TEIL EINS Die Tür in der Wand

1

Es war ein bescheidenes Holzhaus mit drei Zimmern. Das Kellergeschoss lag etwas tiefer, als es in diesem Teil des Landes üblich war. Das Haus selbst war gemütlich, mit Efeu überwuchert, von dichten Büschen umgeben und kilometerweit von der nächsten Stadt entfernt.

Es stehe schon seit Jahren leer, sagte der Immobilienmakler, und das Grundstück grenze an einen kleinen Kiefernwald mit einem Sumpf. »Offen gesagt, betrachte ich das Ganze nicht als ein besonders lohnendes Objekt.«

Tom Winter war anderer Meinung.

Vielleicht lag es an seiner Stimmung, aber das Anwesen übte auf Anhieb einen großen Reiz auf ihn aus. Paradoxerweise gefiel es ihm wegen seiner Nachteile: seiner einsamen Lage, seiner Abgeschiedenheit in diesem feuchten Nadelwald — seiner offensichtlichen Reizlosigkeit, ähnlich der offensichtlichen Hässlichkeit einer Bulldogge. Er fragte sich, ob er, wenn er dort lebte, irgendwann dem Haus ähnlich wurde, so wie Tierhalter sich angeblich ihren Lieblingen anglichen. Er wäre unauffällig. Allein. Vielleicht auch ein wenig verwildert.

Aber so, nahm Tom an, erschien er Doug Archer, dem Immobilienmakler, sicher nicht. Archer trug sein blaues Bell-Immobilien-Jackett, doch die saubere verwaschene Levi’s und seine zerzausten Haare verrieten seine Herkunft. Familie in der Gegend ansässig, vielleicht sogar immer noch in der Wildnis lebend. Dazu erzogen, Hosen mit Bügelfalten voller Misstrauen zu begegnen, wie Tom sie zufälligerweise trug. Aber der äußere Anschein konnte auch in die Irre führen. Tom hielt inne, als sie sich der schlichten Haustür aus glattem Kiefernholz näherten. »Hat das hier nicht früher mal den Simmons gehört?«

Archer schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Deren Anwesen liegt ein kleines Stück den Berg hinauf. Peggy Simmons wohnt noch immer dort — sie ist fast achtzig.« Er hob eine Augenbraue. »Sie kennen Peggy Simmons?«

»Ich habe früher immer Lebensmittel in die Post Road geliefert. Manchmal bin ich auch hier vorbeigekommen. Aber das ist schon lange her.«

»Ist das Ihr Ernst? Sagten Sie nicht…«

»Ich habe fast zwölf Jahre lang in Seattle gelebt.«

»Haben Sie irgendwas mit Tony Winter zu tun, oben bei Arbutus Ford?«

»Er ist mein Bruder«, sagte Tom.

»Hey! Zum Teufel! Das ändert wirklich alles!«

In der Stadt, dachte Tom, lernt man beizeiten, nicht so freundlich und einladend zu lächeln.

Archer schob den Schlüssel ins Schloss. »Wir haben einen Mann hierhergeschickt, als das Anwesen in unser Angebot aufgenommen wurde. Er sagte, es sei drinnen in einigermaßen gutem Zustand, aber ich nehme an, nachdem es so lange verrammelt war — nun, betrachten Sie alles unter diesem Vorbehalt.«

Im Immobilienjargon, dachte Tom, heißt das, es ist absolut unbewohnbar.

Aber die Tür schwang an Scharnieren auf, die sich frisch geölt anfühlten, und gab den Blick auf einen hellbeigen, sauberen Teppichboden frei.

»Mich laust der Affe«, stieß Archer hervor.

Tom trat über die Schwelle. Er betätigte den Wandschalter, und eine Deckenlampe flammte auf, aber sie war eigentlich gar nicht nötig. Ein hohes, nach Süden gerichtetes Fenster ließ ausreichend wässrig-fahlen Sonnenschein herein. Das Haus war unter Berücksichtigung der klimatischen Verhältnisse gebaut worden. Es wäre noch nicht einmal bei Regenwetter düster.

Rechts ging der Wohnraum in eine Küche über. Auf der linken Seite verband ein Korridor die Zimmer und das Bad miteinander.

Eine Treppe führte in den Keller hinunter.

»Mich laust der Affe«, wiederholte Archer. »Vielleicht habe ich mich bei diesem Haus gründlich geirrt.«

Der Raum, in den sie blickten, war peinlich sauber, die Einrichtung alt, aber makellos. Eine mechanische Kaminuhr tickte — wer mochte sie aufgezogen haben? — unter einem Picassodruck. Etwas kitschig, dachte Tom, der Couchtisch mit Glasplatte, das niedrige Sofa in dänischem Möbeldesign. Der Stil der Sechzigerjahre, aber tadellos erhalten. Das Ganze hätte aus einer Zeitkapsel stammen können.

»Sehr gepflegt«, sagte er.

»Das kann man wohl sagen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es überhaupt nicht gepflegt wurde, soweit ich weiß.«

»Wer ist der Eigentümer?«

»Das Anwesen wurde schon vor langer Zeit vom Staat versteigert. Eine Holdinggesellschaft in Seattle hat es gekauft, hatte jedoch nichts weiter damit gemacht. Während des letzten Jahres haben sie hier eine Reihe Grundstücke verkauft.« Er schüttelte den Kopf. »Um ganz ehrlich zu sein, das Haus war völlig heruntergekommen. Wir haben einen Mann rausgeschickt, um alles zu begutachten, das Dach und das Fundament und so weiter, aber er hat nie erwähnt… Ich meine, wir nahmen an, dass diese alten Holzhäuser hier draußen…« Er vergrub die Hände in den Taschen und runzelte die Stirn. »Der Strom wurde erst letzte Woche nach Jahren wieder eingeschaltet.«

Für wie viele kalte Winter und heiße Sommer war dieser Raum verriegelt und verrammelt gewesen? Tom hielt inne und fuhr mit dem Finger über einen Endpfosten, wo die Treppe sich in der Dunkelheit verlor. Sein Finger blieb völlig sauber. Das Holz sah geölt und poliert aus. »Waren hier die Heinzelmännchen am Werk?«

Archer lachte nicht. »Jack Shackley ist dafür der zuständige Agent. Vielleicht war er hier, um alles auf Vordermann zu bringen. Auf jeden Fall hat hier jemand ein Wunder vollbracht. Im Angebot ist die Rede von Haus und Einrichtung, und es sieht so aus, als bekämen Sie hier ein paar schöne Stücke, wenn auch schon ein wenig veraltet. Sollen wir uns mal umsehen?«

»Ich denke schon.«

Tom ging zweimal durch das Haus — einmal mit Archer und einmal, »um alles auf sich wirken zu lassen«, während Archer seine Visitenkarte auf die Frühstücksbar legte und nach draußen ging, um eine Zigarette zu rauchen. Die Türen der Küchenschränke öffneten sich, ohne zu klemmen, und gaben den Blick auf ihr sauberes und einheitlich leeres Innenleben frei. Der Wäscheschrank war aus Kiefernholz, duftete würzig und war ebenfalls leer. Das Gleiche traf auch auf die Zimmer zu, nur im größten standen ein einfaches Bett, eine Schubladenkommode und ein Spiegel — alles ohne ein Staubkörnchen. Im Kellergeschoss sah man durch hohe Fenster hinaus auf die Wiese hinter dem Haus. Die Fenster waren mit weißen Rollos versehen, die durch das Sonnenlicht brüchig und gelb geworden waren. Die Zeit hinterlässt hier also doch ihre Spuren, dachte er.

Das Haus war solide, bewohnbar und sauber. Die grundlegende Frage war, konnte man sich hier auch heimisch fühlen?

Nein. Noch nicht, zumindest.

Aber das könnte sich ändern.

Wollte er, dass er sich hier heimisch fühlte?

Aber das war eine Frage, die er nicht zu seiner Zufriedenheit beantworten konnte. Vielleicht wollte er weniger ein Haus als eher eine Höhle, einen warmen, trockenen Ort, wo er seine Wunden pflegen konnte, bis sie geheilt waren — oder wenigstens bis der Schmerz erträglich geworden war.

Aber das Haus war ausgesprochen interessant.

Er strich mit der Hand über eine glatte Wand im Kellergeschoss und erschrak, als er… ja, was fühlte er eigentlich?

Das Summen irgendwelcher Maschinen, übertragen durch Gipsplatten und Zement — das sofort abbrach?

Ein feines elektrisches Kribbeln?

Oder überhaupt nichts.

»Alles dicht und stabil gebaut.«

Das war Archer, der von draußen hereinkam.

»Ich glaube, Sie haben hier ein Schnäppchen gefunden, Tom. Wir können gleich in mein Büro fahren, wenn Sie sich über ein Angebot unterhalten wollen.«

»Zum Teufel, warum eigentlich nicht«, sagte Tom Winter.


Die kleine Stadt Belltower erstreckte sich über die gesamte geschwungene Küstenlinie einer malerischen, nebligen pazifischen Bucht an der nordwestlichen Küste der Vereinigten Staaten.

Die Hauptwirtschaftszweige waren Fisch und Holz. Eine riesige Papierfabrik war während des Wirtschaftsbooms der Fünfzigerjahre am südlichen Ende der Stadt erbaut worden, und an feuchten Tagen, wenn der Wind über die Küste wehte, erstickte die Stadt schier in dem schwefeligen, bitteren Gestank der Fabrik. Heute hatte der Wind in Richtung Ozean geblasen, und die Luft war rein. Kurz vor Sonnenuntergang, als Tom Winter in sein Zimmer im Seascape Motel zurückkehrte, wanderten die Wolkenberge weiter, und die Sonne beschien die schönsten Punkte auf den Bergen, in der Stadt und in der Bucht.

Er aß im High Tide Diningroom zu Abend und gab der Serviererin ein viel zu großzügiges Trinkgeld, weil ihm ihr Lächeln echt und aufrichtig vorkam. Er kaufte eine Ausgabe der Newsweek im Andenkenladen und suchte sein Zimmer im zweiten Stock auf, als die Dunkelheit hereinbrach.

Fast unglaublich, dachte er, dass er wieder in diese Stadt zurückgekehrt war. Von hier wegzugehen, das war nach Toms Empfinden ein Akt der Zerstörung gewesen. Er war mit dem Bus nach Seattle im Norden gefahren und hatte so getan, als sei alles hinter ihm von der Landkarte radiert worden. Seltsam, die Stadt immer noch hier vorzufinden, die Läden geöffnet, die Boote lagen noch immer im Yachthafen vor Anker.

Das Einzige, was beschädigt wurde, ist mein Leben.

Aber das war Selbstmitleid, und er schalt sich deswegen. Das absolute Laster der Einsamkeit. Ähnlich wie Masturbation war es eine Parodie von etwas, das am besten im Einklang mit anderen Personen praktiziert wurde.

Er war sich auch bewusst, mit welchem Schmerz er sich noch auseinanderzusetzen hatte… aber nicht hier in diesem Zimmer mit den hässlichen Hafengemälden an den Wänden, den Hotelpostkarten in der Kommode, auf deren Platte helle Ringe von den Generationen kündeten, die ihre Cola-Flaschen aus dem Automaten dort abgestellt hatten, wo sie in der trockenen Hitze beschlugen und das Kondenswasser sich auf dem Holzfurnier sammelte. Hier wäre es einfach zu viel auf einmal.

Er tappte über den Teppichboden des Korridors, holte eine Flasche Coca-Cola, damit auch er seinen hellen Ring auf der Möblierung hinterließ.

Das Telefon summte, als er zurückkam. Er nahm den Hörer ab und öffnete mit der anderen Hand die Cola-Dose.

»Tom«, meldete sich sein Bruder.

»Tony. Hi, Tony.«

»Bist du allein?«

»Verdammt noch mal, nein«, antwortete Tom. »Die Party kommt gerade in Schwung. Hörst du es nicht?«

»Sehr lustig. Trinkst du gerade?«

»Limonade, Tony.«

»Ich dachte mir, du solltest nicht allein dort herumsitzen. Ich finde, das ist eine schlechte Angewohnheit. Du solltest dich nicht wieder volllaufen lassen.«

Volllaufen, dachte Tom amüsiert. Sein Bruder war ein unerschöpflicher Quell solcher altmodischer Ausdrücke. Es war Tony, der Brigitte Nielsen mal als »oberscharfe Torte« bezeichnet hatte. Barbara hatte die Bonmots ihres Bruders immer geliebt. Sie nannte es immer ihr »Besuchsyoga bei Tony« — sich zu unterhalten und stets eine Hand bereitzuhalten, um damit schnellstens ein Grinsen zu verbergen.

»Wenn ich mich volllaufen lasse«, sagte Tom, »dann bist du der Erste, der informiert wird.«

»Genau davor habe ich Angst. Ich habe um eine ganze Menge Gefallen bitten müssen, um dir diesen Job zu besorgen. Natürlich habe ich mich dabei auch ein wenig aus dem Fenster gelehnt.«

»Rufst du deshalb an?«

Eine Pause, ein Geständnis. »Nein. Loreen hatte die Idee. Na ja, wir beide dachten… Sie hat ein Huhn im Backofen, das gleich gar ist, und es ist mehr als genug da, also wenn du noch nicht gegessen hast…«

»Es tut mir leid. Ich habe gerade unten im Restaurant ausgiebig gespeist. Aber trotzdem vielen Dank. Und bedank dich für mich auch bei Loreen.«

Tonys Erleichterung war deutlich zu hören. »Du hast wirklich keine Lust vorbeizukommen?« Ein kurzer Wortwechsel im Hintergrund. »Loreen hat auch einen Blaubeerkuchen gebacken.«

»Sag Loreen von mir, mir läuft das Wasser im Mund zusammen, aber ich möchte heute mal früh ins Bett.«

»Naja, wie du willst. Auf jeden Fall rufe ich dich nächste Woche an.«

»Gut. Prima.«

»Gute Nacht, Tom.« Eine Pause. Dann fügte Tony hinzu: »Und willkommen in der Heimat.«


Tom legte den Telefonhörer auf und wandte sich zu seinem Ebenbild um, das ihn trübsinnig aus dem Spiegel der Kommode ansah. Es war ein verhärmt aussehender Mann mit zurückweichendem Haaransatz, der, in diesem Moment jedenfalls, älter erschien als seine dreißig Jahre. Er hatte zugenommen, seit Barbara ihn verlassen hatte, und es war bereits zu sehen — eine gewisse Bauchwölbung und weichere Konturen in seinem Gesicht. Aber es war der Ausdruck, der das Bild im Spiegel so alt erscheinen ließ. Er hatte ihn bei alten Männern in Autobussen gesehen. Eine Düsternis, die Kapitulation signalisierte, die Bereitschaft, sich der Niederlage zu ergeben.

Wie sahen zur Zeit seine Alternativen aus?

Er konnte aus dem Fenster und in seine Vergangenheit schauen; oder in diesen Spiegel, und damit in seine Zukunft.

Beides traf hier aufeinander. Am Kreuzweg. In dieser regnerischen alten Stadt.

Er wandte sich zum Fenster um.

Willkommen zu Hause.


Am Morgen rief Doug Archer an, um Bescheid zu sagen, dass Toms Angebot für das Haus — der größte Teil seines sorgfältig gesparten Erbes in bar — angenommen worden war. »Die nötigen Papiere dürften bis heute Abend aufgesetzt und vorbereitet sein. Ein paar Unterschriften, und schon gehört das Prachtstück Ihnen.«

»Ist es möglich, schon heute den Schlüssel zu bekommen?«

»Das dürfte kein Problem sein.«

Tom fuhr zum Immobilienbüro neben der Harbor Mall. Archer half ihm bei der Bewältigung des Papierkriegs im öffentlichen Notariat, das im gleichen Haus ansässig war, dann lud er ihn im Restaurant auf der anderen Straßenseite zum Essen ein. Der Name des Restaurants lautete El Nino — es war neu, und wenn Tom sich richtig erinnerte, hatte es früher Kresge’s geheißen. Die Inneneinrichtung war im nautischen Stil gehalten, aber nicht aufdringlich kitschig.

Tom bestellte ein Lachssandwich. Archer lächelte die Kellnerin an. »Nur einen Kaffee, Nance.«

Sie nickte und erwiderte das Lächeln.

»Sie tragen ja gar nicht Ihre Maklerjacke«, sagte Tom.

»Eigentlich habe ich heute meinen freien Tag. Außerdem habe ich mit Ihnen ein gutes Geschäft abgeschlossen. Was soil’s, Sie stammen ja schließlich von hier, und in diesem Laden brauche ich bei niemandem Eindruck zu schinden.« Er lehnte sich auf der Kunstlederbank zurück. Das karierte Hemd unterstrich seine schlanke, sportliche Figur, und sein langes Haar wirkte noch etwas wilder als am Tag vorher. Er bedankte sich bei der Kellnerin, als der Kaffee gebracht wurde. »Übrigens habe ich mir mal die Geschichte des Hauses angesehen. Vorwiegend aus persönlicher Neugier.«

»Haben Sie etwas Interessantes gefunden?«

»Irgendwie schon, ja.«

»Etwas, das Sie mir nicht verraten wollten, ehe die Dokumente unterschrieben waren?«

»Es ist nichts, das Ihre Entscheidung beeinflusst hätte, Tom. Ich finde es nur etwas merkwürdig.«

»Und? Spukt es in dem Haus?«

Archer lächelte und beugte sich über seine Tasse. »Das nicht. Obgleich es mich nicht überraschen würde. Das Anwesen hat eine seltsame Vergangenheit. Das Grundstück wurde 1963 erworben, und das Haus wurde im darauffolgenden Jahr fertiggestellt. Von 1964 bis 1981 wurde es von einem Mann namens Ben Collier bewohnt. Er lebte allein, kam ab und zu in die Stadt, hatte keine feststellbaren Einkünfte, zahlte aber immer pünktlich seine Rechnungen. Er war freundlich, wenn man ihn traf, aber eigentlich nicht richtig entgegenkommend. Er war ein Einzelgänger.«

»Hat er das Haus verkauft?«

»Nein. Und das ist das Interessante. Er verschwand 1980, und das fiel auf, weil er keine Grundsteuer mehr zahlte. Niemand konnte ihn ausfindig machen. Er hatte keine Bankverbindung, keine Sozialversicherungsnummer, seine Geburt war nirgendwo gemeldet. Noch nicht einmal sein Automobil war angemeldet. Falls er gestorben ist, gab es noch nicht einmal eine Leiche.« Archer trank seinen Kaffee. »Ich finde, der Kaffee hier ist wirklich gut. Wussten Sie, dass sie ihn selbst mahlen? Es ist eine ganz spezielle Mischung. Kolumbien, Costa Rica…«

Tom sagte: »Die Geschichte scheint Ihnen zu gefallen.«

»Na klar. Ihnen etwa nicht?«

Tom stellte fest, dass er sich tatsächlich dafür erwärmte. Sein Interesse war geweckt. Er musterte Archer über den Tisch hinweg — dann runzelte er die Stirn und kniff die Augen zusammen. »Oh nein, jetzt weiß ich, wer Sie sind! Sie waren der Junge, der unten an der Küstenstraße die Autos immer mit Steinen bewarf!«

»Sie waren eine Klasse unter mir. Tony Winters kleiner Bruder.«

»Sie haben damals bei einem Buick die Windschutzscheibe zertrümmert. Es gab sogar einen Artikel in der Zeitung. Jugendkriminalität auf dem Vormarsch und so weiter.«

Archer grinste. »Es war ein rein ballistisches Experiment.«

»Und jetzt verkaufen Sie Spukhäuser an ahnungslose Stadtsäcke.«

»Ich glaube, von einem ›Spukhaus‹ zu reden, wäre etwas melodramatisch. Aber ich habe eine andere seltsame Geschichte über das Haus gehört. George Bukowski hat sie mir erzählt — George ist Cop bei der Highway Patrol und besitzt unten am Bootshafen einen großen Wohnwagen. Er sagte, er sei im vergangenen Jahr über die Post Road gefahren und habe im Haus Licht gesehen. Dabei war es seines Wissens unbewohnt, da er schon mal dort gewesen war, als er nach Ben Collier suchte. Er hielt an, um nachzusehen. Es stellte sich heraus, dass ein paar Teenager im Kellergeschoss eine Scheibe eingeschlagen hatten. Sie hatten eine Sturmlaterne in der Küche aufgestellt, dazu einen Kasten Kokanee und einen Ghettoblaster; sie wollten wohl eine Party feiern. Er nahm sie mit und fand beim ältesten Jungen, Barry Lindell, eine Achtelunze Dope. Er schickte sie alle nach Hause zu ihren Eltern. Am nächsten Tag fuhr George noch einmal hin, um sich das Ausmaß der Schäden anzusehen — und es stellte sich heraus, es war überhaupt nichts kaputt. Es sah aus, als seien die Kids nie dort gewesen. Keine Streichhölzer auf dem Fußboden, keine leeren Dosen, alles picobello sauber und aufgeräumt.«

Tom schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das Fenster, durch das sie reingekommen waren?«

»Es war nicht mehr zerbrochen.«

»Quatsch«, sagte Tom.

Archer hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Sicher. Aber George beschwört es. Er sagt, das Fenster sei nicht einmal mit frischem Kitt repariert worden, denn das hätte er sofort bemerkt. Es war nicht angerührt — es war einfach nicht zerbrochen.«

Die Serviererin brachte das Sandwich. Tom schnitt ein Stück davon ab und schob es sich nachdenklich in den Mund. »Das scheint aber ein geradezu krankhaft ordentliches Gespenst zu sein, mit dem wir es hier zu tun haben.«

»Das universelle Heinzelmännchen.«

»Ich kann nicht behaupten, dass mir das Angst macht.«

»Ich glaube auch nicht, dass Sie dazu einen Grund haben. Dennoch…«

»Ich halte die Augen offen.«

»Und halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Archer. »Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er schob seine Visitenkarte über den Tisch. »Meine Privatnummer steht auf der Rückseite.«

»Sind Sie so neugierig?«

Archer schaute in die Runde, um sich zu vergewissern, dass niemand sie belauschte. »Ich hab verdammte Langeweile.«

»Sehnen Sie sich nach der guten alten Zeit? Nach einem sonnigen Nachmittag, einem Stein in der Hand und dem Abgasgestank eines heißen Kabrio?«

Archer grinste. Und das Grinsen verkündete, zum Teufel, ja, ich bin noch immer ein großes Kind, und ich gebe es offen zu.

Dieser Mann genießt das Leben, dachte Tom.

Es tröstete einen, glauben zu können, dass das noch möglich war.


Ehe er zu dem Haus hinausfuhr, machte Tom in der Harbor Mall halt, um Lebensmittel und andere Vorräte zu kaufen. Im A&P-Markt holte er einen Wochenvorrat an Nägeln und Heftklammern und eine ganze Kollektion dessen, was Barbara Junggesellenverpflegung nannte: tiefgefrorene Vorspeisen, Kartoffelchips, Coladosen in Plastik-Packs. Im Radio Shack suchte er sich ein Telefon aus, das er einfach einstöpseln konnte, und bei Sears zahlte er dreihundert Dollar für einen tragbaren Farbfernseher.

Derart für das nackte Überleben ausgerüstet, fuhr er über die Post Road zum Haus.

Die Sonne ging bereits unter, als er eintraf. Sah das Haus verflucht aus? Nein, dachte Tom. Das Haus wirkte ländlich, vorstädtisch. Die Holzwände waren etwas verwittert, der ganze Bau erschien in dem Kiefernwald eher verloren, auf keinen Fall gefährlich. Wenn es dort spukte, dann war es ausschließlich Meister Proper. Oder vielleicht sogar eine ganze Heinzelmännchenkompanie.

Der Schlüssel drehte sich glatt im Schloss.

Als er über die Schwelle trat, hatte er die kurze, aber beunruhigende Empfindung, dass dieses Haus trotz allem jemand anderem gehörte… dass er, ebenso wie die jugendlichen Kriminellen, hier eingebrochen war. Na ja, Schwamm drüber. Er betätigte jeden Lichtschalter, den er fand, bis der Raum strahlend hell erleuchtet war. Er stöpselte den Kühlschrank ein — er begann sofort zu summen — und stellte die Coladosen hinein. Er schloss den Fernseher an und richtete die Antenne auf eine Station in Tacoma aus. Das Bild war zwar etwas verschwommen, aber durchaus erträglich. Er drehte die Lautstärke hoch.

Lärm und Licht.

Er heizte den altmodischen weißen Emailherd vor, betrachtete die Heizplatten für einen Moment, um sich zu vergewissern, dass alles funktionierte. (Es funktionierte.) Die schwarzen Drehknöpfe aus Bakelit waren so glatt wie Ebenholz. Seine Fingerabdrücke wirkten wie eine Beleidigung für die polierte Oberfläche. Er schob ein Fertiggericht in den Backofen und schloss die Klappe. Willkommen daheim.

Ein neues Leben, dachte er.

Deshalb war er hierhergekommen — zumindest hatte er es so seinen Freunden erklärt. Wenn man sich an diesem sauberen, hell erleuchteten Ort umsah, konnte man es — beinahe — glauben.

Er nahm das Fertiggericht ins Wohnzimmer mit und stocherte mit einer Plastikgabel an dem lauwarmen Brathuhn herum, während MacNeil (oder Lehrer, er hatte die beiden noch nie richtig auseinanderhalten können) eine Round-Table-Diskussion über die chinesische Krise dieses Jahres leitete. Als er seine Mahlzeit verzehrt hatte, stopfte er den Aluteller in einen Plastikmüllsack — noch war er nicht so weit, dass er sich hygienische Schlampigkeiten erlaubte — und öffnete eine Coladose. Er sah sich zwei Naturdokumentationen und einen Bericht über die Geschichte des Mormonentums an. Dann war es auf einmal schon spät, und als er den Fernseher ausschaltete, hörte er, wie draußen der Wind mit den Kiefernästen spielte. Er wurde daran erinnert, wie weit er die Stadt hinter sich gelassen und wie viel Einsamkeit er sich möglicherweise hier eingehandelt hatte.

Er drehte die Heizung auf. Das Wetter war noch immer ziemlich kühl, und es dauerte noch einige Zeit bis zum Sommer. Er trat nach draußen und betrachtete die Silhouetten der Kiefern vor dem Nachthimmel. Sterne funkelten. Du hast einen weiten Weg zurückgelegt, dachte Tom, um einen solchen Himmel sehen zu können.

Ins Haus zurückgekehrt, verriegelte er die Tür hinter sich und legte die Sicherheitskette vor.

Das Bett im großen Schlafzimmer gehörte jetzt ihm… aber er hatte noch nie darin geschlafen, und er spürte die Last seiner Fremdheit. Das Bett war im gleichen modernen dänischen Stil wie die restlichen Möbel gehalten. Unauffällig, stilistisch fast universell, als sei es eine Summe aus hundert ähnlichen Stilformen. Nicht unverwechselbar, aber solide und zuverlässig. Er prüfte die Matratze; sie war fest. Die Laken rochen schwach nach sauberem, frisch gestärktem Leinen und überhaupt nicht nach Alter und Staub.

Ich bin hier ein Eindringling…

Aber er schüttelte den Kopf bei diesem Gedanken. Ein Eindringling war er gewiss nicht, nicht nach den gesetzlich vorgeschriebenen Prozeduren und dem durch eine Kaufquittung symbolisierten Segen des Immobilienbüros. Er war jetzt ein Hausbesitzer. Zweifel und böse Ahnungen waren in diesem Moment völlig fehl am Platze.

Er knipste die Nachttischlampe aus und schloss die Augen in der fremden Dunkelheit.

Er glaubte ein fernes Summen zu hören… kaum wahrnehmbar über dem Flüstern seines eigenen Atems. Es war der Klang weit entfernter, verborgener Maschinen. Nachtarbeit in einer unterirdischen Fabrik. Oder, was wahrscheinlich war, das Echo seiner Einbildung. Als er versuchte, es zu lokalisieren und sich darauf zu konzentrieren, verschmolz es in seinen Ohren mit den allgemeinen Nachtgeräuschen, dem Knistern und Knarren kleiner Gelenke. Genauso wie jedes andere Haus, dachte Tom, dürfte auch dieses sich im Rhythmus seiner Erwärmung und Ausdehnung seiner Balken bewegen und dabei ächzen und stöhnen.

Umgeben von Dunkelheit und dem Summen seiner eigenen Gedanken schlief er endlich ein.


Der Traum kam nach Mitternacht, aber weit vor dem Morgengrauen — es war drei Uhr, als er erwachte und auf die Uhr sah.

Der Traum begann wie fast alle Träume. Er stritt sich mit Barbara oder hörte sich wieder einmal eine ihrer massiven Anklagen an. Sie hatte ihn der Mitschuld an irgendeiner schlimmen, globalen Katastrophe bezichtigt: der Erwärmung der Erde, der Meeresverschmutzung, des Atomkrieges. Er beteuerte seine Unschuld (zumindest seine Unkenntnis), aber ihr kleines Gesicht mit der Stupsnase und den wütend zusammengepressten Lippen drückte einen derart tief verwurzelten Unglauben aus, dass er seine eigene Schuld beinahe riechen konnte.

Aber das war nur eine weitere Variation dessen, was zum üblichen Barbara-Traum geworden war. In jeder anderen Nacht wäre er an dieser Stelle zu Ende gewesen. Er wäre aufgewacht, überwältigt von Selbstzweifeln. Er hätte sein Gesicht mit kaltem Wasser bespritzt und wäre in sein Bett zurückgewankt, wie ein kampfesmüder Soldat in seine Grabenstellung zurückschlurfte.

Diesmal jedoch ging der Traum in ein anderes Szenario über. Plötzlich war er allein. Er befand sich in einem Haus, das genauso war wie dieses Haus, nur größer, leerer. Er lag in einem Zimmer mit einem einzigen hohen Fenster. Diffuses Mondlicht hüllte nur sein Bett ein und beließ den Rest des Zimmers in höhlenartiger Finsternis.

Und in dieser Finsternis bewegten sich irgendwelche Dinge.

Er konnte nicht feststellen, um welche Dinge es sich handelte. Die Füße klickten wie Katzenklauen auf dem harten Fußboden, und die Wesen schienen in einem hohen, summenden Falsett miteinander zu flüstern. Sie benutzen eine Sprache, die er noch nie gehört hatte. Er dachte an Elfen oder an übergroße, sprechende Ratten.

Aber das Schlimmste war ihre Unsichtbarkeit — die sich mit seiner eigenen Hilflosigkeit verband, wie ihm plötzlich bewusst wurde.

Er erkannte, dass der Raum keine Tür besaß; dass das Fenster unendlich hoch war; dass seine Arme und Beine nicht nur steif, sondern gelähmt waren.

Er wollte hochkommen, starrte in die Dunkelheit…

Und sie öffneten die Augen — alle zugleich.

Hundert Augen, die ihn umringten.

Hundert Scheiben reinen, pupillenlosen, knochenweißen Lichts.

Das Flüstern steigerte sich zu einem metallischen, klappernden Crescendo…

Und er erwachte.

Er erwachte allein in diesem kleineren, helleren, aber immer noch vom Mond beschienenen und fremden Raum.

Er erwachte mit wild pochendem Herzen.

Er erwachte mit dem Klang, der immer noch in seinen Ohren nachhallte:

Dem Zischen ihrer Stimmen. Dem Klicken ihrer Nägel.

Natürlich war es nur ein Traum gewesen.

Das morgendliche Haus war sauber, leer und nüchtern. Tom ging von seinem Zimmer in die Küche und lauschte dem unvertrauten Scharren seiner Füße auf dem Wollteppich. Er bereitete sich sein Frühstück, gebratene Eier und ein Weißbrothörnchen, und stellte dann das schmutzige Geschirr in die Spüle, als er fertig war. Junggesellenhaushalt. Vielleicht würde der gute Geist des Hauses aufräumen.

Die Wolkendecke vom Vortag hatte sich verflüchtigt. Tom öffnete die Fliegentür im hinteren Teil der Küche und trat hinaus in den Garten. Der Rasen war sehr kurz geschnitten worden, doch er wuchs wieder nach. Das Unkraut war mindestens ebenso stark vertreten wie das Gras. Hier draußen gab es offenbar keine hilfreichen Hausgeister. Eine Gruppe hoher Kiefern stand außerhalb der Gartenbegrenzung und barg Farn und einen dicken Nadelteppich in ihrem Schatten. Ein zugewachsener Pfad führte von der Gartenecke fort, und Tom folgte ihm ein paar Schritte weit, doch die Bäume schirmten die Sonnenstrahlen ab, und die Luft war plötzlich unangenehm kühl. Er lauschte für einen Moment dem Geräusch tropfenden Wassers irgendwo in dieser feuchten Wildnis. Archer hatte gesagt, der Wald sei ziemlich ausgedehnt, und dass sich hinter dem Anwesen ein mit Kiefern bestandener Sumpf befinde. Archer musste es wissen, dachte Tom, Archer, der Autokiller, der Wegelagerer, der Bergsteiger, der Schulschwänzer… Allmählich tauchten weitere Erinnerungen aus der Kindheit auf. Ein feuchter Windhauch fuhr durch die hellen Härchen auf seinen Armen. Ein Kolibri schoss hoch, betrachtete ihn ungehalten und schwirrte davon.

Er kehrte zum Haus zurück.

Tony rief nach dem Mittagessen an und sprach eine weitere Einladung zum Abendessen aus. Dieses Angebot konnte Tom schlecht ablehnen. »Komm rüber«, sagte Tony. »Wir heizen den Grill an.« Es war sowohl ein Befehl als auch eine Einladung. Eine Schuld musste abgetragen werden.

Tom ließ das schmutzige Geschirr in der Spüle stehen. An der Tür verharrte er kurz und drehte sich zum leeren Haus um.

»Wenn du sauber machen willst, nur zu.«

Keine Antwort.

Nun ja.

Die Fahrt zu Tonys Haus war ziemlich lang. Tony und Loreen wohnten in der Gegend um Seaview. Dort standen vorwiegend terrassenartig angeordnete Häuser, die sich an die Hänge der zur Bucht abfallenden Hügel südlich der Stadt schmiegten. Die Gegend war ziemlich renommiert, doch das Haus, in dem Tony wohnte, war nicht besonders auffällig. Tony war protestantisch zurückhaltend, was die offene Zurschaustellung von Wohlstand betraf. Tonys Haus war eher eines der schlichteren Bauten. Seine glatte weiße Fassade verbarg die wahre, elegante Pracht: die riesigen Fenster und die Kiefernholzveranda mit Blick auf das Meer. Tom parkte in der Auffahrt hinter Loreens Aerostar und wurde an der Tür von der gesamten Familie begrüßt: von Tony, dem fünfjährigen Barry, von Loreen mit der quengeligen acht Monate alten Tricia auf dem Arm. Tom lächelte und wagte sich in das Geruchsgemisch aus imprägniertem Teppichboden, Möbelpolitur und Pampers.

Er hätte sich gerne in Ruhe hingesetzt und sich für eine Weile mit Loreen unterhalten. (»Die arme Loreen«, sagte Barbara immer. »Sie spielt Tony seine Vorstellung von Hausfrau vor. Nur Windeln und Romanschnulzen von Barbara Cartland.«) Aber Tony legte ihm einen Arm um die Schultern und geleitete ihn durch den großzügigen Wohnraum hinaus zur Veranda, wo sein Propangasgrill bereits gefährlich zischte.

»Setz dich«, sagte Tony und deutete mit einer Grillzange auf einen Liegestuhl.

Tom ließ sich nieder und sah seinem Bruder zu, wie er Steaks mit einer roten Sauce bestrich. Tony war fünf Jahre älter als Tom, hatte bereits eine beachtliche Glatze, wirkte aber körperlich fit. Die Falten um seine Augen deuteten eher auf sportliche Aktivitäten und Sonne hin als auf Alter. Es wäre schwierig, dachte Tom, zu erraten, wer von uns beiden der Ältere ist.

Es war Tony, der wie ein zorniger Schutzengel nach Seattle gerauscht kam — sechs Monate nachdem Barbara aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war; fünf Monate nachdem Tom seinen Job bei Aerotech hingeworfen hatte; drei Monate nachdem Tom aufgehört hatte, ans Telefon zu gehen. Tony hatte die leeren Flaschen und Fertiggerichtpackungen aus der Wohnung geschafft, hatte den Fernseher ausgeschaltet, der seit Wochen ununterbrochen flackerte und murmelte, und Tom dann zum Duschen und Rasieren verdonnert. Dann hatte er ihn überredet, nach Belltower zurückzugehen und den Job im Autohandel zu übernehmen…

Es war ebenfalls Tony, der, um ihn zu trösten, festgestellt hatte: »Barbara ist ein Miststück, kleiner Bruder. Eigentlich sind sie alle verkommene Luder. Scheiß auf sie.«

»Sie ist kein Miststück«, hatte Tom widersprochen.

»Alle sind Schlampen.«

»Nenn sie nicht so«, hatte Tom gesagt, und er erinnerte sich an Tonys Blick, als die Arroganz zu Unsicherheit zerfiel.

»Naja… du darfst auf jeden Fall dein Leben wegen ihr nicht wegwerfen. Es gibt immer noch eine Menge Menschen, die ihr Leben zu meistern versuchen… Menschen mit Krebs, Menschen, deren Kinder auf dem Highway von Rasern überfahren wurden. Wenn sie mit solchen Schicksalsschlägen zurechtkommen, dann kannst du das allemal.«

Darauf gab es nichts zu erwidern, und es stimmte auch noch. Tom nahm die Strafe an und lebte fortan damit. Barbara wäre damit nicht einverstanden gewesen. Sie missbilligte die Ausbeutung öffentlichen Leids für private Zwecke. Tom war da etwas pragmatischer. Man tut, was man tun muss.

Aber da war er nun in Tonys großem Haus an der Bucht, und es kam ihm so vor, als trüge er eine beachtliche Last an Schuld, Dankbarkeit und Abneigung, die vorwiegend gegen seinen Bruder gerichtet war.

Er machte Konversation, während die Steaks über dem Feuer brutzelten. Tony antwortete mit seinem eigenen Geplapper. Tony hatte den Gasgrill »praktisch zum Großhandelspreis« von einem Mann gekauft, den er in der Filiale einer Eisenwarenkette kennengelernt hatte. Er erwog, in diesem Sommer in ein paar Mietobjekte zu investieren. »Du hättest erst mit mir über das Haus reden sollen, bevor du dich überstürzt auf das Geschäft eingelassen hast.« Und außerdem dachte er an die Anschaffung eines neuen Segelboots.

Das war keine Aufschneiderei, erkannte Tom. Barbara hatte schon vor langer Zeit auf Tonys Bedürfnis nach greifbaren Symbolen seines Wohlstands hingewiesen, ähnlich den Gültigkeitsdaten, die auf Bustickets aufgedruckt werden. Für ihn sprach immerhin, dass er sich einigermaßen zurückhielt.

Das Problem war, dass er, Tom, keinen solchen Wohlstand sein Eigen nennen konnte; in Tonys Augen musste ihn das verdächtig machen. Ein Mann ohne einen Videorekorder oder einen Sportwagen musste zu allem fähig sein. Diese Nervosität erstreckte sich auch auf Toms Arbeitsleistung, ein Punkt, den man nicht berührte, der aber wie eine drohende Wolke über der Unterhaltung schwebte.

Tonys eigene Zuverlässigkeit stand natürlich außer Frage. Als ihre Eltern starben, hatte Tony seinen Teil des Erbes in die Juniorpartnerschaft einer Autofirma draußen an der Commercial Road gesteckt.

Die Investition war mehr als nur finanzieller Natur gewesen. Tony hatte sehr viel Zeit und Schweiß hineingesteckt und auf seine Gratifikationen verzichtet. Und die Investition hatte sich ausgezahlt, und zwar so gut, dass Tom sich manchmal fragte, ob seine Verwendung des gleichen Erbes — für sein Ingenieurstudium und nun für das Haus — nicht ein Frevel war. Was hatte es ihm denn eingebracht? Eine Scheidung und einen Job als Autoverkäufer.

Aber er war noch nicht mal ein richtiger Verkäufer. »Vorerst«, sagte Tony, während er die Steaks zum Tisch im Esszimmer brachte — endlich kam das eigentliche Thema zur Sprache — »bist du nicht mehr als ein Handlanger, ein Laufbursche, eine Ladenhure. Du tätigst keine Verkäufe, solange der Manager nicht sein Einverständnis gibt. Loreen! Wir haben Hunger! Wo, zum Teufel, ist der Salat?«

Loreen tauchte diensteifrig aus der Küche mit einer Kristallglasschüssel auf, die mit Eisberg- und Kopfsalat, Tomatenscheiben, Pilzen und einem Salatbesteck aus Holz gefüllt war. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch und setzte Tricia in einen Hochstuhl, während Barry an ihrem Rock zog. Tom nahm Platz und schenkte sich Eistee aus einer beschlagenen Karaffe ein. »Die Steaks sehen wunderbar aus«, sagte Loreen.

Während sie den Salat aßen, überlegte Tom, was eine »Ladenhure« war. Loreen fütterte Tricia aus einem Glas mit passierten Erbsen, dann verschwand sie, um das Baby in einen Laufstall zu setzen. Barry wollte noch nicht mal sein Steak, nachdem sie es klein geschnitten hatte. Loreen schmierte ihm ein Erdnussbutter-Sandwich und schickte ihn zum Spielen in den Garten. Als sie sich wieder an den Tisch setzte, war ihr Steak kalt — Tony hatte seines soeben verzehrt.

Eine Ladenhure, erklärte Tony, sei ein Jungverkäufer, der von den älteren Kräften im Laden gewöhnlich als lästiges Übel betrachtet wurde. Tony schüttelte den Kopf. »Es ist kaum zu glauben«, sagte er, »aber ich werde deswegen bereits angeschossen. Bob Walker, der Miteigentümer, hatte einiges dagegen, dass ich dir den Job gegeben habe. Er sagt, es sei ganz klar ein Fall von Vetternwirtschaft, und das würde ihm stinken. Und er hat noch nicht mal so unrecht, denn es beschert dem Verkaufsmanager ein Problem. Er weiß, dass du mein Bruder bist, daher stellt sich für ihn die Frage: Fasse ich diesen Burschen mit Samthandschuhen an oder behandle ich ihn wie jeden anderen Angestellten?«

»Ich will keine Sonderbehandlung«, sagte Tom.

»Ich weiß das! Natürlich! Du weißt das, ich weiß das. Aber ich musste den Manager aufsuchen, Bill Klein, du wirst ihn morgen kennenlernen, und ihm erklären: Hey, Billy, tu du nur deine Arbeit. Wenn dieser Knabe Mist baut, dann sag es ihm. Wenn er nichts bringt, dann informiere mich. Wir sind hier schließlich nicht in einem Sanatorium. Ich erwarte von diesem Mann absolute Bestleistungen.«

»Was sonst«, sagte Tom und betrachtete die fettigen Überreste des Steaks auf seinem Teller.

»Grundsätzlich möchte ich dir zwei Dinge klarmachen«, sagte Tony. »Das eine: Wenn du versagst, sehe ich schlecht aus. Also, um mir einen Gefallen zu tun, baue bitte keinen Mist. Das Zweite ist, dass Billy, so weit es mich betrifft, in allem freie Hand hat. Von jetzt an hast du nur noch mit ihm zu tun. Ich erledige seine Arbeit nicht, und ich bin auch nicht für dich zuständig. Hinzu kommt, dass er nicht so leicht zufriedenzustellen ist. Um es drastisch auszudrücken, er würde dir nicht in den Hals pinkeln, wenn es in deinem Bauch brennt. Wenn ihr miteinander auskommt, prima, aber wenn nicht… Worüber, zum Teufel, lachst du?«

»In den Hals pinkeln, wenn’s im Bauch brennt?«

»Das wird hier so gesagt. Mein Gott, Tom, es sollte nicht lustig sein!«

»Barbara hätte das sicherlich gefallen.«

Barbara hätte es wochenlang immer wieder gesagt. Einmal, während eines Telefongesprächs, hatte Tony über das Wetter gesagt, es sei »so kalt wie die Titten eines Bronzeaffen«. Barbara hatte einen derartigen Lachanfall bekommen, dass sie Tom den Hörer geben musste. Tom hatte dann geduldig erklärt, sie habe gerade ihren Kaugummi verschluckt.

Aber Tony fand das nicht sehr spaßig. Er wischte sich den Mund ab und warf seine Serviette auf den Tisch. »Wenn du diesen Job willst, dann solltest du etwas mehr an deine Zukunft denken und weniger an deine ausgeflippte Exfrau, klar?«

Tom lief rot an. »Sie war nicht…«

»Nein! Erspar mir eine leidenschaftliche Verteidigung. Sie war es schließlich, die mit ihrem einundzwanzigjährigen Freund durchgebrannt ist. Sie verdient deine Loyalität nicht, und du bist ihr, verdammt noch mal, überhaupt nichts schuldig!«

»Tony«, sagte Loreen. Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton. Bitte, nicht hier.

Barry, der Fünfjährige, war aus dem Garten hereingekommen; er stand mit einer von Erdnussbutter verschmierten Hand in der Tür und betrachtete die Erwachsenen mit aufmerksamem, ernsthaftem Interesse.

Tom suchte verzweifelt nach einer Erwiderung — nach etwas Heftigem und Endgültigem — und musste zu seinem Schrecken feststellen, dass ihm überhaupt nichts einfiel.

»Es ist eine neue Welt«, sagte Tony. »Gewöhn dich daran.«

»Ich bringe den Nachtisch«, sagte Loreen.


Nach dem Essen verschwand Tony, um Barry ins Bett zu bringen und ihm eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Tricia schlief bereits in ihrer Wiege, und Tom saß mit Loreen in der kühlen Küche. Er bot ihr seine Hilfe beim Geschirrspülen an, doch seine Schwägerin lehnte ab. »Ich lasse nur Wasser darüberlaufen und spüle später.« Daher saß er an dem großen Tisch mit der massiven Holzplatte zum Fleischhacken und blickte durch das Fenster auf das dunkle Wasser der Bucht, wo die Lichter der Vergnügungsboote auf den Wellen tanzten.

Loreen trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch ab und ließ sich ihm gegenüber nieder. »So schlecht ist das Leben gar nicht«, sagte sie.

Tom betrachtete sie lange. Es war jene Art von ehrlicher Feststellung, wie sie für Loreen typisch war, eingebettet in den trägen Ohio-Valley-Tonfall ihrer Jugend. Sie bezog sich auf ihr Leben hier; ihr Leben mit Tony: nicht so schlecht.

»Ich habe niemals etwas anderes behauptet«, sagte Tom.

»Nein. Aber ich spüre es. Ich weiß, was Barbara und du über uns dachtet.« Sie lächelte ihn an. »Du brauchst dich nicht zu schämen. Ich denke, wir können ruhig darüber reden. Das ist ganz in Ordnung.«

»Ihr habt hier ein schönes Leben.«

»Ja, das haben wir. Und Tony ist ein guter Mann.«

»Das weiß ich, Loreen.«

»Aber wir sind nichts Besonderes. Tony würde das niemals zugeben. Aber es ist eine Tatsache. Und ganz tief in seinem Innern weiß er das auch. Und vielleicht ist er deshalb manchmal ein wenig böse. Und vielleicht weiß auch ich es und bin darüber traurig, für eine kleine Weile. Aber dann überwinde ich es.«

»Ihr seid nicht durchschnittlich. Ihr habt beide sehr viel Glück.«

»Wir haben Glück, aber wir sind durchschnittlich, alltäglich. Tatsache ist, Tom, dass du und Barbara etwas Besonderes gewesen seid, und das ist schlimm. Es hat mich immer ganz besonders bewegt, euch beide zu sehen. Weil ihr etwas Besonderes wart und weil ihr es wusstet. Es war die Art, wie ihr euch angelacht habt und wie ihr miteinander gesprochen habt. Die Dinge, über die ihr spracht. Ihr habt über die Welt geredet… du weißt schon, über Politik, die Umwelt und so weiter. Ihr habt darüber geredet, als wäre es sehr wichtig. Als wäre es eure persönliche Aufgabe, in dieser Hinsicht etwas zu unternehmen. Ich kam mir immer etwas größer, wichtiger vor, wenn ihr beide in der Nähe wart.«

»Das freut mich«, sagte Tom. Er war ihr tatsächlich unerwartet dankbar, dass sie das sagte — dass sie erkannte, was Barbara ihm bedeutet hatte.

»Aber das hat sich geändert.« Loreen wurde plötzlich ernst. Ihr Lächeln versiegte. »Jetzt ist Barbara nicht mehr da, und ich glaube, du musst jetzt lernen, durchschnittlich, alltäglich zu sein. Und ich denke nicht, dass das einfach für dich werden wird. Im Gegenteil, es wird ziemlich schwer sein.«


Tony entschuldigte sich nicht, aber er kam etwas verschämt aus Barrys Zimmer und gab sich betont freundlich. Er sagte, er würde sich gerne das neue Haus ansehen, und Tom nahm das Angebot sofort an, um einen Grund zu finden, sich schon früh zu verabschieden. Er ließ Tony in seinem blauen Aerostar die Küste entlang hinter ihm herfahren. Als sie sich landeinwärts bewegten, die Post Road hinauf und weg vom dichten Verkehr, wurde Tony zu einer grellen Lichtflut in Toms Rückspiegel und verschwand immer dann, wenn der Wagen die eine oder andere Baumgruppe umrundete. Sie parkten vor dem Haus. Tony stieg aus seinem Kleinbus, und die beiden Männer standen für einen Moment in der sternenklaren, vom Quaken der Frösche erfüllten Nacht.

»Es war ein Fehler, etwas zu kaufen, das so weit draußen liegt«, sagte Tony.

»Mir gefallt es hier«, entgegnete Tom. »Und der Preis war günstig.«

»Eine schlechte Investition. Selbst wenn der Markt in Bewegung gerät und die Preise anziehen, ist das Haus zu weit von der Stadt entfernt.«

»Es ist keine Investition, Tony. Es ist mein Haus. Ich will hier wohnen.«

Tony bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick.

»Komm herein«, sagte Tom.

Er führte seinen Bruder herum. Tony schaute in die Geschirrschränke, fuhr mit einem Finger über die Fensterrahmen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick in den Sicherungskasten zu werfen. Als sie nach ihrem Rundgang wieder im Wohnzimmer ankamen, schenkte Tom seinem Bruder eine Cola ein. Tony deutete mit einem Blick an, dass ihm das gefiel, wenn kein Alkohol im Haus war. »Ziemlich gut erhalten für sein Alter«, gab er zu. »Es ist, weiß Gott, sauber.«

»Selbstreinigend«, sagte Tom.

»Wie bitte?«

»Ach… nichts.«

»Hast du vor, uns in nächster Zeit mal zum Abendessen einzuladen?«

»Sobald ich mich häuslich eingerichtet habe. Dich und Loreen und die ganze Sippe.«

»Schön… das ist gut.«

Tony trank seine Cola und ging zur Tür.

Es ist genauso schwierig für ihn wie für mich, erkannte Tom.

»Nun«, sagte Tony, »viel Glück, kleiner Bruder. Was soll ich sonst sagen?«

»Du hast es schon gesagt. Danke, Tony…«

Sie umarmten sich unbeholfen. »Du bedeutest mir sehr viel«, sagte Tony und trat hinaus in die kühle Nachtluft.

Tom lauschte dem Kleinbus, als er davonfuhr und sein Brummen auf der Straße verhallte.

Er kehrte allein ins Haus zurück.

Die Stille erschien ihm ganz schwach mit Leben erfüllt.

»Hallo, Gespenster«, sagte Tom. »Ich wette, ihr habt das Geschirr nicht gespült.«

Aber wie sich herausstellte, hatten sie es doch getan.

2

Es dauerte nicht lange, bis eine einzige Frage sein Bewusstsein nahezu vollständig ausfüllte: Was war Wahnsinn, und wie konnte man feststellen, dass er einen überfiel?

Die Klischeevorstellung besagte, dass die Frage sich sozusagen selbst beantwortete. Wenn man vernünftig genug war, sich diese Frage zu stellen, dann musste man eigentlich noch normal sein. Tom hatte Schwierigkeiten mit dieser Logik. Sicherlich würde auch der als solcher erkannte und bestätigte Psychotiker manchmal in einen Spiegel schauen und sich fragen, ob die Dinge nicht etwas seltsam waren, oder?

Es war keine rein akademische Frage. Soweit er es überblickte, gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder begann er allmählich durchzudrehen — und er war nicht bereit, sich das so schnell einzugestehen —, oder irgendetwas ging in seinem Haus vor.

Etwas Beängstigendes. Etwas Seltsames.

Er schob die Frage drei Tage lang vor sich her und räumte immer besonders sorgfältig auf. Er ließ kein schmutziges Geschirr in der Spüle stehen, ließ keine Krümel liegen und brachte den Abfall in die Mülltonne im Garten. Die Haushaltselfen hatten nichts zu tun, und Tom konnte sich einreden, er habe das Geschirr an dem Abend, als er bei Tony war, selbst gespült. Wahrscheinlich hatte seine Erinnerung ihm nur einen Streich gespielt. Er begann mit seiner Arbeit bei Arbutus Ford, und er wurde von einer Vielzahl von Kleinigkeiten in Anspruch genommen. Die meiste Arbeitszeit verbrachte er damit, ein Handbuch für Verkaufstraining zu studieren oder den älteren Verkäufern bei der Arbeit zuzusehen. Er lernte, wie man potenzielle Käufer begrüßte; er erfuhr, wie ein Angebotsformular aussah; er ließ sich erklären, wie man einen Käufer an den Verkaufsleiter weiterreichte, der dann noch ein paar Dollar zusätzlich aus einem Angebot herausrechnete; dieser brachte den Käufer dann zu den Finanzierungsspezialisten. »Und dort wird das richtige Geld verdient«, erklärte der Verkaufsleiter, Billy Klein, fröhlich.

Der Laden hatte je eine Abteilung für Neu- und für Gebrauchtwagen. Er befand sich an einem geraden, ebenen Stück der Commercial Road zwischen Belltower und den Einkaufszentren der Vororte. Tom erschien das Unternehmen manchmal wie ein gepflasterter Acker, auf dem Schrottmetall wuchs, aber nicht bis zur Ernte gereift war — alles war immer noch glatt und neu. Am Mittwoch wurde es richtig heiß. Die Tage waren lang, und Kunden fanden sich nur spärlich ein. Tom trank Cola aus beschlagenen Flaschen und studierte sein Handbuch im Verkaufsraum. Die meisten Verkäufer machten ihre Pausen in einer Bar namens Healy’s ein Stück die Straße hinauf, aber sie tranken verhältnismäßig viel, und Tom hielt sich davon immer noch fern. Zu Mittag lief er über den Blasen werfenden Asphalt zu einem kleinen Steak- und Hamburgerrestaurant mit dem beziehungsreichen Namen The Paradise. Er ging mit seinem Geld sparsam um. Er würde in einem durchschnittlichen Monat allein mit den Provisionen ein annehmbares Einkommen haben, versicherte Klein ihm — vorausgesetzt, er begann bald mit dem Verkaufen. Aber es war diesmal ein ermüdend lahmer Monat. An den Abenden unternahm er Abstecher ins Landesinnere und fuhr durch die dichten, alten Kiefernwälder und dachte über das Geheimnis des Hauses nach. Vielmehr versuchte er, es nicht zu tun.

Zwei Möglichkeiten, flüsterten seine Gedanken immer.

Du bist verrückt.

Oder du bist nicht allein.

Am Donnerstagabend stellte er drei fettige Porzellanteller auf die Ablage neben die Stahlspüle und ging zu Bett.

Am Morgen standen die Teller genau an der Stelle, wo er sie hingestellt hatte — so glatt und sauber wie optische Linsen.

Am Freitagabend benutzte er die gleichen drei Teller und stellte sie genauso hin. Dann begab er sich ins Wohnzimmer, schaltete die Elfuhrnachrichten ein und machte es sich auf dem Sofa bequem. Er ließ in beiden Räumen das Licht brennen. Wenn er seinen Kopf ein wenig nach rechts drehte, hatte er einen ungehinderten Blick auf die Ablage in der Küche. Jede Bewegung konnte er wahrnehmen.

Dies war rein wissenschaftlich, versicherte Tom sich. Ein Experiment.

Er war zufrieden mit sich, dass er das Problem objektiv anging. Auf eine Weise war es beinahe aufregend — lange wach zu bleiben und darauf zu warten, dass etwas Unglaubliches geschah. Er legte die Füße auf den Couchtisch und öffnete eine Dose Mineralwasser.

Eine halbe Stunde später war er nicht mehr so begeistert. Er war immer früh zu Bett gegangen. Es fiel ihm schwer, während der Werbespots nicht einzunicken. Er döste einen Moment lang, setzte sich aufrecht hin und warf einen Blick in die Küche. Nichts hatte sich verändert.

(Nun, was hatte er erwartet? Trolle mit Robin-Hood-Hüten, die ein fröhliches Liedchen vor sich hin pfiffen? Oder vielleicht sogar — und diese Idee kam aus einem ziemlich obskuren Winkel seines Bewusstseins — rattenähnliche Kreaturen? Mit klickenden Pfoten und untertassengroßen Augen?)

Die Tonight-Show war alles andere als aufmunternd, aber er brauchte nicht bei Carson hängen zu bleiben. Er war in der vergangenen Woche an das Kabelnetz angeschlossen worden. Nun missbrauchte er die Fernbedienung, bis er bei einem altertümlichen Science-Fiction-Film landete: Formicula mit James Whitmore und Riesenameisen in der Mojavewüste. In den Filmen brachte Strahlung immer gigantische Insekten hervor. In der Umgebung von defekten Kernreaktoren verursachte sie vorwiegend Krebs und Leukämie — das war der Unterschied, so hatte Barbara einmal festgestellt, zwischen Kunst und Leben. Er nickte wieder ein, als die Ameisen Zuflucht in den Abwasserkanälen von Los Angeles suchten. Er stand auf, ging in die Küche — wo sich nichts verändert hatte — und bereitete sich eine Tasse Kaffee zu. Jetzt hatte er seltsamerweise zum ersten Mal das Gefühl, dass es schon sehr spät war. Auf der Post Road herrschte kein Verkehr mehr, und der Vollmond hing über seinem Garten. Er nahm den Kaffee mit ins Wohnzimmer. Ihm kam der Gedanke, dass er sich eine ziemlich unheimliche Beschäftigung ausgesucht hatte: nämlich die Überprüfung seiner eigenen Normalität, und das kurz nach Mitternacht. Er hatte des Öfteren solche Dinge getan — Dinge, an die diese Situation ihn erinnerte —, als er zwölf Jahre alt war und mit einer Taschenlampe bewaffnet im Garten schlief oder ganz allein wach blieb und sich Monsterfilme ansah.

Hier war nur das Haus. Wahrscheinlich sicher. Aber kaum beruhigend.

Er fand einen Sender in Seattle, die die ganze Nacht Comedy-Serien wiederholte. Er richtete es sich auf dem Sofa häuslich ein und hoffte, dass das Koffein ihn wach halten würde. Das tat es auch, oder zumindest machte es ihn reizbar. Und in dieser Stimmung erinnerte er sich an die Lebensphilosophie seines Vaters: Die Welt ist ein kalter, gleichgültiger Ort und dem Menschen nicht besonders wohlgesonnen. Vielleicht war das ein Irrtum. Vielleicht sollte er lieber zu Bett gehen, die Elfen ihre Hausarbeit erledigen lassen und das Haus wieder zum Verkauf freigeben. Kein Gesetz verlangte von ihm, der Jacques Cousteau des Übernatürlichen zu werden. Das war es sicherlich nicht, weshalb er es gekauft hatte.

Aber vielleicht war an der ganzen Sache überhaupt nichts Übernatürliches. Etwas Seltsames, aber doch Erklärbares konnte hier am Werk sein. Irgendeine Bakterienart. Insekten (keine mutierten). Irgendwas. Darauf würde er sein ganzes Geld verwetten.

Er wollte es nur ganz genau wissen, wollte vollkommene Klarheit.

Er streckte sich auf dem Sofa aus. Er wollte den Kopf auf die gepolsterte Armlehne betten. Er hatte nicht die Absicht einzuschlafen.

Er schloss die Augen und begann zu träumen.


Diesmal begann der Traum ohne Vorspiel.

Im Traum erhob er sich vom Sofa, ging zum Fenster und schob den unteren Teil hoch.

Der Mond stand tief am Himmel, doch er warf seinen hellen Schein auf den Garten. Im Traum sah es zuerst so aus, als habe sich nichts verändert. Da waren der Sternenhimmel, der tiefe Schatten des Waldes, der verwitterte Holzzaun, der von Efeu umrankt wurde. Dann sah er, wie das Gras sich im Wind bewegte. Es war eine seltsame kräftige Bewegung — aber es wehte kein Wind. Und Tom begriff, dass nicht das Gras selbst sich bewegte, sondern etwas im Gras — etwas wie viele Insekten, hundert oder mehr, die in einer schlangengleichen Formation vom Haus in den Wald wanderten. Sein Herz setzte einen Schlag aus, und er hatte plötzlich Angst, doch er konnte seinen Blick nicht abwenden oder vom Fenster zurücktreten… irgendwie war ihm diese Wahlmöglichkeit geraubt worden. Er beobachtete, wie die Schlange der Insektenwesen nach und nach stehen blieb und wie die Kreaturen — und es gab weitaus mehr von ihnen, als er angenommen hatte — sich gleichzeitig zu ihm umdrehten und ihn mit untertassenrunden Augen anstarrten. Dann sagten sie seinen Namen — Tom Winter —, und es war in seinem Kopf wie ein stummer Chor.

Er erwachte schweißgebadet.

Der Fernsehschirm flimmerte. Tom stand auf und schaltete ihn aus.

Seine Uhr zeigte 3:45.

Die Teller in der Küche waren makellos sauber.


Er schlief noch vier weitere Stunden in seinem Schlafzimmer bei geschlossener Tür, und am Morgen duschte er und rief Doug Archer an — die Nummer auf der Rückseite seiner Visitenkarte. »Sie wollten, dass ich mich melde, wenn ich etwas Seltsames bemerken sollte.«

»Das ist richtig… wird es Ihnen da draußen unheimlich?«

»Nur ein wenig. So könnte man es nennen.«

»Nun, Sie haben genau zum richtigen Zeitpunkt angerufen. Ich habe Urlaub. Der Pieper wird gegen Mittag abgeschaltet. Ich hatte eigentlich vor, in die Cascades zu fahren, aber das kann ich verschieben. Was halten Sie davon, wenn ich nach dem Mittagessen vorbeikomme?«

»Gut«, sagte Tom, aber er machte sich Sorgen bei dem Klang gespannter Vorfreude in Archers Stimme.

Wenn du davon erzählst, dachte er, dann öffnest du vielleicht eine weitere Tür, die besser geschlossen bleiben sollte — dann vollziehst du vielleicht einen Schritt, der dich der Feststellung deines eigenen Verrücktseins näher bringt.

Aber war Schweigen etwa besser? Es gab Zeiten — in der vergangenen Nacht zum Beispiel —, da hatte er das Gefühl, als schmore er in dem sauren Saft seiner eigenen Isoliertheit. Nein, er musste mit jemandem darüber reden, der nicht zu seiner Familie gehörte — also nicht mit Tony oder Loreen. Archer wäre genau der Richtige.

Abgesehen von den Träumen war nichts Bedrohliches geschehen. Ein paar Porzellanteller waren wiederholt gesäubert worden. Das war nicht gerade Material vom Ghostbusters-Kaliber. Aber es war der Traum, der ihm im Bewusstsein haften blieb.

Er sagte zu Archer, er erwarte ihn, und legte den Telefonhörer zurück auf die Gabel. Die Stille im morgendlichen Haus empfand er als geradezu physisch greifbar. Sie hallte in seinen Ohren wider. Er ging zur Küchentür, öffnete sie und wagte einen vorsichtigen Schritt nach draußen.

Die Luft war frisch, der Himmel hell und klar.

Tom hatte am Mittwoch bei Sears einen Motorrasenmäher gekauft, ohne ihn bisher benutzt zu haben. Das Gras war mittlerweile knöchelhoch. Er hatte für einen kurzen Moment Angst, seinen Fuß von der letzten Stufe nach unten zu setzen — ein flüchtiges Bild von metallisch glänzenden Insekten mit strahlenden, lauernden Augen huschte durch sein Bewusstsein. Möglich, dass sie noch immer da waren. Und dass sie ihn bissen.

Er holte tief Luft und wagte den Schritt.

Seine Fußgelenke juckten vor gespannter Erwartung… aber in dem Gras und dem Unkraut war nichts Unheimliches, nur ein paar Ameisen und Blattläuse.

Er ging zum nördlichen Teil des Gartens, durch den die Insekten in seinem Traum vom Haus zum Wald gezogen waren.

Ihm war klar, dass er, indem er dort nach ihrer Spur suchte, gegen die allgemeine Auffassung verstieß, dass Träume notwendigerweise mit der normalen Welt nichts zu tun haben. Damit wurde eine weitere Stütze unter dem Gebäude seiner eigenen Normalität weggeschlagen. Tom war dazu übergegangen, seine Normalität als eines dieser für Südkalifornien typischen Häuser an Berghängen zu betrachten, die teilweise auf Pfählen standen — Häuser, wie sie bei schweren Unwettern vom Regen in den Ozean gespült wurden. Er untersuchte das hohe, dichte Gras, wo die Insekten anscheinend gewesen waren, aber zwischen den betauten Grashalmen und den befiederten Löwenzahnkugeln fand er nichts Ungewöhnliches.

Er hätte nun beruhigt sein müssen. Stattdessen war er seltsamerweise enttäuscht. Enttäuscht, weil er irgendwo in den Tiefen seines Bewusstseins überzeugt gewesen war, dass der Traum der vergangenen Nacht kein gewöhnlicher gewesen war. Doch inwieweit er sich von gewöhnlichen Träumen unterschied, konnte er natürlich nicht sagen.

Er ging bis zum Waldrand. In seinem Traum war dies die Stelle, wo die breite Kolonne helläugiger Insekten in den Mondschatten der Bäume eingetaucht war.

Um diese frühe Morgenstunde drangen die Sonnenstrahlen nicht besonders tief in die Kiefernwälder an diesem nordwestlichen Teil der Pazifikküste ein. Ein Weg führte durch dieses Dickicht, doch er begann am gegenüberliegenden Gartenende. Hier gab es nur diese alten Bäume und das mit Farn durchsetzte Unterholz, den Geruch modernder Kiefernnadeln und die Nässe gesammelten Regenwassers. Die Grenze zwischen dem Wald und dem sonnendurchfluteten Garten hätte nicht deutlicher sein können. Er stützte sich mit den Händen gegen einen Baumstamm. Indem er sich vorbeugte, spürte er die kühle, nach Pilzen riechende Klammheit des Waldes in seinem Gesicht.

Er wandte sich zum Haus.

In seinem Traum waren die Insekten vom Haus zum Wald gewandert. Tom erreichte mit einigen Schritten die Hauswand, die ihm am nächsten stand. Es war eine ganz gewöhnliche Wand aus Holzbohlen, gut erhalten — die Farbe war nicht weggeplatzt oder hatte sich abgeschält —, aber kaum ungewöhnlich. Es war die Wand an der Stirnseite des großen Schlafzimmers, und sie war an dieser Stelle fensterlos.

Aber wenn sein Traum kein Traum gewesen war, dann müsste es hier irgendeine Öffnung geben.

Er ging in die Hocke und schob die hohen, Samen tragenden Grasbüschel vom Betonfundament weg, das an dieser Stelle einige Zentimeter aus der Erde ragte.

Er hielt die Luft an, als er sah, was er freigelegt hatte.

Der Beton war mit kleinen, makellos runden Löchern durchsetzt. Die Löcher waren alle gleich, ihr Durchmesser etwa so groß wie sein Daumenballen.

Sein Fuß rutschte auf dem nassen Gras aus, und er landete unsanft auf dem Steißbein.

Es mussten Dübel- oder Bolzenlöcher sein, dachte er. Irgendetwas war hier angebracht gewesen. Eine Veranda vielleicht.

Aber die Löcher und ihre Ränder in dem kalkweißen, mit Wasserflecken übersäten Beton waren so glatt wie Glas.

»Ich glaub, ich spinne«, sagte er laut.

Er riss einen besonders langen Grashalm aus und führte ihn in eine der Öffnungen ein.

Als würdest du mit einem Stock in einem Hornissennest herumstochern, Tom. Ziemlich dumm. Du weißt schließlich nicht, was sich dort verbirgt.

Aber als er den Grashalm weiter hineinschob, traf er auf keinen Widerstand… und erzielte keine Reaktion.

Er bückte sich und blickte in die Öffnung. Er wagte sich dabei nicht sehr nahe an das Fundament heran, weil er trotz allem davon überzeugt war, dass eine dieser winzigen großäugigen Kreaturen in dem Loch hockte — dass sie Klauen und Zähne besaß und ein Giftorgan und ihm feindselig gesonnen war. Aber er beugte sich tief genug hinab, um den Geruch der fruchtbaren Erde wahrzunehmen, der vom feuchtem Gras aufstieg… tief genug, um zu beobachten, wie ein Käfer an einem Distelblatt emporkrabbelte. Kein Licht drang aus den vielen Löchern im Fundament. Er glaubte, einen Lufthauch zu spüren, der nach Maschinenöl und schwach metallisch roch.

Er stand auf und trat einen Schritt zurück. Was nun? Sollen wir den Kammerjäger rufen? Das Fundament sprengen?

Archer davon erzählen?

Nein, dachte Tom. Nichts von alledem. Noch nicht.


Er erklärte Archer alles andere ganz genau — die gereinigten Teller, den Traum. Archer saß am Küchentisch, trank Pulverkaffee und folgte mit dem Fingernagel dem Verlauf der Holzmaserung.

Als er sich erzählen hörte, kam Tom sich sehr dumm vor. Archer war die sprichwörtliche Normalität in einem karierten Holzfällerhemd und seiner Levi’s. Er war durch die Sohlen seiner Basketballschuhe fest mit der Erde, auf der er stand, verwurzelt. Archer hörte geduldig zu, dann grinste er. »Das ist wohl das interessanteste Ereignis in dieser Gegend, seit Chuck Nixon eine fliegende Untertasse über der Müllverbrennungsanlage sichtete.«

Typisch, dass er es so ausdrückte. Archer war schon auf der Sea View Elementary School eine wandelnde Legende gewesen — »ein erstklassiger Verdrussproduzent« hatte der Sportlehrer ihn einmal bei einer denkwürdigen Gelegenheit genannt. Genau deshalb habe ich ihn angerufen, dachte Tom. Ich halte ihn noch immer für jemanden, dem das Wort »Angst« fremd ist.

»Ich meine es ernst«, sagte Archer. »Sie sind deshalb offenbar beunruhigt. Aber es ist wunderbar. Sehen Sie doch, da steht ein schlichtes kleines Haus im Wald, eine mickrige Holzhütte an der Post Road — entschuldigen Sie —, und plötzlich ist es viel mehr als nur das. Wissen Sie, was Kipling mal gesagt hat? ›In seinem Kopf entstand ein Riss, und ein wenig von der Unterwelt drang hervor…‹«

Tom zuckte innerlich zusammen. »Vielen Dank.« Von Kipling sollte das gewesen sein?

»Missverstehen Sie mich nicht. Ich wäre aufrichtig enttäuscht«, sagte Archer, »wenn Sie verrückt wären. Verrücktheit ist ziemlich weit verbreitet. Sehr…«Er suchte nach dem richtigen Wort. »Gewöhnlich, billig. Ich hoffe, dass das hier etwas mehr Klasse hat.«

»Sie scheinen sich ja köstlich zu amüsieren.«

»Es ist mein Hobby«, sagte Archer.

Tom blinzelte. »Ihr was?«

»Nun, wie soll ich es erklären… Das Übernatürliche ist für mich so etwas wie ein Hobby. Ich bin eigentlich ein Skeptiker, müssen Sie wissen. Ich glaube nicht an Gespenster, ich glaube auch nicht an Ufos. So fanatisch bin ich gar nicht. Aber ich habe alle wichtigen Bücher darüber gelesen. Charles Fort, Jacques Vallee. Ich glaube nicht daran, aber ich habe mich vor langer Zeit dafür entschieden, dass ich mir wünsche, es wäre wahr. Ich möchte, dass es Frösche regnet. Ich möchte, dass Statuen aus Stein zu bluten anfangen. Ich wünsche es mir, weil… es genauso wäre, als würde Gott sagen: ›Scheiß auf Belltower, Washington, hier ist ein Wunder.‹ Es würde bedeuten, dass auf den Asphaltflächen der Autoplätze da unten plötzlich Krokusse sprießen und Purpurwinden und den Verkehr für eine ganze Woche lahmlegen. Es würde bedeuten, dass wir eines Morgens aufwachen und feststellen, dass die Papierfabrik endlich zusammengebrochen ist. Die halbe Stadt wäre natürlich arbeitslos, aber wir könnten dann von Manna und Wein leben. Und niemand — absolut niemand — würde mit Grundstücken handeln.«

Tom nickte. »Als ich zwölf Jahre alt war, betete ich immer, dass endlich der Atomkrieg ausbricht. Nicht etwa, damit Millionen von Menschen sterben. Sondern damit ich am nächsten Morgen nicht zur Schule gehen müsste.«

»Genau! Alles läge in Trümmern. Das Leben würde in andere Bahnen gelenkt.«

»Es wäre leichter.«

»Es machte mehr Spaß! Ja.«

»Schön. Aber würde es das wirklich? Ich bin dreißig Jahre alt, Doug. Ich bete nicht mehr, dass ein Krieg ausbricht.«

Archer sah ihm in die Augen. »Ich bin zweiunddreißig, und ich bete noch immer, dass Magie existieren möge.«

»Ist es das, womit wir es hier zu tun haben?«

»Mit etwas Außerordentlichem auf jeden Fall. Es sei denn, Sie sind wirklich verrückt.«

»Das ist eine Möglichkeit«, sagte Tom. »Manchmal sehen Verrückte irgendwelche Dinge. Ich hatte mal eine Tante, Emily hieß sie, die sich immer mit Jesus Christus unterhielt. Er wohnte auf dem Speicher. Ab und zu kam er runter in ihr Zimmer, und sie hielten ein Schwätzchen, während sie sich die Haare bürstete. Alle in der Familie fanden es furchtbar lustig. Dann, eines Tages, schnitt Tante Emily sich in einer Badewanne voll warmen Wassers die Pulsadern auf. Ihr Vermieter fand sie eine Woche später. Sie hinterließ eine Nachricht, dass Jesus ihr befohlen hätte, es zu tun.«

Archer dachte für einen Moment darüber nach. »Sie behaupten also, es geht um irgendwelche wichtigen Dinge.«

»Wie man es betrachtet. Es geht um meine Normalität. Oder um die Normalität ganz allgemein.«

»Auf die Normalität allgemein können Sie pfeifen.«

»Dann eben um meine eigene.«

»Sie wollen, dass ich Sie ernst nehme«, sagte Archer. »Okay. Prima. Aber ich kenne Sie nicht. Sie sind jemand, dem ich ein Haus verkauft habe. Jemand, der eine Klasse unter mir die Sea View Elementary besucht hat. Sie scheinen ein ganz vernünftiger Bursche zu sein. Aber eines sollten wir im Auge behalten, Tom. Sie haben mich gerufen, weil Sie die Bestätigung suchen, normal zu sein. Ich will aber etwas mehr.«

Tom lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte darüber nach. Offenbar hatte die Zeit Douglas Archer nicht gezähmt. Vielleicht war es wichtig, sich daran zu erinnern, dass man ins Gefängnis kommen oder eine empfindliche Geldstrafe dafür bekommen konnte, wenn man Buick-Limousinen mit Steinen bewarf, vor allem, wenn man alt genug war, um sich die Folgen ausmalen zu können. Tom hatte für Belltower nicht besonders viel übrig, aber er wollte auch nicht, dass ein Meer von Purpurwinden unten auf den Parkplätzen den Verkehr zum Erliegen brachte, obgleich Tony sich furchtbar darüber aufregen würde.

Dennoch lag in Archers Haltung etwas Verführerisches, speziell nach einer Nacht größter nervlicher Anspannung, die an Hysterie grenzte. Er sagte: »Kennen Sie einige der alten Wege und Trampelpfade hier oben?«

Archer nickte.

»Dann lassen Sie uns doch mal das Gelände hinter dem Haus untersuchen.« Tom erhob sich. »Danach können wir ja überlegen, was wir tun sollen.«


Sie folgten einem alten, beinahe vollständig zugewachsenen Fußweg in den dichten Wald hinter dem Garten.

Tom hatte vergessen, wie es war, wenn man durch diese nordwestpazifischen Kiefernwälder wanderte, über den dichten Moos- und Farnteppich und die Sumpfflächen. Er folgte dem breiten Rücken von Archers kariertem Holzfällerhemd den Pfad entlang, bückte sich unter tief hängenden Ästen hindurch oder stieg mit einem großen Schritt über kleine, glänzende Regenwassertümpel hinweg. Der Lärm vorbeifahrender Autos auf der Post Road wurde leiser, als sie einen kleinen Abhang nach Westen hinaufstiegen. Das ganze Gerede von Magie — sowohl seines wie auch Archers — erschien hier viel einleuchtender.

Archer sagte: »Vor hundert Jahren lebten hier Indianer. Zwischen den Kiefern stand mal ein Totempfahl, aber den haben sie ins Stadtmuseum geschafft.«

»Wer benutzt diesen Weg?«

»Die Kinder der Hopfners unten an der Straße haben ihn benutzt, aber die zogen schon vor längerer Zeit weg. Wanderer kommen manchmal hier herauf. Es gibt eine Anzahl Wege, die unten von der Siedlung an der Poplar Road hier heraufführen. Unten bei Ihrem Haus sind sie fast alle zugewachsen. Ich glaube nicht, dass heute noch jemand hier vorbeikommt.«

Er blieb hinter Archer stehen, als der Weg sich gabelte und über eine freie Wiese voller Disteln und Feuerkraut führte, vorbei an einem alten Wellblechschuppen, der mit Efeu überwuchert war. Wahrscheinlich hatte jemand hier sein Kaminholz gelagert, dachte Tom, als er den windschiefen, teilweise mit Moos bewachsenen Bau betrachtete. Archer drang weiter in den dichten Wald vor, und Tom folgte ihm, bis sie wieder vom tiefen Schatten der Bäume umgeben waren.

Sie marschierten länger als eine Stunde weiter, stiegen dabei ständig aufwärts durch den Kiefernwald, bis sie eine felsige Kuppe erreichten. Archer kletterte auf den höchsten Punkt, drehte sich um und reichte Tom für die letzten Meter eine Hand. »Wir sind ganz schön hoch hinaufgekommen«, sagte er, und Tom wandte sich um und war überrascht von dem weiten Blick, nicht nur auf die Post Road, sondern bis hin zur Küste. Unter ihm drängte Belltower sich um die Bucht, und über der Papierfabrik stand eine graue Qualmwolke.

»Deshalb kommen die Leute hier herauf«, sagte Archer. »Es ist kein viel begangener Weg, und nur wenige kennen ihn. Wenn wir an der Gabelung dem anderen Arm gefolgt wären, hätten wir schon bald mitten in einem Sumpf gestanden. Hier herauf ist es aber sehr schön.«

»Gibt es einen Namen für diese Stelle?«

»Irgendjemand hat sie sicherlich getauft. Alles hat einen Namen, nehme ich an.«

»Kommen Sie oft hierher?«

»Ab und zu. Ich finde die Aussicht schön. Von hier oben sieht alles wundervoll aus — an schönen Tagen jedenfalls. Sogar dieser verdammte Parkplatz.«

»Sie hassen diese Stadt«, stellte Tom fest.

Archer zuckte die Achseln. »Wenn ich sie hassen würde, wäre ich längst weg. Obgleich ich nach dem, was ich bisher gesehen habe, daran zweifle, dass ich irgendwo etwas deutlich Besseres finden würde. Hass ist ein zu starkes Wort. Aber ich verabscheue sie sehr… manchmal.« Er hielt inne und musterte Tom von der Seite. Dabei schirmte er seine Augen vor der Sonne ab. »Ich gebe allerdings zu, dass ich gerne wissen würde, was Sie hierher zurückgeführt hat.«

»Sie haben mich nie danach gefragt.«

»Das wäre unhöflich. Vor allem dann, wenn jemand ganz eindeutig nicht darüber reden will.« Er wandte sich wieder der Aussicht zu. Die Sonne war intensiv. »Oder wäre es doch nicht so unhöflich?«

»Meine Frau hat mich verlassen«, sagte Tom. »Dann verlor ich meinen Job. Ich habe zu trinken angefangen, um darüber hinwegzukommen.«

Archer betrachtete ihn jetzt etwas eingehender.

Tom hielt dem Blick stand und hob die Schultern. »Sie fragen sich wahrscheinlich, ob man einem Alkoholiker trauen kann, wenn er des Nachts seltsame Dinge gesehen haben will. Kann ich verstehen. Aber es ist schon länger als einen Monat her, dass ich das letzte Mal einen Tropfen Alkohol angerührt habe. Um ganz ehrlich zu sein, es wäre mir fast lieber, wenn ich wüsste, dass das Ganze auf ein Delirium zurückzuführen ist.«

»Wie lange haben Sie getrunken?«

»So richtig? Seit ich aus dem Job geflogen bin. Drei Monate vielleicht.«

Archer nickte. »Dazu fallen mir einige unbequeme Fragen ein.«

»Als da wären?«

»Viele Menschen verlieren ihren Job. Viele Menschen lassen sich scheiden. Nicht alle landen bei der Flasche.«

Es gab viele Antworten auf diese Frage. Die knappste war: Das geht Sie gar nichts an. Aber wahrscheinlich hatte er selbst dafür gesorgt, dass es Archer etwas anging. Er hatte schließlich das Thema seiner eigenen seelischen Stabilität zur Sprache gebracht. Es war keine feindselige Frage.

Er konnte sagen: Ich war zehn Jahre lang mit einer intelligenten, nachdenklichen Frau verheiratet, die ich innig geliebt habe und deren Misstrauen stetig zunahm, bis es wie ein Messer zwischen uns wirkte.

Er könnte von Barbaras politischem Aktivismus erzählen, von ihrer Überzeugung, dass die Welt sich am Rand einer ökologischen Katastrophe befand. Er könnte erklären, dass seine Arbeit als Ingenieur bei Aerotech sie einander entfremdet hatte, dass sie angefangen hatte, ihn als das lebende Beispiel für den Moloch Technik zu betrachten. Seine Intelligenz diente der Kriegsindustrie, die in ihren Methoden so vielschichtig und so einfältig in ihren Zielen war, dass die Erde von ihr völlig ausgelaugt und in eine einzige Wüste verwandelt wurde.

Er könnte vielleicht auch eines ihrer Argumente anführen. Er könnte seine ständige, geduldige Beteuerung wiederholen, dass die Maschinen, die er entwarf, überaus sparsam im Treibstoffverbrauch waren. Dass seine Arbeit, auch wenn sie nicht gerade der Suche nach dem ökologischen Gral geweiht war, immerhin mithelfen könnte, dass die Luft in der Umgebung größerer Städte besser wurde. Für Barbara waren dies billige Rechtfertigungsversuche. Sie warf ihm vor, sich mit untauglichen Lösungen für ein überwältigendes Problem aufzuhalten. Eine bessere Verbrennungsmaschine würde niemals die Regenwälder in Brasilien oder die Redwoods in Kalifornien wiederherstellen. Woraufhin Tom erwiderte, dass es auf jeden Fall verdammt noch mal viel produktiver sei, als sich mit einer Kette an das Tor einer Papierfabrik zu fesseln oder sich irgendwelchen langhaarigen Anarchisten anzuschließen und dicke Nägel in die Bäume der Cascades zu schlagen. An diesem Punkt — und in ihrem letzten Jahr geschah es immer häufiger — glitt ihr Gespräch in gegenseitige Beschimpfungen ab. Barbara fing dann von seiner »selbstzufriedenen Provinzlersippe« an, bei der sie am meisten Tony störte; und Tom, wenn er ausreichend betrunken oder wütend war, dachte laut über die möglichen Gründe ihres zunehmenden Mangels an sexuellem Appetit nach. (»So schwierig ist die Antwort nicht«, erwiderte sie einmal. »Sieh doch nur in den Spiegel.«)

Aber all das konnte er nicht erzählen. Es war ihm unmöglich, von seinem bohrenden Verdacht zu sprechen, dass sie am Ende wirklich recht gehabt hatte. Er konnte auch nicht diese tiefe Liebe erklären, die er sogar nach ihren Kämpfen noch für sie empfand, wenn sie zum Beispiel im Garten kniete oder vor dem Zubettgehen das Haar bürstete. Er liebte sie voller Treue und Hingabe und einer geradezu tierhaften stummen Beharrlichkeit. Er liebte sie sogar, wenn er sie als frigid beschimpfte.

Er schaute blinzelnd in den strahlend blauen Himmel und auf die Bucht in der Ferne.

Dann sagte er: »Ich habe meine Frau sehr geliebt. Ich konnte es nicht ertragen, als sie wegging.«

»Weshalb ist sie denn gegangen?«, fragte Archer. »Sie können mir jederzeit sagen, dass ich die Klappe halten soll.«

»Es war eher eine politische Meinungsverschiedenheit. Ich arbeitete damals für eine kleine Forschungsfirma in Seattle. Barbara war unter anderem auch Mitglied der Friedensbewegung. Eines Tages kam sie nach Hause und erzählte, dass meine Firma in Kürze einen umfangreichen Regierungsauftrag erhalten solle. Es ginge um Waffenforschung im Zusammenhang mit dem SDI-Programm. Ich erwiderte, an diesen Gerüchten sei nichts dran. Die Leute, für die ich arbeitete, hatten einen strengen Ehrenkodex und stets das Wohl der Gesellschaft im Auge; ich würde die Leute kennen. Ich erkundigte mich, stellte ein paar Fragen und erfuhr nichts. Ich blieb bei meiner Meinung. Eigentlich war es ein Streit wie viele davor. Aber es stellte sich heraus, dass es unser letzter war. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, mit jemandem verheiratet zu sein, der in der Rüstungsindustrie arbeitete. Für Barbara verdiente ich schmutziges Geld.«

»Und deshalb trennten Sie sich?«

»Deshalb, und weil sie jemand anderen kennengelernt hatte.«

»Jemanden in der Bewegung«, vermutete Archer. »Jemanden, der ihr alles Mögliche über Regierungsaufträge erzählte.«

Tom nickte.

»Ganz schön schlimm. Sie fingen daraufhin an zu trinken — und verloren Ihren Job, nicht wahr?«

»Ich begann mit dem Trinken erst später. Ich verlor meinen Job, weil die Gerüchte sich als wahr herausstellten. Die Firma hatte sich um Beteiligungen an der Satellitenforschung beworben; die nordwestpazifischen Staaten sollten auch ihren Anteil beitragen. Das Ganze war von einiger Geheimniskrämerei umgeben, und man redete sogar von Spionage. All diese Fragen stellte ich, weil ich Barbara beruhigen wollte. Daraufhin betrachtete man mich als Sicherheitsrisiko.«


Tom stand auf und klopfte die Erde von seiner Jeans.

»Auf Anhieb«, sagte Archer, »würde ich meinen, dass Sie genauso normal sind wie jeder andere. Ein wenig angeschlagen vielleicht. Abgesehen von dem, worüber wir bereits gesprochen haben — hören Sie ab und zu Stimmen?«

»Nein.«

»Denken Sie an Selbstmord?«

»Um drei Uhr morgens, wenn es mir mal wirklich schlecht geht — dann vielleicht. Ansonsten nicht.«

»Nun, ich bin kein Gehirnklempner. Aber für mich klingt es, als seien Sie weit davon entfernt, verrückt zu sein. Ich denke, wir sollten herauszufinden versuchen, was in dem Haus vor sich geht, das Sie gekauft haben.«

»Gut«, sagte Tom.

Sie gaben sich die Hand, und Tom lächelte Archer erleichtert an, aber ein neuer und ziemlich unwillkommener Gedanke war in seinem Bewusstsein aufgetaucht: Wenn ich nicht verrückt bin, dann sollte ich zumindest Angst haben, oder nicht?

3

Am nächsten Morgen, es war der Sonntag, fiel Tom plötzlich ein, dass er Archer nichts von den Löchern im Hausfundament erzählt hatte.

Vielleicht war es ein Fehler, das zu verschweigen, diesen einzigen greifbaren Beweis, dass das, was er erlebt hatte, keine Illusion gewesen war.

Aber er hielt es mit Absicht zurück, bewahrte einen winzigen Teil des Erlebnisses als sein ganz persönliches Eigentum. Es war ein seltsamer Gedanke, dass er Besitzansprüche auf einen Fluch (oder was immer hier passierte) anmeldete. Aber hatte Archer nicht genau das Gleiche getan? All dieses Gerede von Magie, als wäre dies sein ganz persönliches Wunder.

Aber es war nicht Archer gewesen, dessen Name in einem Traum genannt worden war. Es war nicht Archer gewesen, der am Fenster gestanden, die Schatten der Kiefern beobachtet und eine Stimme unter ihrem Seufzen und Ächzen zu hören geglaubt hatte. Tom Winter hatte die Stimme gesagt. Und jetzt, nachdem er tief und fest geschlafen hatte, kam es ihm so vor, als wäre da noch eine andere Botschaft gewesen, weniger deutlich, aber durch die Erinnerung etwas klarer:

Hilf uns, hatten die Stimmen gesagt.

Hilf uns, Tom Winter. Bitte, hilf uns.


Archer erschien am gleichen Nachmittag mit einem Videorekorder, einer Sony-Videokamera und einem Stativ. Er hatte alles im Kofferraum seines Wagens verstaut.

Tom half ihm beim Ausladen und beim Aufbau der Geräte im Wohnzimmer. Dort wirkten die Gegenstände wie die Requisiten aus einem Science-Fiction-Film. Er machte zu Archer eine dementsprechende Bemerkung. Archer zuckte nur die Achseln. »Das ist es doch auch, was wir hier spielen, oder etwa nicht?«

»Ich betrachte das Ganze nicht unbedingt als Spiel. Ich wohne und lebe schließlich hier.«

»Sie leben hier. Ich spiele.«

»Das ist kein Huckleberry-Finn-Abenteuer, Doug. Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Mir macht das Ganze nicht sehr viel Spaß.«

»Ist während der Nacht irgendetwas passiert, oder haben Sie nur schlechte Laune?«

»Nein, nichts ist passiert.« Die Frage bereitete ihm Unbehagen. »Wofür soll das alles gut sein?«

»Zur Beobachtung. Das Auge, das niemals schläft. Sehen Sie mal.«

Tom schaute durch den Sucher der Videokamera. Sie war auf die Küche gerichtet und fing einen ziemlich großen Ausschnitt des Raums ein. Zu sehen waren auch die Stahlspüle und die geflieste Ablage. Eine Digitaluhr in einer Ecke des Bildes auf dem Schirm gab das Datum, die Stunde, die Minute und die Sekunde an.

Archer erklärte: »Die Kamera ist an den Videorekorder angeschlossen, und ich stelle den Timer auf Mitternacht ein. Bei der langsamsten Geschwindigkeit haben wir Videoband für etwa acht Stunden zur Verfügung. Man überlässt alles sich selbst, schläft selig, und morgen früh sehen Sie, was wir festgehalten haben.«

Tom schüttelte den Kopf. »Das werden sie wohl nicht mit sich machen lassen.«

Archer betrachtete ihn neugierig.

Tom nahm sein Auge vom Sucher. »Und was unternehmen wir in der Zwischenzeit?«

»Ich denke, am logischsten wäre es, wenn wir die Küche in Unordnung bringen.«


Archer hatte noch mehr mitgebracht als nur elektronische Geräte. Vom Rücksitz seines Wagens holte er zwei Sixpacks Bier, eine Tüte Kartoffelchips und eine Schüssel Quarkspeise, die seine Freundin zubereitet hatte.

»Sie leben ja wie ein Student«, sagte Tom.

»Gibt es etwas Besseres?« Archer nahm sich eine Dose Bier. »Zum Abendessen können wir uns ja eine Pizza kommen lassen.« Er reichte Tom eine Dose, dann verzog er skeptisch das Gesicht. »Moment mal, Sie waren doch mal Alkoholiker, nicht wahr? Ich möchte Sie jetzt nicht in Versuchung führen.«

»Ich war reiner Hobbytrinker«, sagte Tom, »und kein Profi.« Aber er ließ die Finger vom Bier.

Der Nachmittag schleppte sich dahin. Es war ein sonniger, warmer Tag, und Tom öffnete die Haustür und die Hintertür, damit der Durchzug etwas Kühlung brachte. Die Luft roch nach heißem Kiefernharz.

Archer schob seinen Stuhl ein Stück nach hinten und legte seine Füße auf den Küchentisch. »Sie waren in der Sea View Elementary. Danach auf der Highschool drüben an der Jackson, nehme ich an, so wie alle anderen im Ort. Ziemlich beschissene Schulen, wenn Sie mich fragen.« Und dann unternahmen sie eine nostalgische Reise durch ihre Vergangenheit. Barbara hatte es mal ein »fröhliches Bad im trüben Tümpel der Erinnerungen« genannt. Es stellte sich heraus, dass die Schwierigkeiten, in die Archer sich auf der Highschool manövriert hatte, weitaus ernsthafter und persönlicher waren als aus jugendlichem Übermut auf vorbeifahrende Autos geworfene Steine. Er hatte einen Zermürbungskrieg gegen seinen Highschool-Rektor und gegen seinen Vater geführt — zwei strenge Zuchtmeister, die zufälligerweise auch noch Pokerfreunde waren. Archer hatte ihnen unendlich oft zugehört, wenn sie abends bei Salzgebäck und einem Kartenspiel ihrem Hass auf Kinder Luft machten. Sein Vater war Techniker für elektrische Haushaltsgeräte, erzählte Archer, und hatte eine tief in seiner Persönlichkeit verwurzelte Abneigung gegen Kinder. Der Schulrektor, Mr. Mayhew, hatte berufliche Gründe für seinen Hass und galt als Experte auf diesem Gebiet. Jackson Archer, der seinen eigenen Sohn häufig mit einem Ledergürtel verprügelte, sagte dazu, dass Mr. Mayhew dieses Gewerbe als seinen Lebensunterhalt betrieb und es wahrscheinlich viel besser beherrschte. Tatsächlich beschränkte er sich auf Schläge mit einem Lineal auf den Handrücken, was sehr schmerzhaft war, ohne jene sichtbaren Verletzungen hervorzurufen, die Mütter am nächsten Tag wutschäumend in die Schule stürmen ließen — vielleicht war es allein diese Spezialität, die ihn als Experten auswies. Archer stellte die Theorie auf, dass sie ihre Verluste beim Pokern an ihm abreagierten. Er lernte schnell, jeweils demjenigen von beiden aus dem Weg zu gehen, der am Sonntagabend Geld losgeworden war.

»Das hat Sie aber nicht davon abgehalten, Schwierigkeiten zu bekommen«, stellte Tom fest.

»Es hielt mich nicht vom Trinken, Rauchen und Fahren mit schnellen Wagen ab. Nein. Aber ich habe nie geglaubt, sie könnten wirklich wollen, dass ich damit aufhöre. Es machte ihnen viel zu viel Spaß.«

»Hat diese Geschichte eine Pointe?«

»Als ich sechzehn war, setzte ich den Pontiac meines Vaters gegen einen Baum. Totalschaden. Ich bekam nichts ab, aber ich bin ohne Führerschein gefahren. Sie schickten mich dann mit freudiger Zustimmung des Jugendgerichts auf eine sogenannte Militärschule. In Wirklichkeit war es natürlich ein Konzentrationslager für halbwüchsige Psychopathen.«

»Und was haben Sie dort getan?«

Archers Lächeln erstarb. »Ich fraß Scheiße wie alle anderen Insassen. Diese Einrichtungen sind genauso schlecht wie ihr Ruf, Tom. Sie können einen verstockten rebellischen Teenager in einen verstockten und unterwürfigen verwandeln — einfach so. Ich fraß zwei Semester lang Scheiße und kam zurück, als mein Vater gestorben war. Meine Mutter sagte: ›Ich konnte dich nicht dort lassen.‹ Ich bedankte mich bei ihr, und als sie mit mir vor dem Sarg stand — ich, verdammt noch mal, in voller Paradeuniform —, schaute ich auf den Sarg und sagte: ›Ihr könnt mich alle mal, du und dein Poker und dein Herzinfarkt auch.‹«

Für einige beklommene Sekunden lang wurde es in der Küche ganz still. Dann räusperte Tom sich. »Sie haben ihm nie verziehen?«

»Er war ein einsamer, feindseliger Mensch, der mir niemals verzieh, geboren worden zu sein und sein Leben kompliziert gemacht zu haben. Vielleicht bin ich großmütiger. Eines Tages ganz bestimmt.« Er nahm einen langen Schluck Bier. »Wie ist es mit Ihnen? Sie sind auch ein Opfer Ihrer Kindheit?«

»Ich hatte eine durchaus glückliche Jugend. Jedenfalls hat niemand mich auf eine Schule mit militärischem Drill geschickt.«

»Das ist nicht die einzige Art und Weise, auf die man leiden kann.«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich gelitten habe. Nicht wesentlich. Dad hätte das nicht zugelassen.«

»He, Moment mal. Winter? Doktor Winter? Hatte der nicht mal eine Praxis auf der Poplar Street?«

»Richtig.«

»Scheiße, ich kannte Doc Winter! Ich war mit einem durchgebrochenen Blinddarm dort, als ich zehn Jahre alt war. Mein Vater sagte: ›Der Junge klagt über Bauchschmerzen.‹ Ich wand und krümmte mich vor Schmerzen. Ihr Dad sah mich an und telefonierte mit dem Krankenhaus und verlangte einen Krankenwagen. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, wandte er sich an meinen alten Herrn. ›Sie haben Ihren Sohn beinahe umgebracht, weil Sie so lange gewartet haben. Wenn es eine Erlaubnis gäbe für die Ausübung der Vaterschaft, dann würde ich die Ihre sofort für ungültig erklären lassen.‹ Obgleich ich mich furchtbar mies fühlte, erinnerte ich mich daran. Es war ganz toll. Mein Gott, der Sohn von Doc Winter! Aber ist er nicht…«

»Meine beiden Eltern starben bei einem Autounfall«, sagte Tom. »Vor etwa zwölf Jahren. Ein Holzlaster drückte sie von der Fahrbahn, als er auf der Küstenstraße um eine Kurve bog.«

»Wie alt waren Sie damals?«

»Ich hatte gerade die Highschool abgeschlossen.«

»Schlimme Sache«, sagte Archer.

»Ich war am Leben. Die Versicherung bezahlte mir das Ingenieurstudium. Viel hat es mir nichts genützt. Aber, wissen Sie, das alles entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Ich dachte immer, Dad sei Arzt geworden, weil er die Welt für einen schlimmen, gefährlichen Ort hielt. Er hatte ein Gespür für die menschliche Verletzbarkeit — für die Anfälligkeit des menschlichen Körpers. Er erklärte mir mal, der menschliche Körper sei ein Sack aus Haut voller lebenswichtiger Organe und mit etwas noch Empfindlicherem darin, nämlich dem Leben selbst.«

»Wahrscheinlich ist das nicht gerade die beste Einstellung für einen Jungen«, sagte Archer.

»Aber er hatte recht. Ich begriff es, als die Polizei an dem Tag, an dem der Truck seinen Wagen zerquetscht hatte, vor der Tür stand. Das System kennt keine Nachsicht, kein Verzeihen. Ich habe es Barbara Dutzende von Malen gesagt. Sie zog ständig los, um die Wale zu retten, die Bäume zu schützen oder um für wer weiß was alles zu kämpfen. Es war rührend. Aber in meinem Hinterkopf hörte ich ständig Dads Stimme: ›Das Ganze bewirkt nichts anderes als einen Aufschub. Im Grunde wird überhaupt nichts richtig gerettet.‹ Barbara betrachtete den Treibhauseffekt als eine Art Virus, als etwas, das man mit dem richtigen Impfstoff besiegen könnte. Ich erklärte ihr, es sei ein Krebs — der Krebs der Menschheit an den Lebensorganen der Erde. So etwas könne man durch Protestmärsche nicht aufhalten.«

»Klingt das nicht ein wenig nach Kapitulation?«

»Ich denke eher, es bedeutet, dass man Tatsachen akzeptiert.«

Archer stand auf und ging zur Tür, wo seine Silhouette den Blick auf die schwankenden Bäume versperrte. »Eine sehr düstere Einstellung, Tom.«

»Die Erfahrung bringt einen dazu.«


Gegen sechs Uhr, als die Sonnenstrahlen durch das Fenster über der Spüle drangen und die Küche sommerlich warm wurde, zogen sie um in die kühlere Halbdämmerung des Wohnzimmers. Tom telefonierte mit dem Deluxe Pizza Service in Belltower und bekam fünf Dollar Liefergebühr zusätzlich berechnet, »weil wir gewöhnlich nicht so weit rauskommen«. Die Bestellung traf eine Stunde später ein — Peperonipizza mit Anchovis bei Zimmertemperatur. Nachdem er den Fahrer entlohnt hatte, zog Tom die Vorhänge zum Garten auf, wo die Schatten der Kiefern merklich länger wurden. Sein Appetit war vergangen. Er aß ein paar Happen und brachte dann seinen Teller in die Küche. Auf dem Rückweg umrundete er nachdenklich die Videokamera, die auf ihrem Stativ lauerte wie ein Wächter von einem anderen Stern. »Das wird ihnen nicht gefallen«, sagte er wieder.

Archer schaute von seiner Pizza hoch, die ihm zu munden schien. »Ja, das haben Sie schon mal gesagt. Wer sind sie?«

»Ich weiß es nicht.« Tom hob die Schultern. »Aber haben Sie denn nicht das Gefühl, dass hier irgendeine Intelligenz am Werke ist?«

»Ich dachte nicht, dass wir mit unseren Vermutungen so weit gehen würden. Vielleicht haben Sie es hier nur mit besonders sauberen und ordentlichen Kakerlaken zu tun.«

»Allmählich sehe ich das etwas anders.«

»Haben Sie dafür einen speziellen Grund?«

Die Träume, dachte Tom. Die Träume, die Löcher im Hausfundament… und ein Gefühl, eine Ahnung. »Nein, es gibt keinen speziellen Grund.«

»Was Sie beschrieben haben«, sagte Archer, »lässt weniger auf eine Intelligenz schließen als vielmehr auf eine Maschine. Auf einen von diesen sturen Apparaten, die einfach weiterlaufen, während der Eigentümer Urlaub macht.«

»Wer soll denn der Eigentümer sein? Der Typ, der hier gewohnt hat — Ben Collier?«

»Warum nicht? Leider ist es unmöglich, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Er ist völlig unbekannt. Joan Flicker im Lebensmittelladen oben am Highway müsste ihn öfter gesehen haben als alle anderen, aber ich bezweifle, dass sie eine genaue Beschreibung von ihm geben kann. Er zeigte sich niemals bei öffentlichen Anlässen, lud niemanden zu sich ein, schrieb niemals irgendwelche Leserbriefe. Er sagte nicht mehr als ›Hallo‹, wenn er jemanden sah. Der Einzige, der sich an etwas Spezielles im Zusammenhang mit Ben Collier erinnern kann, ist Jered Smith, der ihm die Post gebracht hat.«

»Bekam er denn Post?«

»Laut Jered abonnierte Ben Collier jedes Magazin, jede Illustrierte, die man kriegen konnte, oder zumindest schien es so. Einige waren noch nicht einmal in Englisch. Jeden Tag brachte Jered fünf bis zehn Illustrierte und Zeitungen zu ihm. Magazine, sagt er, sind schwer — und damals war er noch zu Fuß unterwegs, allerdings bekam er im vergangenen Jahr einen Lieferwagen von der Post. Das war der erste Hinweis darauf, dass Ben Collier verschwunden war. Jered beklagte sich, dass der Stapel Magazine hoch genug war, um die Tür zu blockieren.«

»Welcher Art waren denn die Magazine?«

»Alle, von Time bis zum Manchester Guardian. Mit Schwergewicht auf dem aktuellen politischen Geschehen, aber nicht nur.«

Tom überlegte. »Es klingt ziemlich exzentrisch, aber…«

»Nein, das war nicht nur exzentrisch. Es gab ein Muster. Es war nichts Zufälliges, eher eine Art lineare Gleichung.« Tom hob skeptisch die Augenbrauen. Archer fügte hinzu: »Mathematik ist mein anderes Hobby. Den Mathematikunterricht an der Highschool habe ich niemals versäumt. Sie erinnern sich noch an Mr. Foster? Einen ziemlich großen Mann mit grauen Haaren? Er sagte, ich hätte eine Begabung dafür. Ich lese zum Beispiel regelmäßig die Rätselecke im Scientific American.«

Douglas Archer, Rechtsgelehrter und Mathematiker. Man sollte ihn nicht unterschätzen. »Das ist aber nicht viel an Hinweisen.«

»Es ist praktisch nichts. Überhaupt nichts. Sondern allenfalls interessant.« Archer schob den Teller beiseite und stand auf. »Nun, wie dem auch sei. Lassen Sie die Geräte in Ruhe, sie schalten sich selbst ein. Aber morgen früh möchten Sie sich bestimmt das Band ansehen.«

»Darauf können Sie sich verlassen. Wollen Sie nicht noch eine Tasse Kaffee trinken?«

»Ich bin fürs Kino verabredet, für die Spätvorstellung. Aber erzählen Sie mir, was zu sehen war.« Er grinste schelmisch. »Oder was nicht zu sehen war.«

Archer schloss die Tür hinter sich, und plötzlich wirkte das Haus hohl und leer.


An diesem Abend machte Tom die beunruhigende Entdeckung, dass er Angst hatte einzuschlafen.

Er duschte und schlüpfte in einen Bademantel und schaltete die Tonight-Show ein. Das Geplapper war langweilig, aber er ließ den Fernseher laufen, um den Klang menschlicher Stimmen zu hören. Genau deshalb besitzen wir alle diese Kästen, dachte er, weil sie mit uns reden, wenn niemand sonst zu Hause ist.

Aber vielleicht war der Begriff »Angst« in diesem Zusammenhang etwas übertrieben. Es war ja nicht so, dass er geradezu zitterte. Eher hatte er Hemmungen, die Augen zu schließen, wenn gerade die verrücktesten Dinge passierten. Er hatte für sich entschieden, dass hier irgendetwas vor sich ging, irgendein unterirdisches Geschehen ablief. Vielleicht war es sogar etwas, das — falls Archers historischer Überblick den Tatsachen entsprach — schon seit hundert oder noch mehr Jahren an diesem Ort stattfand. Es konnte etwas Insektenartiges sein, etwas, das im Erdboden lebte, das Löcher und geheime Verstecke bevorzugte. Er entwickelte ein Gespür, ein Bewusstsein für diese Erscheinungen, das erschreckend genau war. Die Augen, die ihn in seinen Träumen musterten, waren die Augen von… nicht von Maschinen, darin irrte Archer sich. Eher die von etwas in seiner Zielgerichtetheit Mechanischem. Es waren die Augen eines Baumeisters, eines Konstrukteurs. Aber was genau schufen diese Erscheinungen?

Nichts Gefährliches. Dessen war Tom sich einigermaßen sicher. Die Insekten in seinen Träumen waren nicht feindselig und nicht tödlich. Aber sie waren grundsätzlich und vollkommen anders, rätselhaft. Ihm war, als hätte er in einen schwarzen Tümpel gegriffen und irgendetwas berührt, das darin lebte. Einen vielfarbigen, vielgliedrigen Polypen, der so völlig anders war als er selbst, dass er durchaus von einem anderen Stern stammen konnte.

Und dann war da natürlich noch Archers Videoanlage, fast genauso fremdartig, die vor sich hinsummte. Sie hatte bislang kein Ereignis aufgezeichnet und würde es wohl auch nicht. Es war auch möglich — und dieser Gedanke beunruhigte ihn —, dass er aufwachte und die Kamera in ihre Einzelteile zerlegt vorfand, die nützlichen Teile entfernt, das Gehäuse offen und ausgeweidet auf dem Teppich.

Er raffte sich auf, zu Bett zu gehen, ehe der Nachspann der Tonight-Show ablief. Lange lag er in der Dunkelheit da und bildete sich ein, die Kamera im Zimmer nebenan schnurren zu hören. Aber das war doch wohl unmöglich, oder? Es war das Sirren und Summen seiner eigenen Nerven. Seines eigenen Bluts, das durch seine Ohren pulsierte. Er konnte nicht aufhören, diese Fragen in seinem Geist immer wieder neu zu stellen, die Fragen nach den Maschinen und der Intelligenz dahinter und dem Laut, der durchaus ein matter Hilfeschrei hätte sein können. Aber nach einiger Zeit zerstreuten seine Gedanken sich, und er schlief ein.

Eine zweite Nacht lang schlief Tom Winter völlig traumlos. Er erwachte vom Lärm des Uhrenradios, das auf einen Mittelwellensender in Seattle eingestellt war, der gerade Wettervorhersagen und Verkehrsmeldungen durch den Äther schickte. Sonnenstrahlen drangen matt durch die Vorhänge, aber er fühlte sich, als sei er gerade erst zu Bett gegangen. Nichts aus dieser Nacht war in seiner Erinnerung haften geblieben — außer, ganz vage nur, der Nachhall eines ständigen Summens. Es war ein Geräusch, wie ein im Erdreich vergrabener Dynamo es von sich geben mochte.

Das Geräusch seiner Gedanken.

Möglicherweise auch das Geräusch ihrer Gedanken.

Aber diese Vorstellung verdrängte er schnell wieder. Die Küche war auch diesmal sauber.

Dieser Trick war nun, da er ihn nicht mehr beeindruckte, ein vertrautes Phänomen. Es waren eher die kleinen Details, die ihn faszinierten. Zum Beispiel war jedes winzige Partikel organischer Materie von der Pizzaverpackung entfernt worden, doch der Karton selbst stand immer noch aufgeklappt mitten auf dem Tisch. Es waren Entscheidungen getroffen worden: Das ist Abfall und das nicht. Es waren keine einfachen mechanischen Entscheidungen. Die Lebensmittel im Kühlschrank wurden niemals angerührt. Ungeöffnete Pakete waren ebenfalls ausgenommen. Dahinter steckte eine Logik. Ziemlich simpel und sich ständig wiederholend, aber gleichzeitig kompliziert und merkwürdig. Eine Hausangestellte hätte den leeren Karton weggeräumt. Ein Roboter tat das nicht. Aber einen Roboter würde es auch nicht stören, wenn er bei der Tätigkeit überrascht würde; ein Roboter würde nicht bis zu den frühen Morgenstunden warten.

Der Videorekorder lief noch. Es dauerte noch einige Minuten bis acht Uhr. Tom beugte sich vor, griff an der Kameraoptik vorbei und schaltete das Gerät ab.

Er holte die Kassette heraus und stellte fest, dass seine Hand zitterte. Er brauchte ganze fünfzehn Minuten, um den Videorekorder an seinen Fernseher anzuschließen… und eine weitere Minute, um das Band zurückzuspulen.

Er schaltete den Fernseher ein, und als der Schirm sich erhellte, betätigte er die Playtaste des Rekorders. Ein Bild entstand und stabilisierte sich — die Küche, die durch die statischen Kameraposition fremd und steril wirkte. Die Zahlen am oberen Bildschirm gaben die Uhrzeit an, 12:01, 12:02 — er war um diese Zeit immer noch wach gewesen, und als er den Ton etwas lauter drehte, konnte er im Hintergrund die Johnny-Carson-Show hören. Irgendwo hinter dem Bild auf dem Schirm saß er in seinem Bademantel und verfolgte die Tonight-Show. Es entstand eine Art Zeitschleife — aber darüber wussten sie sicherlich genau Bescheid.

Das war ein weiterer phantomhafter Gedanke, unerwünscht und absonderlich. Er schüttelte ihn ab.

Er drückte auf die Taste für den schnellen Vorlauf.

Ein Balken wanderte von unten nach oben über den Schirm; das Bild flackerte. Die Minuten huschten so schnell vorbei, dass die Anzeige kaum lesbar war. Aber es war noch immer die gleiche, unaufgeräumte Küche, die er am Abend vorher zurückgelassen hatte.

1:00 Uhr nachts flackerte vorbei.

2:00 Uhr.

3:00 Uhr. Nichts passierte. Dann…

3:45 Uhr.

Er drückte auf die Pausetaste, zu spät, und ließ das Band zurücklaufen.

3:40:01.

3:39:10.

3:38:27.

Um genau 3:37:16 Uhr morgens war das Licht in der Küche erloschen.

»Verdammt noch mal!«, sagte Tom.

Die Kamera war so konstruiert, dass sie bei normaler Zimmerbeleuchtung, aber nicht bei absoluter Dunkelheit funktionierte. Der Bildschirm zeigte eine graue, undurchdringliche Leere. Es war so offensichtlich, dass es wehtat. Sie hatten, verdammt noch mal, das Licht ausgeknipst.

Er drückte auf die Rückspultaste und sah sich die Sequenz in Normalzeit an. Aber es gab nichts zu sehen, nur das statische Bild… und, ganz schwach, das Geräusch des umgelegten Schalters.

Klick.

Dunkelheit.

Und im Hintergrund… verborgen im Bandrauschen, flüchtig und kaum hörbar… etwas, das ihr Geräusch hätte sein können.

Ein chitinöses Flüstern. Das Scharren metallischer Wimpern auf kaltem Linoleum. Das Geräusch einer Rasierklinge, die über eine Feder gleitet.


Er versuchte noch nicht einmal, Archer anzurufen. Es war schon spät. Er schloss die Haustür ab und stieg in seinen Wagen.

Das Haus zu verlassen war genauso, als schüttle er den Einfluss eines langen hypnotischen Traums ab. Er lauerte am Rand seiner Wahrnehmung, und er beeinflusste seine Entscheidungen. Weil er sich verspätet hatte, versuchte er sein Glück mit einer Abkürzung durch Belltower. Doch dabei musste er feststellen, dass die Durchgangsstraße, die er in Erinnerung hatte (die Newcastle hinunter bis zur Brierley), verbreitert worden war und zum Highway abzweigte. Er war bisher noch nie dort entlanggefahren, und der Abstecher brachte ihn durcheinander. Es war eine Reise durch Altbekanntes hin zu etwas völlig Neuem. Da war die Sea View Elementary auf dem grünen Hügel und die Highschool eine Viertelmeile weiter südlich, einander ähnliche Gebäude aus lachsfarbenem Klinker, so greifbar und klar in der Erinnerung, dass es ihn nicht überrascht hätte, den neunjährigen Doug Archer herausrennen zu sehen, um seinen Wagen mit einer Salve Steine einzudecken. Aber der Zeitungskiosk war mittlerweile eine Videospielhölle, und wo Woolworth’s einst gewesen war, befand sich jetzt ein Cineplex. Schon wieder hatte sich die Welt verändert, während er ihr den Rücken zugewandt hatte.

Sie war verfallen, hätte sein Vater vielleicht gesagt. Wie die Erde selbst, hätte Barbara ihn erinnert. Schmutz erfüllte die Atmosphäre und schmolz die Polkappen. Barbara war einer der wenigen Menschen in Toms Umgebung, die vom Vorhandensein des Treibhauseffekts überzeugt waren und gleichzeitig glaubten, dass er aufgehalten werden konnte. Es war das labile Gleichgewicht des Aktivisten. Gestörte Thermodynamik, hätte sein Vater ihr erklären können. Man kann einen Tod aufschieben, aber man kann einen Menschen nicht unsterblich machen. Das Gleiche galt sicherlich auch für einen Planeten. Er wurde durch den Gebrauch nicht besser. Dinge verfallen. Der Beweis dafür war ringsum zu erkennen. Der Beweis war sein eigenes Leben.

Das mag ja sein, hätte Barbara erwidert, aber wir können wenigstens kämpfend untergehen. Sie hatte daran geglaubt, dass halbe Sachen immer noch besser waren als gar keine; dass sogar eine unwirksame Moral im Jahrzehnt der Reaganomics, der Entwurzelten und der Videokirche nützlich war. Ihre Stimme war in seiner Erinnerung laut und deutlich zu vernehmen.

Sie war mein Gewissen, dachte Tom.

Aber die Moral — die Moral der Waffenforschung oder die Moral des Verkaufens von Automobilen — entwand sich immer wieder seinem Zugriff. Er hatte sich um zwanzig Minuten verspätet, als er im Laden ankam, aber keine Käufer waren zu sehen, und niemand schien auf die Uhrzeit zu achten. Die Verkäufer umringten den Cola-Automaten und erzählten sich Witze. Tom hatte die Stempeluhr bedient und stand nun hilflos auf dem Gelände herum und sah den vorbeirasenden Autos nach — während er über Barbara und über das Haus nachdachte —, als Billy Klein, der Geschäftsführer, sich ihm von hinten näherte und ihm einen Arm um die Schultern legte. Klein war am ganzen Körper breit, breitschultrig und breithüftig und mit einem breitflächigen Gesicht. Sein Lächeln signalisierte raubtierhafte Energie und automatische, falsche Herzlichkeit — ein durch und durch fleischfressendes Grinsen. Tom wandte den Kopf und atmete einen Schwall mit Pfefferminz gewürzten Atems ein. »Kommen Sie mit«, sagte Klein. »Ich zeige Ihnen mal, was ich mit Verkaufen wirklich meine.«

Es war das erste Mal seit seinem Einstellungsgespräch, dass er Kleins Heiligtum betreten durfte, einen rundum verglasten Raum, von dem aus man in drei Verkaufsbüros schauen konnte, wo Verträge ausgehandelt wurden. Tom nahm nervös auf dem Sessel Platz, den Klein das Käuferbänkchen nannte. Er war einige Zentimeter niedriger als ein gewöhnlicher Bürosessel. Schwierige Kunden wurden oft an Klein weitergeleitet, der das Gefühl hatte, er ziehe einen Nutzen aus dem psychologischen Vorteil, von oben auf seine Opfer hinabzustarren. »Seltsam, aber es funktioniert. Die Verkäufer reden mich mit ›Sir‹ an und machen sich fast in die Hosen, wenn sie sich unterwürfig verneigend aus dem Raum entfernen. Der Kunde schaut hoch und sieht mich, wie ich ihn stirnrunzelnd betrachte…« Er runzelte die Stirn. »Wie sehe ich aus?«

Wie ein unter Verstopfung leidender Pitbullterrier, dachte Tom. »Sehr eindrucksvoll.«

»Aber sicherlich. Und das ist volle Absicht. Wenn Sie als Verkäufer Erfolg haben wollen, Tom, dann müssen Sie Eindruck machen. Sie verstehen, was ich meine? Irgendwie Eindruck. Vielleicht sogar bei jedem Kunden auf andere Weise. Die Kunden kommen rein und sind nervös, oder sie kommen rein und sind bereit, es mit jedem aufzunehmen, sind entschlossen, ein Supergeschäft zu machen und den Verkäufer über den Tisch zu ziehen. Aber gleichgültig, wie sie erscheinen, tief in ihrem Innern haben sie an einem bestimmten Punkt Angst. Und dort müssen Sie einhaken. Finden Sie diese Stelle und arbeiten Sie damit. Wenn Sie die Käufer überzeugen können, dass Sie ihr Freund sind, dann ist das eine Methode, denn dann denken sie, prima, ich habe jemanden, der an diesem Furcht einflößenden Ort auf meiner Seite steht. Oder wenn sie Angst vor Ihnen haben, dann machen Sie sich das zunutze. Sie sagen zum Beispiel: ›Ich glaube, mit diesem Angebot können wir nichts anfangen, denn dabei würden wir glatt Geld verlieren‹, und dann schlucken die Kunden und legen noch etwas dazu. So einfach ist das! Aber Sie müssen Eindruck machen. Sonst verlieren Sie jedes Mal ein paar Dollar. Passen Sie auf.«

Klein drückte auf einen Knopf seiner Sprechanlage. Blecherne Stimmen drangen aus dem Lautsprecher. Tom hing seinen eigenen Gedanken nach, bis er begriff, dass sie in das Verkaufsbüro hinter ihnen hineinhörten, wo Chuck Alberni gerade dabei war, mit einem Mann mittleren Alters und dessen Frau ein Geschäft abzuschließen.

Der Kunde beklagte sich, dass man ihm nicht genug für seinen in Zahlung gegebenen Wagen, einen 87er Colt, angeboten habe. Alberni erwiderte: »Wir kommen Ihnen schon so weit entgegen, wie wir es gerade noch verantworten können. Und ich weiß, dass Ihnen das auch klar ist. Wir haben im Augenblick ein ziemlich umfangreiches Lager, und die Stellplätze kosten uns eine Menge Geld. Aber betrachten wir es mal von der anderen, der angenehmen Seite. Was wir an Extras anbieten, finden Sie nirgendwo, und unser Servicevertrag dürfte unschlagbar sein.«

Und so weiter. Man müsse die Aufmerksamkeit des Kunden immer wieder auf den Wagen lenken, den er sich offenbar wünscht, erklärte Klein. »Natürlich verdienen wir an der Finanzierung, egal, wie weit wir ihm entgegenkommen. Wir könnten ihm den dämlichen Wagen zu seinen Bedingungen überlassen. Sein Schlitten, den er in Zahlung gibt, ist sehr schön. Aber der Punkt ist, dass man sich keinen Dollar entgehen lässt.«

Der Kunde kam mit einem neuen Angebot: »Das ist das Äußerste, was wir im Augenblick aufbringen können«, sagte er. »Das ist dann auch mein letztes Angebot.«

Alberni betrachtete die Zahlen und sagte: »Passen Sie auf. Ich gehe damit zum Verkaufsleiter und höre mir an, was er dazu meint. Ich werde mir alle Mühe geben müssen, ihn zu überreden, aber ich glaube, so kommen wir der Sache schon näher.«

Alberni stand auf und verließ das Büro.

»Sehen Sie?«, sagte Klein. »Er bearbeitet sie in seinem Sinn, allerdings vermittelt er ihnen den Eindruck, dass er ihnen einen Gefallen tut. Sie müssen immer darauf achten, dass Sie den Kunden fest an der Angel haben.«

Alberni kam in Kleins Büro und setzte sich. Er bedachte Tom mit einem langen prüfenden Blick. »Bringen Sie ihm das Einmaleins bei?«

»In Tom steckt eine ganze Menge«, sagte Klein. »Das erkenne ich schon jetzt.«

»Er ist der Bruder des Inhabers. Das dürfte alles sein, was in ihm steckt.«

»Hey, Chuck«, sagte Klein vorwurfsvoll. Aber Alberni war gerade im Begriff, ein gutes Geschäft abzuschließen und konnte sich derartige Bemerkungen leisten.

Tom sagte nichts.

Die Sprechanlage war noch immer eingeschaltet. Im Zimmer nebenan ergriff der Kunde die Hand seiner nervösen Ehefrau. »Wenn wir mit der Holzveranda bis zum nächsten Jahr warten«, sagte er, »dann können wir vielleicht einen Tausender mehr anzahlen.«

»Bingo«, sagte Alberni.

»Sehen Sie?«, sagte Klein. »Wir reizen unsere Karten bis aufs Letzte aus. Wir bekommen, was wir haben wollen. Wir lassen uns keinen Dollar durch die Lappen gehen.«

Tom schüttelte den Kopf. »Sie belauschen sie? Wenn sie glauben, dass sie allein sind?«

»Manchmal«, sagte Klein, »ist das die einzige Möglichkeit, sich Klarheit zu verschaffen.«

»Ist das nicht unmoralisch?«

Alberni lachte schallend. Klein musterte Tom entgeistert. »Unmoralisch? Was soll das denn heißen? Was sind Sie denn auf einmal? Mutter Teresa?«


Zum Arbeitsende stempelte er wieder und fuhr auf dem Highway zur Harbor Mall. Im Eisenwarenladen kaufte er ein Brecheisen, ein Maßband, einen Meißel und einen Hammer. Er bezahlte mit seiner Kreditkarte und fuhr nach Hause, während das Werkzeug in seinem Kofferraum klapperte.

Der nordöstliche Teil des Hauses, dachte Tom. Im Kellergeschoss. Dort leben sie.

Er taute im Mikrowellenherd ein Fertiggericht auf und schlang es gleichgültig in sich hinein: gegrilltes Huhn, klebriges Kartoffelpüree, einen Klumpen »Dessert«.

Er spülte den Behälter aus und warf ihn weg.

Keine Arbeit für sie heute Nacht.

Er schlüpfte in eine verwaschene Levi’s und ein löcheriges Baumwollhemd und begab sich mit seinen neuen Werkzeugen hinunter in den Keller.

Er identifizierte eine Trennwand, die quer durch den Keller verlief, und vergewisserte sich, indem er ihren Abstand zur Treppe maß, dass sie sich genau unter einer ähnlichen Wand befand, die das Wohn- vom Schlafzimmer trennte. Im Parterre maß er die Breite des Schlafzimmers bis zum nordöstlichen Hausende: sechs Meter fünfzig plus oder minus ein paar Zentimeter.

Eine ähnliche Messung im Keller durchzuführen, war etwas schwieriger. Er musste auf Knien hinter die zerbeulte hintere Abschlussplatte der Kenmore-Waschmaschine kriechen und das Maßband mit einem Ziegelstein beschweren. Er führte drei Messungen durch und erhielt jedes Mal das gleiche Ergebnis.

Die nordöstliche Wand des Kellers war mindestens einen Meter vom Rand des Fundaments entfernt eingesetzt worden.

Er räumte zwei Kartons und ein Regal mit Waschpulver und Wäschebleiche beiseite, dann folgten die Regalbefestigungen. Als er damit fertig war, sah die Waschküche aus, als hätte dort eine Bombe eingeschlagen, aber die gesamte Wand lag frei. Es schien eine völlig normale Gipswand zu sein, die von Nägeln gehalten wurde und weiß gestrichen worden war. Der äußere Anschein kann täuschen, dachte Tom. Aber es wäre recht einfach, der Sache auf den Grund zu gehen.

Mit Hammer und Meißel schlug er ein Stück aus der Wand heraus. Sie bestand tatsächlich aus Gips. Der weiße Staub rieselte auf ihn herab, während er arbeitete, und vermischte sich mit seinem Schweiß, bis er fast völlig weiß war. Genauso deutlich zu erkennen war der Hohlraum hinter der Wand, der zu tief war, als dass das Licht der Deckenlampe bis dorthin vordringen konnte. Mit dem Brecheisen hebelte er nun größere Stücke aus der Gipswand, bis er knöcheltief im Schutt stand.

Er hatte eine Öffnung von ungefähr einem Meter Durchmesser geschaffen und wollte gerade eine Taschenlampe holen, um hineinzuschauen, als das Telefon summte.

Zuerst hielt er das Geräusch für eine zornige Reaktion des Hauses selbst, einen Aufschrei der Entrüstung über diese Freveltat, die er begangen hatte. Seine Ohren rauschten von der Anstrengung der Arbeit, und es war leicht, sich das wilde Summen von Insekten vorzustellen, die Reaktion eines aufgescheuchten Bienenstocks. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben, und rannte nach oben zum Telefon.

Er nahm den Hörer ab und hörte Doug Archers Stimme. »Tom? Ich wollte gerade auflegen. Was ist los?«

»Nichts… ich war unter der Dusche.«

»Was ist mit dem Videoband? Ich hab den ganzen Tag darauf gewartet, dass Sie sich melden, Buddy. Was haben wir?«

»Nichts«, erwiderte Tom.

»Nichts? Nada? Null?«

»Überhaupt nichts. Sehr peinlich für mich. Sehen Sie, es tut mir leid, dass ich Sie in die Sache mit hineingezogen habe. Vielleicht sollten wir das Ganze eine Zeit lang ruhen lassen.«

Stille trat ein, dann räusperte Archer sich. »Ich kann nicht glauben, dass ich das aus Ihrem Mund höre.«

»Ich glaube, wir haben uns gegenseitig ein wenig verrückt gemacht.«

»Tom, ist bei Ihnen irgendetwas nicht in Ordnung? Gibt es Probleme?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Ich sollte wenigstens vorbeikommen, um den Videokram abzuholen…«

»Vielleicht am Wochenende«, sagte Tom.

»Wenn Sie das wollen…«

»Ja, das will ich.«

Er legte den Hörer auf.

Wenn es einen Schatz geben sollte, dachte er, dann gehört er mir.

Er ging wieder in den Keller.

Das Haus summte und brummte um ihn herum.

4

Weil Montag war, weil sie ihre Arbeitsstelle bei Macy’s verloren hatte, weil es ein kühler und zeitweilig regnerischer Frühlingstag war — und vielleicht auch, weil die Sterne oder das Kismet oder ihr Karma es so gewollt hatten —, blieb Joyce stehen, um den fremden Mann zu grüßen, der vor Kälte zitternd auf einer Bank im Washington Square Park saß.

Die graue, nasse Dämmerung hatte jeden bis auf die Tauben vertrieben. Sogar der namenlose Achtzigjährige, der noch in der vergangenen Woche »Lyrik« auf Pappkartontafeln verkauft hatte, war weitergezogen oder gestorben oder in den Himmel aufgefahren. Sonst war der Platz mit Gitarrenspielern, Studenten von der NYU und halbwüchsigen Mädchen aus den Privatschulen in den feineren Vororten bevölkert, die, wie sie meinten, hier »die Szene« hautnah erleben konnten. Doch im Augenblick gehörte der Park Joyce und diesem seltsamen stillen Mann, der sie mit erschrockenen Augen musterte.

Natürlich war es dumm und wahrscheinlich sogar gefährlich, stehen zu bleiben und ein Gespräch anzufangen. Schließlich war sie immer noch in New York. Eigenartige Menschen gab es hier reichlich. Und ihre Eigenarten waren nur selten feinsinnig oder interessant. Aber Joyce verfügte über eine recht gute Menschenkenntnis. »Joyce mit dem scharfen Blick« hatte Lawrence sie mal genannt. »Die Florence Nightingale der Nächstenliebe.« Sie wehrte sich innerlich gegen diese Anspielung — obgleich sie in diesem Moment schon wieder so reagierte und sich eines Streuners annahm —, doch sie war mit der damit verbundenen Beschreibung ihrer Person einverstanden. Sie wusste, wem sie trauen konnte. »Sie haben sich wohl verirrt«, sagte sie.

Er brachte ein Lächeln zustande. Es scheint ihm schwerzufallen, dachte sie.

»Nein«, sagte er. »Eigentlich nicht. Ich habe es herausbekommen. New York City. Ich bin in New York. Aber das Datum…« Er hob die Hände in einer hilflosen Geste.

Oh, dachte Joyce. Aber er war kein Alkoholiker. Seine Augen waren hell und klar. Er hätte schizophren sein können, doch sein Gesicht strahlte nicht das gequälte Erstaunen aus, das sie in den Gesichtern der Schizophrenen gesehen hatte, denen sie bisher begegnet war. Davon hatte es eine ganze Reihe gegeben, darunter auch ihr Onkel Teddy, der in einem »Heim« auf dem Land lebte. Kein Alkoholiker, kein Schizo — vielleicht hatte er irgendetwas geschluckt. Im Village waren zur Zeit spezielle Tabletten im Umlauf. Dexadril war besonders beliebt, und LSD-25 war leicht zu bekommen: Ein Fremder von außerhalb, der sich im Remo etwas besorgt hatte, das war eine Möglichkeit. Aber kein richtiger Tourist. Der Mann trug Jeans und ein Baumwollhemd, das am Kragen offen war, und er trug die Sachen ganz selbstverständlich. Sie stellten keine besondere Kluft dar, die er sich zusammengesucht hatte, um sich für einen Nachmittag unters »Volk« zu mischen. Vielleicht ist er trotz allem einer von uns, dachte Joyce, und allein diese Möglichkeit brachte sie dazu, dass sie sich neben ihn setzte. Die Bank war feucht, und der Regen drang durch ihren Rock. Aber sie war bereits nass, seitdem sie den Bahnhof der IND in der West Fourth Street verlassen hatte. Es war nicht schlimm, an einem kalten Nachmittag kurz vor Einbruch der Dämmerung durchnässt zu sein, denn irgendwann fand man sicherlich ein gemütliches Plätzchen, um sich aufzuwärmen und zu trocknen, und dann war alles wieder in Ordnung. »Sie könnten vermutlich eine Tasse Kaffee vertragen.«

Der Mann nickte. »Das könnte ich.«

»Haben Sie Geld?«

Er klopfte auf seine linke Hüfte. Joyce hörte die Geldmünzen in seiner Hosentasche klimpern. Aber sein Gesicht nahm plötzlich einen skeptischen Ausdruck an. »Ich glaube nicht.«

»Wie fühlen Sie sich?« Ihre Stimme klang leise, prüfend.

Er sah sie wieder an. Nun war der ratlose Ausdruck in seinen Augen verschwunden — er begriff sehr wohl, worauf ihre Frage abzielte.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann mir denken, wie Ihnen das vorkommen muss. Ich kann es leider nicht erklären. Haben Sie jemals die Erfahrung gemacht, etwas zu erleben und es nicht begreifen zu können — etwas derartig Gigantisches, das über Ihren Verstand hinausgeht?«

LSD, dachte sie. Er ist auf dem Trip. Ein blutiger Anfänger im chemischen Wunderland. Sei nett zu ihm, sagte sie sich. »Ich glaube, nach einem Kaffee geht es Ihnen schon besser.«

Er sagte: »Ich habe Geld. Aber ich glaube nicht, dass es hier gültig ist.«

»Eine fremde Währung?«

»So könnte man es ausdrücken.«

»Sind Sie auf Reisen?«

»Ich glaube, ja.« Er stand abrupt auf. »Sie brauchen mir keinen Kaffee zu spendieren, aber wenn Sie es doch tun, wäre ich Ihnen dankbar.«

»Ich heiße Joyce«, sagte sie. »Joyce Casella.«

»Tom Winter«, stellte er sich vor.

Es war Anfang Mai 1962.

Sie bestellte Kaffee in einem altmodischen Imbissrestaurant, in dem niemand sie kannte; nicht etwa, weil es ihr peinlich war, sondern weil sie nicht wollte, dass zu viele Menschen diesen Mann — Tom Winter — erschreckten. Er erschien verwirrt, benommen und schien nicht ganz auf der Höhe der Zeit zu sein, aber darunter erahnte sie etwas Seltsames, vielleicht das Motiv für die Reise, die ihn hierhergeführt hatte, oder irgendein Martyrium, ein glimmendes Feuer. Sie erzählte von ihrem Leben, dem Job in der Buchabteilung bei Macy’s, den sie verloren hatte, über ihre Musik, und entband ihn von der Notwendigkeit, Konversation zu machen. Gleichzeitig hatte sie ausgiebig Gelegenheit, ihn zu betrachten. Vor ihr saß ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, der Kleider trug, die betont lässig erschienen, aber nicht ärmlich und vernachlässigt wirkten, ein Reisender mit neugierigen Augen, der nicht abgemagert war, aber so hager wie jemand, der schon lange keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte.

Er wollte nicht über sich reden, wie er hierhergelangt war. Joyce respektierte das. Sie hatte viele Menschen kennengelernt, die nicht über sich selbst reden wollten. Menschen mit einer Vergangenheit, die sie verbergen wollten. Oder Menschen ohne Vergangenheit, Flüchtlinge aus den Vororten mit großartigen Visionen vom Village, das sie nur aus dem Fernsehen oder aus jenen selbstgerechten Artikeln von Time und Life kannten. Joyce hatte auch einmal zu ihnen gehört, Anfängerin an der NYU in einem Dirndlkleid, und sie respektierte Toms Schweigen, obgleich seine Geheimnisse weniger prosaisch sein mochten als ihre eigenen.

Er sagte ihr aber, woher er kam — aus einem kleinen Küstenort namens Belltower im Staat Washington. Sie fühlte sich durch diesen Anflug von Mitteilungsbereitschaft ermutigt, ihn zu fragen, was er dort getrieben habe.

»Eine ganze Menge Dinge«, sagte er. »Autos verkauft.«

»Ich kann Sie mir kaum als Autoverkäufer vorstellen.«

»Ich vermute, das haben andere Leute auch gedacht. Ich war nicht sehr gut in diesem Gewerbe.«

»Sie haben Ihren Job verloren?«

»Ich… nun, ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich ihn noch. Wenn ich zurückkehre.«

»Es ist ein weiter Weg zurück.«

Er lächelte ein wenig. »Es war auch ein weiter Weg hierher.«

»Was hat Sie denn in die Stadt geführt?«

»Eine Zeitmaschine«, sagte er. »Offensichtlich.«

Er war per Anhalter gekommen oder auf einen Güterzug aufgesprungen, vermutete Joyce, nach Woody-Guthrie-Manier. Das war es wahrscheinlich, was er meinte. »Also«, sagte sie, »Mister Autoverkäufer, wollen Sie etwas länger hierbleiben?«

Er schüttelte den Kopf, nein, dann schien er sich zu besinnen. »Ich weiß es nicht genau. Meine Reisepläne sind ein wenig vage.«

»Suchen Sie eine Bleibe?«

Er schaute durch die Fensterscheibe des Imbissrestaurants. GARANTIERT KOSCHER stand darauf. Die Schrift glich dem Schild im Peace-Eye-Buchladen drüben an der Kreuzung Tenth Street und Avenue C. Es war schon Abend. Der Verkehr quälte sich durch die glänzende, nasse Dunkelheit.

»Ich habe eine Bleibe«, sagte er, »aber ich weiß nicht, ob ich dorthin zurückfinde.«

Joyce ahnte irgendwie, dass es ihm damit ernst war. Wenn er von seinem LSD-Trip herunterkam, würde er wahrscheinlich wie eine Flipperkugel durch Manhattan irren. Joyce fragte sich, ob sie von seiner Harmlosigkeit wirklich überzeugt war. Sie bejahte die Frage entschlossen. Einfach einen Fremden mitzunehmen, schalt sie sich — aber es war eine dieser Taten, die Lawrence in einem Gedicht »Schicksalsbegegnungen« genannt hatte. Es war das Glück eines unerwarteten Zusammentreffens. Wie die Berührung mit einem Zauberstab. »Sie können bei mir auf dem Sofa schlafen, wenn Sie wollen. Es ist nicht besonders luxuriös.«

Das Angebot schien bei ihm Erschöpfung auszulösen. »Ich wäre glücklich, wenn ich auf Ihrem Sofa schlafen dürfte. Es ist sicherlich sehr bequem.«

»Zu viel der Ehre«, sagte sie. »Ich habe es von der Heilsarmee. Es ist dunkelviolett, ein hässliches Sofa, Tom.«

»Dann mache ich beim Schlafen die Augen zu«, versprach er.


Sie wohnte in einem kleinen Apartment im East Village direkt an einer Eisenbahnstrecke. Sie war aus einem Studentenheim der NYU dorthin gezogen. Es befand sich im zweiten Stock eines Mietshauses und war äußerst sparsam eingerichtet: das hässliche violette Sofa, ein paar Klappstühle, eine Stehlampe aus der progressiven Epoche. Die Bücherregale bestanden aus rohen Kiefernbrettern und Ziegelsteinen.

Tom betrachtete die Bücher. Es war nichts Besonderes dabei. Ihre Englischtexte vom College sowie ein paar andere Exemplare, die sie in den Antiquariaten gefunden hatte. Einige Werke von C. Wright Mills, Frantz Fanons Die Verdammten der Erde, Aldous Huxley — aber er berührte sie so vorsichtig, als seien es wertvolle Exponate in einer Glasvitrine.

»Lesen Sie ruhig, was Sie interessiert«, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich kann mich nicht konzentrieren.«

Bestimmt nicht. Außerdem fror er. Sie holte ihm ein großes Badetuch und ein Baumwollhemd, das Lawrence zurückgelassen hatte. »Trocknen Sie sich ab und ziehen Sie sich um«, sagte sie. »Und wenn Sie müde sind, dann schlafen Sie ruhig.« Er streckte sich auf dem Sofa aus, und sie ging in die »Küche« — tatsächlich nur eine Nische im Zimmer mit einem Spülstein, einem reparierten Hotpoint-Herd und einer billigen Falttür zum Abtrennen. Sie spülte das schmutzige Geschirr, das sich angesammelt hatte. Ihre Miete war fällig, und der letzte Gehaltsscheck ihres Kaufhausjobs würde dafür ausreichen. Aber danach, so rechnete sie sich aus, blieben ihr nur noch sieben Dollar, bis sie entweder mit ihrer Musik etwas dazuverdiente oder einen neuen Job fand. Beides war nicht unmöglich, aber sie müsste eine Auftrittsmöglichkeit finden oder hungern. Doch mit diesem Problem wollte sie sich erst morgen auseinandersetzen — heute war heute.

Sie brachte die Küche halbwegs in Ordnung. Als sie diese Arbeit beendet hatte, war Tom auf dem Sofa eingeschlafen. Er schlief wie ein Stein und schnarchte leise. Sie nahm seine Armbanduhr von der Holzkiste, die als Tisch diente, und dachte, es ist sicherlich schon spät.

Dann sah sie ein zweites Mal auf das Zifferblatt der Uhr, die eigentlich keine Uhr war, sondern eine Art winzig kleine Anzeigetafel, auf der die Uhrzeit in schwarzen Ziffern auf grauem Grund zu lesen war.

9:35 verkündeten die Lettern, dann war plötzlich 9:36 zu lesen. Der kleine schwarze Doppelpunkt blinkte ständig.

Joyce hatte so eine Uhr noch nie gesehen, und sie nahm an, dass sie sehr teuer sein musste — ganz gewiss war es nicht die Uhr eines Autoverkäufers. »Timex« stand in kleiner Schrift darauf und »Quartz Lithium« — was immer das bedeuten mochte — und »Water resistant«.

Sehr, sehr seltsam, dachte sie.

Tom Winter, Mann der Geheimnisse.

Sie ließ ihn auf der Couch weiterschlafen und begab sich ins Schlafzimmer. Sie zog sich bei gelöschtem Licht aus und legte sich auf das schmale quietschende Sprungfederbett. Sie genoss die kühle Luft und das Klopfen der Heizung und das Prasseln der Regentropfen auf der Feuertreppe. Dann schlüpfte sie unter die kratzige braune Decke und wartete auf den Schlaf.


Besonders morgens und abends liebte sie die Stadt.

Manchmal schlief sie fünf Stunden oder sogar noch weniger, damit sie mehr vom Morgen und vom Abend hatte.

Abends, vor allem wenn sie mit Lawrence und den Freunden ausging, ließ sie sich von der Hitzigkeit ihrer Unterhaltung mitreißen, sprach in irgendeinem Café über Rassentrennung oder das Wettrüsten. Sie lauschte auch begeistert der Musik der Folksänger und -sängerinnen, die aus dem ganzen Land zur Bleeker und McDougal Street strömten. Sie drängte sich auf mit Sägemehl bestreuten Fußböden mit ihren Dichterfreunden und Folkmusikfans und den »Beatniks«, mit überzeugten Trotzkisten und Rauschgiftsüchtigen und Jazzmusikern und achtzehnjährigen Ausreißern aus verschlafenen Städten des Mittleren Westens. Hier kamen alle zusammen, und das mit einer solchen Intensität und Hingabe, dass sie an manchen Abenden glaubte, das pechschwarze Firmament würde das Flehen der Besitzlosen erhören und sich öffnen, und sie würden allesamt in den Himmel auffahren. An solchen Abenden, die es in diesem Winter und Frühjahr so zahlreich gegeben hatte, wartete sie voller Sehnsucht auf den Sommer, wenn das Leben schneller und schneller wurde. Vielleicht würde Lawrence endlich einen Verleger für seine Gedichte finden, oder sie könnte mit ihrer Musik vor Publikum auftreten. Dann befänden sie sich im Mittelpunkt dieses leuchtenden Wirbels.

Aber auch der Morgen war eine gute Zeit. Dies war so ein guter Morgen. Es war schön, aufzuwachen und zu spüren, wie die Stadt ebenfalls wach wurde. Seit sie in New York lebte, war der Rhythmus der Stadt zu einem stabilisierenden Grundmuster geworden. Sie hatte gelernt, den Lärm des morgendlichen Verkehrs von dem am Nachmittag zu unterscheiden, und beide klangen völlig anders als die vereinzelten, einsamen Huplaute des nächtlichen Verkehrs. Der morgendliche Verkehr weckte sie mit seinen Verheißungen. Bis zum Mittag stieß die Stadt sie nicht ab. Mittags war sie jedoch roh, laut, wild, trist und lähmend langweilig. Während der Mittagspause bei Macy’s hatte sie Lieder über die morgendliche und die abendliche Stadt geschrieben, Zauberformeln gegen die Ungehobeltheit des Mittags.

Tom schlief noch auf dem Sofa. Joyce war darüber einigermaßen verblüfft. Sie hatte sich vorgestellt, dass er am Morgen verschwunden wäre wie ein Traum, eine Rauchwolke. Aber dort lag er unübersehbar in seinen zerknautschten Kleidern. Sie hörte wenig später das Klappern und Ächzen der Toilettenspülung. Dann betrat er die Küche, das Gesicht gewaschen und die Augen so groß und benommen wie am Vortag.

»New York«, sagte er. »Neunzehnhundertzweiundsechzig.«

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Es ist erstaunlich«, sagte er.

»Sie kommen wirklich von außerhalb.«

»Das können Sie laut sagen.« Sein Grinsen wirkte übertrieben und ein wenig albern.

»Fühlen Sie sich heute Morgen etwas besser?«

»Ja, besser. Geradezu ausgelassen.«

»Na ja, seien Sie nicht zu ausgelassen. Wahrscheinlich brauchen Sie erst mal ein anständiges Frühstück.«

»Wahrscheinlich.« Dann fügte er hinzu: »Ich bin noch immer pleite.«

»Nun — ich kann für uns beide das Frühstück bezahlen. Aber ich bin mittags mit Lawrence verabredet. Lawrence wird sicherlich nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass Sie hier geschlafen haben.« Tom nickte verständnisvoll, ohne zu fragen, wer Lawrence war. Sehr rücksichtsvoll, dachte Joyce.

Sie schloss die Wohnungstür ab, und zusammen gingen sie hinunter auf die Straße. Der Himmel war klar, und die Luft hatte sich erwärmt. Das traf sich gut, denn Tom hatte keinen Mantel, den er über seinem Baumwollhemd hätte tragen können. Sie wollte ihm einen Trödler für gebrauchte Kleidung empfehlen — »Sobald Sie wieder Geld haben«. Aber er wischte das Problem mit einer Handbewegung beiseite. »Über Geld zerbreche ich mir später den Kopf.«

»Das ist eine begrüßenswerte Einstellung.«

»Zuerst einmal muss ich dafür sorgen, dass ich wieder nach Hause komme.«

»Brauchen Sie dazu kein Geld?«

»Das Geld ist nicht das wesentliche Problem.«

»Und was ist das Problem?«

»Die physikalischen Gesetze. Mechanische Mäuse.« Joyce musste gegen ihren Willen lächeln. Er fuhr fort: »Ich kann es nicht erklären. Vielleicht später mal. Wenn ich wieder hierher zurückfinde.«

Sie sah ihm in die Augen. »Meinen Sie das ernst?«

»Sehr ernst sogar.«

Sie bestellte in einem Café für sie beide ein Frühstück. Diese Einladung riss ein Loch in ihre Kasse — aber wofür war Geld sonst da? Tom bestand darauf, eine Zeitung zu kaufen, und dann blätterte er hin und her… ohne sie eigentlich richtig zu lesen. Er inspiziert sie irgendwie, dachte Joyce. Sie selbst hatte seit dem Weltraumstart John Glenns im Februar keine Zeitung mehr in der Hand gehabt. Sie sagte: »Sind Sie nur Autoverkäufer, oder sind Sie auch Dichter?«

»Ich habe noch nie ein Gedicht verbrochen.«

»Ich dachte an die mechanischen Mäuse. Außerdem sind wir hier im Village. Und da sind Dichter zahlreicher als Kakerlaken.«

»Mein Gott, das ist es, nicht wahr? Das ›Village‹.« Er schaute von der Zeitung hoch. »Sie machen Musik?«

»Manchmal«, gestand Joyce.

»Ich hab Ihre Gitarre in der Wohnung gesehen. Eine zwölfsaitige Hohner. Gar nicht schlecht.«

»Spielen Sie auch?«

»Ein wenig. Am College habe ich früher gespielt. Es ist aber schon ein paar Jahre her.«

»Wir sollten mal zusammen etwas spielen. Wenn Sie zurückkommen.«

»Gitarrenspieler gibt es hier sicherlich genauso viele wie Dichter.«

»Ungefähr wie Schneeflocken. Keiner gleicht dem anderen.« Sie lächelte. »Aber, ernsthaft, wenn Sie wieder mal hier vorbeikommen…«

»Vielen Dank.« Er sah auf seine Uhr und stand auf. »Sie waren sehr großzügig.«

»Nichts zu danken. Außerdem mag ich Sie.«

Er ergriff für einen kurzen Moment ihre Hand. Die Berührung war nur flüchtig, aber warm, und sie spürte ein kleines Vibrieren, ein Kitzeln — geheimnisvoll, unerwartet.

»Vielleicht bin ich bald wieder hier«, sagte er.

»Leben Sie wohl, Tom Winter.«

Er trat hinaus in den blassen Sonnenschein, verharrte für einen kurzen Moment in der Türöffnung, dann entfernte er sich mit unsicheren Schritten nach Osten.

Hoffentlich findest du, was du suchst, dachte sie. Ein Wunsch zum Abschied. Allerdings schien es nicht sehr wahrscheinlich.

Vermutlich, dachte sie, sehe ich dich nie wieder.

Sie trank ihren Kaffee und warf einen Blick in die Zeitung, aber es gab nur schlimme Neuigkeiten. Zwei Männer waren in einer Gasse nicht weit von ihrer Wohnung entfernt ermordet worden. Während sie geschlafen hatte, war der Tod in den Straßen unterwegs gewesen.

Es war ein beängstigender Gedanke, und sie sah auf, reckte den Hals, um Tom auf der Straße zu suchen. Aber er war bereits verschwunden, untergetaucht im morgendlichen Verkehr und unauffindbar.

5

Der Angestellte an der Rezeption blickte in das Gästebuch, während er ihr den Schlüssel reichte. »Zimmer 312, Mrs. Winter.«

Barbara erschrak. Hatte sie sich tatsächlich unter diesem Namen eingetragen? Sie nahm den Schlüssel entgegen und warf einen Blick auf die Seite, wo sie, ja, in sauberer Handschrift Mrs. Barbara Winter geschrieben hatte.

Das Motel war nicht mehr als eine dreistöckige Biwakhütte, die eine Autostunde von Belltower entfernt an einem tristen Highway-Abschnitt stand. Sie hatte eigentlich durchfahren wollen, aber Tonys Anruf hatte sie an diesem Nachmittag während einer Konferenz in Victoria, B. C, erreicht, und es war schon spät. Sie war müde, und ihr Wagen ebenso. Daher hatte sie bei leichtem Regen um halb elf vor dieser wenig einladenden Unterkunft angehalten und ihren Namen ins Gästebuch eingetragen.

Zimmer 312 roch nach trockener Wärme und Desinfektionsmitteln. Das Bett knarrte, und wenn man die Fensterläden öffnete, blickt man hinaus auf die verzerrte Spiegelung der Neonschrift — ZIMMER FREI — auf dem nassen Asphalt des Parkplatzes. Pkws und Trucks sausten in Gruppen von drei oder vier Fahrzeugen mit singenden Reifen vorbei.

Vielleicht ist es dumm, ihn zu besuchen.

Der Gedanke war nicht zu vermeiden. Er meldete sich immer wieder, seit sie sich in den Wagen gesetzt hatte und gestartet war. Er tauchte erneut in ihrem Bewusstsein auf, während sie aus ihren Jeans und ihrer Bluse schlüpfte und in die Duschkabine trat, um sich den Straßenstaub abzuwaschen.

Vielleicht war es wirklich dumm, ihn zu besuchen. Vielleicht war es auch sinnlos. Rafe hatte es ganz gut aufgenommen, ohne sein Missfallen allzu deutlich zu zeigen. Aber Rafe, dreiundzwanzig Jahre alt, betrachtete den Altersunterschied von sechs Jahren zwischen ihnen als eine tiefe Kluft und fühlte ihre Beziehung von ihrer dauerhaften Zuneigung zu Tom ständig bedroht. Sie war ihm entgegengekommen und hatte ihre Kontakte auf ein Minimum beschränkt… bis jetzt.

Es war dumm, ihre Beziehung zu Rafe aufs Spiel zu setzen. Es war die einzige Beziehung, die sie im Augenblick unterhielt, und wollte sie auf keinen Fall verlieren. Aber sie dachte auch daran, was Tony am Telefon gesagt hatte.

Diesmal kann ich nichts für ihn tun.

Die Worte waren wie ein kalter Windstoß durch ihr Bewusstsein gefahren.

»Bitte«, sagte sie laut. »Bitte, Tom, du dummer Kerl, bitte sei okay.«

Dann verkroch sie sich unter die kühlen Motelbettlaken und schlief bis zum Morgengrauen.


Am Morgen versuchte sie ihr Glück per Telefon. Aber er meldete sich nicht.

Zuerst geriet sie in Panik. Sie machte sich Vorwürfe, die Nacht hier verbracht zu haben. Sie hätte nicht mehr allzu weit fahren müssen. Sie hätte die Fahrt fortsetzen, hätte vor seiner Tür erscheinen und ihn retten können…

Wovor?

Nun, das war die Frage, nicht wahr? Die große, unbeantwortete Frage.

Sie bezahlte, verstaute ihr Gepäck im Kofferraum des Wagens und fädelte sich in den spärlichen Verkehr auf dem Highway ein.

Seit sie Tom verlassen hatte, hatte sie genau zweimal mit seinem Bruder Tony gesprochen. Bei beiden Gelegenheiten hatte er sie gebeten, Tom zu helfen.

Der erste Anruf war vor einigen Monaten erfolgt. Tom hatte zu trinken begonnen, seinen Job verloren, und er war die Miete für seine Wohnung schuldig geblieben. Wenn Barbara eher davon erfahren hätte, wäre sie vielleicht von sich aus gekommen, um zu helfen… aber als Tony sie anrief, hatte die Situation sich fast schon wieder beruhigt. Tony hatte seinem Bruder einen Job in Belltower besorgt, und Tom war mittlerweile trocken. »Ich glaube nicht, dass ich ihm irgendwie helfen könnte«, hatte sie gesagt.

»Du könntest zu ihm zurückkehren«, hatte Tony erwidert. »So sehr es mir auch widerstrebt, das auszusprechen. Ich glaube, das würde ihm helfen.«

»Tony, du weißt, dass ich das nicht tun kann.«

»Zur Hölle, warum nicht? Es geht schließlich um Tom.«

»Wir hatten Gründe für unsere Trennung. Ich lebe jetzt in einer anderen Beziehung.«

»Du haust mit irgendeinem halbwüchsigen Anarchisten zusammen. Ich hab schon davon gehört.«

»Diese Diskussion hilft uns nicht weiter, Tony.«

Und Tony entgegnete: »Du musst die schärfste Partie im ganzen Staat Washingtons sein, Barbara, denn ich wüsste nicht, weshalb mein Bruder sonst wegen dir so verzweifelt sein sollte«, und legte auf. Barbara hatte nicht damit gerechnet, danach noch einmal etwas von ihm zu hören. Nur nackte Verzweiflung würde ihn dazu treiben.

Und Verzweiflung war es vermutlich gewesen. Tonys zweiter Anruf — der von gestern — war zur Konferenz für Waldsterben und Umweltschutz in Victoria weitergeleitet und von einem der Mitglieder von World Watch, einer befreundeten Vereinigung, für die Barbara arbeitete, angenommen worden. Zuerst kam eine Warnung von Rachel, ihrer Mitstreiterin:

»Barb, kennst du diesen Burschen wirklich? Er sagt, er sei ein Verwandter deines Ex. Er wisse, dass du für diesen Spinnerverein tätig bist, und müsse dich auf der Stelle sprechen. Es gehe um eine Familienangelegenheit. Er sagte, es sei dringend, deshalb gab ich ihm deine Nummer im Hotel, aber ich frage mich…«

»Es ist schon okay«, antwortete Barbara. »Es ist alles in Ordnung, Rachel. Du hast es richtig gemacht.«

Sie wartete zehn Minuten neben dem Telefon, wodurch Rafe ohne sie an irgendeinem Seminar über Arbeitsplatzgestaltung oder den Sauerstoffhaushalt der Erde teilnehmen musste.

Dann wurde Tonys Anruf von der Zentrale durchgestellt.

»Es geht um Tom«, begann er.

Barbara spürte plötzlich einen Druck in ihrem Nacken. Es waren die Vorboten heftiger Kopfschmerzen. Sie sagte: »Tony… hatten wir dieses Thema nicht ausführlich besprochen?«

»Diesmal ist es etwas anders.«

»Was soll denn anders sein?«

»Hör mir einfach zu, Barbara, wärst du so nett? Spar dir deinen psychologischen Sermon, bis ich fertig bin, okay?«

Barbara biss sich auf die Unterlippe, sagte aber nichts. Trotz dieser verletzenden Bemerkung hörte sie etwas Drängendes, Bittendes in seiner Stimme. Das war bei Tony etwas Neues.

»Schon besser«, sagte er. »Danke schön. Diesmal scheint Tom ganz tief in Schwierigkeiten zu stecken. Und ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Erst eine Bitte, dann dieses Geständnis. Barbara fragte: »Trinkt er wieder?«

»Das ist ja das Unheimliche. Ich glaube nicht. Er verschwindet für ein paar Tage — aber wenn er wieder auftaucht, dann ist er völlig fit und hat keinen Kater. Er hat sich in seinem Haus verkrochen, das er draußen an der Post Road gekauft hat. Er hat kaum Kontakt zu anderen Leuten. Er lebt völlig zurückgezogen. Jetzt war er einige Male nicht in der Firma, und der Verkaufsleiter ist ganz schön sauer auf ihn. Und dann sind da noch gewisse Punkte, die ich nicht erklären kann. Hast du schon mal jemanden getroffen, dem praktisch alles egal ist? Du sagst Hallo, erzählst, dass dein Onkel gestorben ist, und er antwortet freundlich und mitfühlend, aber du erkennst, dass es ihn im Grunde gar nicht interessiert.«

»Ich kenne solche Leute«, sagte Barbara. Zum Beispiel dich, du Arschloch, dachte sie.

»Ist Tom dir jemals so vorgekommen?«

»Nein.«

»Nun, so ist er aber jetzt. Er hat keine Freunde, besitzt kein Geld, er steht dicht davor, seinen Job zu verlieren… und nichts davon hat irgendeine Bedeutung für ihn. Er hält sich in ganz anderen Gefilden auf.«

Das klang überhaupt nicht nach Tom. Tom hatte immer umsichtig gehandelt, über mögliche Folgen nachgedacht. Vielleicht lag es an der Art und Weise, wie seine Eltern ums Leben gekommen waren, vermutete sie, oder es war ein Teil seiner Persönlichkeit, aber Tom hatte der Zukunft immer furchtsam und misstrauisch gegenübergestanden. »Aber all das könnte auch bedeuten, dass er wieder mit dem Trinken angefangen hat.«

»Ich bin nicht dumm«, sagte Tony. »Gleichgültig, wie raffiniert er vorgeht, ich weiß, wenn mein Bruder trinkt. Das sähe auch völlig anders aus. Weißt du, was passierte, als ich kürzlich bei ihm war? Da wollte er mich nicht ins Haus lassen. Er öffnete die Tür, lächelte mich an und sagte: ›Verschwinde, Tony!‹«

»Ist er denn glücklich?«

»Glücklich ist nicht das richtige Wort. Abgehoben passt besser. Weißt du, was ich annehme? Mir scheint, er hat gewisse Selbstmordtendenzen.«

Barbara schluckte krampfhaft. »Das ist aber gewagt.«

»Er will irgendwie Schluss machen, Barbara. Er steigt aus. Er will nicht einmal mit mir reden, das ist mein Eindruck. Ihn interessiert nicht mehr, was in der Welt geschieht, weil er sich schon längst von ihr verabschiedet hat.«

Der Telefonhörer lastete schwer in ihrer Hand. »Wie denkt Loreen darüber?«

»Es war Loreen, die mich dazu gedrängt hat, dich anzurufen.«

Dann war es etwas Ernstes. Loreen war zwar geistig keine Leuchte, aber sie hatte ein gutes Gespür, was Menschen und ihre Probleme betraf. Barbara fragte: »Warum, Tony? Wie ist es dazu gekommen?«

»Wer weiß? Vielleicht verrät Tom es dir.«

»Soll ich mit ihm reden?«

»Ich kann niemandem mehr raten, was er tun soll. Das habe ich hinter mir. Wenn es dich wirklich beschäftigt, dann weißt du, wo er zu finden ist.«

Nachdem Tony aufgelegt hatte, lauschte sie lange dem Summen in der Leitung.

Ihre Ehe war beendet. Sie schuldete Tom nichts mehr. Es war unfair, dass man ihr das Problem in den Schoß legte.

Sie packte ihren Koffer und trug ihn hinunter ins Foyer. Dort traf sie Rafe und erklärte ihm die Situation so behutsam wie möglich. Er sagte, er habe dafür Verständnis. Wahrscheinlich log er.

Ihre Hand zitterte leicht, als sie den Zündschlüssel ins Schloss steckte.


Sie musste zweimal an einer Tankstelle haltmachen, um sich auf der Straßenkarte zu orientieren. Als sie Toms Haus fand, war es fast zehn Uhr, Sonntagmorgen. Hier draußen an der Post Road war alles friedlich. Der Himmel war klar, und der Sommer näherte sich mit Riesenschritten. Barbara stieg aus dem Wagen und atmete tief die vom Kiefernduft erfüllte Luft ein.

Das Haus sah ebenfalls friedlich aus. Sehr sauber, fast unberührt. Das Dach war vom Moos befreit, und die Seitenwände sahen aus wie frisch geschrubbt. Den Rasen hatte Tom jedoch längere Zeit nicht mehr gemäht.

Sie verstaute die Wagenschlüssel in ihrer Handtasche. Ich hätte nie gedacht, dass ich so nervös sein würde.

Aber jetzt konnte sie nicht mehr umkehren. Sie stieg die Eingangstreppe hinauf und klopfte an der Tür. Kräftig, poch-poch-poch. Dann, als sich nichts rührte, fester.

Das Geräusch hallte wider und erstarb in der frischen Luft dieses Sonntagmorgens. Kein Laut, außer dem Rascheln der Bäume, ertönte.

Sie hatte sich gegen alle Eventualitäten gewappnet, nur auf dies war sie nicht vorbereitet. Vielleicht ist er ausgegangen? Das Garagentor war geschlossen und verriegelt — keine Möglichkeit festzustellen, ob der Wagen darin stand.

Man konnte auch nicht in Erfahrung bringen, ob er noch lebte. Tonys Worte kamen ihr wieder in den Sinn: Ich glaube, er hat gewisse Selbstmordtendenzen. Vielleicht war sie zu spät gekommen. Aber dieser Gedanke war schrecklich und völlig aus der Luft gegriffen, ein Produkt ihrer eigenen Ängste. Sie verdrängte ihn entschlossen aus ihrem Bewusstsein. Wahrscheinlich war er nur für kurze Zeit weggegangen. Sie beschloss, im Auto zu warten.

Nach einer halben Stunde, in der sie versucht hatte, eine bequeme Position im Fahrersitz zu finden — und als sie unruhig und hungrig zu werden begann —, nahm sie eine Bewegung hinter einem Fenster des Hauses wahr.

Verärgert, dass er ihr Klopfen ignoriert hatte — vielleicht hatte er es ja auch gar nicht gehört —, lief sie zum Fenster und warf einen Blick hinein…

Sie schaute in die Küche, legte eine Hand ans Fenster, schirmte die Augen ab und sah Tom mit dem Rücken zu ihr stehen. Sein Hemd hing aus der Hose, und er trug ziemlich mitgenommen aussehende Jeans. Er bückte sich zu etwas auf dem Küchenfußboden hinunter. Sie sah es davoneilen — etwa eine Katze? Aber das war seltsam. Tom hatte nie etwas für Haustiere übriggehabt.

Die Menschen verändern sich, sagte sie sich.

Sie klopfte wieder an die Tür, diesmal so kräftig wie möglich.

Wenige Sekunden später öffnete Tom die Tür.

Sein Lächeln verflog, als er sie erblickte. »Mein Gott«, stieß er hervor.

»Ich bin schon eine Weile hier«, sagte sie. »Ich habe geklopft…«

»Dann war ich wohl gerade unten. Mein Gott. Komm rein.«

Sie betrat das Haus fast mit einer Entschuldigung auf den Lippen. Seine Verblüffung schüchterte sie regelrecht ein. Ich hätte vorher anrufen sollen. »Ich wollte dich nicht überfallen, aber…«

Er winkte ab. »Es ist schon in Ordnung. Ich war häufig nicht im Haus… und ich gehe nicht immer ans Telefon.«

Sie gab sich mit seiner Erklärung zufrieden, so beunruhigend sie auch klang. Er deutete einladend auf das Sofa. Sie setzte sich.

Der Raum war neutral und nüchtern möbliert, beinahe unpersönlich. Barbara erkannte ein paar Stücke aus der alten Wohnung in Seattle — ein Regal mit Jazzplatten, den Stereoverstärker, den Tom während seiner elektronischen Bastelphase zusammengebaut hatte. Aber die Möbel waren altmodisch, stillos und makellos sauber. Sie vermutete, dass sie zum Haus gehörten.

»Ich sollte dir erklären, weshalb ich hierhergekommen bin.«

Tom schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir vorstellen. Tony hat dich angerufen, nicht wahr?« Sie nickte. Er lächelte. »Ich hätte es eigentlich wissen sollen. Es tut mir leid, Barbara. Nicht, dass ich dich wiedersehe, sondern dass du den weiten Weg hierher völlig umsonst zurückgelegt hast.«

»Tony macht sich Sorgen. Ab und zu reagiert er richtig anständig. Loreen machte sich auch ihre Gedanken, sagt er.«

»Das sollten sie aber nicht.«

Sie wollte das Thema nicht weiterverfolgen. Dafür sagte sie: »Es ist ein schönes Haus.«

»Ich glaube, ich sollte dich mal herumführen.«

Er zeigte ihr die Küche, das Schlafzimmer, das Gästezimmer, das Bad — alles sauber, altmodisch und sogar ein wenig steril. Sie ging auf die Treppe zu, aber Tom machte keine Anstalten, ihr zu folgen. »Das ist nur der Keller. Nichts von Interesse.«

Sie ließ sich am Küchentisch nieder, während er eine Kanne Kaffee zubereitete. »Hier sieht es aber nicht aus wie in einem Junggesellenhaushalt.«

Sein Lächeln war geheimnisvoll. »Ich denke, ich habe seit dem College einiges dazugelernt.«

»Tony erzählte, du arbeitest in seinem Geschäft.«

»Stimmt.«

»Wie läuft es?«

Er kam mit zwei Tassen Kaffee an den Tisch und stellte eine vor sie hin. »Lausig. Vielleicht hat Tony das auch erwähnt. Ich habe keine Begabung dafür, den Leuten ihr Geld abzuknöpfen.«

»Du warst auch immer ein schlechter Kartenspieler. Hast du vor zu kündigen?«

Er nickte. »Ich denke daran wegzugehen.«

Diese Unterscheidung — nicht »kündigen«, sondern »weggehen« — kam ihr sehr seltsam vor. »Du gehst nicht ans Telefon, der Job gefällt dir nicht… Willst du umziehen?«

»Ich habe noch keine festen Pläne.«

»Du willst also nicht darüber reden.«

Er zuckte mit den Schultern.

Sie sagte: »Naja, ich kann es Tony und Loreen nachfühlen, dass sie sich Sorgen machen. So wie jetzt habe ich dich noch nie erlebt.«

Sie meinte seine Stimmung, aber es war auch die Art und Weise, wie er aussah. Seine Schwammigkeit war verschwunden. Er bewegte sich, als habe er irgendeine verborgene Energiequelle gefunden. Sie überlegte, ob sie in seinem Medizinschrank nach irgendwelchen Aufputschmitteln suchen sollte, aber das war keine chemisch bedingte Lebhaftigkeit. Das lag viel tiefer, dachte sie. Es war eine zweckbedingte, zielgerichtete Energie.

»Ich bin nicht krank«, sagte er. »Und ich bin nicht verrückt.«

»Kannst du mir einen Hinweis geben, was los ist?«

Er zögerte lange. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Ich habe mich entschlossen, weder mit Tony noch mit Loreen noch mit irgendjemand sonst darüber zu reden. Ich glaube, ich habe das Recht dazu.«

»Und du willst auch nicht mit mir darüber reden.«

Eine längere Pause. Er lächelte nicht mehr.

»Ich habe sehr lange auf dich gewartet«, sagte er. »Ich wünschte mir, dass du zurückkommst. Ich stellte mir vor, wie du durch diese Tür trittst. Um zu mir zu kommen und dazubleiben. Aber du bist nicht deshalb hergekommen.«

»Nein«, gab sie zu.

»Wir haben keine gemeinsamen Geheimnisse mehr! Das ist eine Tatsache, an der sich nichts ändern lässt.«

»Ich denke auch. Aber du verstehst, weshalb ich gekommen bin?«

»Ja.«

»Du hättest das Gleiche getan, nicht wahr?«

»Ja, das hätte ich.«

Sie tranken ihren Kaffee in der Stille der Küche. Ein sanfter Lufthauch bewegte die Fenstervorhänge über der Spüle.


Gegen Mittag begriff Barbara, dass er tatsächlich Vorbereitungen traf, um für lange Zeit wegzugehen; dass er seine Geheimnisse hatte, aber offenbar nicht an Selbstmord dachte; und dass sie ihn wahrscheinlich nie Wiedersehen würde.

Sich mit der letzten Erkenntnis abzufinden, fiel ihr schwerer, als sie erwartet hatte. Sie hatte ihn vor Monaten verlassen, und die Trennung war endgültig gewesen. Sie hatte nie die Absicht gehabt, noch einmal mit ihm zusammenzutreffen. Das Getrenntsein war schwierig gewesen, aber kein traumatisches Erlebnis. Das lag vielleicht daran, dass er in ihrem Hinterkopf immer noch da war, so solide und unverletzbar wie ein Monument, ein Teil ihres Lebens in Stein gemeißelt.

Sein Absturz in den Alkoholismus hatte diese Gewissheit erschüttert, doch nun war sie in ihrer Existenz ernsthaft bedroht. Das war nicht der Tom, den sie verlassen hatte. Dies war ein neuer Tom. Ein wilderer Tom, der tief in eine Sache verwickelt war, über die er nicht sprechen wollte.

Der Wunsch, dass er sich nicht ändern möge, war natürlich selbstsüchtig. Aber sie hatte auch Angst um ihn.

Er bereitete mittags einen kleinen Imbiss zu — Omeletts, Schinken und Zwiebeln. »Ich ernähre mich nicht nur von Fertiggerichten«, sagte er grinsend. Sie bedankte sich für das Essen, wusste jedoch, dass es nur eine Geste der Höflichkeit war. Sie würde sich bald verabschieden müssen.

»Was immer du vorhast«, sagte sie, »ich hoffe, dass es gut ist für dich. Ich meine das ganz aufrichtig.«

Er bedankte sich mit einem Kopfnicken, dann legte er seine Gabel beiseite. Sein Gesicht war ernst. »Barbara«, sagte er, »was bedeutet dir das Jahr 1989?«

Es war eine seltsame Frage. »Ich finde, es ist ziemlich mies«, sagte sie. »Weshalb?«

»Es ist schlecht, weil… tja, warum?«

»Ich weiß es nicht. Wo soll man da anfangen? Es ist eine schlimme Zeit für die Welt, weil Menschen verhungern, weil das Klima sich ändert, weil wir dabei sind, die Ozonschicht zu zerstören, aus allen möglichen Gründen. Und es ist eine schlechte Zeit in Amerika, weil jedermann sehr, sehr unruhig und sehr, sehr vorsichtig ist. Bis auf die Bösen, die Übeltäter.

Erinnerst du dich noch an Yeats? ›Den Besten fehlt die Überzeugung, während die Schlimmsten vor Leidenschaft übersprudeln.‹ Warum fragst du?«

»Was wäre, wenn du eine Wahl hättest?«

»Wie bitte?«

»Ich meine es ernst. Wenn du die Welt verlassen könntest? Wenn du einen Ort kennen würdest — keinen perfekten Ort, sondern einen Ort, an dem du ohne einige dieser Ungewissheiten leben könntest? Einen Ort, an dem du sicher wüsstest, dass dort während der nächsten dreißig Jahre kein Atomkrieg stattfindet. Wo es zwar Krankheiten gibt, aber kein Aids. Auch all die Leiden der Menschheit — Unterdrückung, Qual, Hässlichkeit —, aber in einem weitaus geringeren Maße. Und angenommen, du könntest einiges vorhersehen. Du könntest es zwar nicht verhindern, aber du könntest dich davon fernhalten: Überschwemmungen, Flugzeugabstürze, Terroristenattentate. Wie fändest du das, Barbara, wäre das ein gutes Angebot?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Es ist eine rein hypothetische Frage.«

»Selbst hypothetisch ergibt sie keinen Sinn.«

»Aber wenn es einen solchen Ort gäbe. Wenn du dorthin könntest.«

Sie dachte darüber nach. Sie wollte eine überlegte Antwort geben. Die Frage mochte zwar hypothetisch sein, aber sie war ganz gewiss nicht zufällig gestellt worden. Sie betrachtete den gespannten Ausdruck in Toms Gesicht. »Ich fände es verlockend«, sagte sie. »Tja, wirklich, es würde mich ungemein reizen. Wen nicht? Aber letztendlich — nein, ich glaube, ich würde nicht dorthin gehen.«

Er schien enttäuscht zu sein. »Warum nicht?«

»Aus vielen Gründen. Ich habe hier sehr viel zu tun.«

»Die Welt retten?«

Ein Anflug von Sarkasmus. Sie ging nicht darauf ein. »Meinen Anteil beizutragen. Und dann gibt es da noch Menschen…«

»Rafe, zum Beispiel?«

»Rafe. Neben anderen, ja. Es gibt sehr viel, wofür ich lebe, Tom.«

»Ich habe auch nicht vom Sterben gesprochen.«

Hoffentlich nicht, dachte sie.

Aber wovon dann?

Hatte jemand ihm ein solches Angebot gemacht?

Zu verrückt, dachte sie. Viel zu verrückt. »Ich würde hierbleiben«, erklärte sie mit Nachdruck.

Tom betrachtete sie lange. Sie vermutete, dass er ihre Antwort zu werten versuchte, dass er darüber nachdachte. Schließlich nickte er. »Ja, das würdest du wahrscheinlich tun.«

»Ist das die falsche Antwort?«

»Nein… wirklich nicht.«

»Aber es ist nicht deine Antwort.«

Er lächelte. »Nein.«

Sie stand auf. »Sag es mir noch einmal. Ehe ich aufbreche. Sag mir, dass es dir gutgeht.«

Er brachte sie zur Tür. »Mir geht es wirklich gut. Ich werde nur für einige Zeit fort sein.«

»Tatsächlich?«

»Tatsächlich.«

Sie studierte sein Gesicht. Er verschwieg irgendetwas. Aber er meinte das ernst, was er sagte. Ihre Furcht hatte sich etwas gelegt — er dachte nicht an Selbstmord —, aber ein letzter Rest Ungewissheit, Unsicherheit blieb zurück, denn irgendetwas hatte von ihm Besitz ergriffen, irgendeine seltsame Strömung, eine Kraft, die ihn mitriss, sodass sie ihn nicht mehr erreichen konnte.

Vielleicht könnte sie ihn nie mehr erreichen.

Er legte behutsam eine Hand auf ihren Arm. Sie wehrte sich nicht gegen diese Geste, und sie umarmten sich. Besonders schlimm war die Erinnerung daran, wie sehr sie es geliebt hatte, von ihm festgehalten zu werden. Wie sehr sie es vermisste.

Sie sagte: »Vergiss nicht, die Katze zu füttern.«

»Ich habe keine Katze.«

»Dann einen Hund? Als ich durchs Fenster sah, glaubte ich, ich hätte…«

»Du hast dich sicherlich geirrt.«

Seine erste echte Lüge, dachte Barbara. Er war immer schon ein schlechter Lügner gewesen.

In einer Ecke des Wohnzimmers erwachte der Fernseher flackernd zum Leben — offenbar von selbst. Sie vermutete, dass er von einer Zeitschaltuhr gesteuert wurde.

Er sagte: »Du gehst jetzt besser.«

»Nun, was soll ich sagen?«

Er drückte sie etwas fester an sich. »Ich glaube, alles, was uns bleibt, ist, einander Lebewohl zu sagen.«

6

Tom Winter erwachte zufrieden und bereit für den letzten Tag, den er in den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts verbringen wollte. Ihm kam der Gedanke, dass er nur einen kleinen Vorsprung vor dem Zeitplan hatte. Ein paar Monate noch, bis zum 1. Januar, dann wäre es so weit, dann würde die Menschheit die Neunzigerjahre begrüßen. Es war eine Art Massenexodus, Ratten, die das sinkende Schiff dieses Jahrzehnts verließen, um in die mit Haien verseuchten Fluten des nächsten zu geraten. Er war nicht viel anders. Nur etwas klüger.

Vorausgesetzt natürlich, dass die Maschinenkäfer ihm gestatteten, die Reise anzutreten.

Aber er hatte keine Angst mehr vor den Maschinenkäfern.


Er duschte, kleidete sich an und bereitete sich eine kräftige Mahlzeit in der Küche zu. Es war ein schöner Frühsommertag. Der Wind, der durch die Fliegentür hereindrang, war gerade kühl genug, um zu erfrischen; der Himmel war ausreichend blau, um einen gemütlichen Nachmittag zu verheißen. Als er die Kaffeemaschine ausschaltete, hörte er einen Specht an einem der hohen Bäume hinter dem Garten herumhacken. Der Geruch von Kiefern und Fichten und von frischem Gras stieg ihm in die Nase.

Es war fast zu schön, als dass er weggehen wollte. Aber nur fast.

Er hatte eigentlich keine Angst mehr vor den Maschinenkäfern, und sie hatten keine Angst vor ihm. Sie waren miteinander vertraut geworden. Er entdeckte jetzt einen von ihnen — einen von den kleineren, nicht größer als ein Daumennagel —, wie er sich an dem Spalt entlangbewegte, wo der Fliesenboden auf die Wand traf. Er bückte sich und schaute ihm unverwandt bei seiner Arbeit zu. Der Käfer sah aus wie ein Tausendfüßler, den jemand aus Achat, Smaragden und Rubinen zusammengefügt hatte. Er entdeckte einen Toastkrümel, steuerte darauf zu und berührte ihn mit seiner haarfeinen Antenne. Der Krümel verschwand. Verdampft oder irgendwie verdaut — Tom wusste es nicht.

Vorsichtig hob er den Maschinenkäfer auf und barg ihn in seiner Handfläche.

Bei seiner Berührung erstarben die Bewegungen des Käfers. Reglos dasitzend, fühlte er sich auf seiner Haut stachelig und warm an. Er sah aus, dachte Tom, wie eine Rarität aus einem Andenkenladen irgendwo in Arizona, wie ein Ohrring oder ein Manschettenknopf.

Er legte ihn auf die Ablage. Nach einem Moment richtete der Käfer sich auf und krabbelte davon, indem er seine Arbeit dort wieder aufnahm, wo sie unterbrochen worden war.

Vor ein paar Tagen waren die Maschinenkäfer in seinen kleinen Sony-Fernseher gekrochen und hatten ihn modifiziert und repariert. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete das Gerät ein, trank einen Schluck Kaffee, aber es kam nur ein kurzes Stück der Tonight-Show — dreißig Sekunden über einen Beinahezusammenstoß über dem O’Hare International —, und dann verschwand das Bild. Der Schirm wurde leuchtend blau; weiße Buchstaben entstanden.

HILF UNS TOM WINTER

sagte der Fernseher.

Er schaltete ihn aus und verließ das Zimmer.

Der Fernseher hatte gestern beinahe Barbaras Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Und seine »Katze« — einer der größeren Maschinenkäfer.

In gewisser Hinsicht war er ihr dankbar, dass sie diese Dinge gesehen hatte. Die Vorstellung war noch immer da — und erschien manchmal geradezu überwältigend —, dass er die Grenze zum kompletten Wahnsinn überschritten hatte. Oder zumindest zu einem Wahnsinn, der auf das Anwesen und das Haus beschränkt war, sozusagen einem ortsgebundenen Wahnsinn. Aber Barbara hatte diese Erscheinungen gesehen, und er hatte sie hinauskomplimentieren müssen, ehe sie noch mehr sah. Es waren tatsächlich Ereignisse, so unerklärlich sie auch sein mochten.

Barbara hätte es nicht verstanden. Nein, das war das falsche Wort — auch Tom konnte nicht behaupten, dass er diese Ereignisse verstand. Enorme Rätsel waren noch zu lösen. Aber er akzeptierte sie.

Seine Bereitschaft, das offenbar Unmögliche anzunehmen, war nahezu grenzenlos. Sie existierte in dieser Form wahrscheinlich seit dem Abend, als er die Kellerwand durchbrochen hatte.

Er dachte an diesen Abend und an die Tage und Nächte danach. Es waren helle, leuchtende Erinnerungen, deren Glanz zunahm, je öfter er sie sich ins Bewusstsein rief.


Er stemmte große, staubige Stücke aus der Gipswand, bis das Loch groß genug war, damit er hindurchkriechen konnte.

Der Raum dahinter war dunkel. Er tastete ihn mit dem Strahl seiner Taschenlampe ab, aber die Batterien waren offenbar bereits ziemlich schwach — er konnte keine gegenüberliegende Wand finden. Es schien auch keine zu existieren.

Es sah aus…

Tja, es sah aus, als sei er in einen Tunnel vorgedrungen, der etwa so breit war wie dieser Kellerraum und der unter dem Garten neben dem Haus verlief und sich bis in den Hang des Hügels fortsetzte, auf dem sich die Post Road befand.

Er bewegte sich vorwärts. Die Tunnelwände waren glatt und konturlos grau; ebenso die Decke und der Fußboden. Es war keine feuchte unterirdische Kammer. Hier war es trocken, sauber und staubfrei — bis auf den Schmutz, den er mit seinem Brecheisen gemacht hatte.

Und es entstand Licht. Der Tunnel hellte sich auf, noch während Tom sich unschlüssig umschaute. Das Licht hatte keine fest umrissene Quelle, obgleich es vorwiegend von oben herabzustrahlen schien. Tom schaute nach unten, schaltete seine Taschenlampe aus und entdeckte, dass um seine Füße herum ein diffuser Schatten entstand.

Das Licht zog sich durch den Korridor, der an der Rückseite seines Kellers begann und in einer weiten Linkskurve sanft aufwärts führte. Dabei verlief er einige Meter weit parallel zur Post Road und schwenkte dann im Bereich des Highway nach Westen ab. Falls Tom sich nicht verschätzte, geschah das in einer Entfernung von rund einer Viertelmeile.

Tom blieb stehen und betrachtete diese Aussicht.

Seine erste Reaktion war ein ausgelassenes, nervöses Hochgefühl. Bei Gott, er hatte recht gehabt! Es gab tatsächlich hier unten etwas. Etwas Rätselhaftes, Seltsames, Großes, möglicherweise sogar Magisches. Etwas, von dem er noch nie in der Zeitung gelesen hatte, das er nicht aus dem Fernsehen kannte, von dem er noch nie durch einen Freund gehört hatte, das er nie erlebt oder zu erleben erwartet hatte. Etwas aus dem tiefen Brunnen von Mythos, Märchen und wilden Vermutungen.

Vielleicht lebten hier Oger. Vielleicht auch Engel.

Seine nächste Reaktion, fast genauso spontan, war ein heftiger Angstschauer. Wer immer diesen Ort geschaffen hatte — die Maschinenkäfer oder welche Macht sie auch lenken mochte —, musste ungemein stark sein. Es war eine mächtige Kraft, die sich lieber versteckt hielt. Eine mächtige Kraft, die er vielleicht mit seinem Brecheisen und seinem Hammer aufgestört hatte.

Er schob sich rückwärts durch das Loch in der Kellerwand aus dem Korridor hinaus — langsam und leise, obgleich ihm sein heimliches Vorgehen ziemlich lächerlich vorkam. Wenn er bis jetzt keine geheimnisvollen Wesen, wie immer sie aussehen mochten, aufgescheucht hatte, als er mit einem Brecheisen in ihre Behausung vorgedrungen war, welchen Sinn hatte es dann, jetzt noch die Luft anzuhalten? Aber er konnte sich nicht gegen den Impuls wehren, so leise wie möglich den Rückzug anzutreten.

Er kehrte in die doch etwas weniger geheimnisvolle Umgebung des Kellers seines Hauses zurück.

Seines Hauses — aber es gehörte ihm gar nicht. Was hatte er lernen müssen? Es gehörte ihm nicht, als er es kaufte; es gehörte ihm jetzt nicht; und es würde ihm nicht gehören, wenn er es verließ.

Er wischte sich die Stirn mit seinem Hemdärmel ab. Der Stoff war weiß vom Verputz und feucht.

Ich kann heute nicht hier schlafen.

Aber die Angst begann bereits nachzulassen. Er hatte sehr oft hier geschlafen, wohlwissend, dass etwas Seltsames geschah und dass es keine Gefahr für ihn darstellte. Der Tunnel und seine Träume waren trotz allem Teil eines einzigartigen Phänomens. Hilf uns, hatten seine Träume ihn gebeten. Das war nicht gerade die Botschaft einer allmächtigen Wesenheit.

Hinter dem Loch in der Wand wurde es in dem leeren Korridor wieder dunkel und still.

Es gelang ihm, um kurz nach vier Uhr einzuschlafen, und er wachte eine Stunde vor Arbeitsbeginn wieder auf. Sein Schlaf war traumlos und tief gewesen. Er zog sich um — er hatte in seinen Kleidern geschlafen — und tappte in den Keller hinunter.

Dort erlebte er einen Schock:

Das Loch in der Wand war schon fast wieder geschlossen.

Eine Reihe von winzigen insektenhaften Maschinen bewegte sich zwischen dem Geröll auf dem Fußboden und der Wand hin und her, die Tom am vorherigen Tag aufgebrochen hatte. Sie wanderten langsam im Kreis über den schartigen Rand der Öffnung, strickten sie regelrecht zu und versetzten die Wand wieder in ihren ursprünglichen Zustand. Es waren die Insektenmaschinen, die er dabei beobachtet hatte, wie sie vom Fundament durch den vom Mond beschienenen Garten zum Wald gewandert waren. Tom erkannte sie wieder und war seltsamerweise so gut wie nicht überrascht über ihr Erscheinen an dieser Stelle. Natürlich waren sie da. Sie versteckten sich ganz einfach nicht mehr.

Was sie an der Wand vollbrachten, war kein Flickwerk. Es war professionelle Arbeit, sauber und nahtlos ausgeführt. Ihm war instinktiv klar, dass er sogar die Herstellernamen in blauer Schrift auf den Rigipsplatten finden würde, wenn er die Farbe von ihnen abkratzte. Die Schrauben würden in ihren ursprünglichen Löchern in den Latten stecken, die Köpfe genauso versenkt wie zuvor, Holzmaserung und Astlöcher und Harztränen entsprächen wieder genau dem alten Zustand.

Er trat einen Schritt näher. Die Maschinenkäfer hielten inne. Er spürte, dass sie für einen kurzen Moment ihre Aufmerksamkeit auf ihn richteten.

Sie waren wie lautlos funktionierende Uhrwerkbausteine.

»Ihr wart die ganze Zeit hier«, flüsterte Tom. »Ihr habt das verdammte Geschirr gespült.«

Dann nahmen sie ihre Arbeit gleichmütig wieder auf. Das Loch wurde zusehends kleiner.

Er sagte — und dabei zitterte seine Stimme nur ein wenig: »Ich öffne die Wand wieder. Ist euch das klar?«

Sie beachteten ihn nicht.

Aber er öffnete die Wand nicht — jedenfalls nicht, ehe eine Woche verstrichen war.

Er hatte das Gefühl, zwischen zwei Welten zu schweben, sich über sich selbst und seine Wahlmöglichkeiten nicht ganz im Klaren zu sein. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was er entdeckt hatte, war erschütternd. Aber sie bestand aus relativ kleinen, unscheinbaren Elementen — den Insekten, die seine Küche aufräumten, seinen Träumen, dem Tunnel hinter der Wand. Er versuchte sich Szenarios vorzustellen, in denen er all das den zuständigen Behörden erklärte — wo immer er solche finden mochte. (Das Grundbuchamt? Die örtliche Polizei? Die CIA, NASA; die Nationale Geographische Gesellschaft?) Grundsätzlich lag nichts von alledem auch nur entfernt im Bereich des Möglichen. Solche Geschichten landeten bestenfalls auf der Kuriositätenseite des National Enquirer.

Und er war noch gar nicht so weit, seine Entdeckungen zu offenbaren. Sie gehörten ihm, waren sozusagen sein Eigentum. Barbara war nicht mehr bei ihm, er hatte keinen sinnvollen Job mehr, und er hatte sogar auf den zweifelhaften Luxus verzichtet, den der Alkohol für ihn dargestellt hatte. Aber er hatte dieses Geheimnis… dieses gefährliche, erschütternde, absolut fremdartige und manchmal sehr beängstigende Geheimnis.

Dieses sich immer weiter offenbarende, unvollständige Geheimnis.

Er hielt sich während der nächsten Tage vom Keller fern und überlegte seinen nächsten Schritt.

Der Traum von den Maschinenkäfern war kein Traum gewesen, zumindest nicht ganz. Indem er die Wand aufgebrochen hatte, war er in ihren magischen Kreis eingedrungen. Sie versteckten sich nicht mehr vor ihm.

Zwei Nächte lang beobachtete er sie aufmerksam. Die Kleinsten von ihnen waren am zahlreichsten. Sie agierten einzeln oder paarweise, wanderten an den Fußleisten entlang, wagten sich gelegentlich quer über den Teppich oder in Küchenschränke hinein, wählten entweder schnurgerade oder elegant gebogene Routen. Sie waren winzig, farbig und unbarmherzig bei ihren Aufräumarbeiten. Wenn er sie berührte, erstarrten sie.

Am Freitagabend, als er vom Geschäft nach Hause kam, entdeckte er eine Reihe von ihnen, die hinter der Rückwand seines Fernsehers verschwanden. Als er das Ohr an das Gehäuse des Geräts presste, konnte er sie im Innern arbeiten hören. Ein leises metallisches Klirren und ein Zischen begleitete ihre Tätigkeit.

Er ließ sie in Ruhe.

Größer und weniger zahlreich war eine Variante, die Tom als »Maschinenmäuse« bezeichnete. Sie waren so groß wie Nagetiere und hatten annähernd deren Gestalt. Die Körper waren bläulich und glänzten metallisch, und die Köpfe hatten die Farbe von dunkler Tinte. Sie bewegten sich mit erstaunlichem Tempo, obgleich sie weder über Beine noch Füße verfügten. Tom vermutete, dass sie millimeterhoch über dem Boden dahinschwebten, aber das konnte er nur vermuten. Sie huschten davon, wenn er versuchte, sie zu berühren oder gar festzuhalten. Öfter beobachtete er sie dabei, wie sie die kleineren Wesen vor sich hertrieben oder wie sie allein irgendwelche noch geheimnisvolleren Dinge erledigten.

Am Samstag — einer weiteren mondhellen Nacht — bereitete er sich eine Kanne schwarzen Kaffee zu und sah sich im Nachtprogramm einen Spielfilm an. Gegen ein Uhr knipste er die Beleuchtung aus und begab sich leise in den Garten. Ausgerüstet mit einer stabilen Taschenlampe und mit hohen Gummistiefeln, um seine Füße zu schützen, ging er durch das feuchte Gras.

Die Maschinenkäfer hatten sich in großer Zahl eingefunden und glänzten im Mondlicht. Eine ganze Schar von ihnen strömte aus den Löchern im Fundament heraus und verschwand im Wald. Was taten sie dort?

Tom erwog, ihnen zu folgen, entschied sich aber dagegen. Nicht jetzt. Nicht in der Dunkelheit.

Sie wünschten seine Hilfe. Sie hatten darum gebeten.

Dass er das wusste, beunruhigte ihn. Es war eine Art von Kommunikation, die er nicht kontrollieren oder auch nur begreifen konnte. HILF UNS TOM WINTER hatten sie gesagt, und sie sagten es jetzt wieder. Aber es war keine Botschaft, die er hörte oder verstand, sondern lediglich ein stummes Begreifen, dass es das war, was sie von ihm wollten. Sie wollten ihm keinen Schaden zufügen. Sie wünschten ganz einfach seine Hilfe. Welche Hilfe, wo? Aber die einzige Antwort war eine Art Winken, das er genauso begriff wie ihre andere Botschaft: FOLGE UNS IN DEN WALD.

Er wich zurück in die Dunkelheit und bekam Angst. Er erinnerte sich plötzlich lebhaft, wie er einmal vor vielen Jahren »The Goblin Market« von Christina Rossetti gelesen hatte. Er hatte den Text in einem der Bücher seiner Mutter gefunden, einem in Leder gebundenen Buch mit viktorianischer Lyrik. Er wusste noch, wie er fröstelnd in seinem sommerlich warmen Zimmer gelegen hatte, voller Angst vor der spinnenartigen Silhouette des Erdbeerbaums vor seinem Fenster und voller Unbehagen an die schlimmen Folgen nächtlicher Einladungen denkend, denen man zu bereitwillig gefolgt war. Nein, danke, dachte er, ich glaube, ich habe jetzt keine Lust, den Wald zu betreten.

Die Maschinenkäfer gaben keine Antwort — abgesehen vielleicht von dem Äquivalent eines Achselzuckens — und setzten ihren seltsamen Reiseverkehr zwischen dem Haus und dem Wald fort.


Am nächsten Morgen, als er den Fernseher einschaltete, gab dieser ein atmosphärisches Knistern und Rauschen von sich, leuchtete plötzlich viel heller und produzierte eine Botschaft auf dem Schirm:

HILF UNS TOM WINTER

Tom war gerade aus der Dusche gekommen. Er trug einen Bademantel und hatte eine Tasse Kaffee in der Hand. Er bemerkte nicht, wie der Kaffee auf seine Hand und auf den Teppich schwappte, obgleich die Haut in seiner Daumenbeuge für den Rest des Tages gerötet war und schmerzte.

Die Buchstaben blinkten und beruhigten sich dann.

»Mein Gott!«, stieß er hervor.

Der Fernseher antwortete.

HILF UNS

In einem ersten Impuls wollte er schnellstens das Haus verlassen und die Tür hinter sich verriegeln. Er zwang sich, diesem Drang zu widerstehen. Er wusste, dass die Maschinenkäfer in seinen Fernseher eingedrungen waren. Das war also der Grund gewesen, nahm er an.

Er trat einen Schritt zurück und setzte sich nicht ganz freiwillig auf das Sofa.

Er befeuchtete seine Lippen.

»Was seid ihr?«, fragte er.

Die Schrift HILF UNS verblasste: Für einige Sekunden war der Bildschirm leer, dann tauchten andere Buchstaben auf.

WIR SIND FAST VOLLSTÄNDIG

Kommunikation, dachte Tom. Sein Herz hämmerte noch immer wild gegen seine Rippen. Er erinnerte sich an ein Spielzeug, das er als Kind besessen hatte, eine Zauberkugel. Wenn man ihr eine Frage stellte und sie umdrehte, erschien in einem kleinen Fenster eine Antwort — ja oder nein oder irgendein rätselhafter Zweizeiler. Die Buchstaben auf diesem Bildschirm sahen genauso aus, schienen aus dunklen Tiefen aufzutauchen. Die Erinnerung war zwar seltsam, aber sie beruhigte ihn.

Er stellte seine Kaffeetasse beiseite und überlegte einen Moment lang.

»Was wollt ihr von mir?«

Eine kurze Pause.

PROTEINE KOMPLEXE KOHLEHYDRATE

Etwas zu essen, dachte er. »Wofür?«

UM UNSEREN AUFBAU ZU VOLLENDEN

»Was meint ihr mit ›um euren Aufbau zu vollenden‹?«

UM UNS ZU VOLLENDEN

Offenbar war es die einzige Antwort, die sie geben konnten. Er dachte über seine nächste Frage nach.

»Sagt mir, woher ihr kommt.«

Diesmal dauerte die Pause etwas länger.

DAS BRAUCHST DU NICHT ZU WISSEN TOM WINTER

»Ich bin neugierig. Ich möchte es wissen.«

DU WILLST ES NICHT WISSEN TOM WINTER

Na ja, vielleicht doch nicht.

Er lehnte sich zurück, trank einen Schluck Kaffee und versuchte in seinem Kopf all die Fragen zu ordnen, die ihn beschäftigten, seit er das Haus bezogen hatte.

»Was ist mit dem Mann passiert, der früher hier gewohnt hat?«

DEFEKT

Ein seltsames Wort, dachte Tom. »Was meint ihr mit ›defekt‹?«

ER MUSS REPARIERT WERDEN

»Ist er noch da? Wo finde ich ihn?«

FOLGE UNS

In den Wald, meinten sie. »Nein. Das will ich noch nicht. Stimmt es, dass ihr ihn — repariert?«

NOCH NICHT VOLLENDET

»Ich habe den Tunnel hinter der Wand gefunden«, sagte Tom. »Was hat es damit auf sich? Sagt mir, wohin er führt.«

Nun musste er länger als bisher warten — er vermutete bereits, sie hätten den Kontakt abgebrochen. Dann erschienen weitere Buchstaben.

EINE MASCHINE

»Der Tunnel ist eine Maschine? Das verstehe ich nicht.«

DER TUNNEL IST EINE MASCHINE

»Wo endet er? Führt er überhaupt irgendwohin?«

ER IST WO ER IST

»Nein, ich meine, wohin erfährt?«

WOHIN ER FÜHREN SOLLTE

Das war herrlich uninformativ. Sie konnten sich nicht vor ihm verstecken; sie wollten, dass er ihnen half; aber sie waren nicht bereit — oder fähig — seine grundlegendsten Fragen zu beantworten.

Kein gutes Geschäft, dachte er. Kein Vorteil.

»Ich überlege es mir«, entschied er.

HILF UNS TOM WINTER

Dabei fiel ihm etwas ein. Eine weitere Frage. »Als ihr vorher mit mir geredet habt — als wir kommunizierten —, wie habt ihr das bewerkstelligt? Ich meine vor diesem Kontakt jetzt?«

WIR WAREN IN DIR

Er richtete sich ruckartig auf. Er war entsetzt.

»Was meint ihr damit? Diese kleinen käferartigen Maschinen, wie die im Fernseher? Die waren in mir drin?«

Er stellte sich vor, wie sie bei Nacht heimlich chirurgische Eingriffe vornahmen. Wie sie ihn aufschnitten, in ihm herumkrabbelten. Ihn veränderten.

KLEINER

»Es gibt noch kleinere von euch?«

SEHR KLEIN DU KANNST SIE NICHT WAHRNEHMEN

Mikroskopisch klein, schlussfolgerte Tom. Dennoch! »Sie sind in mich eingedrungen? Um was zu tun?«

UM ZU REDEN

»In meinen Kopf?«

UM UNSERE WÜNSCHE ZU ÄUSSERN

Pause.

NICHT SEHR ERFOLGREICH

Ihm war kalt, und er schwitzte — er musste das erst mal verarbeiten. »Sind sie jetzt gerade in mir?«

NEIN

»Bin ich jetzt anders? Haben sie irgendetwas verändert?«

NICHTS VERÄNDERT NICHT SEHR ERFOLGREICH

Pause.

WIR KÖNNEN DICH VERÄNDERN WENN DU ES MÖCHTEST DIREKTER MITEINANDER REDEN

»Nein! Mein Gott, auf keinen Fall!«

Die Schrift auf dem Schirm verschwand.

Tom wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Er musste einfach zu viele Informationen verarbeiten. Er stellte sich Maschinenkäfer vor, die klein genug waren, um in seinen Blutkreislauf einzudringen. Maschinenviren. Es war eine entsetzliche Vorstellung.

Er dachte an eine weitere Frage… dann überlegte er, ob es wohl klug wäre, sie zu stellen.

Er wagte es. »Wenn ihr mich hättet verändern können… ich meine verändern, sodass wir miteinander reden können… weshalb habt ihr es nicht getan?«

Der Fernseher summte leise.

ZU AUFDRINGLICH

»Was meint ihr damit? Wäre das unmoralisch?«

ERLAUBNIS NÖTIG

»Erlaubnis nicht erteilt!«

HILF UNS

Tom erhob sich und näherte sich mit kleinen, vorsichtigen Schritten dem Fernseher. Als er auf den Einschaltknopf drückte kam er sich vor wie jemand, der versucht, eine gefährliche, fremdartige Bombe zu entschärfen. Seine Hände zitterten noch immer, als der Schirm flackerte und schwarz wurde.

Er stand da und starrte das Gerät lange an. Dann — als sei es ihm erst nachträglich eingefallen — bückte er sich und zog den Stecker aus der Dose.


Die Invasion seines Fernsehers erschreckte ihn und erzeugte bei ihm widerstreitende Empfindungen. Insgesamt dreimal nahm er den Telefonhörer von der Gabel und begann Doug Archers Nummer zu wählen. Er wollte mit irgendjemandem über diese Sache reden — aber »wollen« war ein viel zu schwaches Wort dafür. Das Bedürfnis, das er fühlte, war physisch spürbar, beinahe quälend. Aber das traf auch auf den entgegengesetzten Drang zu — den Drang zu schweigen. Den Drang, die ganze Angelegenheit für sich zu behalten.

Dreimal wählte er Archers Nummer, und einmal ließ er es sogar zweimal klingeln. Aber dann legte er den Hörer wieder auf die Gabel und verzichtete auf den Anruf. Seine Motive für dieses Verhalten waren reichlich unklar, und er wollte sie nicht zu intensiv erforschen, aber er sagte sich, dass Archer — der offenbar auf irgendeine Art von metaphysischer Revanche an Belltower, Washington, aus war — sich in das hineindrängen würde, was Tom als seine ganz persönliche magische Welt betrachtete.

Er konnte Archer gut leiden, hatte ihn auf Anhieb sympathisch gefunden. Aber — und diesen Gedanken wollte er nicht zu genau analysieren — vielleicht war das ein weiterer Grund dafür, dass er ihn nicht anrief. Er mochte Archer und ahnte, dass er ihm keinen Gefallen tun würde, wenn er ihn in diese Sache mit hineinzog. Hilf uns, hatten die Maschinenkäfer gesagt. Defekt, hatten sie signalisiert. Reparatur ist notwendig. Welche Schlussfolgerung ergab sich daraus? Irgendetwas war nicht in Ordnung. Irgendetwas hatte innerhalb irgendeiner besonders leistungsfähigen Maschinerie nicht funktioniert. Tom konnte das nicht ignorieren. Er hatte seine Wahl getroffen. Aber wenn er Archer wirklich mochte — dieser lästige Gedanke hielt sich beharrlich —, dann wollte er ihn lieber von dem Haus an der Post Road fernhalten.

In dieser Zeit ging er weiterhin seiner Arbeit nach — er war sogar pünktlich —, aber seine Leistungen ließen zu wünschen übrig. Das konnte er nicht leugnen, und er konnte auch nichts daran ändern. Das Verkaufen von Gebrauchtwagen, selbst an den interessiertesten Kunden, erschien ihm zunehmend sinn- und perspektivlos, fast schon lächerlich. Tom bemerkte, dass Klein ihn im Laden häufiger beobachtete. Dabei verzog er sein Gesicht zu einem missbilligenden Stirnrunzeln, aber auch das war bedeutungslos. Während der heißen Nachmittage entwickelte Tom eine geradezu zenartige Ruhe und Abgeklärtheit, als beobachtete er das ganze Herumgerenne aus dem Korb eines Heißluftballons. Nüchtern betrachtet, das war ihm klar, brauchte er diesen Job, um etwas zu essen zu haben. Aber er könnte sich für eine Weile über Wasser halten, selbst wenn er den Job verlor. Außerdem gab es auch noch andere Jobs. Vor allem gab es einen seltsamen Tunnel, hinter einer Wand in seinem Keller. Sein Zuhause wimmelte von kleinen funkelnden Kreaturen, die meisten nicht größer als sein Daumen. In seinem Blutkreislauf waren friedliche, mikroskopisch kleine Roboter unterwegs, und dann hatte auch noch sein Fernseher angefangen, sich mit ihm zu unterhalten. Wenn man all das in Erwägung zog, dann war es außerordentlich schwierig, nicht fröhlich zu lächeln und irgendwelche alternativen Möglichkeiten aufzuzeigen, um diesen lästigen 76er Coronet loszuwerden.

Zu Hause achtete er darauf, dass der Fernseher die meiste Zeit nicht ans Stromnetz angeschlossen war. Er nannte den Kasten immer noch Fernseher, aber er war überzeugt, dass das nicht mehr zutraf. Er war eine private Kommunikationsleitung für die Wesen, mit denen er sich das Haus teilte. Er beschloss, ihn nur noch zu benutzen, wenn er eine spezielle Frage hatte — nicht dass er damit rechnete, dass die Antworten ihm eine Hilfe wären.

Eines Abends steckte er den Stecker in die Steckdose und fragte, was sich am anderen Ende des Tunnels im Keller befand — was er vorfinden würde, wenn er sich dorthin begäbe. ZERSTÖRUNG antwortete die Maschine. Die Antwort erschreckte Tom und brachte ihn zu der nächsten Frage: »Für mich? Ihr meint, ich würde vernichtet?«

DER TERMINAL WURDE ZERSTÖRT

NICHT DU ABER AUCH DAS WÄRE MÖGLICH

Der Tunnel beschäftigte ihn weiterhin. Er vermutete, es wäre unausweichlich, dass er den Zugang erneut öffnete, in den Tunnel eindrang und seinem Verlauf folgte. Er hatte diesen Schritt verschoben, weil er sich davor fürchtete — aber er wollte ihn auch tun, wünschte es sich mit einer geradezu alarmierenden Intensität. Der Kauf dieses Hauses war der Beginn einer Kette von Ereignissen gewesen, die nicht eher beendet war, als bis er dem Tunnel so weit gefolgt war, wie dieser ihn führen würde.

Aber diese Erkenntnis war beängstigend, und das hochempfindliche Gleichgewicht zwischen Angst und Besessenheit hielt ihn vom Keller fern.

Seine Träume baten ihn nicht mehr um Hilfe, aber als er am Freitagabend nach Hause zurückkam und feststellen musste, dass der Radiowecker auf seinem Nachttisch die Worte »Hilf uns, Tom Winter« mit der Stimme des Rundfunksprechers eines bekannten Radiosenders in Seattle von sich gab, riss er das Netzkabel aus der Dose und machte sich auf die Suche nach seinem Brecheisen. Er hatte schon zu lange gewartet. Es wurde Zeit, den seltsamen Traum auszuleben, zu dem sein Dasein sich entwickelt hatte, und ihn bis zu seinem Ende zu verfolgen.

Er öffnete erneut die Wand. Eine Reihe von Maschinenkäfern saß auf dem Deckel des Wäschetrockners und sah ihm mit großen, glänzenden Augen und ohne eine sichtbare Reaktion zu. Er vermutete, dass er sich ihre geduldige, verkniffene Missbilligung dessen, was er tat, nur einbildete.


Danach überstürzten sich die Ereignisse beinahe.

Innerhalb der folgenden Woche unternahm er drei Abstecher in den Tunnel.

Der erste — an diesem Abend — diente einem ersten Kennenlernen. Seine Zweifel meldeten sich erneut, als er den Tunnel wiedersah und in dessen Licht eintauchte. Er machte ein paar zaghafte Schritte in seiner weißen Lichtfülle, dann hielt er inne und schaute zurück. Die Rigipswand seines Kellers stand grotesk mitten im Raum, als habe sie diesen ungehindert sich ausdehnenden Raum fast zufällig unterbrochen. Sie erschien dort ebenso unpassend und unerklärlich wie ein Märchenschloss auf einer Müllkippe. (Aber der Tunnel konnte noch gar nicht dagewesen sein, als das Haus gebaut wurde, oder? Die Bauherren hätten sicherlich einiges einzuwenden gehabt.) Der Tunnel selbst hatte einen rechteckigen Querschnitt. Die Wände fühlten sich glatt und warm an. Die Luft roch frisch und war überhaupt nicht schal und abgestanden. Er machte einen weiteren zaghaften Schritt, dann ging er entschlossen weiter. Der Fußboden schien ganz schwach zu federn, und seine Füße erzeugten keinen Laut. Alle paar Meter drehte Tom sich um und versuchte die Strecke zu schätzen, die er zurückgelegt hatte.

Nach seinen Berechnungen war er mehrere hundert Meter gegangen — vermutlich befand er sich jetzt tief im Berg unter der Post Road —, als die Biegung des Tunnels endlich lang genug war, dass er sein Zuhause nicht mehr sehen konnte. So seltsam der Anblick aus dieser Perspektive auch gewesen war, er hatte etwas Beruhigendes gehabt. Er stand einen Moment lang da, während beunruhigende Gedanken auf ihn einstürmten. »Das ist aber ein verdammt verrückter Ort«, sagte er laut und erwartete ein Echo. Aber der Tunnel schluckte die Laute. In beiden Richtungen gab es nichts anderes zu sehen als die glatte Wand und die Tunnelbiegung.

Er ging weiter. Er hatte keine Möglichkeit, den Winkel der Tunnelkrümmung zu messen, aber die Biegung hörte nicht auf — er hätte schwören können, dass er bereits eine Hundertachtzig-Grad-Biegung hinter sich gebracht hatte. Er hätte einen Kompass mitnehmen sollen… doch eine Ahnung sagte ihm, dass er hier sicherlich nicht funktioniert hätte, dass seine Nadel sich ständig gedreht oder vielleicht sogar stur nach vorn gezeigt hätte. Er stand in diesem hellen, glatten Gang fernab seiner vertrauten Umgebung. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Er machte lautlose kleine Katzenschritte, strengte sein Gehör an, um irgendwelche Geräusche vor sich wahrzunehmen. Die Angst meldete sich wieder, begleitet von einem klaustrophobischen Empfinden. Der Tunnel war etwas höher als sein Kopf und bot rechts und links ebenso viel Platz. Sich umzudrehen fiel nicht leicht. Und es gab keinen anderen Fluchtweg als die lang gezogene Biegung hinter ihm.

Aber dann verlief der Tunnel nach und nach immer gerader, und einige Minuten später sah er vor sich das, was er für das Ende des Gangs hielt: eine graue Masse, die auf diese Entfernung nicht genau zu identifizieren war. Er beschleunigte seine Schritte ein wenig.

Als er sie erreichte, war die Wand keine Wand, sondern eine Ruine. Es war kaum mehr als ein Haufen Ziegelsteine, Zementklötze und Staub, verstreut auf dem jungfräulich weißen Boden. Es schien keinen Weg hindurch zu geben.

ZERSTÖRUNG hatten die Maschinenkäfer gemeldet.

Aber zumindest keine kürzlich erfolgte Zerstörung. Dieser Einsturz hatte Staub in einem breiten Fächer auf den Tunnelboden rieseln lassen. Toms Laufschuhe hatten deutliche Abdrücke darin hinterlassen — die einzigen Abdrücke, wie er erleichtert feststellen konnte. Seit längerer Zeit war hier nichts und niemand herumgelaufen. Nicht seit der ZERSTÖRUNG.

Versuchsweise — und immer noch begleitet von dem seltsamen Nervenkitzel, der sich einstellt, wenn man um die Füße eines schlafenden Riesen herumschleicht — zog er einen Zementbrocken aus dem Trümmerhaufen. Staub wirbelte auf. Steine und Putzbrocken rutschten nach, um die Lücke zu füllen. Einiges davon war das Material, aus dem der Tunnel bestand; aber anderes sah aus wie ganz normaler Zement und Mauerreste.

Was mochte sich auf der anderen Seite befinden?

Ein anderer Keller? Der Keller eines anderen — fremden — Hauses? Er befand sich jetzt vielleicht schon in Höhe der Wyndham Lane oder sogar unter dem Einkaufszentrum unweit der Umgehungsstraße. Er sah auf die Uhr und überlegte: In einer Dreiviertelstunde hätte ich diese Strecke durchaus schaffen können. Aber er vermutete — ach, verdammt noch mal, er wusste es ganz genau —, dass dieser Tunnel gewiss nicht zum Vorratslager des Safeway-Supermarktes führte. Man legte einen solchen Tunnel nicht an, wenn man kein exotischeres Ziel hatte als Belltower, Washington.

Das Land der Zwerge vielleicht. Die Erzgruben von Moria. Oder irgendein innerer Kreis der Hölle oder des Himmels.

Tom zog ein weiteres Stück Mauerwerk aus dem Geröllhaufen und lauschte dem Poltern des nachrutschenden Gerölls. Es gab keinen Weg hindurch… obgleich er einen Hauch kühlerer und feuchterer Luft spürte oder zu spüren glaubte, der durch die Trümmer zu ihm drang.

Spekulationen waren unsinnig. Er wusste genau, was er zu tun hatte.

Zuerst einmal musste er diesen Ort verlassen. Er war müde und durstig — er war nicht so weitsichtig gewesen, wenigstens eine Dose Cola mitzunehmen. Er würde zurückkehren und sich ausschlafen. Und wenn er dann wieder bereit war, würde er hierher zurückkommen. Er würde sich etwas zu essen mitnehmen. Er konnte ja alles in einen Rucksack packen zusammen mit Werkzeug — seinem zuverlässigen Brecheisen — und vielleicht auch eine dieser Papiermasken, die man in Malergeschäften kaufen konnte, um seine Nase vor Staub zu schützen.

Dann würde er den Geröllhaufen untersuchen und abtragen, bis er herausbekam, was sich dahinter befand — und möge Gott ihm beistehen, wenn es etwas Schlimmes war.

Was durchaus im Bereich des Möglichen lag, denn irgendetwas Schlimmes war hier ganz offensichtlich vorgefallen. Es hatte eine ZERSTÖRUNG gegeben. Aber nun wurde er nicht mehr von Neugier getrieben. Er hatte den Schwanz des Tigers mit beiden Händen gepackt und sich für den Ritt gewappnet.


Am nächsten Tag kam er vollständig ausgerüstet zurück.

Tom dachte, dass er wahrscheinlich ein wenig sonderbar aussah, wie er mit seinem Brecheisen und der Thermosflasche und seinem Beutel mit Schinken-Käse-Sandwiches durch diesen leuchtenden Grubengang stapfte. Er kam sich vor wie einer der Zwerge in Disneys Schneewittchen. Natürlich war niemand zugegen, der ihn hätte sehen können. Doch er war hier so einsam, wie er einsamer nicht sein konnte. Er könnte sich die Kleider vom Leib reißen und eine Arie aus Fidelio singen, wenn ihn die Muse küsste, und niemand würde etwas bemerken.

Nach drei Stunden schmutziger, schweißtreibender Arbeit gelang es ihm, zwischen dem Geröllhaufen und der Tunneldecke einen Spalt freizuräumen. Der Spalt war etwa so groß wie seine Faust, und als er mit seiner Taschenlampe hindurchleuchtete, fiel der Lichtstrahl in einen leeren, kühlen Raum. Er konnte Staubpartikel erkennen, die im Lichtstrahl tanzten, und ein Stück weiter erblickte er etwas, das aussah wie eine Ziegelwand… aber ganz sicher war er sich nicht. Er zwang sich, eine Pause einzulegen, sich hinzusetzen, ein Sandwich zu essen und einen Plastikbecher Kaffee zu trinken. Der Kaffee war voller Staub und knirschte zwischen seinen Zähnen.

Er rekapitulierte seine Entdeckungen. Erstens, der Tunnel hatte eine Richtung und einen Zielort. Zweitens, dieser Zielort war gewaltsam versperrt worden. Drittens, auf der anderen Seite gab es nichts, was auf ihn wartete, um sich auf ihn zu stürzen — jedenfalls nichts Offensichtliches.

All das hätte ihm sicherlich weitaus mehr Angst eingejagt, wäre da nicht seine Überzeugung gewesen, dass das, was hier vorgefallen war, schon sehr lange zurücklag. Wie viele Jahre waren es her, seit der letzte Bewohner aus dem Haus an der Post Road verschwunden war? Fast zehn Jahre — falls das, was Archer ihm erzählt hatte, den Tatsachen entsprach. Ein Jahrzehnt. Irgendwie schien es zuzutreffen. Staub aus zehn Jahren auf diesem Boden. Zehn stille Jahre.

Er knüllte die leere Sandwichtüte und die Plastikschale zusammen und stopfte sie in seinen Rucksack.

Er arbeitete stetig und ohne viel nachzudenken weitere drei Stunden, in denen er genug Platz schuf, um über den Geröllhaufen kriechen und sich durch die Lücke zwängen zu können.

Im Haus war es jetzt später Nachmittag, aber dieser Zeitbegriff war hier bedeutungslos.

Tom hockte sich auf den Geröllhaufen und warf mithilfe seiner Taschenlampe einen Blick in die Dunkelheit dahinter.

Er sah den Raum. Eine kleine, kalte, feuchte, ungemütliche Steinkammer mit einer Tür am Ende.

Diese Barrikade zu durchbrechen hatte nicht viel Mut erfordert. Aber die Vorstellung, die hässliche Holztür dahinter zu öffnen… das wäre schon etwas anderes.

Der Tunnel selbst war völlig steril wie ein Gang im Raumschiff Enterprise, während dieses gemauerte Verlies an einen Abenteuerfilm mit Drachen und Kerkern in alten Burgen erinnerte.

Du könntest ja die Steine wieder auf einen Haufen werfen, sagte Tom sich. Schichte sie wieder auf und füge noch etwas Zement hinzu, um alles zu befestigen. Verschließ die Wand an diesem Ende. Und verkauf das verdammte Haus.

Vergiss die ganze Sache.

Aber er würde immer wieder daran denken. Sein restliches Leben lang würde er sich erinnern und sich den Kopf wegen der Tür zerbrechen, und allein dieser Gedanke würde ihn nie mehr zur Ruhe kommen lassen.

Dennoch, so dachte er, war dies eine ernste Angelegenheit. Wer oder was immer diese Wand zerstört hatte, könnte auch ihn vernichten.

AUCH DAS IST MÖGLICH, hatte der Fernseher gemeldet.

Leben oder Tod.

Aber was gab es denn schon, wofür er im Augenblick lebte?

Im Haus — also in der realen Welt — war er ein einsamer, durchschnittlicher Mann, der ein aus den Fugen geratenes, zielloses Leben führte. Er hatte für seine Arbeit und für Barbara gelebt. Aber seine Arbeit war beendet, und Barbara lebte in Seattle mit einem Anarchisten namens Rafe.

Wenn er die Tür öffnete und ein Drache ihn verschlang — nun, das wäre doch mal ein interessanter Tod.

Die Welt würde kaum Kenntnis davon nehmen, kaum trauern.

»Zum Teufel, was soll’s«, murmelte Tom und schob sich durch den Spalt.


Hinter der Tür führte eine Steintreppe nach oben.

Tom folgte ihr. Seine Turnschuhe quietschten auf dem feuchten Zement.

Die Taschenlampe holte einen Treppenabsatz aus der Dunkelheit, der kaum breit genug war, dass er darauf stehen konnte, und eine zweite Tür.

Diese Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert — von der anderen Seite.

Ihm fiel sein Brecheisen ein. Er griff danach und fluchte. Er hatte es bei dem Trümmerhaufen liegen gelassen.

Er lief die Treppe hinunter, durch die erste Tür, kletterte über den Geröllhaufen. Er holte sein Brecheisen und seinen Rucksack und ging den gleichen Weg wieder zurück. Als er erneut vor der verschlossenen Tür stand, war er außer Atem, und sein Atem kondensierte in der feuchtkalten Luft zu weißlichen Dampfwolken.

Er hatte keine Angst mehr und ließ noch nicht einmal besondere Vorsicht walten. Er wollte ganz einfach die Sache erledigen, seinen Job beenden. Er klemmte das Brecheisen zwischen die Tür und den Türpfosten und drückte dagegen, bis er das Geräusch eines brechenden Bügels hörte. Die Tür schwang auf…

Ein weiterer dunkler, gemauerter Raum.

»Verdammt!«, rief Tom aus. Vielleicht ging es immer so weiter, eine kleine hässliche Kammer nach der anderen. Vielleicht war er tatsächlich in der Hölle?

Aber dieser Raum war nicht vollständig leer. Er schwenkte den Lampenstrahl hin und her und entdeckte zwei Kanister auf dem Boden. Sie standen neben einer Holztreppe, die nach oben führte.

Ein erster Hinweis, dachte er.

Die Behälter waren etwa zwanzig Zentimeter hoch, und am Rand des einen war ein Drahtgriff befestigt.

Er beugte sich über die Behälter und leuchtete hinein.

Der Aufkleber auf dem linken Behälter trug die Inschrift VARSOL.

Auf dem Schild auf dem rechten Behälter stand zu lesen EVERTINT PAINT. Und in kleiner Schrift darunter: Eierschalenblau.

Tom wandte sich um und erschrak beim Anblick einer Schnur, die vor seinem Gesicht hing. Er zog daran, und über ihm flammte eine matte Fünfundzwanzigwattbirne auf.

Von oben — vom Treppenende — hörte er das Rauschen von Verkehr und Regen.


Dies alles war derartig desorientierend — derartig ernüchternd —, dass er lange im Licht der Deckenbeleuchtung regungslos dastand. Wenn jemand ihn so gesehen hätte, wäre er sicherlich zu dem Schluss gekommen, dass er geistig weggetreten war. Er sah aus wie ein Mann, der einen kraftvollen Schlag auf den Schädel erhalten hatte — und immer noch stand, um jeden Moment umzufallen.

Mal sehen, dachte er, ich bin im Keller in Richtung Süden aufgebrochen und dann in weitem Bogen zurückgegangen, eine halbe Stunde ungefähr… möglicherweise bis zum Einkaufszentrum oder zu den Läden unten am Highway. Er stieg die Treppe hinauf und erwartete nichts, ging durch eine weitere Tür und betrat eine schäbige Lobby, die er nicht kannte. Dann traf ihn blitzartig ein Gedanke.

Als ich das Haus verließ, hat es nicht geregnet.

Nun, das lag auch schon einige Zeit zurück, oder? Eine Zeitspanne, in der durchaus ein Unwetter vom Meer heraufziehen konnte.

Aber er erinnerte sich auch an die Wettervorhersage vom Wochenende: Sonnenschein mindestens bis Dienstag.

Es wäre nicht das erste Mal, dass die Meteorologen sich irrten. Das Wettergeschehen an der Küste konnte durchaus eine unerwartete Wende nehmen.

Dennoch, da draußen kam einiges vom Himmel.

Tom war in einer Halle gelandet, die offenbar zu einem Apartmenthaus gehörte: rissiges Linoleum, eine ganze Reihe Klingelknöpfe an der inneren und der äußeren Tür — die äußere Tür wies sternförmige Sprünge auf. Er prägte sich die Halle als Orientierungspunkt ein, dann wagte er sich nach draußen.

In den Regen.

In eine andere Welt.

Toms erster vorsichtiger Gedanke war, dass er in eine Filmkulisse geraten war — dies war die einleuchtendste Erklärung, die er in seiner Verwirrtheit finden konnte. Ein professionelles Bühnenbild für ein Zeitstück.

Alle Fahrzeuge auf den Straßen waren Oldtimer, obgleich einige praktisch neu aussahen. Es musste ein Vermögen gekostet haben, dachte er benommen, all diese vierrädrigen Liebhaberobjekte in einem Teil der Stadt zu versammeln, den er nicht kannte (das ist nicht Belltower, beharrte eine Stimme in seinem Inneren), wo alle Gebäude aus einer bestimmten Epoche stammten, ebenso wie die Leute, echte Leute oder Schauspieler oder Komparsen, und zwar Dutzende, die durch den Regen eilten. Und es gab keine Kameras und keine Scheinwerfer.

Er wich in den Regenschatten dieses schäbigen Gebäudes zurück.

Es fiel ihm schwer nachzudenken. Einerseits war er aufgeregt, befand sich in Hochstimmung. Er war unter unvorstellbaren Umständen an diesen unvorstellbaren Ort gelangt. Er hatte es, verdammt noch mal, geschafft. Magie! Begeisterung durchflutete ihn, während er mit ihrem Partner stritt, der krassen tierhaften Furcht vor dem Unbekannten. Ein Schritt in die falsche Richtung, und er wäre verloren. Alles, was er wirklich wusste, war, dass er irgendwohin gelangt war, wo das prächtigste Fahrzeug auf der Straße ein 61er Buick war — oder etwas Ähnliches —, und wo alle Männer, die dem Regen an diesem kalten Abend trotzten, um Himmels willen, Hüte trugen, keine Regenhauben, sondern richtige Hüte — Filzhüte oder Schlapphüte oder wie immer sie genannt wurden —, Hüte von der Art, wie man sie in alten Komödien mit Cary Grant sehen konnte. Planet der Hüte!

Es war sehr, sehr seltsam, aber gleichzeitig sehr, sehr real. Ein kalter Wind peitschte ihm Regen ins Gesicht. Echten Regen. Eine Frau, die sich unter ihren Regenschirm duckte, musterte ihn verstohlen von der Seite, als sie an ihm vorbeieilte, und Tom begriff, dass sie hier zu Hause war, dass er der Eindringling war — ein merkwürdiger, geistesabwesender, ungepflegter Mann mit einem Rucksack auf dem Rücken. Er sah an sich herab. Seine Jeans waren grau vor Staub und streifig, wo der Regen den Schmutz aufgeweicht hatte. Seine Hände waren fast schwarz.

Der Gedanke blieb: Ich bin hier ein Fremder.

Und auf einer noch tiefer liegenden Bewusstseinsebene war ihm absolut klar, was dieser Ort war. Er war ungefähr anderthalb Kilometer durch einen völlig neutralen Tunnel gewandert (MASCHINE hatte der Fernseher ihn genannt) — und etwa dreißig Jahre in die Vergangenheit.

Nicht die Vergangenheit von Belltower, Washington. Es war eine dunkle Nacht, aber er begriff sofort, dass dies eine größere und betriebsamere Stadt war, als Belltower es je gewesen war. Jedoch eine amerikanische Stadt. Die Leute sahen amerikanisch aus. Eine amerikanische Stadt etwa im Jahr seiner Geburt.

Er gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden, nicht ganz jedenfalls. Die Logik wehrte sich dagegen. Seine Vernunft widersprach heftig. Aber Logik und Vernunft waren schon vor einer ganzen Weile nach hinten auf die billigen Plätze verwiesen worden, oder etwa nicht? Er wäre nicht einmal sonderlich überrascht gewesen, wenn der Tunnel irgendwo auf dem Mars geendet hätte. War ein dreißig Jahre alter Platzregen wirklich solch eine Überraschung?

Nun, ja. Er war es. Eine Überraschung und ein Schock. Aber allmählich begann er dieses Phänomen in den Griff zu bekommen.

Er dachte: Ich kann nicht hierbleiben. Tatsächlich wurde die Empfindung dringlicher. Du bist weit weg von zu Hause, und es ist ein langer und beschwerlicher Weg zurück zum Tunnel. Was wäre denn, wenn jemand eine der Türen schließen würde? Wenn die Maschine nicht mehr funktioniert. Was wäre denn, wenn — und dieser Gedanke erzeugte bei ihm eine Gänsehaut — es sich um eine Einwegmaschine handelte?

Seine Angst drohte in Panik umzuschlagen.

Eine ganze Menge Stoff zum Nachdenken, dachte Tom, eine Menge Möglichkeiten, aber am klügsten wäre es, umzukehren und sich sämtliche Alternativen durch den Kopf gehen zu lassen.

Ehe er das tat, machte er jedoch drei lange Schritte hinaus in den kalten Regen — vorbei an einem armseligen Mann mit Regenschirm, kalter Pfeife im Mund und mit einem Hund an einer Leine — und ging zu dem Zeitungsautomaten, der dicht am Bordstein neben einem vor Nässe glänzenden Buick stand. Er warf drei Münzen in das Geldfach und holte die New York Times aus dem Kasten. Und hielt inne, um auf das Datum zu schauen:

13. Mai 1962.

Regentropfen klatschten auf die Titelseite.

»Das ist ein verdammtes Wunder«, sagte er laut. »Sie hatten von Anfang an recht, Doug. Ein Wunder der Post Road.«

Er wandte sich um und sah, wie der Hundehalter ihn ein wenig misstrauisch beäugte, ein wenig ängstlich sogar, während der Hund, ein Spaniel, seine Duftmarke an einem grauen Lampenmast hinterließ. Tom lächelte. »Schönes Wetter heute, nicht wahr?«

»Für Verrückte«, sagte der Mann.

Tom ging zurück in die triste Lobby dieses alten Gebäudes, das den Geruch nach Moder und altem Verputz barg, und das unvorstellbare Geheimnis im Keller. Immer noch mein Geheimnis, dachte er. Er ließ den Mann auf der Straße, den Regen und den Verkehr hinter sich, hielt die Zeitung, sein Souvenir, krampfhaft fest, stieg die Treppe hinunter und kehrte nach Hause zurück. Oder wenn schon nicht nach Hause, so doch wenigstens zurück an den Ausgangspunkt.

Zurück, wie es so schön heißt, in die Zukunft.


Eine weitere Sache fesselte seine Aufmerksamkeit, ehe er den langen, ermüdenden Rückmarsch in seinen Keller antrat. Während er über den Geröllhaufen in den Tunnel kletterte, wurde der Lichtstrahl seiner Taschenlampe von einem Gegenstand reflektiert, der halb vom Mauerwerk verschüttet und durch seine Aktion an die Oberfläche transportiert worden war. Es war ein Maschinenkäfer.

Er bewegte sich nicht. Tom hob ihn auf. Das Ding hatte seinen Glanz verloren. Es war nicht nur verstaubt, sondern stumpf, irgendwie leer.

Tot, dachte er. Das ist es — tot.

Demnach mussten die Maschinenkäfer auch hier gewesen sein, in dem Gebäude hinter ihm… aber irgendetwas hatte sie getötet. Zumindest hatte etwas diesen einen erledigt. Und die Wand war nicht repariert worden wie die Wand in Toms Keller.

Er steckte das defekte Wesen in die Tasche — auf seltsame Art war diese Geste sehr respektvoll —, atmete tief durch und sammelte seine Kräfte für den Rückmarsch.


Wieder zu Hause, schlief er zwölf Stunden durch. Er erwachte an einem sonnigen Nachmittag. Er hatte einen Tag im Geschäft gefehlt. Klein würde, wie Tony es sicherlich treffend ausdrückte, Ziegelsteine scheißen, aber diesen Gedanken verdrängte er, kaum dass er sich meldete. Er hatte sich jetzt mit Wichtigerem zu befassen. Er bereitete sich eine opulente Mahlzeit zu, aus Schinken, Eiern, Toast mit Butter und einer großen Kanne Kaffee. Er setzte sich an den Küchentisch, wo die New York Times auf ihn wartete.

Er beschäftigte sich eingehend damit. Zuerst las er die Titelgeschichte: Laos hatte den Ausnahmezustand verhängt, und achtzehnhundert Marineinfanteristen waren nach Indochina in Marsch gesetzt worden. Einheiten des Fünfundsiebzigsten Infanterieregiments der Südvietnamesen hatten einige Guerillas in der Provinz Kien Phong angegriffen, und Präsident Kennedy hatte bei einem Dinner anlässlich des Democratic-Jefferson-Jackson-Day in Milwaukee eine Rede über Wirtschaftsfragen gehalten. Die Mets hatten beide Spiele einer Doppelveranstaltung gewonnen und die Braves in den Polo Grounds geschlagen. Das Wetter? Bewölkt, kühl, gelegentliche Regenschauer.

Er las die Modewerbung, die Kinoanzeigen, den Sportteil. Dann faltete er die Zeitung zusammen und legte sie beiseite.

Er holte einen Schreibblock und einen Bleistift aus einer Küchenschublade und schlug den Block auf.

Als Überschrift notierte er auf der ersten Seite: Dringende Fragen. Er unterstrich die Worte zweimal.

Er überlegte, trank einen Schluck Kaffee, dann griff er wieder nach dem Bleistift.

Irgendetwas ist hier nicht in Ordnung, schrieb er.

Irgendetwas stimmt nicht, sonst hätte ich niemals den Tunnel gefunden. Der Vorbesitzer ist verschwunden. Die Maschinenkäfer redeten davon, ihn/es zu »reparieren«. Die Maschinenkäfer arbeiteten automatisch, glaube ich. Das Licht brannte, aber sonst war niemand zu sehen.

Frage nach dem Ursprung des Trümmerhaufens am Ende des Tunnels. »Zerstörung«. Aber warum, und von wem oder was ausgeführt?

Nun, das war die eigentliche Frage, oder nicht?

Er schrieb: Der Tunnel ist ein Artefakt. Der Tunnel ist eine Zeitmaschine. Er wurde von jemandem gebaut. Er gehört jemandem.

Jemandem aus der Zukunft, würde das heißen, da bei General Dynamics noch keine Zeittunnel montiert wurden. Es war nicht leicht, sich mit dieser Idee anzufreunden. Sie klang nach zu viel kindlicher Fantasie, erinnerte an zu viele Comics und billige Filme. Leute aus der Zukunft, sehr vertraut das Ganze. Glatzköpfige Typen in bunten Trikots.

Das Problem war nur, dass derartige Überlegungen völlig nutzlos waren. Er müsste über die seltsamen Ereignisse so nüchtern und sachlich wie möglich nachdenken. Zu viel — er dachte an das Wort ZERSTÖRUNG — konnte auf dem Spiel stehen.

Irgendeine zerstörerische Macht hat an diesem Ende des Tunnels für Probleme gesorgt, schrieb er, die schlimm genug waren, dass die Besitzer verschwanden und die ganze Anlage im Automatikbetrieb weiterlaufen ließen. Die vermutlich gleiche Macht war am Tunnelende in Manhattan noch gründlicher zu Werke gegangen.

Aber es gab so viel, was er noch immer nicht wusste. Warum gab es einen Tunnel zwischen Belltower und New York City? Gab es weitere Tunnel zu anderen Orten? Führten die Tunnel immer zum gleichen Ort? Wenn sie normal funktionierten — wozu waren sie nütze? Wer bediente sich ihrer?

Er schrieb diese Fragen auf.

Dann hielt er inne, schenkte sich frischen Kaffee ein und setzte sich wieder. Er griff in seine Tasche und holte den toten Maschinenkäfer hervor.

Er lag matt und scheinbar leer auf der Titelseite der Times.

Tod durch Unfall. Höchstwahrscheinlich, dachte er, war er ermordet worden.

Zehn Jahre sind verstrichen, schrieb er. Falls das Verstreichen von Zeit unter diesen Umständen überhaupt eine Bedeutung hat.

Er kaute auf dem Bleistift.

Du könntest das Ganze auf sich beruhen lassen.

Was tat er hier überhaupt? Ließ er sich locken? Herausfordern?

Es ist gefährlich, und du könntest die Finger davon lassen.

Das ließ sich nicht leugnen.

Vielleicht ging es einzig und allein um die Frage, was er tun sollte.

Denn er hatte jetzt eine Wahl, nicht wahr? Erregung ergriff ihn, eine Freude über diese geheime Möglichkeit, dieses neue Ass, das ihm in den Schoß gefallen war. Er hatte nicht gewagt, darüber nachzudenken. Aber das tat er jetzt.

Du könntest alles hinter dir lassen.

Du könntest den Autoladen und die Scheidung und die höfliche Kündigung und den Treibhauseffekt einfach vergessen. Allein das Niederschreiben dieser Worte machte ihn schon benommen. Du könntest aussteigen. Jeder andere Mensch auf der Erde wird Stunde für Stunde weiter in die Zukunft gestoßen, aber du brauchst das nicht mitzumachen. Du hast eine Hintertür gefunden. Er zwang sich, rationaler zu denken. Nicht die Tür zum Paradies. Was war vor dreißig Jahren? Es gibt die Bombe. Vergiss das nicht. Es gibt Umweltverschmutzung. Es gibt Rassismus, Ignoranz, Kriminalität, Hunger…

Sie haben die Bombe, dachte er, aber wichtig war in diesem Zusammenhang, dass sie sie nicht eingesetzt haben. Er konnte, wenn er wollte, dreißig Jahre lang ein Leben in dem Bewusstsein führen, dass die Luftschutzsirenen nicht losheulen würden. Er konnte über entsprechende Zeitungsmeldungen lachen. Wenn er fleißig war, wenn er immer sorgfältig seine Hausaufgaben machte, wüsste er, dass das Flugzeug, das er bestieg, nicht vom Himmel fallen würde. Er könnte die Stadt verlassen, ehe das Erdbeben zuschlug…

Und selbst wenn jemand starb, dann wäre dies ein Tod, der bereits in den Geschichtsbüchern verzeichnet wäre. Es würden keine Gräber gefüllt, die nicht schon besetzt waren. Die Tragödie der Welt würde andauern, aber er wüsste wenigstens über ihr Ausmaß Bescheid.

Er vernahm ein Echo Barbaras aus dem Bereich seines Bewusstseins, wo die Erinnerungen weilten und sich manchmal bemerkbar machten: Hast du wirklich so viel Angst vor der Zukunft?

Nach Tschernobyl, nach dem Tiananmenplatz, nach seiner Scheidung? In einer Welt, in der regelmäßig Tritium bei geschützten Transporten verschwand, die Staatsschulden allmählich fällig wurden, der Aktienmarkt eher einem olympischen Turmspringen glich? Angst vor der Zukunft in einer Welt voller Teenagerselbstmorde und des kosteneffektiven Sturmgewehrs? Angst… während die brasilianischen Regenwälder die Atmosphäre mit ihren durch Brandrodung erzeugten Qualmwolken verpesteten und die Meldung der jeweils aktuellen Hautkrebsrate mittlerweile zu den Abendnachrichten gehörte? Davor sollte er Angst haben?

Wer, ich?

Ich gehe noch einmal zurück, schrieb er. Wenigstens, um mich umzusehen. Um wirklich dort gewesen zu sein. Wenigstens einmal.

Sonst noch Fragen?

Ja, dachte er. Viele. Aber er schrieb sie lieber nicht auf.


Als Tom von der Zeitung hochschaute, sah er, dass mehrere der größeren Maschinenkäfer am Tischbein heraufgeklettert waren und ihren toten Kameraden wegtrugen.

Vielleicht, um ihn zu ersetzen, dachte Tom. Oder um ihn zu reparieren. Im Reparieren waren sie ganz groß. Oder vielleicht, um ihn zu beerdigen, ihn in irgendein metallisches Grab zu senken, während sie sich darum versammelten und elektromagnetische Totengesänge anstimmten.

Sie bildeten eine helle, funkelnde Kette auf den Küchenfliesen, als sie davonmarschierten. Er störte sie nicht.


Einmal noch, schwor er sich, wenigstens um sich umzusehen — bis dahin schob er alle weiteren Entscheidungen auf. Er beschloss, Einkäufe für einen Wochenendausflug zu tätigen und bis dahin ein ganz normales Leben zu führen, so unmöglich das auch klingen mochte.

Erstaunlicherweise erwies die Scharade sich als Erfolg. Er hatte Erfolg bei seiner Arbeit. Tony lud ihn zu einem Abendessen im Kreise der Familie ein, und auch das verlief harmonisch. Dabei erkundigten Tony und Loreen sich eher beiläufig nach seiner Gesundheit und seiner »Verfassung«, und Tom gab darauf betont ausweichende Antworten. Die Zeit verging wie im Fluge außer abends und nachts, wenn die Zweifel sich wieder einstellten. Er sicherte die Tür, die in den hinteren Teil des Kellers führte, mit einem schweren Bolzenschloss aus dem Eisenwarenladen. Es würde zwar niemanden aufhalten, der durch den Tunnel kam, jedoch stellte es eine wertvolle psychologische Hilfe dar, ein schlafförderndes Mittel wie die kleinen weißen Tabletten, die er in der Value-Save-Apotheke kaufte. Er fand einige populär gehaltene, historische Betrachtungen der Sechzigerjahre in der Bibliothek und opferte einige Zeit, um sich über das erste Drittel dieses Jahrzehnts bis hin zum Kennedy-Attentat zu informieren. Diese Zeit erschien ihm als eine seltsam ruhige Periode. Große Ereignisse kündigten sich bereits an, fanden aber noch lange nicht statt. Es war vielleicht eine Art nervöses Anhängsel der Fünfzigerjahre. Er erkannte Namen wieder: Gagarin, Chruschtschow, John Glenn, Billie Sol Estes — aber die Geschichte verblasste angesichts des aktuellen Geschehens, seines geheimen Weges zurück durch das Labyrinth der Jahre und des Todes. Die Woche neigte sich allmählich dem Ende zu.

Am Samstagmorgen erwachte er bereits vor Anbruch der Dämmerung. Er zeichnete einen Kreis zwischen den Wandschrauben und schnitt mit einer Stichsäge eine Öffnung aus — mittlerweile beherrschte er das ganz gut.

Am anderen Tunnelende stellte er erleichtert fest, dass sich niemand an dem Geröllhaufen zu schaffen gemacht hatte — nur seine eigenen Fußabdrücke waren im Staub zu sehen — und dass das zerbrochene Schloss an der Verbindungstür nicht erneuert worden war.

Noch weiß niemand davon.

Er war hier noch immer sicher.

Er verließ den Tunnel und stieg zur Straße empor in einen kühlen und bewölkten Frühlingsmorgen. Die Zeit verstrich, wie er feststellte, hier genauso schnell wie zu Hause, allerdings waren die Jahreszeiten um zwei Monate gegeneinander verschoben. Er schrieb sich die Hausnummer des Gebäudes auf, in dem der Tunnel endete, und dann die Bezeichnung der Straße, als er an der Kreuzung vorbeiging. Danach ging er einfach weiter. Er war ein Tourist. Aber nur, falls jemand ihn fragen sollte. Er komme von außerhalb. Im Grunde traf das voll und ganz zu.

Natürlich verlief er sich.

Er hatte mal für Aerotech eine Geschäftsreise nach New York unternommen, aber seine Kenntnis der Stadt und ihrer Geographie war bestenfalls vage. Er ging über die Fourteenth Street zur Fifth Avenue und glaubte, dass er dort irgendwelche vertrauten Wahrzeichen antreffen würde… aber er wollte sich lieber nicht so weit vom Tunnel entfernen.

Nicht dass er Schwierigkeiten hätte, wieder dorthin zurückzufinden; die Adresse steckte in seiner Tasche. Aber er konnte kein Taxi anhalten, und er konnte noch nicht einmal einen Stadtplan in einem Souvenirladen kaufen. Sein Geld war nutzlos — zumindest ginge er das Risiko ein, dass es für Falschgeld gehalten wurde —, es sei denn, er steckte es in einen Automaten. Er sagte sich, dass es gar nicht so schlimm wäre, wenn er sich verliefe. Er hatte sowieso vorgehabt, den ganzen Tag umherzuwandern — ob völlig ziellos oder auf der Suche nach einem bestimmten Haus, das war im Grunde gleichgültig.

Aber es war schwierig, sich zu orientieren. Er bewegte sich wie in Trance, fühlte sich geblendet von den Wundern ringsum. Das alltäglichste Objekt — ein Damenhut im Schaufenster eines Modegeschäfts, eine Reklametafel, eine Kühlerhaubenfigur an einem Automobil — fesselte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Sie waren Symbole einer vergangenen Epoche. Es waren Tote, die aus ihren Gräbern stiegen. Er konnte nicht entscheiden, was seltsamer war, sein eigenes sprachloses Erkennen der Vergänglichkeit all dieser Dinge oder die Nonchalance der Menschen, denen er begegnete — Menschen, für die all dies lediglich die Gegenwart war, so solide und zuverlässig wie ihre Häuser.

Er musste innerlich grinsen und verspürte gleichzeitig ein unbehagliches Frösteln.

Viele der Menschen, die er sah, wären im Jahr 1989 längst gestorben. Dies sind die Leben der Toten, dachte Tom. Es sind ihre Geister-Leben, und ich bin in sie eingedrungen. Wenn sie das gewusst hätten, hätten sie ihn sicherlich genauer betrachtet. Er war ein kalter Hauch aus dem Land ihrer Kinder… ein weiterer kalter Wind an einem kalten Nachmittag.

Am Nachmittag wurde es kälter, und der Regen setzte wieder ein. Ein kalter, lästiger Regen, der ihm in den Kragen sickerte und sich irgendwo, am unteren Ende seiner Wirbelsäule, zu sammeln schien. Von der Fifth Avenue aus ging er weiter über die Washington Square North und in den Park. Er erkannte den Torbogen von einer seiner Reisen in die Stadt wieder, aber jener Torbogen war mit zahllosen Graffiti besprüht gewesen. Dieser Torbogen hier zeigte seine Marmoroberfläche, wenngleich keine tadellose. Er fand eine Bank — der Regen hatte mittlerweile ein wenig nachgelassen — und ließ sich darauf nieder, um über seinen Rückweg nachzudenken. Dann blieb eine junge Frau mit buntem Brillengestell und schwarzem Pullover stehen und betrachtete ihn — sie sah ihn tatsächlich an — und fragte ihn nach seinem Namen. Sie wollte wissen, ob er eine Bleibe habe. Sie hieß Joyce Casella. Sie spendierte ihm eine Tasse Kaffee.


Sie nahm ihn mit in ihre Wohnung.

In der Nacht wachte er einmal auf. Er rekapitulierte die Erinnerung an den Tag, las sie wie einen Text und suchte nach Hinweisen. Er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte einen weiten Weg ohne Kompass zurückgelegt.

Eine Sirene heulte draußen in der Dunkelheit. Er stand in diesem schäbigen Zimmer mitten in New York City im Jahr des Herrn neunzehnhundertzweiundsechzig, stolperte durch einen Lichtstreifen, der von der Straßenlaterne draußen hereinfiel, zum Badezimmer und pinkelte in das rostfleckige Porzellanbecken. Er steckte mitten in einem Wunder, dachte er, nicht nur in dem Wunder 1962, sondern im Wunder seiner Alltäglichkeit, dieses mit Zahnpasta beschmierten 1962er Badezimmerschranks, dieser 1962er Flasche Aspirintabletten, dieses undichten 1962er Wasserhahns…

Er benetzte sein Gesicht und vertrieb den letzten Rest Schlaf aus seinen Knochen. Auf der Digitaluhr, die er ein Vierteljahrhundert später bei Kresge’s gekauft hatte, war es drei Uhr fünfundvierzig morgens. Er lehnte sich an die gekachelte Wand und lauschte dem Regen, der gegen das kleine Fenster trommelte. Er überließ sich Gedanken, die er schon sehr lange nicht mehr gehabt hatte.

Zum Beispiel, wie sehr er es vermisste, sein Heim mit einer Frau zu teilen.

Er konnte Joyce gut leiden, und er genoss das Gefühl, sich in ihrer Wohnung aufzuhalten und zum ersten Mal nach fast einem Jahr wieder ein Badezimmerregal zu sehen, in dem Midol und eine Schachtel mit Tampons lagen, oder ihre Haarbürste, ihre Zahnpastatube — säuberlich von unten aufgerollt — betrachten zu können. Und fast liebevoll glitt sein Blick über einen aufgeschlagenen, auf dem Wassertank der Toilette ruhenden Liebesroman von Sloan Wilson. An all diesen harmlosen, alltäglichen Intimitäten teilzuhaben, erinnerte ihn daran, wie sehr er sich nach Intimität ganz allgemein sehnte. Nach dieser winzigen Oase. In solch einer trockenen und grenzenlosen Wüste.

»Danke, Joyce«, sagte er. Er sagte es laut, aber nicht laut genug, dass sie ihn nebenan in ihrem Schlafzimmer hätte hören können. »Danke für diese Zuflucht vor dem Sturm. Es ist wirklich schön hier.«

Kalter Regen klatschte gegen das Fenster. Der Heizkörper klopfte und zischte. Draußen frischte der Wind auf.


Am Morgen fand er den Weg nach Hause.

»Vielleicht komme ich zurück«, sagte er zu Joyce. Es war kein Versprechen, aber es überraschte ihn, dass er es aussprach. Käme er zurück? Dies war ein Wunder; aber war es möglich, ganz in ein Wunder einzutauchen, darin zu leben? Wunder hatten nämlich die Angewohnheit, irgendwann zu verschwinden.

Später sollte er zu dem Schluss kommen, dass es vielleicht ein Versprechen gewesen war, wenn auch nur sich selbst gegenüber… dass er die Antwort auf all diese Fragen schon lange vorher gekannt hatte.


Sein letzter Tag in Belltower. Sein letzter Tag in den Achtzigerjahren.

Er fuhr zur Arbeit, entschlossen zu kündigen, aber Klein kam ihm zuvor, indem er ihm den blauen Brief überreichte. »Sie sind zwar insgesamt ein Versager«, informierte Klein ihn. »Aber was mich letztendlich zu diesem Schritt veranlasst hat, war das Geschäft, das Sie am Mittwoch abgeschlossen haben.«

Das Mittwochsgeschäft hatte er mit einem pensionierten Bezirksrichter gemacht. Der Kunde mochte als Richter eine strahlende Karriere hinter sich haben, jedoch litt er, wie Tom im Laufe der Zeit zu erkennen gelernt hatte, unter einer weitverbreiteten Krankheit: der Kaufpreis-Verhandlungsangst. Der Richter betrachtete den Angebotsvordruck, als sei er ein amtlich verfügtes Urteil, und war bereit, den als Verhandlungsbasis angegebenen Preis für einen Wagen zu zahlen, den er kaum in Augenschein genommen hatte. »Ich glaube, wir sollten ein niedrigeres Angebot ausrechnen«, sagte Tom, »und dann mal abwarten, was der Verkaufsleiter dazu meint.«

Er sagte zu Klein: »Wir haben bei dem Geschäft verdient.«

»Ich kenne diesen Heini«, sagte Klein. »Alle zwei Jahre kommt er hierher. Er sieht sich kurz um und zahlt den Listenpreis.«

»Niemand zahlt heute den Listenpreis.«

»Wenn die Leute Geld zu verschenken haben«, sagte Klein, »dann ist es nicht unsere Aufgabe, es abzulehnen. Aber ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Ich möchte nur, dass Sie endlich verschwinden.« Dann fügte er hinzu: »Ich hab das schon mit Ihrem Bruder geklärt. Also rennen Sie nicht zu ihm hin und erwarten Sie Hilfe von ihm. Er sagte zu mir: ›Hey, wenn Tom Mist gebaut hat, dann ist er die längste Zeit hier gewesen. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.‹«

Tom musste lächeln. »Ich glaube, das stimmt«, sagte er. »Ich bin wirklich die längste Zeit hier gewesen.«


Er telefonierte mit Tony und teilte ihm mit, er wolle für eine Weile verschwinden. Tony wollte mit ihm reden — über den Job, über seine Zukunft. Tom erwiderte: »Ich muss mir selbst über einige Dinge klarwerden. Vielen Dank für alles, Tony. Rechne damit, dass du längere Zeit nichts von mir hörst.«

»Was du vorhast, ist völlig verrückt«, sagte Tony.

»Ich muss es aber tun.«


Er packte Reservekleidung in seinen Rucksack. Geld war ein Problem, aber er nahm einige Gegenstände mit, die er vielleicht verkaufen könnte: die Gitarre, die er seit seiner Collegezeit besaß, eine Gibson, ziemlich unhandlich, aber durchaus wertvoll; einen ganzen Satz Silberlöffel. Freitagmittag war er aufbruchbereit.

Er zögerte, als er sah, dass der Fernseher wieder ans Netz angeschlossen war. Während er das Gerät noch betrachtete, flackerte es und schaltete sich ein.

»Ihr meldet euch zu spät«, sagte er. »Ich gehe weg.«

TOM WINTER, WIR FINDEN, DU SOLLTEST NICHT WEGGEHEN.

Die Interpunktion hatte sich gebessert. Er dachte über die Erklärung nach, stellte sich ihre Quelle vor. »Ihr könnt mich nicht aufhalten«, sagte er. Wahrscheinlich traf das zu.

DORT, WO DU HINGEHST, IST ES NICHT SICHER.

»Wo ich zur Zeit bin, ist es auch nicht sicher.«

DU WÜNSCHST ES DIR ZU SEHR. ES IST NICHT SO, WIE DU DENKST.

»Ihr wisst gar nicht, was ich will. Ihr wisst auch nicht, was ich denke.«

Natürlich, vielleicht wussten sie es — es war durchaus möglich. Aber sie widersprachen ihm nicht.

DU KANNST UNS HELFEN.

»Darüber haben wir schon gesprochen.«

WIR BRAUCHEN PROTEINE.

»Ich weiß nicht, was ihr meint.«

FLEISCH.

»Fleisch?« Das war eine unvorhergesehene Entwicklung. »Gewöhnliches Fleisch? Fleisch aus der Metzgerei?«

JA, TOM.

»Was baut ihr da draußen im Wald zusammen, das Fleisch braucht?«

WIR BAUEN UNS.

Er wollte diesen ganzen beunruhigenden Komplex weit von sich schieben. Aber ihm wurde klar, dass er diesen Wesen etwas schuldig war. Es war schließlich ihr Territorium, das er betreten wollte. Und mehr als das: Er befand sich schon lange unter ihrer Kontrolle. Sie hatten angedeutet, dass sie ihn hätten verändern können. Wenn sie einen Sklaven hätten haben wollen, hätten sie ihn dazu machen können. Sie hatten es nicht getan. Deshalb stand er in ihrer Schuld.

Trotzdem — »Wir bauen uns«? Und sie wollten Fleisch?

Er sagte: »Ich habe noch einige Steaks im Gefrierfach…«

DAS WÄRE SCHÖN, TOM.

»Ich könnte sie auf die Anrichte legen.«

DANKE.

»Wie kommt es, dass ihr jetzt so viel besser sprecht?«

WIR SIND FAST VÖLLIG WIEDERHERGESTELLT. DIE DINGE SIND JETZT SEHR VIEL KLARER.

DER ABSCHLUSS UNSERER ARBEIT STEHT UNMITTELBAR BEVOR.

Das klang ziemlich bedrohlich, dachte Tom. Wenn der schlafende Riese erwachte, dann war dies vielleicht nicht gerade einer der sichersten Aufenthaltsorte.

Was folgerte daraus? Verschwinde schnellstens.

Er wollte den Netzstecker des Fernsehers aus der Dose ziehen, aber er rutschte nicht heraus — sie hatten ihn offenbar festgeschweißt. Aber der Schirm blieb leer. Er eilte in die Küche, legte einen Stapel tiefgefrorene Steaks und Hackfleisch auf die Anrichte, dann raffte er sein Gepäck zusammen.

Das Telefon klingelte. Er dachte daran, es klingeln zu lassen, dann kapitulierte er und nahm den Hörer ab. Er rechnete mit Tony und einigen letzten guten Ratschlägen, aber er hörte Doug Archers Stimme.

»Ich habe gehört, dass Sie rausgeflogen sind.«

»Hier verbreiten Neuigkeiten sich aber sehr schnell«, stellte Tom fest.

»Es ist eine kleine Stadt. Ich habe schon mit vielen Leuten geschäftlich zu tun gehabt. Ja, es wird viel geredet.«

»Lassen Sie mich überwachen?«

»Zum Teufel, nein! Wenn ich so etwas tun würde, hätte ich längst gemerkt, dass Sie keinen neuen Job suchen. Sie wollen demnach Urlaub machen, Tom, oder wollen Sie einfach aussteigen?«

»Das Anwesen steht nicht zum Verkauf.«

»Ich rufe Sie nicht als Ihr verdammter Immobilienmakler an. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

»Es könnte nicht besser sein.«

»Sie wissen, was ich meine.«

Er seufzte. Er hatte Doug gern, und er wollte Doug nicht verletzen — aber er wollte auch nicht, dass Doug in die Sache hineingezogen wurde, jedenfalls nicht in diesem Stadium. »Ich verlasse für einige Zeit die Stadt.«

»Verdammt noch mal«, sagte Archer. »Sie sind auf irgendetwas gestoßen, nicht wahr? Sie wollen nicht darüber reden, aber Sie haben etwas gefunden.«

Oder etwas hat mich gefunden. »Sie haben recht… ich will nicht darüber reden.«

»Wie lange werden Sie weg sein?«

»Ganz ehrlich, das weiß ich nicht.«

»Der Typ, der vor Ihnen dort gewohnt hat… Sie gehen dorthin, wohin er verschwunden ist, stimmt’s?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Wenn Sie zurückkommen«, sagte Archer, »erzählen Sie mir dann mehr über diese Sache?«

Tom gab ein wenig nach. »Mal sehen.«

»Vielleicht sollte ich mal vorbeifahren, solange Sie weg sind… nachsehen, ob das Haus in Ordnung ist.«

»Ich glaube, das ist nicht nötig.« Ihm kam ein Gedanke. »Doug, versprechen Sie mir, dass Sie nicht versuchen einzudringen.« Er nahm zu einer Lüge Zuflucht. »Ich habe nämlich die Schlösser auswechseln lassen.«

»Ich verspreche, dass ich das nicht versuchen werde, wenn Sie versprechen, dass Sie mir eines Tages alles erklären.«

»Abgemacht«, sagte Tom. »Wenn ich zurückkomme.« Falls ich zurückkomme.

»Ich werde Sie daran erinnern«, sagte Archer. Eine Pause entstand. Und er fügte hinzu: »Tja, dann viel Glück. Wenn Sie das brauchen können.«

»Schon möglich, dass ich ein wenig davon nötig habe«, gab Tom zu.


Er legte den Telefonhörer auf, ließ die Rollläden herunter, knipste das Licht aus und kehrte der Welt den Rücken.

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