht sagen kannst, dass du keine Eier magst.«

Unwillkürlich musste Clary an die Elbenkönigin denken. »Die Liebe macht die Liebenden zu Lügnern?«

»Genau. Schnelle Auffassungsgabe, das muss ich sagen.« Sebastian machte einen Schritt auf sie zu.

Clary zuckte innerlich zusammen: Er benutzte dasselbe Eau de Toilette wie Jace – sie erkannte den zitronig-pfeffrigen Geruch, aber an Sebastian roch es anders. Irgendwie falsch.

»Das haben wir beide gemein«, verkündete Sebastian und begann, sein Hemd aufzuknöpfen.

Hastig stand Clary auf. »Was machst du da?«

»Nur die Ruhe, Schwesterherz.« Er ließ den letzten Knopf aufspringen, sodass sein Hemd weit offen stand, und lächelte träge. »Du bist doch das Mädchen mit den magischen Runen, oder etwa nicht?«

Clary nickte langsam.

»Ich brauche eine Kraft-Rune«, sagte er. »Und wenn du die Beste auf diesem Gebiet bist, dann will ich, dass du sie mir aufträgst. Du würdest deinem großen Bruder doch diesen Gefallen nicht abschlagen, oder?« Seine dunklen Augen musterten sie. »Außerdem willst du doch, dass ich dir eine Chance gebe.«

»Und du willst, dass ich dir eine Chance gebe«, erwiderte Clary. »Also schlag ich dir einen Deal vor: Ich versehe dich mit einer Kraft-Rune, wenn du mich mitkommen lässt… zu dieser Sache, die ihr erledigen müsst.«

Sebastian streifte das Hemd ab und warf es auf die Küchentheke. »Abgemacht.«

»Ich hab keine Stele.« Clary versuchte, ihn nicht anzuschauen, doch es fiel ihr schwer: Sebastian schien ihren persönlichen Raum bewusst zu verletzen. Sein Körper ähnelte dem von Jace – hart, ohne auch nur ein Gramm Fett, mit Muskeln, die sich deutlich unter der Haut abzeichneten. Genau wie Jace war er mit Narben übersät, doch seine Haut war so hell, dass sich die weißen Überbleibsel ehemaliger Runenmale bei ihm weniger stark abhoben als von Jace’ leicht gebräunter Haut. Bei ihrem Bruder wirkten die Narben wie Zeichnungen mit einem Silberstift auf weißem Papier.

Sebastian zog eine Stele aus seinem Gürtel und reichte sie Clary. »Nimm meine.«

»Okay«, sagte sie. »Dann dreh dich um.«

Als er ihrer Aufforderung folgte, musste Clary ein Keuchen unterdrücken: Sein nackter Rücken war von tiefen Narben überzogen, die parallel verliefen – viel zu gleichmäßig, als dass sie von einem Unfall oder einem Kampf stammen konnten.

Peitschenhiebe.

»Wer hat dir das angetan?«, fragte sie.

»Na, was glaubst du denn? Unser Vater«, erwiderte Sebastian. »Er hat eine Peitsche aus Dämonenmetall benutzt, damit keine Iratze der Welt sie heilen konnte. Die Narben sind eine Art Erinnerung.«

»Eine Erinnerung an was?«

»An die Gefahren des Gehorsams.« Vorsichtig berührte Clary eine der Narben – sie fühlte sich heiß an, als wäre sie erst vor Kurzem entstanden, und rau, während die umliegende Haut glatt war. »Meinst du nicht ›Gefahren des Ungehorsams‹?«

»Ich meine genau das, was ich gesagt habe.«

»Tun die Narben weh?«

»Permanent.« Ungeduldig warf Sebastian einen Blick über die Schulter. »Worauf wartest du noch?«

»Nichts. Schon gut.« Clary platzierte die Spitze der Stele auf Sebastians Schulterblatt und versuchte, ihre Hand ruhig zu halten, während ihre Gedanken sich überschlugen: Wie leicht konnte sie ihm nun eine Rune auftragen, die ihm schaden würde, ihn krank machen und ihm den Verstand verdrehen – aber was würde dann mit Jace passieren? Clary schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht und zeichnete die Fortis-Rune am Übergang vom Schulterblatt zum Rücken, genau dort, wo seine Flügel ansetzen würden, wenn er ein Engel wäre.

Als sie fertig war, drehte Sebastian sich um, nahm ihr die Stele ab und streifte sein Hemd wieder über. Clary erwartete kein Dankeschön – und bekam auch keines. Nachdem Sebastian das Hemd zugeknöpft hatte, rollte er die Schultern und grinste. »Du bist gut«, sagte er – mehr aber auch nicht.

Einen Augenblick später hörten sie Schritte auf der Treppe und Jace kehrte ins Erdgeschoss zurück, wobei er sich eine Wildlederjacke überzog. Außerdem hatte er seinen Waffengürtel angelegt und trug dunkle Halbfingerhandschuhe.

Clary zwang sich zu einem warmen Lächeln. »Sebastian hat gesagt, dass ich doch mitkommen darf.«

Verwundert hob Jace die Augenbrauen und meinte dann: »Also gleiche Haarschnitte für uns alle?«

»Das will ich nicht hoffen«, entgegnete Sebastian. »Ich seh mit Locken einfach schaurig aus.«

Kurz schaute Clary an sich herunter. »Muss ich mich umziehen… meine Kampfmontur anlegen?«

»Nein, nicht nötig. Bei dieser Art von Besorgung rechnen wir eigentlich nicht mit einem Kampf. Aber es ist nie verkehrt, gut vorbereitet zu sein. Ich hol dir schnell was aus der Waffenkammer«, erklärte Sebastian und verschwand ins Obergeschoss.

Clary verfluchte sich innerlich, weil sie bei ihrem ersten Erkundungsgang die Waffenkammer nicht entdeckt hatte. Dort gab es bestimmt den ein oder anderen Hinweis darauf, was die beiden planten…

Im nächsten Moment berührte Jace ihre Wange. Clary zuckte erschrocken zusammen – sie hatte seine Anwesenheit fast vergessen. »Bist du dir auch sicher, dass du wirklich mitwillst?«, fragte er.

»Natürlich. Ich krieg hier in der Wohnung sonst noch ’nen Lagerkoller. Außerdem hast du mir beigebracht, wie man kämpft, also sollte ich das Gelernte auch mal anwenden.«

Jace’ Lippen verzogen sich zu einem diabolischen Grinsen; dann streifte er Clarys Haare nach hinten und murmelte ihr etwas darüber ins Ohr, was sie sonst noch von ihm gelernt hatte und anwenden sollte. Er richtete sich erst wieder auf, als Sebastian zurückkehrte, der eine Jacke übergestreift hatte und einen Waffengurt in der Hand hielt. Ein Dolch steckte darin und eine Seraphklinge. Blitzschnell zog er Clary zu sich heran, wickelte den Gurt zweimal um ihre Taille und drückte ihn auf ihre Hüften hinunter. Clary war zu überrascht, um sich dagegen zu wehren, und Sebastian war schon fertig, bevor sie die Gelegenheit hatte, ihn wegzustoßen. Dann wandte er sich ab und ging zur Wand, wo die Umrisse einer Tür auftauchten – schimmernd wie ein Durchgang in einem Traum.

Eine Sekunde später traten sie hinaus ins Freie.

Ein sanftes Klopfen an der Tür der Bibliothek riss Maryse aus ihren Gedanken und sie schaute auf. Durch die Fensterscheiben sah sie einen stark bewölkten dunklen Himmel und die Tischleuchten mit den grünen Lampenschirmen warfen kleine Lichtinseln im ganzen Raum. Die Institutsleiterin konnte nicht sagen, wie lange sie schon an ihrem Schreibtisch gesessen hatte, aber die Tischfläche vor ihr war mit leeren Kaffeebechern förmlich übersät.

Maryse erhob sich und rief: »Herein.«

Die Tür wurde mit einem leisen Klicken geöffnet, doch ansonsten herrschte völlige Stille – kein Rascheln, keine Schritte. Einen Moment später schwebte eine Gestalt in einer pergamentfarbenen Robe in den kreisrunden Bibliotheksraum, das Gesicht tief in den Schatten der hochgeschlagenen Kapuze verborgen. Du hast dich an uns gewandt, Maryse Lightwood?

Müde rollte Maryse mit den Schultern; sie fühlte sich verkrampft und erschöpft und alt. »Bruder Zachariah. Ich hatte eigentlich erwartet, dass… Ach, nichts für ungut. Es spielt keine Rolle.«

Du hattest Bruder Enoch erwartet? Natürlich ist er mir übergeordnet, aber ich dachte, dein Anruf hinge möglicherweise mit dem Verschwinden deines Adoptivsohns zusammen. Und ich habe ein besonderes Interesse an seinem Wohlergehen.

Neugierig musterte Maryse Bruder Zachariah: Die meisten Brüder der Stille äußerten ihre Meinung nicht und sprachen auch nicht von ihren Gefühlen, falls sie denn überhaupt welche hatten. Rasch strich sie sich die Haare glatt und trat hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Also gut. Ich möchte dir etwas zeigen.«

In all den Jahren hatte sie sich nie wirklich an die Stillen Brüder gewöhnt, an ihre geräuschlose Fortbewegungsweise, bei der ihre Füße den Boden scheinbar nicht berührten. Auch jetzt schien Zachariah neben ihr zu schweben, als sie ihn durch die Bibliothek zu einer Weltkarte führte, die an der nach Norden gehenden Rundwand des Raums angebracht war. Die Karte zeigte Idris im Herzen Europas und seine Schutzschilde waren als golden schimmernde Grenzen eingezeichnet.

Auf einem Regal unter der Karte befanden sich zwei Objekte: eine Glasscherbe mit getrocknetem Blut und eine abgenutzte Ledermanschette, auf der eine Engelskraft-Rune prangte.

»Das hier sind…«

Jace Herondales Armband und Jonathan Morgensterns Blut. Gehe ich recht in der Annahme, dass die Versuche, die beiden zu orten, nicht erfolglos geblieben sind?

»Na ja, man kann es nicht direkt als ›orten‹ bezeichnen.« Maryse straffte die Schultern. »Als ich noch dem Kreis angehört habe, bediente Valentin sich einer bestimmten Methode, um uns überall ausfindig machen zu können. Bis auf wenige geschützte Orte wusste er jederzeit, wo wir uns befanden. Ich hab mir gedacht, dass er dieselbe Methode vielleicht auch bei Jace angewandt hat, als er noch klein war. Valentin schien nie Schwierigkeiten zu haben, ihn zu finden.«

Von welcher Methode sprichst du?

»Ein Runenmal, allerdings keines aus dem Grauen Buch. Wir alle besaßen dieses Mal. Ich hatte es schon ganz vergessen, denn schließlich kann man es nicht mehr loswerden.«

Falls Jace dieses Mal trägt, würde er dann nicht davon wissen und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen?

Maryse schüttelte den Kopf. »Das Mal könnte winzig sein, beispielsweise eine weiße, fast unsichtbare Rune unter den Haaren, so wie bei mir. Jace wüsste nicht einmal von ihrer Existenz, denn Valentin hätte es ihm bestimmt nicht auf die Nase gebunden.«

Bruder Zachariah trat einen Schritt vor und betrachtete die Wandkarte. Was ist bei deinem Experiment herausgekommen?

»Jace trägt tatsächlich dieses Runenmal«, bestätigte Maryse, klang dabei aber weder erfreut noch stolz. »Ich habe ihn auf der Karte gesehen. Sobald er irgendwo auftaucht, leuchtet auf der Weltkarte ein Lichtfunke auf, und zwar genau an seinem Standort; gleichzeitig blitzt seine Ledermanschette auf. Daher weiß ich, dass es sich um ihn handelt und nicht um Jonathan Morgenstern. Jonathan ist nicht ein einziges Mal aufgetaucht.«

Und wo befindet er sich? Wo ist Jace?

»Ich habe ihn an verschiedenen Orten gesehen, immer nur ein paar Sekunden: in London, Rom und Shanghai. Vor Kurzem flackerte sein Licht in Venedig auf, verschwand dann aber wieder.«

Wie kann er denn so schnell von Stadt zu Stadt reisen?

»Mithilfe eines Portals?« Maryse zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines: Jedes Mal, wenn die Karte aufblitzt, heißt das, dass er noch lebt… zumindest in diesem Moment. Dann habe ich das Gefühl, dass ich wieder Luft bekomme, frei atmen kann, wenigstens für eine kleine Weile«, erklärte sie und schloss dann resolut den Mund, damit ihr das, was sie dachte, nicht auch noch über die Lippen kam: Dass Alec und Isabelle ihr sehr fehlten, aber dass sie es nicht übers Herz brachte, sie zum Institut zurückzurufen, wo die Division zumindest von Alec erwartete, dass er seine Verantwortung als volljähriger Nephilim übernahm und sich an der Jagd nach seinem eigenen Bruder beteiligte. Dass sie immer noch oft an Max dachte und dass es ihr jedes Mal den Atem raubte und sie sich schmerzhaft ans Herz fassen musste, aus Angst, vor Kummer zu sterben. Und dass sie Jace nicht auch noch verlieren wollte.

Das verstehe ich. Bruder Zachariah verschränkte die Hände. Sie wirkten jung, nicht knorrig oder krumm, und die Finger waren lang und schlank. Maryse fragte sich oft, auf welche Weise die Stillen Brüder alterten und wie lange sie wohl lebten, doch solche Informationen behielt die Bruderschaft streng für sich. Es gibt kaum etwas Mächtigeres als die Liebe zur Familie. Allerdings weiß ich nicht, warum du dich entschlossen hast, mir dies hier zu zeigen.

Maryse holte zitternd Luft. »Ich weiß, ich sollte diese Gegenstände dem Rat zeigen«, setzte sie an. »Aber die Ratsmitglieder wissen inzwischen von der Verbindung zwischen Jace und Jonathan. Und sie machen auf beide Jagd. Sobald sie Jace finden, werden sie ihn töten. Doch wenn ich all dies hier für mich behalte, kann man das zweifellos als Hochverrat bezeichnen.« Maryse ließ den Kopf hängen. »Ich habe beschlossen, es euch, den Stillen Brüdern, mitzuteilen. Denn dann ist es eure Entscheidung, ob ihr die Gegenstände dem Rat vorlegt. Ich… ich könnte es nicht ertragen, diese Entscheidung selbst treffen zu müssen.«

Zachariah schwieg einen Moment. Dann erklang seine Stimme sanft in Maryse’ Kopf: Diese Karte sagt dir, dass dein Sohn noch lebt. Wenn du sie dem Rat übergeben würdest, hätte das meines Erachtens kaum Vorteile: Es würde den Ratsmitgliedern lediglich verraten, dass Jace sehr schnell von Ort zu Ort reist und sich unmöglich orten lässt. Aber das wissen sie bereits. Behalte die Karte. Im Moment werde ich kein Wort darüber verlieren.

Erstaunt schaute Maryse den Bruder der Stille an. »Aber… du bist doch ein Diener des Rats…«

Ich war einst ein Schattenjäger, genau wie du. Ich habe gelebt, genau wie du. Und genau wie du hatte auch ich Menschen um mich, die ich so sehr liebte, dass mir ihr Wohlergehen wichtiger war als alles andere wichtiger als jeder Eid, wichtiger als jede Verpflichtung.

»Hast du…« Maryse zögerte. »Hast du Kinder gehabt?«

Nein. Keine Kinder.

»Es tut mir leid.«

Das muss es nicht. Versuch, dich nicht von der Angst um Jace auffressen zu lassen. Er ist ein Herondale und die Herondales waren schon immer Überlebenskünstler

In dem Moment zerbrach irgendetwas tief in Maryse. »Er ist kein Herondale! Jace ist ein Lightwood! Jace Lightwood. Er ist mein Sohn.«

Erneut breitete sich Stille aus. Dann sagte Bruder Zachariah: Ich hatte nichts anderes andeuten wollen. Er löste seine verschränkten Hände und trat einen Schritt zurück. Über eine Sache solltest du dir allerdings im Klaren sein: Falls Jace länger als nur ein paar Sekunden an einem Ort auftaucht, wirst du den Rat informieren müssen. Du solltest dich darauf vorbereiten.

»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, murmelte Maryse. »Der Rat wird Jäger auf ihn hetzen. Ihm eine Falle stellen. Aber er ist doch noch so jung… nur ein Junge.«

Er war nie einfach nur ein Junge, erwiderte Zachariah und wandte sich zum Gehen. Maryse schaute ihm nicht nach. Sie hatte sich wieder zur Wand gedreht und starrte auf die Karte.

Simon?

Erleichterung breitete sich in ihm aus – Clarys Stimme, zaghaft, aber vertraut, hallte durch seinen Kopf. Simon blickte zur Seite. Isabelle schlief noch. An den Vorhangkanten drang helles Mittagslicht in den Raum.

Bist du wach?

Simon drehte sich auf den Rücken und schaute an die Decke. Natürlich bin ich wach.

Na ja, ich war mir nicht ganz sicher. Schließlich bist du sechs, sieben Stunden hinter meiner Zeit. Hier ist es inzwischen dunkel.

Italien?

Im Moment sind wir in Prag. Die Stadt ist richtig nett. Mit einem breiten Fluss und vielen Gebäuden mit hohen Turmspitzen. Erinnert mich ein bisschen an Idris. Allerdings ist es hier ziemlich kalt. Kälter als zu Hause.

Okay, genug vom Wetterbericht. Ist mit dir alles in Ordnung? Wo sind Sebastian und Jace?

Hier bei mir. Ich bin allerdings ein paar Schritte weitergeschlendert angeblich, um mir die Aussicht von der Brücke anzusehen und in einen Dialog mit der historischen Architektur zu treten.

Dann bin ich also jetzt die historische Architektur?

Clary lachte; zumindest spürte Simon etwas wie Lachen in seinem Kopf – ein leises, nervöses Lachen. Ich hab nicht viel Zeit. Obwohl sie keinen Verdacht zu schöpfen scheinen. Jace Jace jedenfalls nicht. Sebastian ist schwieriger einzuschätzen. Ich glaube nicht, dass er mir vertraut. Gestern hab ich sein Zimmer durchsucht, aber nichts gefunden ich meine nichts, was auf ihre Pläne hindeuten würde. Und letzte Nacht

Letzte Nacht?

Ach, nichts.

Irgendwie war es seltsam, dass Clary in seinem Kopf sprach und er trotzdem spüren konnte, dass sie ihm irgendetwas verschwieg, überlegte Simon.

Sebastian bewahrt in seinem Zimmer das Kästchen auf, das meiner Mutter gehört hat. Mit den ganzen Babysachen drin. Aber ich versteh nicht, wieso.

Verschwende bloß keine Zeit mit dem Versuch, Sebastian verstehen zu wollen, riet Simon ihr. Das ist er gar nicht wert. Finde lieber raus, was die beiden vorhaben.

Das versuch ich ja. Clary klang gereizt. Bist du noch bei Magnus?

Ja. Wir sind inzwischen zu Phase zwei unseres Plans übergegangen.

Ah, ja? Was war denn Phase eins?

Phase eins bestand darin, um den Tisch herumzusitzen, Pizza zu bestellen und zu streiten.

Und was ist Phase zwei? Um den Tisch herumsitzen, Kaffee trinken und streiten?

Nicht ganz. Simon zögerte einen Moment. Wir haben den Dämon Azazel heraufbeschworen.

Azazel? Clarys mentale Stimme bekam einen schrillen Ton; Simon hätte sich fast die Ohren zugehalten. Also deswegen hast du mir diese blöde Schlumpf-Frage gestellt. Sag mir, dass das bloß ein Scherz ist.

Nein, leider, kein Scherz. Ist eine ziemlich lange Geschichte. Simon erzählte Clary die Ereignisse der vergangenen Stunden in Kurzform, während er gleichzeitig Isabelle betrachtete, die ruhig ein- und ausatmete. Wir dachten, der Dämon könnte uns dabei helfen, eine Waffe zu finden, mit der wir Sebastian töten können, ohne Jace dabei zu verletzen.

Na gut, aber war das die einzige Alternative? Einen Dämon heraufbeschwören? Clary klang nicht sehr überzeugt. Noch dazu ist Azazel nicht irgendein Dämon. Eigentlich bin ich hier doch beim Team ›Die Bösen‹ und ihr da drüben seid das Team ›Die Guten‹ vergiss das nicht.

So einfach ist das nicht, Clary, und das weißt du auch.

Es schien, als konnte er ihr Seufzen spüren – ein leichter Luftzug, der über seine Haut strich und ihm die Nackenhaare aufstellte. Ich weiß.

Städte und Flüsse, dachte Clary, während sie den Ring an ihrer rechten Hand losließ und sich wieder der Karlsbrücke und damit auch Jace und Sebastian zuwandte. Die beiden standen auf der anderen Seite der alten Steinbrücke und zeigten auf irgendetwas, das Clary nicht sehen konnte. Das Wasser der Moldau schimmerte fast metallisch und umströmte geräuschlos die uralten Brückenpfeiler. Auch der Himmel war metallisch grau, durchsetzt von schwarzen Wolken.

Der Wind riss an Clarys Haaren und an ihrer Jacke, als sie sich zu Sebastian und Jace gesellte. Dann schlenderten sie gemeinsam weiter, wobei die Jungen sich leise miteinander unterhielten. Vermutlich hätte Clary sich an dem Gespräch beteiligen können, aber die ruhige Anmut der Stadt mit den hohen Türmen, die in der Ferne im Dunst verschwanden, weckte in ihr den Wunsch nach Stille und der Möglichkeit, sich allein umzuschauen und die Eindrücke auf sich wirken zu lassen.

Die Brücke führte zu einer gewundenen Kopfsteingasse mit zahlreichen Touristengeschäften, die blutroten Granatschmuck, goldenen Bernstein aus Polen, schwere böhmische Glaswaren und Holzspielzeug verkauften. Selbst zu dieser frühen Stunde standen bereits Kundenwerber vor den Nachtclubs und hielten den Passanten Freikarten und Coupons entgegen, welche Ermäßigungen auf die Getränke im Club versprachen. Ungeduldig wedelte Sebastian die Männer beiseite und fuhr sie verärgert auf Tschechisch an. Das Geschiebe in den Gassen ließ erst ein wenig nach, als sich die Straße zu einem mittelalterlichen Platz hin öffnete. Trotz des kalten Wetters drängten sich hier die Touristen rund um die kleinen Buden, die Würstchen und Glühwein anboten. Die drei waren an einem der Stände stehen geblieben und hatten sich etwas zu essen bestellt. Gerade aßen sie um einen wackligen Stehtisch gedrängt, als die riesige astronomische Uhr in der Mitte des Platzes plötzlich die Stunde schlug. Ein rasselndes Räderwerk setzte ein und dann traten oberhalb des Zifferblattes eine Reihe Holzfiguren aus zwei Türen – die zwölf Apostel, wie Sebastian erklärte, während die Figuren sich im Kreis drehten.

»Es gibt da eine Legende«, fügte er hinzu, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und umfasste den Becher Glühwein mit beiden Händen. »Angeblich hat der König dem Uhrmacher nach Fertigstellung der Uhr beide Augen ausstechen lassen, damit er nie wieder etwas derartig Schönes herstellen konnte.«

Clary schauderte und rückte etwas näher an Jace heran, der seit dem Verlassen der Brücke ziemlich schweigsam war, als hinge er seinen Gedanken nach. Viele Leute – hauptsächlich Mädchen – drehten sich beim Vorbeigehen nach ihm um, da seine hellen Haare sich deutlich von den gedämpften Winterfarben des Altstädter Markts abhoben. »Das ist grausam«, bemerkte Clary.

Sebastian fuhr mit dem Finger über den Rand seines Bechers und leckte sich den Glühwein von der Fingerkuppe. »Die Vergangenheit ist ein anderes Land.«

»Fremdes Land«, berichtigte Jace ihn.

Sebastian sah ihn träge an. »Was?«

»›Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort gelten andere Regeln‹«, sagte Jace. »So lautet das vollständige Zitat.«

Doch Sebastian zuckte nur die Achseln und schob den Becher von sich. Auf dem Becher war ein Euro Pfand, aber Clary nahm an, dass Sebastian keine Lust hatte, sich für einen solch geringen Betrag wie ein ordentlicher Bürger zu benehmen. »Okay, lasst uns gehen«, kommandierte er stattdessen.

Obwohl Clary ihren Glühwein noch nicht ausgetrunken hatte, stellte sie den Becher ab und folgte Sebastian, der sie vom Platz wegführte, hinein in ein Labyrinth aus engen, gewundenen Straßen. Jace hatte Sebastian berichtigt, überlegte Clary. Natürlich war es dabei um nichts Bedeutendes gegangen, aber es hatte doch geheißen, Liliths Blutmagie würde ihn auf eine Weise an ihren Bruder binden, die keinerlei Widerspruch zuließ, oder? Konnte es sich dabei um ein – wenn auch kleines – Anzeichen dafür handeln, dass die Wirkung der Beschwörungsformel allmählich nachließ?

Es war nicht klug, darauf zu hoffen, das wusste Clary genau. Doch manchmal war Hoffnung das Einzige, was einem noch blieb.

Die Straßen wurden immer enger und düsterer. Die Wolken hatten die Abendsonne vollkommen verdeckt. Hier und dort brannten altmodische Gaslaternen, die ein wenig Licht in die neblige Dunkelheit warfen. Immer noch liefen sie über Kopfsteinpflaster, eine Gasse war so schmal, dass die drei im Gänsemarsch hintereinander gehen mussten. Nur der Anblick anderer Passanten, die gelegentlich aus dem Nebel auftauchten und gleich wieder darin verschwanden, sorgte dafür, dass Clary sich nicht ganz so vorkam, als wäre sie in eine andere Zeit versetzt worden und hätte eine Art Fantasiestadt aus ihren eigenen Träumen betreten.

Endlich erreichten sie einen steinernen Torbogen, der zu einem kleinen Platz führte. Die meisten Geschäfte hatten bereits geschlossen; nur in einem Laden direkt gegenüber brannte noch ein Licht. Über dem Eingang hing ein Schild, auf dem in goldenen Buchstaben »Antikvariát« stand. Im Schaufenster stapelten sich alte Flaschen mit unterschiedlichem Inhalt, deren sich ablösende Etiketten in Latein beschriftet waren. Clary schaute überrascht, als Sebastian darauf zusteuerte. Was wollten sie denn mit alten Flaschen?

Doch als sie den Laden erst betreten hatten, erübrigte sich die Frage. Der Verkaufsraum war nur spärlich beleuchtet, roch nach Mottenkugeln und war bis zur Decke vollgestopft. In jeder noch so kleinen Nische stapelte sich Nippes – und Dinge, die man nicht als Trödel bezeichnen konnte: Wunderschöne Himmelskarten lagen neben Salz- und Pfefferstreuern, deren Design den Figuren der Astronomischen Rathausuhr nachempfunden war. Auf den Regalen drängten sich antike Tabak- und Zigarrendosen, in Glas gefasste Briefmarken, alte Fotoapparate ostdeutscher und russischer Bauart sowie eine atemberaubende dunkelsmaragdgrüne Kristallglasschale neben einem Haufen stockfleckiger, alter Kalender. Von einer Befestigungsstange an der Wand hing eine alte tschechische Flagge herab.

Sebastian bewegte sich zwischen den Stapeln hindurch zu einer Ladentheke im hinteren Bereich des Raums und Clary erkannte, dass es sich bei der Gestalt, die sie für eine Schaufensterpuppe gehalten hatte, in Wahrheit um einen alten Mann handelte, dessen Gesicht so runzlig und faltig war wie ein altes Laken. Mit verschränkten Armen lehnte er an der Theke, hinter deren Glasfront antiker Schmuck und funkelnde Glasperlen, kleine Geldbörsen mit aufwändigen Schnallen und Reihen von Manschettenknöpfen präsentiert wurden.

Als Sebastian den Mann auf Tschechisch ansprach, nickte der, deutete dann kurz angebunden mit dem Kopf auf Clary und Jace und warf ihnen einen misstrauischen Blick zu.

Dabei sah Clary, dass er dunkelrote Pupillen hatte. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und konzentrierte sich, um die Lagen von Zauberglanz, die den Mann kaschierten, der Reihe nach zu entfernen – was nicht einfach war, denn sie schienen wie Fliegenfängerpapier an ihm zu haften. Schließlich gelang es ihr, wenigstens so viel freizulegen, dass sie einen kurzen Blick auf die Gestalt werfen konnte, die tatsächlich vor ihnen stand – ein großes, menschenartiges Wesen mit grauer Haut und rubinroten Augen, einer Mundöffnung mit spitzen, in alle Richtungen zeigenden Zähnen und langen, schlangenähnlichen Armen, an deren Enden keine richtigen Hände waren, sondern längliche Gliedmaßen mit aalartigen Köpfen – schmal, bösartig und mit scharfen Zähnen besetzt.

»Ein Vetis-Dämon«, raunte Jace Clary ins Ohr. »Sie sind Drachen sehr ähnlich und horten alles, was glitzert und funkelt: Ob Ramsch oder Edelsteine – für sie macht das keinen Unterschied.«

Sebastian schaute über seine Schulter zu Jace und Clary. »Das sind meine Geschwister«, erklärte er nach einem Moment. »Beide sind absolut vertrauenswürdig, Mirek.«

Clary spürte, wie ein leichter Schauer durch ihren Körper jagte. Die Vorstellung, sich als Jace’ Schwester auszugeben, behagte ihr nicht, auch wenn es nur für einen Dämon war.

»Das gefällt mir nicht«, murrte der Vetis-Dämon. »Du hast gesagt, wir würden nur mit dir Geschäfte treiben, Morgenstern. Auch wenn ich weiß, dass Valentin eine Tochter hatte…« – er deutete mit dem Kopf auf Clary – »… weiß ich aber auch, dass Valentin nur einen einzigen Sohn hatte.«

»Er ist adoptiert«, erwiderte Sebastian leichthin und wedelte mit der Hand in Jace’ Richtung.

»Adoptiert?«

»Na ja, die Definition der modernen Familie verändert sich heutzutage ja in rasantem Tempo«, warf Jace ein.

Doch der Dämon wirkte nicht sehr überzeugt. »Das gefällt mir nicht«, knurrte er erneut.

»Aber dir gefällt doch bestimmt das hier«, entgegnete Sebastian, zog einen Beutel aus der Tasche und stülpte den Inhalt auf die Ladentheke, woraufhin ein Haufen Bronzemünzen herausfiel und klirrend über das Glas rollte. »Taler von den Augen Verstorbener. Einhundert Stück. Also, hast du das, was wir vereinbart haben, inzwischen besorgt?«

Eine der mit Zähnen besetzten Hände tastete sich über die Theke vorwärts und biss vorsichtig in eine Münze. Die Augen des Dämons huschten gierig über den Stapel. »Das ist ja alles schön und gut, reicht aber nicht als Bezahlung für das, was du suchst.« Er machte eine wogende Bewegung mit einem seiner Arme und darüber erschien etwas, das Clary an einen glitzernden Bergkristall erinnerte, allerdings von noch größerer Leuchtkraft und Schönheit. Schlagartig erkannte sie, dass es sich dabei um das silberhelle Material handelte, aus dem die Seraphklingen bestanden. »Reiner Adamant«, fuhr Mirek fort. »Der Urstoff des Himmels. Unbezahlbar.«

Wut zuckte über Sebastians Gesicht wie ein flackernder Blitz und einen Sekundenbruchteil konnte Clary den bösartigen Jungen dahinter sehen – der Junge, der lachend zugeschaut hatte, als Hodge im Sterben lag. Im nächsten Moment war der zornige Ausdruck jedoch wieder verschwunden und Sebastian erwiderte: »Aber wir hatten doch den Preis abgemacht.«

»Wir hatten auch abgemacht, dass du allein kommen würdest«, erwiderte Mirek. Seine roten Augen huschten wieder zu Clary und Jace, der sich zwar nicht von der Stelle gerührt, aber die gespannte, beherrschte Haltung einer lauernden Raubkatze angenommen hatte. »Ich mach dir einen Vorschlag, was du mir sonst noch als Bezahlung geben kannst«, sagte der Dämon hinterlistig. »Eine Locke vom hübschen Haar deiner Schwester.«

»Von mir aus«, meinte Clary und trat einen Schritt vor. »Wenn du unbedingt eine meiner Locken haben willst…«

»Nein!« Pfeilschnell schoss Jace vor, um sich ihr in den Weg zu stellen. »Dieser Dämon ist ein Schwarzmagier, Clary. Du hast keine Ahnung, was er mit einer Locke oder mit ein paar Tropfen von deinem Blut alles anstellen kann.«

»Mirek«, sagte Sebastian langsam, ohne Clary dabei anzusehen.

In dem Augenblick fragte Clary sich: Falls Sebastian wirklich eine ihrer Locken gegen den Adamant eintauschen wollte, wer würde ihn daran hindern? Jace hatte zwar protestiert, aber er war auch an das gebunden, was Sebastian von ihm verlangte. Wenn es hart auf hart kam, was wäre stärker? Der durch die Beschwörungsformel auferlegte Zwang oder Jace’ Gefühle für sie?

»Auf keinen Fall«, fuhr Sebastian fort.

Der Dämon blinzelte träge mit seinen echsenartigen Lidern. »Auf keinen Fall?«

»Du wirst meiner Schwester kein einziges Haar krümmen«, erklärte Sebastian. »Und du wirst auch unsere Übereinkunft nicht brechen. Niemand betrügt Valentin Morgensterns Sohn. Du nimmst jetzt die ausgemachte Bezahlung oder…«

»Oder was?«, knurrte Mirek. »Oder sonst wird es mir leidtun? Du bist nicht Valentin, Kleiner. Valentin – das war ein Mann, der wusste, wie man Loyalität weckt…«

»Nein, ich bin nicht Valentin«, bestätigte Sebastian und zog eine Seraphklinge aus seinem Gürtel. »Und ich habe nicht vor, mit Dämonen Geschäfte zu machen, so wie Valentin es getan hat. Wenn du mir gegenüber nicht loyal sein willst, dann werde ich dich eben lehren, mich zu fürchten. Du solltest wissen, dass ich mächtiger bin, als mein Vater es je gewesen ist – und wenn du mich nicht fair behandeln willst, dann werde ich dir das Leben nehmen… und anschließend das, weshalb ich hier bin.« Er hob die Klinge und wisperte: »Dumah.« Und die Waffe blitzte auf und leuchtete wie eine Feuersäule.

Der Dämon zuckte zurück und fauchte einige Worte in einer gurgelnden Sprache. Jace hielt bereits einen Dolch in der Hand und rief Clary etwas zu, doch er war nicht schnell genug. Irgendetwas traf sie hart an der Schulter, sie fiel nach vorn und landete mit allen vieren auf dem schmutzigen Boden. Blitzschnell drehte sie sich auf den Rücken, schaute hoch…

Und stieß einen gellenden Schrei aus. Über ihr ragte eine gewaltige Schlange auf. Zumindest besaß die Kreatur den massigen, schuppigen Rumpf und den spreizbaren Nackenschild einer Kobra, dazu aber ein Dutzend insektenartige, mehrgliedrige Beine, die mit spitzen Klauen bewehrt waren. Hektisch tastete Clary nach ihrem Waffengurt, als sich der Dämon auch schon aufbäumte und den Kopf herabstieß, während gelbes Gift von seinen Fangzähnen tropfte.

Nach dem »Gespräch« mit Clary war Simon wieder eingeschlafen. Als er nun erneut aufwachte, war das Licht eingeschaltet und Isabelle kniete auf der Bettkante. Sie trug ihre Jeans und ein zerrissenes T-Shirt, das sie sich von Alec geborgt haben musste: Es hatte Löcher an den Ärmeln und die Naht am unteren Saum hatte sich aufgelöst. Die junge Schattenjägerin hatte den Kragen beiseitegezogen und zeichnete mit ihrer Stele ein Runenmal auf ihr Dekolleté.

Simon richtete sich leicht auf und stützte sich auf die Ellbogen. »Was machst du da?«

»Ich trag eine Iratze auf«, erklärte Isabelle. »Gegen das hier.« Sie schob ihre Haare nach hinten und Simon konnte die beiden kreisrunden Bisswunden erkennen. Als Isabelle die Rune vollendet hatte, begannen die Wunden zu heilen und hinterließen nur zwei schwach schimmernde weiße Flecken auf ihrer Haut.

»Ist… ist alles in Ordnung mit dir?« Simons Stimme war nur ein Krächzen. Angestrengt versuchte er, sich die anderen Fragen zu verkneifen, die ihm noch auf der Zunge lagen. Hab ich dir wehgetan? Hältst du mich jetzt für ein Monster? Ist es jetzt endgültig aus zwischen uns?

»Mir geht’s prima. Ich hab zwar viel länger geschlafen als sonst, aber ich glaub, das ist gar nicht mal so schlecht.« Als Isabelle Simons Miene sah, steckte sie die Stele in ihren Gürtel, krabbelte mit raubtierartiger Anmut zu Simon und platzierte sich so über ihn, dass ihr Haar wie ein Vorhang um sie beide herum fiel. Sie waren einander nun so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen berührten. Isabelle schaute Simon unverwandt an. »Warum bist du nur so paranoid?«, fragte sie.

Simon spürte ihren Atem auf seinem Gesicht, so sanft wie ein Wispern. Am liebsten hätte er sie zu sich herabgezogen und geküsst – nicht gebissen, einfach nur geküsst –, doch genau in dem Moment klingelte es an der Wohnungstür.

Eine Sekunde später hämmerte jemand so fest gegen die Zimmertür, dass die Scharniere bebten. »Simon! Isabelle!« Magnus’ Stimme drang aus dem Flur zu ihnen. »Es ist mir egal, ob ihr noch schlaft oder irgendwelche unaussprechlichen Dinge miteinander treibt. Springt in eure Klamotten und kommt ins Wohnzimmer. Jetzt sofort!«

Simon warf Isabelle, die genauso verwirrt schaute wie er, einen Blick zu. »Was ist los?«

»Kommt einfach ins Wohnzimmer«, rief Magnus und entfernte sich dann mit lauten Schritten.

Zu Simons Enttäuschung rollte Isabelle sich von ihm herunter und seufzte. »Was glaubst du, was jetzt schon wieder passiert ist?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Simon. »Vielleicht eine Eilsitzung des Teams ›Die Guten‹.« Er hatte den Ausdruck lustig gefunden, als Clary ihn benutzt hatte.

Doch Isabelle schüttelte nur den Kopf und seufzte erneut. »Ich bin mir nicht sicher, ob es heutzutage überhaupt noch so was wie ein Team ›Die Guten‹ gibt«, verkündete sie.

13 Der Knochenkronleuchter

Als der Schlangenkopf auf Clary hinabschoss, jagte ein grelles Licht an ihr vorbei, das sie beinahe geblendet hätte: ein Seraphschwert, dessen schimmernde Klinge das Haupt des Dämons mit einem Schlag vom Rumpf abtrennte. Der Kopf schrumpfte zusammen und versprühte dabei Gift und Wundsekret. Obwohl Clary sich rasch zur Seite rollte, konnte sie nicht verhindern, dass etwas von der giftigen Substanz auf sie herabregnete. Einen Sekundenbruchteil später löste sich der Dämon in Luft auf, noch bevor seine beiden Hälften auf dem Boden auftrafen. Clary unterdrückte einen Schmerzensschrei und versuchte, sich aufzurappeln, als auf einmal eine ausgestreckte Hand in ihrem Sichtfeld auftauchte – ein Angebot, ihr aufzuhelfen. Jace, dachte sie sofort, doch als sie aufschaute, erkannte sie, dass ihr Bruder sich über sie beugte.

»Komm schon«, forderte Sebastian sie auf, die Hand noch immer ausgestreckt. »Das war nicht der einzige Dämon, hier sind noch mehr.«

Clary nahm seine Hand und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Auch Sebastian war mit Dämonenblut beschmiert – eine grünschwarze Substanz, die bei Kontakt aufflammte und Brandlöcher in seine Kleidung gefressen hatte. Während Clary ihn anstarrte, erhob sich hinter ihm plötzlich ein weiteres dieser schlangenköpfigen Wesen – ein Elapid-Dämon, wie ihr schlagartig einfiel, als sie sich an die Abbildung in einem Buch erinnerte. Der Dämon spreizte den Nackenschild wie eine Kobra. Ohne lange nachzudenken, packte Clary Sebastian an der Schulter und stieß ihn kräftig aus dem Weg; er taumelte ein paar Schritte, während der Schlangenkopf herabfuhr und Clary ihm auf der Hälfte der Strecke entgegenkam, den Dolch, den sie aus ihrem Gürtel gerissen hatte, fest in der Hand.

Während sie dem Dämon die Waffe in den Hals rammte, drehte sie sich gleichzeitig zur Seite, um seinen Fangzähnen auszuweichen. Sein bösartiges Zischen verwandelte sich in ein Gurgeln, als die Klinge tief in das Gewebe eindrang und Clary den Dolch nach unten zog und den Dämon aufschlitzte, als wollte sie einen Fisch ausweiden. Brennendes Dämonenblut schoss in einem heißen Schwall über ihre Hand. Clary schrie auf, hielt den Dolch aber weiterhin fest, während der Elapid aus der Welt verschwand.

Sofort wirbelte sie herum. Sebastian kämpfte gerade mit einem weiteren Elapid an der Ladentür und Jace wehrte den Angriff von zwei Dämonen in der Nähe eines Regals mit antikem Porzellan ab. Keramikscherben lagen über den ganzen Boden verstreut. Clary holte aus und warf den Dolch, so wie Jace es ihr beigebracht hatte. Die Waffe flog durch die Luft und bohrte sich in die Flanke eines der beiden Elapid-Dämonen, der daraufhin aufkreischte und von Jace fortgeschleudert wurde. Jace drehte sich blitzschnell um, sah Clary und zwinkerte ihr kurz zu, ehe er dem verbliebenen Dämon den Kopf abtrennte. Der Körper des Elapid fiel in sich zusammen und verschwand dann, während Jace, über und über mit schwarzem Blut bespritzt, grinsend zuschaute.

Im nächsten Moment spürte Clary ein prickelndes, elektrisierendes Hochgefühl in sich aufwallen. Jace und auch Isabelle hatten ihr schon vom Kampfesrausch erzählt, aber bis jetzt hatte sie dieses Gefühl nie selbst erlebt. Doch nun wusste sie, wovon die beiden gesprochen hatten: Sie fühlte sich allmächtig, ihre Adern vibrierten und von ihrer Wirbelsäule breitete sich ein Gefühl der Kraft aus, das ihren ganzen Körper erfasste. Um sie herum schien sich alles nur noch in Zeitlupe abzuspielen. Clary sah, wie der verletzte Elapid-Dämon sich aufrappelte und dann auf seinen mehrgliedrigen Insektenbeinen mit gefletschten Fangzähnen auf sie zustürmte. Leichtfüßig trat Clary einen Schritt zurück, riss die antike Fahne aus der Wandhalterung und rammte dem Dämon das spitze Ende in den weit aufgesperrten Rachen. Die Stange bohrte sich von innen durch die Schädeldecke der Kreatur und einen Moment später verschwand der Dämon, zusammen mit der Flagge.

Clary lachte laut auf.

Sebastian, der gerade einen weiteren Dämon erledigt hatte, wirbelte bei ihrem Gelächter herum und starrte in Clarys Richtung. Doch dann weiteten sich seine Augen und er brüllte: »Clary! Halt ihn auf!«

Clary drehte sich pfeilschnell um und entdeckte Mirek, der am Schloss einer Tür im hinteren Bereich des Ladens herumfummelte. Clary stürmte los, zückte gleichzeitig die Seraphklinge aus ihrem Gürtel und rief: »Nakir!« Dann sprang sie mit einem Satz auf die Ladentheke und warf sich auf den Dämon, während ihre Waffe grell aufblitzte. Einen Sekundenbruchteil später landete sie auf dem Vetis-Dämon und riss ihn zu Boden. Einer seiner aalartigen Arme schnappte nach ihr, doch Clary trennte ihn mit einer raschen Bewegung vom Rest des Körpers ab. Schwarzes Blut spritzte in alle Richtungen.

Der Dämon sah sie aus roten, angsterfüllten Augen an. »Warte«, keuchte er pfeifend. »Ich kann dir alles geben, was du dir nur wünschst…«

»Ich habe alles, was ich mir wünsche«, wisperte Clary und stieß die Seraphklinge herab. Die Waffe bohrte sich in die Brust des Dämons und Mirek verschwand mit einem dumpfen Aufschrei, woraufhin Clary mit den Knien auf den Teppichboden aufschlug.

Im nächsten Moment tauchten zwei Köpfe über der Ladentheke auf und starrten auf sie hinab – ein goldblonder Schopf und ein silberblonder. Jace und Sebastian. Jace schaute sie mit großen Augen an, während Sebastian bleich geworden war. »Beim Erzengel, Clary«, keuchte er. »Der Adamant…«

»Oh, du meinst dieses Zeug, das du unbedingt haben wolltest? Hier ist es.« Der Adamant war ein Stück unter die Theke gerollt; Clary angelte ihn hervor und hielt ihn hoch – ein Brocken leuchtender, silberheller Materie, mit blutigen Fingerabdrücken von ihren Händen.

Sebastian stieß vor Erleichterung einen Fluch aus und schnappte sich den Adamant, während Jace in einer einzigen, fließenden Bewegung über die Theke sprang und direkt neben Clary landete. Er kniete sich auf den Boden, zog sie an sich und fuhr ihr mit den Händen über Arme und Schultern, während er sie besorgt anblickte.

Clary nahm seine Handgelenke und hielt sie fest. »Mir geht’s gut«, beruhigte sie ihn. Ihr Herz raste und ihr Blut pumpte noch immer unter Hochdruck durch ihre Adern. Jace öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Clary beugte sich vor und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen, sodass sich ihre Nägel leicht in seine Wangen gruben. »Ich fühl mich toll.« Aufmerksam betrachtete sie Jace, der vollkommen zerzaust und verschwitzt und blutüberströmt war, und verspürte den brennenden Wunsch, ihn zu küssen. Sie wollte…

»Das reicht, ihr beiden«, sagte Sebastian in dem Moment.

Clary löste sich von Jace und schaute zu ihrem Bruder.

Er blickte grinsend auf sie beide herab und ließ den Adamant träge in einer Hand hin und her rollen. »Morgen setzen wir ihn ein«, verkündete er und deutete mit dem Kopf auf den hellen Gesteinsbrocken. »Aber heute Abend… nachdem wir uns ein wenig frisch gemacht haben… heute Abend werden wir feiern.«

Simon tappte – dicht gefolgt von Isabelle – barfuß ins Wohnzimmer, wo die beiden ein überraschender Anblick erwartete: Der Kreis und das Pentagramm in der Raummitte leuchteten wie Quecksilber. Aus dem Zentrum stieg Rauch auf, eine hohe schwarzrote Säule mit einer weißen Spitze. Der ganze Raum roch verbrannt. Magnus und Alec standen außerhalb des Kreises, genau wie Jordan und Maia, die, den Jacken und Mützen nach zu urteilen, gerade erst angekommen waren.

»Was ist los?«, fragte Isabelle und reckte gähnend ihre langen Glieder. »Warum schaut ihr denn alle den Pentagramm-Sender?«

»Warte ’nen Moment, dann wirst du schon sehen«, verkündete Alec grimmig.

Isabelle zuckte die Achseln und stellte sich zu den anderen an den Rand des Kreises. Während sie alle auf den Rauch starrten, begann die Säule, um ihre eigene Achse zu rotieren, schneller und immer schneller. Sie wurde zu einem Mini-Tornado, der durch das Zentrum des Pentagramms wirbelte und dabei Brandflecken hinterließ, die sich zu Worten zusammenfügten:

HABT IHR EINE ENTSCHEIDUNG GETROFFEN?

»Wow«, meinte Simon. »Geht das schon den ganzen Vormittag so?«

Genervt hob Magnus die Hände. Er trug eine enge Lederhose und ein T-Shirt mit einem stilisierten, metallisch schillernden Blitz auf der Brust. »Und die ganze Nacht!«, antwortete er.

»Wird wieder und wieder dieselbe Frage gestellt?«

»Nein, ganz unterschiedliche Dinge. Manchmal auch Flüche. Azazel scheint sich prächtig zu amüsieren.«

»Kann er uns hören?«, fragte Jordan, neigte den Kopf leicht zur Seite und rief: »He, du da, Dämon!«

Die brennenden Buchstaben bildeten zwei neue Worte: HALLO, WERWOLF.

Jordan trat einen Schritt zurück und warf Magnus einen Blick zu. »Ist das… normal?«

Magnus wirkte sehr unglücklich. »Das ist definitiv nicht normal. Ich hab zwar noch nie einen so mächtigen Dämon wie Azazel heraufbeschworen, aber trotzdem… Inzwischen bin ich sämtliche einschlägigen Werke durchgegangen, habe aber nirgends auch nur einen Hinweis gefunden, dass so was schon mal passiert wäre. Das Ganze gerät außer Kontrolle.«

»Azazel muss zurückgeschickt werden«, sagte Alec. »Für immer.« Langsam schüttelte er den Kopf. »Vielleicht hatte Jocelyn ja doch recht. Das Heraufbeschwören von Dämonen hat noch nie etwas Positives bewirkt.«

»Entschuldige mal: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das Ergebnis einer Dämonenbeschwörung bin«, bemerkte Magnus spitz. »Alec, ich habe das schon Hunderte von Malen durchexerziert. Ich weiß nicht, warum es dieses Mal anders sein sollte.«

»Azazel kann doch nicht entkommen, oder?«, fragte Isabelle. »Aus dem Pentagramm, meine ich.«

»Nein«, sagte Magnus, »aber eigentlich sollte er auch nicht in der Lage sein, irgendetwas von den anderen Dingen zu tun, die er hier treibt.«

Neugierig beugte Jordan sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. »Und, wie ist es so in der Hölle, Alter?«, rief er. »Heiß oder kalt? Ich hab schon von beidem gehört.«

Es kam keine Antwort.

»Na klasse, Jordan«, schnaubte Maia. »Ich glaub, jetzt hast du ihn verärgert.«

Jordan stupste mit dem Finger gegen den Rand des Pentagramms. »Kann er in die Zukunft sehen? Also, Dämon, wird unsere Band ganz groß rauskommen?«

»Azazel ist ein Höllendämon, keine wahrsagende Billardkugel, Jordan«, entgegnete Magnus gereizt. »Komm dem Rand des Pentagramms nicht zu nah. Wenn man einen Dämon heraufbeschwört und in einem Pentagramm bindet, kann er sein Gefängnis nicht verlassen und keinen Schaden anrichten. Aber sobald man das Pentagramm betritt, begibt man sich in den Machtbereich des Dämons…«

In dem Augenblick begann die Rauchsäule, sich zu verdichten. Magnus schaute ruckartig hoch und Alec sprang zurück. Die wirbelnden Rauchschwaden bildeten Azazels Umrisse, zuerst seinen Anzug – ein eleganter Nadelstreifenanzug mit einem feinen grausilbernen Muster. Dann schien er die einzelnen Konturen der Reihe nach auszufüllen, bis ganz zuletzt seine flammenden Augen aufflackerten. Mit sichtlichem Vergnügen schaute er in die Runde. »Wie ich sehe, sind alle versammelt«, sagte er. »Und, habt ihr eine Entscheidung getroffen?«

»Ja, haben wir«, erklärte Magnus. »Ich denke nicht, dass wir deine Dienste noch länger benötigen. Trotzdem vielen Dank.«

Einen Moment lang herrschte Stille.

»Du kannst jetzt gehen.« Magnus hob die Hand und winkte zum Abschied mit den Fingern. »Danke und auf Wiedersehen.«

»Das denke ich nicht«, erwiderte Azazel freundlich, zückte ein Taschentuch und polierte seine Fingernägel. »Ich glaube, ich bleibe noch ein Weilchen. Mir gefällt es hier.«

Magnus seufzte und raunte Alec etwas zu, woraufhin der junge Schattenjäger zum Tisch ging und mit einem Buch zurückkehrte, das er dem Hexenmeister überreichte. Magnus schlug das Buch auf und begann zu psalmodieren: »Böser Geist, weiche hinfort! Kehre zurück in dein Reich aus Rauch und Feuer und Asche und«

»Das funktioniert bei mir nicht«, unterbrach ihn der Dämon gelangweilt. »Von mir aus kannst du es gern weiter versuchen. Aber ich werde danach immer noch hier sein.«

Magnus musterte ihn mit wütend funkelnden Augen. »Du kannst uns nicht zu einer Vereinbarung mit dir zwingen.«

»Aber ich kann es versuchen. Es ist ja nicht so, als ob ich irgendetwas Besseres zu tun hätte…«, entgegnete Azazel, verstummte aber plötzlich, als eine kleine, vertraute Gestalt durch den Raum flitzte: Miau Tse-tung, scheinbar einer Maus dicht auf den Fersen.

Während alle Anwesenden überrascht und entsetzt zusahen, zischte der kleine Kater über den Rand des Pentagramms – und Simon, der eher einem Instinkt als seinem Verstand folgte, sprang ihm hinterher und schnappte sich das Tier.

»Simon!«

Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der Aufschrei von Isabelle stammte, die reflexartig reagiert hatte. Langsam wandte er sich ihr zu. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen und schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Auch die anderen starrten ihn sprachlos an. Izzy war vor Entsetzen kreidebleich im Gesicht und selbst Magnus schien ein wenig beunruhigt.

Wenn man einen Dämon heraufbeschwört und in einem Pentagramm bindet, kann er sein Gefängnis nicht verlassen und keinen Schaden anrichten. Aber sobald man das Pentagramm betritt, begibt man sich in den Machtbereich des Dämons.

Simon spürte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte. Während er sich umdrehte, setzte er Miau Tse-tung ab, woraufhin der kleine Kater aus dem Pentagramm hinausschoss und quer durch den Raum flitzte, um sich unter einem Sofa zu verstecken. Langsam schaute Simon hoch. Azazels wuchtiges Gesicht ragte drohend über ihm auf. Aus dieser Nähe konnte Simon die Furchen in der Haut des Dämons erkennen, wie Risse in einem Marmorblock, und die Flammen in Azazels bodenlosen Augen. Als der Dämon zu grinsen begann, sah Simon, dass jeder seiner Zähne mit einer Nadelspitze aus Eisen bewehrt war.

Höhnisch atmete Azazel aus. Eine Wolke aus heißem Schwefel hüllte Simon vollständig ein und er hörte die anderen nur noch wie aus großer Ferne – Magnus, dessen Stimme sich psalmodierend hob und senkte, und Isabelle, die irgendetwas schrie, als sich die Hände des Dämons um seine Arme legten. Azazel hob Simon in die Höhe, bis seine Füße in der Luft baumelten – und schleuderte ihn dann von sich.

Zumindest versuchte er das. Aber seine Hände glitten von Simon ab, sodass dieser zu Boden fiel, während Azazel nach hinten stürzte und auf eine unsichtbare Wand zu treffen schien. Im nächsten Moment ertönte ein Dröhnen wie von berstendem Gestein und Azazel fiel auf die Knie. Eine Sekunde später rappelte er sich stöhnend wieder auf, stieß ein lautes Gebrüll aus und marschierte mit gefletschten Zähnen auf Simon zu – dem jetzt erst bewusst wurde, was da gerade geschehen war, und daraufhin mit zitternder Hand seine Haare aus der Stirn schob.

Abrupt hielt Azazel inne. Seine Hände mit den nagelspitzen Krallen krümmten sich nach innen. »Wanderer«, stieß er hervor, »bist du es wirklich?«

Wie erstarrt stand Simon da. Magnus psalmodierte noch immer leise im Hintergrund, doch alle anderen schwiegen fassungslos. Simon traute sich nicht, seinen Freunden ins Gesicht zu schauen. Clary und Jace hatten die Wirkung des Mals, seine vernichtende Kraft, bereits mit eigenen Augen gesehen, überlegte er. Aber von den anderen hatte es noch keiner miterlebt – kein Wunder, dass sie sprachlos waren.

»Nein«, knurrte Azazel und kniff die flammenden Augen zu Schlitzen. »Nein, du bist zu jung und die Welt zu alt. Aber wer würde es wagen, einen Vampir mit dem Zeichen des Himmels zu versehen? Und warum?«

Simon ließ seine Hand sinken. »Fass mich noch mal an, dann wirst du es herausfinden«, sagte er.

Der Dämon brachte ein grollendes Geräusch hervor – eine Mischung aus Gelächter und Abscheu. »Ich verzichte«, erklärte er. »Wenn du dich darin versucht hast, den Willen des Himmels zu beugen, dann ist mir nicht einmal meine eigene Freiheit es wert, mein Schicksal mit deinem zu verknüpfen.« Langsam schaute er sich im Raum um. »Ihr seid alle Narren. Viel Glück, ihr Menschenkinder – ihr werdet es dringend brauchen.« Und damit verschwand er in einer Stichflamme und ließ nur eine schwarze Rauchwolke und beißenden Schwefelgestank zurück.

»Halt still«, sagte Jace, zückte den Herondale-Dolch und schlitzte Clarys Bluse vorsichtig vom Kragen bis zum Saum auf. Dann nahm er die beiden Stoffhälften und schob sie behutsam von ihren Schultern, sodass sie nur mit Jeans und Trägertop auf dem Rand des Waschbeckens saß. Ihre Hose und ihre Jacke hatten den Großteil des Gifts und Dämonensekrets abbekommen, aber die empfindliche Seidenbluse war trotzdem ruiniert. Jace ließ die Stoffreste ins Waschbecken fallen, wo sie zischend im Wasser versanken. Dann nahm er seine Stele und trug die Umrisse einer Heilrune auf Clarys Schulter auf.

Clary schloss die Augen und spürte, wie die Iratze auf ihrer Haut brannte. Erleichtert bemerkte sie, wie der Schmerz nachließ und sich ein Gefühl der Entspannung über ihre Arme und ihren Rücken ausbreitete. Die Heilrune besaß eine ähnliche Wirkung wie Schmerzmittel – allerdings ohne die damit verbundene Benommenheit.

»Besser?«, fragte Jace.

Nickend öffnete Clary die Augen. »Viel besser.« Die Iratze konnte zwar gegen Verbrennungen durch Dämonengift nicht viel ausrichten, aber diese verheilten auf Schattenjägerhaut ohnehin recht schnell. Genau genommen schmerzten die verbrannten Stellen kaum, und Clary, durch deren Adern immer noch das Adrenalin des Kampfesrauschs jagte, nahm sie fast gar nicht wahr. »Jetzt du?«, fragte sie.

Jace grinste und hielt ihr die Stele entgegen. Sie befanden sich im Hinterzimmer des Trödelladens. Sebastian war nach vorne gegangen, um abzuschließen und die Lichter auszuschalten, damit sie keine unerwünschten irdischen Besucher anlockten. Er war ganz versessen darauf, endlich »zu feiern«, sich aber noch nicht schlüssig gewesen, ob sie zuerst zur Wohnung zurückkehren und sich umziehen oder direkt zum Nachtclub im Prager Stadtteil Malá Strana aufbrechen sollten.

Zwar verurteilte die leise Stimme in Clary allein die Vorstellung, in dieser Situation überhaupt etwas zu feiern, aber sie wurde vom lauten Rauschen ihres eigenen Blutes übertönt. Es war doch erstaunlich, dass ausgerechnet der Kampf an Sebastians Seite den Schalter tief in ihrem Inneren umgelegt hatte, der offenbar ihre Schattenjägerinstinkte aktivierte, überlegte Clary. Am liebsten wäre sie jetzt katzengleich auf hohe Gebäude gesprungen, hätte hundert Salti hintereinander vollführt und sich von Jace beibringen lassen, wie man Seraphklingen scherenartig durch die Luft sausen ließ. Stattdessen nahm sie die Stele entgegen und forderte ihn auf: »Dann zieh mal dein Hemd aus.«

Rasch zog er es über den Kopf und warf es beiseite – und Clary versuchte, nicht darauf zu reagieren. Jace hatte zwar eine lange feuerrote Schnittwunde an der Seite und Brandblasen vom Dämonenblut auf dem Schlüsselbein und der rechten Schulter, aber er war trotzdem der schönste Mann, den Clary je gesehen hatte: blassgoldene Haut, breite Schultern, eine schmale Taille und Hüften und jene feine Linie goldener Härchen, die von seinem Nabel bis zum Bund seiner Jeans verlief. Mühsam wandte sie den Blick ab, platzierte die Stele auf seiner Schulter und trug ihm seine wahrscheinlich millionste Heilrune auf.

»Okay?«, fragte sie, als sie ihre Aufgabe beendet hatte.

»Mmm-hmm.« Jace beugte sich vor und Clary konnte seinen Geruch wahrnehmen – Blut und Holzkohle, Schweiß und der Duft der billigen Seife, die sie am Rand des Waschbeckens gefunden hatten. »Das hat mir gefallen«, sagte Jace. »Dir nicht auch? Gemeinsam Seite an Seite zu kämpfen?«

»Es war… ziemlich aufregend.«

Jace stand bereits zwischen ihren Beinen; er rückte nun noch näher und hakte seine Finger in den Bund von Clarys Jeans.

Zitternd griffen ihre Hände nach seinen Schultern und dabei sah sie den goldenen Ring an ihrem Finger aufblitzen. Der Anblick ernüchterte Clary ein wenig. Lass dich nicht ablenken, ermahnte sie sich. Verlier dich nicht in diesen Gefühlen. Das hier ist nicht Jace ist nicht Jace ist nicht Jace

Seine Lippen streiften über ihren Mund. »Ich finde, das war unglaublich. Du warst unglaublich.«

»Jace«, wisperte Clary… und dann hämmerte jemand gegen die Tür. Überrascht ließ Jace von Clary ab, wodurch sie nach hinten rutschte und dabei gegen den Hebel des Wasserhahns stieß. Der öffnete sich sofort und bespritzte sie beide mit kaltem Wasser. Überrascht quietschte Clary auf und versuchte verzweifelt, das Wasser abzustellen; Jace dagegen lachte nur schallend, drehte sich auf dem Absatz um und riss die Tür auf.

Natürlich stand Sebastian davor. Er sah erstaunlich sauber aus, für das, was sie gerade durchgemacht hatten. Die blutverschmierte Lederjacke hatte er gegen einen alten Armeemantel getauscht, der ihm zusammen mit seinem T-Shirt einen gewissen Secondhand-Schick verlieh. Er hielt etwas Schwarzes, Schimmerndes in den Händen. Verwundert hob er eine Augenbraue. »Gibt es einen Grund, warum du meine Schwester gerade ins Waschbecken geworfen hast?«, fragte er.

»Meine Ausstrahlung hat sie förmlich umgehauen«, erwiderte Jace, bückte sich nach seinem Hemd und streifte es wieder über. Genau wie bei Sebastian hatte seine Jacke den größten Schaden verhindert, allerdings hatte eine Dämonenklaue einen langen Riss in das Hemd gerissen.

»Ich hab dir was zum Anziehen besorgt«, sagte Sebastian und reichte Clary das schwarze, schimmernde Teil, das er in der Hand hielt.

Clary hatte sich inzwischen aus dem Waschbecken gehievt und stand nun wieder mit beiden Füßen auf dem Boden, wobei das Wasser von ihr herab auf die Fliesen tropfte.

»Ist ein Original. Und müsste ungefähr deine Größe haben«, ergänzte Sebastian.

Verblüfft gab Clary Jace die Stele zurück und nahm das Kleidungsstück entgegen. Es handelte sich um ein Kleid – ein Unterkleid, genau genommen – aus glänzend schwarzem Stoff und mit Spitze besetztem Saum. Die perlenbestickten Träger ließen sich verstellen und das Gewebe war so elastisch, dass Sebastian vermutlich recht hatte – sehr wahrscheinlich würde es ihr passen. Die Vorstellung, ein Kleid zu tragen, das Sebastian ausgesucht hatte, gefiel Clary zwar nicht, aber andererseits konnte sie wohl kaum in triefnasser Jeans und einem zerrissenen Trägertop in einen Club gehen. »Danke«, sagte sie schließlich und fügte hinzu: »Okay, aber jetzt raus mit euch beiden, während ich mich umziehe.«

Sebastian und Jace verließen den Raum und zogen die Tür hinter sich zu. Clary konnte ihre Stimmen hören, und obwohl sie keine einzelnen Worte verstand, erkannte sie an ihrem Klang, dass die beiden miteinander scherzten. Auf eine freundliche, vertraute Weise. Irgendwie war das seltsam, dachte sie, während sie aus der Jeans und dem Trägertop schlüpfte und das Kleid überzog: Jace, der sich sonst kaum jemandem gegenüber öffnete, lachte und alberte mit Sebastian herum.

Clary drehte sich zum Spiegel und betrachtete sich. Das Schwarz nahm ihrer Haut jegliche Farbe, wodurch ihre Augen größer und dunkler, ihre Haare noch röter und ihre Gliedmaßen länger, schlanker und heller wirkten. Die Stiefel, die sie unter der Jeans getragen hatte, verliehen ihrem Outfit eine taffe Note. Sie war sich nicht sicher, ob man sie wirklich als hübsch bezeichnen würde, aber sie sah definitiv wie jemand aus, mit dem man keine Spielchen treiben sollte. Einen Moment fragte sie sich, ob Isabelle ihr Outfit gefallen würde.

Schließlich öffnete sie die Tür und trat hinaus in den spärlich beleuchteten, hinteren Bereich des Ladens, wo sich der Trödel stapelte, der vorne nicht mehr in die Regale passte. Ein Samtvorhang trennte diesen Abschnitt vom eigentlichen Verkaufsbereich. Jace und Sebastian unterhielten sich auf der anderen Seite des Vorhangs, allerdings konnte Clary sie noch immer nicht richtig verstehen. Langsam zog sie den Vorhang zur Seite und trat einen Schritt vor.

Die Lichter waren ausgeschaltet, obwohl Sebastian offenbar die Metallrollläden vor dem Schaufenster heruntergelassen hatte und das Ladeninnere auf diese Weise vor den Blicken zufälliger Passanten geschützt war. Ihr Bruder inspizierte gerade den Krimskrams in den Regalen, nahm einen Gegenstand nach dem anderen heraus, unterzog ihn einer eingehenden Prüfung und stellte ihn wieder zurück.

Jace bemerkte Clary als Erster. Sie sah, wie seine Augen aufleuchteten, und erinnerte sich wieder an jenen Abend im Institut, wo er sie zum ersten Mal zurechtgemacht gesehen hatte. Damals trug sie etwas von Isabelles Sachen, weil sie zu Magnus’ Party wollten. Und genau wie damals wanderte sein Blick auch jetzt von ihren Stiefeln langsam über ihre Beine, dann über ihre Hüften, Taille und Brust bis hinauf zu ihrem Gesicht. Ein träges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

»Ich könnte ja darauf hinweisen, dass das kein Kleid, sondern eher Unterwäsche ist«, meinte er, »aber das wäre wohl kaum in meinem Interesse.«

»Muss ich dich daran erinnern, dass du von meiner Schwester redest?«, fragte Sebastian.

»Die meisten Brüder wären höchst erfreut, wenn ein vollendeter Gentleman wie meine Wenigkeit ihre Schwester durch die Stadt eskortieren würde«, erklärte Jace, nahm sich eine Armeejacke aus einem der Regale und streifte sie über.

»Eskortieren?«, wiederholte Clary. »Als Nächstes erzählst du mir wohl, du wärst ein Schurke und Lebemann.«

»Und dann heißt es: ein Duell im Morgengrauen«, meinte Sebastian und marschierte in Richtung des Samtvorhangs. »Bin gleich wieder zurück. Ich muss mir mal das Blut aus den Haaren waschen.«

»Ganz schön pingelig«, rief Jace ihm grinsend nach, schnappte sich dann Clary und zog sie an sich. »Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem wir zu Magnus’ Party gegangen sind?«, raunte er mit gesenkter Stimme. »Du bist damals mit Isabelle in die Eingangshalle gekommen und Simon hat fast der Schlag getroffen.«

»Seltsam – ich habe gerade an genau dasselbe gedacht.« Clary legte den Kopf in den Nacken und schaute ihn an. »Allerdings kann ich mich nicht erinnern, dass du irgendetwas über mein Outfit gesagt hättest.«

Jace’ Finger schoben sich unter die Träger ihres Kleides und seine Fingerkuppen berührten ihre Haut. »Ich dachte, du würdest mich nicht besonders mögen. Eine detaillierte Beschreibung der Dinge, die ich in dem Moment gern mit dir angestellt hätte – noch dazu vor Publikum –, wäre bestimmt nicht dazu geeignet gewesen, deine Meinung über mich zu ändern.«

»Du hast gedacht, ich würde dich nicht mögen?«, fragte Clary ungläubig. »Jace, wann hat dich ein Mädchen jemals nicht gemocht?«

Jace zuckte die Achseln. »Zweifellos wimmelt es in den Irrenanstalten der Welt nur so von unglückseligen Frauen, denen es verwehrt blieb, meinem Charme zu erliegen.«

Clary lag eine Frage auf der Zunge – eine Frage, die sie Jace schon immer hatte stellen wollen, sich aber nie getraut hatte. Denn welche Rolle spielte es schon, was er vor ihr so alles getrieben hatte?

Es schien, als würde Jace in ihrem Gesicht lesen können, denn seine goldenen Augen nahmen einen weichen Ausdruck an. »Es hat mich nie interessiert, was irgendwelche Mädchen von mir hielten«, erklärte er. »Jedenfalls nicht, bevor ich dich kennengelernt habe.«

Bevor ich dich kennengelernt habe. Clary musste sich räuspern und ihre Stimme zitterte leicht, als sie ansetzte: »Jace, ich hab mich gefragt…«

»Euer verbales Vorspiel ist langweilig und nervig«, sagte Sebastian und tauchte mit feuchten, zerzausten Haaren wieder hinter dem Vorhang auf. »Okay, können wir endlich los?«

Errötend trat Clary einen Schritt von Jace zurück, wohingegen dieser vollkommen ungerührt wirkte. »Wir haben doch auf dich gewartet.«

»Sieht so aus, als hättet ihr einen Weg gefunden, euch die schrecklich lange Wartezeit auf angenehme Weise zu vertreiben. So, jetzt kommt endlich. Ich verspreche euch, ihr werdet diesen Club lieben.«

»Meine Kaution werd ich im Leben nicht wiedersehen«, murmelte Magnus missgelaunt. Er hockte auf dem Tisch, umgeben von Pizzaschachteln und Kaffeebechern, und sah zu, wie der Rest des Teams »Die Guten« sich nach Kräften bemühte, die Spuren der Verwüstung zu beseitigen, die Azazels Anwesenheit hinterlassen hatte: die Brandlöcher in den Wänden, das schwarze Schwefelzeug, das von den Leitungen an der Decke tropfte, die Asche und andere, grobkörnige Partikel, die sich in den Boden gefressen hatten. Auf dem Schoß des Hexenmeisters lag Miau Tse-tung und schnurrte zufrieden. Magnus war von den Reinigungsarbeiten befreit, weil er seine Wohnung zur Verfügung gestellt hatte und diese nun ziemlich ruiniert war. Auch Simon brauchte sich nicht an der Putzaktion zu beteiligen, weil nach dem Vorfall mit dem Pentagramm niemand so recht etwas mit ihm anzufangen wusste. Er hatte versucht, mit Isabelle zu reden, doch sie hatte ihm nur stumm mit dem Wischmopp gedroht.

»Ich hab eine Idee«, sagte Simon nun. Er saß neben Magnus, die Ellbogen auf die Knie gestützt. »Allerdings wird sie dir nicht gefallen.«

»Irgendwas sagt mir, dass du damit recht haben könntest, Sherwin.«

»Simon. Ich heiße Simon.«

»Wenn du meinst.« Magnus winkte abschätzig mit der Hand. »Was für eine Idee?«

»Ich trag doch das Kainsmal«, erklärte Simon. »Und das bedeutet, dass mich nichts töten kann, richtig?«

»Du könntest dich selbst umbringen«, warf Magnus wenig hilfreich ein. »Soweit ich weiß, können unbelebte Dinge dich versehentlich töten. Ich würde dir also davon abraten, auf einem glitschigen Steg über einer Grube mit scharfen Messern Lambada zu lernen.«

»Mist, das ruiniert meinen Plan für nächsten Samstag.«

»Aber ansonsten kann dich nichts töten«, fuhr Magnus fort. Er wandte den Blick ab, um Alec zu beobachten, der mit einem Staubwedel zu kämpfen schien. »Warum fragst du?«

»Dieser Vorfall in dem Pentagramm, mit Azazel, hat mich ins Grübeln gebracht«, erläuterte Simon. »Du hast gesagt, das Beschwören von Engeln sei gefährlicher als das von Dämonen, weil die Engel denjenigen, der sie herbeigerufen hat, möglicherweise zerschmettern oder mit Himmlischem Feuer verbrennen. Aber wenn ich das versuchen würde…« Er verstummte einen Moment und fuhr dann fort: »Na ja, mir würde doch nichts passieren, oder?«

Diese Worte lenkten Magnus’ Aufmerksamkeit sofort zu Simon zurück. »Du? Du willst einen Engel herbeirufen?«

»Du könntest mir doch zeigen, wie das geht«, meinte Simon. »Ich weiß, ich bin kein Hexenmeister, aber Valentin hat es auch hinbekommen. Und wenn er das geschafft hat, warum sollte ich es dann nicht schaffen? Ich meine, es gibt sogar Menschen, die Magie betreiben.«

»Ich kann dir nicht versprechen, dass du dabei mit heiler Haut davonkommen würdest«, erwiderte Magnus; allerdings ließ der interessierte Unterton in seiner Stimme seine Warnung weniger glaubhaft wirken. »Das Kainsmal bietet den Himmlischen Schutz, aber schützt es dich auch vor den Mächten des Himmels? Ich weiß es nicht.«

»Das hab ich auch nicht erwartet. Aber du stimmst mir doch zu, dass ich derjenige von uns bin, der wahrscheinlich die besten Überlebenschancen hätte, oder?«

Magnus schaute hinüber zu Maia, die Jordan gerade mit schmutzigem Putzwasser bespritzte und fröhlich lachte, als dieser aufquietschte und sich wegdrehte. Prustend schob sie sich die lockigen Haare nach hinten und hinterließ dabei einen dunklen Schmutzfleck auf ihrer Stirn. Sie sah so jung aus. »Ja«, räumte Magnus widerstrebend ein. »Das trifft wahrscheinlich zu.«

»Wer ist dein Vater?«, fragte Simon unvermittelt.

Magnus’ Blick wanderte wieder zu Alec. Seine goldgrünen Augen waren so unergründlich wie die des Katers auf seinem Schoß. »Das gehört nicht unbedingt zu meinen liebsten Gesprächsthemen, Smedley.«

»Simon«, korrigierte Simon ihn. »Wenn ich schon für euch alle mein Leben riskiere, dann könntest du dir wenigstens meinen Namen merken.«

»Für mich setzt du dein Leben nicht aufs Spiel«, entgegnete Magnus. »Wenn Alec nicht wäre, dann wäre ich längst…«

»Dann wärst du längst was?«

»Ich hatte einen Traum«, setzte Magnus mit gedankenverlorenem Blick an. »Ich sah eine Stadt voller Blut, mit Türmen aus Gebeinen und Blutströmen, die wie Wasser durch die Straßen flossen. Vielleicht gelingt es dir ja, Jace zu retten, Tageslichtler, aber du kannst nicht die ganze Welt retten. Die Finsternis kommt immer näher. ›Das Land, das schwarz ist wie die Finsternis, das Land des Todesschattens, wo keine Ordnung herrscht, wo das Licht wie tiefe Finsternis ist!‹ Wenn Alec nicht wäre, wäre ich schon längst weg.«

»Wohin würdest du gehen?«

»Ich würde mich irgendwo verstecken und warten, bis der ganze Spuk vorüber ist. Ich bin kein Held.« Magnus nahm Miau Tse-tung von seinem Schoß und ließ ihn auf den Boden fallen.

»Du liebst Alec so sehr, dass du hierbleibst«, bemerkte Simon. »Das ist irgendwie heldenhaft, finde ich.«

»Und du hast Clary so sehr geliebt, um dein ganzes Leben für sie zu ruinieren«, entgegnete Magnus mit einer Bitterkeit, die untypisch für ihn war. »Sieh dir nur an, was dir das gebracht hat.« Dann hob er die Stimme und rief: »Okay, alle mal herhören: Kommt mal her. Sheldon hat eine Idee.«

»Wer ist Sheldon?«, fragte Isabelle.

Die Straßen von Prag lagen kalt und dunkel vor ihnen. Obwohl Clary ihre von Dämonengift durchlöcherte Jacke fest um die Schultern wickelte, ging ihr die eisige Kälte durch Mark und Bein. Und dämpfte den letzten Rest des Adrenalinschubs in ihren Adern. Um sich weiterhin bei Laune zu halten, kaufte Clary einen Glühwein und schlang die Finger um den heißen Becher, während sie zu dritt durch ein verwirrendes Labyrinth aus schmalen, düsteren Gassen liefen. Diese wurden immer enger und dunkler, trugen längst keine Straßenschilder oder Namen mehr und waren menschenleer. Der einzige Orientierungspunkt war der Mond, der gelegentlich durch die dichte Wolkendecke schimmerte. Endlich erreichten sie eine flache Steintreppe, die sie zu einem winzigen Platz führte. Eine Seite wurde von einem flackernden Neonlicht erhellt, auf dem LUSTR Z KOSTÍ stand. Unter der Leuchtreklame befand sich eine Tür – ein Loch in der Wand, das an eine Zahnlücke erinnerte.

»Was heißt ›Lustr z kostí‹?«, fragte Clary.

»Es bedeutet ›Der Knochenkronleuchter‹. Das ist der Name des Nachtclubs«, erläuterte Sebastian und schlenderte zur Tür. Seine hellen Haare reflektierten die wechselnden Neonfarben der Leuchtreklame: Feuerrot, Eisblau, Metallicgold. »Was ist? Kommt ihr endlich?«

Als Clary den Club betrat, schlug ihr eine Wand aus Lärm und Lichtern entgegen. Der Raum war riesig und sah aus, als hätte er früher einmal als Kirche gedient; in den Mauern konnte Clary sogar noch die hohen Buntglasfenster erkennen. Zuckende, farbige Spotlights huschten über die dicht gedrängte Menge und beleuchteten immer wieder einzelne Gesichter der Tanzenden in Knallrosa, Neongrün und Leuchtendviolett. An einer Wand befand sich eine DJ-Kabine und aus den Lautsprecherboxen dröhnte Trance. Die Musik wummerte durch Clarys Körper, drang in ihr Blut, vibrierte in ihren Knochen. Die Luft war erfüllt von der Hitze der wogenden Körper und dem Geruch von Schweiß, Zigarettenqualm und Bier.

Clary wollte sich gerade umdrehen und Jace fragen, ob er tanzen wolle, als sie eine Hand in ihrem Rücken spürte – Sebastian. Sofort verspannte sich ihr gesamter Körper, doch sie zwang sich, nicht wegzuzucken.

»Geh weiter«, raunte er ihr ins Ohr. »Ich hab nicht vor, hier oben beim gemeinen Volk zu bleiben.«

Seine Hand drückte wie eine Eisenfaust gegen Clarys Wirbelsäule. Zähneknirschend ließ sie sich von Sebastian durch die dicht gedrängten Tanzenden dirigieren. Die Menge schien sich zu teilen, um sie durchzulassen. Der ein oder andere Clubbesucher schaute erst genervt auf, warf dann einen Blick auf Sebastian und zog sich hastig zurück. Die Hitze wurde immer unerträglicher und Clary schnappte fast nach Luft, als sie schließlich die andere Seite des Raums erreichten. Dort erwartete sie ein Durchgang, den Clary zuvor nicht bemerkt hatte. Abgewetzte Steinstufen führten spindelförmig nach unten und verschwanden in der Dunkelheit.

Fragend schaute Clary sich zu Sebastian um, der in diesem Moment die Hand von ihrem Rücken nahm. Um ihn herum blitzte ein helles Licht auf.

Jace hatte seinen Elbenstein hervorgeholt und grinste Clary an, sein Gesicht war eine Mischung aus kantigen Flächen und Schatten. »›Der Abstieg ist leicht‹«, bemerkte er.

Clary schauderte. Sie kannte das vollständige Zitat: Der Abstieg zur Hölle ist leicht. »Kommt schon«, drängte Sebastian, zeigte mit dem Kopf auf den Durchgang und sprang die Treppe hinunter, leichtfüßig und mit sicherem Schritt; die abgetretenen, rutschigen Stufen schienen ihn nicht zu beunruhigen.

Dagegen folgte Clary ihm deutlich langsamer. Mit jedem Meter wurde es kühler und das Dröhnen der wummernden Musik ließ allmählich nach. Sie konnte ihren Atem hören und sah ihren Schatten, der verzerrt und dürr gegen die Wand geworfen wurde.

Noch bevor sie die letzten Stufen erreichten, hörte Clary neue Musik – mit einem noch härteren Rhythmus als im Club über ihnen: Sie schoss ihr in die Ohren und ins Blut und bereitete ihr Schwindelgefühle. Clary war beinahe schlecht, als sie endlich unten ankamen und ein gewaltiges Gewölbe betraten, das ihr den Atem verschlug.

Der gesamte Raum war in Stein gehauen: die Mauern uneben und höckrig, der Boden unter Clarys Füßen glatt und abgenutzt. Am anderen Ende des Gewölbekellers erhob sich eine riesige Engelsstatue, deren Haupt in den Schatten der hohen Decke verschwand; von ihren Schwingen hingen Ketten mit schweren Granat-Schmucksteinen herab, die wie Blutstropfen aussahen. Der Raum wurde von kleinen knallbunten Lichtexplosionen erhellt, wie rote Kugelblitze, die nicht mit den künstlichen Spotlights im Erdgeschoss zu vergleichen waren – diese hier sprühten wie Feuerwerk. Und jedes Mal, wenn eine der runden Kugeln platzte, rieselten flirrende Glitterteilchen auf die tanzende Menge herab. Gewaltige Springbrunnen spuckten schäumende Wasserfontänen in runde Marmorbecken, auf deren Wasseroberfläche schwarze Rosenblätter trieben. Und von der Decke hing an einer langen goldenen Kette ein gewaltiger Kronleuchter, der direkt über den Köpfen der tanzenden Menge baumelte – ein Kronleuchter, der vollständig aus Knochen gefertigt war.

Der Lüster wirkte kunstvoll und schaurig zugleich: Sein Korpus bestand aus miteinander verbundenen Wirbelsäulen; Oberschenkelknochen und Schienbeine hingen als Dekorationen von den Armen des Leuchters, an deren Ende jeweils ein menschlicher Schädel mit einer dicken Stumpenkerze saß. Schwarzes Wachs tropfte wie Dämonenblut auf die Menge herab, doch niemand schien das zu kümmern. Selbstvergessen drehten und wirbelten die Tanzenden um sich selbst – und keiner von ihnen war menschlich.

»Werwölfe und Vampire«, beantwortete Sebastian Clarys unausgesprochene Frage. »In Prag sind sie Verbündete. Dies ist der Ort, an dem sie… sich entspannen.« Eine heiße Brise fegte wie ein Wüstenwind durch den Raum, hob Sebastians silberblonde Haare an und wehte sie ihm übers Gesicht, sodass der Ausdruck in seinen Augen nicht zu erkennen war.

Clary schälte sich aus ihrer Jacke und drückte sie gegen ihre Brust, fast wie einen Schild. Mit großen Augen schaute sie sich um. Sie konnte die Un-Menschlichkeit der anderen Besucher spüren – die Vampire mit ihrer Blässe, ihrer Geschmeidigkeit und gelangweilten Eleganz und die Werwölfe, die animalische Kraft und Schnelligkeit ausstrahlten. Die meisten waren ziemlich jung, tanzten eng und schlängelten sich umeinander. »Aber… macht es ihnen denn nichts aus, dass wir hier sind? Nephilim?«

»Sie kennen mich«, erklärte Sebastian. »Und sie wissen auch, dass ihr zu mir gehört«, fügte er hinzu und nahm Clary die Jacke aus der Hand. »Ich werd die mal für dich aufhängen.«

»Sebastian…«, setzte Clary an, doch er war bereits in der Menge untergetaucht. Rasch schaute Clary zu Jace, der neben ihr stand. Er hatte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans gehakt und sah sich mit beiläufigem Interesse um. »Vampirgarderobe?«, fragte sie.

»Warum nicht?«, erwiderte Jace lächelnd. »Dir ist sicher aufgefallen, dass er mir nicht angeboten hat, auch meine Jacke an der Garderobe abzugeben. Es gibt keine Kavaliere mehr auf dieser Welt, ich sag’s dir…« Als er Clarys verwirrten Ausdruck sah, legte er den Kopf leicht zur Seite. »Ach, vergiss es einfach. Wahrscheinlich wartet hier ohnehin jemand auf ihn, mit dem er sich unterhalten will.«

»Dann sind wir also nicht nur zum Vergnügen hier?«

»Sebastian macht nichts nur zum Vergnügen.« Jace nahm Clarys Hände und zog sie an sich. »Aber ich schon.«

Simons Plan stieß nicht gerade auf Begeisterung, was ihn aber nicht besonders überraschte. Die anderen protestierten vehement, versuchten, ihm die Idee auszureden, und wandten sich skeptisch an Magnus, ob das Ganze überhaupt sicher sei. Ruhig stützte Simon die Ellbogen auf die Knie und wartete ab.

Schließlich spürte er, wie ihn jemand vorsichtig am Arm berührte. Er drehte sich um und entdeckte zu seiner Verwunderung Isabelle, die ihm bedeutete, ihr zu folgen.

Während die Diskussion am Tisch heftig weiterging, verzogen sie sich in den Schatten eines der Deckenpfeiler. Da Isabelle ursprünglich am lautesten widersprochen hatte, rechnete Simon damit, dass sie ihn nun anschreien würde. Doch stattdessen musterte sie ihn lediglich mit verkniffenem Mund.

»Okay«, sagte er schließlich, weil er ihr Schweigen hasste, »ich schätze, im Moment bist du etwas sauer auf mich.«

»Ach wirklich? Am liebsten würde ich dir in den Hintern treten, Vampir, aber ich will mir meine teuren neuen Stiefel nicht ruinieren.«

»Isabelle…«

»Ich bin nicht deine feste Freundin.«

»Richtig«, bestätigte Simon, spürte dabei aber einen Hauch von Enttäuschung. »Das weiß ich.«

»Und die viele Zeit, die du mit Clary verbracht hast, hab ich dir nie übel genommen. Im Gegenteil: Ich hab dir das sogar vorgeschlagen, weil ich weiß, wie viel sie dir bedeutet. Und umgekehrt. Aber das hier… das ist ein unkalkulierbares, irrsinniges Risiko, das du da eingehen willst. Bist du dir wirklich ganz sicher?«

Simon schaute sich um – er warf einen Blick auf Magnus’ chaotische Wohnung und die kleine Gruppe am Tisch, die über sein Schicksal diskutierte. »Hier geht’s nicht nur um Clary«, sagte er.

»Na, hoffentlich doch nicht um deine Mutter, oder?«, hakte Isabelle nach. »Weil sie dich als Monster bezeichnet hat. Du musst niemandem etwas beweisen, Simon. Das ist ihr Problem, nicht deines.«

»Darum geht es nicht. Jace hat mir das Leben gerettet. Ich bin ihm was schuldig.«

Überrascht starrte Isabelle ihn an. »Du tust das doch nicht nur, um deine Schuld bei Jace zu begleichen, oder? Denn ich denke, dass wir alle inzwischen ziemlich quitt sein dürften.«

»Nein… jedenfalls nicht nur«, räumte Simon ein. »Hör zu: Wir alle wissen, worum es geht. Sebastian darf da draußen nicht frei rumlaufen. Das ist viel zu gefährlich. Insofern hat der Rat recht. Aber wenn er stirbt, stirbt auch Jace. Und wenn Jace stirbt, dann wird Clary…«

»… es überleben«, erwiderte Isabelle in hartem Ton. »Sie ist stark und wird es überleben.«

»Aber sie wird leiden. Möglicherweise für den Rest ihres Lebens. Ich will nicht, dass sie so leiden muss. Und ich will auch nicht, dass du derartig leiden musst.«

Genervt verschränkte Isabelle die Arme. »Natürlich nicht. Aber meinst du nicht, dass es sie genauso treffen würde, wenn dir was passiert, Simon?«

Simon biss sich auf die Lippe. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Jedenfalls nicht auf diese Weise. »Was ist mit dir?«

»Was soll mit mir sein?«

»Würde es dich treffen, wenn mir was zustieße?«

Isabelle schaute ihn unverwandt an, mit kerzengeradem Rücken und erhobenem Kinn. Doch ihre Augen glitzerten. »Ja.«

»Aber du möchtest auch, dass ich Jace helfe.«

»Ja. Das möchte ich auch.«

»Dann musst du mich das durchziehen lassen«, erklärte Simon. »Dabei geht es mir nicht nur um Jace oder dich oder Clary – obwohl ihr alle eine wichtige Rolle spielt. Ich tue das, weil ich davon überzeugt bin, dass finstere Zeiten kommen. Ich glaube Magnus, wenn er das sagt. Ich denke, Raphael fürchtet sich wirklich vor einem Krieg. Und ich glaube, dass wir nur einen Bruchteil von Sebastians Plan sehen. Ich halte es für keinen Zufall, dass er Jace mitgenommen hat und dass die beiden jetzt miteinander verbunden sind. Sebastian weiß, dass wir Jace brauchen, um einen Krieg zu gewinnen. Er weiß, welche Bedeutung Jace hat.«

Isabelle konnte ihm nicht widersprechen, sagte aber: »Du bist genauso mutig wie Jace.«

»Vielleicht«, räumte Simon ein. »Aber ich bin kein Nephilim. Vieles von dem, was Jace kann, kriege ich nicht hin. Außerdem bedeute ich nicht annähernd so vielen Leuten etwas.«

»Besondere Schicksale und besondere Qualen«, wisperte Isabelle. »Simon – mir bedeutest du sehr viel.«

Simon streckte die Hand aus und legte sie sanft auf ihre Wange. »Du bist eine Kriegerin, Izzy. Das ist deine Aufgabe. Das ist deine Berufung. Aber wenn du gegen Sebastian nicht kämpfen kannst, weil du auch Jace verletzen würdest, dann kannst du diesen Krieg nicht gewinnen. Und wenn du Jace töten müsstest, um diesen Krieg zu gewinnen, würde das auch einen Teil deiner Seele töten. Ich will nicht, dass das passiert – nicht, solange ich noch etwas daran ändern kann.«

Isabelle musste schlucken. »Das ist einfach nicht fair«, murmelte sie. »Es ist nicht fair, dass du das tun musst…«

»Es ist meine Entscheidung… eine Entscheidung, die ich selbst treffen kann. Jace hat diese Wahl nicht. Wenn er stirbt, dann stirbt er für eine Sache, mit der er eigentlich überhaupt nichts zu tun hat.«

Langsam ließ Isabelle die Luft aus ihren Lungen entweichen. Sie löste die verschränkten Arme und nahm Simon am Ellbogen. »Also gut. Dann mal los«, sagte sie und führte ihn zurück zu den anderen. Als Isabelle sich räusperte, hielten Magnus, Maia und Jordan abrupt in ihrem Streit inne und starrten die beiden an, als hätten sie ihre Abwesenheit erst jetzt bemerkt.

»Das reicht«, sagte Isabelle. »Simon hat seine Entscheidung getroffen und er ist auch der Einzige, der darüber zu bestimmen hat. Er wird Raziel herbeirufen. Und wir werden ihm dabei auf jede erdenkliche Art und Weise helfen.«

Sie tanzten. Clary versuchte, sich ganz dem Rhythmus der Musik hinzugeben, dem Rauschen des Bluts in ihren Adern… so wie sie es früher mit Simon im Pandemonium immer getan hatte. Natürlich war Simon ein grauenhafter Tänzer gewesen – ganz im Gegensatz zu Jace. Was eigentlich nur logisch war: Bei all dem Training und der perfekten Körperbeherrschung im Kampf gab es vermutlich nicht viele Dinge, die Jace nicht mit seinem Körper anstellen konnte. Als er den Kopf in den Nacken warf, sah sie, dass seine Haare schweißfeucht an den Schläfen klebten und die Wölbung seines Halses im Schein des Knochenkronleuchters schimmerte.

Außerdem sah Clary, welche Blicke die anderen Tänzer Jace zuwarfen – eine Mischung aus Anerkennung, Wunschdenken und Jagdlust. Im nächsten Moment erwachte in ihr eine ungekannte und unkontrollierbare Besitzgier. Sie drängte sich näher an Jace heran und schlängelte ihren Körper an seinem hinauf, wie sie es bei anderen Mädchen auf der Tanzfläche gesehen, sich selbst aber nie getraut hatte. Sie fürchtete nämlich immer, sich dabei mit den Haaren in der Gürtelschnalle des Jungen zu verfangen. Doch jetzt sah die Situation völlig anders aus: Ihr intensives Training zahlte sich nicht nur im Kampf aus, sondern auch in jeder anderen Alltagssituation. Sie fühlte sich auf eine ungeahnte Weise so geschmeidig und gelenkig wie nie zuvor und presste ihren Körper gegen Jace.

Er hatte die Augen geschlossen und öffnete sie genau in dem Moment, als eine farbige Lichtexplosion die Dunkelheit über ihren Köpfen erhellte. Metallisch glänzende Tropfen rieselten auf sie herab, verfingen sich in seinen Haaren und schimmerten wie Quecksilber auf seiner Haut. Vorsichtig nahm er einen Tropfen von seinem Schlüsselbein und zeigte Clary die silbern schillernde Flüssigkeit, während ein Lächeln seine Lippen umspielte. »Erinnerst du dich noch an unseren ersten gemeinsamen Besuch bei Taki’s? Und an das, was ich dir über Elbengerichte erzählt habe?«

»Ich weiß noch, dass du gesagt hast: ›Du isst eine Elbenpflaume und im nächsten Moment rennst du nackt und mit einem Geweih auf dem Kopf die Madison Avenue entlang‹«, erwiderte Clary und blinzelte gegen die silbernen Tröpfchen auf ihren Wimpern an.

»Bis heute ist nicht zweifelsfrei bewiesen, dass wirklich ich derjenige war, dem das passiert ist.« Nur Jace konnte sich beim Tanzen unterhalten, ohne dabei merkwürdig zu wirken. »Na ja, und dieses Zeug hier…«, fügte er hinzu, während er die silbrige Substanz wegschnippte, die seine Haare und seine Haut metallisch überzog, »… hat dieselbe Wirkung. Es macht dich…«

»High?«

Jace betrachtete Clary aus dunklen Augen. »Es kann echt Spaß machen.« Ein weiteres dieser schwebenden Kugeldinger zerplatzte über ihren Köpfen; die freigesetzten Tropfen schimmerten silberblau, wie Wasser. Jace leckte einen Spritzer von seiner Hand und betrachtete Clary eindringlich.

High. Clary hatte noch nie Drogen genommen; sie trank ja noch nicht mal Alkohol – mit Ausnahme der Flasche Kahlúa vielleicht, die Simon und sie mit dreizehn aus der Hausbar seiner Mutter geschmuggelt hatten. Nachdem sie die Flasche geleert hatten, war ihnen furchtbar übel gewesen und Simon hatte sich sogar in eine Hecke übergeben. Danach hatte sie sich geschworen, nie wieder Alkohol anzurühren, trotzdem konnte sich Clary noch gut an das anfängliche Gefühl erinnern: Ihr war herrlich schwindlig gewesen, sie hatte ständig kichern müssen und sich grundlos glücklich gefühlt.

Als Jace seine Hand herabsinken ließ, schimmerten seine Lippen silbern. Seine Augen ruhten noch immer auf Clary, dunkelgoldene Pupillen hinter langen blonden Wimpern.

Grundlos glücklich.

Clary dachte daran, wie sie sich beide in der Zeit nach der Großen Schlacht gefühlt hatten, bevor Lilith von Jace Besitz ergriff. Damals war er der Jace gewesen, der auf dem Foto in seinem Zimmer zu sehen war: so glücklich. Sie beide waren glücklich gewesen. Daran hatte Clary keine Sekunde gezweifelt. Sie hatte auch nicht dieses Gefühl von winzigen Messerstichen unter ihrer Haut gekannt, das langsam jegliche Nähe zwischen ihnen zerstörte.

Sie schmiegte sich an Jace, reckte sich und küsste ihn langsam und bewusst auf die Lippen. Ein süßsaures Aroma explodierte in ihrem Mund, wie eine Mischung aus Wein und Bonbons. Mehr von der silber glitzernden Flüssigkeit rieselte auf sie herab und Clary löste sich von Jace, um sich genüsslich die Lippen zu lecken.

Jace’ Atem ging stoßweise und er streckte die Hände nach ihr aus.

Doch Clary tanzte lachend davon. Plötzlich fühlte sie sich wild und frei und unglaublich leicht. Sie wusste, dass da etwas furchtbar Wichtiges war, etwas, das sie unbedingt erledigen musste, aber sie konnte sich nicht erinnern, worum es ging oder wieso sie sich überhaupt dafür interessiert hatte. Die Gesichter der anderen Tanzenden wirkten nicht länger verschlagen und Furcht einflößend, sondern auf geheimnisvolle Weise schön. Sie befand sich in einem gewaltigen, hallenden Gewölbe und die Schatten um sie herum strahlten in Farben, die bunter und intensiver leuchteten als jeder Sonnenuntergang. Die Engelsstatue, die über ihr aufragte, wirkte gütig – tausendmal freundlicher als Raziel und sein kaltes weißes Licht – und aus ihrem Mund ertönte ein lieblicher, hoher Gesang, rein, klar und perfekt.

Clary wirbelte um die eigene Achse, schneller und schneller, und ließ dabei alle Sorgen und jede Erinnerung hinter sich, bis sie in ein Paar Arme tanzte, die sich von hinten um sie schlangen. Langsam schaute Clary an sich herab und sah zwei narbenübersäte Hände an ihrer Taille, schlanke, anmutige Finger, die Voyance-Rune. Jace. Sie schmiegte sich an ihn, schloss die Augen und ließ den Kopf gegen seine Schulter sinken. Sie konnte seinen Pulsschlag an ihrer Wirbelsäule spüren.

Kein Herz auf dieser Welt schlug so wie Jace’.

Ruckartig öffnete Clary die Augen. Sie fuhr herum, die Hände ausgestreckt, um ihn fortzustoßen. »Sebastian«, wisperte sie.

Grinsend schaute ihr Bruder auf sie herab, silbern und schwarz wie der Morgenstern-Ring. »Clarissa«, sagte er. »Ich möchte dir etwas zeigen.«

Nein. Doch das Wort kam und verschwand sofort wieder, löste sich auf wie Zucker in heißer Flüssigkeit. Clary konnte sich nicht mehr erinnern, warum sie Nein sagen sollte. Schließlich war er ihr Bruder – sie sollte ihn lieben! Und außerdem hatte er sie an diesen wundervollen Ort gebracht. Möglicherweise hatte er irgendwann schlimme Dinge getan, aber das lag lange zurück und sie konnte sich auch überhaupt nicht mehr daran erinnern. »Ich kann die Engel singen hören«, hauchte sie stattdessen.

Sebastian lachte leise. »Wie ich sehe, hast du also schon herausgefunden, dass dieses silberne Zeug nicht einfach nur Glitter ist.« Vorsichtig streichelte er mit seinem Zeigefinger über Clarys Wangenknochen; als er ihn wieder wegnahm, leuchtete seine Fingerspitze silbern, als hätte er eine gefärbte Träne aufgefangen. »Komm mit, Engelsmädchen.« Sebastian streckte ihr seine Hand entgegen.

»Aber was ist mit Jace?«, wandte Clary ein. »Ich hab ihn in der Menge verloren…«

»Der wird uns schon finden.« Sebastians Hand schloss sich um Clarys Finger, überraschend warm und beruhigend.

Sie ließ sich von ihm zu einem der Brunnen in der Mitte des Gewölbes ziehen und auf die breite Marmoreinfassung heben.

Dann setzte er sich neben sie, ihre Hand noch immer fest umschlossen. »Schau ins Wasser«, forderte er sie auf. »Und verrat mir, was du siehst.«

Clary beugte sich über den Brunnenrand und schaute auf die glatte dunkle Wasseroberfläche. Sie konnte ihr eigenes Spiegelbild darin erkennen – ihre Augen waren groß und wild, ihre Wimperntusche verschmiert, ihre Haare zerzaust. Dann lehnte auch Sebastian sich über den Rand und Clary sah, wie sein Gesicht neben ihrem auftauchte. Die silberne Reflexion seiner Haare auf dem Wasser erinnerte sie an den Schein des Mondes auf dem Fluss. Gerade als sie die Hand ausstreckte, um das helle Leuchten zu berühren, verzerrten sich ihre Spiegelbilder zur Unkenntlichkeit.

»Was hast du gesehen?«, fragte Sebastian mit einem drängenden Unterton in der Stimme.

Clary schüttelte den Kopf; Sebastian war wirklich albern. »Ich habe dich und mich gesehen«, erwiderte sie leicht tadelnd. »Was denn sonst?«

Sebastian nahm ihr Kinn und drehte Clarys Gesicht zu sich herum. Seine Augen waren schwarz, nachtschwarz; nur ein dünner silberner Ring trennte die Pupille von der Iris. »Erkennst du das denn nicht? Wir beide sind gleich, du und ich.«

»Gleich?« Verwundert blinzelte Clary ihn an. Irgendetwas stimmte an seinen Worten nicht, sie klangen schrecklich falsch, aber sie hätte nicht sagen können, was genau sie störte. »Nein…«

»Du bist meine Schwester«, bekräftigte er. »In unseren Adern fließt dasselbe Blut.«

»Aber du hast Dämonenblut in dir«, sagte Clary. »Liliths Blut.« Aus irgendeinem Grund fand sie die Vorstellung plötzlich unheimlich lustig und fing an zu kichern. »Du bist dunkel – düster und dunkel. Und Jace und ich sind hell.«

»Du trägst ein dunkles Herz in deiner Brust, Valentinstochter«, widersprach Sebastian. »Du willst es nur nicht wahrhaben. Aber wenn du Jace willst, solltest du diese Tatsache besser akzeptieren. Denn er gehört nun zu mir.«

»Und… und zu wem gehörst du?«

Sebastian öffnete die Lippen, doch er schwieg.

Zum ersten Mal wusste er anscheinend nicht, was er darauf antworten sollte, überlegte Clary und war überrascht. Denn seine Worte hatten ihr nicht viel bedeutet – sie hatte einfach aus Neugier gefragt. Bevor sie jedoch etwas hinzufügen konnte, ertönte eine Stimme.

»Was ist los?«, fragte Jace und schaute von Clary zu Sebastian und wieder zurück. Sein Gesicht wirkte unergründlich. Weitere Schichten der schimmernden Substanz lagen auf seiner Haut und silberne Tropfen hafteten an seinen goldenen Haaren. »Clary?« Er klang verärgert.

Clary löste sich von Sebastian und sprang auf. »Tut mir leid«, stieß sie atemlos hervor. »Ich hab dich in der Menge irgendwie verloren.«

»Ist mir aufgefallen«, bestätigte Jace. »In der einen Sekunde hab ich mit dir getanzt und in der nächsten warst du verschwunden und ein sehr hartnäckiges Werwolfwesen hat versucht, meine Jeans aufzuknöpfen.«

Sebastian grinste. »Weiblich oder männlich?«

»Keine Ahnung, aber so oder so hätte eine Rasur nicht geschadet.« Jace nahm Clarys Hand und umschloss ihr Gelenk behutsam mit den Fingern. »Möchtest du nach Hause? Oder lieber noch weitertanzen?«

»Weitertanzen. Ist das okay?«

»Nur zu.« Sebastian lehnte sich zurück und stützte die Hände hinter ihm auf den Brunnenrand. Ein rasiermesserscharfes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich schau gern zu.«

Plötzlich tauchte vor Clarys innerem Auge ein Bild auf: der Abdruck einer blutigen Hand. Doch die Erinnerung verschwand so schnell, wie sie gekommen war, und Clary runzelte die Stirn. Die Nacht war zu schön, um sich mit hässlichen Gedanken zu beschäftigen. Sie warf ihrem Bruder noch einen kurzen Blick zu und ließ sich dann von Jace am Rand der Tanzfläche entlangführen, wo das Gedränge nicht ganz so groß war. Währenddessen zerplatzte eine weitere farbige Lichtkugel über ihnen, die silbernen Glitter versprühte. Clary legte den Kopf in den Nacken und fing die salzig süßen Tropfen mit der Zunge auf.

Als sie die Mitte des Gewölbekellers erreichten, blieb Jace direkt unter dem Knochenkronleuchter stehen und wirbelte Clary zu sich herum. Sie schlang die Arme um ihn und fühlte, wie die silbrige Flüssigkeit über ihre Wangen lief, wie Tränen. Durch das dünne Gewebe von Jace’ T-Shirt konnte sie die Wärme seiner Haut spüren. Ihre Hände glitten unter den Saum seines Oberteils, sodass sie ihm mit den Nägeln leicht über die Rippen fahren konnte. Seine Wimpern waren mit silbernen Tropfen übersät, als er den Blick senkte, Clary anschaute und ihr etwas ins Ohr raunte. Langsam wanderten seine Hände über ihre Schultern und dann ihre Arme hinab. Inzwischen hatten sie auch aufgehört zu tanzen. Die hypnotische Musik und die anderen Clubbesucher nahm Clary kaum noch wahr. Ein Paar tanzte lachend an ihnen vorbei und machte irgendeine spöttische Bemerkung auf Tschechisch. Clary verstand zwar nicht, was die beiden sagten, vermutete aber so etwas wie: Leute, nehmt euch gefälligst ein Zimmer!

Jace schnaubte ungeduldig und drängte dann erneut durch die Menge. Clary zog er hinter sich her, zu einem der schummrigen Alkoven am Rand der Tanzfläche.

Dutzende dieser kreisrunden Nischen säumten die Wände, jede einzelne mit einer steinernen Sitzbank versehen und einem dichten Samtvorhang, der zugezogen werden konnte, um wenigstens ein Minimum an Privatsphäre zu bieten. Jace riss den Vorhang zu und sofort prallten Clary und er aufeinander wie eine Meereswoge gegen eine Felsklippe. Ihre Münder trafen sich und verschmolzen miteinander; Jace hob Clary hoch, sodass sie eng an ihn gepresst war, während sich seine Finger in das rutschige Gewebe ihres Kleids gruben.

Clary fühlte warme seidige Haut, Hände, die suchten und fanden, Stoff, der unter dem Druck nachgab. Ihre Hände unter Jace’ T-Shirt, ihre Fingernägel, die über seinen Rücken kratzten, das Gefühl animalischer Freude, als er aufstöhnte. Jace biss auf ihre Unterlippe und Clary schmeckte das Blut in ihrem Mund, salzig und heiß. Es schien, als wollten sie sich gegenseitig zerreißen, sich ineinander verschlingen und gemeinsam den Schlag ihrer Herzen spüren, auch wenn es sie beide umbringen würde, dachte Clary.

Im Alkoven war es dunkel – so dunkel, dass Jace nur als Silhouette aus Schatten und Gold zu erkennen war. Sein Körper presste Clary gegen die Wand. Seine Hände glitten über ihre Hüften, fanden den Saum ihres Kleides und schoben es über ihre Oberschenkel.

»Was tust du da?«, wisperte Clary. »Jace?«

Er schaute sie an. Das eigenartige Licht im Club verwandelte seine Augen in ein Kaleidoskop aus Farben und Formen. Er lächelte diabolisch. »Du kannst mir sagen, wann ich aufhören soll. Jederzeit«, raunte er. »Aber ich bin mir sicher, dass du das gar nicht willst.«

Sebastian zog den staubigen Samtvorhang beiseite, der den Alkoven vom Rest des Gewölbes abtrennte, und lächelte.

An der Wand des kleinen kreisrunden Nebenraums war eine Steinbank angebracht, auf der ein Mann saß, die Ellbogen auf den Marmortisch gestützt. Sein langes blauschwarzes Haar war im Nacken zusammengebunden und auf einem seiner Wangenknochen prangte eine Narbe oder ein Mal in Form eines Blattes, direkt unterhalb seiner grasgrünen Augen. Er trug einen weißen Anzug, aus dessen Brusttasche ein Einstecktuch mit grüner Blattstickerei herausragte.

»Jonathan Morgenstern«, sagte Meliorn.

Sebastian verbesserte ihn nicht. Die Feenwesen legten nämlich großen Wert auf Namen und würden ihn daher niemals anders ansprechen als sein Vater. »Ich war mir nicht sicher, ob du zum vereinbarten Zeitpunkt auch erscheinen würdest, Meliorn.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass das Lichte Volk nicht lügt«, erwiderte der Elbenritter. Dann erhob er sich kurz und zog den Vorhang hinter Sebastian zu, sodass die dröhnende Musik aus dem Hauptraum ein wenig gedämpft wurde. »Nimm Platz. Ein Glas Wein?«

Sebastian setzte sich neben ihm auf die Bank. »Nein, danke.« Genau wie der silberne Elbentrank würde auch Wein ihm nur das Gehirn vernebeln. Außerdem vertrugen die Feenwesen ohnehin mehr Alkohol. »Ich muss gestehen, ich war ziemlich überrascht, als ich die Nachricht erhielt, dass du dich hier mit mir treffen wolltest.«

»Du solltest eigentlich besser als jeder andere wissen, dass meine Königin ein besonderes Interesse an dir hegt. Sie ist über jeden deiner Schritte informiert.« Meliorn nahm einen Schluck Wein. »Heute Nacht ist es hier in Prag zu einem Zwischenfall mit Dämonen gekommen. Die Königin war sehr besorgt.«

Sebastian spreizte die Arme. »Wie du siehst, bin ich unverletzt.«

»Ein derartiger Zwischenfall wird zweifellos die Aufmerksamkeit der Nephilim erregen. Und wenn ich mich nicht irre, ziehen einige von ihnen bereits umher.«

»Was ziehen sie umher?«, fragte Sebastian unschuldig.

Meliorn nahm einen weiteren Schluck Wein und funkelte ihn wütend an.

»Ach, ja, richtig. Ich vergesse immer wieder, auf welch amüsante Weise ihr Feenwesen redet. Du willst mir also sagen, dass da draußen in der Menge einige Schattenjäger sind, die nach mir Ausschau halten. Das weiß ich. Ich habe sie längst bemerkt. Die Königin kann keine allzu hohe Meinung von mir haben, wenn sie glaubt, dass ich mit einer Handvoll Nephilim nicht allein zurechtkomme.« Sebastian zog einen Dolch aus dem Gürtel und wirbelte ihn in der Hand, sodass sich das schwache Licht des Alkovens in der Klinge spiegelte.

»Ich werde ihr deine Worte ausrichten«, murmelte Meliorn. »Ich muss gestehen, dass es mir vollkommen schleierhaft ist, was sie an dir findet. Ich habe einen gründlichen Blick auf dich geworfen und bin nicht sehr überzeugt, aber ich verfüge natürlich auch nicht über den Geschmack meiner Königin.«

»Gewogen und für zu leicht befunden?« Belustigt beugte Sebastian sich vor. »Dann will ich dir das mal erklären, Elbenritter: Ich bin jung. Ich bin gut aussehend. Und ich bin bereit, die ganze Welt niederzubrennen, um das zu bekommen, was ich will.« Mit seinem Dolch zeichnete er einen Riss in der Marmorplatte des Tischs nach. »Und genau wie ich ist auch deine Königin nicht auf schnelle Erfolge aus, sondern gewillt zu warten, wenn es dem Zweck dient. Im Moment möchte ich nur eines wissen: Wenn das Ende der Nephilim naht, wird der Lichte Hof dann an meiner Seite stehen oder sich gegen mich stellen?«

Die Miene des Elbenritters war vollkommen ausdruckslos. »Meine Königin sagt, sie stünde an deiner Seite.«

Sebastians Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. »Das sind wirklich hervorragende Neuigkeiten.«

Meliorn schnaubte verächtlich. »Ich hatte immer angenommen, dass die Menschheit sich einmal selbst ausrotten würde«, bemerkte er. »Ein ganzes Jahrtausend lang habe ich stets prophezeit, dass ihr euch euer eigenes Grab schaufelt. Aber ich hätte nicht gedacht, dass das Ende auf diese Weise kommen würde.«

Sebastian wirbelte den glitzernden Dolch in den Fingern. »Niemand sieht je sein Ende kommen.«

»Jace«, wisperte Clary. »Jace, jemand könnte hereinkommen und uns sehen.«

Doch seine Hände hörten nicht auf. »Es wird aber niemand hereinkommen.« Sein Mund platzierte einen Pfad heißer Küsse auf ihren Hals und wischte damit all ihre Gedanken und Zweifel beiseite.

Clary fiel es schwer, an der Realität festzuhalten – mit seinen Händen auf ihrem Körper… und ihrem durcheinandergewirbelten Verstand… und ihren Fingern, die Jace’ T-Shirt so fest umklammerten, dass sie fürchtete, der Stoff würde jeden Moment reißen.

Die Steinmauer drückte kalt in ihren Rücken, während Jace ihre Schulter küsste und den Träger ihres Kleides nach unten schob. Clary war heiß und kalt zugleich und sie zitterte am ganzen Körper. Die Welt hatte sich in Fragmente aufgelöst wie die bunten Bruchstücke im Inneren eines Kaleidoskops. Sie war dabei, unter seinen Händen zu zerfließen…

»Jace…« Clary klammerte sich an sein T-Shirt. Irgendwie fühlte es sich feucht und klebrig an. Verwundert schaute Clary auf ihre Hände und verstand im ersten Moment nicht, was sie sah: eine silbrige Substanz, vermischt mit einer roten Flüssigkeit.

Blut.

Ruckartig blickte sie hoch. Von der Decke über ihnen hing – wie eine gruslige piñata – ein menschlicher Körper, an den Fußgelenken mit Seilen festgebunden. Blut tropfte aus der aufgeschlitzten Kehle.

Clary wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Entsetzt stieß sie Jace von sich, der benommen rückwärtstaumelte; Blut klebte in seinen Haaren, auf seinem T-Shirt und auf ihrer nackten Haut. Hastig schob Clary die Träger ihres Kleides wieder hoch, schwankte zum Vorhang und riss ihn beiseite.

Die Engelsstatue sah nicht mehr so aus, wie Clary sie in Erinnerung hatte: Die schwarzen Schwingen hatten sich in Fledermausflügel verwandelt, das anmutige, gütige Gesicht war zu einer höhnischen Fratze verzogen. Von der gesamten Gewölbedecke hingen an verdrehten Seilen die Leichen von Männern, Frauen und Kindern – mit aufgeschlitzten Kehlen, aus denen das Blut wie Regen herabtropfte. Die Springbrunnen spuckten pulsierendes Blut und auf der Oberfläche der roten Flüssigkeit schwammen keine Blütenblätter, sondern abgetrennte Hände. Auch die sich windenden Tänzer waren blutgetränkt.

Während Clary sich fassungslos umsah, kam ein Paar an ihr vorbei: ein groß gewachsener bleicher Mann mit einer Frau, die mit zerfetzter Kehle schlaff in seinen Armen lag. Sie war eindeutig tot. Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und beugte sich erneut über ihren Hals; doch zuvor warf er Clary noch einen Blick zu und grinste. Sein Gesicht war verschmiert von Blut und silbriger Flüssigkeit. Clary spürte Jace’ Hand an ihrem Arm; er versuchte, sie in den Alkoven zurückzuziehen, doch sie riss sich los. Stumm starrte sie auf die Wasserbecken an einer der Wände. Sie hatte angenommen, dass leuchtend bunte Fische darin schwimmen würden. Doch die Flüssigkeit war trübe und schlammig und Wasserleichen trieben darin; ihre Haare schwebten um sie herum wie die Nesselfäden fluoreszierender Quallen. Unwillkürlich musste Clary an Sebastian denken und daran, wie er in dem Glassarg geschwebt hatte. Ein Schrei bildete sich tief in ihrer Kehle, doch sie unterdrückte ihn, als plötzlich Stille und Dunkelheit sie übermannten.

14 Schutt und Asche

Langsam erwachte Clary aus ihrer Ohnmacht – begleitet von demselben Schwindelgefühl, das sie vom ersten Morgen im Institut kannte, als sie völlig orientierungslos zu sich gekommen war. Ihr ganzer Körper schmerzte und ihr Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einer Hantel traktiert. Sie lag auf der Seite, ihre Wange auf rauem Untergrund, und irgendetwas Schweres drückte auf ihre Schulter. Als sie an sich hinunterschaute, entdeckte sie eine schlanke Hand, die schützend auf ihr Brustbein gepresst war. Clary erkannte die Runenmale, die verblassten weißen Narben und sogar das blaue Muster der Adern auf seinem Unterarm. Das beklemmende Gefühl in ihrer Brust ließ nach, sie schlüpfte vorsichtig unter Jace’ Arm hervor und setzte sich auf.

Sie befanden sich in seinem Zimmer. Clary erkannte das an der peniblen Ordnung und dem sorgfältig gemachten Bett mit dem fest eingesteckten Laken, das sogar jetzt noch fast unberührt aussah. Jace schlief, halb gegen das Kopfbrett gelehnt und in denselben Kleidern, die er auch am Abend zuvor getragen hatte, einschließlich seiner Schuhe. Offenbar war er eingenickt, während er Clary im Arm gehalten hatte. Aber daran erinnern konnte sie sich nicht. Seine Haare waren noch immer mit der seltsamen silbrigen Substanz aus dem Nachtclub übersät.

Jace bewegte sich, als spürte er, dass Clary sich aus seiner Umarmung gelöst hatte. Dann schlang er den nun freien Arm um seinen eigenen Körper. Er schien nicht verletzt oder verwundet zu sein, lediglich erschöpft, stellte Clary fest und betrachtete seine langen dunkelgoldenen Wimpern, die sich in die leichte Vertiefung unterhalb seiner Augen schmiegten. Während er so friedlich schlief, wirkte er irgendwie verwundbar – wie ein kleiner Junge. Er hätte ihr Jace sein können.

Doch das war er nicht. Plötzlich erinnerte Clary sich wieder an den Nachtclub, an seine Hände auf ihrem Körper, an die Leichen und das Blut. Ihr Magen revoltierte und sie schlug sich rasch eine Hand vor den Mund, um den Brechreiz zu unterdrücken. Schon bei dem Gedanken daran wurde ihr schlecht, aber sie spürte noch etwas anderes – ein unangenehmes Prickeln, das nagende Gefühl, dass irgendetwas fehlte.

Irgendetwas Wichtiges.

»Clary.«

Sie drehte sich um.

Jace hatte die Augen halb geöffnet und schaute sie unter seinen langen Wimpern an; das Gold seiner Pupillen wirkte matt vor Erschöpfung. »Warum bist du wach?«, fragte er. »Es ist noch viel zu früh.«

Clarys Hände nestelten an der Bettdecke herum. »Gestern Nacht…«, setzte sie mit zittriger Stimme an. »Die Leichen… das ganze Blut…«

»Die was?«

»Das ist zumindest das, was ich gesehen habe.«

»So was hab ich nicht gesehen.« Jace schüttelte den Kopf. »Feendrogen«, murmelte er. »Du hast doch gewusst…«

»Aber es war alles so real.«

»Tut mir leid.« Er hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. »Ich wollte nur ein bisschen Spaß haben. Das Zeug sollte dich eigentlich glücklich machen. Dich schöne Dinge sehen lassen. Ich dachte, wir könnten zusammen ein bisschen Spaß haben.«

»Ich hab jedenfalls überall Blut gesehen«, erzählte Clary. »Und tote Menschen, die in Wasserbecken trieben…«

Erneut schüttelte Jace den Kopf und seine Wimpern flatterten leicht. »Nichts davon war echt…«

»Nicht einmal das, was zwischen dir und mir passiert ist…?« Clary verstummte. Jace’ Augen waren fest geschlossen und seine Brust hob und senkte sich ruhig. Er war wieder eingeschlafen.

Leise rutschte Clary vom Bett und ging ins Bad. Dort stand sie eine ganze Weile vor dem Spiegel und musterte sich, während sich ein dumpfes Gefühl in ihren Gliedern ausbreitete. Sie war von Kopf bis Fuß von der silbrigen Substanz übersät. Der Anblick erinnerte sie daran, wie ihr einmal ein Silberstift im Rucksack ausgelaufen war und den kompletten Inhalt ruiniert hatte. Einer ihrer BH-Träger war gerissen – vermutlich, als Jace in der Nacht zuvor daran herumgezerrt hatte. Ihre Wimperntusche war völlig verschmiert und dieses Silberzeug klebte überall auf ihrer Haut und in ihren Haaren.

Langsam schälte Clary sich aus dem Kleid und ihrer Unterwäsche, wobei sie immer wieder gegen den Brechreiz ankämpfen musste. Dann warf sie ihre Kleidung in den Abfalleimer und stieg in das heiße Wasser.

Wieder und wieder wusch sie sich die Haare, um endlich das getrocknete Silberzeug loszuwerden. Doch die Substanz klebte wie Ölfarbe und ließ sich kaum auswaschen. Auch der Geruch haftete weiterhin an Haut und Haaren. Er erinnerte Clary an fauliges Blumenwasser in einer Vase, dumpf und süßlich und verdorben. So viel Shampoo sie auch benutzte, es schien nichts zu helfen.

Als sie schließlich das Gefühl hatte, einigermaßen sauber zu sein, trocknete sie sich ab und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Erleichtert schlüpfte sie wieder in ihre Jeans und streifte ein bequemes Baumwoll-Sweatshirt über. Doch als sie gerade ihren zweiten Stiefel anzog, kehrte die nagende Unruhe zurück – das Gefühl, dass irgendetwas fehlte. Clary erstarrte.

Ihr Ring. Der goldene Ring, der ihr erlaubte, mit Simon zu kommunizieren.

Er war verschwunden.

Fieberhaft suchte Clary nach dem Schmuckstück und wühlte sogar im Abfalleimer – vielleicht hatte sich der Ring ja in ihrem Kleid verfangen. Danach suchte sie jeden Zentimeter von Jace’ Zimmer ab, während er friedlich weiterschlief. Auf den Knien durchkämmte sie den Teppich, die Bettwäsche und die Schubladen des Nachttischs.

Schließlich ließ sie sich auf ihre Fersen sinken; ihr Herz schlug wie wild, während sich ein mulmiges Gefühl in ihrem Magen ausbreitete.

Der Ring war verschwunden. Verloren, irgendwo, irgendwie. Clary versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sie wusste noch genau, dass er an ihrer Hand aufgeblitzt hatte, als sie mit dem Dolch gegen den Elapid-Dämon gekämpft hatte. War er ihr danach möglicherweise in dem Trödelladen vom Finger gerutscht? Oder im Nachtclub?

Wütend grub Clary die Fingernägel in ihre Oberschenkel, bis der Schmerz sie aufkeuchen ließ. Konzentrier dich, ermahnte sie sich. Konzentrier dich.

Vielleicht war ihr der Ring ja irgendwo in der Wohnung abhandengekommen. Bestimmt hatte Jace sie in der Nacht nach oben getragen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Ring irgendwo auf der Treppe lag, war zwar gering, aber sie durfte keine Möglichkeit außer Acht lassen.

Clary rappelte sich auf, schlüpfte so leise wie möglich in den Flur und ging ein paar Schritte auf Sebastians Zimmer zu, zögerte dann jedoch. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum der Ring in seinem Zimmer sein sollte. Und wenn sie ihn aufweckte, würde ihr das auch nicht weiterhelfen, im Gegenteil! Also machte sie auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe hinunter. Dabei bewegte sie sich vorsichtig von Stufe zu Stufe, um das Geräusch ihrer Schuhe zu dämpfen.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie tun, wenn sie Simon jetzt nicht mehr erreichen konnte? Sie musste ihm unbedingt von dem Antiquitätengeschäft und dem Adamant erzählen. Wenn sie ihn doch nur früher kontaktiert hätte! Am liebsten hätte Clary mit der Faust gegen die Wand geschlagen, doch sie zwang sich, Ruhe zu bewahren und die verbliebenen Möglichkeiten durchzugehen. Sebastian und Jace vertrauten ihr allmählich; wenn es ihr gelang, sich in einer belebten Straße kurz davonzuschleichen, könnte sie Simon von einer Telefonzelle aus anrufen. Oder sie könnte schnell in ein Internet-Café springen und ihm eine E-Mail schicken. Schließlich kannte sie sich mit den modernen Telekommunikationsmitteln der Irdischen wesentlich besser aus als Jace und Sebastian. Der Verlust des Rings bedeutete jedenfalls nicht, dass jetzt alles aus war.

Sie würde nicht aufgeben!

Ihre Gedanken kreisten so konzentriert um das, was sie als Nächstes tun musste, dass sie Sebastian im ersten Moment gar nicht bemerkte. Glücklicherweise hatte er ihr den Rücken zugekehrt. Er stand im Wohnzimmer und schaute auf eine Wand.

Einen Augenblick blieb Clary wie erstarrt auf der untersten Treppenstufe stehen, dann flitzte sie los und drückte sich an die halbhohe Theke, die die Küche vom Wohnbereich trennte. Es bestand nicht der geringste Grund zur Panik, ermahnte sie sich. Schließlich wohnte sie hier. Falls Sebastian sie entdeckte, konnte sie behaupten, sie sei nach unten gekommen, um sich ein Glas Wasser zu holen.

Aber die Versuchung, ihn unbemerkt zu beobachten, war einfach zu groß. Vorsichtig drehte Clary sich zur Seite und spähte um die Küchentheke herum.

Sebastian stand noch immer mit dem Rücken zu ihr. Nach der Rückkehr aus dem Nachtclub hatte er sich offenbar umgezogen. Der alte Armeemantel war verschwunden. Stattdessen trug er Jeans und ein Hemd, das leicht hochgerutscht war und den Blick auf den Waffengürtel freigab, den er sich um die Hüften geschnallt hatte. Als Sebastian den rechten Arm hob, konnte Clary die Stele in seiner Hand sehen… und irgendetwas an der Art und Weise, wie er sie hielt, mit einer tiefen Nachdenklichkeit, erinnerte sie daran, wie ihre Mutter immer den Malpinsel gehalten hatte.

Bestürzt schloss Clary die Augen. Als sie an Sebastian etwas wiedererkannte, das Assoziationen an ihre Mutter oder sie selbst weckte, fühlte sie einen Ruck durch ihr Herz gehen – wie ein Stück Stoff, das an einem Haken hängen blieb und zerriss. Das erinnerte sie daran, dass es ganz egal war, wie viel Gift durch seinen Körper zirkulierte – das Blut in seinen Adern war dasselbe, das auch durch ihre Adern floss. Clary öffnete die Augen, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich vor Sebastian eine Tür in der Mauer bildete. Er schnappte sich einen Schal von einem Haken an der Wand und ging hinaus in die Dunkelheit.

Clary musste sich im Bruchteil einer Sekunde entscheiden: Sollte sie bleiben und die Wohnung nach dem Ring durchsuchen? Oder sollte sie Sebastian folgen und herausfinden, wohin er ging? Ihre Füße waren schneller als ihre Gedanken. Blitzschnell löste sie sich von der Theke und stürmte durch die dunkle Maueröffnung, kurz bevor sich die Tür hinter ihr wieder schloss.

Der Raum, in dem Luke lag, wurde nur vom Schein der Straßenlaterne erhellt, der durch die halb geschlossenen Jalousien fiel. Jocelyn wusste, dass sie um eine Lampe hätte bitten können, doch sie saß lieber im Dunkeln. Denn die Dunkelheit kaschierte das Ausmaß von Lukes Verletzungen, die Totenblässe auf seinem Gesicht und die tiefen Schatten unter seinen Augen.

Genau genommen, besaß er im dämmrigen Licht große Ähnlichkeit mit dem Jungen, den sie noch aus der Zeit in Idris kannte, bevor Valentin seinen Kreis gegründet hatte. Jocelyn erinnerte sich daran, wie er auf dem Schulhof ausgesehen hatte: dürr, braune Haare, blaue Augen und nervöse Hände. Luke war Valentins bester Freund gewesen und aus diesem Grund hatte ihm kaum jemand Beachtung geschenkt. Sie selbst übrigens auch nicht, überlegte Jocelyn, denn sonst hätte sie nicht so blind sein und völlig übersehen können, was er für sie empfand.

Unwillkürlich kehrten ihre Gedanken zum Tag ihrer Hochzeit mit Valentin zurück; die Sonne hatte hell durch das Glasdach über der Halle des Abkommens gestrahlt. Damals war sie achtzehn gewesen und Valentin neunzehn. Sie wusste noch genau, wie unglücklich ihre Eltern darüber gewesen waren, dass sie so früh heiraten wollte. Doch ihre Missbilligung hatte sie nicht interessiert – ihre Eltern verstanden sie einfach nicht. Jocelyn war sich so sicher gewesen, dass es für sie in ihrem ganzen Leben niemand anderen geben würde als Valentin.

Luke war sein Trauzeuge gewesen. Sie erinnerte sich noch genau an dessen Gesicht, als sie zum Altar schritt – sie hatte ihm einen kurzen Blick zugeworfen, ehe sie ihre Aufmerksamkeit Valentin zuwandte. Und sie wusste auch noch, dass sie damals gedacht hatte, Luke ginge es wohl nicht gut, denn er sah aus, als hätte er Schmerzen. Und später, als Valentin und sie mit Luke und den anderen Gästen auf den Platz des Erzengels hinausgetreten waren – die meisten Mitglieder des Kreises waren zur Hochzeit geladen gewesen, von den Frischvermählten Maryse und Robert Lightwood bis hin zum kaum fünfzehnjährigen Jeremy Pontmercy –, hatte irgendjemand den uralten Witz gerissen, wenn der Bräutigam nicht aufgetaucht wäre, hätte die Braut den Trauzeugen heiraten müssen. Luke hatte einen eleganten Anzug mit golddurchwirkten Glücks-Runen getragen, der ihm hervorragend stand. Aber während alle anderen amüsiert lachten, war er kreidebleich geworden. Er muss die Vorstellung, mich zu heiraten, wirklich hassen, hatte sie damals gedacht und ihn lachend an der Schulter berührt.

»Sieh mich doch nicht so an«, hatte sie ihn geneckt. »Ich weiß ja, dass wir uns schon seit Ewigkeiten kennen, aber ich verspreche dir, du wirst mich niemals heiraten müssen!«

Und dann war Amatis zu ihnen gekommen, einen lachenden Stephen im Schlepptau, und Jocelyn hatte den Vorfall mit Luke wieder vergessen – die Art und Weise, wie er sie angeschaut hatte, und den merkwürdigen Blick, den Valentin ihm dabei zugeworfen hatte.

Jocelyn ließ ihren Blick hinüber zu Luke schweifen – und zuckte in ihrem Sessel zusammen. Er hatte die Augen geöffnet, zum ersten Mal seit Tagen, und sah sie an. »Luke«, stieß sie atemlos hervor.

Er betrachtete sie verwirrt. »Wie lange… hab ich denn geschlafen?«

Am liebsten hätte Jocelyn sich in seine Arme geworfen, doch der dicke Verband um seine Brust hielt sie davon ab. Stattdessen nahm sie seine Hand, drückte sie an ihre Wange und verschränkte ihre Finger mit seinen. Dann schloss sie die Augen und spürte, wie eine Träne unter ihren Wimpern hervordrang. »Etwa drei Tage«, hauchte sie.

»Jocelyn«, setzte Luke an und klang nun ernsthaft beunruhigt, »warum sind wir auf der Wache? Wo ist Clary? Ich kann mich wirklich nicht erinnern…«

Langsam ließ Jocelyn ihre verschränkten Hände sinken und erzählte ihm in einem möglichst ruhigen Ton von den Ereignissen der vergangenen Tage: von Sebastian und Jace, vom Dämonenmetall, das in seinen Knochen gedrungen war, und von der Hilfe der Praetor Lupus.

»Clary«, sagte Luke wie aus der Pistole geschossen, als Jocelyn ihren Bericht beendet hatte. »Wir müssen ihr nach.« Er entzog ihr seine Hand und versuchte mühsam, sich aufzusetzen. Selbst im dämmrigen Licht konnte Jocelyn erkennen, wie sein Gesicht dabei vor Schmerz noch bleicher wurde.

»Das geht nicht, Luke. Bitte leg dich wieder hin. Meinst du, ich säße noch hier, wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, ihr zu folgen?«

Entschlossen schwang Luke die Beine über die Bettkante, um sich aufzusetzen; doch schon im nächsten Moment schnappte er nach Luft und stützte sich mit seinen Händen ab. Er sah schrecklich aus. »Aber die Gefahr, in der sie schwebt…«

»Glaubst du, darüber hätte ich nicht nachgedacht?« Jocelyn legte ihm die Hände auf die Schultern und drückte ihn sanft zurück in die Kissen. »Simon meldet sich jeden Abend bei mir. Clary geht es gut. Wirklich. Und du bist nicht in der Verfassung, auch nur irgendetwas zu unternehmen. Wenn du dich selbst umbringst, hilft ihr das auch nicht. Bitte vertrau mir, Luke.«

»Jocelyn, ich kann hier nicht einfach tatenlos herumliegen.«

»Doch, das kannst du«, erwiderte sie bestimmt. »Und das wirst du auch – und wenn ich mich auf dich setzen muss. Was zum Teufel ist mit dir los, Lucian? Hast du den Verstand verloren? Ich mache mir schreckliche Sorgen um Clary, aber ich mache mir auch schreckliche Sorgen um dich! Bitte, tu das nicht… tu mir das nicht an. Wenn dir irgendetwas zustoßen würde…«

Überrascht schaute Luke sie an. Inzwischen zeichnete sich ein roter Fleck auf seinem weißen Verband ab, seine Bewegungen hatten die Wunde wieder aufgerissen. »Ich…«

»Was?«

»Ich bin es nicht gewohnt, dass du mich liebst«, erklärte er ungewöhnlich kleinlaut, was Jocelyn von Luke überhaupt nicht kannte.

Verwundert starrte sie ihn einen Moment an, ehe sie erwiderte: »Luke. Leg dich wieder hin. Bitte.«

Doch statt sich hinzulegen, lehnte er sich in einer Art Kompromiss gegen die Kissen und holte kurzatmig Luft.

Jocelyn hastete zum Nachttisch, schenkte ein Glas Wasser ein und drückte es ihm in die Hand. »Trink das«, sagte sie. »Bitte.«

Luke nahm das Glas und seine blauen Augen folgten ihr, während sie sich wieder in den Sessel neben dem Bett setzte. In den letzten Tagen hatte sie so viele Stunden darin verbracht, dass es sie wunderte, nicht mit der Polsterung verwachsen zu sein.

»Weißt du, woran ich eben denken musste?«, fragte sie. »Kurz bevor du aufgewacht bist?«

Vorsichtig trank Luke einen Schluck Wasser. »Du hast ausgesehen, als ob du in Gedanken sehr weit weg gewesen wärst.«

»Ich hab mich an den Tag erinnert, an dem ich Valentin geheiratet habe.«

Luke ließ das Glas sinken. »Der schlimmste Tag meines Lebens.«

»Schlimmer als der Tag, an dem du gebissen wurdest?«, hakte Jocelyn nach, zog ihre Beine hoch und setzte sich darauf.

»Schlimmer.«

»Das habe ich nicht gewusst«, sagte sie. »Ich ahnte doch nicht, was du für mich empfindest. Aber ich wünschte, ich hätte es gewusst. Dann wäre jetzt alles anders.«

Ungläubig sah Luke sie an. »Wieso?«

»Dann hätte ich Valentin nicht geheiratet«, sagte Jocelyn. »Ich hätte ihn nicht geheiratet, wenn ich es gewusst hätte.«

»Doch, das hättest du…«

»Nein, das hätte ich nicht«, unterbrach sie ihn scharf. »Ich war zu dumm, um zu begreifen, was du empfindest; aber ich war auch zu dumm, um mir über meine eigenen Gefühle im Klaren zu sein. Ich habe dich immer geliebt. Auch wenn es mir damals nicht bewusst war.« Jocelyn beugte sich vor und küsste ihn behutsam, um ihm nicht wehzutun; dann legte sie ihre Wange gegen Lukes. »Versprich mir, dass du dich nicht in Gefahr bringen wirst. Versprich es mir«, bat sie und spürte, wie er seine Hand auf ihre Haare legte.

»Ich verspreche es.«

Halbwegs erleichtert lehnte sie sich zurück. »Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Und alles in Ordnung bringen. Den richtigen Mann heiraten.«

»Aber dann hätten wir Clary jetzt nicht«, erinnerte Luke sie.

Jocelyn liebte die Art und Weise, wie er »wir« sagte – so beiläufig, als gäbe es keinen Zweifel, dass Clary seine Tochter war. »Wenn du doch nur schon da gewesen wärst, als sie noch klein war…«, seufzte Jocelyn. »Ich hab einfach das Gefühl, dass ich alles falsch gemacht habe. All die Jahre war ich so versessen darauf, sie zu beschützen, dass ich es wahrscheinlich übertrieben habe. Clary stürzt sich kopfüber in jede Gefahr, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Als wir beide aufgewachsen sind, haben wir hautnah miterlebt, wie unsere Freunde im Kampf ums Leben kamen. So etwas hat Clary nie erfahren müssen und ich würde ihr das auch nicht wünschen. Aber manchmal mach ich mir Sorgen, dass sie glaubt, gar nicht sterben zu können.«

»Jocelyn.« Lukes Stimme klang sanft. »Du hast Clary zu einem guten Menschen erzogen. Zu einer Person mit Werten, zu jemandem, der an das Gute und das Böse glaubt und danach strebt, selbst Gutes zu tun – genau wie du. Man kann ein Kind nicht dazu erziehen, an etwas anderes zu glauben als das, an das man selbst glaubt. Ich bin mir sicher, dass Clary ganz genau weiß, dass sie sterben kann. Und ich bin außerdem sicher, dass sie – genau wie du – davon überzeugt ist, dass es Dinge gibt, für die es sich zu sterben lohnt.«

Clary folgte Sebastian durch ein Labyrinth enger Gassen, wobei sie sich immer dicht im Schatten der Gebäude hielt. Sie befanden sich nicht mehr in Prag – so viel stand fest. Die Straßen waren dunkel, die Morgendämmerung tauchte den Himmel in ein mattes Blau und die Schilder über den Geschäften und Ladenfronten, an denen sie vorbeikamen, waren alle auf Französisch – genau wie die Straßenschilder: Rue Jacob, Rue de Seine, Rue de l’Abbaye.

Während sie durch die Stadt schlich, strichen die Menschen wie Gespenster an ihr vorbei. Gelegentlich rumpelte ein Wagen durch die Gassen oder ein Laster setzte quietschend rückwärts in eine Einfahrt, um das angrenzende Geschäft mit frischen Waren zu beliefern. Die Luft roch nach Flusswasser und Abfall. Clary hatte bereits eine ziemlich klare Vorstellung, in welcher Stadt sie sich befanden, das wurde bestätigt, als sie um eine Ecke bogen und durch eine Gasse zu einer breiten Allee gelangten, an der ein Wegweiser aus dem dämmrigen Morgendunst auftauchte. Pfeile zeigten in verschiedene Richtungen: Bastille, Notre Dame und Quartier Latin.

Paris, dachte Clary sofort und schlüpfte hinter einen parkenden Wagen, als Sebastian die Straße überquerte. Wir sind in Paris.

Eigentlich war das Ganze eine Ironie des Schicksals: Sie hatte sich immer gewünscht, nach Paris zu reisen und die Stadt mit jemandem zu erkunden, der sich dort auskannte. Sie hatte durch die Straßen laufen, die Seine sehen und die Bauwerke malen wollen. Aber so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie hätte nicht gedacht, dass sie einmal Sebastian verfolgen würde, über den Boulevard Saint Germain, vorbei an einem leuchtend gelben Postamt, durch eine Allee, deren Bars inzwischen geschlossen hatten und in deren Rinnstein haufenweise leere Bierflaschen und Zigarettenstummel herumlagen.

Irgendwann marschierte Sebastian durch eine schmale, von Wohnhäusern gesäumte Straße und blieb vor einem der Gebäude stehen. Auch Clary hielt abrupt inne und drückte sich flach an eine Häuserwand. Sie beobachtete, wie Sebastian einen Zugangscode in ein Kästchen neben der Eingangstür tippte. Dabei prägte sie sich die Bewegungen seiner Finger genau ein. Dann ertönte ein Klicken, die Tür sprang auf und Sebastian schlüpfte hindurch. Als die Tür wieder ins Schloss fiel, sprintete Clary los, tippte denselben Code ein – X235 – und wartete auf das leise, brummende Geräusch, das bedeutete, dass die Tür nicht länger verriegelt war. Als das Summen schließlich ertönte, war Clary sich nicht sicher, ob sie erleichtert oder überrascht sein sollte. Das Ganze war zu einfach.

Einen Augenblick später stand sie in einem rechteckigen Innenhof, der an allen Seiten von ganz gewöhnlichen Gebäuden flankiert wurde. Durch mehrere offene Türen konnte Clary drei Treppenhäuser erkennen. Sebastian hatte sich allerdings in Luft aufgelöst.

Dann war das Ganze also doch nicht so einfach.

Vorsichtig setzte Clary einen Fuß in den Innenhof; ihr war klar, dass sie damit den Schutz des Häuserschattens verließ und hinaus ins Freie trat, wo man sie sehen konnte. Noch dazu klarte der Morgenhimmel über ihr mit jeder Minute weiter auf. Bei dem Gedanken daran, ohne Deckung zu sein, stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Daher tauchte sie hastig in den Schatten des ersten Treppenhauses.

Die Stiege war schmucklos: Abgewetzte Holzstufen führten nach oben und unten. Gegenüber dem Eingang hing ein billiger Spiegel, in dem Clary ihr eigenes, blasses Gesicht sehen konnte. Und ein penetranter Geruch von fauligem Abfall hing in der Luft. Clary fragte sich einen Moment, ob sie sich wohl in der Nähe der Mülltonnen befand, ehe ihr übermüdeter Verstand endlich schaltete und sie erkannte, dass der Gestank von der Anwesenheit von Dämonen zeugte.

Ihre erschöpften Muskeln begannen zu zittern, aber sie ballte die Hände zu Fäusten. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie keine einzige Waffe bei sich trug. Doch dann holte sie ein paarmal tief Luft und stieg die Treppe hinunter.

Der Gestank nahm von Stufe zu Stufe zu, während die Sicht immer schlechter wurde. Clary wünschte, sie hätte ihre Stele dabei, um sich mit einer Nachtsicht-Rune auszustatten. Aber das ließ sich jetzt wohl nicht mehr ändern. Vorsichtig folgte sie der Treppe, die spiralförmig nach unten führte. Als sie plötzlich in irgendeine klebrige Lache trat, war sie fast dankbar für den Mangel an Licht. Sie klammerte sich an das Geländer und versuchte, durch den Mund zu atmen. Die Dunkelheit wurde immer undurchdringlicher, bis Clary sich nur noch blind die Stufen hinabtastete; dabei schlug ihr Herz so laut, dass sie schon fürchtete, man würde sie hören. Die Straßen von Paris, die normale Welt – all das schien Lichtjahre entfernt zu sein. Hier unten gab es nur noch die Dunkelheit und sie selbst… und die Treppe, die immer weiter in die Tiefe führte.

Endlich tauchte in der Ferne ein Licht auf, ein winziger Punkt, wie die Spitze eines aufflammenden Streichholzes. Clary drängte sich enger an das Geländer und schlich geduckt weiter, während das Licht heller wurde. Inzwischen konnte sie wieder ihre Hand erkennen und die Konturen der Treppe unter ihr. Es fehlten nur noch ein paar Stufen bis zum Ende. Schließlich erreichte sie den Boden und schaute sich rasch um.

Jede Ähnlichkeit mit einem herkömmlichen Mietshaus war verschwunden. Irgendwann während des Abstiegs musste sich die Holztreppe in Steinstufen verwandelt haben. Clary stand nun in einem kleinen gemauerten Raum. Eine Fackel an einer der Wände flackerte in einem unheimlichen grünlichen Licht; der Fußboden bestand aus glatt geschliffenem Felsgestein, in das seltsame Symbole gemeißelt waren. Vorsichtig ging Clary um die Zeichen herum, während sie den Raum durchquerte, um zum einzigen anderen Ausgang zu gelangen: einem steinernen Torbogen, in dessen Scheitelpunkt ein menschlicher Schädel zwischen zwei gewaltigen gekreuzten Äxten prangte.

Durch den Bogen drangen gedämpfte Stimmen. Sie waren zwar zu weit entfernt, um einzelne Worte auszumachen, aber es handelte sich eindeutig um Stimmen. Hier entlang, schienen sie zu sagen. Folge uns.

Schweigend starrte Clary zum Totenschädel hinauf; seine leeren Augenhöhlen schienen spöttisch auf sie herabzublicken. Clary fragte sich, wo sie war – lag über ihr immer noch Paris oder hatte sie eine völlig andere Welt betreten, so wie beim Besuch der Stadt der Stille? Ihre Gedanken kehrten zu Jace zurück, den sie schlafend zurückgelassen hatte… in einem scheinbar anderen Leben.

Sie tat das alles für ihn, ermahnte sie sich – um ihn zurückzugewinnen. Entschlossen trat sie durch den Torbogen in den dahinterliegenden Gang und presste sich instinktiv an die Wand. Auf diese Weise schlich sie geräuschlos weiter, den Stimmen entgegen, die lauter und lauter wurden. Im Gang war es dämmrig, aber nicht vollkommen dunkel. Alle paar Meter brannte eine weitere dieser grünlichen Fackeln, die einen verkohlten Geruch verbreiteten.

Plötzlich öffnete sich ein Durchgang in der Wand links von Clary und die Stimmen schwollen an.

»… nicht wie sein Vater«, krächzte eine Stimme, so rau wie Schleifpapier. »Valentin hätte sich überhaupt nicht mit uns abgegeben. Er hätte uns alle zu Sklaven gemacht. Aber der hier der wird uns diese Welt übergeben.«

Mit äußerster Vorsicht spähte Clary um die Ecke des Durchgangs.

Der dahinterliegende Raum war kahl, mit glatten Steinwänden und ohne jegliches Mobiliar. Eine Gruppe von Dämonen stand in der Raummitte – echsenartige Wesen mit ledriger grünbrauner Haut, aber sechs tentakelähnlichen Beinen, die ein trockenes, raschelndes Geräusch auf dem Boden erzeugten. Schwarze Facettenaugen ragten aus den knollendicken Köpfen hervor.

Clary musste schlucken. Der Anblick erinnerte sie an den Ravener – den ersten Dämon, den sie in ihrem Leben zu sehen bekommen hatte. Irgendetwas an der grotesken Mischung aus Echse, Insekt und Außerirdischem drehte ihr den Magen um. Sie drückte sich noch enger an die Wand und lauschte angespannt.

»Das heißt, sofern man ihm trauen kann.« Es ließ sich schwer sagen, welcher der Dämonen gerade sprach. Ihre Beine waren in ständiger Bewegung und hoben und senkten ihre bauchigen Rümpfe. Sie schienen keine Lippen, sondern Büschel kleinerer Tentakeln zu besitzen, die beim Reden vibrierten.

»Die Große Mutter hat ihm vertraut. Er ist ihr Kind.«

Sebastian. Natürlich sprachen sie von Sebastian.

»Aber er ist auch ein Nephilim. Und die sind unsere größten Feinde.«

»Sie sind auch seine Feinde. Schließlich trägt er Liliths Blut in sich.«

»Aber derjenige, den er als seinen Gefährten bezeichnet, trägt das Blut unserer Feinde in sich. Er gehört zu den Engeln.« Das letzte Wort wurde mit so viel Hass ausgestoßen, dass Clary es fast wie einen Schlag ins Gesicht empfand.

»Liliths Kind hat uns versichert, dass er ihn vollständig in der Hand habe, und er scheint in der Tat sehr gehorsam zu sein.«

Einer der Dämonen stieß ein trockenes, eigentümlich knackendes Lachen aus. »Ihr jungen Dinger macht euch viel zu viel Sorgen. Die Nephilim haben uns diese Welt zu lange vorenthalten. Sie ist voll von Schätzen. Wir werden sie aussaugen und in Schutt und Asche zurücklassen. Und was den kleinen Engelsknaben betrifft: Er wird als Letzter seiner Art sterben. Wir werden ihn auf einem Scheiterhaufen verbrennen, bis er zu goldenen Gebeinen verglüht.«

Ohnmächtige Wut kochte in Clary hoch und sie schnappte nach Luft – ein winziges Geräusch, aber dennoch ein Geräusch. Der Dämon, der ihr am nächsten stand, hob ruckartig den Kopf. Einen Moment erstarrte Clary, wie gefangen im funkelnden Blick seiner spiegelnden schwarzen Augen.

Dann wirbelte sie herum und lief los. Stürmte in Richtung Torbogen und Treppenhaus zurück, um hinauf in die Dunkelheit zu fliehen. Hinter ihr wurde es laut, das wütende Kreischen der Kreaturen und eine Sekunde später das Rutschen und Rascheln ihrer Beine, als sie die Verfolgung aufnahmen. Hektisch warf Clary einen einzigen Blick über die Schulter und erkannte, dass sie es nicht schaffen würde. Trotz ihres Vorsprungs waren die Dämonen ihr bereits dicht auf den Fersen.

Clary konnte ihren eigenen keuchenden Atem hören. Dann erreichte sie endlich den Torbogen, wirbelte herum und sprang hoch, um sich mit beiden Händen daran festzuhalten. Sie schwang sich mit aller Kraft vorwärts und traf den ersten Dämon mit ihren Stiefeln, der daraufhin schrill kreischend zurücktaumelte. Während Clary sich mit einer Hand am Torbogen festhielt, griff sie mit der anderen nach dem Stiel einer der beiden Äxte und riss daran.

Doch der bewegte sich keinen Millimeter.

Clary schloss die Augen, umfasste den Stiel noch fester und zog mit aller Kraft daran.

Mit einem knirschenden Geräusch löste sich die Axt schließlich aus dem Mauerwerk und ein Hagel aus Gestein und Mörtel folgte. Einen Moment lang verlor Clary das Gleichgewicht und landete in der Hocke auf dem Boden, die Axt vor sich ausgestreckt. Die Waffe musste ziemlich schwer sein, doch sie spürte das Gewicht kaum. Denn in diesem Moment geschah genau dasselbe, was auch im Trödelladen passiert war: Die Zeit schien wieder langsamer zu vergehen und ihre Wahrnehmung war deutlich erhöht. Sie konnte jeden Lufthauch auf ihrer Haut spüren und jede Unebenheit unter ihren Füßen. Entschlossen wappnete sie sich, als der erste der Dämonen durch den Torbogen krabbelte, sich wie eine Tarantel aufbäumte und mit den Beinen durch die Luft peitschte. Unterhalb der Tentakel in seinem Gesicht befanden sich zwei lange Fangzähne, von denen Gift tropfte.

Die Axt in Clarys Hand schien sich wie von selbst zu bewegen und bohrte sich tief in den Brustkorb der Kreatur. Unwillkürlich musste Clary daran denken, dass Jace ihr geraten hatte, nicht auf das Herz zu zielen, sondern zu versuchen, dem Dämon den Schädel abzutrennen. Denn nicht alle dieser Kreaturen besaßen ein Herz. Doch in diesem Fall hatte Clary Glück. Offenbar hatte sie das Herz oder ein anderes wichtiges Organ getroffen: Der Dämon schrie gellend auf und schlug um sich, Blut quoll aus der Wunde und dann löste er sich so plötzlich in Luft auf, dass Clary einen Schritt zurück machte, die schleimige Waffe in der erhobenen Hand. Das Blut der Kreatur schimmerte schwarz und stank grässlich, wie Teer.

Als der nächste Dämon zum Angriff überging, duckte Clary sich blitzschnell, schwang die Axt und durchtrennte mehrere seiner Beine. Mit einem schrillen Heulen kippte er zur Seite, wie ein zerbrochener Stuhl, während bereits die nächste Kreatur über seinen Rumpf krabbelte, um sich auf Clary zu stürzen. Erneut holte Clary aus und ihre Axt bohrte sich in das Gesicht des Wesens. Heißes Wundsekret sprühte in alle Richtungen, doch Clary wich geschickt aus und drückte sich gegen die Wand des Treppenhauses. Wenn es einem der Dämonen gelang, hinter ihr die Stufen zu erklimmen, war sie verloren, schoss es ihr durch den Kopf.

Rasend vor Wut attackierte sie der Dämon mit dem gespaltenen Gesicht erneut. Clary schwang die Axt und durchtrennte eines seiner Beine, aber eine der anderen Tentakeln wickelte sich um ihr rechtes Handgelenk. Ein schneidender Schmerz jagte durch ihren Arm. Sie schrie auf und versuchte, ihre Hand loszureißen, doch der Griff des Dämons war zu fest. Clary hatte das Gefühl, als würden sich Tausende glühender Nadeln in ihre Haut bohren. Schreiend vor Schmerz holte sie mit dem linken Arm aus und rammte ihm die Faust ins Gesicht, genau in die Wunde, die ihre Axt zuvor geschlagen hatte. Der Dämon stieß ein Zischen aus und lockerte einen Augenblick lang seinen Griff um ihr Handgelenk. Mit einem Ruck riss Clary ihre Hand los, als er sich auch schon über ihr aufbäumte…

… und eine schimmernde Klinge wie aus dem Nichts auf ihn herabfuhr und ihm den Schädel spaltete. Sprachlos sah Clary zu, wie sich der Dämon in Luft auflöste – und dann entdeckte sie ihren Bruder, ein leuchtendes Seraphschwert in der Hand, während sich dunkles Dämonensekret auf seinem Hemd verteilte. Hinter ihm lag nur noch der zuckende Rumpf einer einzigen Kreatur, aus deren Beinstümpfen schwarzes Blut pulsierte, wie Öl aus einem zertrümmerten Wagen; alle anderen Dämonen waren beseitigt.

Sebastian. Verwundert starrte Clary ihn an. Hatte er ihr gerade das Leben gerettet?

»Geh weg, lass mich in Ruhe, Sebastian«, fauchte sie.

Doch er schien sie nicht zu hören. »Dein Arm.«

Rasch warf Clary einen Blick auf ihre rechte Hand, die vor Schmerz pochte. Ein breites Band kreisförmiger Wunden wand sich um ihr Gelenk, dort, wo sich die Saugnäpfe des Dämons an ihre Haut geheftet hatten. Die Wunden verfärbten sich bereits und schillerten blauschwarz.

Clary schaute zu ihrem Bruder hoch. Seine weißen Haare strahlten wie ein Heiligenschein in der Dunkelheit. Vielleicht lag das aber auch daran, dass sie nicht mehr richtig sehen konnte. Auch um die grünlich brennende Fackel und die leuchtende Seraphklinge in Sebastians Hand bildeten sich bereits verschwommene Lichtkreise. Er redete mit ihr, aber seine Worte klangen undeutlich, als spräche er unter Wasser.

»… tödliches Gift«, sagte er in diesem Moment. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, Clarissa?« Seine Stimme kam und ging und Clary hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren. »… sechs Dahak-Dämonen mit einer Zieraxt zu bekämpfen…«

»Gift«, wiederholte Clary und einen Augenblick war Sebastians Gesicht wieder deutlich zu erkennen: verkniffene Falten um einen angespannten Mund, Bestürzung in den Augen. »Dann hast du mir wohl doch nicht das Leben gerettet, oder?«, murmelte sie noch, ehe ihre Hand unkontrolliert zu zucken begann und die Axt aus ihren Fingern glitt. Clary spürte, wie sich ihr Sweatshirt am rauen Putz verfing, während sie langsam an der Wand herunterrutschte. Sie wollte sich hinlegen, einfach nur noch auf den Boden legen und schlafen, doch Sebastian hinderte sie daran. Er fing sie auf und hob sie hoch, wobei er ihren unverletzten Arm um seinen Hals legte. Am liebsten hätte Clary sich von ihm befreit und ihn fortgedrückt, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Dann nahm sie einen brennenden Schmerz auf der Innenseite ihres Ellbogens wahr – die Spitze einer Stele. Ein taubes Gefühl breitete sich über ihre Adern im ganzen Körper aus. Und das Letzte, was sie sah, bevor ihr die Augen zufielen, war der Totenschädel auf dem Torbogen. Clary hätte schwören können, dass seine leeren Augenhöhlen sie spöttisch auslachten.

15 Magdalena

Übelkeit und Schmerzen wechselten sich in immer kürzeren Abständen ab. Clary konnte nur noch verschwommene Farben um sich herum wahrnehmen. Sie wusste, dass ihr Bruder sie trug; jeder seiner Schritte dröhnte in ihrem Kopf wie ein Schlag mit einem Eispickel. Und sie wusste auch, dass sie sich an ihn klammerte und seine kräftigen Arme sie beruhigten. Es erschien ihr bizarr, dass irgendetwas an Sebastian beruhigend sein konnte und er sich scheinbar Mühe gab, sie beim Gehen nicht allzu sehr durchzuschütteln. Wie aus großer Ferne nahm sie wahr, dass sie rasselnd nach Luft schnappte und ihr Bruder ihren Namen rief.

Danach wurde alles still. Einen Moment dachte Clary, jetzt sei alles vorbei: Sie war gestorben… im Kampf gegen Dämonen, so wie die meisten Schattenjäger. Dann spürte sie ein weiteres Brennen auf der Innenseite ihres Arms und ein Schwall flüssiges Eis schien durch ihre Adern zu schießen. Sie kniff die Augen fest zusammen, um gegen den Schmerz anzukämpfen. Doch Sebastians Kältebehandlung oder was auch immer er getan hatte, wirkte wie eiskaltes Wasser, das ihr mit Schwung ins Gesicht geschüttet wurde. Die Welt hörte allmählich auf, sich wie wild zu drehen, und Übelkeit und Schmerzen ebbten langsam ab, bis sie im Strom ihres Blutes nur noch dahinplätscherten. Endlich bekam Clary wieder Luft.

Keuchend schlug sie die Augen auf.

Blauer Himmel.

Sie lag auf dem Rücken und starrte hinauf in einen endlosen blauen Himmel, nur durchsetzt von watteweißen Wölkchen – wie das gemalte Firmament an der Decke der Krankenstation im Institut. Vorsichtig streckte sie ihre schmerzenden Arme aus. Ihr rechtes Handgelenk zeigte noch die Saugwunden des Dämons, allerdings waren sie bereits zu einem zarten Rosa verblasst. Auf ihrem linken Unterarm schimmerten die verschwommenen Konturen einer Iratze und in ihrer Ellbogenbeuge erkannte sie eine Mendelin-Rune, die nicht nur vorübergehend unsichtbar machen konnte, sondern auch Schmerzen linderte.

Clary atmete tief ein. Herbstluft, angereichert mit dem Geruch von Laub. Sie konnte die Baumkronen sehen, nahm das Rauschen des Verkehrs wahr und…

Sebastian.

Im nächsten Moment hörte sie ein leises Lachen. Clary erkannte, dass sie nicht auf dem Boden lag, sondern im Schoß ihres Bruders ruhte – Sebastian, der sich warm anfühlte, ruhig und gleichmäßig atmete und ihren Kopf hielt. Der Rest ihres Körpers lag lang ausgestreckt auf einer taunassen Holzbank. Ruckartig setzte sie sich auf.

Sebastian lachte erneut; er saß am Rand der Sitzbank, gegen die kunstvoll geschmiedete Seitenlehne gestützt und einen Arm auf der Rückenlehne der Bank. Auf seinem Schoß – dort, wo Clary gerade noch gelegen hatte – befand sich sein zusammengefalteter Schal. Sebastian hatte sein weißes Hemd aufgeknöpft, um die Dämonenflecken darauf zu verbergen; darunter trug er ein schlichtes graues T-Shirt. Das silberne Armband glitzerte an seinem Handgelenk. Seine schwarzen Augen musterten Clary belustigt, als sie hastig von ihm fortrutschte. »Ein Glück, dass du so zierlich bist«, bemerkte er. »Wenn du viel größer wärst, hätte es ziemlich anstrengend werden können, dich durch die Gegend zu schleppen.«

Clary bemühte sich um eine ruhige Stimme: »Wo sind wir?«

»Im Jardin du Luxembourg«, erklärte Sebastian. »Eine der Pariser Parkanlagen – wirklich schön hier. Ich musste dich ja irgendwohin bringen, wo du dich ausruhen konntest. Dich mitten auf der Straße liegen zu lassen, schien mir keine gute Idee zu sein.«

»Ja, dafür gibt’s ein Wort… wenn man jemanden mitten auf der Straße liegen und sterben lässt: Fahrerflucht mit fahrlässiger Tötung.«

»Das sind vier Worte und soweit ich weiß, ist es nur dann tatsächlich Fahrerflucht, wenn man den Betreffenden persönlich überfahren hat.« Sebastian rieb sich die Hände, als wollte er sie wärmen. »Aber davon mal abgesehen: Warum sollte ich dich mitten auf der Straße sterben lassen, nachdem ich mir so viel Mühe gemacht habe, dir das Leben zu retten?«

Clary musste schlucken und warf einen Blick auf ihren Arm. Die Wunden waren inzwischen noch weiter verblasst. Wenn man nicht genau wusste, wo der Dämonententakel sie erwischt hatte, würde man die Stellen wahrscheinlich überhaupt nicht mehr erkennen. »Und warum hast du das getan?«

»Warum hab ich was getan?«

»Mir das Leben gerettet.«

»Du bist meine Schwester.«

Erneut musste Clary schlucken. In der Morgendämmerung hatte Sebastians Gesicht etwas mehr Farbe bekommen. Verblassende Brandwunden schimmerten an seinem Hals, dort, wo das Dämonensekret ihn getroffen hatte. »Du hast dich doch bisher nicht dafür interessiert, dass ich deine Schwester bin«, sagte sie leise.

»Ach nein?« Seine schwarzen Augen musterten sie von Kopf bis Fuß.

Plötzlich erinnerte Clary sich wieder daran, wie Jace sie nach dem Angriff des Ravener in ihrem Elternhaus gefunden hatte. Der Dämon hatte sie mit seinem tödlichen Giftstachel erwischt und Jace hatte sie geheilt – genau wie Sebastian – und sie auf dieselbe Weise an einen sicheren Ort getragen. Vielleicht ähnelten Jace und Sebastian einander ja doch mehr, als sie wahrhaben wollte – und zwar schon seit Langem, noch bevor Liliths Beschwörungsformel die beiden miteinander verbunden hatte.

»Unser Vater ist tot«, sagte Sebastian. »Andere Verwandte gibt es nicht. Du und ich, wir sind die letzten. Die letzten der Familie Morgenstern. Du bist meine letzte Chance, jemanden zu finden, in dessen Adern dasselbe Blut fließt wie in meinen.«

»Du hast gewusst, dass ich dir gefolgt bin«, stellte Clary fest.

»Selbstverständlich.«

»Und du hast mich nicht daran gehindert.«

»Ich wollte sehen, wie weit du gehen würdest. Und ich muss gestehen, ich hatte nicht damit gerechnet, dass du mir die Treppe hinunter folgen würdest. Du bist mutiger, als ich dachte.« Er nahm den Schal, der noch immer auf seinem Schoß lag, und wickelte ihn sich um den Hals. Der Park füllte sich allmählich mit Besuchern: Touristen mit Stadtplänen in den Händen, Eltern mit kleinen Kindern im Schlepptau, alte Männer, die sich auf den anderen Bänken niederließen und eine Pfeife rauchten. »Aber diesen Kampf hättest du niemals gewinnen können«, fügte Sebastian hinzu.

»Vielleicht ja doch.«

Er grinste, ein kurzes schiefes Grinsen. »Vielleicht.«

Clary streifte mit ihren Stiefeln durch das taufeuchte Gras unter der Bank. Sie würde sich bei Sebastian nicht bedanken. Für gar nichts. »Warum gibst du dich mit Dämonen ab?«, fragte sie stattdessen fordernd. »Ich hab gehört, wie sie über dich geredet haben. Ich weiß, was du vorhast…«

»Nein, das weißt du nicht.« Sebastians Grinsen war schlagartig verschwunden und in seinem typischen, überheblichen Ton fuhr er fort: »Erstens waren das nicht die Dämonen, mit denen ich Kontakt hatte, sondern lediglich ihre Wachen. Deshalb befanden sie sich in einem anderen Raum und deswegen war ich auch nicht dort. Dahak-Dämonen sind nicht besonders clever, dafür aber bösartig und zäh, also gut zur Verteidigung geeignet. Und aus diesem Grund wussten sie nicht, was wirklich Sache ist. Sie haben einfach nur irgendwelchen Tratsch wiederholt, den sie von ihren Gebietern aufgeschnappt haben. Dämonenfürsten. Mit denen hatte ich ein Treffen.«

»Und mit diesem Wissen soll ich mich jetzt besser fühlen?«

Sebastian beugte sich in Clarys Richtung. »Mir geht es nicht darum, dass du dich besser fühlst. Ich versuche lediglich, dir die Wahrheit mitzuteilen.«

»Die Wahrheit? Kein Wunder, dass es so aussieht, als hättest du eine allergische Reaktion«, bemerkte Clary, auch wenn das nicht ganz stimmte. Denn Sebastian wirkte aufreizend ruhig, obwohl seine angespannte Kiefermuskulatur und sein pulsierender Herzschlag an der Schläfe verrieten, dass er nicht ganz so gelassen war, wie er vorgab. »Die Dahak haben gesagt, du würdest diese Welt den Dämonen übergeben«, fügte sie hinzu.

»Und, klingt das etwa nach mir? Würde ich so etwas tun?«

Clary warf ihm nur einen kühlen Blick zu.

»Hattest du nicht gesagt, du wolltest mir eine Chance geben?«, bemerkte Sebastian. »Ich bin nicht mehr der Junge, der ich noch in Alicante war.« Er schaute sie ruhig an. »Außerdem bin ich nicht der Einzige aus deinem Bekanntenkreis, der an Valentin geglaubt hat. Er war mein Vater. Unser Vater. Und es ist nicht leicht, die Dinge infrage zu stellen, mit denen man aufgewachsen ist.«

Mürrisch verschränkte Clary die Arme vor der Brust; die Luft war klar, aber kalt, mit einer winterlich frostigen Note. »Kann sein.«

»Valentin hat sich geirrt«, fuhr Sebastian fort. »Er war so davon besessen, welch großes Unrecht der Rat ihm angeblich angetan hatte, dass er an nichts anderes mehr denken konnte, als den Ratsmitgliedern zu beweisen, dass er recht hatte. Er wollte, dass der Engel erschien und ihnen mitteilte, dass er, Valentin, Jonathan Shadowhunters rechtmäßiger Nachfolger sei… dass er ihr Anführer sei und dass sein Weg der richtige wäre.«

»Tja, aber dann ist es doch etwas anders gekommen.«

»Ich weiß, was passiert ist. Lilith hat mir davon erzählt«, erwiderte Sebastian leichthin, als wären Gespräche mit der Mutter aller Hexenwesen vollkommen normal. »Bild dir ja nicht ein, Raziel hätte aus tiefem Mitgefühl gehandelt, Clary. Engel sind kalt wie Eis. Raziel war zornig, weil Valentin den Auftrag aller Nephilim vergessen hatte.«

»Und der wäre?«

»Dämonen zu töten. Das ist unsere Aufgabe. Du hast doch bestimmt davon gehört, dass in den letzten Jahren immer mehr Dämonen in diese Welt eingedrungen sind, oder? Und dass wir keine Ahnung haben, wie wir sie daran hindern sollen?«

Vage erinnerte Clary sich an etwas, das Jace ihr einmal gesagt hatte… vor einer gefühlten Ewigkeit, als sie zum ersten Mal gemeinsam zur Stadt der Stille gefahren waren. Wir könnten sie vielleicht aufhalten und verhindern, dass sie hierherkommen, aber bisher ist es niemandem gelungen herauszufinden, wie das gehen soll. Inzwischen kommen immer mehr. Früher gab es nur kleine Invasionen von Dämonen, mit denen man leicht fertig werden konnte. Aber allein seit dem Jahr meiner Geburt sind mehr Dämonen durch die Schranken gedrungen als in allen Jahren davor zusammengenommen. Der Rat muss ständig Schattenjäger entsenden und sehr oft kehren sie nicht zurück.

»Uns steht ein grausamer Krieg gegen die Dämonen bevor und der Rat ist kein bisschen darauf vorbereitet«, verkündete Sebastian. »In dieser Hinsicht hatte mein Vater absolut recht. Die Ratsmitglieder sind zu festgefahren in ihren Vorstellungen, um warnende Stimmen zu hören und sich selbst noch verändern zu können. Ich wünsche mir zwar nicht die Vernichtung aller Schattenweltler, so wie Valentin es gefordert hat, aber manchmal fürchte ich, dass die Verblendung des Rats noch einmal den Untergang dieser Welt bedeuten wird – der Welt, die die Nephilim beschützen sollen.«

»Willst du mir ernsthaft weismachen, es würde dich interessieren, ob diese Welt zerstört wird?«

»Na ja, schließlich lebe ich hier«, gab Sebastian deutlich sanfter zu bedenken, als Clary gedacht hätte. »Und manchmal erfordern extreme Situationen nun einmal extreme Maßnahmen. Um den Feind zu vernichten, kann es notwendig sein, ihn besser zu verstehen und sogar mit ihm zu verhandeln. Wenn ich diese Dämonenfürsten dazu bringen kann, mir zu vertrauen, dann kann ich sie auch hierherlocken, wo sie vernichtet werden können… sie und ihre Anhänger. Dann würde sich das Blatt wenden. Von da an werden alle Dämonen wissen, dass diese Welt keine so leichte Beute ist, wie sie sich das vorstellen.«

Clary schüttelte den Kopf. »Und das alles willst du allein durchziehen? Nur du und Jace? Versteh mich nicht falsch: Du kannst zwar ziemlich einschüchternd sein, aber nicht einmal ihr beide gemeinsam hättet eine Chance…«

Sebastian stand auf. »Du kannst dir wirklich nicht vorstellen, dass ich die Sache vollständig durchdacht haben könnte, stimmt’s?« Er schaute auf Clary hinab; der Herbstwind wehte ihm die weißblonden Haare ins Gesicht. »Dann komm mal mit. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Clary zögerte. »Jace…«

»Schläft noch. Vertrau mir, ich weiß es einfach.« Sebastian streckte seine Hand aus. »Komm mit mir, Clary. Wenn ich dich schon nicht davon überzeugen kann, dass ich einen Plan habe, kann ich es dir ja vielleicht beweisen.«

Unschlüssig starrte Clary ihn einen Moment an, während ihr zahlreiche Bilder wie buntes Konfetti durch den Kopf wirbelten: der Trödelladen in Prag; ihr Goldring, der sich scheinbar in nichts aufgelöst hatte; Jace, der sie in dem Alkoven des Nachtclubs an sich gepresst hatte; die Wasserbecken mit den darin treibenden Leichen; Sebastian mit einer leuchtenden Seraphklinge in der Hand.

Vielleicht kann ich es dir ja beweisen.

Entschlossen nahm sie seine Hand und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen.

Nach kurzer Diskussion kamen Magnus und die anderen zu dem Beschluss, dass man einen abgeschiedenen Ort benötigte, um Raziel herbeizurufen. »Schließlich können wir keinen zwanzig Meter großen Engel mitten im Central Park erscheinen lassen«, bemerkte Magnus trocken. »Das würde möglicherweise Aufmerksamkeit erregen – selbst in New York.«

»Raziel ist zwanzig Meter groß?«, fragte Isabelle; sie lungerte in einem Sessel, den sie sich an den Tisch gezogen hatte. Dunkle Ringe unter ihren Augen zeugten davon, wie erschöpft sie war – genau wie Alec, Magnus und Simon.

Sie alle saßen seit Stunden zusammen und hatten etliche von Magnus’ uralten Büchern gewälzt, deren Seiten so dünn waren wie Luftpostpapier. Sowohl Isabelle als auch Alec beherrschten Griechisch und Latein und Alec besaß ein recht umfassendes Wissen über Dämonensprachen, aber dennoch blieben viele Werke übrig, die nur Magnus verstand. Maia und Jordan, denen bewusst geworden war, dass sie an anderer Stelle mehr gebraucht wurden, waren zur alten Polizeiwache zurückgekehrt, um sich nach Lukes Gesundheitszustand zu erkundigen. Simon hatte ebenfalls versucht, sich auf andere Weise nützlich zu machen: Er hatte für Gebäck und Kaffee gesorgt, auf Magnus’ Anweisung Symbole aus den Büchern abgezeichnet, zusätzliche Stifte und Papier geholt und sogar Miau Tse-tung gefüttert, der ihm seine Mühe dadurch dankte, dass er ein Haarknäuel hochwürgte und auf Magnus’ Küchenboden ausspuckte.

»Genau genommen, ist er nur neunzehn Meter groß, aber er übertreibt gern«, erwiderte Magnus. Die Müdigkeit trug nicht gerade zur Verbesserung seiner Laune bei. Seine Haare waren verfilzt und standen steil nach oben und an seinen Händen klebte Glitter, seit er sich ausgiebig die Augen gerieben hatte. »Raziel ist ein Engel, Isabelle. Hast du denn gar nichts im Unterricht gelernt?«

Verärgert schnalzte Isabelle mit der Zunge. »Valentin hat einen Engel in seinem Keller herbeibeschworen. Daher wüsste ich nicht, wofür du den ganzen Platz brauchst…«

»Ich brauche den Platz, weil Valentin einfach VIEL COOLER war als ich«, fauchte Magnus und ließ seinen Stift fallen. »Hör zu, ich…«

»Brüll meine Schwester nicht an«, unterbrach Alec ihn ruhig, aber bestimmt. Verwundert warf Magnus ihm einen Blick zu, doch Alec fuhr fort: »Isabelle, die Größe der Engel hier auf Erden hängt von ihrer himmlischen Macht ab. Der Engel, den Valentin herbeibeschworen hat, war rangniederer als Raziel. Und wenn man einen Engel von noch höherem Rang rufen wollte, wie beispielsweise Michael oder Gabriel…«

»Ich wäre gar nicht in der Lage, eine Beschwörungsformel zu kreieren, die sie binden könnte, nicht einmal für einen kurzen Moment«, räumte Magnus in gedämpftem Ton ein. »Wir haben Raziel unter anderem deswegen ausgesucht, weil wir hoffen, dass er als Schöpfer der Schattenjäger ein besonderes Mitgefühl – oder überhaupt Mitgefühl – mit eurer Situation empfindet. Außerdem besitzt er ungefähr den richtigen Rang. Ein Engel mit geringerer Machtbefugnis könnte uns vielleicht gar nicht helfen, während ein deutlich mächtigerer Engel… na ja, wenn da irgendetwas schiefginge…«

»Dann wäre ich möglicherweise nicht der Einzige, der dabei sein Leben verliert«, ergänzte Simon.

Magnus zog eine betretene Miene und Alec blickte starr auf die Papiere und Bücher, die über den Tisch verstreut lagen. Dagegen schob Isabelle ihre Hand über Simons Finger. »Ich kann kaum glauben, dass wir hier sitzen und tatsächlich darüber reden, einen Engel herbeizurufen«, sagte sie. »Mein ganzes Leben lang haben wir Eide auf den Namen des Engels geschworen. Und wir wissen, dass unsere Kraft direkt von den Engeln stammt. Aber der Gedanke, tatsächlich einen zu Gesicht zu bekommen… ich kann’s mir einfach nicht vorstellen. Jedes Mal, wenn ich versuche, darüber nachzudenken, setzt mein Verstand aus… das Ganze ist einfach unvorstellbar.«

Stille breitete sich am Tisch aus. Magnus’ Augen funkelten so dunkel, dass Simon sich fragte, ob er je einen Engel gesehen hatte. Einen Moment überlegte er, ob er ihn fragen sollte. Doch dann wurde ihm die Entscheidung abgenommen, als plötzlich sein Mobiltelefon brummte.

»Entschuldigt mich ’ne Sekunde«, murmelte er und erhob sich. Er klappte das Handy auf, lehnte sich gegen einen der Stützpfeiler und warf einen Blick auf das Display: eine SMS von Maia.

GUTE NACHRICHTEN: LUKE IST AUFGEWACHT UND ANSPRECHBAR. SIEHT SO AUS, ALS WÄRE ER ÜBER DEN BERG.

Enorme Erleichterung erfasste Simon. Endlich einmal positive Nachrichten! Er klappte das Telefon zu und berührte den Ring an seiner Hand. Clary?

Keine Antwort.

Simon schluckte nervös und versuchte, sich zu beruhigen. Wahrscheinlich schlief Clary noch. Als er aufschaute, sah er, dass die drei ihn gespannt anblickten.

»Wer war das?«, fragte Isabelle.

»Maia. Sie schreibt, Luke ist wach und ansprechbar. Und dass er wohl überleben wird.« Während die anderen ihrer Erleichterung Luft machten und durcheinanderredeten, starrte Simon weiterhin auf den Ring an seiner Hand. »Das bringt mich auf eine Idee«, murmelte er.

Im gleichen Moment war Isabelle aufgesprungen und auf ihn zugekommen, aber bei diesen Worten hielt sie inne und musterte ihn besorgt. Simon konnte es ihr nicht verübeln – in letzter Zeit waren seine Ideen schlichtweg selbstmörderisch gewesen. »Was für eine Idee?«, erkundigte sie sich.

»Was genau brauchen wir, um Raziel herbeizurufen? Wie viel Platz ungefähr?«, fragte Simon.

Magnus beugte sich über eines der Bücher. »Einen Umkreis von mindestens einer Meile. Wasser wäre gut. Wie beim Lyn-See…«

»Lukes alte Farm im Norden«, sagte Simon. »Etwa ein oder zwei Stunden von der Stadt entfernt. Wahrscheinlich hat er sie bereits winterfest gemacht, aber ich weiß, wie man hinkommt. Und da gibt es auch einen See. Zwar nicht so groß wie der Lyn-See, aber immerhin…«

Entschlossen klappte Magnus das Buch zu, das er in den Händen hielt. »Keine schlechte Idee, Seamus.«

»Ein oder zwei Stunden entfernt?«, hakte Isabelle nach und warf einen Blick auf die Uhr. »Wenn wir jetzt aufbrechen, könnten wir…«

»Oh, nein!«, unterbrach Magnus sie resolut und schob das Buch von sich weg. »Deine grenzenlose Begeisterung ist wirklich sehr beeindruckend, Isabelle, aber ich bin viel zu erschöpft, um jetzt eine derartige Beschwörungsformel zu sprechen. Und glaub mir: Dabei darf ich absolut kein Risiko eingehen. Da stimmt ihr mir vermutlich alle zu.«

»Also wann dann?«, fragte Alec.

»Wir brauchen erst einmal ein paar Stunden Schlaf«, erklärte Magnus. »Ich schlage vor, wir brechen am frühen Nachmittag auf. Sherlock – entschuldige, Simon – ruf Jordan an und frag ihn, ob du seinen Transporter leihen kannst. Und jetzt…«, verkündete er und schob die Papiere beiseite, »werde ich mich aufs Ohr hauen. Isabelle, Simon, ihr seid herzlich eingeladen, noch mal das Gästezimmer zu benutzen, wenn ihr wollt.«

»Getrennte Zimmer wären besser«, murmelte Alec.

Isabelle warf Simon mit ihren dunklen Augen einen fragenden Blick zu, doch er tastete bereits nach dem Handy in seiner Jackentasche. »Okay«, sagte er. »Ich bin dann gegen zwölf wieder hier, aber in der Zwischenzeit muss ich noch was Wichtiges erledigen.«

Paris bei Tage war eine Stadt aus engen, geschwungenen Gassen und breiten Alleen, mit goldbraun schimmernden Gebäuden und schieferfarbenen Dächern und einem glitzernden Fluss, der die Metropole wie eine Narbe zerschnitt. Nach seiner Behauptung, er könne Clary beweisen, dass er einen Plan habe, redete Sebastian kaum mehr. Gerade gingen sie durch eine Straße, die von Kunstgalerien und Antiquariaten gesäumt war, und dann erreichten sie endlich den Quai des Grands Augustins, am Rande der Seine.

Ein kalter Wind wehte vom Fluss herauf und Clary fröstelte. Sebastian nahm seinen Schal ab und reichte ihn ihr. In dem schwarz-weiß gesprenkelten Tweed-Gewebe hing noch die Wärme seiner Haut. »Zieh ihn an«, forderte er Clary auf. »Dir ist doch kalt. Also sei vernünftig.«

Clary wickelte sich den Schal um den Hals. »Danke«, sagte sie automatisch und zuckte dann zusammen. Jetzt war es passiert: Sie hatte Sebastian gedankt. Irgendwie rechnete sie damit, dass gleich ein Blitz aus den Wolken zucken und sie tödlich treffen würde. Doch nichts dergleichen geschah.

Sebastian warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Alles in Ordnung? Du siehst aus, als müsstest du niesen.«

»Mir geht’s gut«, winkte Clary ab. Der Schal roch nach zitronigem Eau de Toilette und nach jungem Mann. Wonach hätte das Tweed-Gewebe auch sonst riechen sollen? Sie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte.

Gemeinsam setzten sie sich wieder in Bewegung, wobei Sebastian sein Tempo dem von Clary anpasste und langsam neben ihr herging. Diesmal erzählte er ihr, dass die Pariser Stadtbezirke nummeriert waren und sie gerade vom sechsten ins fünfte Arrondissement wechselten, das unter anderem das Quartier Latin umfasste. Und dass es sich bei der Brücke, die die Seine in der Ferne überspannte, um die Pont Saint-Michel handelte. Während sie weitergingen, bemerkte Clary, dass ihnen unglaublich viele junge Leute entgegengeschlendert kamen. Mädchen in ihrem Alter oder älter, unfassbar stylisch in eng anliegenden Hosen und himmelhohen Pumps, die langen Haare im Wind wehend. Nicht wenige warfen Sebastian im Vorbeigehen bewundernde Blicke zu, doch das schien er nicht zu bemerken.

Jace hätte es registriert, überlegte Clary. Sebastian war wirklich auffallend mit seinen weißblonden Haaren und den schwarzen Augen. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn als attraktiv eingeschätzt – nur damals hatte er die Haare schwarz getönt, was ihm eigentlich nicht stand. Mit seiner natürlichen hellen Haarfarbe sah er besser aus, da seine Haut dadurch ein wenig Farbe bekam und der Blick auf seine leicht geröteten Wangenknochen und seine elegante Gesichtsform gelenkt wurde. Außerdem besaß ihr Bruder außergewöhnlich lange Wimpern, eine Nuance dunkler als seine Haare und an den Spitzen leicht nach oben geschwungen, genau wie Jocelyn – das war so unfair. Warum hatte nicht sie die langen, geschwungenen Wimpern in der Familie geerbt? Und weshalb hatte Sebastian nicht eine einzige Sommersprosse abbekommen?

»Also«, sagte Clary abrupt und unterbrach ihn mitten im Satz, »was sind wir?«

Sebastian warf ihr einen verwunderten Seitenblick zu. »Was meinst du mit: ›Was sind wir?‹«

»Du hast gesagt, wir beide wären die letzten der Familie Morgenstern. Und Morgenstern ist ein deutscher Name«, erklärte Clary. »Also was sind wir? Sind wir deutscher Herkunft? Was ist passiert? Warum gibt es niemanden mehr außer uns?«

»Du weißt echt nichts über Valentins Familie?«, fragte Sebastian ungläubig. Er war an der Kaimauer stehen geblieben, die entlang der Seine verlief. »Hat deine Mutter dir denn gar nichts erzählt?«

»Erstens: Sie ist auch deine Mutter. Und zweitens: Nein, sie hat mir nichts erzählt. Valentin gehört nicht gerade zu ihren Lieblingsthemen.«

»Schattenjägernamen sind aus mehreren Worten zusammengesetzt«, erläuterte Sebastian, während er auf die Kaimauer kletterte. Dann streckte er Clary eine Hand entgegen und nach kurzem Zögern ließ sie sich von ihm auf die Mauer hinaufhelfen. Die Seine floss graugrün unter ihnen, während flache Ausflugsboote in gemächlichem Tempo vorbeizogen. »Fair-child, Light-wood, White-law. Morgen-stern. Das ist zwar ein deutscher Name, aber ursprünglich kam unsere Familie aus der Schweiz.«

»Kam?«

»Valentin war ein Einzelkind«, sagte Sebastian. »Sein Vater – unser Großvater – wurde von Schattenweltlern getötet und unser Großonkel starb im Kampf. Er war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Das hier…«, erklärte er und berührte Clarys Haare, »stammt von der Linie der Fairchilds. In ihren Adern fließt angelsächsisches Blut. Dagegen besitze ich größere Ähnlichkeit mit der Schweizer Seite der Familie. Genau wie Valentin.«

»Weißt du irgendetwas über unsere Großeltern?«, fragte Clary fasziniert – sie konnte einfach nicht anders.

Sebastian ließ seine Hand sinken und sprang von der Kaimauer. Erneut reichte er Clary die Hand und sie nahm sie ein weiteres Mal – um sich abzustützen, während sie hinunterhüpfte. Dabei prallte sie gegen Sebastians Brust, die sich hart und warm unter seinem T-Shirt anfühlte. Ein vorbeischlenderndes Mädchen warf Clary einen belustigten und zugleich neidischen Blick zu, woraufhin Clary hastig einen Schritt zurücktrat. Am liebsten hätte sie dem Mädchen nachgerufen, dass Sebastian ihr Bruder war und dass sie ihn im Übrigen hasste. Doch sie schwieg.

»Über unsere Großeltern mütterlicherseits weiß ich nichts«, sagte er. »Woher denn auch?« Er schenkte Clary ein schiefes Lächeln. »Komm. Ich möchte dir einen meiner Lieblingsorte in Paris zeigen.«

Clary zögerte. »Ich dachte, du wolltest mir beweisen, dass du einen Plan hast.«

»Alles zu seiner Zeit.« Sebastian setzte sich in Bewegung.

Nach kurzem Zögern folgte Clary ihm. Finde heraus, was er vorhat, und bis dahin mach gute Miene zum bösen Spiel, ermahnte sie sich.

»Valentin war seinem Vater sehr ähnlich«, fuhr Sebastian fort. »Er glaubte an Kraft und Stärke. ›Wir sind Gottes auserwählte Krieger.‹ Davon war er felsenfest überzeugt. Schmerz macht einen nur stärker. Verlust macht nur noch mächtiger. Als er starb…«

»Valentin hatte sich verändert«, warf Clary ein. »Das hat Luke mir erzählt.«

»Er hat seinen Vater geliebt und ihn gleichzeitig gehasst. Das hast du vielleicht auch schon bei Jace beobachtet. Valentin hat uns auf dieselbe Weise erzogen wie sein Vater ihn. Man greift immer auf das zurück, was man kennt.«

»Aber Jace hat Valentin mehr als nur das Kämpfen beigebracht. Er hat ihn Fremdsprachen gelehrt und ihm Klavierunterricht gegeben…«, überlegte Clary.

»Das war Jocelyns Einfluss.« Sebastian stieß ihren Namen hervor, als wäre ihm allein schon der Klang zuwider. »Sie dachte, Valentin müsse in der Lage sein, auch über Literatur, Kunst und Musik reden zu können – nicht nur über das Töten von Dämonen. Und das hat er an Jace weitergegeben.«

Links von ihnen tauchte ein blaues schmiedeeisernes Tor auf. Sebastian tauchte unter dem Torbogen hindurch und bedeutete Clary, ihm zu folgen. Sie brauchte sich zwar nicht zu bücken, als sie das Tor passierte, stapfte aber nur widerstrebend hinter ihm her. »Und was ist mit dir?«, fragte sie, die Hände in den Taschen vergraben.

Sebastian hob die Arme. Er hatte unverkennbar Jocelyns Hände – lange, geschickte Finger, wie geschaffen zum Halten eines Pinsels oder Stiftes. »Ich habe gelernt, die Instrumente des Kriegs zu spielen«, sagte er, »und mit Blut zu malen. Ich bin nicht wie Jace.«

Sie befanden sich nun in einer schmalen Gasse zwischen zwei Häuserreihen, die aus dem gleichen goldbraunen Stein errichtet waren wie viele andere Gebäude in Paris. Ihre Kupferdächer funkelten grünlich im Sonnenschein. Weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen. Links von Clary baumelte ein Holzschild mit der Aufschrift »Café« an einer Hauswand – der einzige Hinweis darauf, dass es irgendwelche Geschäfte oder Betriebe in der gewundenen Straße gab.

»Mir gefällt es hier, weil man fast das Gefühl hat, sich in einem vergangenen Jahrhundert zu befinden«, erklärte Sebastian, der Clarys Blick gefolgt war. »Kein Autolärm, keine Neonreklamen. Hier ist es einfach nur… friedlich.«

Verwundert starrte Clary ihn an. Er lügt, schoss es ihr durch den Kopf. Der Sebastian, den ich kenne, denkt so etwas nicht. Der Sebastian, der versucht hat, Alicante niederzubrennen, interessiert sich nicht für Frieden. Dann dachte sie darüber nach, wo er aufgewachsen war. Sie hatte den Ort zwar nie selbst gesehen, aber Jace hatte ihn ihr beschrieben: ein kleines Haus – im Grunde eher eine Hütte – in einem Tal außerhalb von Alicante. Dort musste es nachts ziemlich still gewesen sein und der Himmel voller Sterne. Aber vermisste Sebastian das alles wirklich? Konnte er das überhaupt? War dies die Art von Gefühl, zu der jemand fähig war, der nicht einmal zu hundert Prozent als Mensch bezeichnet werden konnte?

Macht dir das eigentlich nichts aus?, hätte Clary ihn am liebsten gefragt. Dass du dich in derselben Stadt aufhältst, in der der richtige Sebastian Verlac aufgewachsen ist und gelebt hat bis du ihm das Leben genommen hast? Dass du durch dieselben Straßen läufst, seinen Namen trägst und weißt, dass irgendwo eine Tante um ihn trauert? Und was soll das überhaupt heißen: Er hätte sich eben nicht wehren dürfen?

Sebastian musterte sie nachdenklich aus seinen schwarzen Augen. Er hatte durchaus Sinn für Humor, das wusste Clary genau – ein beißender Humor, der sie manchmal an Jace’ Sarkasmus erinnerte. Aber er lächelte nicht dabei.

»Komm schon«, riss er Clary in diesem Moment aus ihren Gedanken. »Hier gibt es die beste heiße Schokolade von ganz Paris.«

Clary war sich nicht ganz sicher, wie sie das beurteilen sollte. Sie besuchte die französische Hauptstadt schließlich zum ersten Mal. Doch nachdem sie einen Platz gefunden hatten, musste Clary einräumen, dass die heiße Schokolade wirklich hervorragend schmeckte. Sie wurde in einer blauen Keramikkanne direkt an ihrem kleinen Tisch mit den altmodischen Holzstühlen zubereitet: aus frischer Sahne, Schokolade und Zucker. Dieses Rezept ergab einen Kakao, der so dickflüssig war, dass der Löffel aufrecht darin stehen konnte. Dazu bestellten sie Croissants, die sie in das heiße Getränk tauchten.

»Wenn du noch ein Croissant möchtest, brauchst du es nur zu sagen«, meinte Sebastian und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Die beiden waren die mit Abstand jüngsten Gäste in dem Café, registrierte Clary. »So wie du über dieses arme Croissant herfällst.«

»Ich hab eben Hunger«, erwiderte Clary achselzuckend. »Hör zu, wenn du mit mir reden willst, dann schieß los. Überzeug mich.«

Sebastian beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Dabei musste Clary unwillkürlich an die Nacht zuvor denken, als sie ihm in die Augen gesehen und den dünnen Silberring um seine Iris bemerkt hatte. »Ich habe darüber nachgedacht, was du letzte Nacht gesagt hast«, setzte er an.

»Letzte Nacht hab ich halluziniert. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe.«

»Du hast mich gefragt, zu wem ich gehöre«, erklärte Sebastian.

Bei diesen Worten zuckte Clary zusammen, die Tasse unschlüssig in der Hand. »Wirklich?«

»Ja.« Eingehend studierte er ihr Gesicht. »Und ich habe darauf keine Antwort.«

Vorsichtig stellte Clary die heiße Schokolade ab; sie fühlte sich plötzlich extrem unwohl. »Du musst ja auch nicht unbedingt zu jemandem gehören«, sagte sie. »Das ist doch nur eine Redensart.«

»Okay, dann möchte ich dich etwas fragen«, erwiderte Sebastian. »Denkst du, dass du mir verzeihen kannst? Ich meine, glaubst du, dass für jemanden wie mich Vergebung überhaupt möglich ist?«

»Keine Ahnung.« Clary klammerte sich an die Tischkante. »Ich… ich kenne mich mit Vergebung nicht so aus, also mit dem religiösen Konzept der Vergebung; ich weiß nur über die herkömmliche Versöhnung Bescheid, wenn Leute jemandem verzeihen.« Sie stockte und holte tief Luft; ihr war bewusst, dass sie unzusammenhängendes Zeug plapperte. Vermutlich lag das an Sebastians unverwandtem Blick, als erwartete er von ihr Antworten auf Fragen, die niemand anderes beantworten konnte. »Ich weiß, dass man etwas dafür tun muss, um sich Vergebung zu verdienen. Sich selbst verändern. Gestehen, Reue empfinden – und Buße tun«, fuhr Clary fort.

»Buße tun«, wiederholte Sebastian.

»Um das, was man getan hat, wiedergutzumachen.« Betreten blickte Clary in ihre heiße Schokolade. Für die Dinge, die Sebastian getan hatte, gab es keine Wiedergutmachung – jedenfalls keine, die auch nur ansatzweise Sinn ergab.

»Ave atque vale«, sagte Sebastian und schaute auf seine Tasse.

Clary erkannte den traditionellen Abschiedsgruß der Nephilim, den sie bei Begräbnissen oder im Schlachtengetümmel sprachen. »Warum sagst du das jetzt? Ich bin doch nicht tot.«

»Wusstest du, dass diese Worte aus einem Gedicht stammen?«, bemerkte er. »Ein Gedicht von Catull. ›Frater, ave atque vale.‹ ›Sei gegrüßt und leb wohl, mein Bruder.‹ Catull redet von Asche, von Begräbnisriten und seiner Trauer um den toten Bruder. Ich hab dieses Gedicht schon als kleiner Junge auswendig gelernt, es aber nie richtig nachempfinden können – weder seinen Kummer noch seinen Verlust. Auch nicht, wie es wohl wäre, wenn man stirbt, aber niemand da ist, der um einen trauert.« Unvermittelt schaute er auf und blickte Clary an. »Was glaubst du, wie es wohl gewesen wäre, wenn Valentin dich zusammen mit mir aufgezogen hätte? Hättest du mich dann geliebt?«

Clary war froh, dass sie die Tasse bereits abgestellt hatte, sonst wäre sie ihr jetzt bestimmt aus der Hand gefallen. Sebastian musterte sie eindringlich – ohne jede Verlegenheit, die mit einer solch bizarren Frage üblicherweise verbunden war. Er studierte ihr Gesicht, als wäre sie eine seltsame, fremde Lebensform. »Na ja«, setzte Clary bedächtig an. »Du bist mein Bruder. Ich hätte dich geliebt. Ich hätte wohl… gar nicht anders gekonnt.«

Sebastian schaute sie weiterhin unverwandt an.

Einen Moment lang überlegte Clary, ob sie ihm eine Gegenfrage stellen sollte: Dachte er vielleicht, dass er sie dann ebenfalls geliebt hätte, als seine Schwester? Doch irgendetwas sagte ihr, dass er keine Ahnung hatte, was das bedeutete. »Valentin hat mich aber nun mal nicht großgezogen«, erwiderte sie stattdessen. »Genau genommen, hab ich ihn getötet.« Sie war sich nicht sicher, warum sie das gesagt hatte. Vielleicht wollte sie ja nur herausfinden, ob es möglich war, Sebastian aus der Fassung zu bringen. Schließlich hatte Jace ihr einmal erzählt, dass Valentin möglicherweise der einzige Mensch war, der Sebastian jemals etwas bedeutet hatte.

Doch Sebastian verzog keine Miene. »In Wahrheit hat der Erzengel ihn getötet. Auch wenn du der Grund dafür warst«, entgegnete er. Seine Finger zeichneten ein Muster auf der abgenutzten Tischplatte nach. »Als ich dich in Idris kennenlernte, hatte ich große Hoffnungen – ich dachte, du wärst genau wie ich. Aber als ich festgestellt habe, dass du kein bisschen so warst wie ich, da hab ich dich gehasst. Und dann, als ich von den Toten wiedererweckt war und Jace mir erzählte, was du getan hast, ist mir klar geworden, dass ich mich geirrt hatte: Du bist sehr wohl genau wie ich.«

»Das hast du vergangene Nacht schon gesagt«, widersprach Clary, »aber ich bin nicht…«

»Du hast unseren Vater getötet«, unterbrach Sebastian sie sanft. »Und es ist dir vollkommen egal. Du hast keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, stimmt’s? Valentin hat Jace in dessen Kindheit blau und grün geprügelt und trotzdem vermisst Jace ihn noch immer. Er hat um ihn getrauert, obwohl sie nicht blutsverwandt sind. Aber Valentin war dein leiblicher Vater und du hast ihn getötet und nicht eine einzige schlaflose Nacht deswegen gehabt.«

Mit offenem Mund starrte Clary ihn an. Das war unfair. So unfair. Valentin war nie ein Vater für sie gewesen… er hatte sie nicht geliebt… er war ein Monster gewesen, das sterben musste. Sie hatte ihn getötet, weil ihr keine andere Wahl geblieben war. Unwillkürlich tauchte vor ihrem inneren Auge Valentins Bild auf: wie er Jace die Klinge in die Brust gerammt und ihn in den Armen gehalten hatte, als Jace starb. Valentin hatte über den Sohn geweint, den er eigenhändig umgebracht hatte. Doch sie selbst hatte keine einzige Träne über ihren Vater vergossen. Hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht.

»Ich habe recht, oder?«, bemerkte Sebastian. »Sag mir, dass ich mich irre. Sag mir, dass du nicht genauso bist wie ich.«

Clary blickte auf ihren kalt gewordenen Kakao. Sie hatte das Gefühl, als würde sich in ihrem Kopf ein Strudel bilden und all ihre Gedanken und Worte mit sich in die Tiefe reißen. »Ich dachte, du wärst der Meinung gewesen, Jace sei wie du«, brachte sie schließlich mit erstickter Stimme hervor. »Ich dachte, das sei der Grund, warum du ihn bei dir haben wolltest.«

»Ich brauche Jace«, erklärte Sebastian. »Doch tief in seinem Herzen ist er nicht wie ich – im Gegensatz zu dir.« Sebastian stand auf; offenbar hatte er irgendwann die Rechnung beglichen, aber Clary hatte es nicht mitbekommen. »Komm mit«, forderte Sebastian sie auf und streckte ihr seine Hand entgegen.

Schweigend erhob Clary sich, ohne seine Hand auch nur zu berühren, und wickelte sich mechanisch seinen Schal um den Hals; der Kakao rumorte wie brennende Säure in ihrem Magen. Sie folgte Sebastian aus dem Café hinaus in die Gasse, wo er einen Moment stehen blieb und zum strahlend blauen Himmel hinaufschaute. »Ich bin nicht wie Valentin«, sagte Clary. »Unsere Mutter…«

»Deine Mutter«, berichtigte er sie, »hat mich gehasst. Hasst mich noch immer. Du hast es selbst gesehen: Sie hat versucht, mich zu töten. Du willst mir also sagen, dass du nach deiner Mutter kommst? Prima. Jocelyn Fairchild ist skrupellos. Ist es schon immer gewesen. Sie hat so getan, als würde sie unseren Vater lieben, und zwar monatelang, wenn nicht sogar jahrelang, damit sie genügend Informationen sammeln konnte, um ihn dann zu hintergehen. Sie hat den Aufstand verraten und zugesehen, wie alle Freunde ihres Ehemannes brutal niedergemetzelt wurden. Und sie hat dir deine Erinnerungen geraubt. Hast du ihr das etwa schon verziehen? Und als sie aus Idris geflohen ist, glaubst du ernsthaft, sie hätte jemals vorgehabt, mich mitzunehmen? Sie muss enorm erleichtert gewesen sein bei der Vorstellung, dass ich tot sei…«

»Das stimmt nicht!«, fauchte Clary. »Sie hatte ein Kästchen, in dem sie deine Babysachen aufbewahrt hat. Und sie hat es regelmäßig hervorgeholt und jedes Mal fürchterlich geweint. Jedes Jahr an deinem Geburtstag. Dasselbe Kästchen, das du übrigens in deinem Zimmer stehen hast.«

Seine dünnen, eleganten Lippen zuckten. Dann wandte er sich abrupt ab und marschierte los.

»Sebastian!«, rief Clary ihm nach. »Sebastian, warte.« Sie konnte nicht sagen, warum sie wollte, dass er zurückkehrte. Zugegeben, sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand und wie sie wieder zur Wohnung zurückfinden sollte, doch das war nicht der einzige Grund. Sie wollte sich verteidigen, ihm beweisen, dass sie nicht so war, wie er behauptete. Sie hob die Stimme und rief: »Jonathan Christopher Morgenstern!«

Er hielt inne, warf einen Blick über die Schulter und drehte sich langsam zu ihr um.

Clary ging auf ihn zu, während er sie beobachtete, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die schwarzen Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. »Ich wette, du weißt meinen zweiten Vornamen nicht«, sagte Clary.

»Adele.«

In der Art und Weise, wie er ihren Namen aussprach, lag eine solche Vertrautheit, dass sich Clary dabei unwohl fühlte.

»Clarissa Adele.«

Als sie ihn erreicht hatte, fragte sie: »Warum Adele? Ich hab nie herausgefunden, warum.«

»Keine Ahnung«, erwiderte Sebastian achselzuckend. »Ich weiß nur, dass Valentin diese Namen nie gewählt hätte. Er hätte dich lieber Seraphina genannt, nach seiner Mutter. Unserer Großmutter.« Sebastian drehte sich um und setzte sich erneut in Bewegung. Dieses Mal hielt Clary mit ihm Schritt. »Nachdem unser Großvater umgebracht worden war, ist sie gestorben – Herzinfarkt. Vor Kummer gestorben, das hat Valentin immer gesagt.«

Clary musste an Amatis denken, die über den Verlust ihrer ersten großen Liebe – Stephen – nie hinweggekommen war; an Stephens Vater, der vor Gram gestorben war; an die Inquisitorin, die ihr ganzes Leben dem Wunsch nach Vergeltung gewidmet hatte. An Jace’ Mutter, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, nachdem ihr Mann gestorben war. »Bevor ich die Nephilim kennengelernt habe, hätte ich steif und fest behauptet, dass niemand vor Kummer sterben könne.«

Sebastian lachte trocken. »Die Beziehungen, die wir eingehen, unterscheiden sich von denen der Irdischen«, sagte er. »Zumindest in den meisten Fällen. Schließlich sind nicht alle gleich. Aber die Bande, die zwischen uns entstehen, sind in der Regel leidenschaftlich und unzerbrechlich. Aus diesem Grund vertragen wir uns auch nicht so gut mit denjenigen, die nicht zu unserer Art gehören: Schattenwesen, Irdische…«

»Meine Mutter hat vor, einen Schattenweltler zu heiraten«, warf Clary getroffen ein. Sie befanden sich fast am Ende der Gasse und standen vor einem breiten Steinhaus mit blauen Fensterläden.

»Aber er war früher einmal ein Nephilim«, erwiderte Sebastian. »Und sieh dir mal unseren Vater an: Deine Mutter hat ihn hintergangen und verlassen. Trotzdem hat er den Rest seines Lebens versucht, sie wiederzufinden und sie davon zu überzeugen, zu ihm zurückzukehren. Dieser riesige Schrank voller Klamotten…« Er schüttelte den Kopf.

»Aber Valentin hat Jace erzählt, dass Liebe eine Schwäche sei. Dass sie den Betreffenden zerstören würde«, hielt Clary ihm entgegen.

»Würdest du das etwa nicht glauben, wenn du dein halbes Leben einer Frau nachgejagt wärst, weil du sie einfach nicht vergessen konntest – auch wenn sie dich abgrundtief hasst? Wenn du jeden Tag daran erinnert worden wärst, dass der Mensch, den du am meisten geliebt hast, dir ein Messer in den Rücken gerammt und es noch einmal genüsslich umgedreht hat?« Sebastian beugte sich einen Moment vor und war Clary auf einmal so nahe, dass sein Atem ihre Haare tanzen ließ. »Vielleicht besitzt du ja mehr Ähnlichkeit mit deiner Mutter als mit unserem Vater. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Tief in dir drin bist du skrupellos und eiskalt, Clarissa. Und versuch nicht, mir was anderes zu erzählen.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und stieg die Stufen zu dem Haus mit den blauen Fensterläden hinauf. An der Wand neben dem Eingang schimmerte eine Reihe von Türklingeln, jede mit einem handgeschriebenen Namensschild versehen. Sebastian drückte auf den Knopf neben dem Namen »Magdalena« und wartete.

Nach einer Weile meldete sich eine krächzende Stimme durch die Sprechanlage: »Qui est là?«

»C’est le fils et la fille de Valentin«, sagte Sebastian. »Nous avons rendez-vous?«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann brummte der Türöffner. Sebastian hielt die Tür auf, um Clary vorgehen zu lassen. Die Stufen der Holztreppe waren abgewetzt und glatt wie die Planken eines Schiffs. Schweigend stiegen sie hinauf, bis sie das oberste Stockwerk erreichten, wo eine Wohnungstür einen Spalt offen stand. Sebastian trat als Erster ein und Clary folgte ihm.

Sie befanden sich in einem großen luftigen Raum mit weißen Wänden, hellen Vorhängen und glänzendem Parkettboden. Durch eines der Fenster konnte Clary hinunter auf eine Straße mit Restaurants und Boutiquen schauen. Zwar fuhren Autos vorbei, doch das Geräusch der Motoren drang nicht bis in die Wohnung. Weiße Möbel und Polstersofas mit bunten Zierkissen bildeten eine Sitzecke, während eine andere Ecke des Raums als Atelier zu dienen schien: Tageslicht fiel durch ein Dachfenster auf einen großen Holztisch. Dahinter standen mehrere, mit Tüchern verhängte Staffeleien. Ein Kittel, mit bunten Farbspritzern übersät, hing an einem Haken an der Wand.

Neben dem Tisch erwartete sie eine Frau. Auf den ersten Blick schätzte Clary, dass sie ungefähr im selben Alter wie Jocelyn war – aber mehrere Faktoren verschleierten die tatsächliche Anzahl ihrer Lebensjahre. Sie trug einen unförmigen schwarzen Kittel, der ihre Figur verhüllte. Nur ihre weißen Hände sowie Gesicht und Hals waren darunter zu sehen. Auf beiden Wangen prangte jeweils eine dicke schwarze Rune, die sich vom Auge bis zum Mundwinkel erstreckte. Clary hatte solche Runenmale noch nie gesehen, konnte ihre Bedeutung aber erahnen: Macht, Geschick, Kunstfertigkeit. Die Frau besaß dichtes kastanienbraunes Haar, das ihr bis zur Taille ging. Ihre Augen leuchteten in einem matten orangefarbenen Ton, der Clary an eine erlöschende Flamme erinnerte. Und die Hände hielt sie locker verschränkt vor ihrem Schoß.

Mit nervöser, melodischer Stimme bemerkte sie: »Tu dois être Jonathan Morgenstern. Et elle, c’est ta sœur? Je pensais que«

»Ja, ich bin Jonathan Morgenstern«, bestätigte Sebastian. »Und das hier ist tatsächlich meine Schwester. Clarissa. Bitte sprich Englisch; sie versteht kein Französisch.«

Die Frau räusperte sich. »Mein Englisch ist ein wenig eingerostet. Es ist Jahre her, seit ich es zuletzt gesprochen habe.«

»Mir erscheint es immer noch gut genug. Clarissa, das hier ist Schwester Magdalena. Eine der Eisernen Schwestern.«

Clary war so verwundert, dass sie stotterte: »A-aber… aber ich dachte, die Eisernen Schwestern würden ihre Festung niemals verlassen…«

»Das tun sie auch nicht«, erklärte Sebastian. »Es sei denn, ihre nicht ganz so ehrenhafte Beteiligung am Aufstand wird bekannt. Was glaubst du, wer den Kreis mit Waffen versorgt hat?« Er schenkte Magdalena ein freudloses Lächeln. »Die Eisernen Schwestern sind Schöpferinnen, keine Kriegerinnen. Aber Magdalena ist aus der Festung geflohen, ehe ihre Beteiligung am Aufstand aufgedeckt werden konnte.«

»Fünfzehn Jahre lang hatte ich keinen einzigen Nephilim zu Gesicht bekommen – bis dein Bruder mich kontaktiert hat«, fügte Magdalena hinzu. Es ließ sich nur schwer sagen, wen sie beim Reden anschaute; ihre ausdruckslosen Augen zuckten hin und her, obwohl sie eindeutig nicht blind war. »Und, stimmt es wirklich? Hast du das… Material?«

Sebastian griff in den Beutel, der an seinem Waffengurt hing, und holte einen Gesteinsbrocken hervor, der im ersten Moment an Quarz erinnerte. Vorsichtig legte er ihn auf den großen Tisch und ein Sonnenstrahl, der durch das Dachfenster fiel, ließ den Brocken scheinbar von innen aufleuchten.

Einen Moment lang stockte Clary der Atem: der Adamant aus dem Trödelladen in Prag.

Auch Magdalena sog scharf die Luft ein.

»Reiner Adamant«, verkündete Sebastian. »Bisher von keiner Rune berührt.«

Die Eiserne Schwester trat an den Tisch und legte ihre Finger um den Gesteinsbrocken. Ihre mit zahlreichen Runenmalen übersäten Hände zitterten. »Adamant pur«, wisperte sie. »Es ist viele Jahre her, seit ich das heilige Material zum letzten Mal berührt habe.«

»Es gehört dir – du kannst damit arbeiten«, sagte Sebastian. »Wenn du fertig bist, werde ich dich mit weiterem Adamant bezahlen. Das heißt, sofern du erschaffen kannst, worum ich dich gebeten habe.«

Magdalena richtete sich auf. »Bin ich etwa keine Eiserne Schwester? Habe ich etwa keine Gelübde abgelegt? Haben meine Hände etwa nicht jahrelang den Urstoff des Himmels geformt? Ich kann dir durchaus liefern, was ich dir zugesagt habe, Valentins Sohn. Daran solltest du nicht zweifeln.«

»Freut mich zu hören.« Ein Hauch von Belustigung schwang in Sebastians Stimme mit. »Dann werd ich also heute Abend wieder vorbeikommen. Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst, falls du mich brauchst.«

Magdalena nickte geistesabwesend: Sie hatte ihre gesamte Aufmerksamkeit wieder auf die durchsichtige Substanz gerichtet und streichelte den Adamant mit den Fingern. »Ja, ja. Ihr könnt jetzt gehen.«

Sebastian nickte und trat einen Schritt zurück. Doch Clary zögerte. Sie hätte die Frau am liebsten an den Schultern gepackt und sie gefragt, womit Sebastian sie beauftragt hatte und warum sie gegen den Bündnisvertrag verstoßen und mit Valentin zusammengearbeitet hatte.

Magdalena schien ihr Zögern zu spüren, hob den Kopf und lächelte matt. »Ihr zwei…«, setzte sie an.

Einen Moment lang dachte Clary, die Eiserne Schwester würde nun etwas sagen wie: Sie könne gar nicht verstehen, warum Sebastian und Clary überhaupt zusammen bei ihr aufgetaucht waren; sie habe doch gehört, dass sie einander hassen würden. Und dass Jocelyns Tochter eine Schattenjägerin sei, während Valentins Sohn ein Verbrecher war.

Doch Magdalena schüttelte nur den Kopf. »Mon Dieu«, stieß sie hervor, »ihr zwei seid euren Eltern wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten.«

16 Brüder und Schwestern

Als Clary und Sebastian in die Wohnung zurückkehrten, lag der Wohnraum verlassen vor ihnen, aber in der Spüle türmte sich benutztes Geschirr, das vorher nicht dort gestanden hatte.

»Hattest du nicht gesagt, Jace würde schlafen?«, wandte Clary sich in leicht vorwurfsvollem Ton an ihren Bruder.

Sebastian zuckte die Achseln. »Als ich das gesagt habe, hat er auch noch fest geschlafen.« In seiner Stimme schwang zwar ein Hauch von Spott mit, aber keine direkte Feindseligkeit.

Sie hatten die Strecke von Magdalenas Atelier bis in die Wohnung schweigend zurückgelegt, doch es war nicht jenes unbehagliche Schweigen gewesen, das vorher zwischen ihnen geherrscht hatte. Clary hatte ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und war erst ruckartig aus ihren Gedanken aufgeschreckt, als ihr bewusst wurde, dass sie mit Sebastian durch die Straßen von Paris wandelte.

»Ich glaube, ich weiß, wo er steckt«, fügte er hinzu.

»In seinem Zimmer?« Clary marschierte in Richtung der Glastreppe.

»Nein.« Sebastian machte einen Schritt an ihr vorbei und bedeutete Clary, ihm zu folgen: »Komm mit. Ich zeig’s dir.« Mit langen Schritten stürmte er die Stufen hinauf, durch den Flur und in das große Schlafzimmer.

Verwundert schaute Clary zu, wie er gegen die Seitenwand des Kleiderschranks klopfte. Das Schrankelement schwang zurück und dahinter kam eine Holzstiege zum Vorschein. Sebastian warf Clary einen triumphierenden Blick zu. »Das ist doch nicht dein Ernst… Eine Geheimtreppe?«, fragte sie erstaunt.

»Erzähl mir nicht, das ist das Merkwürdigste, was du heute gesehen hast.« Sebastian nahm zwei Stufen auf einmal, während Clary ihm völlig erschöpft folgte.

Die Treppe wand sich nach oben und öffnete sich zu einem großen Raum mit glänzendem Parkettboden und hohen Mauern. Alle erdenklichen Arten von Waffen hingen an den Wänden, genau wie in der Waffenkammer des Instituts – Kindjals und Chakrams, Streitkolben, Schwerter und Dolche, Armbrüste und Schlagringe, Wurfsterne, Äxte und Samurai-Schwerter. Und genau wie im Fechtsaal des Instituts waren Trainingsmarkierungen auf den Boden aufgezeichnet.

In der Mitte des Raums stand Jace, barfuß und mit dem Rücken zur Tür. Er trug nur eine schwarze Trainingshose und hielt in jeder Hand ein Messer.

Vor Clarys innerem Auge tauchte plötzlich ein Bild auf: Sebastians nackter Rücken, mit den unverkennbaren Narben von Peitschenhieben. Dagegen war Jace’ Rücken unversehrt: goldbraune, glatte Haut über kräftigen Muskeln, lediglich mit den typischen Schattenjäger-Runenmalen versehen – und den Kratzern, die Clarys Fingernägel in der Nacht zuvor darauf hinterlassen hatten. Sie spürte, wie sie errötete, aber ihre Gedanken kreisten weiterhin um die Frage: Warum hatte Valentin den einen Jungen ausgepeitscht, den anderen jedoch nicht? »Jace«, begann sie.

Er wirbelte herum. Offenbar hatte er geduscht. Das Silberzeug war verschwunden und seine goldenen Haare schimmerten so dunkel wie Bronze. Schweiß glitzerte auf seiner Haut. Mit verschlossener Miene musterte er Clary und Sebastian. »Wo seid ihr gewesen?«

Sebastian ging zu einer der Wände, studierte die dort hängenden Waffen und strich mit bloßen Fingern über die Klingen. »Ich dachte, Clary würde mal gern Paris sehen.«

»Ihr hättet mir eine Nachricht hinterlassen können«, bemerkte Jace. »Es ist ja nicht so, als wären wir hier so sicher wie in Abrahams Schoß, Jonathan. Mir wäre es lieber, wenn ich mir keine Sorgen um Clary machen müsste…«

»Ich bin ihm gefolgt«, warf Clary ein.

Jace drehte sich um und schaute sie an – und einen Moment lang erinnerte sich Clary an den Jungen, der sie in Idris angebrüllt hatte, weil sie seine sorgfältigen Pläne zur Wahrung ihrer Sicherheit durcheinandergebracht hatte. Doch dieser Jace hier war anders. Seine Hände bebten nicht vor unterdrückter Wut und der Puls an seiner Kehle schlug sichtbar ruhig und regelmäßig. »Du hast was getan?«

»Ich bin Sebastian gefolgt«, wiederholte Clary. »Ich war wach und wollte sehen, wohin er geht.« Sie schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans und hob trotzig das Kinn.

Seine Augen musterten sie eingehend, von ihren windzerzausten Haaren bis hin zu ihren Stiefeln. Clary spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Schweißperlen schimmerten auf Jace’ Schlüsselbeinen und seiner kräftigen Bauchmuskulatur. Der Bund seiner Trainingshose war nach außen umgeschlagen, sodass der v-förmige Ansatz seiner Hüftknochen zum Vorschein kam.

Plötzlich erinnerte Clary sich wieder an das Gefühl seiner Arme, fest an ihn gepresst, so fest, dass sie jedes Detail seiner Knochen und Muskeln an ihrem Körper hatte spüren können… Im nächsten Moment erfasste sie ein derart überwältigendes Gefühl der Verlegenheit, dass ihr fast schwindlig wurde. Und was das Ganze noch schlimmer machte: Jace schien kein bisschen peinlich berührt zu sein – als hätte die vergangene Nacht deutlich weniger Eindruck auf ihn gemacht als auf sie. Er wirkte lediglich… verärgert. Verärgert und verschwitzt und heiß.

»Ja, ja, schon in Ordnung«, erwiderte Jace, »aber wenn du das nächste Mal beschließt, dich aus unserer mit Schutzzaubern versehenen Wohnung zu schleichen – noch dazu durch eine Tür, die eigentlich nicht existieren sollte –, dann hinterlass mir eine Nachricht.«

Verwundert zog Clary die Augenbrauen hoch. »Meinst du das jetzt ernst?«

Jace warf eines der Messer in die Luft und fing es geschickt wieder auf. »Vielleicht.«

»Ich bin mit Clary bei Magdalena gewesen«, mischte Sebastian sich ein. Er hatte sich einen Wurfstern geschnappt und betrachtete ihn. »Wir haben ihr den Adamant gebracht.«

Inzwischen hatte Jace das andere Messer in die Luft geworfen, doch dieses Mal griff er daneben. Die Spitze der Klinge bohrte sich knirschend in den Holzboden. »Tatsächlich?«

»Ja«, bestätigte Sebastian. »Und ich habe Clary in unseren Plan eingeweiht. Ich habe ihr erzählt, dass wir vorhaben, Dämonenfürsten hierherzulocken, um sie vernichten zu können.«

»Allerdings hast du mir nicht erklärt, wie ihr das anstellen wollt«, wandte Clary ein.

»Ich dachte, Jace sollte dabei sein«, entgegnete Sebastian. Sein Handgelenk zuckte plötzlich nach vorn und der Wurfstern flog auf Jace zu, der das Geschoss jedoch mit einer blitzschnellen Bewegung seines Messers abblockte. Der Metallstern fiel klirrend zu Boden. Sebastian pfiff anerkennend. »Gute Reflexe«, bemerkte er.

Aufgebracht wirbelte Clary zu ihrem Bruder herum: »Du hättest ihn verletzen können…«

»Alles, was ihn trifft, trifft auch mich«, erwiderte Sebastian. »Ich wollte dir nur zeigen, wie sehr ich ihm vertraue. Und nun möchte ich, dass du uns vertraust.« Seine schwarzen Augen schienen sie zu durchbohren. »Adamant«, setzte er an, »die Substanz, die ich heute der Eisernen Schwester gebracht habe… Weißt du, was alles daraus hergestellt wird?«

»Natürlich: Seraphklingen. Die Dämonentürme in Alicante. Stelen…«

»Und der Kelch der Engel.«

Clary schüttelte den Kopf. »Der Engelskelch besteht aus Gold. Ich hab es selbst gesehen.«

»Er besteht aus Adamant mit einem Goldüberzug. Auch das Heft des Engelsschwertes ist aus derselben Substanz geschmiedet. Es heißt, dies sei das Material, aus dem die Himmelspaläste erbaut sind. Und es ist nicht leicht zu beschaffen. Nur die Eisernen Schwestern können diesen Urstoff bearbeiten und nur sie haben normalerweise Zugang dazu.«

»Und warum hast du dann Magdalena diesen Adamant-Brocken gegeben?«

»Damit sie daraus einen zweiten Engelskelch fertigen kann«, erklärte Jace.

»Einen zweiten Engelskelch?« Ungläubig schaute Clary von Jace zu Sebastian. »Aber so einfach geht das nicht. Ihr könnt nicht einfach einen weiteren Engelskelch schmieden lassen. Wenn das möglich wäre, hätte der Rat doch nicht so panisch auf den Verlust des richtigen Engelskelches reagiert. Und Valentin hätte ihn nicht so dringend benötigt…«

»Es ist bloß ein Kelch«, sagte Jace. »Ganz gleich, wer ihn schmiedet, es bleibt ein herkömmlicher Kelch, bis der Erzengel freiwillig sein Blut hineingibt. Erst das macht ihn zum Kelch der Engel.«

»Und ihr glaubt, ihr könntet Raziel dazu bringen, freiwillig sein Blut in euren zweiten Kelch zu geben?« Clary konnte die Schärfe und Skepsis in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Na, dann viel Glück.«

»Das ist doch nur ein Trick, Clary«, erklärte Sebastian. »Du weißt doch, dass alle Dinge mit bestimmten Kräften verbunden sind – entweder seraphischen oder dämonischen. Die Dämonen glauben, dass wir das dämonische Gegenstück zu Raziel anstreben: Ein sehr mächtiger Dämon, der sein Blut mit unserem mischt und eine neue Rasse von Nephilim erschafft – Schattenjäger, die nicht an das Gesetz oder das Bündnis oder die Vorschriften des Rats gebunden sind.«

»Du hast ihnen erzählt, du willst… umgedrehte Schattenjäger erschaffen?«

»Etwas in der Art.« Sebastian lachte und fuhr sich mit den Händen durch die weißblonden Haare. »Jace, hilf mir mal und erklär es ihr.«

»Valentin war ein Fanatiker«, setzte Jace an. »Er hatte in vielerlei Hinsicht unrecht. Es war falsch von ihm, das Töten von Nephilim in Erwägung zu ziehen. Und er hat sich auch im Hinblick auf die Schattenweltler geirrt. Aber was den Rat und die Kongregation betrifft, lag er vollkommen richtig. Jeder Inquisitor, den wir bisher hatten, war korrupt. Die Gesetze, die uns vom Erzengel übergeben wurden, sind willkürlich und unsinnig und die daraus resultierenden Strafen noch schlimmer. ›Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz.‹ Wie oft hast du das schon gehört? Wie oft haben wir den Kopf einziehen und den Rat und seine Gesetze umgehen müssen, selbst wenn wir nur versucht haben, den Rat zu retten? Wer hat mich ins Gefängnis geworfen? Die Inquisitorin. Wer hat Simon ins Gefängnis geworfen? Der Rat. Und wer hätte ihn dort bei lebendigem Leibe verbrennen lassen?«

Clarys Herz begann zu rasen. Jace’ Stimme, die einerseits vertraut war und andererseits diese Dinge sagte, ging ihr durch Mark und Bein. Er hatte recht und unrecht zugleich – genau wie Valentin damals. Aber sie wollte Jace irgendwie glauben, ganz im Gegenteil zu Valentin. »Okay«, sagte sie. »Ich begreife, dass der Rat korrupt ist. Aber ich wüsste nicht, warum man deswegen irgendwelche Vereinbarungen mit Dämonen treffen muss.«

»Unser Auftrag ist die Vernichtung von Dämonen«, erläuterte Sebastian. »Aber der Rat hat seine ganze Energie auf andere Aufgaben konzentriert. Die Schutzschilde sind inzwischen so schwach, dass immer mehr Dämonen hindurchdringen. Doch der Rat ignoriert diese Tatsache einfach. Jace und ich haben hoch oben im Norden, auf der Wrangelinsel, ein Portal geöffnet, durch das wir Dämonen anlocken werden – und zwar mit diesem zweiten Engelskelch. Aber wenn sie unseren Versprechungen glauben und ihr Blut in den Kelch geben, werden sie vernichtet. Ich habe entsprechende Vereinbarungen mit mehreren Dämonenfürsten getroffen. Sobald Jace und ich sie getötet haben, wird der Rat erkennen, dass wir beide sehr einflussreich sind und man unsere Macht besser nicht unterschätzen sollte. Dann werden die Ratsmitglieder uns zuhören müssen.«

Sprachlos starrte Clary ihn an. »Das Töten von Dämonenfürsten ist nicht so einfach«, brachte sie schließlich hervor.

»Erst heute Morgen hab ich einen von ihnen getötet«, erwiderte Sebastian. »Was übrigens auch der Grund dafür ist, dass keiner von uns beiden Schwierigkeiten bekommt, weil wir diese Gruppe von Dämonen-Leibwachen niedergemetzelt haben. Ich habe nämlich ihren Gebieter umgebracht.«

Clary schaute von Jace zu Sebastian und wieder zurück. Jace’ Augen wirkten ruhig und interessiert; dagegen durchbohrte Sebastian sie mit seinem Blick geradezu – als würde er versuchen, in ihren Kopf hineinzusehen. »Okay«, sagte Clary gedehnt. »Das muss ich erst mal verarbeiten. Außerdem gefällt es mir nicht, dass ihr euch beide dieser Gefahr aussetzen wollt. Aber ich bin froh, dass ihr mir vertraut und davon erzählt habt.«

»Ich hab’s doch gleich gesagt«, bemerkte Jace. »Ich hab dir gesagt, dass sie es verstehen würde.«

»Und ich hab nie das Gegenteil behauptet«, entgegnete Sebastian, ohne dabei den Blick von Clarys Gesicht abzuwenden.

Clary musste schlucken. »Ich hab letzte Nacht nicht viel Schlaf bekommen«, stammelte sie. »Ich brauch ein bisschen Ruhe.«

»Wirklich schade«, sagte Sebastian. »Ich wollte dich gerade fragen, ob du nicht Lust hast, den Eiffelturm zu besichtigen.« Seine Augen schimmerten dunkel und unergründlich.

Clary hatte keine Ahnung, ob er scherzte oder es ernst meinte. Doch bevor sie irgendetwas erwidern konnte, nahm Jace ihre Hand.

»Ich komm mit«, verkündete er. »Ich hab letzte Nacht auch nicht besonders gut geschlafen.« Er nickte Sebastian zu. »Bis später dann.«

Sebastian schwieg. Als die beiden fast schon die Holzstiege erreicht hatten, rief er: »Clary.«

Clary drehte sich um und löste dabei ihre Finger aus Jace’ Griff. »Ja?«

»Mein Schal.« Sebastian streckte seine Hand danach aus.

»Ach ja, richtig.« Sie ging ein paar Schritte zurück und fummelte nervös an dem zugeknoteten Stoff herum.

Nachdem Sebastian sie einen Moment beobachtet hatte, stieß er ein ungeduldiges Schnauben aus und kam mit großen Schritten auf sie zu.

Clary erstarrte, als er seine Hände an ihre Kehle legte, den Knoten mit zwei, drei geschickten Handbewegungen löste und den Schal von ihrem Hals wickelte. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, dass er das Ganze unnötig hinauszögerte und seine Finger über ihren Hals streichen ließ…

Sofort kamen wieder Bilder hoch von dem Tag, an dem er sie auf dem Hügel oberhalb der Ruinen des niedergebrannten Fairchild-Herrenhauses geküsst hatte. Und wie sie plötzlich von einer eisigen Taubheit erfasst wurde und das Gefühl gehabt hatte, in einen finsteren, gähnenden Abgrund zu stürzen. Hastig wich sie zurück und der Schal löste sich von ihrem Hals. »Danke fürs Leihen«, sagte sie mechanisch, stürmte zurück zu Jace und folgte ihm die Holzstufen hinunter, die aus dem getarnten Waffensaal führten. Sie schaute sich nicht um und bemerkte deshalb auch nicht, wie ihr Bruder ihr nachblickte, den Schal in den Händen und einen merkwürdigen Ausdruck in den Augen.

Simon stand inmitten feuchter Laubhaufen und schaute den Weg entlang; erneut überkam ihn der menschliche Drang, tief Luft zu holen, um sich zu wappnen. Er befand sich im Central Park, in der Nähe des Shakespeare Garden. Die Bäume hatten ihre herbstliche Farbenpracht nun verloren; das Gold, Grün und Rot der verbliebenen Blätter hatte sich in Braun und Schwarz verwandelt. Aber die meisten Äste waren ohnehin schon kahl.

Ein weiteres Mal berührte Simon den Ring an seinem Finger. Clary?

Und ein weiteres Mal erhielt er keine Antwort. Sein ganzer Körper stand unter Spannung wie ein überdehntes Drahtseil. Seit dem letzten Kontakt mit Clary war einfach zu viel Zeit verstrichen. Wieder und wieder versuchte Simon, sich einzureden, dass sie möglicherweise nur schlief, aber es gelang ihm nicht, sich selbst zu beruhigen und den schrecklichen Knoten in seinem Magen zu lösen.

Der Ring bildete seine einzige Verbindung zu Clary, doch im Moment fühlte er sich nur wie ein Stück wertloses Metall an.

Simon ließ die Hände sinken, setzte sich wieder in Bewegung und ging den Pfad entlang, vorbei an den Statuen und Parkbänken mit Inschriften aus Shakespeares Theaterstücken. Der Weg machte eine weite Rechtskurve und plötzlich konnte Simon sie sehen. Sie hockte auf einer Bank, das Gesicht in die andere Richtung gedreht; ihre dunklen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Vollkommen reglos saß sie da, wartend. Auf ihn wartend.

Entschlossen straffte Simon die Schultern und ging auf sie zu, obwohl sich seine Beine bei jedem Schritt schwerer anfühlten – als wären sie mit Blei gefüllt.

Sie hörte ihn, als er näher kam, und drehte sich um. Ihr blasses Gesicht wurde noch bleicher, während er sich neben ihr niederließ. »Simon«, stieß sie leise hervor. »Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest.«

»Hi, Rebecca«, sagte er.

Rebecca streckte ihre Hand aus und Simon ergriff sie – Gott sei Dank war er so schlau gewesen, Handschuhe anzuziehen, damit seine Schwester die eisige Kälte seiner Haut nicht sofort spüren konnte. Seit ihrem letzten Treffen waren gerade einmal vier Monate vergangen, doch sie wirkte auf ihn bereits wie die Fotografie eines Menschen, den er einmal vor langer Zeit gekannt hatte. Andererseits erschien ihm alles an ihr noch sehr vertraut: die dunklen Haare; die braunen Augen, genau wie seine eigenen; die Sommersprossen auf ihrer Nase. Sie trug Jeans, einen leuchtend gelben Parka und einen grünen Schal mit dicken gelben Blüten. Clary hatte Beckys Stil immer als »Hippie-Schick« bezeichnet – die Hälfte ihrer Kleidungsstücke stammte aus Secondhand-Läden, die andere Hälfte hatte sie selbst genäht.

Als Simon ihre Hand drückte, schossen ihr Tränen in die Augen.

»Si«, sagte sie leise seinen Spitznamen, schlang dann die Arme um ihn und drückte ihn fest. Simon wehrte sich nicht und tätschelte ihr unbeholfen die Schultern und den Rücken. Nach einem Moment löste sie sich von ihm, wischte sich die Augen und runzelte die Stirn. »Gott, ist dein Gesicht kalt«, murmelte sie. »Du solltest dir eine Mütze und einen Schal anziehen.« Sie musterte ihn vorwurfsvoll. »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«

»Das hab ich dir doch erklärt«, erwiderte Simon. »Ich war für ein paar Tage bei einem Freund.«

Rebecca lachte schnaubend. »Ach, Simon, erzähl mir doch nichts. Was zum Teufel ist hier los?«

»Becks…«

»Ich hab zu Hause angerufen, wegen Thanksgiving«, sagte Rebecca und starrte auf die Bäume. »Ich wollte wissen, welchen Zug ich nehmen soll und so weiter. Und weißt du, was Mom gesagt hat? Sie meinte, ich bräuchte gar nicht zu kommen, denn dieses Jahr würde Thanksgiving ausfallen. Also hab ich versucht, dich zu erreichen. Aber du bist nicht ans Telefon gegangen. Daraufhin hab ich Mom erneut angerufen, um herauszufinden, wo du steckst. Sie hat aufgelegt. Hat einfach den Hörer aufgelegt. Also bin ich nach Hause gefahren. Und dann habe ich dieses ganze religiöse Zeugs an der Haustür gesehen. Als ich Mom zur Rede gestellt hab, hat sie behauptet, du wärst tot. Tot. Mein eigener Bruder. Sie sagte, du wärst tot und ein Monster hätte deinen Platz eingenommen.«

»Was hast du dann getan?«

»Ich hab mich aus dem Staub gemacht, und zwar so schnell wie möglich«, erzählte Rebecca. Simon wusste, dass sie versuchte, stark und unerschrocken zu klingen, aber in ihrer Stimme schwang eine nervöse, ängstliche Note mit. »Ich hab angenommen, dass Mom jetzt endgültig durchgedreht war.«

»Oh«, murmelte Simon. Seine Schwester und seine Mutter hatten schon immer ein angespanntes Verhältnis gehabt. Rebecca bezeichnete ihre Mutter gern als »durchgeknallt« und nannte sie »die verrückte Alte«. Aber nun hatte Simon zum ersten Mal das Gefühl, dass sie es auch wirklich so meinte.

»Das kannst du laut sagen: Oh«, fauchte Rebecca. »Ich hatte totale Panik und hab dir alle paar Minuten eine SMS geschickt. Und endlich krieg ich eine nichtssagende Antwort von dir: Du wärst bei einem Freund! Und jetzt willst du dich hier mit mir treffen. Was läuft hier, Simon? Und wie lange geht das schon so?«

»Wie lange geht was schon so?«

»Was glaubst du denn wohl?! Natürlich die Tatsache, dass Mom total durchgeknallt ist.« Rebeccas kleine Finger zerrten an ihrem Schal. »Wir müssen irgendwas unternehmen. Mit jemandem reden. Mit einem Arzt. Sie mit Tabletten oder sonst wie behandeln lassen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Jedenfalls nicht ohne dich. Du bist mein Bruder.«

»Ich kann nicht«, sagte Simon. »Ich meine, ich kann dir nicht helfen.«

Rebecca seufzte und ihre Stimme bekam einen sanfteren Ton: »Ich weiß, dass das alles furchtbar nervig ist und du noch auf die Highschool gehst, aber wir müssen diese Entscheidungen gemeinsam treffen, Simon.«

»Ich meine, ich kann dir nicht dabei helfen, Mom Tabletten zu besorgen. Oder sie zu einem Arzt zu bringen«, erklärte Simon. »Denn sie hat recht: Ich bin ein Monster.«

Einen Moment lang starrte Rebecca ihn mit offenem Mund an. »Hat sie dich einer Gehirnwäsche unterzogen?«

»Nein…«

Ihre Stimme begann zu zittern. »Anfangs… anfangs hab ich gedacht, sie hätte dir vielleicht was angetan – so wie sie über dich geredet hat. Aber dann dachte ich: Nein, das würde sie niemals tun. Unter keinen Umständen. Aber wenn sie… wenn sie dir auch nur ein Haar gekrümmt hat, Simon, dann… so wahr mir Gott helfe…«

Simon konnte es nicht länger ertragen. Langsam zog er einen Handschuh aus und streckte seiner Schwester seine Finger entgegen – seiner Schwester, die am Strand seine Hand gehalten hatte, als er noch zu klein gewesen war, um allein ins Meer zu watscheln. Seine Schwester, die ihm nach so manchem Fußballtraining das Blut abgewischt hatte und nach dem Tod ihres Vaters die Tränen… und als ihre Mutter wie ein Zombie im Schlafzimmer gelegen und reglos an die Decke gestarrt hatte. Seine Schwester, die ihm immer vorgelesen hatte, als er noch so klein war, dass er Strampelanzüge trug und abends in sein Bettchen kletterte, das die Form eines Rennwagens hatte. Ich bin der Lorax: Ich sprech für die Bäume, denn die können’s ja nicht! Seine Schwester, die einmal versehentlich seine ganzen Sachen zu heiß gewaschen hatte, sodass sie auf Puppengröße geschrumpft waren – damals, als sie versucht hatte, mehr im Haushalt zu helfen. Die ihm jedes Mal, wenn seine Mutter keine Zeit hatte, ein Lunchpaket zubereitet hatte. Rebecca, dachte er. Das letzte Band, das noch zerschnitten werden musste.

»Nimm meine Hand«, forderte er sie auf.

Rebecca griff danach und zuckte zusammen. »Du bist ja eiskalt. Bist du krank?«

»Könnte man so sagen.« Simon schaute seine Schwester an und versuchte, ihr dabei wortlos mitzuteilen, dass mit ihm etwas nicht stimmte, und zwar etwas Grundlegendes. Doch sie sah ihn nur mit ihren vertrauensvollen braunen Augen an. Einen Moment lang musste Simon sich zusammenreißen, um nicht ungeduldig zu werden. Schließlich war es nicht ihre Schuld. Sie konnte es ja nicht wissen. »Fühl mal meinen Puls«, sagte er.

»Ich weiß nicht, wie das geht, Simon. Ich studier Kunstgeschichte, nicht Medizin.«

Simon nahm ihre Hand und legte ihre Finger auf sein Handgelenk. »Drück hier drauf. Und, spürst du irgendetwas?«

Rebecca schwieg einen Moment und konzentrierte sich, wobei ihr ein paar Ponysträhnen in die Stirn fielen. »Nein. Sollte ich denn was spüren?«

»Becky…« Frustriert zog Simon seine Hand zurück und seufzte. Ihm blieb wohl keine andere Wahl – es gab nur noch diese eine Möglichkeit. »Sieh mich an«, sagte er, und als seine Schwester ihn anschaute, ließ er seine Fangzähne hervorschnellen.

Rebecca schrie auf.

Sie schrie auf und fiel von der Parkbank auf den harten Lehmboden. Mehrere Passanten warfen ihnen neugierige Blicke zu, aber sie befanden sich nun mal in New York – hier blieb niemand stehen und glotzte, hier ging jeder einfach weiter.

Simon fühlte sich elend. Er hatte zwar seiner Schwester alles erzählen wollen, doch ihre Reaktion traf ihn härter als gedacht – so wie sie da auf dem Boden kauerte, mit kreidebleichem Gesicht, auf dem sich die Sommersprossen nun deutlich abzeichneten, eine Hand vor den Mund gepresst. Genau wie seine Mutter. Zu Clary hatte er einmal gesagt, dass es kein schlimmeres Gefühl gäbe, als den Menschen, die man liebt, nicht trauen zu können. Doch damit hatte er sich geirrt. Von den Menschen, die man liebte, gefürchtet zu werden – das war noch viel schlimmer. »Rebecca«, sagte er leise und mit brechender Stimme. »Becky…«

Seine Schwester schüttelte den Kopf, die Hand noch immer vor dem Mund. Sie hockte auf dem schmutzigen Boden, ihr bunter Schal hing im Laub. Unter anderen Umständen wäre das Ganze vielleicht sogar komisch gewesen…

Simon rutschte von der Parkbank und kniete sich neben sie. Seine Fangzähne waren wieder zurückgeglitten, doch Rebecca starrte ihn weiterhin an, als könnte sie sie noch sehen. Vorsichtig streckte Simon eine Hand aus und berührte seine Schwester an der Schulter. »Becks«, setzte er erneut an, »ich würde dich niemals verletzen. Und das Gleiche gilt für Mom. Ich wollte dich nur noch ein letztes Mal sehen, um dir zu sagen, dass ich verschwinden werde und du mich nie wiederzusehen brauchst. Ich werde euch beide in Ruhe lassen. Ihr könnt gemeinsam Thanksgiving feiern, ich werde nicht zu Hause auftauchen. Und ich werde auch nicht versuchen, mit euch in Kontakt zu bleiben. Ich…«

»Simon.« Rebecca zog ihn am Arm zu sich heran, wie einen Fisch an einer Angelschnur. Simon fiel ihr halb entgegen und Rebecca schlang die Arme um ihn. Dann umarmte sie ihren Bruder so fest wie zuletzt am Tag der Beerdigung ihres Vaters. Damals hatte Simon auf jene untröstliche Weise geweint, als ob der Schmerz nie wieder enden würde. »Ich will nicht, dass ich dich nie wiedersehe«, stieß Rebecca hervor.

»Oh«, murmelte Simon und ließ sich auf den Lehmboden sinken, völlig überrascht, sodass in seinem Kopf einen Moment lang gähnende Leere herrschte. Rebecca schlang erneut die Arme um ihn und Simon lehnte sich an sie, obwohl sie zierlicher war als er. Sie hatte ihn schon gestützt, als sie noch Kinder waren, und konnte es jetzt auch noch. »Ich dachte, du wolltest bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben«, sagte er leise.

»Wieso denn nicht?«, fragte Rebecca.

»Ich bin ein Vampir«, erklärte Simon. Irgendwie war es merkwürdig, diese Worte laut ausgesprochen zu hören.

»Das heißt also, es gibt Vampire?«

»Und Werwölfe. Und andere, noch viel merkwürdigere… Dinge. Das Ganze ist einfach passiert. Ich meine, ich bin angegriffen worden – ich hab mir das nicht ausgesucht. Doch das spielt sowieso keine Rolle mehr. Denn das hier bin jetzt ich.«

»Musst du…« Rebecca zögerte und Simon spürte, dass jetzt die entscheidende Frage kam, die wirklich wichtige Frage. »Musst du andere Leute beißen?«

Simon dachte an Isabelle, schob das Bild vor seinem inneren Auge aber rasch beiseite. Außerdem habe ich ein dreizehnjähriges Mädchen gebissen. Und einen Kerl. Es ist nicht so schrecklich, wie es klingt. Nein. Manche Dinge gingen seine Schwester einfach nichts an. »Ich trinke in Flaschen abgefülltes Blut. Tierblut. Aber ich verletze keine Menschen.«

»Okay.« Rebecca holte tief Luft. »Okay.«

»Wirklich? Ist es wirklich okay?«

»Du bist schließlich mein Bruder«, sagte Rebecca und rieb ihm unbeholfen über den Rücken.

Simon spürte etwas Feuchtes auf seiner Hand und schaute hinab. Seine Schwester weinte; eine ihrer Tränen war auf seine Finger getropft. Dann folgte eine weitere und Simon schloss die Finger darum. Er zitterte am ganzen Körper, aber nicht vor Kälte.

Trotzdem zog Rebecca ihren Schal aus und wickelte ihn um sie beide. »Wir werden schon eine Lösung finden«, sagte sie. »Du bist mein kleiner Bruder, du Blödmann. Ich hab dich lieb – ganz gleich, was auch passiert.«

Und dann saßen sie zusammen da, Schulter an Schulter, und starrten in die Schatten zwischen den Bäumen.

In Jace’ Zimmer war es hell; durch die geöffneten Fenster fiel das strahlende Licht der Mittagssonne herein. Sobald Clary den Raum betreten hatte, verriegelte Jace die Tür hinter ihnen. Clary hörte ein lautes Klirren, als er die Messer auf seinen Nachttisch warf. Sie wollte sich gerade umdrehen und ihn fragen, ob alles in Ordnung sei, da umfasste er ihre Taille und zog sie an sich.

Ihre Stiefel machten Clary zwar etwas größer als sonst, aber trotzdem musste Jace sich noch zu ihr hinunterbeugen, um sie zu küssen. Mit den Händen an ihren Hüften hob er sie hoch und presste sie an sich – eine Sekunde später spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund und vergaß alles um sich herum. Jace schmeckte nach Salz und Feuer. Clary versuchte, alles andere auszuschalten und sich nur auf ihre Empfindungen zu konzentrieren: der vertraute Geruch seiner verschwitzten Haut, die klamme Kühle seiner feuchten Haare an ihrer Wange, die Konturen seiner Schultern und seines Rückens unter ihren Händen, die Art und Weise, wie ihr Körper sich perfekt an seinen schmiegte.

Jace zog ihr das Sweatshirt über den Kopf und warf es beiseite. Darunter trug sie nur ein kurzärmliges Shirt, weshalb sie die Wärme seiner Haut unvermittelt spüren konnte. Sein Mund öffnete ihre Lippen und Clary fühlte, wie ihre Knie nachgaben, als sich seine Hand über den obersten Knopf an ihrer Jeans schob.

Es kostete sie all ihre Kraft und Selbstbeherrschung, um sein Handgelenk zu umfassen und es festzuhalten. »Jace«, wisperte sie. »Bitte nicht.«

Er hob den Kopf und löste sich leicht von ihr, sodass Clary sein Gesicht sehen konnte. Jace’ Augen wirkten leicht glasig; sein Herz wummerte an ihrer Brust. »Warum nicht?«, fragte er.

Gequält kniff Clary die Augen zusammen. »Vergangene Nacht… wenn wir nicht… wenn ich nicht ohnmächtig geworden wäre, dann weiß ich nicht, was passiert wäre. Und das in einem Raum voller Leute. Glaubst du ernsthaft, ich möchte mein erstes Mal mit dir – oder irgendein Mal mit dir – vor einem Haufen Wildfremder erleben?«

»Das war doch nicht unsere Schuld«, wandte Jace ein und fuhr ihr sanft mit den Fingern durch die Haare. Seine narbenbedeckte Handfläche streifte leicht über ihre Wange. »Dieses Silberzeugs… das waren Feendrogen, das hatte ich dir doch erklärt. Wir waren high. Aber jetzt bin ich nüchtern und du ebenfalls und…«

»Und Sebastian ist hier. Außerdem bin ich total erledigt und…« Und jetzt weiterzumachen, wäre eine ganz furchtbare Idee, die wir beide bereuen würden. »Und mir ist nicht danach«, log Clary.

»Dir ist nicht danach?«, wiederholte er ungläubig.

»Tut mir leid, wenn dir das noch keine gesagt hat, Jace, aber ich habe keine Lust.« Clary warf einen vieldeutigen Blick auf seine Hand, die noch immer auf ihrem Jeansbund ruhte. »Und jetzt ist mir noch viel weniger danach.«

Einen Moment lang zog Jace die Augenbrauen hoch, doch statt einer Antwort ließ er Clary einfach nur los.

»Jace…«

»Ich geh ins Bad und nehm ’ne kalte Dusche«, sagte er und trat einen Schritt zurück. Seine Miene war ausdruckslos, unergründlich.

Als die Badezimmertür krachend hinter ihm ins Schloss gefallen war, ging Clary zu seinem sorgfältig gemachten Bett, auf dem keinerlei Spuren des silbernen Flitters zu finden waren. Sie setzte sich und ließ den Kopf in die Hände sinken. Es war nicht die erste Meinungsverschiedenheit, die sie und Jace gehabt hatten; Clary hatte immer angenommen, dass sie sich genauso oft stritten wie andere Paare, ohne einander dabei mit Worten wirklich verletzen zu wollen. Sie waren auch noch nie wirklich böse auf den anderen gewesen. Doch irgendetwas an der Eiseskälte in den Augen dieses Jace traf sie zutiefst. Er schien so distanziert und unerreichbar, dass Clary nur mit größter Mühe die nagende Frage in ihrem Hinterkopf verdrängen konnte: Steckt in diesem Körper noch irgendein Teil vom richtigen Jace? Ist noch irgendetwas von ihm übrig, das sich zu retten lohnt?

Dies sind die Gesetze der Dschungel,

so alt und so klar wie das Licht;

der Wolf, der sie hält, wird gedeihen,

und sterben der Wolf, der sie bricht.

Lianengleich schlingt das Gesetz sich,

voran und zurück, auf und ab;

die Stärke des Packs ist der Wolf,

und die des Wolfs ist das Pack.

Jordan starrte blind auf das Gedicht an der Wand seines Schlafzimmers. Es handelte sich um einen alten Druck, den er in einem Antiquariat gefunden hatte; die Worte waren mit einer kunstvollen Umrandung aus Blättern versehen. Das Gedicht stammte von Rudyard Kipling und beschrieb die Regeln, nach denen die Werwölfe lebten, das Gesetz, das all ihre Handlungen bestimmte – es beschrieb sie sogar so genau, dass Jordan sich fragte, ob Kipling nicht ebenfalls ein Schattenweltler gewesen war oder zumindest das Abkommen gekannt hatte. Jordan hatte sich irgendwie verpflichtet gefühlt, den Druck zu kaufen und an die Wand zu hängen, obwohl er sich für Poesie normalerweise nicht sonderlich begeistern konnte.

Während der vergangenen Stunde war er unablässig in seiner Wohnung auf und ab gelaufen. Dabei hatte er in regelmäßigen Abständen sein Handy hervorgeholt, um zu überprüfen, ob Maia eine SMS geschickt hatte. Beim Kühlschrank hatte er immer wieder kurze Stopps eingelegt, die Tür geöffnet und nachgesehen, ob vielleicht auf magische Weise irgendetwas halbwegs Essbares darin aufgetaucht war. Natürlich nicht. Aber Jordan wollte auch nicht zum Supermarkt laufen und einkaufen – aus Sorge, dass Maia ausgerechnet dann, wenn er nicht da war, bei ihm vor der Wohnungstür erscheinen würde. Zwischendurch hatte er noch schnell geduscht, die Küche aufgeräumt, seine DVDs nach Farben sortiert und kurz den Fernseher ein- und sofort wieder ausgeschaltet.

Er war unruhig – so unruhig wie manchmal in Vollmondnächten, kurz vor seiner Verwandlung, wenn er den Sog der Gezeiten in seinem Blut spürte. Doch der Mond befand sich gerade im letzten Viertel. Außerdem machte Jordan nicht der Gedanke an eine Verwandlung so nervös, sondern Maia, weil sie nicht bei ihm war – nachdem sie fast zwei Tage ununterbrochen zusammen waren und er nie mehr als ein paar Schritte von ihr entfernt gewesen war.

Sie war ohne ihn zur alten Polizeiwache gefahren. Auch wenn Luke sich allmählich erholte, wollte sie das Rudel nicht durch die Anwesenheit eines Nichtmitglieds beunruhigen, hatte sie ihm erklärt. Zudem musste sie ja nur Lukes Genehmigung einholen, damit Simon und Magnus seine Farm nutzen konnten, und anschließend dort anrufen, um auf der Farm zeltende Rudelmitglieder zu warnen und zu bitten, das Gelände zu verlassen. Natürlich hatte sie recht, das wusste Jordan genau. Es gab wirklich keinen Grund, sie zu begleiten; doch sobald sie aufgebrochen war, hatte ihn eine große innere Unruhe erfasst. War sie gegangen, weil sie seine Gegenwart nicht länger ertragen konnte? Hatte sie es sich anders überlegt und beschlossen, dass ihr früheres Urteil über ihn doch der Wahrheit entsprach? Und was lief da eigentlich zwischen ihnen beiden – waren sie jetzt fest zusammen oder nicht? Das hättest du sie vielleicht mal fragen sollen, bevor ihr miteinander geschlafen habt, du Schlaumeier, tadelte er sich, als er ein weiteres Mal vor der offenen Kühlschranktür stand. Der Inhalt hatte sich nicht verändert: Flaschen mit Blut, eine halb aufgetaute Packung Rinderhack und ein verschrumpelter Apfel.

Plötzlich hörte er, wie sich der Schlüssel in der Wohnungstür drehte. Hektisch zuckte er vom Kühlschrank zurück, wirbelte herum und schaute an sich herab. Er war barfuß, nur mit Jeans und einem alten T-Shirt bekleidet. Warum hatte er sich während Maias Abwesenheit nicht rasiert, etwas Eau de Toilette benutzt oder sonst was unternommen? Rasch fuhr er sich mit den Händen durch die wirren Haare, als Maia auch schon den Wohnraum betrat und Jordans Ersatzschlüssel auf dem Beistelltisch ablegte. Im Gegensatz zu ihm hatte sie sich umgezogen: Sie trug nun Jeans und ein hellrosa Sweatshirt. Ihre Wangen wirkten rosig von der Kälte, während ihre Lippen rot schimmerten und ihre Augen strahlten.

Jordan verspürte ein solches Verlangen danach, sie zu küssen, dass es fast wehtat. Stattdessen schluckte er kräftig und fragte: »Und, wie ist es gelaufen?«

»Gut. Magnus kann die Farm nutzen. Ich hab ihm schon eine SMS geschickt.« Maia schlenderte zu Jordan an die Küchentheke und stützte die Ellbogen darauf ab. »Außerdem hab ich Luke noch erzählt, was Raphael über Maureen gesagt hat. Ich hoffe, das war okay.«

Jordan schaute sie verwirrt an. »Warum musste er denn davon erfahren?«

Die Frage schien Maia einen Dämpfer zu versetzen. »Oh Gott. Sag mir jetzt nicht, dass ich das für mich hätte behalten sollen.«

»Nein… ich hab mich nur gewundert…«

»Na ja, wenn sich wirklich eine bösartige Vampirin in Lower Manhattan herumtreibt, sollte das Rudel davon erfahren. Schließlich ist es unser Territorium. Außerdem wollte ich Lukes Ratschlag einholen… ob wir Simon darüber informieren sollten oder lieber nicht.«

»Was ist denn mit meinem Ratschlag?«, fragte Jordan in gespielt gekränktem Ton, den ein kleiner Teil tief in seinem Inneren ernst meinte. Er und Maia hatten zuvor kurz darüber gesprochen, ob Jordan seinem Schützling mitteilen sollte, dass Maureen wie wild um sich mordete, oder ob diese Information nur eine zusätzliche Last auf Simons Schultern darstellte. Jordan war zu dem Schluss gekommen, es ihm nicht zu erzählen – Simon hatte schon genug um die Ohren und konnte sowieso nicht viel daran ändern, oder? Doch Maia war sich nicht sicher gewesen.

Die junge Werwölfin setzte sich nun auf die Küchentheke und drehte sich zu Jordan. Auf diese Weise war sie etwas größer als er und schaute aus ihren braunen Augen auf ihn hinab. »Ich wollte einfach den Rat eines Erwachsenen.«

Jordan schnappte sich Maias locker baumelnde Beine und fuhr mit den Händen an den Seitennähten ihrer Jeans hoch. »Ich bin achtzehn – wie erwachsen soll ich denn noch werden?«

Lächelnd legte Maia die Hände auf seine Schultern und bog sie leicht nach hinten, als wollte sie seine Muskeln testen. »Na ja, du bist definitiv gewachsen…«

Im nächsten Moment zog Jordan sie von der Theke, fasste sie fest um die Taille und küsste sie. Flammen loderten in seinen Adern auf, als Maia seinen Kuss erwiderte und sich an seinen Körper schmiegte. Er fuhr ihr mit seinen Händen durch die Haare und schubste die Strickmütze zur Seite, sodass ihre Locken zum Vorschein kamen. Dann küsste er sie auf den Hals, während Maia ihm das T-Shirt über den Kopf zog, es auf die Küchentheke warf und schnurrend wie eine Katze ihre Hände über seinen Körper gleiten ließ: Schultern, Rücken, Arme. Jordan fühlte sich völlig berauscht von Maias Küssen und war fast schwerelos vor Glück. Also hatte sie ihn doch noch nicht abgehakt…

»Jordy«, murmelte sie. »Warte.«

Da Maia ihn so gut wie nie bei diesem Spitznamen nannte – außer die Situation war wirklich ernst –, beschleunigte sich Jordans ohnehin schon rasender Puls zusätzlich. »Was hast du denn?«, fragte er leise.

»Weißt du: Jedes Mal, wenn wir uns sehen, fallen wir übereinander her… Ich weiß ja, ich hab damit angefangen, und ich mach dir auch überhaupt keine Vorwürfe, aber vielleicht sollten wir uns einmal unterhalten, miteinander reden…«

Einen Moment lang starrte Jordan Maia an, ihre großen dunklen Augen, der pulsierende Herzschlag an ihrer Kehle, die leicht geröteten Wangen. Dann schluckte er und sagte mit bemüht ruhiger Stimme: »Okay. Worüber möchtest du gern reden?«

Maia schaute ihn nur an und schüttelte den Kopf. »Über nichts.« Eine Sekunde später verschränkte sie die Hände hinter seinem Kopf, zog ihn fest an sich, küsste ihn leidenschaftlich und schmiegte sich an seinen Körper. »Über gar nichts.«

Clary konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, als Jace endlich aus dem Bad kam und sich die nassen Haare trocken rieb. Sie saß noch immer auf seinem Bett und schaute zu ihm hoch, während er ein blaues T-Shirt über seine glatte goldbraune Haut mit den feinen weißen Narben streifte. Als er auf sie zukam und sich neben sie setzte, wandte sie rasch den Blick ab.

»Tut mir leid«, sagte er. Ein intensiver Duft nach Seife stieg von ihm auf.

Überrascht sah sie ihn an. Sie hatte sich gefragt, ob er in seinem jetzigen Zustand überhaupt zu einer Entschuldigung fähig war. Seine Miene wirkte ernst, ein klein wenig neugierig, aber nicht unaufrichtig. »Wow«, stieß Clary hervor. »Diese kalte Dusche muss echt grausam gewesen sein.«

Ein feines Lächeln zeichnete sich um seine Mundwinkel ab, doch dann schaute er wieder ernster und hob behutsam Clarys Kinn. »Ich hätte dich nicht so bedrängen dürfen. Es ist nur so… noch vor wenigen Wochen hätte ich nicht einmal im Traum daran gedacht, dich auch nur im Arm zu halten.«

»Ich weiß.«

Vorsichtig umfasste er ihr Gesicht mit beiden Händen und drehte es in seine Richtung; seine langen Finger ruhten kühl an Clarys Wangen. Alles an ihm erschien ihr so unfassbar vertraut – die mattgoldene Iris seiner Augen, die Narbe auf seiner Wange, die geschwungene Unterlippe und die winzige Ecke, die einem seiner oberen Schneidezähne fehlte und dazu beitrug, dass er nicht so nervig perfekt war. Trotzdem hatte Clary das Gefühl, vor einem Haus zu stehen, in dem sie als Kind gelebt hatte: Obwohl die Fassade noch dieselbe war wie früher, wusste sie, dass nun eine andere Familie darin wohnte.

»Aber es war mir immer egal«, fuhr Jace fort. »Ich wollte dich trotzdem, und zwar immer nur dich. Du warst das Einzige, das mir wichtig war. Du und nichts anderes.«

Clary musste schlucken. Ihr Magen zuckte nervös, nicht nur wegen der üblichen Schmetterlinge, die in Jace’ Gegenwart immer in ihrem Bauch flatterten. Dieses Mal verspürte sie ein regelrechtes Unbehagen. »Aber Jace, das stimmt doch nicht. Deine Familie ist dir doch auch wichtig. Und… ich hab immer gedacht, du wärst stolz darauf, ein Nephilim zu sein. Einer, der von den Engeln abstammt.«

»Stolz?«, wiederholte er skeptisch. »Wenn du halb Engel, halb Mensch bist, bedeutet das nur, dass du dir deiner eigenen Schwächen ständig bewusst bist. Du bist kein Engel. Der Himmel liebt dich nicht. Raziel interessiert sich nicht für uns. Wir können noch nicht einmal zu ihm beten. Wir beten zu niemandem. Wir bitten um nichts.

Weißt du noch, wie ich davon überzeugt war, dass in meinen Adern Dämonenblut fließen würde? Ich hab das damals gedacht, weil das meine Gefühle für dich erklärt hätte. Und irgendwie war diese Vorstellung eine Erleichterung. Ich bin nie ein Engel gewesen, nicht einmal annähernd. Obwohl…«, fügte er hinzu, »… vielleicht ein gefallener Engel.«

»Gefallene Engel sind Dämonen.«

»Ich will kein Nephilim sein«, sagte Jace. »Ich möchte etwas anderes sein. Zwar stärker, schneller, besser als Menschen. Aber auch anders. Nicht den Gesetzen eines Engels unterworfen, dem wir vollkommen egal sind. Frei.« Er fuhr sich mit der Hand durch die lockigen Haare. »Ich bin glücklich hier, Clary. Kommt es darauf nicht letztendlich an?«

»Ich dachte, wir wären zusammen glücklich gewesen«, warf Clary ein.

»Mit dir bin ich immer glücklich gewesen«, bestätigte er. »Aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich es auch verdienen würde.«

»Und jetzt schon?«

»Jetzt ist dieses Gefühl verschwunden«, erklärte er. »Ich weiß nur, dass ich dich liebe. Und zum ersten Mal reicht das völlig aus.«

Clary schloss die Augen. Einen Moment später küsste Jace sie erneut, dieses Mal jedoch sehr sanft. Sein Mund zeichnete die Konturen ihrer Lippen nach und Clary spürte, wie sie unter seinen Händen zu zerfließen drohte, wie sein Atem schneller ging und ihr Herzschlag sich beschleunigte. Seine Finger strichen behutsam durch ihr Haar, über ihren Rücken bis hinunter zur Taille. Seine Berührungen waren beruhigend und das Pulsieren seines Herzschlags an ihrer Brust erschien ihr wie vertraute Musik – und falls die Töne nicht ganz stimmten, so konnte sie das zumindest nicht feststellen. In ihren Adern floss das gleiche Blut, dachte sie, genau wie es die Elbenkönigin gesagt hatte: Ihr Herz begann zu rasen, sobald sein Puls sich beschleunigte – und es hatte sogar fast ausgesetzt, als seines nicht länger schlug. Wenn sie die Zeit noch einmal zurückdrehen könnte, würde sie alles wieder genauso machen.

Dieses Mal zog Jace sich zurück und fuhr ihr sanft mit den Fingern über die Wange und die Lippen. »Ich möchte das, was du willst«, erklärte er. »Was immer du willst, wann immer du willst.«

Clary spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Diese Worte klangen zwar schlicht, aber in seiner Stimme schwang eine gefährliche, verführerische Einladung mit: Was immer du willst, wann immer du willst. Seine Hand verharrte behutsam an ihrer Taille. Clary musste sich jetzt zusammenreißen. Sie würde sich nicht mehr lange zurückhalten können…

»Lies mir was vor«, sagte sie unvermittelt.

Verwundert schaute er zu ihr hinunter. »Wie bitte?«

Doch Clary blickte an ihm vorbei, zu den Büchern auf seinem Nachttisch. »Das Ganze ist ziemlich viel auf einmal und ich muss das alles erst mal verdauen: Sebastians Worte… das, was letzte Nacht passiert ist… einfach alles. Eigentlich müsste ich dringend schlafen, aber ich bin viel zu aufgedreht. Als ich noch klein war und nicht schlafen konnte, hat meine Mutter mir immer was vorgelesen, bis ich eingeschlummert bin.«

»Erinnere ich dich jetzt an deine Mutter? Ich muss mir unbedingt ein männlicheres Eau de Toilette zulegen.«

»Nein, natürlich nicht – aber… aber das würde mir jetzt gefallen.«

Jace rutschte ein Stück hoch, lehnte sich gegen die Kissen und griff nach dem Bücherstapel an seinem Bett. »Irgendwelche besonderen Wünsche?«, fragte er und schnappte sich mit einer schwungvollen Bewegung das oberste Buch – ein alter Wälzer mit Ledereinband und in goldenen Lettern geprägtem Titel. Eine Geschichte aus zwei Städten. »Dickens passt eigentlich immer…«

»Das hab ich schon mal gelesen. In der Schule«, erinnerte Clary sich, rutschte neben Jace und ließ sich ebenfalls in die Kissen sinken. »Aber ich kann mich an kaum was erinnern, deshalb hätte ich nichts dagegen, es noch mal zu hören.«

»Hervorragend. Man hat mir versichert, ich besäße eine angenehme, melodische Vorlesestimme.« Jace schlug die erste Seite auf, auf der der Titel in einer kunstvollen Schrift abgedruckt war. Daneben stand eine lange Widmung, und obwohl die Tinte inzwischen verblasst und kaum noch zu lesen war, konnte Clary die Unterschrift entziffern: Endlich wage ich zu hoffen William Herondale.

»Einer deiner Vorfahren?«, fragte Clary und tippte mit dem Finger vorsichtig auf die Seite.

»Ja. Eigentlich merkwürdig, dass es in Valentins Bibliothek stand. Mein Vater muss es ihm gegeben haben«, sinnierte Jace, schlug dann wahllos eine Seite auf und begann zu lesen: »Nach einer kleinen Weile enthüllte er sein Gesicht und fuhr mit festerer Stimme fort: ›Scheuen Sie sich nicht, mich anzuhören, und schrecken Sie nicht zurück vor meinen Worten. Ich gleiche einem Menschen, der jung gestorben ist. Mein ganzes Leben kann als gewesen betrachtet werden.‹

›Nein, Mr Carton. Ich bin überzeugt, dass der beste Teil davon noch vorhanden ist. Gewiss, Sie können Ihrer selbst noch viel, viel würdiger werden.‹«

»Ach, jetzt erinnere ich mich wieder«, bemerkte Clary. »Irgend so ein Dreiecksverhältnis. Und sie entscheidet sich für den Langweiler.«

Jace lachte leise. »Du hältst ihn vielleicht für langweilig, aber wer weiß schon, was viktorianische Damen unter ihren dicken Unterröcken in Stimmung brachte?«

»Übrigens stimmt das.«

»Was? Das mit den Unterröcken?«

»Nein. Dass du eine angenehme Vorlesestimme hast.« Clary drückte ihr Gesicht an seine Schulter. In Momenten wie diesem war der Schmerz am größten, viel größer, als wenn er sie küsste. Denn in diesem Moment hätte er ihr Jace sein können – solange sie nur fest genug die Augen schloss.

»Eine angenehme Stimme… und natürlich Muskeln aus Stahl«, erwiderte Jace und blätterte die Seite um. »Was will man mehr?«

17 Der Abschiedsgruß

Einst wandelte am Flusse ich

Der Tag neigte dem Ende sich

Da hört’ ich eine hübsche Maid:

»Oh weh, ’s gibt niemand, der mich freit.«

Ein Spielmann lauschte ihrem Leid

Und eilte flugs an ihre Seit’…

»Müssen wir uns diese weinerlichen Songs wirklich die ganze Zeit anhören?«, fragte Isabelle und klopfte mit ihrem Stiefel gegen das Armaturenbrett von Jordans Transporter.

»Zufälligerweise gefallen mir diese weinerlichen Songs, meine Liebe, und da ich fahre, bestimme auch ich über die Musik«, erwiderte Magnus hochmütig. Er saß tatsächlich hinter dem Steuer – und zu Simons Überraschung konnte er wirklich Auto fahren. Andererseits war das auch nicht allzu verwunderlich: Schließlich lebte Magnus schon seit Jahrhunderten auf dieser Welt und dürfte daher genug Zeit für ein paar Fahrstunden gehabt haben. Das ließ allerdings immer noch die Frage offen, welches Geburtsdatum er auf seinem Führerschein angegeben hatte, überlegte Simon.

Isabelle rollte mit den Augen, wahrscheinlich, weil sie in der engen Fahrerkabine nicht viel mehr als das tun konnte, schließlich saßen sie zu viert auf die Sitzbank gequetscht. Dabei war Simon fest davon ausgegangen, dass nur er und Magnus zur Farm hinausfahren würden. Doch dann hatte Alec darauf bestanden, sie zu begleiten – was Magnus überhaupt nicht recht war, weil er das ganze Unternehmen für »zu gefährlich« hielt. Und in dem Moment, als Magnus den Motor anließ, war Isabelle die Treppe im Hausflur hinuntergestürmt und hatte sich völlig außer Atem ebenfalls in den Transporter gezwängt, zwischen Simon und ihren Bruder. »Ich komme mit«, hatte sie keuchend verkündet.

Und damit war für sie die Angelegenheit geklärt gewesen – niemand hatte sie umstimmen oder von ihrem Entschluss abbringen können. Dabei hatte sie Simon kein einziges Mal angesehen und auch nicht erklärt, warum sie unbedingt mitwollte. Isabelle war einfach nur stur im Transporter sitzen geblieben. Sie trug eine Jeans und eine violette Wildlederjacke, die sie aus einem von Magnus’ Schränken gezogen haben musste; außerdem hatte sie ihren Waffengürtel um die schmalen Hüften geschlungen. Sie quetschte sich so eng neben Simon, dass der auf der anderen Seite gegen die Beifahrertür gepresst wurde und eine ihrer Haarsträhnen ihn die ganze Zeit über im Gesicht kitzelte.

»Wer ist das überhaupt?«, fragte Alec und schaute stirnrunzelnd auf den CD-Player, aus dem Musik ertönte, obwohl keine CD eingelegt war. Magnus hatte nur kurz mit einem bläulich glühenden Finger auf die Anlage getippt und schon hatte das Gerät angefangen zu dudeln. »Irgendeine alternative Feenband?«

Magnus antwortete nicht, stattdessen stieg die Lautstärke des Songs an.

Zum Spiegel lief sie aufgeregt

Das schwarze Haar war gut gelegt

Und ihr Gewand gar wunderschön.

Landauf, landab zog sie umher

Und traf so manchen Grandseigneur

Doch letztlich ward das Herz ihr schwer,

Denn eines war bald abzusehn:

Dass Männer nur auf Männer stehn.

Isabelle schnaubte. »›Dass Männer nur auf Männer stehn…‹ Das stimmt zumindest für alle in diesem Wagen. Natürlich mit Ausnahme von dir, Simon.«

»Ach – das ist dir also aufgefallen?«, bemerkte Simon.

»Ich bezeichne mich lieber als bisexuellen Freigeist«, ergänzte Magnus.

»Bitte benutze diese Worte nie in Gegenwart meiner Eltern«, warf Alec ein. »Vor allem nicht meinem Vater gegenüber.«

»Ich dachte, deine Eltern hätten mit deinem Coming-out kein Problem«, wunderte sich Simon. Dabei strich er sich das weiche dunkle Haar aus der Stirn und beugte sich vor, an Isabelle vorbei, um Alec anzusehen, der – wie so oft – finster dreinblickte. Abgesehen von irgendwelchen beiläufigen Gesprächen hatte Simon nie viel mit ihm zu tun gehabt: Alec ließ niemanden so leicht an sich heran. Aber Simon musste zugeben, dass seine eigenen Probleme mit seiner Mutter ihn neugierig auf Alecs Antwort machten.

»Meine Mutter scheint es akzeptiert zu haben«, sagte Alec. »Aber mein Vater… bei ihm sieht das anders aus. Einmal hat er mich sogar gefragt, was mich meiner Meinung nach schwul gemacht hat.«

Simon spürte, wie Isabelle sich neben ihm versteifte. »Was dich schwul gemacht hat?«, wiederholte sie ungläubig. »Alec, davon hast du mir nie erzählt.«

»Hoffentlich hast du ihm geantwortet, dass du von einer schwulen Spinne gebissen wurdest«, meinte Simon.

Magnus prustete vor Lachen, während Isabelle verwirrt dreinschaute.

»Ich habe Magnus’ Comic-Stapel durchgeblättert«, sagte Alec, »also weiß ich ausnahmsweise mal, worauf du anspielst.« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Und damit hätte ich dann die proportionale Homosexualität einer Spinne?«

»Nur wenn es sich um eine superschwule Spinne gehandelt hat«, erwiderte Magnus und stieß einen unterdrückten Schrei aus, als Alec ihn auf den Oberarm boxte. »Aua – okay, okay, ist ja schon gut.«

»Wie auch immer«, meinte Isabelle, ganz offensichtlich verärgert darüber, dass sie den Witz nicht begriff. »Dad wird wahrscheinlich sowieso nicht mehr aus Idris zurückkommen.«

Alec seufzte. »Tut mir leid, wenn ich deine Vorstellung von einer glücklichen Familie zerstört habe. Ich weiß, du hättest gern, dass Dad mit meiner Homosexualität kein Problem hat, aber das ist nun mal nicht der Fall.«

»Aber wenn du mir nicht erzählst, dass andere schlecht über dich reden oder Dinge tun, die dich verletzen – wie soll ich dir da helfen?« Simon spürte, wie Isabelle vor Entrüstung förmlich bebte. »Wie kann ich…«

»Izzy«, unterbrach Alec sie erschöpft. »Es geht hier nicht um einen einzigen, besonders negativen Vorfall, sondern um viele, beinahe unsichtbare Kleinigkeiten. Als Magnus und ich herumgereist sind, habe ich öfters zu Hause angerufen. Nicht ein einziges Mal hat Dad sich erkundigt, wie es Magnus geht. Wenn ich bei Ratssitzungen aufstehe, um etwas zu sagen, hört mir niemand zu. Ich weiß nie, ob das daran liegt, dass ich noch relativ jung bin, oder an etwas anderem. Einmal hab ich mitbekommen, wie Mom sich mit einer Freundin über deren Enkelkinder unterhielt, doch als ich den Raum betrat, brach das Gespräch sofort ab. Und Irina Cartwright meinte zu mir, es sei eine Schande, dass niemand meine blauen Augen erben würde.« Er zuckte die Achseln und schaute zu Magnus hinüber, der eine Hand vom Steuer nahm und sie kurz auf Alecs Hände legte. »Das alles ist nicht mit einem Messerstich zu vergleichen, vor dem du mich beschützen könntest – es sind eher eine Million kleiner Nadelstiche… Tag für Tag.«

»Alec«, setzte Isabelle an. Doch bevor sie irgendetwas hinzufügen konnte, tauchte vor ihnen ein hölzernes Schild in Form eines Pfeils auf, mit der Aufschrift THREE ARROWS FARM.

Simon erinnerte sich daran, wie Luke damals, auf dem Boden der Farm kniend, die Blockbuchstaben in schwarzer Farbe auf das Holz aufgetragen hatte. Clary hatte dann den unteren Rand des Schilds mit einem Blumenmuster versehen, das inzwischen fast verblichen war. »Fahr hier links«, forderte er Magnus auf und streckte dabei so ruckartig den Arm aus, dass er die beiden anderen beinahe getroffen hätte. »Wir sind da.«

Erst nach mehreren Kapiteln aus Dickens’ Roman hatte Clary ihrer Erschöpfung nachgegeben und war an Jace’ Schulter eingeschlafen. Im Halbschlaf erinnerte sie sich daran, wie er sie die Treppe hinuntergetragen und in das Schlafzimmer gelegt hatte, in dem sie am ersten Tag aufgewacht war. Als er beim Hinausgehen die Tür hinter sich schloss, versank der Raum in tiefer Dunkelheit. Und während er auf dem Flur noch nach Sebastian rief, war sie beim Klang seiner Stimme schon eingeschlafen.

Erneut träumte Clary von dem zugefrorenen See, von Simon, der ihren Namen rief, und von einer Stadt ähnlich wie Alicante, deren Dämonentürme jedoch aus menschlichen Gebeinen waren und durch deren Kanäle Ströme von Blut flossen. Als sie im dunklen Raum aufwachte, war ihr Bettlaken zerknüllt und ihr Haar total zerzaust. Zunächst glaubte Clary, die Stimmen draußen vor der Tür wären Teil ihres Traums, doch als sie lauter wurden, hob sie lauschend den Kopf, obwohl sie immer noch schlaftrunken und halb in ihren Träumen verfangen war.

»Na, kleiner Bruder?«, drang Sebastians Stimme unter ihrer Zimmertür hindurch. »Hast du es erledigt?«

Eine ganze Weile kam keine Antwort. Dann erklang Jace’ Stimme seltsam flach und tonlos: »Ja, ich hab’s erledigt.«

Sebastian sog hörbar die Luft ein. »Und die alte Dame… hat getan, was wir wollten? Den Kelch angefertigt?«

»Ja.«

»Zeig ihn mir.«

Ein Rascheln, dann wieder Stille. Schließlich sagte Jace: »Hier nimm ihn, wenn du ihn willst.«

»Nein.« Aus Sebastians Tonfall sprach eine merkwürdige Zurückhaltung. »Behalte ihn erst mal. Schließlich hast du ihn ja auch hergeschafft, oder?«

»Aber es war dein Plan.« Irgendetwas in Jace’ Stimme ließ Clary sich vorbeugen und ihr Ohr gegen die Wand pressen, um kein Wort zu verpassen. »Und ich habe ihn ausgeführt, so wie du es gewollt hast. Und jetzt, wenn du nichts dagegen hast…«

»Ich hab aber etwas dagegen.« Ein erneutes Rascheln. Clary stellte sich vor, wie Sebastian aufgestanden war und jetzt auf den nur wenige Zentimeter kleineren Jace hinabschaute. »Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Ich spüre das, aber das weißt du ja.«

»Ich bin einfach nur müde. Außerdem war ziemlich viel Blut im Spiel. Jetzt will ich mich einfach nur duschen und dann schlafen. Und…« Jace’ Stimme erstarb.

»Und du willst meine Schwester sehen.«

»Ja, ich möchte sie jetzt gern sehen.«

»Sie schläft. Schon seit Stunden.«

»Brauche ich dazu etwa deine Erlaubnis?« In Jace’ Stimme schwang ein scharfer Unterton mit, der Clary daran erinnerte, wie Jace einmal mit Valentin gesprochen hatte. In diesem Tonfall hatte er schon sehr lange nicht mehr mit jemandem geredet.

»Nein.« Sebastian klang überrascht, fast schon überrumpelt. »Wenn du unbedingt in ihr Zimmer platzen und sehnsüchtig ihr schlafendes Gesicht anstarren willst, nur zu. Ich werde nie verstehen, warum…«

»Richtig«, bestätigte Jace. »Das wirst du nie verstehen.«

Erneut wurde es still. Clary konnte förmlich sehen, wie Sebastian mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht Jace hinterherstarrte. Erst nach einem Moment begriff sie, dass Jace auf ihr Zimmer zusteuern musste. Rasch warf sie sich flach auf das Bett und schloss die Augen, als sich auch schon die Tür öffnete. Ein gelblich weißer Lichtschein fiel ins Zimmer, der sie einen Moment lang blendete. Sie versuchte, so überzeugend wie möglich aufzuwachen, und drehte sich auf die Seite, eine Hand vor den Augen. »Was ist denn…?«

Die Tür schloss sich und im Raum war es wieder dunkel. Clary konnte Jace nur als Schatten erkennen, der sich langsam auf ihr Bett zu bewegte. Als er über ihr stand, musste sie an eine andere Nacht denken, in der er zu ihr gekommen war, als sie schlief. Jace stand am Kopfende des Bettes, noch immer in seiner weißen Trauerkleidung, und in der Art und Weise, wie er zu ihr hinunterschaute, lag nichts Leichtes oder Sarkastisches oder Distanziertes. »Ich bin die ganze Nacht ziellos umhergewandert ich konnte nicht schlafen. Und dann hab ich festgestellt, dass meine Füße mich immer wieder hierhergebracht haben. Zu dir.«

Jetzt war er nur eine Silhouette – eine Silhouette mit hellen Haaren, die im schwachen Licht, das unter dem Türschlitz hindurchfiel, leicht schimmerten. »Clary«, wisperte er.

Im nächsten Moment ertönte ein dumpfes Geräusch und Clary begriff, dass er neben ihrem Bett auf die Knie gefallen sein musste. Reglos blieb sie liegen, aber ihr Körper versteifte sich.

Flüsternd drang Jace’ Stimme durch die Dunkelheit: »Clary, ich bin’s. Jace!«

Ruckartig schlug Clary die Lider auf und ihre Blicke trafen sich im Dunkeln. Mit großen Augen starrte sie Jace an, der vor ihr kniete und ungefähr auf einer Höhe mit ihr war. Er trug einen langen dunklen Wollmantel, der bis zum Kragen zugeknöpft war. Schwarze Runenmale – für Unhörbarkeit, Beweglichkeit und Genauigkeit – wanden sich wie eine Art Kette um seinen Hals. Clary hatte das Gefühl, durch seine großen goldenen Augen hindurchsehen zu können. Dahinter entdeckte sie Jace – ihren Jace. Der Jace, der sie in seinen Armen getragen hatte, als der Stachel des Ravener-Dämons sie getroffen und vergiftet hatte; der Jace, der schweigend zugesehen hatte, wie sie Simon vor der aufgehenden Sonne über dem East River zu schützen versucht hatte; der Jace, der ihr von dem kleinen Jungen und seinem Falken erzählt hatte, dem der Vater das Genick gebrochen hatte. Der Jace, den sie liebte.

Clarys Herz schien einen Moment auszusetzen; sie konnte nicht einmal nach Luft schnappen.

Ein drängender, gequälter Ausdruck stand in Jace’ Augen. »Bitte«, murmelte er. »Bitte, du musst mir glauben.«

Und Clary glaubte ihm. Sie besaßen das gleiche Blut, liebten auf dieselbe Art und Weise: Dies hier war ihr Jace, so sicher wie ihre Hände ihre eigenen Hände waren und ihr Herz ihr eigenes Herz. Aber… »Wie ist das möglich?« Clary versuchte, sich aufzusetzen.

Doch Jace drückte sie rasch in die Kissen zurück. »Pst, Clary, nicht jetzt. Wir können jetzt nicht reden. Ich muss wieder zurück.«

Fieberhaft griff Clary nach seinem Ärmel und spürte, wie Jace zusammenzuckte. »Bitte verlass mich nicht.«

Für den Bruchteil einer Sekunde ließ er den Kopf hängen, doch dann schaute er sie an und der Ausdruck in seinen Augen ließ Clary verstummen. »Warte ein paar Sekunden, nachdem ich gegangen bin«, wisperte er. »Dann schleich dich nach oben in mein Zimmer. Sebastian darf uns nicht zusammen sehen. Nicht heute Nacht.« Angestrengt rappelte er sich auf; seine Augen flehten sie an. »Er darf dich auf keinen Fall hören.«

Clary richtete sich auf. »Deine Stele… lass mir deine Stele hier.«

Zweifel flackerte in seinen Augen auf, doch Clary erwiderte ruhig seinen Blick und streckte die Hand aus. Nach kurzem Zögern griff Jace in die Tasche, holte den matt schimmernden Stab hervor und drückte ihn ihr in die Hand. Dabei streiften sich für einen kurzen Augenblick ihre Finger und Clary erbebte – eine kurze Berührung von diesem Jace war überwältigender als all die Küsse und Umarmungen in dem Nachtclub von letzter Nacht zusammen. Und sie wusste, dass er es auch spürte, denn er zog seine Hand hastig weg und ging rückwärts zur Tür. Clary konnte seinen flachen, unruhigen Atem hören. Dann fummelte er eine Sekunde am Türknauf herum und sein Blick blieb bis zum letzten Moment auf ihr Gesicht geheftet, bis die Tür mit einem lauten Klick ins Schloss fiel.

Sprachlos saß Clary in der Dunkelheit. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich das Blut in ihren Adern verdichtet, sodass ihr Herz doppelt so hart arbeiten musste, um nicht auszusetzen. Jace. Mein Jace.

Ihre Hand schloss sich um die Stele und irgendetwas daran – vielleicht die Kühle des harten Materials – schien ihr dabei zu helfen, ihre Gedanken zu sammeln und sich zu konzentrieren. Clary schaute an sich herab: Sie trug ein Top und Pyjamashorts und hatte eine Gänsehaut auf den Armen, allerdings nicht vor Kälte. Entschlossen setzte sie die Spitze der Stele auf ihre Armbeuge, zog sie langsam über ihre Haut und beobachtete, wie sich eine gewundene Unhörbarkeitsrune auf ihrer hellen Haut abzeichnete.

Dann öffnete sie die Zimmertür einen Spalt. Sebastian war verschwunden; wahrscheinlich hatte er sich schlafen gelegt. Leise Musik drang aus dem Wohnzimmer – irgendetwas Klassisches, die Art von Klavierspiel, die Jace gefiel. Clary fragte sich, ob Sebastian Musik mochte. Oder sonst irgendeine Art von Kunst – das erschien ihr nämlich als ein zutiefst menschlicher Wesenszug, was nicht wirklich zu ihrem Bruder passte.

Obwohl sie sich Sorgen machte, wo Sebastian wohl stecken mochte, trugen ihre Füße sie durch den Gang zur Küche – und anschließend vollkommen geräuschlos durch den Wohnraum und die Glastreppe hinauf. Ein paar Sekunden später huschte sie durch den oberen Flur zu Jace’ Zimmer, schlüpfte leise hinein und schloss die Tür hinter sich ab.

Durch die weit geöffneten Fenster konnte sie dunkle Dächer und die helle Sichel des Mondes sehen: eine perfekte Nacht im Herzen von Paris. Ein Elbenstein lag auf dem Nachttisch neben dem Bett und verströmte ein gedämpftes Licht, sodass Clary Jace erkennen konnte, der zwischen den beiden großen Fenstern stand.

Er hatte den langen Mantel abgestreift, der jetzt als zerknitterter schwarzer Haufen zu seinen Füßen lag. Clary begriff sofort, warum er ihn nicht direkt bei seiner Rückkehr ausgezogen, sondern ihn bis zum Kragen zugeknöpft gelassen hatte. Denn darunter trug er nur Jeans und ein graues Hemd – beides blutgetränkt. Das Hemd hing in Fetzen von seiner Schulter, als hätte es jemand mit einer scharfen Klinge aufgeschlitzt. Der linke Ärmel war hochgekrempelt und ein weißer Verband, dessen Ränder sich bereits dunkel verfärbt hatten, war um seinen Unterarm gewickelt. Jace hatte die Schuhe ausgezogen und stand barfuß auf dem Steinboden, der um ihn herum mit Blut besprenkelt war wie mit scharlachroten Tränen.

Clary legte die Stele auf den Nachttisch und sagte leise: »Jace.« Plötzlich erschien es ihr absurd, dass so viel Abstand zwischen ihnen lag, dass sie so weit von Jace entfernt stand, dass sie einander nicht berührten.

Doch als sie einen Schritt auf ihn zugehen wollte, hob Jace die Hand. »Nicht«, stieß er mit brüchiger Stimme hervor. Dann tasteten sich seine Finger zu den Knöpfen an seinem Hemd und öffneten sie langsam, einen nach dem anderen. Schließlich ließ er das blutgetränkte Kleidungsstück von den Schultern rutschen und zu Boden fallen.

Fassungslos starrte Clary ihn an: Liliths Rune prangte weiterhin auf seiner Brust, direkt über dem Herzen, aber sie schimmerte nicht länger silber-rot. Stattdessen hatte es den Anschein, als hätte ihm jemand einen glühenden Schürhaken über die Haut gezogen und sie versengt. Unwillkürlich griff sich Clary an die eigene Brust und spreizte die Finger über ihrem eigenen Herzen. Sie konnte spüren, wie es schlug – schnell und kräftig. »Oh«, brachte sie hervor.

»Ja, oh«, bestätigte Jace tonlos. »Aber es wird nicht lange anhalten, Clary. Ich meine, dass ich im Moment ich selbst bin. Nur so lange, bis die Wunde wieder verheilt ist.«

»Ich… ich hab mich gefragt…«, setzte Clary stammelnd an. »Als du geschlafen hast, da hab ich mich gefragt, ob ich die Rune nicht einfach zerschneiden sollte – so wie im Kampf gegen Lilith. Aber ich hatte Angst, Sebastian würde es vielleicht ebenfalls spüren.«

»Er hätte es auf jeden Fall gemerkt.« Jace’ goldene Augen wirkten so ausdruckslos wie seine Stimme. »Aber das hier hat er nicht gespürt, weil der Schnitt mit einem Pugio ausgeführt wurde – einem in Engelsblut gehärteten Dolch. Eine äußerst seltene Waffe; jedenfalls hatte ich zuvor noch keinen einzigen dieser Dolche zu Gesicht bekommen.« Jace fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Die Klinge ist heiß aufgelodert und zu Asche verglüht, nachdem sie mich berührt hatte, aber wenigstens hat sie auf diese Weise Liliths Runenmal beschädigt.«

»Du hast gegen jemanden gekämpft. Gegen einen Dämon? Warum hat Sebastian dich nicht begleitet…«

»Clary.« Jace’ Stimme war nur noch ein Flüstern. »Diese Wunde… wird zwar nicht so schnell verheilen wie eine normale Verletzung… aber auch nicht ewig offen bleiben. Und sobald sie sich geschlossen hat, bin ich wieder er.«

»Wie viel Zeit haben wir? Bis du wieder in den anderen Jace zurückverwandelt wirst?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich möchte… ich will unbedingt bei dir sein, in diesem Zustand, als ich selbst, und zwar so lange wie möglich.« Steif streckte er ihr eine Hand entgegen, als wäre er sich nicht sicher, wie sie seine Worte aufnehmen würde. »Meinst du, du könntest…«

Doch Clary war bereits losgestürmt und schlang ihm die Arme um den Hals. Jace fing sie auf und wirbelte sie herum, während er gleichzeitig das Gesicht in ihre Halsbeuge drückte. Clary atmete seinen Geruch ein wie frische Luft: Er roch nach Blut, Schweiß, Asche und Runenmalen. »Du bist es wirklich«, wisperte sie. »Du bist es wirklich.«

Jace lehnte sich leicht zurück, um sie betrachten zu können, und fuhr ihr mit der Hand sanft über die Wange. Genau das hatte ihr am meisten gefehlt – seine Sanftheit. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie sich überhaupt in ihn verliebt hatte: Sie wusste, dass dieser gezeichnete, sarkastische Junge mit allem, das er liebte, sanft umging.

»Ich hab dich vermisst«, stieß sie hervor. »Du hast mir so sehr gefehlt.«

Einen Moment lang schloss Jace die Augen, als würden ihn die Worte schmerzen. Behutsam legte Clary ihm eine Hand an die Wange und er drückte sein Gesicht dagegen, wobei seine Haare ihre Fingerknöchel kitzelten. Und da wurde Clary bewusst, dass auch sein Gesicht feucht war.

Der Junge weinte nie wieder.

»Es ist nicht deine Schuld«, versicherte sie ihm und küsste seine Wange mit der gleichen Zärtlichkeit, die er ihr entgegengebracht hatte. Clary schmeckte Salz… Blut und Tränen. Jace hatte noch immer kein Wort gesagt, aber sie konnte sein Herz wie wild an ihrer Brust schlagen hören. Er hatte die Arme fest um sie geschlungen, als wollte er sie nie wieder loslassen. Behutsam küsste Clary seine Wangenknochen, sein Kinn… und drückte ihre Lippen schließlich leicht auf seinen Mund.

Dieser Kuss hatte nichts von der verzweifelten Erregung im Nachtclub; dieser Kuss sollte Trost spenden und all die Dinge sagen, für die im Moment keine Zeit blieb. Jace erwiderte Clarys Kuss zunächst nur zögernd, doch dann drängender; seine Hand schob sich in ihre Haare und wickelte Strähnen um seine Finger. Ihre Küsse wurden intensiver und schließlich leidenschaftlicher, so wie jedes Mal… wie ein Waldbrand, der mit einem einzigen Streichholz begann und sich dann zu einer lodernden Feuersbrunst entwickelte.

Clary wusste zwar, wie stark Jace war, schnappte aber dennoch nach Luft, als er sie schwungvoll zum Bett trug und sanft zwischen die vielen Kissen gleiten ließ. Dann schob er sich über sie – in einer einzigen, fließenden Bewegung, die Clary daran erinnerte, wofür die vielen Runenmale auf seinem Körper waren. Kraft. Anmut. Leichtigkeit. Sie sog seinen Atem ein, während sie sich küssten, jeder Kuss länger, forschender. Gleichzeitig ließ sie ihre Hände über seine Schultern gleiten, über seine Armmuskeln, über seinen Rücken. Seine nackte Haut fühlte sich unter ihren Fingerkuppen wie glühende Seide an.

Als Jace’ Hände den Saum ihres Tops fanden, streckte sich Clary ihm entgegen, damit er auch das letzte, trennende Stück Stoff zwischen ihnen beseitigte. Sobald er das Top beiseitegeworfen hatte, zog sie ihn wieder zu sich heran. Ihre Küsse wurden nun intensiver, leidenschaftlicher, als versuchten sie, miteinander zu verschmelzen. Clary hätte nicht gedacht, dass sie sich noch näher kommen konnten, aber irgendwie schienen sie sich mit jedem Kuss enger umeinanderzuwinden, jeder Kuss noch verlangender und noch inniger…

Eine Weile glitten ihre Hände fieberhaft über den jeweils anderen Körper, bewegten sich dann allmählich langsamer, tastender und weniger hastig. Clary grub Jace die Nägel in die Schultern, als er erst ihre Kehle küsste, ihr Schlüsselbein und dann das sternförmige Mal auf ihrer Schulter. Sie strich mit ihren Fingerknöcheln über seine Narbe und küsste Liliths Mal, das noch immer geteilt war. Sie spürte, wie er erbebte, wie er sie wollte… Clary wusste, dass sie ebenfalls kurz vor einem Punkt stand, an dem es kein Zurück mehr gab – aber es war ihr egal. Sie wusste, was es bedeutete, ihn zu verlieren. Sie kannte die düsteren, leeren Tage, die folgen würden. Und sie wusste auch: Wenn sie ihn erneut verlieren würde, dann sollte wenigstens diese eine Nacht unvergesslich bleiben. Um sich daran festzuklammern. Um sich daran zu erinnern, dass sie ihm ein einziges Mal so nahe gewesen war, wie man einem anderen Menschen nur sein konnte. Sie verschränkte ihre Füße hinter seinem Rücken und Jace stöhnte auf, ein leiser, tiefer, hilfloser Laut an ihren Lippen. Seine Hände gruben sich in ihre Hüften.

»Clary.« Ruckartig zog Jace sich zurück. Er zitterte am ganzen Körper. »Ich kann nicht… Wenn wir jetzt nicht aufhören, gibt es kein Zurück mehr.«

»Möchtest du es denn nicht?« Verwundert schaute Clary zu ihm hoch. Sein Gesicht war gerötet, sein Haar zerzaust. Es war an den Stellen einen Hauch dunkler, wo ihm die Strähnen verschwitzt an Stirn und Schläfen klebten. Clary spürte, wie sein Herz in seiner Brust hämmerte.

»Doch schon, es ist nur so: Ich hab noch nie…«

»Du hast noch nie…?«, stieß sie überrascht hervor. »Du hast es noch nie getan?«

Jace holte tief Luft. »Doch, hab ich.« Seine Augen streiften über ihr Gesicht, als würde er nach Anzeichen von Kritik, Missbilligung oder sogar Abscheu suchen.

Ruhig erwiderte Clary seinen Blick; sie hatte ohnehin nichts anderes erwartet.

»Aber noch nie… noch nie mit jemandem, der mir wirklich etwas bedeutet hat.« Federleicht berührte er ihre Wange. »Ich weiß ja nicht einmal, wie…«

Clary lachte leise. »Ich denke, das hast du gerade bewiesen.«

»So hab ich das nicht gemeint.« Jace nahm Clarys Hand und drückte sie an sein Gesicht. »Ich will dich«, sagte er, »und zwar mehr als alles andere in meinem Leben. Aber ich…« Er schluckte. »Beim Erzengel! Dafür werd ich mich später in den Hintern treten.«

»Sag jetzt nicht, dass du nur versuchst, mich zu beschützen«, erwiderte Clary energisch. »Denn ich…«

»Darum geht es nicht«, erklärte Jace. »Ich bin… eifersüchtig.«

»Eifersüchtig? Aber auf wen denn?«

»Auf mich.« Er verzog das Gesicht. »Ich hasse die Vorstellung, dass er mit dir zusammen ist. Er. Dieser andere Teil von mir. Der Teil, der von Sebastian beherrscht wird.«

Clary spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann. »Aber in dem Club… letzte Nacht…«

Jace ließ den Kopf auf ihre Schulter sinken. Ein wenig verwundert strich Clary ihm über den Rücken und fühlte dabei die Kratzer, die ihre Fingernägel auf seiner Haut hinterlassen hatten. Durch die Erinnerung an diesen Moment im Alkoven des Nachtclubs errötete sie noch stärker – vor allem deswegen, weil er die Spuren mit einer Heilrune hätte beseitigen können, es aber nicht getan hatte. »Ich erinnere mich an jede einzelne Sekunde von letzter Nacht«, murmelte er. »Und es treibt mich in den Wahnsinn, weil ich es gewesen bin, aber irgendwie dann doch wieder nicht. Wenn wir zusammen sind, möchte ich, dass du wirklich du bist. Und ich wirklich ich.«

»Aber sind wir das nicht im Moment?«

»Ja, schon.« Jace hob den Kopf und küsste sie auf den Mund. »Aber für wie lange? Ich könnte mich jeden Moment in ihn zurückverwandeln. Das könnte ich dir nicht antun… uns nicht antun.« Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. »Ich weiß nicht einmal, wie du das überhaupt erträgst… in der Gegenwart dieses… Wesens zu sein, das nicht ich bin…«

»Selbst wenn du dich in fünf Minuten zurückverwandeln würdest, wäre es das trotzdem wert gewesen… Dass ich hier mit dir zusammen sein kann. Dass ich dich auf jener Dachterrasse nicht endgültig verloren habe. Denn das hier bist du… Und selbst in dieser anderen Version von dir steckt irgendwie dein wahres Ich. Es ist fast so, als würde ich dich durch eine verschwommene Fensterscheibe sehen, aber die Person auf der anderen Seite des Glases bist nicht du. Und endlich weiß ich das auch mit Sicherheit.«

»Wie meinst du das?« Jace’ Hände umfassten Clarys Schultern fester. »Was meinst du mit: Endlich weißt du das mit Sicherheit?«

Clary holte tief Luft. »Jace, als wir nach all dem Hin und Her schließlich zusammen waren… in diesem ersten Monat bist du richtig glücklich gewesen. Und alles, was wir gemeinsam unternommen haben, hat Spaß gemacht, war lustig und einfach schön. Aber dann kam es mir so vor, als ob du das alles langsam aufgeben würdest, die ganzen glücklichen Momente. Du wolltest nicht mehr bei mir sein, mich nicht einmal mehr ansehen…«

»Ich hatte Angst, ich könnte dir was antun. Ich hab gedacht, ich würde den Verstand verlieren.«

»Du hast nicht mehr gelächelt oder gelacht oder gescherzt. Und ich mache dir auch überhaupt keine Vorwürfe deswegen. Schließlich hatte Lilith sich in deine Gedanken hineingeschlichen und dich kontrolliert. Dich verändert. Und auch wenn ich weiß, dass das jetzt ziemlich blöd klingt, aber eines darfst du nicht vergessen: Ich hatte vorher noch nie einen festen Freund. Also hab ich angenommen, dein Verhalten wäre vielleicht ganz normal… dass du einfach das Interesse an mir verlieren würdest.«

»Clary, ich konnte doch nicht…«

»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen – ich erzähle dir das einfach nur. In den Phasen, in denen du… unter fremdem Einfluss stehst, scheinst du glücklich zu sein. Ich war eigentlich hergekommen, weil ich dich retten wollte.« Clary senkte die Stimme. »Aber ich hab mich allmählich gefragt, wovor ich dich retten wollte. Und warum ich dich in ein Leben zurückholen sollte, in dem du anscheinend furchtbar unglücklich warst.«

»Unglücklich?« Jace schüttelte den Kopf. »Ich hatte Glück, unglaubliches Glück; aber das habe ich damals nicht kapiert.« Ihre Blicke trafen sich. »Ich liebe dich«, erklärte Jace. »Du machst mich glücklicher, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Und jetzt, da ich weiß, wie es sich anfühlt, jemand anderes zu sein – sich selbst zu verlieren –, jetzt will ich mein Leben zurückhaben. Meine Familie. Dich. Einfach alles.« Seine Augen schimmerten dunkel. »Ich will das alles zurückhaben.« Im nächsten Moment presste er seinen Mund auf Clarys Lippen, öffnete sie, heiß und begierig. Seine Hände packten ihre Taille und krallten sich dann in das Bettlaken links und rechts von Clarys Hüften. Keuchend fuhr er zurück. »Wir dürfen nicht…«

»Dann hör auf, mich zu küssen!«, japste Clary. »Warte mal…« Sie tauchte unter Jace hindurch und schnappte sich ihr Top. »Ich bin gleich wieder da.« Rasch schob sie sich an ihm vorbei und huschte ins Bad. Nachdem sie die Tür geschlossen und das Licht eingeschaltet hatte, starrte sie sich einen Moment im Spiegel an: Ihre Augen wirkten riesig, ihre Haare waren zerwühlt und ihre Lippen geschwollen vom Küssen. Clary errötete, streifte ihr Oberteil über, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und steckte die Haare schnell zu einem Knoten hoch. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass sie nicht länger wie die geschändete Jungfrau auf dem Einband eines Groschenromans aussah, nahm sie sich ein Handtuch – wirklich total unromantisch – und machte es feucht. Dann kehrte sie ins Zimmer zurück.

Jace saß auf der Bettkante, in Jeans und einem sauberen und offen stehenden Hemd. Mondlicht fiel auf seine wirren Haare. Er sah aus wie eine Engelsstatue. Nur mit dem Unterschied, dass Engel in der Regel nicht blutüberströmt waren.

Clary stellte sich direkt vor ihn. »Okay«, sagte sie, »zieh dein Hemd aus.«

Verwundert hob Jace eine Augenbraue.

»Keine Sorge, ich werd schon nicht über dich herfallen«, stieß Clary ungeduldig hervor. »Ich kann den Anblick deines nackten Oberkörpers durchaus verkraften, ohne gleich in Ohnmacht zu fallen.«

»Bist du sicher?«, hakte Jace nach, streifte aber das Hemd von den Schultern. »Dieser Anblick hat schon bei vielen Frauen zu ernsthaften Verletzungen geführt – weil sie rücksichtslos aufeinander rumgetrampelt sind, nur um mir möglichst nahe zu sein.«

»Ja, ja, ist schon gut. Ich seh hier aber sonst niemanden außer mir. Und ich will dir nur das Blut abwischen.«

Gehorsam lehnte Jace sich zurück. Dunkles Blut hatte seinen Brustkorb und seinen Bauch mit krustigen Striemen versehen. Doch als Clary vorsichtig mit den Fingern darüberfuhr, erkannte sie, dass es sich um flache Schnittwunden handelte, die bereits verheilten, dank der Iratze, die Jace sich selbst aufgetragen hatte.

Er wandte ihr das Gesicht zu und schloss die Augen, während Clary seine Haut mit dem feuchten Handtuch behutsam sauber wischte, bis sich das weiße Baumwollgewebe rosa verfärbte. Vorsichtig rieb sie die getrockneten Blutflecken an Jace’ Hals weg, tauchte das Handtuch kurz in das Glas Wasser auf seinem Nachttisch und widmete sich dann seinem Oberkörper.

Jace hatte den Kopf in den Nacken gelegt und beobachtete Clary dabei, wie sie das Handtuch über seine muskulösen Schultern gleiten ließ, über die glatten Konturen seiner Arme und schließlich über seine breite Brust mit den weißen Narben und den schwarzen permanenten Runenmalen. »Clary«, setzte er leise an. Seine Stimme klang ernst.

»Ja?«

»Ich werde mich an das hier nicht erinnern«, sagte er. »Wenn ich mich zurückverwandelt habe… wieder unter Sebastians Kontrolle stehe, werde ich mich nicht daran erinnern können, dass ich kurzfristig wieder ich selbst gewesen bin. Ich werde mich nicht daran erinnern, dass ich mit dir hier zusammen gewesen bin oder mit dir gesprochen habe. Trotzdem, erzähl mir bitte… Ist mit meiner Familie alles in Ordnung? Geht es ihnen gut? Wissen sie…?«

»Was mit dir passiert ist? Teilweise. Und nein, es geht ihnen nicht gut.«

Jace schloss die Augen.

»Natürlich könnte ich dir etwas vorlügen«, fuhr Clary fort. »Aber ich finde, du solltest es erfahren. Deine Familie liebt dich wahnsinnig und will dich unbedingt zurückhaben.«

»Aber nicht so«, murmelte er.

Vorsichtig berührte Clary Jace’ Schulter. »Willst du mir erzählen, was passiert ist? Woher du diese Verletzungen hast?«

Jace holte tief Luft. Die Narbe auf seiner Brust zeichnete sich deutlich und dunkel von seiner Haut ab. »Ich habe jemanden getötet.«

Seine Worte trafen Clary wie der Rückstoß einer abgefeuerten Waffe. Das blutige Handtuch fiel ihr aus der Hand, und als sie sich bückte und es aufhob, starrte Jace nur stumm auf sie hinab. Im Licht des Monds wirkten seine Gesichtszüge elegant, kantig und traurig. »Wen?«, fragte Clary leise.

»Du kennst sie«, sagte Jace und jedes Wort schien wie ein Gewicht auf seinen Schultern zu lasten. »Die Frau, bei der du zusammen mit Sebastian warst. Die Eiserne Schwester. Magdalena.« Dann drehte er sich von Clary weg und tastete hinter sich nach einem Gegenstand, der zwischen den zerwühlten Laken seines Betts versteckt war. Die Muskeln unter seiner Haut bewegten sich, als er das schimmernde Objekt zu fassen bekam und sich wieder Clary zuwandte.

Jace hielt einen durchsichtigen Kelch in den Händen – eine genaue Kopie des Engelskelchs, nur mit dem Unterschied, dass er nicht mit Gold überzogen war, sondern ausschließlich aus silberweißem Adamant bestand.

»Sebastian hat mich… hat ihn heute losgeschickt, um das hier abzuholen«, erklärte Jace. »Und er hat mir außerdem den Befehl erteilt, sie umzubringen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte etwas rein Geschäftliches erwartet – keine Gewalt. Sie dachte, wir stünden auf derselben Seite. Ich hab mir den Kelch geben lassen und dann hab ich meinen Dolch gezückt und…« Jace holte gequält Luft, als würde die Erinnerung ihm Schmerzen bereiten. »Ich habe auf sie eingestochen. Eigentlich wollte ich sie direkt ins Herz treffen, aber sie hat sich abgewandt, da hab ich es um ein paar Zentimeter verfehlt. Daraufhin ist sie nach hinten getaumelt, hat nach ihrem Arbeitstisch getastet, auf dem noch Adamantpulver lag, und es mir ins Gesicht geworfen. Ich nahm an, sie wollte mich damit blenden, und hab blitzschnell den Kopf zur Seite gedreht. Als ich wieder zu ihr schaute, hielt sie einen Pugio in der Hand. Irgendwie hab ich instinktiv gewusst, worum es sich dabei handelte – das Licht der Waffe hat mir fast die Augen versengt. Mit letzter Kraft hat Magdalena mir den Dolch über den Oberkörper gezogen… es war ein stechender Schmerz in der Brust… und dann verglühte die Klinge.« Jace schaute an sich herab und stieß ein freudloses Lachen aus. »Das Verrückte daran ist: Wenn ich meine Kampfmontur getragen hätte, wäre all das überhaupt nicht passiert. Aber ich hatte sie nicht angelegt, weil ich dachte, es wäre nicht nötig. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass die Eiserne Schwester mich verletzen könnte. Aber der Pugio verbrannte das Runenmal – Liliths Mal – und plötzlich war ich wieder ich selbst. Ich stand über diese tote Frau gebeugt, einen blutigen Dolch in der einen Hand und diesen Kelch in der anderen.«

»Ich versteh das nicht. Warum hat Sebastian dir befohlen, sie zu töten? Sie war ja bereit, dir – beziehungsweise Sebastian – den Kelch auszuhändigen. Das hat sie doch gesagt…«

Kurzatmig holte Jace Luft. »Erinnerst du dich noch daran, was Sebastian über diese astronomische Uhr auf dem Prager Marktplatz erzählt hat?«

»Ja, der Legende nach hat der König dem Uhrmacher nach Fertigstellung der Uhr beide Augen ausstechen lassen, damit er nie wieder etwas derartig Schönes herstellen konnte«, sagte Clary. »Aber ich begreif nicht, was das damit zu tun hat…«

»Sebastian wollte Magdalenas Tod, damit sie nie wieder etwas Vergleichbares anfertigen konnte«, erläuterte Jace. »Und damit sie nichts ausplaudern konnte.«

»Was ausplaudern?« Clary nahm Jace’ Kinn und drehte sein Gesicht so, dass er ihr in die Augen schaute. »Jace, was hat Sebastian wirklich vor? Diese Geschichte, die er in der Waffenkammer erzählt hat… dass er Dämonen herbeilocken wolle, um sie zu vernichten…«

»Sebastian will tatsächlich Dämonen heraufbeschwören«, bestätigte Jace grimmig. »Vor allem einen Dämon: Lilith.«

»Aber Lilith ist tot. Simon hat sie getötet.«

»Dämonenfürsten sterben nicht. Jedenfalls nicht richtig. Sie besiedeln den Raum zwischen den Welten, die Große Leere. Simon hat lediglich Liliths Macht zerschlagen und sie in ihren Einzelteilen ins Nichts zurückgeschickt, aus dem sie gekommen ist. Aber dort fügt sie sich langsam wieder zusammen und wird wiederauferstehen. Normalerweise würde dieser Vorgang Jahrhunderte dauern, aber nicht, wenn Sebastian ihr hilft.«

Ein eisiges Gefühl breitete sich in Clarys Magengrube aus. »Ihr wie hilft?«

»Indem er sie in diese Welt zurückruft. Er will Liliths und sein eigenes Blut in dem Kelch mischen und damit eine Armee Dunkler Nephilim erschaffen. Sebastian will ein zweiter Jonathan Shadowhunter werden – aber auf Seiten der Dämonen, nicht auf Seiten der Engel.«

»Eine Armee Dunkler Nephilim? Ihr zwei seid zwar nicht zu unterschätzen, aber eine Armee stellt ihr noch lange nicht dar.«

»Ich weiß von etwa vierzig Nephilim, die entweder Valentin treu ergeben waren oder das derzeitige Vorgehen des Rats verabscheuen und sich gern anhören wollen, was Sebastian ihnen zu sagen hat. Er steht schon eine ganze Weile in engem Kontakt mit ihnen. Wenn Sebastian Lilith heraufbeschwört, werden sie zur Stelle sein.« Jace holte tief Luft. »Und danach? Mit Liliths Macht im Rücken? Wer weiß, wer sich ihm noch alles anschließen wird… Sebastian will einen Krieg. Er ist davon überzeugt, dass er ihn gewinnen wird, und ich bin mir nicht sicher, ob er damit nicht recht hat. Denn mit jedem Dunklen Nephilim, den er erschafft, wächst seine Macht. Wenn man dazu noch die Treue-Eide nimmt, die die Dämonen ihm gegenüber geschworen haben, dann weiß ich nicht, ob der Rat überhaupt in der Lage ist, sich ihm zu widersetzen.«

Mutlos ließ Clary die Hand sinken. »Sebastian hat sich kein bisschen geändert. Dein Blut hat keinerlei Veränderung bei ihm bewirkt. Er ist genau so, wie er schon immer gewesen ist.« Rasch schaute sie wieder zu Jace hoch. »Aber du… du hast mich ebenfalls belogen.«

»Er hat dich belogen.«

Clarys Gedanken überschlugen sich. »Ich weiß. Ich weiß, der andere Jace… das bist nicht du…«

»Er glaubt, es wäre zu deinem Besten und du würdest dadurch letztendlich glücklicher werden. Aber er hat dich tatsächlich belogen. Ich würde das niemals tun.«

»Der Pugio«, setzte Clary nachdenklich an. »Wenn diese Waffe dich verletzen kann, ohne dass Sebastian es bemerkt, könnte der Dolch dann auch ihn töten, ohne dir Schaden zuzufügen?«

Jace schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Wenn ich einen Pugio hätte, würde ich es vielleicht ausprobieren, aber ich glaube nicht, dass das funktionieren würde. Nein, unsere Lebensenergien sind miteinander verknüpft. Eine Verletzung ist eine Sache, aber wenn er stirbt…« Jace’ Stimme bekam einen harten Ton. »Du kennst den einfachsten Weg, um das alles hier ganz schnell zu beenden, oder? Du musst mir nur einen Dolch ins Herz rammen. Ich hab mich sowieso schon gefragt, warum du das nicht längst getan hast, während ich geschlafen hab.«

»Wärst du denn dazu in der Lage? Ich meine, wenn es dabei um mich ginge?« Clarys Stimme zitterte. »Ich hab immer geglaubt, dass es einen Weg gibt, das alles hier zum Guten zu wenden. Und davon bin ich auch jetzt noch überzeugt. Gib mir deine Stele und ich erschaffe uns ein Portal.«

»Du kannst hier drinnen kein Portal erschaffen. Das geht nicht. Diese Wohnung hat nur einen einzigen Ein- beziehungsweise Ausgang, und zwar unten an der Wand, neben der Küche. Das ist auch der einzige Ort, von dem aus man diese Wohnung fortbewegen kann.«

»Kannst du uns nicht in die Stadt der Stille transportieren? Wenn wir erst dort sind, können die Stillen Brüder nach einer Möglichkeit suchen, dich von Sebastian zu trennen. Und wir berichten dem Rat von seinem Plan, damit entsprechende Vorkehrungen getroffen werden…«

»Natürlich könnte ich uns zu einem der Zugänge zur Stillen Stadt transportieren«, erklärte Jace. »Und das werde ich auch tun. Aber über eine Sache musst du dir im Klaren sein, Clary: Wenn ich den Ratsmitgliedern alles erzählt habe, was ich weiß, werden sie mich töten.«

»Dich töten? Nein, das würden sie nicht tun…«

»Clary«, setzte Jace in sanftem Ton an. »Als guter Schattenjäger bin ich dazu verpflichtet, freiwillig zu sterben, um Sebastian an seinem Vorhaben zu hindern. Ja, als guter Schattenjäger würde ich das tun.«

»Aber das Ganze ist doch nicht deine Schuld«, protestierte Clary mit erhobener Stimme und zwang sich dann hastig zu einem gedämpften Ton, damit Sebastian sie im Erdgeschoss nicht hören konnte. »Für das, was man dir angetan hat, kannst du doch überhaupt nichts. Du bist ja auch nur ein Opfer in dieser ganzen Geschichte. Das bist nicht du, Jace – das ist jemand anderes, der dein Gesicht trägt. Man darf dich dafür doch nicht bestrafen…«

»Hier geht es nicht um Bestrafung. Es geht darum, eine praktische Lösung zu finden: Töte mich und Sebastian wird sterben. Das Ganze ist nichts anderes als eine Schlacht, in der ich mich für die anderen Nephilim aufopfere. Es ist so einfach zu sagen, ich hab mir das Ganze nicht ausgesucht, es ist einfach geschehen. Aber der Jace, der ich im Moment bin – nämlich ich selbst –, wird schneller wieder verschwunden sein, als uns lieb ist, Clary. Und… ich weiß, dass das jetzt keinen Sinn ergibt, aber ich kann mich an alles erinnern… an alles, was passiert ist: Unser Spaziergang durch Venedig, jene Nacht in dem Prager Club und die Stunden, die ich danach mit dir zusammen in diesem Bett geschlafen habe. Verstehst du denn nicht? Das ist genau das, was ich mir immer gewünscht habe: Ich wollte auf diese Weise mit dir leben, auf diese Weise an deiner Seite sein. Aber wie soll ich damit umgehen, dass mir das Schlimmste, was mir je widerfahren ist, genau das gibt, was ich immer wollte? Vielleicht kann Jace Lightwood ja erkennen, was daran falsch und verdreht ist, aber Jace Wayland, Valentins Sohn… liebt dieses Leben.« Er schaute sie mit großen goldenen Augen an. Clary fühlte sich an Raziel erinnert, an seinen Blick, der alle Weisheit und alles Leid dieser Welt zu umfassen schien. »Und das ist der Grund, warum ich jetzt gehen muss«, erklärte Jace. »Bevor die Wunde verheilt ist und ich wieder er bin.«

»Gehen? Wohin?«

»Zur Stadt der Stille. Ich muss mich den Stillen Brüdern ausliefern… und diesen Kelch ebenfalls.«

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