Schon bald würde der Zeitreisende mit der Notwendigkeit seines eigenen Todes konfrontiert werden.
Er hatte diese Entscheidung nicht getroffen oder auch nur begonnen, über ihre Notwendigkeit nachzudenken, an jenem kühlen Frühlingsmorgen, als Billy Gargullo durch die Küchentür in den Garten stürzte, schwer bewaffnet und in goldfarbener Rüstung.
Der Zeitreisende — sein Name lautete Ben Collier — hatte die langwierige Aufgabe in Angriff genommen, hinter der Wiese einen Garten anzulegen. Er hatte kleine Pflöcke eingeschlagen und die Begrenzung mit Schnur markiert. Neben die mit Gras und Unkraut bewachsene Fläche hatte er eine Schaufel, einen Rechen und ein Gartenwerkzeug namens »Gartenhexe« gelegt. Er hatte alles in einem Eisenwarenladen in der Harbor Mall gefunden.
Ben freute sich auf das Abenteuer Gartenpflege. Er hatte niemals zuvor einen Garten gehabt. Er begriff die Grundlagen und Voraussetzungen, aber er wusste nicht genau, was dieser sonnige, feuchte Flecken Erde hervorbringen würde. Daher hatte er sich eine Kollektion an Samen aus dem Drehständer des Eisenwarenladens zusammengesucht. Darunter befanden sich Mais, Radieschen, Sonnenblumen und die nur nachts blühende Aloe. In der rechten Hand hielt er ein Paket Purpurwinden, die für einen freien Streifen am Zaun reserviert waren, wo sie etwas fanden, an dem sie sich hochranken konnten.
Er lebte jetzt seit fünfzehn Jahren allein auf diesem Anwesen — zwei Morgen ungerodeten Waldes und ein Holzhaus mit drei Zimmern. Ein vergleichsweise winziger Zeitabschnitt, aber durchaus bedeutsam, wenn man ihn an einem Stück durchlebte. Er war im August des Jahres 1964 an diesem Außenposten angekommen und hatte seitdem kein längeres Gespräch mehr geführt, bis auf das notwendige Hallo und Danke zu Ladenverkäufern und Lieferanten. Gelegentlich zog ein neuer Mieter in das Haus unten an der Straße und stieg den lang gestreckten Hügel herauf, um sich vorzustellen. Der Zeitreisende reagierte immer freundlich… aber in seinem Verhalten lag irgendetwas Seltsames, das die Nachbarn von einem zweiten Besuch abhielt. Er wirkte wie ein durchschnittlicher junger Mann mit rundem, freundlichem Gesicht — nicht so jung, wie er aussah, natürlich nicht, ganz im Gegenteil —, der lächelte und eine Levi’s und ein kariertes Hemd trug, kurz geschnittene Haare hatte und, wenn man Fantasie besaß, einen an etwas äußerlich Angenehmes, aber gleichzeitig irgendwie Beunruhigendes erinnerte. An einen Wassertümpel auf einer Waldlichtung zum Beispiel, aus dem jeden Moment etwas Altes und Fremdartiges aufsteigen konnte.
Er hatte die ganze Zeit allein gelebt. Für Ben war das nicht besonders schlimm. Er war wegen seiner Vorliebe zum Einzelgängertum ausgesucht worden, und er verfügte über geheime Hilfsmittel, die der jeweils gegenwärtigen Technologie weit voraus waren: ein weitreichendes Gedächtnis, taktile Erinnerung, ein ganzes Arsenal winziger kybernetischer Helfer. Er war nicht einsam. Nichtsdestotrotz war er, in einem sehr realen Sinn, allein. Er war ein aufmerksamer und pflichtbewusster Wächter. Aber die Ruhe des Hauses und des gesamten Anwesens verführten ihn manchmal dazu, in seiner Wachsamkeit nachzulassen. Es kam vor, dass er sich beim Tagträumen ertappte.
Zum Beispiel jetzt. Während er auf das Unkrautdickicht blickte, stellte er sich einen Garten vor. Einen Garten zu bearbeiten ist eine Art Zeitreise, dachte er. Man investiert Arbeit in die Erwartung einer veränderten Zukunft. In nackte Erde, die Blumen hervorbringt. Ein raffiniertes Werk von Zeit und Wasser und Stickstoff und pflegenden Händen. Diese Samen enthielten ihre eigene Blüte.
Er betrachtete das Päckchen in seiner Hand. Himmelblau lautete die Aufschrift. Das Bild war übertrieben bunt, ein Wirbel in Technicolor, türkisblau und purpurrot. Als Pflanzenart war die Purpurwinde schon Jahre vor seiner Geburt vom Aussterben bedroht gewesen. Er stellte sich vor, wie diese Blumen sich an den alten, duftenden Kiefernlatten des Zauns (die Kiefer: ein weiteres Opfer) emporrankten. Er stellte sich ihre Blüte im sommerlichen Sonnenschein vor. Er würde im letzten Licht eines heißen, trockenen Tages auf die Gartenveranda hinaustreten und diesen hellblauen Filigranschmuck bewundern.
In der Zukunft.
Er starrte auf das Päckchen — hing seinen idyllischen Träumen nach —, als der Räuber durch die Küchentür brach.
Er hatte eine Warnung erhalten, unterschwellig und ganz kurz nur, ausreichend, sodass er sich zum Haus umwandte. Er spürte es als eine Unruhe unter seinen kybernetischen Helfern und dann als ihr abruptes Schweigen.
Der Räuber trug etwas, das Ben als militärische Rüstung des späten einundzwanzigsten Jahrhunderts identifizierte. Es war eine Rüstung, die tief im Körper wurzelte, eine prothetische Rüstung, die ins Nervensystem eingebunden war. Der Räuber wäre sehr schnell und absolut tödlich.
Ben war nicht ganz ohne eigene Hilfsmittel. Sobald die äußere Erscheinung registriert und erkannt war, begannen für den Notfall vorgesehene Hilfseinrichtungen zu arbeiten. Er tauchte in die dürftige Deckung eines Fliederstrauchs, der am Rand der Wiese stand, ein paar Meter vom Waldrand entfernt. Er hatte genug Zeit für den stummen Wunsch, dass er die Blüte des Flieders noch erleben möge.
Er hatte Zeit für eine ganze Reihe von Gedanken. Seine Reflexe waren bis an die rein physikalischen Grenzen von Nerven und Muskeln beschleunigt. Sein Bewusstsein arbeitete schnell und mühelos. Die äußeren Ereignisse verlangsamten sich bis auf Kriechtempo.
Er betrachtete den Eindringling. Was er sah, war eine verschwommene goldfarbene Bewegung, der kurze Eindruck einer Handgelenkwaffe, die gezückt und in Anschlag gebracht wurde. Ben konnte sich nicht erklären, was den Mann hierhergebracht hatte, aber seine feindselige Haltung war offensichtlich, die Bedrohung stand außer Frage.
Ben war waffenlos. Es gab Waffen, die im Haus versteckt waren, aber er hätte an dem Räuber vorbeigelangen müssen, um an sie heranzukommen.
Er stand auf und wich nach links aus, rannte auf einem Zickzackkurs, der ihn zur Seitenfront des Hauses und weiter zur Vorderseite führen würde, zu einem Fenster oder einer Tür. Als er kurz stehen blieb, feuerte der Eindringling seine Waffe ab.
Es war eine primitive, aber absolut tödliche Strahlenwaffe, ein typisches Instrument ihrer Zeit. Ben erinnerte sich, Fotos von verbrannten und bis zur Unkenntlichkeit zerfleischten Körpern auf einem Schlachtfeld weit in der Zukunft gesehen zu haben. Der Strahl versengte die Luft nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt. Er glaubte, die grelle, säuerliche Ionisation schmecken zu können.
Dennoch, die richtige Rüstung hätte ihn geschützt. Und so etwas besaß er — im Haus.
Dieser Gedanke beherrschte ihn. Doch das Haus war zu weit entfernt, und die Wiese war ein ungeschütztes Todesfeld. Er sah, wie der Räuber sich duckte, um zu zielen. Er ließ sich fallen und machte eine Rolle vorwärts — zu spät. Der Strahl schnitt in sein linkes Bein und durchtrennte es dicht unterhalb des Knies.
Er spürte einen kurzen, aber furchtbaren Schmerz… dann nur noch Taubheit, als die beschädigten Nerven sich selbst ausschalteten. Angeschlagen, verkrüppelt, stützte Ben sich auf einen Birkenstumpf, der aus dem Gras ragte. Schon seit Jahren hatte er immer wieder daran gedacht, den Baumstumpf auszugraben. Das abgetrennte Bein — nun ein kaum identifizierbarer Zylinder toten Fleisches — rollte an ihm vorbei. Er verspürte den absurden Wunsch, es zu ergreifen und festzuhalten. Aber das Bein war verdorben — nicht mehr wiederherstellbar. Er brauchte wohl ein neues.
Er fühlte eine kurze Benommenheit, als offene Arterien sich schlossen. Der aus der geschwärzten Wunde pulsierende Blutstrom reduzierte sich zu einem Tröpfeln.
Kluge Programme waren in die freien Bereiche seiner DNS eingefügt worden. Für Ben war dies keine tödliche Verletzung. Eine ernsthafte Behinderung war es jedoch ganz gewiss.
Er war hier hilflos. Der Birkenstumpf bot überhaupt keine Deckung, und der Eindringling traf Vorbereitungen für einen weiteren Schuss. Ben humpelte vorwärts, drückte seinen blutigen Kniestumpf in die Erde, hüpfte zwei Schritte weit und rollte sich dann wie ein Betrunkener weiter. Er hätte damit Erfolg haben können, wenn der Räuber nach Sicht gezielt hätte. Doch die Waffe war mit einer Zielsuchvorrichtung ausgestattet, und der Strahl traf Bens Körper zweimal. Zuerst schnitt er seine rechte Hand am Handgelenk ab, und dann brannte er sich tief in seine Bauchhöhle. Blut und Flammen tanzten über sein Hemd, das er bei Sears in der Harbor Mall gekauft hatte.
Nun begann Ben an den Tod zu denken.
Wahrscheinlich war er unvermeidbar. Ihm war klar, wie ernsthaft er beschädigt war. Wieder wallte Benommenheit in ihm hoch, als wichtige Arterien sich verschlossen oder ausdehnten in dem vergeblichen Bemühen, den Blutdruck zu erhalten. Ein taubes Gefühl stieg von seiner Hüfte bis zu seinem Schlüsselbein hoch. Es war, als ließe er sich allmählich in ein warmes Bad gleiten. Er lag im Gras, wohin sein eigener Schwung ihn befördert hatte, konnte seine Gliedmaßen nicht bewegen und drohte ohnmächtig zu werden.
Er drehte den Kopf.
Der Räuber stand über ihm.
Seine Rüstung war goldglänzend und blendete ihn im Sonnenlicht.
Der Eindringling blickte auf Ben mit einem Ausdruck herab, der so gleichgültig, so emotionslos war, dass er totale Überraschung auslöste. Es ist ihm fast gleichgültig, dass er mich getötet hat, dachte Ben.
Der Räuber brachte seine Handgelenkwaffe erneut in Anschlag und zielte diesmal auf Bens Kopf.
Die Waffe war eher unauffällig und in eine seltsam insektenhaft anmutende Konstruktion der Rüstung integriert. Ben blickte an ihr vorbei, sah die Andeutung eines Lächelns.
Der Räuber feuerte seine Waffe ab.
Der Kopf des Zeitreisenden verschwand fast vollständig in einer Dampfwolke aus Knochen und Fleisch.
Billy Gargullo betrachtete die Leiche des Zeitreisenden mit plötzlicher Abscheu. Dies war kein Feind mehr, sondern etwas, was weggeschafft werden musste. Eine schmutzige Angelegenheit.
Er ergriff den heilen Arm der Leiche und begann, sie in das Wäldchen hinter dem Haus zu schleifen. Es war ein langwieriges, schweißtreibendes Unterfangen. Die Luft war kühl, aber die Sonne brannte gnadenlos herab. Billy folgte einem schmalen Pfad mehrere Meter weit und fühlte sich von der Üppigkeit des Waldes bedrängt. Er blieb dort stehen, wo der Pfad nach links abbog. Rechts von ihm befand sich eine Lichtung.
Auf dieser Lichtung stand ein Bretterschuppen, von Efeu überwuchert und seit Jahren nicht mehr benutzt.
Er öffnete vorsichtig die Tür des Schuppens. Ein Scharnier fehlte, und die Tür sackte schief zur Seite weg. Sonnenstrahlen drangen in das muffige Innere. Sie fielen auf Stapel halb vermoderter Zeitungen, ein paar verrostete Gartengeräte, eine im Licht tanzende Mückenwolke.
Billy schob und zerrte den Zeitreisenden — das versengte Fleisch seines Körpers — in den säuerlich und nach Erde riechenden Schatten der Hütte. Seine Aktion bewirkte, dass ein Stapel Zeitungen über die Leiche kippte. Die Zeitungen fielen mit einem klatschenden Geräusch nach unten, und Billy verzog bei dem plötzlich aufwallenden Modergestank angeekelt das Gesicht.
Er trat durch die Tür nach draußen. Er war zufrieden. Vermutlich würde die Leiche gefunden, aber sie würde zumindest für eine Weile Unruhe stiften. Er hatte nicht vor, sich an diesem Ort lange aufzuhalten.
Er stützte sich mit einer Hand gegen die von der Sonne angewärmte Wand des Schuppens.
Ein Geräusch erklang hinter ihm, ganz schwach, aber beunruhigend — ein Rascheln und Schnattern in der Dunkelheit.
Mäuse, dachte Billy.
Ratten.
Nun, sie können ihn haben.
Er schloss die Tür.
Billys erster Schuss hatte das Päckchen Purpurwindensamen aus der Hand des Zeitreisenden geschlagen.
Ein Teil des Energiestrahls schnitt in das Päckchen und verstreute seinen Inhalt über die Wiese. Das verkohlte Papier — die Aufschrift Himmelblau war noch immer in braunen Lettern lesbar — segelte nicht weit von dem Birkenstumpf entfernt, wo der Zeitreisende sein Bein verloren hatte, zu Boden. Die Samenkörner wurden auf einer weiten Fläche zwischen dem Baumstumpf und dem Zaun verstreut.
Die meisten Körner wurden von Vögeln und Insekten verspeist. Einige wenige trieben aus, bewässert vom Regen der darauffolgenden Nacht, wurzelten in der Wiese und wurden vom wuchernden Gras erstickt, ehe die Schösslinge die ersten Sonnenstrahlen sahen.
Vier Pflänzchen sprossen in der fruchtbaren Erde neben dem Holzzaun.
Drei hielten sich bis zum Sommer. Die wenigen Blüten, die sie hervorbrachten, entfalteten ihre Pracht im August, aber es war niemand da, der sie bewunderte. Das Gras war ungehindert in die Höhe geschossen, und das Haus war leer.
Es sollte noch für einige Jahre leer stehen.