Als er erwachte, war von seiner Wunde nicht mehr übrig als rosige neue Haut und ein gelegentlicher Phantomschmerz. Die kybernetischen Helfer hätten ihn geheilt, erklärte Ben. Er habe dreieinhalb Wochen tief und fest geschlafen.
Das Haus war ebenfalls repariert worden. Keine Spur war mehr von dem Qualm und dem Feuer vorhanden. Die Fensterrahmen waren ausgetauscht und neue Scheiben waren eingesetzt worden. Das Haus befand sich in einem makellosen Zustand.
Genauso, wie ich es vorgefunden habe, dachte Tom. Neu und alt. Einen halben Schritt außerhalb der Zeit.
»Da ist jemand, den Sie unbedingt kennenlernen müssen«, sagte Ben.
Sie wartete in der Küche auf ihn.
Noch etwas benommen von seiner Genesung und von den Ereignissen, die in seinem Gedächtnis noch zu frisch waren, erkannte er sie zuerst nicht.
Er spürte nur eine seltsam starke Vertrautheit, eine Art Déjà-vu-Gefühl. Dann sagte er: »Sie waren in dem Wagen… Sie haben den Wagen gefahren, der ihn erwischt hat.« Er erinnerte sich an das Gesicht, das er für einen kurzen Moment über den Scheinwerfern gesehen hatte.
Sie nickte. »Das stimmt.«
Sie hatte graue Haare, war um die fünfzig Jahre alt und ein wenig breit um die Hüften. Bekleidet war sie mit Jeans und einer blauen Baumwollbluse. Dazu trug sie eine Brille, deren dicke Gläser ihre Augen sehr groß erscheinen ließen.
Er betrachtete sie eingehender, und die Welt schien um ihn herum zu versinken. »Oh mein Gott«, stieß er hervor. »Joyce!«
Ihr Lächeln war offen und aufrichtig. »Wir begegnen uns immer unter den seltsamsten Umständen, nicht wahr?«, sagte sie.
Er verbrachte ein paar Tage im Haus und unterzog sich, wie Doug es nannte, einer »emotionalen Dekompression«, aber er konnte nicht dortbleiben. Das Haus war im wahrsten Sinne des Wortes wieder von seinem Vorbesitzer übernommen worden. Die Zeitreisestation war repariert worden. Für Tom war dort kein Platz mehr.
Er war sozusagen heimatlos, aber er war nicht arm. Eine Summe, die dem Preis entsprach, den er für das Haus gezahlt hatte, war plötzlich auf dem unter seinem Namen geführten Konto bei der Bank of America aufgetaucht. Tom wollte von Ben wissen, wie es zu diesem glücklichen Zufall hatte kommen können — dabei war er sich nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte —, und Ben erwiderte: »Ach, Geld ist kein großes Problem. Die richtige Elektronik und entsprechende Berechnungen können wahre Wunder wirken. Am erstaunlichsten ist es, dass man so etwas per Telefon erledigen kann.«
»Das ist ja fast genauso wie das, was Hacker am Computer schaffen«, sagte Tom.
»Um einiges raffinierter, aber damit könnte man es vergleichen.«
»Ist das nicht unmoralisch?«
»Gehört Ihnen dieses Haus? Besitzen Sie all die Dinge, die Ihnen laut Vertrag gehören sollten, tatsächlich? Wenn nicht, wäre es dann nicht fair, wenn Sie ohne einen Penny aus dieser ganzen Sache herauskämen?«
»Sie können doch nicht einfach irgendwelche Geldsummen erfinden oder herbeizaubern. Geld muss doch von irgendwoher aufs Konto kommen.«
Ben hatte nur einen mitleidigen Blick für ihn übrig.
Der Tunnel wurde repariert, und die Zeitreisenden kamen aus ihrer unvorstellbar fernen Zukunft herüber. Tom durfte einen Blick auf sie werfen. Er stand am Fuß der Kellertreppe, als sie aus dem Tunnel auftauchten. Ein Mann und eine Frau, zumindest auf den ersten Blick — Ben sagte, sie hätten ihr Äußeres verändert, damit sie menschenähnlicher aussähen als in Wirklichkeit. Ihre Augen, dachte Tom, waren sehr auffällig. Es waren graue Augen, die sehr neugierig blickten. Sie sahen ihn lange an. Sie betrachteten ihn, dachte Tom, wie man sich vielleicht ein lebendes Exemplar des Australopithecus ansehen würde — mit jener seltsamen Zuneigung, die wir unseren Urahnen gegenüber empfinden.
Dann wandten sie sich zu Ben um und begannen, sich mit ihm zu unterhalten. Dabei sprachen sie zu leise, als dass Tom sie hätte verstehen können. Er nahm das als Aufforderung, sich zu entfernen und sie sich selbst zu überlassen.
Archer und Catherine schufen oben auf dem Hügel im Simmons-Haus Platz für ihn. Das Bett war sehr gemütlich, aber er hatte nicht die Absicht zu bleiben. Er kam sich zu sehr als Eindringling vor. Sie nahmen Rücksicht auf seinen Zustand der Desorientierung, schienen auf Zehenspitzen um ihn herumzuschleichen, wollten ihn nicht in seiner Isoliertheit stören. Das war eine Rolle, die er auf keinen Fall spielen wollte.
Das Simmons-Haus stand zum Verkauf. Archer hatte seinen Job bei Belltower Realty an den Nagel gehängt, wollte aber keinen anderen Agenten für den Verkauf engagieren. Das Anwesen wurde mit dem Hinweis »Verkauf direkt vom Eigentümer« angeboten. »Es ist voller wichtiger Erinnerungen«, sagte Catherine, »aber ohne Grandma Peggy wäre dieses Haus für mich das reinste Mausoleum. Da ist es schon besser, wenn ich mich davon trenne.« Sie lächelte ihn mit einem Anflug von Wehmut an. »Ich glaube, wir alle sind aus diesem Abenteuer mit ganz neuen Ideen über die Vergangenheit und die Zukunft hervorgegangen. Wir denken sicherlich ganz anders über das, was wir behalten können und was nicht.«
Archer sagte, sie wollten nach Seattle ziehen, wo Catherine eher Interessenten für ihre Gemälde finden würde. Er könnte sich dort irgendeine Arbeit suchen, vielleicht sogar am College einige Kurse geben. Tom staunte. »Du willst Belltower nach all den Jahren wirklich verlassen?«
»Ja, diese Trennung muss endlich vollzogen werden. Jetzt fällt es mir viel leichter.«
»Es hat Purpurwinden geregnet«, sagte Tom.
»Ja, überall auf der Post Road. Purpurwinden mindestens einen halben Meter hoch.«
»Das weiß niemand, außer uns.«
»Nein. Aber wir wissen es genau.«
Der August war zu Ende gegangen. Mittlerweile war es September. Es war immer noch heiß, aber die ersten Vorboten des Winters lagen in der Luft, und in den Nächten kühlte es stärker ab.
Er holte seinen Wagen aus der Garage und fuhr damit hinunter zu Brack’s Auto Body, um ihn generalüberholen zu lassen. Der Monteur nahm einen Ölwechsel vor, reinigte die Zündkerzen, stellte den Vergaser und den Choke neu ein und berechnete viel zu viel dafür. Er schob Toms Visa-Kreditkarte hin und her und fragte: »Haben Sie eine längere Reise vor?«
Tom nickte.
»Wohin soll’s denn gehen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht zurück in den Osten. Ich dachte, ich fahre einfach drauflos.«
»Machen Sie Witze?«
»Nein, es ist mein Ernst.«
»Das finde ich absolut toll«, sagte der Monteur. »So was nennt man Freiheit, nicht wahr?«
Tom nickte. »Ja, das ist Freiheit.«
Er führte zwei Telefongespräche von der Zelle vor der Werkstatt.
Zuerst rief er Tony an. Es war Samstag. Tony war zu Hause, und man hörte im Hintergrund den Fernseher laufen. Tricia schien zu weinen. Loreen versuchte sie zu trösten.
»Ich bin gerade in der Stadt«, sagte Tom. »Da dachte ich, ich sollte mich mal wieder melden.«
»Heiliger Bimbam«, sagte Tony. »Ich glaubte schon, du wärst tot, ganz bestimmt. Geht es dir gut? Was meinst du damit, du bist gerade mal wieder in der Stadt?«
»Ich kann nicht hierbleiben, Tony. Du hattest mit dem Haus ganz recht. Es war keine gute Investition.«
»Wenn du nur kurz hier bist… wohin willst du denn weiterfahren?«
Er wiederholte, was er dem Automonteur gesagt hatte, irgendwohin nach Osten.
»Das finde ich ziemlich überstürzt. Du benimmst dich wie ein Halbwüchsiger, Tom, richtig unreif. Das Leben besteht doch nicht aus ziellosem Herumgondeln.«
»Vielen Dank für den Rat. Ich werde ihn mir merken. Hör mal, ist Loreen in der Nähe?«
»Du willst sie sprechen?« Er schien überrascht zu sein.
»Ich will ihr nur Hallo sagen.«
»Na schön. Pass auf jeden Fall auf dich auf. Denk aber diesmal daran, dich zu melden. Wenn du irgendetwas brauchen solltest, Geld, zum Beispiel…«
»Danke, Tony. Das finde ich wirklich nett von dir.«
Stille, gedämpftes Murmeln im Hintergrund, dann meldete Loreen sich. »Ich bin auf der Durchreise und wollte nur ein Lebenszeichen von mir geben«, sagte Tom. »Und ich wollte mich bei euch bedanken.«
Sie unterhielten sich eine Weile. Barry hatte gerade Windpocken. Tricia bekam einen Zahn. Tom sagte, er sei herumgereist, und das wolle er noch für eine Weile tun.
»Du klingst irgendwie anders«, stellte Loreen fest.
»Tatsächlich?«
»Ja. Ich weiß nicht recht, wie ich es beschreiben soll. Als hättest du mit irgendetwas deinen Frieden gemacht.« Darauf fiel ihm keine passende Antwort ein, deshalb schwieg er. Sie fuhr fort: »Es ist eine halbe Ewigkeit her, Tom, dieser Unfall, meine ich. Als deine Mutter und dein Vater starben. Aber das Leben geht weiter, Tom. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Aber das weißt du selbst, glaube ich.«
Ein letzter Anruf, ein Ferngespräch nach Seattle. Er bezahlte mit seiner Kreditkarte.
Eine männliche Stimme meldete sich. »Ist Barbara zu sprechen?«, fragte Tom.
»Einen Moment bitte.« Geklapper und Murmeln. Dann ihre Stimme.
Sie sagte, sie freue sich, von ihm zu hören. Sie habe sich schon Sorgen gemacht und sei erleichtert zu erfahren, dass es ihm gutgehe. Er bedankte sich bei ihr, dass sie ihn im vergangenen Frühjahr besucht hatte. Es habe gutgetan zu wissen, dass sie sich um ihn sorge.
»Ich glaube, damit hört man nie ganz auf. Es hat mit uns beiden zwar nicht besonders gut geklappt, aber wie Hund und Katze waren wir auch nicht gerade.«
»Es war schön, solange es gut lief«, sagte Tom.
»Ja.«
»Und du bist noch immer mit Rafe zusammen?«
»Wir haben unsere Probleme, aber ja. Ich glaube, es ist eine solide Sache.«
»Es gab Zeiten, da habe ich mir so sehr gewünscht, du würdest zurückkehren, dass ich tatsächlich versucht habe, so zu tun, als gäbe es dich gar nicht mehr. Kannst du das verstehen?«
»Vollkommen«, sagte sie.
»Die Jahre, die wir hatten, waren echte Jahre.«
»Ja.«
»Gute und schlechte.«
»Ja.«
»Vielen Dank für diese Jahre«, sagte er.
»Gehst du denn wieder weg?«, wollte sie wissen.
»Ich weiß noch nicht, wohin. Ich melde mich.«
»Bitte tu das«, sagte sie.
Er verließ die Stadt auf dem Küstenhighway und fuhr bis zu der schmalen Serpentinenstraße, auf der seine Eltern ums Leben gekommen waren.
An einem Aussichtspunkt ein Stück den Highway hinauf lenkte er seinen Wagen an den Rand der Fahrbahn. Er stieg aus und setzte sich für eine Weile auf die Steinmauer, wo der Berghang zwischen Krüppelkiefern wegsackte und zum Meer hin abfiel. Er war seit dem Unfall mindestens ein Dutzend Mal an dieser Stelle vorbeigekommen, hatte aber nie angehalten, hatte sich niemals dazu durchgerungen, über das Unglück nachzudenken. Das Klopfen an der Tür, die unbegreifliche Nachricht von ihrem Tod — er hatte sich zwar immer wieder mit diesen Dingen beschäftigt, aber niemals an diesem Ort. Mit der Mythologie, aber nie mit der Tatsache als solcher. Er rief sich in Erinnerung, dass ihr Wagen an einem regnerischen Tag über die Begrenzungsmauer geschleudert worden und abgestürzt war, dass der Wagen dann auf den Felsen zerschellte. Der Krankenwagen war eingetroffen und wieder weggefahren, das Autowrack war von einem Kran hochgehievt worden und wurde abgeschleppt. Die Nacht brach herein, die Wolkendecke riss auf, Sterne erschienen am Himmel, die Sonne ging auf. Zwei Menschen waren gestorben, doch ihr Tod war ein Ereignis neben allen anderen Ereignissen ihres Lebens, nicht bedeutsamer oder unwichtiger als ihre Trauung, die Geburt ihrer Kinder, als Ehrgeiz, Enttäuschung, Liebe. Vielleicht hatte Loreen recht mit dem, was sie gesagt hatte. Es wurde Zeit, dieses Gebein der Trauer zu all den anderen Gebeinen zu legen. Es nicht zu begraben, sondern es an seinen Platz zu legen, im Gewölbe der Zeit, der unwiederbringlichen Vergangenheit, wo die Erinnerung lebte.
Er stieg wieder in seinen Wagen und fuhr zurück nach Belltower.
Zurück zu dem entscheidenden Rätsel seines jetzigen Lebens: Joyce.
Er entdeckte sie auf der Post Road unterwegs zu dem kleinen Lebensmittelladen oben am Highway.
Er stoppte neben ihr und öffnete die Beifahrertür. Sie stieg ein.
Nach Toms Berechnung war sie im Februar dieses Jahres fünfzig geworden. Sie hatte etwas zugenommen, hatte mehr Falten im Gesicht, hatte graue Strähnen in ihrem Haar. Sie trug verwaschene Jeans, die an den Oberschenkeln etwas zu eng war, dazu ein schlichtes gelbes Sweatshirt und Turnschuhe für den langen Fußweg auf der Straße. Die Spuren der Zeit, dachte Tom. Ihre Stimme klang rauchig und etwas tiefer, als er sie in Erinnerung hatte. Vielleicht hatten die Zeit oder ein unruhiges Leben das bewirkt. Ihre Augen verrieten Letzteres.
Sie musterte ihn vorsichtig. »Ich war mir nicht ganz sicher, ob du zurückkommen würdest.«
»Ich mir auch nicht.«
»Hast du noch immer vor, die Stadt zu verlassen?«
Er nickte.
»Ich hatte gehofft, dass wir miteinander reden können.«
»Das können wir auch«, sagte Tom.
»Du warst nicht oft hier. Na ja, Teufel auch. Es muss für dich ein Schock sein, mich so zu sehen.«
Es stimmte, aber es klang schrecklich. Er versicherte ihr, dass sie gut aussehe. Sie sagte: »Ich sehe meinem Alter entsprechend aus, so gut oder so schlecht. Tom, ich habe diese siebenundzwanzig Jahre gelebt. Ich weiß, was ich erwarten kann, wenn ich in den Spiegel blicke. Du bist aufgewacht und hast etwas anderes erwartet.«
»Du bist weggegangen«, sagte er. »Ehe ich die Chance hatte, mich von dir zu verabschieden.«
»Ich bin verschwunden, sobald ich wusste, dass es dir gutgeht. Willst du wissen, warum?« Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und blickte in den blauen Septemberhimmel. »Ich bin weggegangen, weil ich der Verbindung zwischen uns nicht getraut habe. Ich bin weggegangen, weil ich hier keine Laune der Natur sein wollte… oder dich dort zu einer solchen machen wollte. Ich bin weggegangen, weil ich Angst hatte und nach Hause zurück wollte.
Ich bin gegangen, weil Ben mir mitteilte, der Tunnel würde in Ordnung gebracht, und die Wahl, die ich treffen würde, müsste meine letzte sein. Daher… zurück nach Manhattan, zurück ins Jahr 1962. Man denkt immer, dass man von vorne anfangen kann, aber am Ende stellt sich heraus, dass es nicht geht. Lawrence ist tot. Das hat einiges verändert. Und ich war hier gewesen, ich konnte einen Blick in die Zukunft werfen. Und selbst ein ganz winziger, kurzer Blick verändert einen. Zum Beispiel, erinnerst du dich an Jerry Soderman? Der Bücher schrieb, die niemand veröffentlichen wollte? Er machte seinen Weg als Lektor, wurde tatsächlich in den Siebzigerjahren gedruckt — literarische Romane, die kaum jemand las, aber er war richtig stolz auf sie. Zwei Monate nachdem ich zurückgekommen war, erzählt Jerry mir, dass er schwul ist; er wolle es nicht mehr verbergen, sondern ganz offen zugeben. Schön, aber der einzige Gedanke, den ich hatte, war: Hey, Jerry, ab 1976 oder so solltest du aber vorsichtig sein, was du treibst. Ich habe ihn tatsächlich in der Zeit angerufen, hatte Jahre nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich sagte, Jerry, es gibt da eine Krankheit, und ich kann dir verraten, wie du dich davor schützt. Er sagte, nein, so etwas gibt es nicht, und woher willst du das denn so genau wissen? Wie dem auch sei… Jerry ist vor zwei Jahren gestorben.«
»Das tut mir leid«, sagte Tom.
»Es ist nicht deine Schuld, nicht seine Schuld und nicht meine Schuld. Der Punkt ist der, ich konnte einfach nicht zurücklassen, was mit dir und mir und diesem Ort passiert ist. Ich habe es versucht! Und wie ich es versucht habe. Ich habe jede Anstrengung unternommen, es zu vergessen, und ich habe mein Leben gelebt. Ich war fünf Jahre lang verheiratet. Ein netter Kerl, eine schlechte Ehe. Ich hab eine Zeit lang als Backup-Sängerin gearbeitet, aber das war nicht sehr schön… Dann habe ich getrunken, wodurch meine Stimme ruiniert wurde. Und, weißt du, ich bin für die Bürgerrechte, gegen den Krieg, für saubere Luft auf die Straße gegangen. Als sich alles etwas beruhigte, nahm ich einen Job als Sekretärin in einem Anwaltsbüro in der Stadt an. Acht Stunden am Tag, ein regelmäßiger Gehaltsscheck, Jahresurlaub, und ich wäre auch heute noch dort, wenn ich nicht gekündigt hätte und in den Westen gekommen wäre. Es ist schon erstaunlich. Immer wieder habe ich mir geschworen, es nicht zu tun. Was hier geschehen war, war beendet, abgeschlossen. Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Aber ich erinnerte mich an das Datum auf der Zeitung, die ich in deinem Garten gelesen hatte. Jeden August habe ich den Tag gefeiert, wenn man es so nennen will. Dann, in den letzten beiden Jahren, begann ich Kalender in der gleichen Weise anzustarren, wie man es mit Uhren tut. Ich verfolgte, wie das Datum immer näher rückte. Am Silvesterabend im vergangenen Winter saß ich allein zu Hause, eine einsame Frau, die auf das halbe Hundert zuging. Ich köpfte eine Flasche Champagner und sagte um Mitternacht: Scheiß drauf, ich gehe.
Ich kaufte sechs Monate im Voraus Flugtickets. Sagte Bescheid. Ich weiß nicht, was ich zu finden hoffte oder erwartete, aber ich wünschte es mir so sehr. Nun, der Flug wurde verschoben. Ich bekam auf O’Hare keinen Anschluss, und ich musste die Nacht im Flughafen verbringen. Als ich nach Seattle kam, war es bereits Vormittag. Die Zeitung, es war die, an die ich mich erinnerte, lag in den Kästen. Ich mietete einen Wagen und fuhr zu schnell zur Küste hinunter. Ich hatte eine Panne und brauchte ziemlich lange, um den Reifen zu wechseln. Dann kam ich nach Belltower und konnte das Haus nicht finden. Ich konnte mich noch nicht einmal an den Namen der Straße erinnern. Ich glaube, ich erwartete, irgendwelche Schilder zu finden: BITTE HIER ENTLANG ZUR ZEITMASCHINE. Ich erkundigte mich in zwei Tankstellen, schaute auf einer Landkarte nach, bis ich glaubte, mir fielen die Augen aus dem Kopf. Schließlich machte ich an einem kleinen Imbissrestaurant halt, das auch nachts geöffnet hatte. Ich bestellte Kaffee, und als die Serviererin kam, fragte ich sie, ob sie jemanden namens Tom Winter oder Cathy Simmons kenne, und sie verneinte, sagte aber, draußen an der Post Road wohne eine Peggy Simmons und die habe wohl eine Enkelin namens Cathy, aber genau wisse sie das nicht. Ich gab ihr einen Zwanziger und kam schnellstens hierher. Erwischte diesen Kerl, der plötzlich vor meinen Scheinwerfern auftauchte, und ich konnte nicht anders, Tom… Nach all den Jahren sah er noch immer aus wie der leibhaftige Tod. Ich dachte daran, wie Lawrence in seinem billigen Sarg in irgendeiner traurigen Leichenhalle in Brooklyn lag, wo seine Eltern lebten, und es tat noch immer weh, nach all den Jahren. Daher riss ich das Lenkrad herum. Ich habe geweint, als ich ihn rammte.«
»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Tom.
»Ich hab dir das Leben gerettet, bin die Straße hinuntergefahren und habe mir ein Hotelzimmer genommen und saß bis zum Mittag des nächsten Tages zitternd im Bett. Um diese Zeit war mein jüngeres Ich nach Hause gegangen.«
»Dann bist du zurückgekommen«, sagte Tom.
»Ich habe Doug und Cathy einen heillosen Schrecken eingejagt. Ben schien aber nicht sehr überrascht zu sein.«
»Du wolltest noch irgendetwas.«
»Ich weiß nicht, was ich wollte. Ich glaube, ich wollte dich nur sehen. Einfach anschauen. Ergibt das irgendeinen Sinn? Fast dreißig Jahre lang habe ich immer wieder an dich gedacht. Daran, was wir waren, was wir hätten sein können. Ob ich dich wegen all dem lieben oder hassen sollte.«
Er hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme. »Bist du zu einem Schluss gekommen?«
»Nein, das bin ich nicht. Es sind alles nur Erinnerungen. Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.«
»Ich bin es, der sich entschuldigen sollte.«
Er lenkte den Wagen auf den Parkplatz hinter dem Lebensmittelladen und parkte dort, wo ein Sonnenstrahl durch eine Gruppe hoher Kiefern drang. Tom entschied, dass diese Frau Joyce war, völlig zweifelsfrei Joyce, trotz aller Veränderungen. Dass er erneut einem Wunder begegnet war, so mitleidslos und seltsam wie alle anderen.
Sie blinzelte ihn im hellen Sonnenlicht an und lächelte. »Catherine sagte, es gebe hier Pflanzensamen im Sonderangebot. Es ist zwar zu spät, um im Garten noch zu säen, aber der Samen hält sich, wenn man ihn in den Kühlschrank legt.«
»Samen für Ben? Er hat immer von einem Garten gesprochen.«
»Für mich. Ich bleibe vielleicht hier. Ben hat mir einen Job angeboten.« Sie hielt inne. »Seinen Job.«
Tom schaltete die Zündung aus und sah sie verständnislos an. »Was meinst du?«
»Er kehrt nach Hause zurück. Ich glaube, er hat es verdient, meinst du nicht? Er hat mich als Ablösung empfohlen. Seine Chefs waren einverstanden.«
Er überlegte einen Moment lang. »Willst du das wirklich?«
»Ich denke schon. Ben sagt, es ist eine einsame Arbeit. Vielleicht brauche ich so etwas für eine Weile.«
»Und wie lange soll die Weile dauern?«
»Acht Jahre. Dann wird die Station geschlossen. Dann gibt es im Keller nichts anderes als Gipswände. Ein unheimlicher Gedanke, nicht wahr?«
Acht Jahre, dachte Tom. 1997. Kurz vor der Jahrtausendwende.
»Ich schaffe acht Jahre«, sagte sie. »Ein Klacks.«
»Und was dann? Gehst du in Rente?«
»Sie überarbeiten mich. Machen mich wieder jung.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht jung, das ist das falsche Wort. Sie machen meinen Körper jung. Aber ich werde dann fast sechzig sein, gleichgültig, wie ich aussehe. Damit klarzukommen wird vielleicht etwas schwierig. Ich glaube, dass es nichts ausmacht. Innerlich ist man weder jung noch alt, sondern einfach man selbst, stimmt’s? Ich werde nicht gerade ein ausgelassenes junges Mädchen sein, aber ich werde auch nicht wie ein Monstrum erscheinen. Jedenfalls nehme ich das an.«
Sie war Joyce gewesen, würde Joyce sein und war es jetzt. »Ich glaube nicht, dass du dir wegen irgendetwas Sorgen machen musst.«
»Es ist lustig«, sagte sie. »Wie lange waren wir zusammen? Zehn Wochen, elf Wochen? Es ist schon lustig, wie zwei, drei Monate ein ganzes Leben derart durcheinanderwirbeln können. Jetzt bin ich alt, und du bist jung. In ein paar Jahren ist es genau umgekehrt.«
Er ergriff ihre Hand. Er stellte sich vor, wie er selbst in sieben Jahren hierher zurückkäme, an die Tür klopfte und Joyce ihm aufmachte…
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Rede nicht darüber. Lebe dein Leben. Warte ab, was geschieht.«
Er begleitete sie zum Einkaufen und fuhr sie dann nach Hause.
Während der Fahrt fragte sie Tom, was er jetzt vorhabe, und er erzählte ihr mehr oder weniger das, was er auch Tony und Barbara erzählt hatte. Er wolle nach Osten, für eine Weile von dem Erlös des Hauses leben und sich über einige Dinge klar werden.
Er fügte hinzu: »Ich denke oft an das, was Barbara tut. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich mit irgendeinem Spruchband vor einer giftverseuchten Mülldeponie stehe. Aber vielleicht sollte ich es mal versuchen, ich weiß es nicht. Ich denke auch an das, was Ben gesagt hat, dass die Zukunft immer unvorhersagbar ist. Vielleicht müssen wir gar nicht in der Welt landen, die so etwas geschaffen hat wie, nun ja, wie ihn…«
»Billy«, sagte Joyce. »Ben sagte, er habe Billy geheißen.«
»Vielleicht können wir Billy ausschalten, ihn verschwinden lassen.« Tom lenkte den Wagen in die bekieste Auffahrt dieses schlichten Hauses, hässlich, aber gepflegt, dieses einsame Haus oben an der Post Road. »Aber das ist ein Paradoxon, nicht wahr? Wenn Billy nicht existiert, wo ist er dann hergekommen?«
»Von dort, wo Geister herkommen«, antwortete Joyce.
»Schwer zu glauben, dass ein Geist so gefährlich sein kann.«
»Geister sind immer gefährlich. Das solltest du doch mittlerweile erkannt haben.«
Sie legte eine Hand an seine Wange, dann öffnete sie die Tür und stieg aus. Tom lächelte. Er wollte, dass sie ihn lächelnd in Erinnerung behielt.
Als er nach Osten fuhr, entdeckte er ein Päckchen Samen auf dem Beifahrersitz, das aus ihrer Einkaufstasche herausgerutscht sein musste: Purpurwinden, himmelblau.