Viele Jahre lang war der Zeitreisende tot.
Ben Colliers Tod war nicht vollständig, aber er war nicht weniger als der Tod. Die Waffe des Eindringlings hatte seinen Schädel geöffnet und einen großen Teil seines Gehirns als blutigen Regen über die Wiese verstreut. Sein Herz hatte noch eine krampfartige Pumpbewegung ausgeführt, dann etwa dreißig Sekunden lang geflimmert, als wilde Impulse von seinem traumatisierten Hirnstamm ausstrahlten, dann war es erstarrt und stellte nicht mehr dar als einen Klumpen statischen Gewebes in seiner sich abkühlenden Brusthöhle.
Überall in seinem Körper wurden Schutzsysteme in ihrer Funktion gestört und schalteten sich ab. Den Kreislauf stützende Hilfspumpen reagierten auf das Versagen seines Herzens, dann streikten auch sie, als der Blutdruck unter funktionsfähige Grenzen absank. Er vollführte für fast eine Minute tiefe, mühsame Atemzüge — ähnlich einem tiefen Gähnen. Die Lungen waren das letzte umfangreichere System, das seine unabhängige Funktion einstellte, und sie taten es mit einem abschließenden resignierenden Seufzer. Mittlerweile begann der Körper bereits abzukühlen.
Nanomechanismen waren durch das gerinnende Blut in seinen Arterien gefangen. Unter Sauerstoffmangel leidend, sendeten sie Notsignale aus und schalteten sich ebenfalls nacheinander ab.
Billy Gargullo schleifte den Körper in den Wald und ließ ihn in einem verlassenen Holzschuppen unter einem Haufen modriger Zeitungen zurück. Den Verfall beschleunigende Organismen — im regenfeuchten Wald reichlich vorhanden — stürzten sich sofort auf die Leiche.
Billy eilte zum Haus zurück. Als er dort eintraf, hatte er die kybernetischen Helfer mit einem Impuls elektromagnetischer Strahlung völlig verwirrt. Nun löste er einen zweiten Impuls aus, damit sie ihm den Weg frei machten. Er verharrte für einen Moment in der Küche und zog seine Zusatzgedächtnisse zurate, um sich einen ungefähren Eindruck von seinem Aufenthaltsort zu verschaffen. Amerika, Nordwesten, Pazifikküste — gekennzeichnet durch eine ausgesprochen dichte Biomasse an Wald, die ihn erschreckte und ihm Angst machte — irgendwann nach 1970, zu nahe dem Albtraum, den er hinter sich gelassen hatte. Er wollte einen wirkungsvolleren Puffer, selbst wenn es für ihn ein größeres Risiko bedeutete. Er kehrte in den Keller zurück und betätigte die versteckten Kontrollen des Tunnels, wie die sterbende Frau es ihn gelehrt hatte. Der Zielort war verhältnismäßig unwichtig. Er brauchte einen Ort, wo er sich verstecken konnte. Er würde fliehen, er würde sich verstecken, er würde niemals aufgestöbert werden, und er würde nie zurückkehren.
Das war sein gesamter Plan. Sein einziger Plan. Der einzige Plan, den er brauchte.
Billys EM-Impulse störten den Fernseh- und Radioempfang in der Stadt Belltower und in zwei benachbarten Counties. An der Post Road war die Wirkung am heftigsten und erschreckendsten. Peggy Simmons, die Witwe, die eine Viertelmeile von dem Haus entfernt wohnte, in das Tom Winter später einziehen sollte, sah zu ihrer Verblüffung, wie ihr Zenith-Farbfernseher einen grellen blauen Blitz abgab, während die Bildröhre sich zu einem unheilvollen rissigen Grau verfärbte. In diesem Sommer des Jahres 1979 musste sie für die Reparatur fast dreihundert Dollar bezahlen — die Garantiefrist für den Fernseher war gerade erst abgelaufen. Sie bezahlte die Rechnung, machte jedoch den Angestellten bei Belltower Audiovideo darauf aufmerksam, dass das Crosley-Gerät, das sie 1960 gekauft hatte, fünfzehn Jahre funktioniert hatte, wobei nur ab und zu eine Röhre ausgetauscht werden musste, und dass die Herstellungsqualität gesunken war, während die Reparaturpreise in die Höhe geschnellt waren, aber mit so etwas sei ja zu rechnen gewesen, nicht wahr — man brauchte sich nur anzusehen, in welchem Zustand die Welt sich befand. Der Techniker nickte nur und zuckte die Achseln. Wahrscheinlich hatte sie recht. Er hatte in letzter Zeit ziemlich viele Reparaturen auszuführen.
Die Häufung elektrischer Defekte wurde in Belltower für kurze Zeit als Sensation behandelt, erfuhr ausgiebige Beachtung in der örtlichen Zeitung, wurde ohne Ergebnis untersucht und schließlich vergessen.
Viele der kybernetischen Helfer starben oder wurden von dem EM-Impuls funktionsunfähig gemacht. Aber viele überlebten. Sie waren noch Tage später völlig desorientiert. Beschädigte Informationskanäle mussten geflickt und wiederhergestellt werden, eine verständliche Erinnerung an die Ereignisse des Tages musste erstellt werden.
Am schlimmsten war der Verlust von Ben Collier. Für die kybernetischen Helfer hatte er in sich die Funktionen von Verrechnungsstelle, Gesetzesmacher und Gott vereinigt. Ohne ihn waren sie gezwungen, wieder in primitive Verhaltensmuster zurückzufallen. Das war unvermeidbar, aber zugleich hinderlich. Ohne Ben und zahlenmäßig erheblich reduziert, verfügten sie nur über eine rudimentäre Intelligenz. Sie konnten Routineaufgaben erfüllen. Alles andere war ein Herumtasten in totaler Finsternis.
Viele der Nanomechanismen, die mit dem Körper des Zeitreisenden in engster Verbindung standen, waren durch die Wirkung von Billys Waffe oder durch den physischen Zusammenbruch danach zerstört worden. Einige waren in alle vier Winde zerstreut worden. Beschädigt oder außerhalb der Reichweite kollektiven Denkens und Empfindens starben sie. Ein paar — die eigenen Subroutinen folgten — gelang eine geordnete Flucht. Nach einiger Zeit schafften sie es, zum Haus zurückzukehren. Sie gaben ihre bedeutsamen Gedächtnisinhalte an die größeren kybernetischen Helfer nach Art von Bienen weiter, die für ihren Stock Pollen sammeln und abliefern. Die Gemeinschaft der Maschinen, nun im Besitz dieses neuen Wissens, war sich darüber im Klaren, dass Maßnahmen ergriffen werden mussten.
Heere von insektengroßen kybernetischen Helfern, die den Anweisungen der Nanomechanismen folgten, tauchten in den Wald hinter dem Haus ein. Das war gefährlich, und man hatte darüber diskutiert. Das Gelände außerhalb des Hauses war für sie tabu gewesen — bis zu diesem Notfall. Aber ihre Hauptaufgabe, so erklärten sie, sei die Wiederherstellung von Ben Collier. Andere wichtige Dinge konnten aufgeschoben werden, bis Ben wieder in der Lage war, seine Wünsche deutlich zu äußern.
Die Wiederherstellung war jedoch keine einfache Aufgabe. Kybernetische Kundschafter fanden den Körper in einem fortgeschrittenen Zustand des Verfalls vor. Eine große Anzahl von Mikroorganismen, vorwiegend Bakterien und Pilze, hatte sich in den Wunden, in den Extremitäten und im übrigen Körper eingenistet. Der Fäulnisprozess war erheblich und ließ sich nicht mehr umkehren. Die Arbeit musste sofort begonnen werden. Alte Nanomechanismen wurden aktiviert und neue geschaffen, um als Sterilisanten in den Körper einzudringen. Das Herz wurde isoliert und sorgfältig in einen potenziell funktionsfähigen Zustand versetzt. Offene Venen und Arterien wurden verschlossen. Alte, infizierte Haut wurde abgetrennt und durch Synthetikmaterial ersetzt.
Was sie auf diese Art und Weise erhielten, war nicht unbedingt der Körper des Zeitreisenden, sondern eher seine Kernsubstanz — die Skelettstruktur (minus ein Bein und den größten Teil des Schädels). Grobe Nachbildungen wichtiger Organe sowie ein wenig steriles Fleisch. Hätte ein Betrachter sich in den Holzschuppen verirrt, hätte er etwas erblickt, das aussah wie eine frisch gehäutete, nackte und erschreckend unvollständige Leiche. Sie war in keiner Weise funktionsfähig.
Sie wäre es auch niemals geworden, hätten die kybernetischen Helfer nicht einen Konstruktionsplan des Körpers und Gehirns des Zeitreisenden besessen. Diese Informationen tauschten sie auf holographischem Weg untereinander aus. Einige Details waren durch den elektromagnetischen Impuls verloren gegangen, doch es war nichts dabei, was sie nicht mithilfe der genetischen Daten, die immer noch im Körper enthalten waren, entschlüsseln konnten. Sie hatten an Einzelteilen geborgen, was immer sie konnten, und sie waren bereit, den Rest wiederaufzubauen.
Das Problem war das Rohmaterial: Rohmaterial für den Wiederaufbau und für die eigene Erhaltung. Es musste viel getan werden. Vorerst sterilisierten sie die Leiche lediglich und versiegelten sie rundum. Sie organisierten eine Überwachung des Körpers von Ben Collier, um die Lebensfähigkeit seines Fleisches zu gewährleisten. Aber die Hauptmacht der kybernetischen Helfer zog sich ins Haus zurück, um sich über die Nachschubquellen klar zu werden und sich ein Materiallager anzulegen.
Viele neue Nanomechanismen würden benötigt. Diese konnten — wenn auch nur sehr langsam — aus dem Material im Haus und in der Erde ringsum zusammengesetzt werden. Die Nanomechanismen waren sehr kompliziert, aber beinahe völlig masselos. Das war ihr Vorzug. Dank dieser neuen Armee konnte die Arbeit der Wiederherstellung des Körpers in Angriff genommen werden… eine Aufgabe, die unglücklicherweise sehr umfangreich war.
Ihr einziger Verbündeter war der Körper selbst. Wenn erst einmal eine primitive herzähnliche Funktion wiederhergestellt war, könnten die eigenen Verdauungsfunktionen des Zeitreisenden ihre Arbeit wieder aufnehmen. Infolgedessen könnte er ernährt werden, und die Nahrung könnte zum Aufbau und zur Heilung benutzt werden. Das Problem war, dass er eine große Menge Proteine allein für seine Lebenserhaltung brauchen würde.
Die kybernetischen Helfer hatten einen breiten Weg zwischen dem Haus und dem Holzschuppen angelegt, und innerhalb dieser Zone lernten sie, Nahrung zu suchen und zu sammeln. Eine große Menge verarbeitbares Protein stand in diesem klimatisch gemäßigten Regenwald zur Verfügung. Vieles, das in seiner Grundform nicht brauchbar war, konnte mithilfe bestimmter Modifikationen verwertbar gemacht werden. Sie lernten, sich aus dem Wald zu bedienen, ohne ihn völlig auszurauben. Sie nahmen Farn und Schachtelhalm, rote Heidelbeeren, Pilzwucherungen von einem hohen, bemoosten Schierlingsstamm. Sie wetteiferten mit den Fröschen und den Drosseln bei der Jagd nach Insekten. Einmal fanden sie den frischen Kadaver eines Waschbären. Dies war ein Festmahl, das gehäutet und mithilfe von Enzymen verflüssigt wurde. Sie hätten ein Reh töten und ihre Arbeit enorm beschleunigen können, aber die kybernetischen Helfer hatten eine starke Abneigung dagegen, sich am Leben von Wirbeltieren zu vergreifen. Sie beschafften sich das meiste Fleisch durch Diebstahl — eine Maus oder ein Frosch, in mondhellen Sommernächten aus dem Schnabel einer Eule geholt.
Wären diese Gelegenheiten zahlreicher vorhanden gewesen, hätte diese Form der Beschaffung ausreichen können. Eingeschränkt durch ihre begrenzte Rohmaterialgrundlage, konnten sie den Zeitreisenden lediglich in seinem augenblicklichen Zustand erhalten, und es gelang ihnen nur vereinzelt, wichtigere Funktionen zu verbessern. Im Oktober 1986 machte er seinen ersten richtigen Atemzug seit sieben Jahren.
Das Bewusstsein war das letzte große Hindernis — sehr viel Hirngewebe war vernichtet worden. Der Wiederaufbau war schwieriger und verlangte mehr Rohmaterial. Infolgedessen ging er sehr langsam voran.
Die Arbeit war mühsam, aber die kybernetischen Helfer waren unendlich geduldig. Nichts störte ihre Arbeit bis zur Ankunft von Tom Winter — eine Komplikation, die nicht nur ablenkte, sondern möglicherweise auch gefährlich war. Da sie ihn nicht vertreiben konnten, versuchten sie ihn zu ihrem Vorteil einzusetzen… aber es gab so viel, was sie nicht wussten, so viel Wissen, das verloren war, und die Zusammenarbeit mit Tom Winter kostete sie zu viele ihrer wichtigen Nanomechanismen. Eine Zeit lang verlangsamte sich ihre Arbeit… aber sie ging wieder schneller voran, als Tom Winter mehrere Portionen Proteine aus seinem Kühlschrank spendierte. Und sie wurde noch mehr beschleunigt, als ein Puma ein Reh in nächster Nähe des Holzschuppens schlug. Der Puma konnte sehr leicht verscheucht werden, und das Reh stellte einen üppigen, warmen Vorrat an nützlicher Nahrung dar.
Die Arbeit näherte sich schnell ihrer Vollendung.
Ben Collier erlebte gelegentliche Momente der Wachheit.
Sein Bewusstsein arbeitete anfangs noch zaghaft und unregelmäßig, ähnlich dem Flackern einer Kerzenflamme in einem weiten, dunklen Saal.
Das erste Erlebnis, das nachhaltig genug war, um in seinem Gedächtnis haften zu bleiben, war die Empfindung von Schmerz — eines brennenden Schmerzes, der aus sämtlichen Außenbezirken seines Körpers nach innen zu strahlen schien. Er versuchte die Augen aufzuschlagen und schaffte es nicht. Die Augen funktionierten nicht, und die Lider fühlten sich an, als seien sie zugeklebt. Er versuchte zu schreien, aber auch dazu war er nicht fähig.
Die Nanomechanismen in seinem Innern spürten seine Not und linderten sie sofort. Sie schlossen sein Sinneszentrum und blockierten alle Nervensignale von seiner rohen und heilenden Haut. Sie lösten einen Fluss von beruhigenden Endorphinen aus. Fast im gleichen Moment schlief Ben wieder ein.
Als er das nächste Mal aufwachen durfte, waren die grundlegenden Mechanismen des Selbst und des Denkens nahezu vollständig repariert. Er wusste, wer er war und was mit ihm geschehen war. Er war paralysiert und blind, aber die Nanomechanismen verliehen ihm Sicherheit und überwachten seine neurochemischen Vorgänge auf Anzeichen von Panik.
Ben dachte besorgt an seiner Wächterpflichten, die in der Zeit seines Todes sicherlich vernachlässigt worden waren. Ein Gedanke überlagerte alle anderen: Sagt mir, was mit dem Haus geschehen ist.
Bald, antworteten die Nanomechanismen. Er hatte gute Fortschritte gemacht, aber er war noch nicht so weit, seinen früheren Status wieder einzunehmen. Dazu müsste er völlig geheilt sein.
Schlaf jetzt, sagten sie. Er war ihnen dankbar und schlief.
Als er das nächste Mal erwachte, war er schlagartig bei Bewusstsein und achtete auf alles, was um ihn herum vorging.
Jemand ist aufgetaucht, teilten ihm die Nanomechanismen mit.
Ben wusste, wo er sich befand. Er war in dem alten Holzschuppen im Wald hinter dem Haus. Die kybernetischen Helfer hatten seine Erinnerung wiederhergestellt, auch die Erinnerung an seine eigene Ermordung und an das, was danach passiert war. Eigentlich war ihre gesammelte Erinnerung auch die seine.
Die kybernetischen Helfer waren für Ben als seine persönlichen Begleiter entwickelt worden — als Teile von ihm selbst —, und ihn freute, wie gut sie ohne ihn funktioniert hatten. Für einen Moment, kürzer als eine Sekunde, genoss er die Einzelheiten seiner eigenen Wiederherstellung.
Die zwar ein Wunder, aber unglücklicherweise nicht vollständig war. Sein Geist war fast komplett funktionsfähig, doch an seinem Körper musste noch gearbeitet werden. Sein Schädel war noch immer unfertig. Große Teile wurden durch eine klebrige, transparente Haube ersetzt. Sein linkes Bein war ein geäderter Fleischlappen. Muskelgewebe lag an verschiedenen Stellen seines Körpers, wo die Haut und die verfaulten Partien entfernt und sterilisiert worden waren, offen zutage.
Wenigstens funktionierten seine Augen schon wieder. Er öffnete sie. Er lag in dem modernden Zeitungshaufen. Sonnenstrahlen drangen durch Ritzen in der südlichen Wand der Holzhütte herein. Alles war hier grün. Es war die Farbe des Mooses und der Flechten. Die Luft war erfüllt von Staubpartikeln, Pollen und Sporen.
Er schaute zur Tür des Schuppens, einer an primitiven Angeln hängenden Platte aus rohen Brettern, die von rostigen Eisennägeln zusammengehalten wurde.
Seine Ohren lauschten. Er konnte das Rasseln seines eigenen Atems hören… das leise Scharren der kybernetischen Mechanismen in dem Durcheinander ringsum.
Den Klang von Schritten im hohen Gras jenseits der Tür.
Nun das Geräusch einer Hand an dem primitiven Riegel, der die Tür geschlossen hielt.
Das Kratzen des Riegels, als er geöffnet wurde.
Die Tür, als sie quietschend nach innen schwang.
Ben konnte sich nicht rühren. Er sog Luft tief in seine gepeinigte Lunge und hoffte, dass er wenigstens reden konnte.
Greenwich Village, Manhattan, in der brütenden Hitze und bevölkert von den wogenden Menschenmassen des Sommers 1962. Bis Ende Juni hatte Tom Winter einige interessante Dinge über seine neue Heimat in Erfahrung bringen können.
Er lernte einige Daten aus ihrer Geschichte kennen. »Das Village«, von den Indianern Sapokanican und Greenwich von den Engländern genannt, war ein eleganter Teil Manhattans gewesen, bis seine Bewohner gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts über den Broadway nach Norden abwanderten. Dann erschienen zuerst Immigranten und ließen sich dort nieder, anschließend eine radikale Künstlerschar, die vor dem Ersten Weltkrieg durch niedrige Mieten angelockt worden war. Wenn seine Zeitmaschine ihn in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts abgesetzt hätte, hätte er Romany Marie’s in einer ihrer zahlreichen Verkörperungen besuchen — am Sheridan Square oder später in der Christopher Street — und Eugene O’Neill beobachten können, wie er sich Notizen für ein Bühnenstück machte, oder Edgar Varese, der eine Ciorba verspeiste, die mit Lauch und Dill gewürzt war. Oder er wäre 1950 dort angekommen und hätte Dylan Thomas betrunken im White Horse oder Jack Kerouac im Remo antreffen können, wo er von Kalifornien träumte.
Seitdem waren die Mieten gestiegen. Ein allmählicher Alterungsprozess hatte eingesetzt, seit die U-Bahn das Village in den Dreißigerjahren mit dem Rest der Stadt verband. Wirklich arme Künstler wurden bereits in die Lower East Side abgedrängt. Aber nun war das Jahr 1962, und der Duft der Rebellion lag kräftig und scharf in der Luft.
Er stellte fest, dass es ihm dort gefiel.
Vielleicht war das etwas merkwürdig. Tom hatte sich niemals als Künstler, als »Bohemien« verstanden. Das Wort hatte für ihn keine besondere Bedeutung. Er war in den Siebzigerjahren aufs College gelangen, hatte bei seltenen Gelegenheiten Marihuana geraucht und Jeans und lange Haare in den Jahren getragen, in denen es Mode war. Nichts davon war auch nur andeutungsweise Ausdruck einer Rebellion gewesen — es war reine Routine. Er stieg ohne besondere Vorbehalte in einen seriösen Job ein und dachte wie alle anderen nur an sein Einkommen. Wie jeder andere häufte er im Laufe der Zeit einige Schulden an und musste etwas kürzer treten. Er war besorgt — wie alle anderen —, als der Aktienmarkt ins Trudeln geriet. Er und Barbara hatten nie genug sparen können, um in ein Aktienpaket zu investieren, aber er machte sich Sorgen wegen der Wirtschaft und der Auswirkungen, die die Rezession auf ihren eigenen Status haben könnte. Barbara war eine überzeugte Umweltaktivistin, aber sie betrieb das Ganze nicht amateurhaft oder »künstlerisch«, trotz Tonys gegenteiliger Überzeugung; ihr Auftreten, so dachte Tom manchmal, war entschlossen und brutal genug, um auch einen hart gesottenen Firmenanwalt das Fürchten zu lehren. Sie sagte einmal zu ihm, wenn sie ein spießiges Kleid tragen müsste, um glaubwürdig zu erscheinen, dann würde sie sogar das tun. Das sei für sie überhaupt kein Thema.
Und als das Gerüst von Leben und Arbeit um ihn herum zusammenbrach, kam es Tom nicht in den Sinn, dass das System vielleicht versagt hatte, sondern nur, dass er damit nicht zurechtgekommen war.
Er war überrascht und erfreut, hier eine andere Haltung anzutreffen, und zwar nicht nur bei Joyce, sondern ganz allgemein im Village. Eine Übereinkunft, dass die Welt draußen ein steriles Labor war und die einzigen interessanten Produkte seine Fehlschläge, sein Ausschuss und seine Flüchtlinge waren.
Er war sicherlich genauso arm wie jeder andere Flüchtling. Joyce beherbergte ihn für ein paar Tage, als er eintraf — bis Lawrence seinen Unmut äußerte —, und überredete ihn, seine Gitarre nicht zu verkaufen. Sie hatte einen Teilzeitjob als Serviererin gefunden und lieh ihm genügend Geld, damit er sich im YMCA ein Zimmer nehmen konnte. Sie erzählte ihren Freunden, er suche einen Tagesjob, und einer von ihnen — ein damals noch erfolgloser Romancier namens Soderman — erzählte Tom, auf der Eighth Avenue gebe es einen Fernseh- und HiFi-Laden, der einen Helfer suchte. Der Laden hieß Lindner’s Radio Supply, und der Inhaber, Max Lindner, erklärte, dass er einen Techniker brauche, »jemanden, der hinten in der Werkstatt arbeitet«, und ob Tom denn Ahnung von Elektrotechnik habe? Tom bejahte, er kenne sich aus — er hatte auf dem College zwei elektrotechnische Kurse besucht und konnte auch mit einem Lötkolben umgehen. Max’ Kunden brachten zwar vorwiegend Geräte mit Röhrentechnik zur Reparatur, aber Tom war überzeugt, damit keine Schwierigkeiten zu haben. »Hinten in der Werkstatt«, das war ein Raum so groß wie eine Doppelgarage. An den Wänden standen Regale voller Bildröhren und Testgeräte, und über einer Werkbank hing an einer Kordel eine ziemlich zerfledderte RCA-Reparaturanleitung. Die Luft war erfüllt vom Geruch heißer Lötpaste.
»Mein letzter Techniker war ein Puertoricaner«, erzählte Max. »Er war erst achtzehn, aber es gab nichts, was er nicht auseinandernehmen und so wieder zusammensetzen konnte, dass es doppelt so gut funktionierte wie an dem Tag, als es verkauft worden war. Und weißt du, was sie taten? Sie haben ihn, verdammt noch mal, eingezogen. In einem halben Jahr wird er Radarstationen in Congo Bongo bauen. Ich habe meinen Dienst in Guadalcanal abgeleistet, und so belohnt die Army mir meinen Einsatz.« Er musterte Tom von Kopf bis Fuß. »Meinst du wirklich, du schaffst die Arbeit?«
»Ich denke schon.«
»Dann fängst du morgen an.«
Nach der Arbeit war sein wichtigstes Anliegen, eine Bleibe zu finden.
Joyce gab ihm recht. »Du kannst wirklich nicht in der französischen Botschaft bleiben. Dort ist es nicht gerade sicher.«
»Wo?«
»Im YMCA, Tom. Dort treiben sich nur Schwule herum. Sicherlich hast du es längst bemerkt.«
Sie grinste verschmitzt und erwartete, dass diese Information ihn schockierte. Er überlegte, was er darauf sagen sollte. Meine Frau hatte politisch korrekte Ansichten; wir haben an allen Benefizveranstaltungen für die Aids-Hilfe teilgenommen. »Ich denke, dass meine Unschuld noch intakt ist.«
Sie hob die Augenbrauen. »Deine Unschuld?«
Um seinen Job zu feiern, waren sie zu Stanley’s gegangen, eine neue Bar auf der Lower East Side. Tom hatte angefangen, sich mit der Geographie der Stadt vertraut zu machen. Er begriff, dass das East Village noch mehr dem Underground zuzurechnen war als das West Village, eine Bushaltestelle von der U-Bahn entfernt. Deshalb spendierte Stanley manchmal Freibier, um sich einen festen Gästestamm zu schaffen. Lawrences Wohnung war ganz in der Nähe, und Joyces Wohnung war auch nicht weit entfernt, und außerdem war in den etwas bunteren Bezirken um die Bleecker und die MacDougal Street sowieso nichts los.
Tom freute sich über den Job und war etwas nervös im Hinblick auf den Abend.
Joyce bot ihm eine Zigarette an. Er lehnte ab. »Danke, ich rauche nicht.«
»Du hast ja so gut wie keine Laster, Tom.« Sie zündete sich selbst eine an. Das Büro bei Aerotech, in dem er gearbeitet hatte, war zur rauchfreien Zone erklärt worden. Keiner von Barbaras Freunden hatte geraucht, und den Verkäufern im Autoladen wurde ebenfalls empfohlen, darauf zu verzichten. Er hatte völlig vergessen, was für ein faszinierendes kleines Ritual das Anzünden einer Zigarette sein konnte. Joyce führte es mit natürlicher Grazie aus, löschte das Zündholz, indem sie damit hin und her wedelte und es dann in den Aschenbecher fallen ließ. In einer Stunde, wenn der Betrieb in der Bar zunahm, wäre die Luft mit blauem Qualm geschwängert. Die vehementen Attacken von C. Everett Koop waren noch ein Vierteljahrhundert entfernt.
»Wenigstens trinkst du Alkohol.«
»Aber nur sehr mäßig.« Er hatte sich ein Bier bestellt. »Früher habe ich mehr getrunken. Tatsächlich war ich kein besonders erfolgreicher Alkoholiker. Mein Arzt sagte mir, es sei für mich zu schwierig, richtig heftig zu trinken, und zu einfach, um damit aufzuhören. Er sagte, mir fehle wohl das Gen für Alkoholismus — es sei in meiner DNS einfach nicht vorhanden.«
»In deiner was?«
»Ich bin nicht so veranlagt.«
»Hoffnungslos tugendhaft.« Sie zog an ihrer Zigarette. »Irgendetwas bedrückt dich, nicht wahr?«
»Ich habe heute Abend keine Lust, vielen Fragen auszuweichen.«
»Von mir oder…«
Er vollführte eine vage Handbewegung — nein, nicht von ihr.
»Nun, die Leute sind neugierig. Der Punkt ist der, Tom, dass du so gewöhnlich bist. Man kommt hierher und redet über nonkonformes Verhalten und über die, die außerhalb stehen und sich von allem fernhalten und so weiter, aber sie alle sind ganz bestimmte Typen. Jeder hat seine bestimmte Masche. Man kann es ihnen schon von weitem ansehen. Da ist der zornige junge Dichter. Der linke Folksänger. Der satte Werbemanager, der seine Jugendlichkeit unter Beweis stellen will. Und so weiter. Die echten, wahren Nulltypen sind sehr selten.«
Er lachte. »Und ich bin ein solcher Nulltyp?«
»Aber ganz gewiss.«
»Ist das nicht auch eine ganz bestimmte Masche?«
Sie lächelte. »Aber die Masche mag niemand richtig. Wenn du nicht einfach nur so herumhängen willst, Tom, dann gibt es für dich gewisse Möglichkeiten.«
»Als da wären?«
»Nun, du könntest irgendwoanders hingehen. Du könntest allen sagen, sie sollten dich in Ruhe lassen. Oder wir könnten irgendwoanders hingehen. Jetzt oder später.«
Sie saß ihm am Tisch gegenüber, hatte eine Hand leicht abgewinkelt, und der Rauch ihrer Zigarette kräuselte sich zur Decke. Das Licht war recht sparsam, aber sie wirkte bildschön. Sie hatte ihr langes Haar nach hinten gebunden. Ihre Augen blickten aufmerksam, fragend, und leuchteten durch die vergrößernde Wirkung ihrer Brillengläser besonders blau. Er merkte sehr wohl, dass sie Hemmungen hatte, dieses Angebot zu machen.
Es gab aber auch keinen Zweifel, was das Angebot anging. Tom hatte das Gefühl, als sei ihm der Stuhl abrupt unter dem Gesäß weggezogen worden. Er kam sich völlig schwerelos vor.
»Was ist mit Lawrence?«, wollte er wissen.
»Lawrence hat einige Probleme. Oder, ich weiß es nicht, vielleicht sind es auch meine Probleme. Er sagt, er will mich nicht als Besitz betrachten. Er will auch nicht, dass jemand anderer das tut. Er sagt, er sei sich nicht ganz klar über sich selbst. Und zwar was mich betrifft.«
Tom dachte darüber nach, als die Tür aufging und ein paar Leute aus der Hitze des Abends von der Avenue B hereinkamen. Ihre Freunde. »Joyce!«, rief einer von ihnen laut.
Sie sah Tom bedauernd an, hob die Schultern, lächelte und bildete mit dem Mund ein Wort, das »später« heißen konnte.
Wie jeder Immigrant — jeder Flüchtling — passte er sich an seine neue Umgebung an. Es war unmöglich, in einem Zustand ständigen Staunens zu leben. Aber das Wissen, wo er war und wie er dorthin gelangt war, ging ihm nur selten aus dem Sinn.
Neunzehnhundertzweiundsechzig. Die Berliner Mauer war weniger als ein Jahr alt. John F. Kennedy residierte im Weißen Haus. Die Sowjets trafen Vorbereitungen, Raketen nach Kuba zu schicken, und legten den Grundstein zu einer Krise, die schließlich doch nicht in einen Atomkrieg mündete. In Europa brachten Frauen Kinder zur Welt, die durch die Wirkung von Contergan missgebildet waren. Martin Luther King setzte sich an die Spitze der Bürgerrechtsbewegung. In diesem Herbst würde es Unruhen in Oxford, Mississippi, geben. Und die Yanks würden in der World Series die Giants schlagen.
Vertrauliche Informationen.
Er wusste das alles; aber er fühlte sich noch immer von der Unterhaltung ausgeschlossen, die um ihn herum in Gang kam. Für eine Weile unterhielten sie sich über Bücher und Bühnenstücke. Soderman, der Romancier, der Tom den Tip mit der Fernsehreparaturwerkstatt gegeben hatte, äußerte seine kritische Meinung zu Ionesco. Soderman war ein netter Kerl; er hatte ein junges, rundes Eichhörnchengesicht mit einem Bürstenhaarschnitt auf dem Kopf und einem Bartsaum unter seinem Kinn. Er war durchaus sympathisch, aber er hätte ebenso gut Griechisch sprechen können. Ionesco war ein Name, den Tom schon mal gehört hatte, den er aber nicht einordnen konnte. Er war nicht mehr als eine vage Erinnerung an irgendeinen englischen Anfängerkurs. Desgleichen Beckett und Jean Genet. Er lächelte geheimnisvoll an den, wie er meinte, richtigen Stellen.
Dann lieferte Lawrence Millstein einen verbalen Leitartikel über die Unterschiede zwischen Folk und Jazz, und Tom hörte vertrautere Töne. Millstein war ein Vertreter der alten Schule und an diesem Tisch hoffnungslos unterlegen. Er hasste die Café-Folk-Szene und hegte nostalgische Gefühle für die mächtigen Götter des Tenorsaxophons.
Er sah auch entsprechend aus. Wenn Tom die Besetzung für eine Filmversion von On The Road hätte zusammenstellen müssen, hätte er sicherlich Millstein für eine Atmosphäre schaffende Nebenrolle ausgesucht. Er war hochgewachsen, schlank, dunkelhaarig, und in seinem Auftreten lag etwas Einstudiertes, Bemühtes. Joyce beschrieb ihn als »einen Raskolnikoff-Typen, zumindest gibt er sich alle Mühe, so zu erscheinen«.
Millstein hielt einen zwanzigminütigen Monolog über Charlie Parker und die »Qual der Negerseele«. Tom hörte mit wachsendem Unmut zu, schwieg aber — und trank. Er kannte die Musik, von der Lawrence sprach. Während seiner Trennung von Barbara und nach der Scheidung hatte er manchmal den Eindruck gehabt, dass Parker — und Thelonius Monk und der Miles Davis der Sketches-of-Spain-Ära und Sonny Rollins und Oliver Nelson — das Einzige gewesen war, was sie zusammengehalten hatte. Er hatte seine ramponierten Langspielplatten gegen die CD-Versionen von einigen dieser Aufnahmen ausgetauscht. Irgendwie war es eine Anomalie, dachte er manchmal, dass diese alten monophonen Aufnahmen von einer Lasertechnologie entziffert wurden. Aber die Musik drang weiterhin aus den Lautsprechern. Er liebte sie, weil es keine Musik war, bei der man in sein Bier weinen konnte. Sie war niemals traurig. Sie linderte das persönliche Leid, sie machte es einem bewusst, aber manchmal — an den guten Abenden — half sie einem, das Leid weit hinter sich zu lassen. Tom hatte immer diese seltsame Art und Weise bewundert, wie die Musik Traurigkeit in Freude verwandeln konnte, und es ärgerte ihn, anhören zu müssen, wie Millstein sich derart selbstgerecht darüber äußerte.
Joyce schaltete sich ein. »Niemand verdrängt Parker oder lehnt ihn ab. Die Folkmusik tut etwas völlig anderes. Sie unterscheidet sich vom Jazz. Es gibt keinen Streit zwischen beiden.«
Tom ahnte, dass sie diese Diskussion schon früher geführt hatten und dass Millstein seine persönlichen Gründe hatte, um das Thema zur Sprache zu bringen. »Es ist die Musik der Weißen«, sagte Millstein.
»In den Folk-Cafés findet mehr soziale Kritik statt als in den Jazzbars«, erwiderte Soderman.
»Aber das ist doch der Punkt. Folkmusik ist wie ein College-Text. All diese ernsthaften kleinen Predigten. Jazz ist das eigentliche Thema. Das ist der Stoff, den die Predigten behandeln. Das gesamte Schwarzendasein ist darin eingebettet.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Tom. »Dass die Weißen keine Musik machen sollten?«
Augen richteten sich auf ihn. Soderman hob die Hand. »Sieh mal an, der Fernsehmann spricht!«
Millstein hatte ziemlich viel Bier getrunken und war streitsüchtig. »Was, zum Teufel, weißt du denn schon von den Schwarzen und ihrem Leben?«
»Kein bisschen«, sagte Tom freundlich. »Verdammt noch mal, Larry, ich bin genauso weiß wie du!«
Lawrence Millstein öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Einen Moment lang herrschte Stille… dann brachen alle am Tisch in brüllendes Gelächter aus. Millstein brachte endlich einen Ton hervor — es hätte ein Leck mich doch sein können —, aber es ging in dem Lärm unter, und Tom konnte es ignorieren.
Joyce lachte ebenfalls, dann lenkte sie die Unterhaltung in eine weniger gefährliche Richtung. Sie habe einen Brief von jemandem namens Susan bekommen, die in einer ländlichen Gegend Georgias politische Aufklärungsarbeit leiste. Offenbar hatte Susan, ehemalige Vassar-Studentin, während ihrer Zeit im Village ein ziemlich wildes Leben geführt. Jeder wusste irgendeine Anekdote über Susan zu berichten. Joyce lehnte sich erleichtert zurück.
Sie beugte sich zu Tom hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Pass auf, dass du ihn nicht wütend machst.«
Er zuckte die Achseln. »Ich glaube, es ist schon zu spät«, flüsterte er zurück und bestellte sich dann ein frisches Bier.
Er hatte jenen empfindlichen Punkt erreicht, an dem er noch nicht richtig betrunken, aber auch nicht mehr nüchtern war. Er entschied, dass seine neuen Bekannten nette Leute waren. Er konnte sie gut leiden. Als sie von Stanley’s aufbrachen, folgte er ihnen. Joyce ergriff dabei seine Hand.
Die Nachtluft war warm und völlig still. Sie gingen an Häusern vorbei, auf deren Veranden sich Menschen drängten, an trüben Straßenlaternen, an Lärm und an einem Friseurladen, aus dem penetranter Barbasolgeruch herausdrang. Sie gelangten zu einem alten Gebäude, gingen hinein und kamen in ein lang gestrecktes Zimmer voller Bücherregale und schlechter, amateurhafter Gemälde. »Das ist Lawrences Apartment«, vertraute Joyce ihm an. Er fragte: »Was habe ich denn hier zu suchen?« Und sie antwortete: »Er veranstaltet eine Party.«
In den Regalen standen vorwiegend Gedichtbände, die Evergreen Review und moderne Romane. Die Schallplattensammlung war umfangreich und beeindruckend. Es gab sogar alte 78er-Platten von Bix Beiderbecke. Die HiFi-Anlage sah ziemlich teuer aus: ein Rek-O-Cut-Plattenspieler und ein Verstärker mit einer ganzen Röhrenbatterie. »Musik!«, rief jemand, und Tom beobachtete, wie Millstein eine John-Coltrane-Platte aus der Hülle holte und auf den Plattenteller legte — die Geste wirkte beinahe ehrfürchtig. Plötzlich war der Raum von Musik erfüllt…
Tom sah, wie Soderman die Jalousien herunterließ, den Blick auf die Fourteenth Street versperrte, während jemand anderer eine Holzbox mit einer Viertelunze braunen Marihuanas und ein Päckchen Zig-Zag-Zigarettenpapier auf den Tisch legte. Tom fand die Ernsthaftigkeit dieses Rituals amüsant, ebenso ein paar misstrauische Blicke in seine Richtung — war dieser neue Typ vertrauenswürdig? Er kam herüber und sagte: »Lass mal, ich dreh einen.«
Lächeln. »Weißt du denn, wie?«, fragte Joyce.
Er klebte zwei Blättchen Papier zu einem großen zusammen. Seine Technik war etwas eingerostet — es war schließlich schon lange her —, aber er brachte einen glaubwürdigen Joint zustande. Soderman nickte anerkennend. »Wo hast du das gelernt?«
»Auf dem College«, antwortete er geistesabwesend.
»Und wo warst du auf dem College?«
»Im landwirtschaftlichen Herzland der nordwestlichen Pazifikstaaten.« Er lächelte. »Ein Zündholz?«
Er wollte lediglich seine kameradschaftliche Haltung demonstrieren, doch das Dope stieg ihm sofort in den Kopf. Coltranes Saxophon, das aus einem einzigen Lautsprecher drang, wurde zu einem großen, glockengleichen Instrument. Er beschloss, Lawrence Millstein dafür zu mögen, dass er diese Musik liebte, dann erinnerte er sich an seine dumme Ansprache in der Bar und an Joyces Warnung — Pass auf, dass du ihn nicht wütend machst —, die etwas über seine Launenhaftigkeit aussagte und darüber, was sie in dieser Hinsicht schon erlebt haben mochte. Er schaute zu Joyce, die als Silhouette in der Türöffnung von Lawrences hässlicher Küche zu sehen war. Er erinnerte sich an das halbe Versprechen, das sie ihm gegeben hatte, und an die Möglichkeit, sie in den Armen zu halten, mit ihr ins Bett zu gehen. Sie war sehr jung und nicht so raffiniert, wie sie gerne erschienen wäre. Sie verdiente etwas Besseres als Lawrence Millstein.
Die Coltrane-Platte war zu Ende. Millstein legte etwas auf, das Tom nicht erkannte, schnellen Bebop, eine wütende Musik, schlecht aufgenommen, weil das Mikrofon zu nahe an der Trompete war — sie klang wie ein Klavier in heftigem Kampf mit einer riesigen Wespe. Die Party wurde lauter. Leicht desorientiert setzte er sich in einen freien Sessel in einer Ecke des Raums und ließ die Musik über sich hinwegspülen. Es klopfte an der Tür, das Dope wurde sorgfältig versteckt, die Tür ging auf — es war eine Freundin von Soderman, eine Frau in schwarzem Rollkragenpullover, die einen Gitarrenkoffer trug. Laute Willkommensrufe. Joyce ging zum Plattenspieler und nahm den Tonarm von der Platte. Millstein bekam es am anderen Ende des Raums mit. »Sei vorsichtig damit!«, brüllte er.
Joyce lieh sich die Gitarre, stimmte sie und spielte ein paar Akkorde und Bassläufe. Schnell hatten sich fünf oder sechs Leute um sie versammelt. Sie hatte rote Wangen — vom Trinken oder vom Dope oder von der Aufmerksamkeit, die man ihr zollte —, und ihre Augen waren ein wenig glasig. Aber als sie sang, klang es wundervoll. Sie sang traditionelle Folkballaden, »Fannerio«, »Lonesome Traveler«. Wenn sie redete, klang sie zaghaft oder schüchtern oder spöttisch, aber die Stimme, die sie jetzt entwickelte, war völlig anders. Es war eine Stimme, die Tom aufmerken und sie erstaunt anstarren ließ. Er hatte sie überaus sympathisch gefunden, ohne zu ahnen, dass diese Stimme in ihr steckte. Der Ausdruck seines Gesichts musste reichlich spaßig sein. Sie lächelte ihn an. »Komm, spiel mal!«, sagte sie.
Er schüttelte heftig den Kopf. »Oh nein, niemals!«
»Ich hab dich auf der Gitarre klimpern hören, die du mitgebracht hast. Du bist gar nicht schlecht.«
Soderman hatte es mitbekommen. »Unser Fernsehtechniker spielt Gitarre?«
Wenn er etwas nüchterner gewesen wäre, hätte er sich niemals darauf eingelassen. Aber, zum Teufel, was war daran schlimm — wenn er schlecht war, dann sah Joyce dafür umso besser aus. Und Joyce in den Vordergrund zu schieben, erschien ihm als eine überaus noble Geste.
Jahrelang hatte er seine Gitarre etwa einmal im Monat aus dem Koffer geholt, damit er das bisschen Technik nicht verlernte, über das er verfügte. Im College hatte er sich ernsthaft bemüht — jedenfalls so ernsthaft, dass er Unterricht bei einem alkoholsüchtigen Lehrer namens Pegler genommen hatte, der behauptete, 1965 in Haight Ashbury eine Folkband geleitet zu haben. (Pegler, wo treibst du dich im Augenblick herum?) Er ließ sich von Joyce die Gitarre reichen und überlegte, was er spielen könnte. »Guantanamera«? Irgendeine alte Weavers-Ballade? Aber er erinnerte sich an einen Song, den er sich vor vielen Jahren selbst beigebracht hatte, von einem alten Album von Fred Neil, und er verließ sich auf seine Inspiration und sein Glück, die alten Akkordwechsel richtig hinzubekommen.
Seine Gesangsstimme war eigentlich reizlos, und das Dope hatte sie etwas aufgeraut, aber er schaffte den Text, ohne hängen zu bleiben. Er blickte auf halbem Weg vom Griffbrett hoch und erkannte, dass Joyce ihn begeistert anstrahlte. Wodurch er einen Akkordwechsel verschlief. Aber er fing sich und beendete den Song ohne allzu große Peinlichkeit. Joyce applaudierte ihm glücklich. Soderman nickte staunend. »Beeindruckend.«
Lawrence Millstein war herübergekommen. »Nicht schlecht für einen Amateur«, sagte er.
»Danke«, erwiderte Tom wachsam.
»Natürlich alles nur sentimentaler Scheiß.«
Joyce war durch die Bemerkung weitaus mehr verletzt als Tom. »Das liegt wohl am Vollmond«, sagte sie. »Lawrence verwandelt sich dann immer in ein Arschloch.«
»Sehr mutig«, stellte Soderman leise fest.
»Nein, ist schon in Ordnung«, sagte Millstein. Er beschrieb eine ausholende Geste und verspritzte etwas Jack Daniels aus dem Glas in seiner Hand. »Ich möchte euer Liebesglück nicht stören.«
Tom gab die Gitarre weiter. Allmählich begriff er, dass er es mit einem streitsüchtigen Trinker zu tun hatte.
Pass auf, dass du ihn nicht wütend machst. Aber Joyce schien ihren eigenen Ratschlag vergessen zu haben. »Lass das sein«, sagte sie. »Auf den Scheiß können wir gerne verzichten.«
»Wir können darauf verzichten? Wer — du und Tom? Joyce und der Fernsehtechniker?«
Soderman drängte sich dazwischen. »Du hast deinen Drink verschüttet, Lawrence. Komm, wir holen uns einen neuen. Wir beide, du und ich.«
Millstein beachtete ihn nicht. Er wandte sich an Tom. »Du magst sie? Hast du Joyce gern?«
»Ja, Larry«, antwortete er. »Ich hab Joyce sehr gerne.«
»Nenn mich verdammt noch mal nicht Larry!«
Augenblicklich wurde es still im Raum. Millstein bemerkte die Aufmerksamkeit aller. Er lächelte verkniffen. »Du weißt natürlich, was sie ist«, fuhr er fort. »Du musst es wissen. Es ist eine alte Geschichte. Sie kommen von Bryn Mawr in diesen dämlichen Klamotten — Ballettschuhe und Torerohosen. Sie machen alle auf Künstler, aber sie kaufen nur bei Bonwit Teller. Sie kommen hierher, um sich intellektuelle Inspiration zu holen. Das erzählen sie einem. Natürlich kommen sie nur hierher, um flachgelegt zu werden. Stimmt das nicht, Joyce? Sie sehen sich am liebsten in den Armen irgendeines neunzehnjährigen Negermusikers. Man kann in Westchester natürlich genauso leicht flachgelegt werden, aber nicht von jemandem, der auch nur halb so interessant ist.« Er bedachte Tom mit einem falschen Lächeln. »Also, wie interessant bist du denn?«
»Im Augenblick«, sagte Tom, »bin ich wohl etwas interessanter als du.«
Millstein schleuderte sein Glas zu Boden und ballte die Fäuste. Joyce rief: »Haltet ihn fest!« Soderman trat Millstein in den Weg und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Hey«, sagte er. »Hey, beruhige dich. Es ist doch nichts. Hey, Larry… ich meine, Lawrence…«
Joyce ergriff Toms Hand und zog ihn zur Tür.
»Die verdammte Party ist zu Ende!«, brüllte Millstein.
Sie traten hinaus in den Hausflur.
»Komm mit zu mir«, sagte Joyce.
Tom sagte, das wäre eine gute Idee.
Sie zog sich mit der Unbefangenheit einer Katze aus.
Fahles Straßenlaternenlicht drang durch das staubblinde Fenster herein. Er war zutiefst berührt von ihren kleinen Brüsten und den rosigen Brustwarzen, von dem niedlichen Dreieck ihrer Schamhaare. Sie lächelte ihn in der Dunkelheit an, und er entschied, dass er wirklich ein glückliches Leben führte.
Sie zu berühren war wie ein tiefer, langer Schluck frischen klaren Wassers. Sie drängte sich ihm entgegen, als er in sie hineinglitt. Er spürte, wie sich in ihm längst eingerostete Federn spannten und dehnten. Sie hatte ihre Brille auf die Apfelsinenkiste neben dem Bett gelegt, und ihre Augen waren hingebungsvoll geweitet.
Später, als sie in den Schlaf hinübertrieben, sagte sie zu ihm, er würde wie ein einsamer Mann Liebe machen.
»Tue ich das?«
»Heute hast du es getan. Bist du einsam?«
»Ich war einsam.«
»Sehr?«
»Sehr.«
Sie schmiegte sich an ihn, presste Brüste und Hüften gegen ihn. »Ich möchte, dass du hierbleibst. Zieh zu mir.«
Er erlebte ein weiteres Mal die Empfindung des freien Falls. »Ist die Wohnung denn groß genug?«
»Das Bett ist groß genug.«
Er küsste sie in der Dunkelheit. Glückliches Leben, dachte er.
Neunzehnhundertzweiundsechzig, eine warme Sommernacht.
Es war nun auf dem ganzen Kontinent Nacht. Der Himmel war klar von den Rockies bis zur Küste von Maine, und die Sterne strahlten vom Himmel herab. Die Nation schlief, und ihr Schlaf war — wenn überhaupt — unruhig durch vage und ferne Träume. Durch einen Traum vom Mississippi. Einen Traum von einem Krieg, der noch nicht richtig angefangen hatte, irgendwo weit im Osten. Den Traum von dunklen Imperien, die an den Grenzen aufmarschierten.
JFK schlief. Lee Harvey Oswald schlief. Martin Luther King schlief.
Tom Winter schlief und träumte von Tschernobyl.
Er trug diesen Klumpen der Unzufriedenheit durch die Nacht bis in den Morgen.
Ich bin ein kalter Wind aus dem Land eurer Kinder, hatte er gedacht. Aber er sah Joyce an — als sie ein spätes Frühstück in einem billigen Restaurant am Ende einer schmuddeligen, engen, sonnenbeschienenen Straße einnahmen — und wollte es nicht mehr sein. Das war Geschichte, und Geschichte war gut, denn sie war nicht zu verändern. Aber er machte sich Sorgen, dass er vielleicht eine Infektion aus der Zukunft mitgebracht hatte — keine Krankheit im eigentlichen Wortsinn, sondern irgendeine Turbulenz im Zeitstrom. Irgendeine dunkle, bedrohliche Unregelmäßigkeit, die die Struktur ihres Lebens zerstörte.
Vielleicht waren seine Gewissheiten völlig falsch. Vielleicht würden sie alle bei dem sowjetischen Angriff umkommen, der auf die Schweinebucht-Invasion folgte.
Aber das war absurd — oder etwa nicht?
»Irgendwann«, sagte sie, »wirst du mir erzählen müssen, wer du bist und woher du kommst.«
Diese Feststellung erschreckte ihn. Er betrachtete sie aufmerksam auf der anderen Seite des Tisches.
»Das tue ich«, versprach er. »Irgendwann.«
»Aber irgendwann bald.«
»Bald«, sagte er hilflos. Vielleicht war es ein Versprechen. Vielleicht war es auch eine Lüge.
Sein Name war Billy Gargullo, und er war ein Bauernjunge.
Er lebte nun schon seit über zehn Jahren in New York City, aber warme Nächte wie diese erinnerten ihn noch immer an Ohio.
In warmen Nächten wie dieser konnte er nicht schlafen. In warmen Sommernächten verließ er seine Wohnung und wanderte wie ein Schatten durch die Straßen. Er fuhr gerne mit der U-Bahn. Wenn in der U-Bahn viel Betrieb herrschte, ging er lieber zu Fuß.
Heute fuhr er ein wenig, und er ging ein wenig zu Fuß.
Er hatte seine glänzende goldene Rüstung zu Hause gelassen.
Billy trug die Rüstung selten, aber er dachte oft an sie. Die goldene Rüstung war zu Hause in dem gemieteten Apartment, in dem er während der vergangenen zehn Jahre gewohnt hatte. Er bewahrte die Rüstung in seinem Wandschrank auf, hinter einer doppelten Wand, in einer Kiste, die niemand sonst öffnen konnte.
Er trug die goldene Rüstung selten; aber die goldene Rüstung war ein Teil von ihm, einzig und allein sein Eigentum — und das war beunruhigend. Er hatte viele Dinge zurückgelassen, als er nach New York gegangen war. Viele hässliche, viele schändliche Dinge. Aber einige hässliche und anstößige Dinge hatten ihn begleitet. Die Rüstung selbst war nicht hässlich oder anstößig — auf ihre Art war sie schön, und wenn Billy sie trug, dann trug er sie voller Stolz. Aber ihm war der Verdacht gekommen, dass sein Bedürfnis nach ihr anstößig war… dass die Dinge, die er tat, wenn er sie trug, hässlich waren.
Das war nicht ganz Billys Schuld, zumindest redete er sich das ein. Die Infanterie hatte gewisse chirurgische Eingriffe bei ihm vorgenommen. Sein Bedürfnis nach der Rüstung war real und körperlich spürbar. Ohne sie war er nicht vollständig. In gewissem Sinn war Billy die Rüstung. Aber die Rüstung war nicht ganz Billy. Die Rüstung hatte ihre eigenen Motive, ihre eigenen Absichten, und sie kannte Billy besser als jedes andere Wesen auf der ganzen Welt.
Manchmal sang sie für ihn.
Meistens sang sie vom Tod.
Billy tauchte aus den brüllenden Maschinenschächten der U-Bahn auf, betrat die nächtliche Wildnis der 42nd Street und des Broadway. Mitternacht war gerade vorüber.
Auch jetzt war er überrascht von der wilden Ausgelassenheit des zwanzigsten Jahrhunderts. All diese Lichter! Farbiges Neon und leuchtende Girlanden, mit Strom versorgt, wie er erfahren hatte, von mechanischen Dämmen, die Flüsse aufstauten, die Hunderte von Meilen weit weg waren. Und das meiste — erstaunlicherweise — zum Zweck der Werbung.
Er spazierte über den Times Square, wo die Lichter so hell brannten, dass er sie knistern und zischen hören konnte.
Dort, wo Billy herkam — auf der Farm —, hätte man diese frevelhafte Vergeudung von Elektrizität promisk genannt. Ein sehr schlimmes Wort. Aber das Wort bedeutete hier etwas anderes… eine Vergeudung einer ganz anderen Art von Energie.
Worte waren seit dem Tag seiner Ankunft in New York ein Problem für ihn gewesen.
Er war in einem Wirbel von Blut und Lärm eingetroffen, hinausgewürgt in den Keller eines alten Gebäudes durch einen Riss im Firmament der Zeit — entsetzt von dem, was er dort gesehen hatte, voller Angst vor dem, was ihn vielleicht erwartete. Er sandte EM-Impulse aus, brachte eine Mauer zum Einsturz und tötete den Mann — einen Zeitreisenden —, der versuchte, ihn aufzuhalten.
Als sich der Staub gesenkt hatte, kauerte er sich in eine Ecke und überdachte seine Möglichkeiten.
Er dachte an das Monster, dem er im Tunnel begegnet war.
Das Monster wurde »Zeitgespenst« genannt — Ann Heath hatte ihn vor ihm gewarnt, ehe sie starb.
Die feurige Erscheinung hatte Billy trotz des chemisch erzeugten Mutes, der von der Rüstung in seine Adern gepumpt wurde, in Panik versetzt. So etwas wie das Zeitgespenst hatte er noch nie gesehen, und Billy spürte irgendwie — er konnte nicht sagen, weshalb —, dass sein Interesse an ihm ganz persönlicher Natur war. Vielleicht wusste es, was er getan hatte. Vielleicht wusste es, dass er keinen angestammten Platz in diesem Labyrinth der Zeit hatte; dass er ein Deserteur, ein Verbrecher, ein Flüchtling war.
Das Monster war erschienen, als er das Ende des Tunnels erreicht hatte, und Billy spürte seine Hitze und die Schwingungen seiner Feindseligkeit. Und er war weggelaufen, war voller Entsetzen durch die Ausgangsöffnung zu diesem Ort geflohen, einem sicheren Ort, zu dem das Monster ihm nicht folgen konnte — jedenfalls hatte Ann Heath es ihm so geschildert.
Trotzdem hatte Billy noch immer Angst.
Er hatte eine vage Idee, wo er sich befand. In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. An irgendeinem Punkt in einer Stadt. Er hatte den Wächter dieses Ortes getötet, und ein paar weitere elektromagnetische Stöße würden sämtliche kybernetischen Helfer entfernen. Aber Billy kauerte in der Ecke eines nur schwach erleuchteten Kellers — im Gestank von zusammengebackenem Gips und Klinkersteinen und im feinen grauen Staub aus dem beschädigten Tunnel —, und er begriff, dass sein Exil endgültig und ewig war.
Er drosselte die Energie seiner Rüstung und nahm eine persönliche Inventur vor.
Dinge, vor denen er weggelaufen war:
Die Infanterie.
Die Sturmzone.
Mord.
Die Frau Ann Heath mit einem Glaskeil im Kopf und einer Röhre in ihrer Brust.
Dinge, die er zurückgelassen hatte:
Ohio.
Seinen Vater Nathan.
Eine Stadt namens Oasis.
Meilenweit Kohl und grünen Weizen und einen Himmel, der völlig leer war bis auf Hitze und Staub.
Dinge, die er nicht hatte zurücklassen können:
Seine Rüstung.
Und, so erkannte Billy, diesen Ort. Dieses Gebäude, was immer es war. Diesen Tunneleingang, den er verschlossen hatte, dem er aber nicht trauen konnte: Weil er Monster enthielt, weil er die Zukunft barg.
Was damals wie eine Inspiration erschienen war, diese fieberhafte Flucht in die Vergangenheit, bereitete ihm nun Sorgen. Er hatte an Mechanismen herumgespielt, die er nicht begriff, die mächtiger waren, als er es sich vorstellen konnte. Diese Begegnung mit dem Zeitgespenst war schon schlimm genug gewesen. Wen sonst hatte er außerdem noch verärgert? Es gab so viel, was Billy nicht verstand. Er glaubte, dass er hier sicher wäre… aber der Glaube enthielt Zweifel.
Aber du bist hier. Das ist eine klare Tatsache. Er war hier und würde hierbleiben. Wenigstens keine Infanterie, keine Sturmzone. Ein Ort fern von all dem. Nicht Ohio mit seinen Wüsten und Kanälen und dem Wunder der Ernte, aber wenigstens ein sicherer Ort.
Eine Stadt in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.
In dieser Nacht, seiner ersten Nacht in der Stadt New York, entkleidete Billy den Körper des Zeitreisenden und benutzte einen Fächerstrahl, um die Leiche in ein Häufchen feiner weißer Asche zu verwandeln.
Die Kleider waren blutbesudelt und passten nicht richtig, aber sie gestatteten es Billy, sich unauffällig in der Öffentlichkeit zu bewegen. Er erforschte die Korridore des Mietshauses über dem Keller, in dem sich der Tunnel befand. Er sah sich in den benachbarten Straßen der nächtlichen Stadt um. Er schloss aus dem Brieftascheninhalt des toten Mannes, dass der Zeitreisende ein »Apartment« in diesem Gebäude bewohnt hatte. Billy fand den Eingang, eine nummerierte Tür unter vielen, und stocherte mit Schlüsseln in dem primitiven Schloss herum, bis die Tür aufsprang.
Er schlief im Bett des toten Mannes. Er suchte sich frische Kleider zusammen. Er betrachtete staunend den Kalender des toten Mannes: 1952.
Er fand Bargeld in der Brieftasche des Toten und noch mehr Geld in einer Schreibtischschublade. Billy wusste, was Bargeld war. Es war ein archaisches Zahlungsmittel, universell und austauschbar. Die Wertbezeichnungen waren verwirrend, aber im Prinzip einfach: zum Beispiel war eine Zehndollarnote zwei »Fünfer« wert.
Er blieb für eine Woche in dem Apartment. Zweimal klopfte jemand an die Tür. Aber Billy verhielt sich still und reagierte nicht. Abends sah er sich das Fernsehprogramm an. Er nahm regelmäßige Mahlzeiten ein, bis nichts mehr im Kühlschrank zu finden war. Er saß am Fenster und betrachtete die Leute, die auf der Straße vorbeigingen.
Er versteckte seine Rüstung unter dem Bett. So verwundbar Billy sich auch ohne die Rüstung fühlte, so sehr wäre er darin aufgefallen. Er vermutete, dass er sie unter seiner Kleidung hätte tragen können und damit nur ein wenig seltsam ausgesehen hätte, aber das war nicht der Punkt. Er war nicht hierhergekommen, um die Rüstung zu tragen. Er hatte vor, die Rüstung überhaupt nicht mehr zu tragen… sie zumindest nur noch zu tragen, wenn er es musste, wenn die seltsamen Bedürfnisse seines veränderten Körpers es forderten. In einem Monat vielleicht. In zwei Monaten. In sechs. Nicht jetzt jedenfalls.
Als nichts mehr zu essen vorhanden war, steckte Billy alles Geld ein und verließ das Haus. Er ging drei Straßen weit bis zu einem »Lebensmittelladen« und fand sich in einem Paradies mit frischem Obst und Gemüse wieder. Es gab dort mehr von diesen Dingen, als er jemals an einem Ort gesehen hatte. Benommen wie er war, kaufte er drei Orangen, einen Kopfsalat und ein Bündel hellgelber Bananen. Er reichte dem Kassierer einen lappigen Bargeldzettel und war völlig verblüfft, als der Mann stöhnte: »Das kann ich nicht wechseln! Mein Gott!« Wechseln in was? Aber Billy suchte in seiner Tasche nach einem kleineren Geldwert, der sich als annehmbar erwies, und er begriff das Problem, als der Kassierer ihm ein neues Bündel Scheine und Münzen zurückgab: sein »Wechselgeld«.
Worte, dachte Billy. Was sie hier sprachen, war Englisch, aber recht seltsames.
Er erwarb sein neues Leben durch Diebstahl.
Der Wächter, ein Zeitreisender, hatte den ganzen Wohnblock über dem Keller besessen, der den Tunnel enthielt. Die Urkunden steckten in einem Archivschrank im Schlafzimmer. Jahrelang hatte der Zeitreisende das Gebäude als Tarnung benutzt; die meisten Apartments waren leer. Billy gab sich selbst als »neuen Manager« aus und nahm die monatlichen Mietschecks an. Die Scharade war lächerlich einfach. Es gab keine Familie, die um den Toten trauerte, keine Geschäftspartner, die sich nach ihm erkundigten. Beim Überprüfen der Dokumente erfuhr er, dass der Zeitreisende sein Gewerbe unter dem Namen Hourglass Rentals betrieben hatte, und Billy durchschaute die örtlichen finanziellen Praktiken ausreichend, um Bankeinzahlungen und -abhebungen zu manipulieren und die Steuern termingerecht zu entrichten. Hourglass Rentals hatte nicht genug Einnahmen, um die Schulden abzudecken, doch die Geldmenge, die auf dem Firmenkonto lag, war atemberaubend — sie genügte, um Billy für den Rest seines Lebens mit Nahrungsmitteln und einer Unterkunft zu versorgen. Nicht nur das, sondern die Verwaltung dieser Einkommensquelle war so ausgelegt, dass ein Einzelner sie ohne Hilfe bewältigen konnte — eine Stunde Papierkrieg pro Abend, nachdem Billy die Grundlagen der Buchhaltung beherrschte und gelernt hatte, welche Lügen er dem Finanzamt, der Stadtverwaltung und den Versorgungsfirmen erzählen musste. Ende 1952 hatte Billy sich als Hourglass Rentals fest etabliert.
Es gefiel ihm sehr gut, das Leben eines Einzelgängers zu führen. Billy war ein Einzelgänger.
Er vermutete, dass die Rüstung ihn dazu gemacht hatte. Er wusste, dass die Infanteriechirurgen ihn von der Rüstung abhängig gemacht hatten — dass er ohne sie weniger war als ein normales menschliches Wesen. Sexuell war Billy ein unbeschriebenes Blatt. Er erinnerte sich an eine Zeit, als er den Wunsch gehabt hatte, eine Frau zu berühren — damals, in seiner kurzen Jugend, ehe er präpariert worden war, als das physische Bedürfnis gebrannt hatte wie ein verzehrendes Feuer —, aber das war schon lange her. Jetzt brannte nichts mehr in ihm als sein Bedürfnis nach der Rüstung. Nun sah er ständig Frauen: Frauen im Fernsehen, Frauen auf den Straßen, Bankangestellte, Sekretärinnen, Frauen, die man für Geld haben konnte. Gelegentlich sahen sie ihn an. Ihre Blicke blieben nie lange auf ihm. Billy nahm an, dass etwas an ihm war, das sie spüren konnten — eine Leere, eine Zurückweisung, eine Trägheit der Seele.
Es machte ihm nichts aus. Im verschneiten Januar des Jahres 1953 hatte Billy sich ein Leben eingerichtet, mit dem er zufrieden war.
Die Infanterie und die Sturmzone waren in weiter Ferne, desgleichen die Aussicht auf einen unmittelbar bevorstehenden Tod oder ein Kriegsgerichtsverfahren. Er hatte keinen Hunger, und ihm drohte keine physische Gefahr. Wenn er aufhörte, darüber nachzudenken, kam er sich fast ein wenig vor wie im Paradies.
War er hier glücklich? Billy konnte es nicht entscheiden. Die meisten Tage verstrichen in seligem Vergessen, und dafür war er dankbar. Aber es gab Augenblicke, da spürte er eine zermürbende, quälende Einsamkeit. Dann erwachte er mitten in der Nacht in einer Stadt, die mehr als ein Jahrhundert von seinem Zuhause entfernt war, und diese unvorstellbare Distanz war wie ein bohrender Pfeil in seinem Herzen. Er dachte an seinen Vater, Nathan. Er versuchte sich an seine Mutter zu erinnern, die gestorben war, als er noch klein war. Er dachte über sein Leben hier im Exil nach, gestrandet auf dieser Insel, Manhattan, zwischen Leuten, die schon hundert Jahre tot waren, als er geboren wurde. Er dachte über sein Leben inmitten dieser Gespenster nach. Er dachte an Zeit, an Uhren. Uhren, genauso wie Worte, funktionierten hier etwas anders. Billy war an Uhren gewöhnt, die Zeit zählten und sie mit Cursors markierten, lineare Abschnitte eines linearen Phänomens. Hier waren die Uhren rund und symbolhaft. Zeit war ein Bereich, der in Kreisen erfasst wurde.
Zeit und Worte. Jahreszeiten. In diesem Januar geriet Billy in einen Schneesturm, der den Busverkehr auf Kriechtempo herunterbremste. Müde und durchkühlt entschied er, lieber in ein Hotel zu gehen, als den Weg nach Hause zu Fuß zurückzulegen. Er fand ein billiges Hotel und fragte den Angestellten an der Rezeption nach einem Zimmer mit einer Dirne. Der Angestellte reagierte mit einem seltsamen Lächeln und sagte, dafür würde er schon selbst sorgen müssen — er empfahl dazu eine Bar ein paar Straßen weiter. Billy verbarg seine Verwirrung und nahm trotzdem das Zimmer, dann begriff er, dass das Wort »Dirne« im Jahre 1953 eine andere Bedeutung haben musste. Das gesamte Zimmer, das ganze Hotel war geheizt. Wahrscheinlich war jeder Raum in der Stadt erwärmt, sogar die öffentlichen Kundenhallen der Banken und die Vorhallen der Wolkenkratzer, und das den ganzen bitteren Winter hindurch. Es fiel ihm schwer, diese Tatsache zu verarbeiten. Als er das Prinzip endlich begriff, war er von seiner Unwissenheit völlig überwältigt und benommen.
In seinem Hotel schlafend, träumte Billy von all der Wärme… Wärme von hundert Sommern, wie sie von dieser und einem Dutzend anderer ähnlicher Städte aufstieg, jahrzehntelang in unsichtbaren Wolkenbänken gespeichert worden war und sich schließlich zu einer endgültigen Vernichtung der Jahreszeiten herabsenkte.
Er träumte von Ohio und von einer Farm in der Wüste dort.
Das Bedürfnis nach der Rüstung war anfangs unaufdringlich, kaum das Aufflackern einer Sehnsucht, etwas, das er ignorieren konnte — einstweilen jedenfalls.
Die Rüstung, mit abgeschalteter Energie und Sensorfeldern, lag in der Kiste, die Billy für sie ausgesucht hatte, wie Stoff aus irgendeinem märchenhaften Modeladen. Sie sah aus wie gesponnenes Gold, obgleich sie nicht aus richtigem Gold bestand. Sie war aus komplizierten Polymolekülen gewebt, die in den großen Waffenherstellungskollektiven an der Ostküste angebaut wurden. Einige Teile waren elektronischer Natur, andere konnten als lebendig gelten.
Die Infanterieärzte hatten Billy erklärt, dass er ohne seine Rüstung sterben müsse — dass er ohne die lebenswichtigen Neurochemikalien, die im Deckflügel erzeugt wurden, verrückt würde. Billy war sich darüber im Klaren, dass er ohne die Rüstung langsam, träge, schläfrig und geschlechtslos war. Aber das ertrug er — in gewisser Weise war dieser Zustand sogar beruhigend. Sechs Monate lang wanderte er durch die Stadt, die Augenlider schwer und halb geschlossen und den Mund zu einem leeren, berauschten Lächeln verzogen.
Dann setzte die Not ein.
Zuerst war es nur ein kribbelndes Unbehagen, ein Stechen und Prickeln in seinen Fingern und Zehen. Billy ignorierte es und ging weiterhin seinen Geschäften nach.
Dann wurde aus dem Kribbeln ein Jucken, aus dem Jucken ein schmerzhaftes Brennen. Die Haut in seinem Gesicht fühlte sich wie straff gespannt an, als wäre sie zurückgezogen und an seinem Haaransatz vernäht worden. Er erwachte im bitterkalten Spätwinter dieses Jahres mit der beunruhigenden Empfindung, dass er die Öffnungen und Konturen seines eigenen Schädels unter der Haut spüren konnte. Er hatte ständig Durst, aber Leitungswasser schmeckte in seinem Mund sauer und brannte in seinem Hals, wenn er es schluckte. Er erlebte plötzliche Anfälle von Panik, von irrationaler Angst vor Höhe, vor weiten Räumen, vor Krankheiten.
Er wusste, woher das alles rührte.
Die Rüstung, dachte Billy.
Die glatte und tödliche Rüstung.
Er wollte sie, oder sie wollte ihn… Billy neigte zur letzteren Erklärung.
Dieses Unwohlsein, diese Schmerzen, diese Schwindelanfälle: Sie waren der Ruf der Rüstung aus ihrer Kiste unter dem Bett.
Billy widerstand.
Er fürchtete sich vor dem, was die Rüstung wünschen könnte.
Nun, er wusste, was sie wollte. Sie wollte Bewegung. Licht, Wärme. Sie wollte zum Leben erweckt werden. Sie wollte das Wesen sein, das Billy war, wenn er sie trug, ein mächtiger Albtraum-Billy, bereit, gerufen und entfesselt zu werden.
Er träumte, dass er ein Hund war, der im fahlen Lichtschein des Erntemondes Kaninchen in einem Weizenfeld jagte. Er träumte davon, die Wirbelsäule des Kaninchens mit seinen scharfen Zähnen zu zerbrechen, und von dem Schwall warmen Kaninchenbluts auf seiner Schnauze.
Er träumte von der Rüstung. Die Rüstung war nun in all seinen Träumen vorhanden. Ihr Funkeln war wie ein Aufblitzen am Rand seines Gesichtskreises. Er konnte es nicht ertragen, seinen Blick direkt darauf zu richten. Genauso wie die Sonne könnte es ihn blenden — und wie die Sonne war es ständig da.
In einigen Nächten träumte er von Ohio und schwitzte und fröstelte.
Im Wesentlichen waren Billys Kindheitserinnerungen voller Sonnenschein. Er war in einer ländlichen Stadt namens Oasis aufgewachsen. Sie war eine jener Ackerbaukollektive, die an den Bewässerungskanälen entstanden waren, die das Wasser aus den Großen Seen nach Süden transportierten. In einem Anflug von Optimismus während der trockenen Fünfzigerjahre gegründet und von einem Konsortium von Lebensmittelgroßhändlern in Detroit verwaltet, hatte die Stadt einiges von ihrem Bürgersinn in den schwierigen Jahrzehnten danach verloren. Aber wenn man dort aufwuchs, dann bemerkte man es nicht. Für Billy war es nur irgendein Ort.
Er hatte wenige Erinnerungen an diese Zeit. Er entsann sich des Himmels, einer dunstig blauen Unendlichkeit, die so groß und grenzenlos erschien wie die Zeit selbst. Er erinnerte sich an das Wunder des Wassers, Wasser, das aus Sprinklerköpfen hochsprühte, die in den sich durch die Felder windenden Erdgräben steckten — Wasser, das auf Tausende von Morgen frischer grüner Blätter herabregnete. Die Stadt baute Weizen und Kohl und Grünkohl und Alfalfagras und einen ganzen Flickenteppich anderer Pflanzen an. Zweimal hatte Billy auf den großen Kultivierungsmaschinen mitfahren dürfen. Es hatte ihn mit Stolz und Freude erfüllt, neben seinem Vater im Krähennest zu sitzen, Herrscher über all das Grün und den stauberfüllten blauen Himmel. Er erinnerte sich an einen heißen Sommer, als ein Arbeitsbataillon vom AgService erschien, um Vorrichtungen aufzustellen, die sie »UV-Schirme« nannten — riesige Flächen einer fast unsichtbaren Folie, die an Pfählen befestigt und mit schweren Stahlkabeln verankert wurden. Ein paar Tage lang war es kühler auf den Feldern, und die Klinik meldete einen Rückgang an Sonnenstichen. Aber dann geschah, was Billys Vater vorausgesagt hatte: Ein heißer Wind blies von Westen, und die UV-Folie wurde aus ihren Halterungen gerissen. Sie ballte sich zusammen und blieb zwischen den Pflanzen hängen wie ein Zellophanknäuel, das von einem Riesen gedankenlos weggeworfen worden war. Weite Flächen Winterweizen wurden umgeknickt und verdarben. Als er die beschädigten Felder betrachtete, hatte Nathan Billy erschreckt, indem er auf die Knie sank.
Billy hatte Nathan als einen großen Mann in Erinnerung, imposant, bärtig, großzügig, häufig still und zutiefst unglücklich. Sein Vater verfolgte ständig die Nachrichten auf dem großen Bildschirm im Bürgerzentrum. Und Billy vermutete, dass Nathan es war, der diese anderen Nachrichten empfing, Datenschübe im Mikrowellenbereich, die nicht von den amtlichen Informationsdiensten weitergegeben wurden. Vorwiegend Nachrichten über die Aktivitäten von Rekrutierungsbataillonen im Mittelwesten.
Alle zwei oder drei Jahre kamen die Rekrutierungstrupps nach Oasis. Nathan sagte, sie seien wie die Heuschrecken in der Bibel, eine Plage. Sie übernachteten in den Arbeiterbaracken, blieben ein paar Tage, ließen vielleicht einige der leichter zu beeindruckenden Mädchen mit einem Baby im Bauch zurück. Und wenn sie in ihren großen Hovertrucks davonfuhren, nahmen sie ein paar Wehrpflichtige mit — Jungen, die kaum alt genug waren, um sich zu rasieren.
Nathan und der Stadtrat erhielten gewöhnlich eine Warnung, wenn die Bataillone kamen, und hatten Zeit genug, um die Geburtslisten der Stadt zu frisieren — um gewisse Dokumente verschwinden zu lassen oder hinzuzufügen. Diejenigen, die am ehesten als Rekruten taugten, wurden in einem Vorratskeller unter dem Maschinenschuppen versteckt, und die Frauen brachten ihnen heimlich etwas zu essen. Die Bataillone beklagten sich über die magere Ausbeute und überprüften manchmal die städtischen Computer auf vorgenommene Manipulationen… aber wenn man sie ausreichend betrunken machte, sagte Nathan, dann machten sie sich bald wieder aus dem Staub.
Doch wenn sie ohne Vorwarnung erschienen — wenn sie die unerlaubt betriebenen Relaisstationen auf ihrem Weg nach Westen zerstört hatten —, dann holten sie sich, was sie wollten.
Billy erinnerte sich an den Sommer, als die Nachrichten aus der Sturmzone sehr schlecht waren, ungeheure Verluste in der Karibik, die Besatzungstruppen fast zerschlagen. In diesem Sommer tauchte die Infanterie ohne Vorwarnung auf. Eine Phalanx schwarzer Luftkissenfahrzeuge erschien und wirbelte eine Staubwolke auf, die den Sonnenuntergang bis hinunter nach Sandusky grau färbte. Billy erinnerte sich an das Gesicht seines Vaters, als er auf einen Erdwall kletterte und die grauschwarze Kolonne von Westen herankommen sah: Entsetzen, so greifbar wie eine schwere Last auf den Schultern.
Er wandte sich zu Billy um und sagte: »Lauf zum Maschinenschuppen. Schnell!«
Es war das erste Mal, dass Billy alt genug war, um sich mit den anderen Jungen zu verstecken. Es hätte richtig aufregend sein können — aber diesmal lagen die Dinge etwas anders. Diesmal hatte er die Angst seines Vaters gesehen.
Der Keller war heiß und roch nach alter Baumwollsaat und nach Jute. Er kauerte dort mit einem Dutzend anderer Jungen. »Ich komme dich holen«, hatte Nathan versprochen, »wenn die Infanterie abgezogen ist«, und die Worte hatten ihn ein wenig beruhigt. Aber es war nicht Nathan, der kam.
Er sah Nathan nie wieder.
Es war ein Soldat, der erschien.
Ein Infanterist. Billy erwachte blinzelnd und verwirrt in den zeitlosen Tiefen der Kellernacht, aufgeschreckt durch den Klang von Schritten. Der Infanterist stand in der Tür und schaute lächelnd auf sie herab. Sein Name, so sagte er, sei Krakow. Er trug seine Rüstung — eine Kommandobrustplatte, die goldfarben leuchtete. Billy blickte voller Ehrfurcht zu ihm hoch, als Krakow seine Brust berührte. »Das ist meine Rüstung«, sagte er. »Das ist der Teil, den man sehen kann. Einiges davon ist in meinem Innern. Meine Rüstung weiß, wer ich bin, und im Augenblick läuft sie nicht mit voller Energie. Aber wenn ich sie einschalten würde, könnte ich euch alle töten, ehe ihr auch nur Zeit fandet zu blinzeln. Und es würde mir Spaß machen.«
Billy zweifelte nicht daran, dass dies der Wahrheit entsprach. Krakow strich mit seinen Fingern über die spiegelhelle Oberfläche der Brustplatte, und Billy fragte sich, wie er die Rüstung wohl einschaltete — er hoffte, dass Krakow es nicht aus Versehen tat.
»Meine Rüstung ist mein bester Freund.« Krakows Stimme klang sanft, vertrauenerweckend. »Die Rüstung eines Infanteristen ist immer sein bester Freund. Deine Rüstung wird auch dein bester Freund sein.«
Billy wusste, was das bedeutete. Es bedeutete, dass er sein Zuhause verlassen würde.
Zusammengekauert im schützenden Bauch seiner Wohnung, aß Billy Thunfisch aus der Dose, verfolgte das Fernsehprogramm und war nächtelang wach, fröstelte und lauschte dem Schneeregen, der gegen das Fenster prasselte. Seine Temperatur stieg. Seine Gelenke schmerzten, sein Körper fühlte sich an, als sei ihm die Haut abgezogen worden. Billy erduldete es, bis es unerträglich wurde. Er wunderte sich, wie deutlich dieser Moment wahrzunehmen war. Es war wie der Schritt eines zweiten Zeigers auf der Scheibe einer Uhr, ein einziger Gedanke. Nicht mehr.
Er holte die Kiste unter dem Bett hervor und öffnete sie.
Die goldene Rüstung lag darin — all ihre großen und kleinen Teile.
Billy erinnerte sich an den Katechismus seiner Ausbildung.
Sir, das ist meine Rüstung, Sir.
Sir, diese sind die Teile, die Deckflügel genannt werden. (Wie Tuch, golden, nur starr, wenn bei hoher Geschwindigkeit aufgespannt. Hier und da ausgebeult durch Instrumente, Energiepacks, Recheneinheiten.)
Sir, das sind die Armstücke, Sir, die Halfter genannt werden. (Sie schmiegen sich an seine Haut. Sie fühlen sich warm an.)
Sir, das sind die Beinstücke, die Setae genannt werden. (Sie legen sich um seine Oberschenkel.)
Sir, diese Kontrollen auf der Platte steuern das Stilett und die Lanzette, die die Rüstung mit meinem Körper verbinden. (Mit der Leber, mit dem Rückgrat, mit dem Hohlraum der Aorta.)
Hohle Mikropipetten dringen ein, nass von einem Kontaktbetäubungsmittel.
Bewegung unter seiner Haut.
Es fühlte sich merkwürdig an.
Sir, dieser Schalter aktiviert die Lanzette.
Aha.
Er wanderte wie ein Geist durch die schneebedeckten nächtlichen Straßen.
Er trug weite Kleidung über seiner Rüstung, einen langen grauen Mantel und einen breitkrempigen Hut, um sein Gesicht zu verbergen.
Er ging vorbei an verschneiten Lampenmasten und den blinkenden Verkehrsampeln. Nach Mitternacht, vor dem Morgengrauen, 1953.
Er war geschmeidig und stark und völlig unbesiegbar.
Er war berauscht von seiner eigenen verborgenen Kraft und benommen von dem Bedürfnis, ein menschliches Wesen zu töten.
Er widerstand dem Drang nicht, sondern er quälte sich damit. Die Straßen waren leer, und der Schnee fiel in trockenen, eisigen Graupeln. Der Wind spielte mit dem Saum seines kreidegrauen Mantels und löschte seine Fußabdrücke hinter ihm aus. Die wenigen Fußgänger, die er sah, stemmten sich gegen den Wind und huschten vorbei wie Käfer auf der Suche nach einer schützenden Behausung. Er folgte einem, hielt sich in sicherer Entfernung von ihm, bis der Mann in einem Mietshaus verschwand. Billy erreichte den kleinen Vorbau des Eingangs… blieb lange in der winterlichen Dunkelheit stehen… und ging dann weiter.
Er suchte sich ein anderes mögliches Opfer, einen kleinen Mann, der vom Lichtstrahl eines Autoscheinwerfers erfasst wurde. Billy verfolgte ihn zwei Straßen weit nach Osten, aber er gestattete auch diesem, hinter einer Tür zu verschwinden.
Keine Eile. Er fühlte sich warm in seiner Rüstung. Er war zufrieden. Sein Herz schlug in seiner Brust mit der beruhigenden Regelmäßigkeit einer sorgfältig justierten Maschine.
Er lächelte einen Mann an, der mit einer Papiertüte unter dem Arm aus einer die ganze Nacht geöffneten Imbissbude heraustrat. Dieser? Ein hochgewachsener Mann, unausgeschlafen, mit rot geränderten Augen, misstrauisch, ein billiger Tuchmantel; kein reicher Mann, wuchtige Arme und Brust: wahrscheinlich ein starker Mann.
»Eine schlimme Nacht«, sagte Billy.
Der Mann zuckte die Achseln, lächelte unsicher und drehte sich dann in den Wind.
Jawohl, dieser, dachte Billy.
Billy erwischte ihn mit seinem Handgelenkstrahler in einer Gasse einen halben Block entfernt.
Der Tötungsvorgang dauerte zwanzig Sekunden, aber er war etwas, das einem Orgasmus am nächsten kam, seit er durch den Tunnel aus der Zukunft hierhergekommen war. Eine kurze und selige Entladung.
Er bearbeitete den Körper mit einem Messer, um die Kauterisierung der Wunden zu verbergen. Dann nahm er dem Mann die Brieftasche ab, damit sein Tod aussah wie ein Raubüberfall.
Die Brieftasche warf er in eine Mülltonne in der Eighth Street. Das Geld — fünf Dollar — nahm er mit nach Hause und spülte es durch die Toilette hinunter.
Erleichtert und seine neue Lebendigkeit in der Dunkelheit seiner Wohnung genießend, trennte Billy sich von seiner Rüstung und legte sie zusammengefaltet in ihre Kiste. Als der Morgen graute, waren die Wolken weitergezogen. Eine winterliche Sonne ging über der verschneiten Stadt auf. Billy duschte und durchforstete den Kühlschrank. Er hatte während der letzten Wochen ziemlich viel Gewicht verloren, aber nun war sein Hunger heftiger denn je. Er war wirklich sehr hungrig.
Gegen Mittag ging er zu Bett. Er erwachte in der Dunkelheit und entdeckte bei sich etwas Neues. Er verspürte Bedauern.
Seine Gedanken kehrten zu dem Mann zurück, den er getötet hatte. Wer war er gewesen? Hatte er allein gelebt? Untersuchte die Polizei diesen Mord?
Billy hatte sich Polizeiberichte im Fernsehen angesehen. Im Fernsehen fand die Polizei immer den Mörder. Billy wusste, dass dies eine gesellschaftliche Fiktion war. Im wahren Leben kam genau das Gegenteil der Wahrheit vermutlich viel näher. Dennoch — Fiktion oder nicht —, die Möglichkeit belastete ihn.
Er entwickelte neue Ängste. Plötzlich kam ihm der Tunnel im Keller in den Sinn. Er hatte den Tunnel an beiden Enden verschlossen. Laut Ann Heath, der toten Frau mit dem Glaskeil im Kopf, garantierte dieser Akt seine Sicherheit. Niemand würde aus der Zukunft kommen und auf ihn Jagd machen. Kein Zeitgespenst würde ihn verschleppen. Der Tunnel war trotz allem nur eine Maschine. Eine seltsame und beinahe unverständliche Maschine, gab Billy im Stillen zu, aber auch eine machtlose Maschine — unerreichbar.
Trotzdem machte es ihn nervös.
Täglich unternahm er einen Rundgang durch den Keller. Er betrachtete dies als »Überprüfen der Ausgänge«. Die Stadt New York und die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts waren in Billys Vorstellung ein ganz privater Ort, eine willkommene Zuflucht geworden. Die Eingeborenen mochten lästig sein, aber sie waren nicht ernsthaft gefährlich. Die wahren Gefahren lauerten woanders, hinter den Trümmern, wo der Tunnel gewesen war. Billy türmte die Trümmer noch höher auf und baute am Fuß der Treppe eine Tür ein. An der Tür befestigte er ein teures Vorhängeschloss. Falls — durch irgendeinen Zauber — der Tunnel sich selbst reparierte, müsste jeder Eindringling diese Sperren überwinden. Wenn Billy das Schloss aufgebrochen oder die Tür eingeschlagen vorfand, dann hieße das, jemand war in sein Heiligtum eingedrungen… Es würde bedeuten, dass das zwanzigste Jahrhundert nicht mehr ihm allein gehörte.
Der Aufwand beruhigte ihn. Dennoch machte seine Nähe zum Durchgang ihn nervös. Es fiel ihm in einigen Nächten schwer, ruhig zu schlafen bei dem Gedanken an jenen Zeitbruch, der im Fels einige Meter unter dem Fußboden verborgen war. Ab dem Sommer 1953 entschied Billy, dass seine allnächtliche Anwesenheit in diesem Gebäude nicht mehr erforderlich war — dass er sich ein paar Straßen weiter eine Wohnung nehmen konnte, ohne Schaden anzurichten.
Er mietete ein Apartment auf der anderen Seite des Tompkins Square, drei Straßen entfernt. Es unterschied sich nicht sehr von seinem ersten Apartment. Der Fußboden bestand aus schadhaftem, altem Parkett. Billy deckte es mit einem billigen Teppich zu. Die Fenster hatten gelbe Springrollos und waren verstaubt. Kakerlaken hausten in den Rissen und Spalten der Wandbretter, und sie wagten sich des Nachts heraus. Und es gab dort einen tiefen Wandschrank, wo Billy seine Rüstung in ihrer Kiste aufbewahrte.
Sein Leben zerfiel zu einer Reihe simpler Gewohnheiten. Jede Woche, manchmal auch öfter, legte Billy die kurze Entfernung zwischen den beiden Häusern zurück — oder, wenn er ruhelos war, machte er einen langen Spaziergang durch die Stadt —, um die Miete zu kassieren und die Ausgänge zu kontrollieren.
Die Miete traf oft verspätet ein, und manchmal zahlten seine wenigen Mieter überhaupt nicht. Aber das war nicht so wichtig. Wichtig war lediglich, dass das Vorhängeschloss im Keller nicht aufgebrochen war — ein Punkt, der immer beruhigender wurde, als die Jahre verstrichen.
Zeit, dachte Billy oft und ließ das Wort durch seine Gedanken wandern. Zeit: kleine Kreise aus Tagen und das große Rad der Jahreszeiten. Jahreszeiten verstrichen. In den Fernsehnachrichten — wobei er genauso aufmerksam vor seinem kleinen Westhinghouse-Fernseher saß wie Nathan damals das Geschehen auf dem großen Bildschirm im Bürgerzentrum verfolgt hatte — erfuhr er eine ganze Reihe von Namen: Eisenhower, Oppenheimer, Nixon; und von Orten: Suez, Formosa, Little Rock. Er zählte die Jahre, obgleich die Zahlen immer noch unlogisch erschienen, eins-neun-fünf-vier, eins-neun-fünf-fünf, eintausendneunhundertsechsundfünfzig Jahre nach einer Kreuzigung, die Billy genauso lächerlich unwirklich erschien wie der Untergang Roms, der Friedensvertrag von Gent oder die Army-McCarthy-Hearings.
Seine Rüstung rief ihn weiterhin aus ihrem Versteck, eine dünne Stimme, die manchmal schrill und unerträglich wurde.
Das Bedürfnis schien sich nach den Jahreszeiten zu richten, ein Widerspruch, den Billy nicht richtig begriff. Zwei Tötungen pro Jahr, im Winter und im Sommer, in dunklen oder mondhellen Nächten, so unwiderstehlich wie Ebbe und Flut. Und auf jede Tötung folgte tiefes Bedauern, dann Taubheit, dann Wochen stumpfen Dahinlebens… und die Not meldete sich wieder.
Neunzehnhundertachtundfünfzig, -neunundfünfzig, -sechzig.
Nixon in Moskau, Sit-ins in Greensboro, Kennedy im Weißen Haus mit nur wenigen Stimmen Vorsprung.
Billy wurde älter. Ebenso die Rüstung — aber er versuchte, nicht daran zu denken.
Er versuchte, an viele Dinge nicht zu denken, vor allem heute, an diesem Tag, während er die Ausgänge überprüfte: im Frühsommer 1962, in einer warmen Nacht, die ihn an Ohio erinnerte.
Billy trat durch die knarrende Tür des alten Gebäudes unweit des Tompkins Square, wo der Zeitreisende früher gewohnt hatte und wo jetzt niemand mehr lebte außer ein paar alten Zeugen der Vergangenheit.
Er hatte eine seltsame Zuneigung zu diesen Leuten entwickelt, menschlicher Schutt, zu zerbrechlich oder zählebig, um ein Gebäude aufzugeben, das er um sie herum hatte verfallen lassen. Zwei von ihnen hatten schon lange dort gelebt, ehe Billy aufgetaucht war — ein arthritischer alter Mann namens Shank im vierten Stock und eine zuckerkranke Rentnerin im zweiten. Mrs. Korzybski, die Rentnerin, vergaß manchmal, ihre Medizin zu nehmen, und irrte dann im Delirium eines Insulinschocks auf der Straße herum. Das war einmal passiert, als Billy die Ausgänge kontrollierte, und er hatte die Frau ins Haus gebracht. Dabei hatte er seinen Generalschlüssel benutzt, um ihre Wohnungstür zu öffnen, die die Frau aus irgendeinem Grund hinter sich abgeschlossen hatte. Er sah es nicht so gerne, wenn die Polizei oder ein Krankenwagen zu dem Haus kamen, daher hatte er in den Küchenschubladen zwischen den Dosen mit Katzenfutter und dem Besteck und vergilbten Fotografien herumgesucht, bis er ihr Spritzbesteck für die Insulininjektionen fand. Mit der Spritze injizierte er dann eine genau bemessene Dosis Insulinlösung in die Beuge ihres schlaffen Arms. Als sie wieder zu sich kam, bedankte sie sich bei ihm. »Sie sind nett«, sagte sie. »Sie sind viel netter, als Sie aussehen. Wie kommt es, dass Sie so gut mit der Spritze umgehen können?«
»Ich war mal in der Armee«, sagte Billy.
»In Korea?«
»Richtig, in Korea.«
Er hatte Korea im Fernsehen gesehen.
Sie sagte, sie sei froh, dass sie jetzt die Miete wieder pünktlich zahlen könne, und wie es käme, dass schon lange keine neuen Leute mehr eingezogen seien? »Seit dieser Mr. Allen Hausverwalter war. Es wird immer einsamer.«
»Ich vermute, niemand scheint eine Wohnung mieten zu wollen.«
»Seltsam. Da höre ich aber etwas ganz anderes. Vielleicht sollten Sie mal renovieren.«
»Eines Tages«, erklärte Billy ernst, »steht hier sowieso alles unter Wasser.«
Wenn er jetzt das Haus aufsuchte, dann nur noch nachts, wenn Mrs. Korzybski schlief. Heute Abend war ihre Wohnung dunkel. Alle anderen ebenfalls, bis auf Nummer 403: Arnos Shank, der von einer Betriebsrente der H. J. Heinz Company in Pittsburgh lebte. Mr. Shank war nach New York gekommen auf der Suche nach einem Verleger für sein episches Gedicht Ulysses an der Elbe. Die Verlagswelt hatte ihn bisher enttäuscht, aber Mr. Shank redete noch immer gern über das Werk — drei dicke Bände Pergamentpapier, die mit Gummiband zusammengehalten wurden —, das immer noch nicht abgeschlossen war. Mr. Shank ließ ständig das Licht brennen für den Fall, dass ihm mitten in der Nacht eine Inspiration kam… aber Mr. Shank schlief sicherlich auch schon. Jeder in Billys Haus war einsam und schlief.
Jeder, außer Billy.
Er pfiff eine Melodie und trat durch den Eingang. Die Farbe an den Wänden war schon vor langer Zeit abgebröckelt. Die Spiegelwand an der Treppe war blind und fleckig, und einige Bodenfliesen hatten sich an den Ecken hochgewölbt wie welkes Laub. Billy ging direkt hinunter in den Keller.
Auf der Treppe, die nach unten führte, war die Luft warm und schal. Diese alten Holzstufen waren in der feuchten Luft rissig geworden. Ruhig und bei matter Beleuchtung ging Billy an der bizarren und wenig wirksamen Ölheizung mit ihren vielen Heizungsrohren und dem ächzenden Heißwasserboiler vorüber, dann weiter durch eine neutrale Tür und tiefer hinunter, vorbei am Vorratskeller mit seinen limonengrün gestrichenen Wänden und den verrosteten Farbeimern, bis zu der Tür, die er mit einem stabilen Yale-Vorhängeschloss gesichert hatte. Die Beleuchtung war schwach — die Beleuchtung hier war immer schwach. Billy holte das verchromte Zippo-Feuerzeug aus der Gesäßtasche.
Er fühlte sich hier unten, in direkter Nähe des Tunnels, sehr seltsam. Er hatte große Angst empfunden, als ihm das erste Mal klar geworden war, wie unendlich groß dieses Gewirr zeitlicher Brüche wirklich war — was es bedeutete und welche Folgen es für ihn haben konnte. Er konnte nicht an den Tunnel denken, ohne sich die Wesen vorzustellen, die ihn gebaut hatten… Wesen, das wusste Billy, die nahezu allmächtig waren, sodass man sie durchaus Götter nennen konnte. Und er erinnerte sich, was er in diesem Tunnel an dem Tag gesehen hatte, als er hier angekommen war, etwas noch Seltsameres als die gottgleichen Zeitreisenden, ein Wesen, so hell und heiß wie eine lodernde Flamme.
Er betätigte das Rad des Zippo. Es brauchte bald einen neuen Feuerstein, dachte Billy.
Er hielt die Flamme dicht an das Vorhängeschloss — dann atmete er zischend aus und wich zurück.
Mein Gott! Nach all den Jahren!
Das Schloss war aufgebrochen worden!
Billys erster Gedanke galt Krakow, der an dem Tag, als er eingezogen worden war, von einer anderen Tür auf ihn herabgesehen hatte. In diesem Moment hatte er das gleiche Gefühl: Er war in seinem Versteck aufgestöbert worden.
Er war wehrlos, waffenlos, und die Wände waren viel zu nahe, zu eng.
Er fasste sich an den Hals, tastete automatisch nach der Brustplatte, nach der Kontaktfläche, die seine Rüstung aktivierte — aber die Rüstung lag zu Hause.
Er wich von der Tür zurück.
Jemand war hier gewesen! Jemand suchte nach ihm!
Er überlegte, ob er nach oben gehen, Mrs. Korzybski aus dem Schlaf hochscheuchen, Amos Shank aus seiner Wohnung herauszerren sollte, ob er auf sie einschlagen sollte, bis sie ihm erzählten, wer ins Haus gekommen und wer gegangen war. Aber es war möglich, dass sie es nicht wussten. Es war sogar wahrscheinlich. Sicherlich hatte niemand etwas gesehen.
Ich brauche Hilfe, sagte Billy sich. Das Gefühl einer drohenden Gefahr legte sich um ihn wie eine Schlinge. (Ich bin nicht mehr allein!) Er steckte das Feuerzeug in die Tasche, stieg die Treppe hinauf und verließ das Gebäude.
Er stand allein in der Dunkelheit der Straße, während seine Augen die scharfkantigen Schatten zwischen den Mietskasernen absuchten.
Er eilte davon und mied die Nähe der Straßenlaternen.
Die Rüstung, dachte Billy. Die Rüstung würde wissen, was zu tun war.
Nach der Einäscherung ihrer Großmutter Peggy Simmons, die viele Jahre draußen an der Post Road gewohnt hatte und vor einer Woche im Schlaf gestorben war, fuhr Catherine Simmons nach Belltower.
Der Sommer machte aus Belltower eine hübsche kleine Stadt, zumindest wenn der Wind nicht von der Fabrik herüberwehte. Catherine kannte die Stadt von ihren vielen Besuchen. Sie hatte keine Schwierigkeiten, das Bestattungsunternehmen, Carstairs Funeral Home, in einer Seitenstraße der Brierley zwischen einem Antiquitätenladen und einem Fachgeschäft für Schiffszubehör zu finden. Sie parkte und blieb ein paar Minuten lang in ihrem Honda sitzen — sie war zu früh zu dem vereinbarten Termin erschienen.
Grandma Peggys Herzinfarkt war völlig unerwartet gekommen, und die Nachricht von ihrem Tod war noch immer unbegreiflich. Von allen Angehörigen von Catherines Familie schien Grandma Peggy am ehesten zum festen Inventar zu gehören. Sie war auf jeden Fall die Solideste und Lustigste des ganzen traurigen Vereins. Aber Grandma Peggy war tot, und Catherine musste sich wohl mit dieser Tatsache abfinden.
Sie seufzte und stieg aus dem Wagen. Der Nachmittag war sonnig, und in der Luft lag der Geruch des Ozeans. Hübsche, kleine, dumme, schlecht riechende Stadt, dachte Catherine.
Es war keine Feier geplant, und es hatten sich keine weiteren Familienmitglieder der Simmons eingefunden. Catherines Vater — Grandma Peggys einziger Sohn — war 1983 an Leberkrebs gestorben, und der Rest der Familie war in alle Winde zerstreut. Nur Catherine hatte die alte Frau in den letzten Jahren häufiger besucht. Offenbar hatte Grandma Peggy sich über diese Besuche gefreut. Ihr Rechtsanwalt, Dick Parsons, hatte sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass das gesamte Anwesen Catherine hinterlassen worden war. Auch das eine erstaunliche Nachricht, die erst einmal verdaut werden musste.
Der Bestattungsunternehmer bei Carstairs entpuppte sich nicht als der düster gespenstische Geiertyp, den Catherine erwartet hatte. Er war ein breitschultriger Mann, der eher an einen Footballtrainer erinnerte. Er überreichte Catherine die bronzene Urne mit Grandma Peggys letzter Asche, und das mit einer Geste, die fast entschuldigend wirkte. »So hat Ihre Großmutter es gewünscht, Miss Simmons. Keine Feier, nichts Ernstes. Sie hatte alles schon vorher geregelt.«
»Grandma Peggy war sehr praktisch«, sagte Catherine.
»Das war sie.« Er lächelte mitfühlend. »Es wurde alles von ihrem Rechtsanwalt bezahlt. Ich hoffe, wir haben Ihnen wenigstens etwas helfen können.«
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht«, versicherte Catherine ihm. »Vielen Dank.«
Als Catherine hinausging, begegnete sie in der Vorhalle einer Frau. Sie war grauhaarig und etwa in Grandma Peggys Alter. Sie trat zu Catherine und sagte: »Ich bin Nancy Horton, eine Freundin Ihrer Großmutter. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid es mir tut.«
»Danke sehr«, sagte Catherine. Offenbar gehörte es zu einem Todesfall, dass man sich bei vielen Menschen bedankte.
»Ich kenne Peggy von vielen Einkaufstouren, die wir unternahmen. Sie fuhr immer noch Auto, müssen Sie wissen. Ich fahre nicht, wenn ich es irgendwie vermeiden kann. Sie nahm mich immer mit zum Einkaufszentrum am Highway. Gewöhnlich mittwochs. Wir unterhielten uns auch. Obgleich sie nie viel redete. Ich hab sie sehr gemocht. Sie sind sicherlich Catherine.«
»Ja.«
»Werden Sie ins Haus ziehen?«
»In Grandmas Haus? Für eine Weile. Vielleicht den Sommer über.«
»Nun, ich wohne nicht weit weg, falls Sie irgendetwas brauchen.« Sie schaute auf die Urne in Catherines Hand. »Ich habe von Feuerbestattungen keine Ahnung. Es erscheint mir so… oh, es tut mir leid. Ich sollte das nicht sagen, nicht wahr? Aber es scheint so wenig übrig zu bleiben.«
»Es ist schon in Ordnung«, sagte Catherine. »Das ist nicht Grandma Peggy. Wir haben schon lange vor ihrem Tod darüber gesprochen. Das ist nur Asche.«
»Natürlich«, sagte Nancy Horton. »Behalten Sie sie? Ach, immer meine Neugier! Es tut mir leid…«
»Grandma liebte den Wald hinter ihrem Anwesen«, sagte Catherine. »Sie bat mich, ihre Asche dort zu verstreuen.« Sie nahm die Urne schützend in die Armbeuge. »Das werde ich auch tun.«
Natürlich könnte sie das Haus nicht halten. Es war ein großes altes Haus an der Post Road und weitab von jedem Ort, an dem Catherine wohnen wollte, obgleich sie Belltower manchmal richtig gern hatte. Sobald das Testament eröffnet worden war, würde sie wahrscheinlich das Grundstück und alles, was dazu gehörte, verkaufen. Jedenfalls äußerte sie sich in diesem Sinne gegenüber Dick Parsons, der ihr die Telefonnummer einer örtlichen Immobilienagentur gegeben hatte. Einer der Makler war mit ihr vor dem Bestattungsunternehmen verabredet.
Der Mann wartete schon vor dem Gebäude und stellte sich als Doug Archer vor. Catherine lächelte und schüttelte ihm die Hand. »Heute scheint jeder etwas ganz anderes zu sein, als seine äußere Erscheinung vermuten lässt«, stellte sie fest.
»Wie bitte?«
»Der Bestattungsunternehmer sieht nicht aus wie ein Bestattungsunternehmer. Und Sie sehen nicht aus wie ein Immobilienmakler.«
»Ich betrachte das als Kompliment«, sagte Archer.
Aber es stimmt, dachte Catherine. Er war etwas zu jung und etwas zu sorglos, was seine Kleidung betraf. Er trug hohe Reebok-Basketballschuhe, die nur halb geschnürt waren, und er grinste wie ein Achtjähriger. Er sagte: »Haben Sie noch immer die Absicht, das Haus zu verkaufen?«
»Auf jeden Fall«, sagte Catherine. »Ich weiß nur noch nicht, wann. Ich denke nämlich daran, den Rest des Sommers hier zu verbringen.«
»So schnell dürfte es mit dem Verkauf sowieso nicht gehen. Das Geschäft läuft im Augenblick etwas schleppend, und hinzu kommt, dass die Häuser draußen an der Post Road ziemlich abseits stehen. Aber ich bin sicher, wir werden über kurz oder lang einen Käufer finden.«
»Ich habe es nicht eilig. Dick Parsons sagte, Sie wollten sich das Haus bestimmt noch einmal ansehen, oder?«
»Es wäre eine Hilfe, wenn wir einen Preis festsetzen. Wollen Sie einen Termin machen? Ich kann auch heute kommen…«
»Heute ist gut. Ich muss erst noch in Mr. Parsons’ Büro die Schlüssel holen, aber später können Sie vorbeikommen, wenn Sie wollen.«
»Wenn es Ihnen recht ist…« Er sah auf die Uhr. »Gegen drei?«
»Gerne.«
»Das mit Ihrer Großmutter tut mir leid, Miss Simmons. Ich betreue eine ganze Reihe Häuser oben an der Post Road, daher hatte ich Gelegenheit, ein- oder zweimal mit ihr zu reden. Sie war eine außergewöhnliche Frau.«
Catherine lächelte. »Ich kann mir vorstellen, dass sie für Immobilienmakler nicht viel übrig hatte.«
»Nein, überhaupt nichts«, sagte Doug Archer.
Catherine ließ sich die Schlüssel aushändigen, unterschrieb einige Schriftstücke, bedankte sich noch einmal, dann machte sie sich auf den Weg zu Grandma Peggys Haus.
Die Erinnerung an Ferien war für Catherine eng mit dieser Straße verknüpft. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, fuhren sie im Kombi ihres Vaters von Bellingham herunter, kurvten durch Belltower bis zum Fuß des Post-Road-Hügels, dann weiter durch einen langen Korridor würzig duftender Fichten bis zur Tür von Grandma Peggys Haus. Zu Grandma Peggy, die köstliche Mahlzeiten kochte, die wunderbare und respektlose Dinge sagte und deren Anwesenheit einen magischen Frieden zwischen Catherines Mutter und ihrem Vater sicherte. In Grandma Peggys Haus durfte niemand rauchen, und niemand durfte Streit anfangen. »Alles andere ist erlaubt. Aber ich will nicht, dass das ganze Haus nach Tabak stinkt, und ich will keine Streitereien — beides vergiftet nämlich die Luft. Ist es nicht so, Catherine?«
Die Post Road hatte sich nicht sehr verändert. Sie war immer noch dieser grüne, dunkle, wie verzaubert erscheinende Korridor — der Highway und die Einkaufszentren schienen Tausende von Meilen weit weg zu sein. Die Häuser an der Post Road waren kaum mehr als vorgeschobene Außenposten in dieser Wildnis, dachte Catherine, wie sie auf den kleinen Landschaftsparzellen standen, einige großartig, die anderen eher bescheiden, aber stets im Schatten üppiger Douglasfichten.
Grandma Peggys Haus auf der Hügelkuppe war das einzige dieser Häuser mit Aussicht. Das Gebäude war ein altes, großzügiges viktorianisches Holzhaus, zwei Stockwerke hoch mit einem Giebeldach samt Speicher. Grandma Peggy hatte immer sorgfältig darauf geachtet, dass es regelmäßig frisch gestrichen und ausgebessert wurde. Anderenfalls, so sagte sie gerne, glaubte das Unkraut noch, es könne sich ungehindert ausbreiten. Das Haus war von Grandma Peggys Vater erbaut worden, einem Klavierbauer, den Catherine aber nicht gekannt hatte. Die Vorstellung, das Anwesen zu verkaufen — nie wieder dorthin zurückkehren zu können —, kam ihr vor wie ein schlimmes Sakrileg. Aber natürlich wäre sie allein in dem Haus völlig verloren gewesen.
Sie parkte den Wagen und schloss die imposante Haustür auf. Vorerst ließ sie ihre Farben, sonstigen Utensilien und Vorräte im Kofferraum des Wagens. Wenn sie den Sommer über hierblieb — die Idee erschien ihr immer reizvoller —, könnte sie sich ein Studio in dem sonnendurchfluteten Zimmer einrichten, das nach hinten zum Wald hinaussah. Oder im Gästezimmer, wo man durch das Erkerfenster den fernen Ozean sehen konnte.
Jedoch im Augenblick war es noch immer Grandma Peggys Haus, unaufgeräumt am Ende eines offenbar strapaziösen Tages. Krümel lagen auf der Anrichte, und die Zimmerfeige ließ in einem Topf voll ausgetrockneter Erde die Blätter hängen. Catherine wanderte ziellos durch einige dieser Räume, dann ließ sie sich vor dem Fernseher auf die Polstercouch fallen. Grandma Peggys TV Guide lag aufgeschlagen auf dem Beistelltisch. Das Magazin war eine Woche alt.
Natürlich bleibe ich den Sommer hier, dachte Catherine. So lange würde es schon dauern, Grandma Peggys Eigentum zu sichten und den Verkauf zu arrangieren. All das hatte sie nicht erwartet. Sie hatte aufgrund einer nicht näher zu erklärenden Logik angenommen, dass Grandma Peggys Besitztümer genauso verschwunden wären wie Grandma Peggy selbst, eingegangen in die Urne, die nun vor der Haustür stand. Aber vielleicht war das der Punkt, an dem die wahre Trauer begann: beim Sortieren all dieser Briefe, Uhren, Kleider, künstlichen Gebisse — eine letzte brutale Intimität.
Catherine streifte ihre Schuhe ab, machte es sich auf dem Sofa bequem und hielt ein Nickerchen, bis Doug Archer an die Tür klopfte.
Ehe er sich verabschiedete, sagte Doug Archer etwas sehr Seltsames.
Ansonsten war sein Besuch angenehm verlaufen. Er war sehr freundlich, und sein Interesse schien aufrichtig zu sein, mehr als nur geschäftsmäßig. Er erkundigte sich nach ihrer Arbeit. Catherine war sehr zurückhaltend, was ihre Malerei anging, obgleich sie angefangen hatte, durch Ausstellungen in zwei kleinen Galerien in Seattle ein wenig Geld zu verdienen. Sie hatte auf dem College Kunstkurse besucht, doch was sie produzierte, war vorwiegend intuitiv, sehr persönlich und akribisch gemalt. Sie arbeitete mit Acrylfarben und machte manchmal auch Collagen. Ihre Motive waren gewöhnlich sehr klein — ein Laubblatt, ein Wassertropfen, ein Marienkäfer —, aber ihre Formate waren sehr groß, impressionistisch und mit Farbwolken aus Acryl bedeckt. Nach ihrer letzten Ausstellung in Seattle schrieb ein Kritiker, sie »scheine aus der Farbe das Licht herauszulocken«, was ihr sehr gut gefiel. Aber das erzählte sie Archer nicht; nur dass sie male und daran denke, im Sommer hier zu arbeiten. Er sagte, er würde sich gerne mal einige ihrer Werke ansehen. Catherine erwiderte, sie fühle sich sehr geschmeichelt, aber im Augenblick habe sie nichts, was sie ihm zeigen könne.
Was das Haus betraf, so war er sehr gründlich. Er inspizierte den Keller, den Heißwasserboiler und den Ofen, den Sicherungskasten und die Fensterrollläden. Im oberen Stockwerk begutachtete er den Eichenfußboden und die Holztäfelungen. Schließlich ging er nach draußen und sah sich das Dach an. Catherine erzählte ihm, Grandma Peggy hätte das Dach und den Dachstuhl alljährlich überprüfen lassen.
Sie begleitete ihn zu seinem Wagen. »Ich denke, wir sollten es bald auf dem Markt anbieten. Ich vermute, es werden viele Leute kommen, um es sich anzusehen, nicht wahr?«
»Wir brauchen nichts zu überstürzen. Das alles muss für Sie nicht ganz einfach sein.«
»Ich bin noch etwas benommen.«
»Lassen Sie sich Zeit. Rufen Sie mich an, wenn Sie bereit sind, ernsthaft darüber zu sprechen.«
»Das kommt mir sehr entgegen«, sagte Catherine.
Archer legte eine Hand auf den Türgriff seines Wagens, dann zögerte er. »Erlauben Sie, dass ich Sie etwas frage?«
»Schießen Sie los.«
»Hat Ihre Großmutter jemals über ihre Nachbarn gesprochen?«
»Nicht dass ich wüsste. Ich habe Mrs. Horton kennengelernt, die um die Ecke wohnt. Offenbar sind die beiden Frauen immer zusammen einkaufen gefahren.«
»Und über das Haus in der anderen Richtung, über den Mann, der dort gewohnt hat? Hat sie ihn jemals erwähnt? Das müsste vor mehr als zehn Jahren gewesen sein.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern. Weshalb?«
»Ich habe keinen besonderen Grund.« Es war wohl etwas Persönliches, vermutete sie. Offenbar war es ihm peinlich, überhaupt gefragt zu haben. »Würden Sie mir einen Gefallen tun, Catherine? Wenn Ihnen irgendetwas Seltsames auffallen sollte, würden Sie mich dann anrufen? Meine Telefonnummer steht auf der Karte. Sie können mich praktisch zu jeder Zeit erreichen.«
»Was meinen Sie mit etwas Seltsames?«
»Sonderbare Erscheinungen, Vorgänge«, druckste Archer herum.
»Wie was, zum Beispiel? Gespenster, fliegende Untertassen, solche Dinge? Gibt es davon denn hier so viele?« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Nein, das überhaupt nicht. Nein, sehen Sie, vergessen Sie, dass ich gefragt habe, okay? Es ist nichts Wichtiges. Es ist nur so ein Hobby von mir.«
Er bedankte sich bei ihr, sie bedankte sich für seinen Besuch, und er fuhr ab. Wie seltsam, dachte Catherine, während sein Wagen in den Schatten auf der Post Road verschwand. Was für ein ungewöhnlicher Mann. Was für eine seltsame Frage.
Sie dachte nicht länger darüber nach. Eine Wolkenbank zog heran, und ein stetiger, eintöniger Regen fiel ohne Unterbrechung fast eine ganze Woche. Catherine blieb im Haus und fing an, Zimmer für Zimmer, Grandma Peggys Besitztümer zu katalogisieren. Es war ein deprimierendes Wetter und eine deprimierende Tätigkeit. Sie kam sich in dem großen alten Haus verloren vor, aber seine Rhythmen — das Ticken der Kaminuhr und das morgendliche und das abendliche Licht, das durch die hohen staubigen Fenster hereinfiel — waren vertraut und auf ihre eigene Art und Weise beruhigend.
Dennoch war sie froh, als die Sonne herauskam. Nach zwei warmen Tagen war der Erdboden getrocknet, und sie konnte über die ausgedehnte Wiese hinter dem Haus gehen und auf einem schmalen Pfad sogar ein Stück in den Wald vordringen. Sie erinnerte sich, dass sie solche Spaziergänge mit Grandma Peggy unternommen hatte und wie einschüchternd ihr der Wald erschienen war — und tatsächlich immer noch erschien. Hinter dem Haus standen genug rote Zedern, um ihr das Gefühl zu vermitteln, sie sei unendlich klein, als sei sie wie Alice im Wunderland bis auf Käfergröße geschrumpft. Der Pfad war schmal, wahrscheinlich ein Wildwechsel. Der Wald selbst war kühl und still.
Sie unternahm diese Spaziergänge fast jeden Tag, und nach einiger Zeit wurde sie etwas tapferer. Sie wagte sich weiter vor, als Grandma Peggy sie jemals mitgenommen hatte. Einiges von dem Waldgebiet befand sich in städtischem Besitz, und etwas weiter im Osten waren Parzellen zur Holznutzung abgesteckt worden, aber niemand an der Post Road kümmerte sich um Grundstücksgrenzen, und Catherine konnte ungehindert umherwandern. An den meisten Tagen ging sie nach Süden den Hügel hinunter und hielt sich dabei östlich der Straße und der Häuser.
Sie kaufte sich einen Naturführer und lernte, einige Wildtiere zu identifizieren. Sie hatte einen Salamander gesehen, eine Drossel und etwas, was ihrer Meinung nach ein Haubenspecht war. Es bestand auch die aufregende Möglichkeit, einem Schwarzbären zu begegnen, obgleich das bisher noch nicht passiert war. Manchmal nahm sie ihr Mittagessen mit, und manchmal packte sie einen Skizzenblock ein.
Sie hatte bereits einige Lieblingsplätze im Wald gefunden. Es gab eine Wiese, wo sie sich auf einen umgekippten Baumstamm setzen und über ein Dickicht von Heidelbeeren schauen konnte. Es gab einen sandigen Platz an einem Bach, wo sie beschloss, Grandma Peggys Asche zu verstreuen. Weiter im Süden lag eine andere Wiese, durchzogen von Wildpfaden, wo ein verlassener Holzschuppen unter dichtem Moosbewuchs nachzugeben schien.
Der Holzschuppen reizte sie. Die schief hängende Tür hatte etwas Einladendes an sich. Gewiss gab es nichts im Innern, sagte Catherine sich, oder nur einen Haufen vermodertes Feuerholz. Aber es könnte auch ein alter Pflug oder ein Spinnrad darin sein, etwas, das sie säubern und vielleicht in einem Antiquitätenladen in Belltower verkaufen könnte. Es sei denn, dieses Grundstück gehörte jemandem. In diesem Fall wäre es Diebstahl, wenn sie etwas mitnähme. Aber sie konnte wenigstens einen Blick hineinwerfen.
Daran dachte sie am Mittwochmorgen, in ihrer zweiten Woche in Belltower, als sie sich etwas zu essen einpackte und sich auf den Weg machte. Es war ein warmer Tag, und sie schwitzte bereits, als sie am Bach vorbeikam. Sie hielt sich in südlicher Richtung, machte eine kurze Rast, um sich das Haar im Nacken hochzubinden, marschierte an dem Waldbeerenfeld vorbei und weiter zu dem Holzschuppen auf der sonnigen Wiese.
Sie näherte sich der Tür des alten Bauwerks, stieg über Ausläufer eines Hagebuttenstrauchs hinweg, um einem Büschel Feuerkraut auszuweichen… Dann hielt sie inne.
Es schien, als könnte sie in der Hütte eine Bewegung hören.
Die Neugier hat auch die Katze getötet, sagte Grandma Peggy immer. Aber sie fügte stets als Trost hinzu: Als sie alles wusste, blieb sie doch am Leben. Grandma Peggy hatte fest an solche Sprichwörter geglaubt.
Daher öffnete Catherine die knarrende Schuppentür und schaute hinein. Ein Stapel Zeitungen moderte hier seit Jahrzehnten vor sich hin. Und etwas Schreckliches bewegte sich und murmelte in der Dunkelheit.
Wie fühlte man sich, wenn man sein Leben noch einmal begann, dreißig Jahre in der Vergangenheit?
Es machte einen schwindelig, dachte Tom. Es war seltsam, aufregend. Und — nun viel häufiger — beängstigend.
Ihm war nicht ganz klar, wann oder weshalb die Angst begonnen hatte. Vielleicht war sie schon die ganze Zeit dagewesen, unterschwelliger als jetzt. Vielleicht hatte sie begonnen, als er in das Haus an der Post Road eingezogen war, und war eine ständige Gegenkraft zu all den Ereignissen gewesen, die seitdem stattgefunden hatten. Vielleicht war er sogar damit geboren worden.
Aber es war eigentlich keine richtige Angst. Es war eine Art systematischer Unruhe… und er empfand sie am intensivsten an einem heißen Donnerstagnachmittag im Juli, als er hätte schwören können — ohne einen Beweis zu haben —, dass ihm jemand von Lindner’s Radio Supply zu Larry Millsteins Wohnung folgte.
Der Tag war gut gelaufen. Seit er seinen Job angetreten hatte, hatte Tom genügend zuverlässige Arbeit abgeliefert, dass Max ihn die meiste Zeit allein und in Ruhe ließ. In dem höhlenartigen Hinterzimmer bei Lindner’s fühlte er sich zunehmend heimisch. An heißen Tagen wie diesem kippte er die hohen, bleigefassten Fenster, um den Wind aus der Gasse hereinzulassen. Er arbeitete gerade an einem Fisher-Verstärker, den ein Kunde gebracht hatte. Die Röhre der Ausgangsstufe war durchgebrannt, die Spannungsversorgung der Endstufe streute. Die Kondensatoren waren mit Öl gefüllt, dessen Verwendung später — einige Jahre in der Zukunft — wegen seines PCB-Gehalts laut EPA-Verfügung verboten wurde. Die Gefahr, zumindest in diesem Fertigungsstadium, war auf keinen Fall als tödlich einzustufen. Beim Mittagessen fragte Max ihn, weshalb er den Ventilator so dicht an seinem Arbeitstisch aufgestellt hatte. »Ich mag den Geruch nicht«, erklärte Tom ihm.
Ungeachtet der Giftstoffe hatte Tom eine gewisse Hochachtung vor diesen alten amerikanischen Radios und Verstärkern entwickelt. Die anspruchsvollen Geräte waren simpel konstruiert, sorgfältig gefertigt und robust — bereits das Gewicht war manchmal erstaunlich. Transformatoren mit Eisenkern, Stahlchassis, Gehäuse aus Eichenholz, es war ein Vergnügen, daran zu arbeiten. Der Job war unterbezahlt und bot keinerlei Möglichkeiten zu einer Verbesserung, aber für Tom hatte er die Funktion einer Beschäftigungstherapie. Er konnte mit seinen Händen etwas Angenehmes tun und erhielt am Ende der Woche einen Scheck.
Und dennoch — als der Reiz des Neuen schon längst hätte verflogen sein müssen — blickte er von seinen Lötarbeiten zum Wandkalender hoch, wo die Jahreszahl 1962 über einem Bild von einer üppig gebauten Frau in einem limonengrünen einteiligen Badeanzug zu lesen war, und er verspürte immer wieder den verrückten Drang, laut aufzulachen.
Was bedeutete Zeit schon, außer einem trägen Marsch von den Gefilden der Jugend ins Reich der Gräber? Zeit war die Kraft, die Granit zerfallen ließ, die die Erinnerung verschlang und Kinder ins Greisenalter entführte — so unbeugsam wie ein zur Todesstrafe entschlossener Richter und so poetisch wie ein Panzer. Und doch war er fast dreißig Jahre weit auf einer Straße zurückgegangen, die eigentlich gar nicht existieren durfte, in die Vergangenheit, wohin niemand reisen kann.
Er war nicht jünger, als er es vorher gewesen war, und er war in keiner Weise unsterblich. Aber die Zeit war überlistet worden, und das machte ihn glücklich.
»Du starrst ständig auf den Kalender«, sagte Max. »Ich glaube, du bist in das Girl verliebt.«
»Bis über beide Ohren«, sagte Tom.
»Das ist der Kalender von Mirvish’s. Sie nehmen jedes Jahr das gleiche Foto. Jeden Sommer, seit 1947, das gleiche Girl im gleichen Badeanzug. Wahrscheinlich ist sie schon längst eine alte Dame.«
»Sie ist eine Zeitreisende«, sagte Tom. »Sie ist ewig jung.«
»Und du bist ein Spinner«, erwiderte Max. »Bitte, geh wieder an die Arbeit.«
Gewisse andere Begleiterscheinungen dieser Zeitreisegeschichte waren ihm nicht entgangen.
Es war 1962 in New York. Deshalb war es überall im Land 1962 — tatsächlich auf der ganzen Welt. Daher war es auch in Belltower 1962, und seine Eltern lebten noch.
Irgendwo im großen Theater — vielleicht bei Schritt Nummer achtundvierzig oder dreiundsechzig oder hunderteinundzwanzig im Tunnel zwischen der Post Road und Manhattan — war ein Holzlaster auf einer Bergstraße rückwärts geschlingert. Eine hellblaue Limousine war über eine Böschung auf den Highway geworfen worden. Zwei Körper erwachten zitternd zum Leben, als das Armaturenbrett sich von den Sitzen löste und als der Motor zurück unter die Motorhaube sprang.
Im Jahr 1962 hatte in Belltower soeben ein junger, praktischer Arzt namens Winter eine Praxis in einer vorwiegend von der Mittelschicht bewohnten Gegend im Norden der Stadt eröffnet. Seine Frau hatte ihm zwei Jungen geboren. Der jüngere, Tommy, feierte im kommenden November seinen vierten Geburtstag.
Sie alle wohnen in dem großen Haus an der Poplar Street, dachte Tom, wo Daddys Praxis im Parterre liegt und die Wohnräume der Familie im ersten Stock. Wenn ich dorthin führe, könnte ich sie sehen. Lebensgroß.
Er stellte sie sich vor: seinen Vater in einem schwarzen Sonntagsanzug oder in seinem weißen Arztkittel, seine Mutter in einem Kleid mit buntem Blumenmuster. Und zwischen ihnen, knapp einen Meter groß in einem Spielanzug, etwas Unvorstellbares — er selbst.
Eines Vormittags, als Joyce im Restaurant arbeitete und er zu Hause war und sich ein wenig einsam fühlte, nahm er den Telefonhörer von der Gabel und wählte die Nummer der Fernvermittlung. Er verlangte eine Verbindung mit der Praxis von Dr. Winter in Belltower, Washington, in der Poplar Street. Das Rufzeichen ertönte dreimal, ein leises Summen, und eine Frau meldete sich. Die Stimme meiner Mutter. Es war ein lähmender Gedanke. Was sollte er zu ihr sagen?
Aber es war nicht seine Mutter. Es war die Sprechstundenhilfe seines Vaters, Miss Trudy Velasquez, an die er sich schwach erinnerte. Eine imposant aussehende Spanierin mit orthopädischen Schuhen und einem Atem, der nach Pfefferminz roch. Dr. Winter sei unterwegs zu einem Hausbesuch, sagte sie, und mit wem sie überhaupt spreche?
»Es ist nichts Dringendes«, sagte Tom. »Ich versuche es später noch einmal.«
Viel später. Vielleicht nie. In diesem Akt lag etwas Perverses. Es erschien irgendwie falsch, diesen unschuldigen Haushalt mit einem anonymen Anruf zu stören — zu verwickelt und ödipal, zu seltsam.
Dann dachte er: Aber ich muss sie anrufen. Ich muss sie warnen.
Sie warnen, an einem bestimmten Datum in etwa fünfzehn Jahren nicht über den Küstenhighway zu fahren.
Ich muss sie warnen, um ihr Leben zu retten. Damit Tom Medizin studieren konnte, wie sein Vater es verlangt hatte. Damit er Barbara nicht kennenlernte, sie nicht heiratete, sich nicht von ihr scheiden ließ, kein Haus an der Post Road kaufte, nicht in die Vergangenheit reiste, kein Telefongespräch führte, sie nicht warnen würde, ihr Leben nicht rettete.
Damit er, wahrscheinlich, für immer und ewig zwischen diesen Möglichkeiten umherirrte, so geisterhaft wie Schrödingers Katze.
Das war die Vergangenheit, sagte Tom sich, und die Vergangenheit muss unveränderlich sein — der Tod seiner Eltern eingeschlossen. Nichts anderes machte Sinn. Wenn die Vergangenheit fließend war und verändert werden konnte, dann hatte Tom die Aufgabe, sie zu ändern. Er müsste Flugzeuge vor Bomben warnen, Lee Harvey Oswald in dem Lagerhaus auflauern, die Passagierhallen in den Flughäfen räumen lassen, ehe die Attentäter mit ihren Waffen auftauchten… Eine unvorstellbare, unerträgliche Bürde moralischer Verantwortung.
Um der Vernunft und der Normalität willen musste die Vergangenheit eine statische Landschaft bleiben. Wenn er die PanAm warnte, dass eine ihrer Maschinen abstürzen werde, dann würde niemand ihm glauben. Wenn er nach Dallas flöge, um den Präsidenten zu warnen, würde er seine Maschine verpassen oder an der Gepäckausgabe einen Herzinfarkt erleiden. Er wusste nicht, welche unsichtbare Hand diese Ereignisse inszenieren würde, nur dass die Alternative noch weniger einleuchtend wäre. Wenn er versuchte, die Geschichte zu ändern, würde es ihm nicht gelingen… mehr gab es dazu nicht festzustellen.
Es wäre sogar gefährlich, nur den Versuch zu unternehmen.
Aber er dachte oft über den Anruf nach. Dachte daran, sie zu warnen. Dachte daran, ihr Leben zu retten.
Es war wohl kaum dringend. Vorerst und viele weitere Jahre lang würden sie leben, würden zufrieden und glücklich sein und sicherer, als sie ahnten.
Aber wenn das Datum herannahte — falls er hierbliebe und falls er so lange lebte —, dann, so dachte Tom, müsste er vielleicht das Telefongespräch führen, Risiko oder nicht Risiko… oder mit dem Wissen weiterleben, dass sie gestorben waren, obwohl er sie hätte retten können.
Vielleicht war das der Moment, in dem seine Angst begann.
Er schlief mit diesen Gedanken ein, erwachte nachdenklich und fuhr mit dem Bus zu Lindner’s. Er betrachtete das Mädchen auf dem Kalender mit neuem Ernst. Heute erschien ihr Gesichtsausdruck rätselhaft, düster.
»Du bist noch immer in sie verliebt«, stellte Max fest. »Sieh dir doch ihr Gesicht an, Max. Sie weiß etwas.«
»Sie weiß eben, dass du ein Verrückter bist«, sagte Max.
Er vertiefte sich in seine Arbeit. Die größte Überraschung des Tages war ein Anruf von Larry Millstein: eine Entschuldigung für den Zwischenfall auf der Party, und ob er am Nachmittag mal rüberkäme? Sie könnten sich mit Joyce in ihrer Wohnung treffen und dann gemeinsam irgendwo zu Abend essen und Frieden schließen. Tom sagte zu, dann rief er Joyce an, um sich zu vergewissern, dass sie Zeit hatte. »Ich habe schon mit Lawrence gesprochen«, sagte sie. »Ich glaube, er meint es ernst. Außerdem bist du im Augenblick zu beliebt. Dir aus dem Weg zu gehen, das stört mittlerweile bereits sein gesellschaftliches Leben.«
»Sollte ich nett sein? Ist es die Mühe wert?«
»Sei wirklich nett. Er ist neurotisch und kann manchmal sehr gemein sein. Aber wenn er ein totaler Versager wäre, hätte ich sicherlich niemals mit ihm geschlafen.«
»Das beruhigt mich aber.«
»Ihr hört beide gerne Jazz. Unterhaltet euch über Musik. Oder lasst es doch lieber bleiben.«
Er verließ die Werkstatt um sechs Uhr. Es war ein warmer Nachmittag, die Autobusse waren überfüllt. Er beschloss, zu Fuß zu gehen. Das Wetter war schon seit ein paar Tagen sehr schön. Der Himmel war blau, die Luft einigermaßen sauber, und er hatte keinen Grund, sich unbehaglich zu fühlen.
Trotzdem stellte sich das Unbehagen ein, sobald er durch die Tür von Lindner’s auf die Straße trat, und es wurde mit jedem Schritt intensiver.
Zuerst achtete er nicht darauf. Er hatte in den vergangenen Monaten einige neue Erfahrungen gemacht, und ein wenig Paranoia war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich nichts Besonderes. Aber er konnte das Unbehagen oder die Gedanken, die es hervorrief, nicht verdrängen. Es waren Erinnerungen, die er vernachlässigt hatte: an den Tunnel, an die Maschinenkäfer, an ihre Warnung.
Er dachte an den Geröllhaufen im Keller des Hauses in der Nähe des Tompkins Square. Jemand war vor ihm dort gewesen, jemand, der gefährlich war. Aber Tom hatte diesen Ort erreicht und sicher wieder verlassen, und seine Anonymität war in einer Stadt, die so groß war wie New York, garantiert — oder etwa nicht?
Er redete es sich ein. Dennoch, als er über die Eighth Avenue nach Osten in Richtung von Millsteins Apartment im East Village spazierte, verdichtete sich seine Unsicherheit zur festen Überzeugung, dass er verfolgt wurde. Er blieb auf der Straße vor Millsteins Mietshaus stehen und wandte sich um. Puertoricanische Frauen drängten sich zwischen den Hausaufgängen und den Ladenfronten. Drei Kinder überquerten die Straße an einer Ampel. Zwei weiße Amerikaner waren zu sehen: eine große blasse Frau, die einen Kinderwagen schob, und ein Mann mittleren Alters, der eine braune Papiertüte unter dem Arm hielt. Wer von diesen Personen beobachtete ihn?
Wahrscheinlich niemand. Wahrscheinlich sind es nur meine Nerven, dachte Tom. Und wahrscheinlich auch ein wenig schlechtes Gewissen. Ein schlechtes Gewissen wegen dem, was er zurückgelassen hatte. Ein Schuldgefühl wegen dem, was er gefunden hatte. Weil er sich an diesem seltsamen Ort in jemanden verliebt hatte.
Er trat vom Bürgersteig herunter und direkt vor ein sich näherndes Taxi. Der Fahrer drückte auf die Hupe und wich nach links aus, wobei er ihn nur um wenige Zentimeter verfehlte. UNBEKANNTER MANN ÜBERFAHREN — vielleicht war auch das Geschichte.
Nach einigen verlegenen Höflichkeitsfloskeln zogen sie zu Stanley’s, wo Millstein etwas trank und sich entspannte.
Trotz Joyces Warnung unterhielten sie sich über Musik. Es stellte sich heraus, dass Millstein ein eifriger Jazzfan war, seit er, »als grüner Junge aus Brooklyn«, Ende der Vierzigerjahre hier angekommen war. Er war ein alter Village-Hase. Er hatte Jack Kerouac ein- oder zweimal persönlich getroffen — eine Feststellung, die Tom erneut andächtig staunen ließ. Giganten hatten hier gelebt, dachte er. »Allerdings«, fügte Millstein hinzu, »ist die Szene längst tot.«
Joyce erwähnte ihre Freundin Susan. Susan hatte wieder aus dem Süden geschrieben, wo sie wegen ihrer Sympathien mit der SNCC Morddrohungen erhielt. Ein besonders eifriger Vertreter der Ewiggestrigen hatte ihr ein Paket mit säuberlich verpacktem Pferdemist vor ihre Motelzimmertür gelegt.
Millstein zuckte mit den Schultern. »Das ist mir alles viel zu politisch. Es ödet mich an. Mir hängen die Protestsongs zum Hals heraus, Joyce.«
»Und ich habe diese ständige pseudo-zenhafte Nabelschau satt«, sagte Joyce. »Da draußen existiert schließlich eine reale Welt.«
»Eine Welt, die von Männern in dicken Straßenkreuzern regiert wird, die wenig für Musik übrig haben. So weit es die Welt betrifft, ist Gitarrespielen die Beschäftigung einer unbedeutenden Minderheit.«
Joyce starrte in ihr Bierglas. »Vielleicht hat Susan dann ganz recht. Ich sollte wohl etwas Wirkungsvolleres tun.«
»Was, zum Beispiel? Für die Freiheit predigen? Mit Spruchbändern auf die Straße gehen? Im Grunde, weißt du, ist es nicht mehr als Gitarrespielen. Es wird toleriert, solange es im Machtgefüge einen Zweck erfüllt. Und wenn sie es schnell stoppen können, sobald sie es nicht mehr brauchen.«
»Das ist wohl das Zynischste, das ich je aus deinem Mund gehört habe, Lawrence. Das macht mir einiges klar. Hat Gandhi nicht auch mal gesagt, dass man mit der Wahrheit die Mächtigen besiegen kann?«
»Die Mächtigen scheren sich einen Dreck darum, Joyce. Das sollte doch mittlerweile deutlich geworden sein.«
»Wie sieht dann die Alternative aus?«
»Il faut cultiver notre jardin. Oder schreib ein Gedicht.«
»Wie Ginsberg? Ferlinghetti? Das ist doch ziemlich starker politischer Tobak.«
»Du begreifst nicht ganz. Sie sagen, dies hier ist hässlich, und das verabscheue ich — und dies dort ist das Geheimnis, das darin verborgen ist.«
»Das Geheimnis?«
»Die Schönheit, wenn dir das lieber ist.«
»Damit macht man aus Dreck Kunst«, kommentierte Joyce.
»So könnte man es sagen.«
»Während Menschen verhungern? Während Menschen geschlagen, misshandelt werden?«
»Ehe ich verhungere«, sagte Millstein. »Ehe ich geschlagen werde. Ja, vorher schaffe ich lieber diese kunstvollen Objekte.«
»Und davon soll die Welt besser werden?«
»Sie wird immerhin schöner.«
»Du klingst wie ein Vertreter der Kommission zur Erhaltung der Naturparks.« Sie wandte sich an Tom. »Wie stehst du dazu? Glaubst du an Gedichte oder an Politik?«
»Ich habe über beides nie viel nachgedacht«, erwiderte Tom.
»Sieh mal an«, sagte Lawrence. »Der edle Wilde.«
Tom dachte über die Frage nach. »Ich nehme an, man tut, was man tun muss. Auf lange Sicht sind wir alle ziemlich ohnmächtig. Ich mache keine nationale Politik. Bestenfalls gehe ich zur Wahl, wenn es mir vernünftig erscheint. Henry Kissinger kommt nicht zu mir und fragt: ›Hey, Tom, was hältst du von dieser China-Affäre?‹«
Millstein blickte von seinem Drink hoch. »Wer zum Teufel ist Henry Kissinger?«
Joyce war ein wenig betrunken und betrachtete ihn aufmerksam über den Tisch hinweg. »Du sagst, wir bewirken nichts?«
»Vielleicht einige andere Leute. Etwa Martin Luther King. Chruschtschow. Kennedy.«
»Also Leute, deren Namen mit K beginnt«, bemerkte Millstein.
»Aber nicht wir!«, beharrte Joyce. »Wir ändern nichts. Ist es das, was du meinst?«
»Mein Gott, Joyce, ich weiß nicht, was ich meine. Ich bin kein Philosoph.«
»Dein Fehler«, sagte Millstein. »Liebe Joyce. Wenn du das nächste Mal mit einem Mann ins Bett steigst, dann achte darauf, dass jemand euch wenigstens vorher in aller Form vorstellt.«
Millstein trank, bis er die Welt hätte umarmen können. So hatte er es geplant. Er erklärte es ihnen. »Es funktioniert nicht immer. Naja, das wisst ihr ja. Aber manchmal. Trinkt, bis die Welt euch liebenswert erscheint. Ein gutes Rezept.« In diesem Stil ging der Abend weiter.
Gegen Mitternacht trennten sie sich auf dem Bürgersteig der Avenue B. Millstein stützte sich an Toms Brust ab. »Es tut mir leid«, sagte er. »Vorhin, meine ich. Ich war ein richtiges Arschloch.«
»Es ist schon okay«, sagte Tom.
Millstein schaute zu Joyce. »Ich hoffe, du bist gut zu ihr, Tom.«
»Das bin ich. Ganz bestimmt.«
»Sie weiß nicht, weshalb wir sie lieben und hassen. Aber es geschieht aus dem gleichen Grund. Weil sie… so voller Zuversicht ist. Sie glaubt an Tugend und Aufrichtigkeit. Sie kommt einfach in die Stadt und singt etwas über Mut. Mein Gott! Sie hat den Mut einer Heiligen. Es ist ihr Element. Sogar ihre Laster sind makellos. Sie ist nicht nur ganz gut im Bett, sie ist gut — im Bett!«
»Sei still«, sagte Joyce. »Lawrence, du Mistkerl! Jeder kann dich hören!«
Millstein drehte sich zu ihr um und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, betrunken, aber sehr sanft. »Das ist keine Beleidigung, Liebes. Wir lieben dich, weil du besser bist als wir. Aber wir sind eifersüchtig auf deine Güte, und wir werden sie dir austreiben, so gut wir das irgend können.«
»Geh nach Hause, Lawrence.«
Er wich zurück. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte Tom. Aber es kam ihm nicht vor wie eine gute Nacht. Es war heiß. Es war dunkel. Er schwitzte.
Er ging mit Joyce nach Hause, die sich an seine Schulter lehnte. Sie war noch immer leicht betrunken; er war etwas nüchterner. Die Unterhaltung hatte sie in eine traurige Stimmung versetzt. Sie blieb unter einer Straßenlaterne stehen und sah ihn betrübt an.
»Du bist nicht mehr unsterblich«, stellte sie fest. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen.«
»Nein, nein! Als du hierherkamst, Tom, da warst du unsterblich. Ich war mir ganz sicher. Die Art, wie du gingst. Wie du alles betrachtet hast. Als käme dies alles von einem schönen, wunderbaren Ort, wo nichts dir etwas anhaben kann. Ich dachte, dass du einfach unsterblich sein musst — es war die einzige Erklärung.«
Er zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid, dass ich nicht unsterblich bin.«
Sie erreichten ihr Haus, und sie holte den Schlüssel aus ihrer Handtasche.
In der Wohnung war es heiß. Tom zog sich bis auf T-Shirt und Unterhose aus. Joyce streifte ihre Bluse ab. Ihr Anblick im matten Licht der Straße übte einen spontanen Reiz auf ihn aus. Er wohnte nun schon seit über einem Monat in diesem Apartment, und die Vertrautheit schien seine Gefühle für sie noch zu vertiefen. Als er sie kennenlernte, war sie eine Art Sinnbild gewesen. Sie war die Joyce, die im Jahr 1962 im Village wohnte. Nun war sie Joyce Casella aus Minneapolis, deren Vater Casellas Shoe Store besaß, deren Mutter zweimal im Monat anrief und sie anflehte, sich doch bald einen Ehemann zu suchen oder wenigstens einen besseren Job. Deren Schwester mit einem anständigen praktizierenden Katholiken namens Tosello verheiratet war und zwei Kinder hatte. Joyce, die sich wegen ihrer starken Brillengläser und wegen des Muttermals auf der rechten Schulter schämte. Joyce, die eine wundervolle Singstimme hatte, die einem seltenen Vogel glich, der nur zu ganz bestimmten und speziellen Gelegenheiten frei umherfliegen durfte. Diese durchschnittliche, alltägliche Joyce war der sinnbildlichen Joyce überlegen, und es war diese Joyce, die er zu lieben begonnen hatte.
Aber sie beachtete ihn nicht. Sie blätterte einen Stapel Papiere neben dem Bücherregal durch, vorwiegend Telefonrechnungen. Tom erkundigte sich, wonach sie suchte.
»Susans Brief. Der, von dem ich Lawrence erzählt habe. Sie schrieb, ich könne sie anrufen. ›Melde dich, wann du willst‹, schrieb sie. Sie will, dass ich dorthin komme. Es gibt so viel Arbeit! Mein Gott, Tom, wie spät ist es? Mitternacht? Hey, Tom, ist in Georgia jetzt auch Mitternacht?«
Ihre Frage beunruhigte ihn. »Was hast du vor? Willst du sie heute noch anrufen?«
»Genau.«
»Weshalb?«
»Um Vorbereitungen zu treffen.«
»Welche Vorbereitungen?«
Sie stand auf. »Was ich gesagt habe, war kein Scherz. Ich habe es ernst gemeint. Wozu bin ich hier schon nütze? Ich sollte viel lieber unten bei Susan sein und echte Arbeit leisten.«
Er war erstaunt. Das hatte er nicht erwartet.
»Du bist ja betrunken«, sagte er.
»Ja, ich bin ein wenig beschwipst. Aber nicht so sehr, um nicht an die Zukunft zu denken.«
Vielleicht war Tom auch ein wenig betrunken. Die Zukunft! Das war zugleich spaßig und beängstigend. »Du willst die Zukunft? Ich kann dir die Zukunft geben.«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an und legte die Papiere beiseite. »Wie bitte?«
»Sie ist gefährlich, Joyce. Mein Gott, Menschen kommen ums Leben.« Er dachte an die Bürgerrechtsbewegung von 1962. Woran er sich erinnerte, war ein Durcheinander von Schlagzeilen, die er aus Büchern und Fernsehdokumentationen kannte. Bomben in Kirchen, Demonstranten, die Autobusse attackierten, Angehörige des Klan mit Schlagstöcken und abgesägten Schrotflinten. Er stellte sich Joyce mittendrin vor. Der Gedanke war unerträglich. »Du darfst nicht weggehen.«
Sie hielt den Brief hoch, der in Augusta abgestempelt war.
»Sie brauchen mich.«
»Einen Teufel tun sie. Eine idealistische weiße Collegestudentin mehr oder weniger wird auch nichts ändern können. Sie haben Fernsehen. Bei allen drei Sendern kann man verfolgen, wie strohdumme Südstaatensheriffs auf Frauen einprügeln. Sie haben sogar Freunde in der Kennedy-Administration. Nach dem Attentat…« Er war betrunkener, als er ahnte. Er begann Geheimnisse zu verraten. Aber das war jetzt unwichtig. »Nach dem Attentat lassen sie von Lyndon Johnson weitere Bürgerrechtsgesetze aufstellen, während die Entwicklung im Fernen Osten eskaliert. Willst du die Zukunft? Vietnam, Woodstock, Nixon, Watergate, Jimmy Carter, Ajatollah Khomeini, sämtliche Klischees, die man sich vorstellen kann, und zwar mit oder ohne Zutun von Joyce Casella. Bitte«, sagte er. »Bitte sieh zu, dass du nicht getötet wirst, ehe wir uns etwas besser kennengelernt haben.«
»Manchmal frage ich mich, ob ich dich überhaupt kenne. Was soll dieser ganze Quatsch über die Zukunft?«
»Von dort komme ich her.«
Sie starrte ihn an. »Erzähl mir die Wahrheit oder verschwinde aus meiner Wohnung!«
Er beschrieb in groben Zügen die Folge von Ereignissen, die ihn hierhergebracht hatten.
Joyce hörte ihm aufmerksam und geduldig zu, glaubte ihm aber erst, als er seine Brieftasche hervorholte und seine Ausweise vorzeigte — seinen Führerschein des Staates Washington, seine Visa-Kreditkarte, eine nicht mehr gültige American-Express-Karte, eine Geldautomatenkarte und zwei Zehner mit einem Datum zwanzig Jahre in der Zukunft.
Joyce untersuchte all diese Dinge sorgfältig. Schließlich sagte sie: »Deine Armbanduhr.«
Er hatte sie seit seinem ersten Besuch nicht mehr getragen. Sie befand sich in der linken Tasche seiner Jeans. Sie musste sie gesehen haben. »Es ist nur eine billige Digitaluhr. Aber du hast recht. Die kann man hier und jetzt noch nicht kaufen.«
Er hielt sich zurück und ließ sie in Ruhe die Dinge betrachten und darüber nachdenken. Nun, nachdem er ihr alles erzählt hatte, war er etwas nüchterner, und er fragte sich, ob er nicht einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Es musste beängstigend sein. Weiß Gott, er hatte jedenfalls eine Menge Angst gehabt.
Aber sie betastete die Plastikkarten und das Geld, dann seufzte sie und sah ihn furchtlos an.
»Ich koche erst mal Kaffee«, sagte sie. »Ich glaube, heute Nacht ist an Schlafen nicht mehr zu denken.«
»Da dürftest du recht haben«, sagte Tom.
Sie hielt die Tasse in beiden Händen, als ob sie ein Anker wäre, der sie mit der Erde verband.
»Erzähl es mir noch einmal«, sagte sie. »Erzähl mir, wie du hierhergekommen bist.«
Er rieb sich die Augen. »Noch einmal?«
»Ja. Aber diesmal etwas langsamer.«
Er holte tief Luft und fing an.
Als er seinen Bericht beendete, war es bereits nach zwei Uhr. Die Straßen draußen waren still, das Licht im Zimmer erschien irgendwie seltsam und steril. Er war benommen, schläfrig und hatte einen Kater.
Joyce hingegen war hellwach.
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte sie. »Weshalb ein Tunnel zwischen hier und… wie heißt es? Bellfountain?«
»Belltower«, sagte Tom. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gebaut, Joyce. Ich habe ihn nur gefunden.«
»Hätte jeder ihn finden können?«
»Ich denke schon.«
»Und kein anderer hat ihn benutzt?«
»Jemand muss es getan haben. Wenigstens einmal. Er muss ihn benutzt und, wie ich vermute, verlassen haben. Aber das weiß ich nicht mit Sicherheit.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
Er kam sich so hilflos vor. Er hatte ihr alle Beweise gezeigt, die er besaß, hatte ihr alles so ruhig wie möglich erklärt.
»Nein, ich meine… ich weiß, dass es stimmt. Die Karten, das Geld, die Uhr… vielleicht kann jemand solche Dinge fälschen, aber das bezweifle ich. Es stimmt, Tom, aber ich glaube es nicht. Du verstehst doch, was ich damit sagen will, nicht wahr? Es fällt mir schwer, dich zu betrachten und mir zu sagen, dass ich einen Typ aus dem Jahr 1989 vor mir sehe.«
»Was kann ich sonst tun?«
»Es mir zeigen«, sagte Joyce. »Zeig mir den Tunnel.«
Das war etwas, was er eigentlich nicht beabsichtigt hatte.
Er ging mit ihr — weit war es nicht — zu Fuß zu dem Gebäude in der Nähe des Tompkins Square.
»Hier ist es?«, fragte Joyce. Sie meinte: ein Wunder — hier? Er nickte.
Die Straße war still und menschenleer. Tom holte seine Uhr aus der Tasche: drei Uhr fünfzehn, und er war ganz taub vor Erschöpfung und bereute seine Entscheidung bereits.
Später sollte Tom erkennen, dass der Besuch des Tunnels eine Trennlinie markierte. Von diesem Zeitpunkt an waren die Ereignisse außer Kontrolle geraten. Vielleicht spürte er es bereits — ein Echo seiner eigenen Zukunft, das durch die verschiedenen Abschnitte der zergliederten Zeit hallte.
Er hatte Hemmungen, mit ihr hineinzugehen, und er war sich plötzlich sicher, dass es ein Fehler gewesen war, sie hierher mitgenommen zu haben. Wenn er nicht so betrunken gewesen wäre… und nicht zu müde, um sich zu wehren…
Sie zog an seiner Hand. »Zeig ihn mir.«
Und nun gab es keinen vernünftigen Grund mehr umzukehren. Er warf noch einen letzten Blick auf das wuchtige Gebäude, auf all die Zimmer und Korridore, die er sich niemals angeschaut hatte. Ein einziges Fenster leuchtete in der Dunkelheit.
Er geleitete Joyce in die Halle. Sie war leer bis auf das Summen einer defekten Leuchtstoff röhre. Er legte die Hand auf die Klinke der Tür, die in den Keller führte.
Die Tür öffnete sich nicht.
»Probleme?«, erkundigte Joyce sich.
Er nickte stirnrunzelnd. »Sie war vorher nicht verschlossen. Ich glaube nicht, dass sie ein Schloss hatte.« Er beugte sich über den Mechanismus. »Das sieht neu aus.«
»Hat jemand ein neues Schloss angebracht?«
»Ich nehme es an.«
»Was bedeutet das?«
»Ich weiß es nicht. Es könnte heißen, jemand weiß, dass ich hier war. Es könnte auch so gewesen sein, dass der Hausmeister Kinder im Keller angetroffen hat und entschied, etwas dagegen zu unternehmen.«
»Gibt es denn einen Hausmeister?«
Er zuckte die Achseln.
»Aber irgendjemandem muss das Haus doch gehören. So etwas ist doch sicherlich in irgendwelchen Archiven verzeichnet, nicht wahr?«, sagte sie. »Man kann im Rathaus nachschlagen.«
»Ich denke schon.« Auf die Idee war er noch nicht gekommen. »Das könnte gefährlich sein. Das hier ist schließlich kein harmloses Abenteuer. Ich finde, wir sollten auf keinen Fall die Aufmerksamkeit auf uns lenken.«
»Wenn wir diese Tür nicht öffnen«, erklärte Joyce, »kannst du nie mehr nach Hause zurückkehren.«
»Wenn wir sie öffnen, dann bauen sie beim nächsten Mal vielleicht ein besseres Schloss ein, oder sie stellen einen Wächter auf.« Es war ein erschreckender Gedanke, und er konnte sich nicht gegen den Impuls wehren, an ihr vorbei durch das gesprungene Glas der Haustür nach draußen zu blicken. Aber die Straße war leer.
»Vielleicht können wir die Tür öffnen, ohne zu sehr aufzufallen«, sagte Joyce.
»Wir sollten es nicht einmal versuchen. Wir sollten lieber zusehen, dass wir schnellstens von hier verschwinden.«
»Hey, nein! Ich mache jetzt keinen Rückzieher.« Ihr Griff um seine Hand wurde fester. »Wenn das alles stimmt… dann will ich es auch sehen.«
Tom betrachtete das Schloss etwas eingehender. Ein billiges Modell. Er nahm seine Visa-Kreditkarte heraus und schob sie zwischen Tür und Türrahmen. So etwas funktionierte im Fernsehen immer, aber offensichtlich nicht im richtigen Leben. Die Karte stieß gegen den Riegel, schaffte es aber nicht, ihn zu verschieben. »Gib mir mal deine Schlüssel«, sagte er.
Joyce reichte ihm den Schlüsselbund.
Er probierte mehrere Schlüssel aus, bis er einen fand, der ins Schloss passte. Indem er ihn drehte, bis er einige Bolzen fasste, konnte er den Riegel ein Stück bewegen. Dann drückte er wieder die Karte in den Türspalt, bis die Tür ein kleines Stück aufsprang.
Ein Schwall kühler Luft drang durch die Öffnung.
Er spürte die Veränderung bei Joyce, als sie die Treppe hinunterstiegen. Sie war ziemlich selbstsicher und unbekümmert gewesen, hatte ihn angestachelt, herausgefordert, doch nun war sie still geworden und umklammerte mit beiden Händen seinen Arm.
Im ersten Kellergeschoss zog er an der Lampenschnur, und die nackte Glühbirne warf einen matten Lichtkreis auf den Steinboden. »Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen.«
»Wahrscheinlich auch gleich eine Elefantenbüchse. Hier unten ist es unheimlich.« Sie sah ihn besorgt an. »Das ist doch alles real, oder?«
»So real, wie es nur sein kann.«
Das zweite Schloss in der Holztür im untersten Kellergeschoss war ebenfalls ersetzt worden. Joyce zündete ein Streichholz nach dem anderen an, während Tom den Mechanismus inspizierte. Wer immer das Schloss angebracht hatte, hatte es eilig gehabt. Das Vorhängeschloss war neu, aber nicht das Schließband. Es war mit drei Holzschrauben am Türrahmen befestigt. Tom drehte die Schrauben mit der Kante einer Zehncentmünze heraus und steckte sie in die Tasche.
Und dann drangen sie in die Dunkelheit ein.
Sie kletterten über Schutt. Joyce leuchtete mit weiteren Streichhölzern, bis Tom sie bat, es vorerst zu unterlassen. Erstens war das Licht viel zu schwach, um ihnen zu nützen, und zweitens machte er sich Sorgen wegen des brennbaren Abfalls auf dem Boden. Sie ließ das letzte Streichholz flackernd verlöschen, erschauerte aber, als die Dunkelheit sich um sie herum verdichtete. Sie fragte: »Bist du ganz sicher?«
Aber dann befanden sie sich in dem Tunnel. Ein indirekter Lichtschein erhellte die sanfte, gleichmäßige Krümmung der Tunnelwände vor ihnen.
Joyce machte ein paar Schritte, während Tom sich zurückhielt.
»Es stimmt tatsächlich«, sagte sie. »Mein Gott, Tom! Wir könnten in die Zukunft gehen, nicht wahr? Könnten ein paar Jahrzehnte weiterspazieren.« Sie sah ihn an. »Nimmst du mich irgendwann mit?« Ihre Wangen waren gerötet. Sie sah zerbrechlich aus und wie im Fieber vor diesen kahlen weißen Wänden.
»Ich weiß nicht, ob ich dir das versprechen kann. Wir haben es mit etwas sehr Gefährlichem zu tun, und wir wissen nicht, wie es reagiert. Ich kann noch nicht einmal dafür garantieren, dass es hier, wo wir stehen, für uns völlig sicher und gefahrlos ist. Vielleicht sind wir irgendwelcher Strahlung ausgesetzt. Möglich, dass sogar die Luft giftig ist.«
»Das hat dich aber nicht daran gehindert hierherzukommen.«
Das war vorher, dachte Tom. Als ich nichts zu verlieren hatte.
Sie berührte die Wände — glatt, leicht elastisch, völlig nahtlos. »Ich möchte bloß wissen, wer das hier gebaut hat. Hast du dich das nie gefragt?«
»Sehr oft sogar«, sagte er. »Diese Anlage existiert seit mindestens zehn Jahren. Möglicherweise auch länger.« Vielleicht seit die Indianer Manhattan besetzten.
»Leute aus der Zukunft«, sagte Joyce. »Oder Marsbewohner oder ähnliche Wesen. Ich komme mir vor wie in einer Episode aus Twilight Zone.« Sie zeichnete mit ihrer Schuhspitze einen Strich in den Staub. »Wie kommt es, dass der Tunnel an diesem Ende eingestürzt ist?«
»Keine Ahnung.«
»Vielleicht wurde er von irgendjemandem im Kampf erobert«, vermutete sie.
Er blinzelte bei dieser Vorstellung. Joyce fuhr fort. »Die Leute, die ihn benutzen sollen, sind nicht da. Deshalb hat jemand ihn benutzt, der es nicht durfte… Vielleicht hat er ihn entsprechend präpariert, damit keiner ihn wiederfindet.«
Tom nickte nachdenklich. »Das könnte möglich sein.«
»Es muss weitere Tunnel geben. Sonst macht der hier keinen Sinn. Vielleicht war er mit irgendetwas verknüpft — als eine Art Verbindungsgang. Aber jemand ist hier eingedrungen und hat ihn versperrt.«
Das klang einleuchtend. Eine bessere Erklärung fiel ihm nicht ein. »Aber das wissen wir nicht.«
»Hey«, sagte sie. »Miss Marple ist dem Täter auf der Spur.« Möglicherweise, dachte Tom, ging alles gut aus. Er hatte sie überredet, umzukehren und zurückzugehen — aber dann passierte etwas Seltsames.
Joyce sah es zuerst.
»Sieh doch«, sagte sie. »Tom? Was ist das?«
Er drehte sich um und schaute in die Richtung, in die sie deutete, und hatte dabei schon die ersten Angstgefühle.
Was er sah, war nur ein vages helles Flackern in einiger Entfernung vor dem Hintergrund der gleichmäßigen Helligkeit des Tunnels. Er nahm zuerst an, es sei ein Defekt der Beleuchtung. Dann drückte Joyce seine Hand. »Es rührt sich!«, sagte sie.
Langsam, aber durchaus wahrnehmbar, bewegte es sich. Es kam auf sie zu.
Er schätzte, dass es etwa hundert Meter von ihnen entfernt war — vielleicht auch etwas mehr.
Er sah zu dem Geröllhaufen am Ende des Tunnels. Sie hatten sich etwa zehn Meter davon entfernt. Eine Distanz, die sie leicht rennend überwinden könnten, dachte Tom.
»Was ist das?«, wiederholte Joyce. In ihrer Stimme lag ein Zittern der Unsicherheit — noch schien es nicht Angst zu sein.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Tom. »Ich finde, wir sollten lieber verschwinden, solange es noch möglich ist.«
Was er empfand, war nicht unbedingt Scheu und auch keine Furcht. Das leuchtende Etwas war hell und hatte die Andeutung einer bestimmten Form. Tom trieb Joyce zum Ausgang. Er war sich darüber im Klaren, dass er sich in nächster Nähe von etwas befand, was er nicht verstand, etwas, das dem Tunnel selbst ähnlich war: fremdartig, mächtig, jenseits seiner Vorstellungskraft.
Dies war der Tunnel unter der Welt, wo Dämonen und Engel lebten. Er hielt dort inne, wo die Ziegelmauer und alter Verputz und Mörtel sich angesammelt hatten, denn es war unmöglich, dem Drang, sich umzudrehen und zurückzuschauen, zu widerstehen.
Joyce tat das Gleiche.
Aber die Erscheinung hatte sich weitaus schneller bewegt, als sie vermutet hatten.
Sie hatte sie beinahe eingeholt.
Tom hielt den Atem an und wich instinktiv zurück — und blieb mit dem Fuß an einem Ziegelstein hängen und stürzte zu Boden.
Joyce schrie. »Tom!« Sie versuchte, ihn hochzuziehen.
Das Wesen verharrte und belauerte sie.
Tom fand keine Bezeichnung für das Ding, das über ihnen in der Luft schwebte und ihnen fast nahe genug war, dass sie es berühren könnten. Für einen kurzen Moment wurde seine Angst von einer Art hoffnungslosen Staunens überlagert.
Die Gestalt der Erscheinung war unklar — sie war an den Kanten verschwommen —, aber sie war annähernd menschlich.
Später ließ Tom dieses Erlebnis noch einmal in seiner Erinnerung Revue passieren und versuchte, das Wesen in Gedanken zu rekonstruieren. Wenn man einen Plan des menschlichen Nervensystems anfertigte, dachte er, und ihn mit blauen Neonröhren ausführte und dann mit einer hellen Lichtaura umgab… dies ähnelte der Erscheinung am meisten.
Sie war durchsichtig, aber nicht geisterhaft. Es konnte keinen Zweifel an ihrer physischen Existenz geben. Er spürte die von dem Wesen abgestrahlte Wärme in seinem Gesicht.
Joyce kauerte neben ihm.
Das Wesen hatte aufgehört, sich zu bewegen. Es beobachtete sie, dachte er — vielleicht mit den beiden undurchsichtigen Flecken, die die Position von Augen einnahmen, vielleicht auf irgendeine andere Art und Weise.
Es war furchtbar — und nur deshalb erträglich, weil das Wesen absolut unbeweglich verharrte.
Tom zählte stumm bis zehn, dann schob er sich rückwärts auf den Schutthaufen.
Die Aufmerksamkeit des Wesens blieb auf ihn gerichtet, aber mehr nicht.
Joyce sah ihn an. Er spürte am Griff ihrer Hand, dass sie schreckliche Angst hatte, aber immer noch relativ besonnen war. »Geh langsam zurück«, flüsterte er. »Wenn das Ding sich bewegt, bleib sofort stehen.«
Er zweifelte nicht an der unermesslichen Kraft des Wesens. Er spürte sie um sich herum, spürte die Hitzestrahlung auf seiner Haut.
Joyce nickte angespannt, und sie begannen, den Schutthaufen hinauf und aus dem Tunnel zu klettern. Es wurde Tom bewusst, dass dies die instinktive Reaktion auf ein gefährliches großes Tier und in diesem Fall zweifellos nicht angemessen war. Er starrte auf die Augenflecken der Kreatur und wusste — völlig ohne Worte —, dass ihr Interesse an ihnen zwar eingehend, aber nur vorübergehender Natur war; dass das Wesen sie jederzeit töten konnte, wenn es den Wunsch dazu hatte, dass es nur noch keine Entscheidung getroffen hatte. Dies war keine zufällige Unentschlossenheit eines Tiers, sondern etwas durchaus Gewolltes, Persönliches. Die Reaktion auf eine Entscheidung, ein Urteil, das gefällt worden war.
Während er in die bleiche Leere starrte, fühlte er sich nackt und klein.
Sie hatten fast die einladende Dunkelheit des Kellers erreicht, als das Wesen verschwand.
Später diskutierte er mit Joyce über die Art und Weise, wie das Wesen verschwunden war. Tom blieb dabei, dass es ganz einfach schlagartig weg gewesen war. Joyce hingegen meinte, es habe sich in einer Weise zur Seite gedreht, die sie nicht beschreiben konnte. »Es bog um eine Ecke, die wir nicht sehen konnten.«
Sie waren sich jedoch darin einig, dass sein Verschwinden abrupt und genauso geräuschlos abgelaufen war wie sein Erscheinen.
Joyce rannte durch den dunklen Keller und zerrte Tom die Treppenstufen hinauf. Er spürte ihr Zittern. Das ist alles meine Schuld, dachte er.
Er ließ sie einen Moment warten, während er das Schließband wieder an der Holztür befestigte. Er suchte in seiner Tasche nach den drei Schrauben und der Geldmünze, um sie einzudrehen, schaffte es bei zweien und ließ die letzte zu Boden fallen. »Mein Gott, Tom!«, stöhnte Joyce. Aber sie hielt mit bebender Hand ein flackerndes Zündholz hoch, während er auf den Knien umherkroch. Die Schraube war unter die Kante der Tür gerollt, und für einen schrecklichen Augenblick dachte er, er müsse das Schließband noch einmal abmontieren, um die letzte Schraube zu retten, was in diesem finsteren, übel riechenden Keller voller Wer-weiß-was-für-schrecklicher-Monstren so gut wie unmöglich wäre, aber dann erwischte er den Kopf der Schraube mit einem Fingernagel und schaffte es, sie herauszuziehen.
Er ging dabei so vorsichtig vor, wie seine zitternden Hände es ihm erlaubten. Er wollte nicht, dass irgendjemand erfuhr, dass er hier gewesen war — obgleich das wahrscheinlich ein Ding der Unmöglichkeit war. Aber die Vorstellung von einem weiteren Hindernis zwischen sich und dem Tunnel, gleichgültig, wie unscheinbar, war beruhigend.
Er drehte die letzte Schraube fest und ließ die Geldmünze wieder in seine Tasche gleiten. Sie stiegen die Treppe zur Vorhalle hinauf. Diesmal ging Joyce voraus.
Er dachte an die obere Tür, die er mit einer Kreditkarte und Joyces Schlüssel geöffnet hatte. Ein entsetzlicher Gedanke: Wenn sie nun zugefallen war? Wenn der Riegel vorgeschnellt war und er sie kein zweites Mal öffnen konnte?
Dann sah er den Lichtstreifen aus der Halle, konnte erkennen, wie Joyce die Hand nach der Tür ausstreckte und sie öffnete. Und sie stolperten zusammen hindurch, standen schwankend im Licht und hielten einander fest.
Billys Nerven hatten sich etwas beruhigt, als er nach Hause zurückkam, und zwei Tage lang widerstand er seiner heftigen Gier nach der Rüstung.
Er sagte sich, dass er Zeit zum Nachdenken brauchte; dass er nichts gewinnen konnte, wenn er rein impulsiv handelte.
Die Wahrheit war, dass er vor der Rüstung genauso viel Angst hatte wie vor dem Missbrauch des Tunnels.
Er fürchtete sie genauso, wie er sich nach ihr sehnte.
Die Tage wurden länger, heißer und zunehmend greller. Seine Wohnung war nur sehr sparsam möbliert. Er besaß ein Sofa, ein Messingbett, einen Westinghouse-Fernseher und einen Wecker. Er ließ die Fenster offen, und eine warme Brise spielte mit den Säumen der Spitzenvorhänge. Den endlosen Nachmittag hindurch lauschte Billy dem Ticken der Uhr und dem Lärm des Verkehrs unten auf der Straße.
Er lauschte dem hohlen Klagen seines eigenen unerträglichen Hungers.
Er fürchtete sich vor seiner Rüstung, weil er sie brauchte.
Er würde niemals aufhören, sie zu brauchen… aber es gab eine Tatsache, über die Billy nicht gerne nachdachte: Die Rüstung wurde allmählich alt.
Billy pflegte sie, so gut er konnte. Er hielt die Rüstung sauber und trocken; er ließ regelmäßig die eingebauten Diagnoseprogramme laufen. Aber es gab keine Möglichkeit in dieser verschwenderischen, aber technisch primitiven Epoche, irgendwelche ernsthaften Schäden zu reparieren. Schon jetzt funktionierten einige der komplizierten Mechanismen nur noch sporadisch oder gar nicht mehr. Irgendwann würden die Hauptfunktionen der Rüstung gestört sein, trotz ihrer vielfältigen Sicherungen — und Billy wäre seinem bohrenden Hunger und seinem schrecklichen Bedürfnis ausgeliefert, ohne eine Möglichkeit, dieses Verlangen zu befriedigen oder zu beenden.
Um diese Katastrophe so weit wie möglich hinauszuschieben, hatte Billy sich beigebracht, die Rüstung zu schonen, sie nur ganz sparsam zu benutzen, und dann auch nur so oft, wie sein Körper danach verlangte.
Er widerstand gerade jetzt wieder dem Drang, denn er wollte nachdenken. Er begriff, dass es eine ganze Reihe von Möglichkeiten gab, diese Krise zu meistern. Es war offensichtlich, dass ein anderer Zeitreisender in die Stadt gelangt war. Aber der Zeitreisende konnte irgendjemand oder irgendetwas sein. Er oder es konnte sich für Billy interessieren oder nicht. Vielleicht kümmerte sich niemand um ihn. Vielleicht ließ dieser Eindringling ihn in Ruhe.
Die andere (und, wie Billy glaubte, wahrscheinlichere) Möglichkeit war die, dass der Zeitreisende alles über Billy und die Geheimnisse wusste, die er von der Frau mit dem Glasstück im Kopf erhalten hatte — dass der Zeitreisende ihn bestrafen oder töten wollte. Er hatte keinen Beweis dafür oder für das Gegenteil.
Der Eindringling hatte nicht versucht, seine Anwesenheit zu verbergen, und ein guter Jäger würde das doch auf jeden Fall tun, oder nicht? Es sei denn, der Jäger war so allmächtig, dass er das nicht nötig hatte.
Die Vorstellung erfüllte ihn mit Furcht.
Ich habe zwei Möglichkeiten, dachte Billy.
Weglaufen oder kämpfen.
Weglaufen war problematisch. Oh, er konnte sich in ein Flugzeug nach Los Angeles oder Miami oder London setzen.
Er wusste, wie man das machte. Er konnte sich sein Leben an einem anderen Ort einrichten… zumindest so lange, wie die Rüstung weiterhin funktionierte.
Aber er konnte nicht mit dem Wissen leben, dass sie ihn trotzdem finden könnten — die Zeitreisenden, die Tunnelbauer, die unbekannten anderen. Billy hatte nicht viel dafür übrig, seine restlichen Jahre als Jagdwild zu leben. Vorwiegend deshalb war er in New York geblieben: um den Tunnel im Auge zu behalten, um die Ausgänge zu kontrollieren.
Also musste er kämpfen.
Sicher, er wusste nicht, wer oder was der Eindringling war. Doch das war vermutlich nur eine vorübergehende Schwierigkeit. Ein großer Teil der kriminaltechnischen Funktionen seiner Rüstung war noch intakt. Billy ging davon aus, dass er eine ganze Menge in Erfahrung bringen könnte, wenn er den Tunnel auf Spuren untersuchte.
Es hing nur von der Rüstung ab, nicht wahr?
Seine Lebensader. Sein Leben.
Schließlich holte er sie aus ihrem Versteck.
Er hatte den Pappkarton gegen eine kleine Holzkiste ausgetauscht, die er in einem Trödelladen der Heilsarmee aufgestöbert hatte. Die Kiste war mit einem Vorhängeschloss verschlossen. Billy setzte viel Vertrauen in Vorhängeschlösser. Sie erschienen ihm weitaus solider als die elektronischen Schlösser seiner Zeit. Er trug den Schlüssel immer an einer Gürtelschlaufe seiner Hose. Billy hob die Kiste aus dem Wandschrank und öffnete sie.
Die Löcher, wo die Lanzette und das Stilett in seinen Körper eindrangen, waren bereits fast verheilt — der Schmerz dauerte nur ein paar Sekunden.
Er trug weite, dichte Kleidung über der Rüstung, um sie zu verbergen.
Billy wusste, wie er darin aussah. Wie ein Säufer, ein Penner. Wenn sie ihn sahen, wandten die Leute sich ab. Aber das war ja nicht unbedingt schlecht.
Unter der Kleidung regulierte die Rüstung seine Hauttemperatur, hielt ihn kühl, hielt ihn wach.
Die Rüstung war »ausgeschaltet« — sie arbeitete weit unter der vollen Einsatzbereitschaft. Aber ihre regulierenden Funktionen liefen automatisch ab. Die Rüstung überprüfte sein Blut, seine Nervenimpulse. Ein Element erzeugte künstliche Hormone und speiste sie tropfenweise in seinen Körper ein. Er war aufnahmefähig, zufrieden und zuversichtlich.
Er war wach.
Leben ist schlafen, dachte Billy. Die Rüstung ist Wachheit. Eigentlich seltsam, dass er dies in den langen grauen Zeitintervallen seines Lebens vergaß und sich immer dann daran erinnerte, wenn er die Rüstung anlegte. Es war so, als tauchte er aus einer Trance auf.
All seine Zweifel verflüchtigten sich. Er fühlte sich so, wie seiner Vorstellung nach ein Wolf empfand: zu allem entschlossen und benommen vor Glück über die bevorstehende Jagd.
Er ging zu dem Haus, in dem seine Rentner wohnten, am Kreuzungspunkt der Zeiten.
Er installierte zwei neue Schlösser, die er am Vortag in einem Eisenwarenladen gekauft hatte: ein neues Schnappschloss mit Knauf für die Tür in der Halle und ein neues Vorhängeschloss für die untere Tür. Falls einer der Mieter ihn zufälligerweise bei der Arbeit sehen würde, hatte Billy sich eine Erklärung für seine seltsame Kleidung zurechtgelegt — aber niemand erschien, außer einem Botenjungen mit einem Karton Lebensmittel für Amos Shank. Er lief die Treppe hinauf und verließ das Haus wieder, ohne ein Wort zu sagen.
Dann ging Billy in den Keller hinunter, wohin niemand sich je verirrte.
Er brachte das neue Vorhängeschloss an und hängte den Schlüssel an seinen Gürtel, der nun beim Gehen klimperte.
Dann folgte er den Steinstufen hinunter in die tiefsten Regionen des Hauses, in den untersten Keller, wo der Tunnel begann, wo eine seiner Sprenggranaten eine Wand herausgerissen und den Raum dahinter abgeriegelt hatte. Wo der Schutt entfernt worden war, um erneut einen Durchlass zu schaffen.
Er kam nicht gerne hier herunter. Ob mit Rüstung oder ohne, ihm gefiel der Tunnel nicht. Er erinnerte ihn an das Zeitgespenst, dem er darin begegnet war, einem Rätsel, das nicht einmal Ann Heath ihm hatte erklären können, eine flammende Monstrosität mit einer Übelkeit erregenden inneren Organstruktur, die unter der hellen Membrane der Haut pulsierte. Das lag zehn Jahre zurück, aber die Erinnerung daran war noch immer qualvoll lebendig. Das Wesen war ihm nahe genug gekommen, um die Haare auf seiner rechten Kopfseite zu versengen. Er hatte noch Tage danach den Gestank seiner eigenen Verbrennungen in der Nase gehabt.
War es ein Zeitgespenst, das nun hinter ihm her war?
Billy glaubte es nicht. Ann Heath hatte gesagt, sie erschienen niemals außerhalb der Tunnel. Die Tunnel seien ihr Lebensraum. Sie hausten in diesen Zeitrissen in ähnlicher Weise, wie Bakterien in der kochenden Hitze vulkanischer Quellen existierten. Was immer durch die Tür gekommen war, dachte Billy, musste mindestens annähernd menschlich sein.
Er kletterte über den verstreut liegenden Schutt in die Tunnelöffnung, schaute erwartungsvoll in die leere, weiße Röhre, aber dort war kein Zeitgespenst, nicht jetzt, und er nahm an, dass dort auch nie eines sein würde. Ann Heath hatte erzählt, sie seien gefährlich, aber man bekäme sie nur sehr selten zu Gesicht. Trotzdem hielt sich Billy in der Nähe des Eingangs auf. Wie seltsam, dass dieser Übergang so einfach beschaffen war. Billy hatte den Tunnel so weit zerstört, dass er nur einen einzigen Zielort hatte, nämlich ein Haus an der Pazifikküste, ungefähr dreißig Jahre in der Zukunft, und er hatte auch diesen Eingang verschlossen und den dortigen Zeitreisenden getötet, und deshalb hätte eigentlich niemand durch den Tunnel kommen dürfen… aber im Staub waren Fußabdrücke zu sehen.
Die Spuren von Turnschuhsohlen.
Diese Spuren waren ziemlich verwirrend, und Billy fragte sich — während er nervös im fahlen Licht des Tunnels stand —, ob der Eindringling vielleicht aus der anderen Richtung gekommen war: dass er den Tunnel in Manhattan entdeckt hatte und durch ihn in die Zukunft vorgedrungen war.
Aber nein — das Schloss an der Tür war von innen aufgebrochen worden.
Also jemand, der am anderen Endpunkt auf den Tunnel gestoßen war, irgendwo gegen Ende des Jahrhunderts?
Das war möglich, sogar ermutigend. Billy hatte angenommen, dass der Durchgang verschlossen war; dennoch ging er davon aus, dass jemand ihn irgendwie geöffnet hatte. Diese neue Möglichkeit erfüllte ihn mit Zuversicht. Er müsste den Eindringling suchen und töten, was sonst. Er musste der einzige Verwalter und Benutzer des Tunnels bleiben. Dieses Geheimnis war einfach zu groß, als dass er es mit jemandem teilen durfte. Und ein ahnungsloser Besucher aus der nächsten Zukunft wäre eine leichte Beute.
Dennoch, er sollte sich darauf nicht verlassen. Eher sollte er mit einem harten Kampf rechnen und nicht auf ein leicht verwundbares Ziel hoffen.
Er warf einen letzten Blick in den leeren Tunnel, dann schaltete er seine Such- und Testprogramme ein.
Er erfuhr eine ganze Menge.
Seine Rüstung entdeckte und speicherte Fingerabdrücke an den Kellerwänden, Hautproben, wo der Eindringling sich an den Glasscherben, die aus dem Schutt ragten, geschnitten hatte. Der Eindringling war ein Mensch, männlich, Blutgruppe Null positiv. Zu Hause hätte ein fähiges Labor sicherlich ein Bild des Mannes aus einer einzigen Genprojektion erstellen können. Aber Billy hatte diese Möglichkeiten nicht. Er benötigte andere Hilfsmittel, um sein Opfer aufzuspüren.
Die Schwierigkeit der Aufgabe war enorm. Sie zu lösen konnte sich als unmöglich erweisen — ein Durchschnittsbürger aus der Zukunft konnte sich überall und nirgends aufhalten. Er konnte mit einem Flugzeug an einen ihm vertrauten Ort geflogen sein. Er könnte auch Geld auf dem Aktienmarkt investiert und einen Ausflug in seine eigene Vergangenheit unternommen haben.
Aber der Mann war vor weniger als einem Monat hier eingetroffen, und Billy vermutete, dass er mehr Zeit brauchte, um sich zu akklimatisieren und zurechtzufinden. Eines war sicher: Sein Geld nutzte ihm nichts, und sein Wissen war sicherlich wertvoll, jedoch ließ sich damit nichts verdienen. Durchaus möglich, dass er sich ganz in der Nähe aufhielt.
Aber wie sollte er ihn identifizieren?
Billy strich mit einem Finger durch den Staub auf dem Boden. Staub von seiner Sprenggranate, Staub vom Fundament des Gebäudes. Er öffnete eine Tasche im Deckflügel seiner Rüstung und holte das Sichtgerät der Rüstung hervor, eine lederartige schwarze Maske, die sein Gesicht vollständig bedeckte. Er klemmte ein optisches Kabel zwischen Sichtgerät und die Elektronik der Rüstung und ihre Prozessoren, während die Analysegeräte den Staub untersuchten und für Billy die Zusammensetzung als Kurztext ins Sichtgerät übertrugen: Kalkstein, Sand, Granit… und mikroskopisch kleine Partikel des Tunnels selbst Fremdartige langkettige Moleküle, die im matten Licht leuchteten, Hintergrundstrahlung absorbierten und Photonen abstrahlten.
Billy stellte die Bandbreite des Sichtgeräts auf die Frequenz der stärksten Strahlung ein, dann kehrte er zurück in den dunklen Kellerraum.
Mit dem entsprechend justierten Sichtgerät war der leuchtende Staub deutlich zu erkennen.
Billy stand in einer mit mattem Sternenfunkeln erfüllten Kammer. Die Spitze seines Zeigefingers leuchtete wie eine winzige Sternenkonstellation.
Wie viel von dem Staub hatte der Eindringling aus dem Gebäude mitgenommen? Wie viel klebte an ihm? An seinen Schuhen? An seinen Kleidern? Wie lange?
Interessante Fragen.
Ehe er ging, blieb er noch für einen Moment im Tunnel stehen.
Er machte mit klopfendem Herzen einen Schritt vorwärts. Dies war kein Ort, rief er sich in Erinnerung. Es war eine Zeitmaschine. Jeder Schritt beförderte ihn eine genau bemessene Distanz vorwärts: eine Woche, einen Monat? Und was tue ich da draußen? Ich mache einen Schritt: Februar? März? Schneit es? Stehe ich dann draußen im Schnee? Bin ich auf der Jagd? Lebt die Rüstung? Existiere ich überhaupt?
Angenommen, er rannte hundert Meter weiter. 1963? 1964? Hätte der Deckflügel versagt? Wäre die elektronische Drüse eingetrocknet? Bin ich zusammengebrochen und irgendwo gestorben? Angenommen, er ginge noch weiter. Angenommen, er stand in irgendeinem geschützten Teil des Tunnels, über dem das Jahr 1970 ablief, oder 1975, 1980… Lag Billy dann in seinem Sarg auf irgendeinem Friedhof, ein Jahrhundert vor seiner Geburt bereits begraben?
Er empfand plötzlich eine seltsame Schwerelosigkeit, ein Schwindelgefühl.
Es war besser, über diese Dinge nicht nachzudenken.
Zu Hause duschte er; anschließend wusch und polierte er seine Rüstung. Er nahm die Rüstung nur ungern ab. Er hatte noch nicht seine gesamte Energie wieder regeneriert, und das körperliche Bedürfnis war noch immer dringend und unbefriedigt.
Die Lanzette hatte eine schmerzhafte Wunde auf der rechten Bauchseite hinterlassen. Ohne den Hormontropf fühlte er sich klein, verletzlich und nervös. Aber er musste schlafen. Und es wäre Verschwendung, wenn er dabei die Rüstung trug. Morgen, versprach er sich selbst. In der Nacht.
Er träumte von der Sturmzone, von bewaffnetem Kampf in der Zukunft, in der er früher gelebt hatte. Und dann von Ohio, den heißen Sommern und den kalten, schneelosen Wintern dort. Er träumte von dem Bett, in dem er als Kind geschlafen hatte, von einem Heizgerät, das er im Januar und im Februar einschalten durfte. Von bitterkalten Nächten, in denen er vom Kaufhaus zu seiner Behausung wanderte, während der Boden gefroren war und eine Mondsichel am Himmel stand.
Er träumte diese Dinge mit einer so absoluten Klarheit und einer derart quälenden Traurigkeit, dass man beides nur im Traum ertragen konnte. Und dann sah er im Traum das Gesicht Nathans, seines Vaters.
Er erwachte mit dem Wunsch, die Rüstung anzulegen.
Sogar in New York City — sogar im Jahr 1962, in einer Stadt, die eine Achse darstellte, um die sich die ganze Welt drehte — war die Nacht stiller als der Tag.
Billy entschied sich für die stillsten Stunden der Nacht, zwischen drei Uhr und dem Morgengrauen, um seine Suche zu beginnen.
Er trug seine Rüstung, die sich an seinen Körper schmiegte. Über die Beine zog er eine weite, schmutzige Hose. Über den Deckflügel und die Halfter warf er ein zerlumptes Sweatshirt mit der Aufschrift NYU, das er in einem Trödelladen aufgetrieben hatte. Er zog die Kapuze hoch, um den Helm zu verstecken. Der Helm war verräterisch, aber er brauchte sein Sichtgerät. Über dem Sweatshirt trug Billy einen schiefergrauen zerschlissenen Mantel, der bis zu seinen Knien reichte. Den Kragen schlug er hoch.
Ehe er die Wohnung verließ, betrachtete er sich im fleckigen Badezimmerspiegel.
Der schwarze Helm mit seinen kalibrierten Brillengläsern, der unter der Kapuze des Sweatshirts hervorschaute, sah aus wie die Schnauze eines Tiers. Einer Ratte, dachte Billy. Irgendwie sah er aus wie eine lederartige künstliche Kanalratte, die versuchte, auszusehen wie ein Mensch.
Irgendwie sehe ich aus wie ein Albtraum.
Der Gedanke war beunruhigend. Er störte ihn, bis er die Lanzette der Rüstung aktivierte. Danach war alles einfach, war alles klar.
Er hielt sich in den Schatten.
Er stellte das Sichtgerät auf die Leuchtfrequenz des Tunnelstaubs ein. Er konnte seinen eigenen Fußabdrücken folgen — einem schwach blau leuchtenden Pfad — zurück zum Haus in der Nähe des Tompkins Square.
In der Halle des Gebäudes herrschte ein geisterhaftes Licht.
Doch der Eindringling war schon vor längerer Zeit hier gewesen, und es gab keine eindeutige Spur, der man hätte folgen können. Nun, so etwas hatte Billy durchaus erwartet. Es hatte seitdem geregnet; dann war Wind aufgekommen. Hinzu kam die Luftverschmutzung, der Fußgängerbereich, Tausende von Veränderungen, Manipulationen.
Er stand auf der Straße vor dem Haus. Mattes blaues Licht schimmerte hier und da. Etwas klebte an einem Laternenmast. Andere Partikel lagen wie Schneekristalle funkelnd in der schmutzigen Gosse.
Keine richtige Spur, nur unklare Hinweise. Undeutlich, trügerisch.
Er blickte an dem Haus empor. Die Front war dunkel bis auf die Wohnung von Mr. Shank. In diesem Moment zog Arnos Shank seinen Vorhang beiseite — offenbar plötzlich in einem wahnhaften Schub von Kreativität aus dem Schlaf gerissen, und Billy sah zu ihm hinauf. Mr. Shank erwiderte seinen Blick für einen langen, atemlosen Moment… dann wich er vom Fenster zurück. Und die Vorhänge fielen herunter, kamen zur Ruhe.
Billy lächelte.
Was haben Sie gesehen, Mr. Shank? Was meinen Sie denn, wer ich bin, hier draußen in einsamer Nacht?
Billy stellte sich vor, wie er selbst — alt und senil, versunken in einem Traum von alten Zeiten und einem Europa Napoleons — aus seiner heruntergekommenen Wohnung auf eine nächtliche Welt hinuntersähe, die ausschließlich von Monstrositäten bewohnt würde.
Nun, dachte Billy, ich muss ausgesehen haben wie der Tod persönlich.
Gut geraten, Mr. Shank.
Billy lachte lautlos und wandte sich ab.
Er entfernte sich auf einem grob spiralförmigen Kurs vom Tunnel, mied die Fifth Avenue und die Nachtschwärmer im Village und hoffte auf einen handfesten Hinweis, einen Pfeil aus blauem Licht, der ihn zu dem Eindringling führte.
Er fand nichts dergleichen. Er fand jedoch wahllos hier und da Staub — eine größere Menge in einer Öllache an der Kreuzung Ninth Avenue und University Place, eine kleinere Menge im dürren gelben Gras vor einer Bank im Washington Square Park. Billy verharrte für einen Moment vor der Bank, aber es gab nichts weiter, nur einen vagen Hinweis darauf, dass sein Jagdwild vielleicht hier vorbeigekommen war. Er schüttelte missmutig den Kopf und beschloss, sich in südlicher Richtung zu halten, wobei er die Westseite des Parks mied, wo ein paar Prostituierte und Homosexuelle noch immer in der Dunkelheit herumlungerten. Dieser Teil des Parks war ein vertrautes Jagdrevier, wenn seine Rüstung töten musste — wie der Times Square und der Union Square bei Nacht, Orte, wo frei verfügbare Nichtpersonen zusammenkamen. Billys Rüstung wollte in diesem Augenblick töten, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, und er unterdrückte den Impuls.
Er hielt für einen Moment inne, stellte sein Sichtgerät neu ein und schaute zum Himmel empor.
Gewöhnlich war der Himmel völlig konturlos, aber Billys Sichtgerät zeigte ihm zu viele Sterne, als dass er sie hätte zählen können. Wie am Himmel über Ohio, dachte Billy.
Er verspürte plötzlich eine tiefe Sehnsucht, so intensiv, dass es ihn erschreckte. Die Rüstung schüttete komplizierte Neurochemikalien aus, um ihn wachsam zu machen, um ihm bei der Jagd zu helfen — um ihn am Leben zu erhalten. Hier war kein Raum für Nostalgie. Es sei denn, der Deckflügel oder die Lanzette oder die seltsame elektronische Drüse in der Rüstung hatten zu versagen begonnen.
Aber das hatten sie nicht. Und selbst wenn es so gewesen wäre, dann wäre die Wirkung nur vorübergehend gewesen. Billy saß auf einer Parkbank, bis das Heimweh verflog. Dann war der Himmel nur noch der Himmel, rein und bar jeder besonderen Bedeutung. Er justierte sein Sichtgerät neu, überquerte den menschenleeren Washington Square und ging zur Sullivan Street, um seine Suche fortzusetzen.
Und hatte keinen Erfolg. Er verbrachte einen weiteren, unruhigen Tag.
Am frühen Abend ging er ohne Rüstung nach draußen und wanderte durch die geschäftigen Straßen des Village. Eine Zeit lang saß er auf der Terrasse des Café Figaro, wo die Stammgäste ihn irrtümlich für einen der vielen Touristen mittleren Alters hielten. Dabei fragte er sich, ob der Eindringling in der Menge an ihm vorbeigeschlendert war oder ob er gar am nächsten Tisch saß und sich auf seine dreißig Jahre billigen Vorwissens etwas einbildete. Oder ob er vielleicht die Stadt verlassen hatte. Auch das war immer noch eine Möglichkeit. In diesem Fall befände Billys Opfer sich hoffnungslos außer Reichweite, und er bekäme nichts anderes mehr von ihm zu sehen als winzige Reste abnehmender Strahlung.
Aber Billy hatte seine Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Er ging nach Hause, zog seine Rüstung an und wanderte in einem groben Muster drei Stunden lang ohne Erfolg umher.
Er beendete die Nacht, ohne jemanden getötet zu haben, zutiefst enttäuscht.
Und träumte von blauem Licht.
Drei Nächte später, als er durch die Eighth Street nach Westen ging, entdeckte er am Eingang und im Innern eines kleinen Ladens namens Lindner’s Radio Supply ein mattes Leuchten.
Billy lächelte zufrieden, ging nach Hause und legte sich schlafen.
Er erwachte in der Nachmittagshitze.
Er legte seine goldene Rüstung an, aktivierte die Lanzette und zog seinen Tarnanzug darüber. Er verzichtete auf den Helm. Den brauchte er heute nicht.
Er fühlte sich ein wenig seltsam, als er sich bei Tageslicht nach draußen wagte.
Er ging in seinem Mantel zu Lindner’s, handelte sich ein paar neugierige Blicke ein, aber nicht mehr. Er blieb auf dem Bürgersteig vor dem Laden stehen und drückte sein Gesicht gegen die Schaufensterscheibe.
Es war kein großer Laden, aber die Geschäfte schienen recht gut zu gehen. Eine HiFi-Anlage stand im Schaufenster und präsentierte ihre Vakuumröhren. Davor lag eine Karte mit der Aufschrift STEREOPHON! Er sah einen alten Mann hinter einer Holztheke. Billy empfand einen Anflug von Enttäuschung. War dieses schwache Geschöpf seine Beute?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es war noch zu früh, um das eindeutig zu entscheiden.
Er ging über die Straße zu einem Imbissrestaurant, bestellte sich ein Schinkensandwich und Kaffee und besetzte einen Tisch am Fenster.
Bei Lindner’s herrschte mäßiger Betrieb. Leute kamen, Leute gingen. Und jeder hätte der Eindringling sein können. Aber Billy schloss aus dem verschwommenen Leuchten in der vergangenen Nacht, dass der Mann öfter hierhergekommen war. Der Staub — von dem mittlerweile nur noch ein paar winzige Körnchen an seinen Schuhen oder Hosenaufschlägen klebten — konnte nur durch wiederholtes Auftauchen an dieser Stelle hinterlassen worden sein.
Wahrscheinlich ist er ein Angestellter, dachte Billy. Ein Lieferant oder ein Verkäufer.
Das Sandwich schmeckte sehr gut. Er hatte seit Tagen nicht mehr richtig gegessen. Er bestellte ein zweites, eine zweite Tasse Kaffee. Er aß langsam und beobachtete das Kommen und Gehen bei Lindner’s.
Er zählte fünfzehn Personen, die hineingingen, und fünfzehn, die herauskamen, alles Kunden, vermutete Billy. Dann fuhr ein Lieferwagen vor und hielt am Bordstein an. Ein schwitzender Mann in einem blauen Oberhemd lud drei Kartons aus und packte sie auf eine Sackkarre. Billys Interesse wurde geweckt. Das war eine Möglichkeit. Es gab keine Chance, den Lieferwagen zu verfolgen, aber er merkte sich die Zulassungsnummer und den Namen der Speditionsfirma.
Und setzte seine Beobachtung fort.
Kurz nach vier Uhr kam der Imbissinhaber an seinen Tisch. »Sie können nicht einfach hier herumsitzen. Die Plätze sind für zahlende Kunden reserviert.«
Der Gastraum war fast menschenleer. Billy schob einen Zehndollarschein über den Tisch und sagte: »Ich möchte noch einen Kaffee. Den Rest dürfen Sie behalten.« Und dachte dabei: Wenn ich dich töten wollte, könnte ich es hier auf der Stelle tun.
Der Mann starrte auf das Geld, dann sah er Billy an.
Er machte ein finsteres Gesicht und kam mit dem Kaffee zurück. Mit kaltem Kaffee in einer unsauberen Tasse.
»Danke sehr«, sagte Billy.
»Keine Ursache, glaube ich.«
Der letzte Kunde verließ Lindner’s um Viertel nach fünf. Der Laden sollte um sechs Uhr schließen. Billy teilte seine Aufmerksamkeit zwischen der Ladenfront und der Uhr an der Wand des Imbissrestaurants. Um sechs nahm seine Spannung schlagartig zu.
Er beobachtete, wie der alte Mann — der Inhaber, vermutete Billy — mit einem Schlüsselbund in der Hand zur Tür ging und das Schild umdrehte, sodass dort GESCHLOSSEN zu lesen war.
Billy verließ seinen Tisch im Restaurant und trat auf die Straße.
Ein warmer, sonniger Nachmittag.
Bei Lindner’s kam der Inhaber — grauhaarig, mit Halbglatze und fett — durch die Tür und hielt die Schlüssel in der Hand. Dann blieb er stehen, drehte sich um, sagte etwas, schloss die Tür und entfernte sich.
Billys Interesse war sofort geweckt. Der alte Mann musste jemanden dort drinnen zurückgelassen haben.
Es war auf jeden Fall kaum wahrscheinlich, dass der fette Inhaber seine Zielperson war. Er machte viel zu sehr den Eindruck, hier zu Hause zu sein, er wirkte zu gelangweilt. Lass dir Zeit, dachte Billy. Warte und beobachte.
Er stand am Zeitungskiosk und tat so, als sehe er sich eine Ausgabe von Life an.
Der zweite Mann kam einen Moment später durch die Tür und schloss mit seinem eigenen Schlüssel ab.
Dieser Mann, dachte Billy. Sein Herzschlag beschleunigte sich.
Billy folgte in sicherer Entfernung.
Er gehorchte seiner Intuition, aber er zweifelte eigentlich nicht daran, dass dies sein Opfer war. Es war ein relativ junger Mann in verwaschenen Bluejeans, Baumwollhemd und Turnschuhen, die verdächtig anachronistisch aussahen. Staub im Sohlenprofil dieser Schuhe, dachte Billy. Etwas Staub klebte vielleicht auch noch im Stoff seiner Hose. Im Dunkeln würde dieser Mann leuchten wie eine Neonröhre. Dessen war Billy sicher.
Er blieb ein, zwei Straßen zurück und folgte dem Unbekannten.
Der Mann spürte Billys Nähe. Manchmal geschah das bei einem Opfer. Manchmal nicht. Es gab Leute, die nahmen keine Besonderheiten wahr. Man konnte neben ihnen in der U-Bahn sitzen, ihnen auf einer Rolltreppe folgen, über ihre Schultern mitlesen, sie bemerkten es einfach nicht. Häufig meldete sich jedoch beim Opfer ein warnender Instinkt. Es ging ein wenig schneller, warf einen nervösen Blick über die Schulter. Am Ende war es natürlich gleichgültig. Opfer war Opfer. Aber Billy wollte jetzt vorsichtig sein. Er konnte seine Rüstung nicht zu auffällig einsetzen, und er wollte die Spur des Mannes nicht verlieren.
Er überquerte die Straße, dann betrat er einen Spirituosenladen und kaufte eine Flasche Whiskey, aber alles andere wäre auch in Ordnung gewesen. Er klemmte sich die Papiertüte unter den Arm, eilte nach draußen und entdeckte sein Opfer einen Block entfernt, wie es auf eine schmuddelige Wohngegend am Rand des Lagerhausviertels zusteuerte.
Das Opfer blieb einmal stehen, wandte sich um, schaute in Billys Richtung.
Und was siehst du, dachte Billy. Ganz bestimmt nicht das, was Mr. Shank gesehen hat. Nicht den nackten Tod, nicht an einem sonnigen Nachmittag. Billy überquerte an der Ecke die Straße und begutachtete sein Spiegelbild in einem Schaufenster. Er sah einen grauhaarigen Mann in einem schmutzigen grauen Mantel mit einer Flasche in einer braunen Papiertüte. Hässlich, aber kaum verdächtig. Er lächelte ein wenig.
Das Opfer — der Zeitreisende — lief beinahe in ein Taxi hinein. (Billy stellte sich diese Möglichkeit mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung vor.) Er wich im letzten Moment zurück. (Billy empfand erneut eine Mischung aus Erleichterung und Bedauern.) Dann verschwand er in der Halle eines Mietshauses.
Billy merkte sich die Adresse.
Folge ihm, war Billys nächster Gedanke. Folge ihm in das schäbige Zimmer, das er gerade bewohnt. Töte ihn dort. Mach der Sache ein Ende. Seine Rüstung wollte töten.
Dann zögerte Billy…
Und die Welt verdunkelte sich.
Verdunkeln, so nannte er es später. Es erschien ihm wie ein Verdunkeln — im wahrsten Sinne des Wortes. So, als hätte jemand eine Glühlampe in seinem Kopf ausgeknipst.
Er war plötzlich Billy Gargullo, Bauernjunge, und stand in einer schmutzigen Straße auf der Lower East Side in der Vergangenheit, während die Worte töte ihn in seinem Kopf widerhallten wie der Refrain eines obszönen Liedes. Er dachte an den Mann, den er verfolgt hatte, und empfand tiefe Schuld.
Plötzlich war Billy kein Mörder mehr. Er war kein Jäger. Seine Sinne waren nicht geschärft. Er fühlte sich benommen, schwerfällig, ängstlich, wie gelähmt. Seine Kleider waren viel zu schwer. Er begann zu schwitzen.
Seine Rüstung war defekt.
Billy floh.
Das war kein Problem, vor dem er davonlaufen konnte. Aber sein Instinkt riet ihm wegzulaufen. Er rannte, bis er außer Atem war, beugte sich vor und rang nach Luft, dann ging er mit staksigen Sehritten weiter, bis die Straßenbeleuchtung flackernd aufflammte.
Er suchte Schutz in einem Kino an der 42nd Street, wo einsame Männer auf den Baikonen masturbierten oder sich gegenseitig in den Toilettenkabinen befriedigten. In anderen Nächten hatte er hier seine Opfer gesucht. Aber die Ironie seiner Situation entging ihm völlig. Billy kauerte sich auf dem zerschlissenen Kinositz zusammen und hatte beim flackernden Lichtschein der Leinwand nur noch Angst.
Sein Leben könnte beendet sein.
Vielleicht war es von Anfang an ein schlechtes Geschäft gewesen. Billy hatte die Gelegenheit ergriffen, als sie sich ihm bot. War in die wundervolle Vergangenheit zurückgesprungen, hatte die Sturmzone, die Schlachtzone, die Infanterie verlassen, hatte die Todesangst abgestreift. Er hatte die Ausgänge verschlossen und kontrollierte sie. Er führte ein bescheidenes Leben, in dem seine Rüstung ein ganz privater und gelegentlicher Luxus war.
Oh, aber Billy — etwas in ihm hatte sogar in diesem Moment widersprochen —, die Rüstung hält nicht ewig, es gibt keinen Ersatz dort, wo du hingehst, keine Ersatzteile, keine Werkstatt, keine Reparatur. Er sah sich einer bohrenden, unstillbaren und am Ende tödlichen Not gegenüber.
Aber dazu musste es nicht kommen, hatte Billy sich gesagt. Wer konnte schon bestimmen, wie lange die goldene Rüstung halten würde? Ohne Kampfeinsatz, gepflegt, poliert, gewartet, ständig überwacht — vielleicht sogar für immer. Oder so lange, wie Billy lebte. Die Energiepacks schafften das durchaus.
Das redete er sich ein.
Damals war es ihm nicht wie ein Märchen vorgekommen.
Es war ein kalkuliertes Risiko. Vielleicht war dieser Optimismus ein Fehler in seiner mentalen Ausrüstung. Vielleicht war das Skalpell im Militärkrankenhaus ausgerutscht und hatte bei ihm für einen zu unabhängigen Geist gesorgt oder ihn besonders anfällig für Fantasievorstellungen gemacht. Billy hatte sich vor dem Lärm und der Raserei der Kampfzone verkrochen und sich selbst gesagt: Du brauchst nicht hierzubleiben. Das bedeutete sehr viel angesichts des Windes draußen, der ständigen Blitze, des heimlichen Kampfgeschehens in zerstörten Gebäuden, in diesem albtraumhaften öden Land, tausend Meilen von Ohio entfernt.
Er erinnerte sich an diese Zeit, ohne es zu wollen.
Zu dritt hatten sie den Zeitreisenden entdeckt.
Billy tötete die beiden Infanteristen, während sie schliefen. Dann tötete er den Zeitreisenden, den sogenannten Wächter, dessen Name Ann Heath lautete.
Und trat die Rückreise an. Und verschloss die Ausgänge. Und kontrollierte sie regelmäßig.
Erschöpft und verängstigt schlief Billy im Kino ein.
Der Film — ein sogenannter »Kunstfilm«, in dem vorwiegend Leute auftraten, die miteinander Sex hatten — lief weiter.
In seinem Traum sah er sich ganz persönliche Filme an.
Billy hatte wenig Ahnung von Geschichte.
Nach seiner Einberufung, in den langweiligen Stunden im Ausbildungslager, griff er manchmal nach den populären Romanen, die seine Gefährten lasen — illustrierte historische Abhandlungen über die wilden Tage des zwanzigsten Jahrhunderts. Billy gefielen diese Bücher. Es gab immer eine moralische Verurteilung der Sünden der Unersättlichkeit oder des Stolzes. Aber Billy erkannte, dass die Autoren an ihren Geschichten mindestens genauso viel lüsternen Spaß hatten wie er. Einige dieser Bücher waren in Kalifornien verboten worden wegen ihrer offenen Verurteilung von Wälder vernichtenden Holzbaronen, von habgierigen Politikern, die in benzingetriebenen Flugzeugen um die Welt jagten. Als Wehrdienstleistender fand Billy Gefallen an der Promiskuität seiner Vorfahren. Sie hatten, so dachte er, sehr stilvoll am Rand des Abgrunds getanzt.
Das waren seine ersten zusammenhängenden Gedanken über die Vergangenheit.
Der Rest von Billys Wissen waren Alltäglichkeiten. Das Klima hatte begonnen, sich zu verändern, lange bevor er geboren wurde. In der Schule hatten sie ihn fromme Lieder darüber singen lassen. Aber das Klima war Billys Schicksal. Lange vor seiner Geburt hatte sich ein wilder Wirbel tropischer Luft über den Fluten der Karibik und des Golfs von Mexiko gebildet. Die Sturmzone wurde abwechselnd schwächer und stärker. In einigen Jahren war sie kaum mehr als ein winziger Knoten im Gezeitenwechsel, in anderen Jahren brachte sie einen Hurrikan nach dem anderen hervor, zerstörte Küstenregionen, die bereits von den ansteigenden Weltmeeren und den abschmelzenden Polkappen verwüstet waren. Und mit jedem Jahrzehnt — während die Atmosphäre sich um ein oder zwei weitere Grade erwärmte — wurde der Trend immer deutlicher. Die Sturmzone war eine dauerhafte neue Klimaerscheinung geworden.
Als Billy fünf Jahre alt gewesen war, hatte jeder, der es sich leisten konnte, die südöstlichen Küstenstaaten fluchtartig verlassen. Aber die Armen blieben zurück und vermischten sich mit den Flüchtlingen aus der Karibik und Mittelamerika, die die relative Sicherheit dieser zerstörten amerikanischen Städte aufsuchten. Es gab dort Kämpfe um Lebensmittel, Rassenunruhen; Washington schickte Truppen dorthin.
Als er eingezogen wurde, tobte der Krieg bereits seit fast zehn Jahren. Er hatte sich in einen jener Dauerkonflikte verwandelt, der von den renommierten europäischen Nachrichtenkartellen beinahe ignoriert wurde. Ein sinnloser Versuch, sagten einige, einen Landstrich als amerikanisches Territorium zu erhalten, der immer unbewohnbarer wird. Aber der Krieg ging weiter. Billy machte sich anfangs keine Gedanken darüber. Im Alter von zwölf Jahren eingezogen, wurde er von einem Ausbildungscamp zum anderen gebracht, vorwiegend im Westen. Er bewachte zwei Jahre lang die transkontinentale Eisenbahnstrecke, wo sie durch das Gebiet der Aufständischen in Nevada führte. Dort hatten unter Wassermangel leidende Einwohner mehrmals versucht, die Züge in die Luft zu sprengen. Billy machte zwar keine Einsätze mit, aber es gefiel ihm, wenn die Züge vorbeijagten. Sie glichen riesigen silbernen Gewehrkugeln, die in der Sonne glänzten und gefüllt waren mit Getreide, Goldmünzen, Waffen und flüssigem Wasserstoff. Die Züge schwebten lautlos von Horizont zu Horizont und hinterließen Staubteufel, die im Fahrtwind tanzten. Billy stellte sich vor, selbst einmal in einem dieser Züge nach Ohio zu fahren. Aber das war unmöglich. Dann wäre er ein Deserteur gewesen. Es gab Reisebeschränkungen. Er würde erschossen. Aber es war schön, daran zu denken.
Er war einsam in Nevada. Er wohnte in einer Steinbaracke zusammen mit drei anderen Rekruten und einem älteren Offizier mit Rüstung namens Skolnik. Billy fragte sich, ob er wohl jemals eine Frau sehen, umarmen, heiraten würde, ob er jemals ein Kind mit einer Frau bekäme. Billy war einer bewaffneten Abteilung des Siebzehnten Infanteriekommandos zugeteilt, aber noch hatte man ihm seine Rüstung nicht übergeben. Insgeheim hoffte er, er würde nie eine erhalten. Einige Rekruten leisteten für eine gewisse Zeit niedrige Arbeiten und wurden dann in ihre Gemeinden zurückgeschickt. Vielleicht machte man das auch mit ihm. Billy war eifrig darauf bedacht, alles zu tun, was man von ihm verlangte, aber etwas langsam, träge. Es war eine Form stummer Rebellion.
Es klappte nicht. An seinem siebzehnten Geburtstag wurde Billy zur Behandlung in den Osten verfrachtet.
Sie gaben ihm seine Rüstung und schickten ihn in die Zone.
Er erwachte im Kino an der 42nd Street und schlurfte hinaus in die trübe, feuchte Nacht.
Als er nach Hause ging, spürte er einen Energiestoß wie Nadelstiche auf seiner Haut — eine Injektion von der Drüse in seinem Deckflügel, vermutete Billy. Das war ein gutes Zeichen und erfüllte ihn mit Zuversicht. Vielleicht war die Fehlfunktion nur vorübergehend aufgetreten.
Wenigstens waren seine Gedanken wieder zusammenhängender.
Zu Hause angekommen, verband er den Helm mit seiner Rüstung und hoffte, dass die Diagnoseprogramme noch arbeiteten.
Sein Sichtgerät projizierte Kurven und Zahlen in sein Gesichtsfeld. Eine vollständige diagnostische Sequenz dauerte länger als eine Stunde, doch Billy wusste, was die Zahlen zu bedeuten hatten. Er prüfte die elektrischen Systeme, danach die biologischen. Alles war normal oder fast normal, bis auf zwei Punkte: der Blutdruck und die Frequenz einer winzigen Kreislaufpumpe. Billy beendete die allgemeine Diagnose, dann rief er die Zahlenwerte zu einer genaueren Analyse erneut ab. Er verlangte von der Rüstung eine komplette Sequenz aus dem Bauchbereich und wartete gespannt auf das Ergebnis.
Weitere Zahlen erschienen, vorwiegend Druckangaben. Aber Billy wusste, was diese an falscher Stelle sitzenden Kommas zu bedeuten hatten. Ein Blutgerinnsel hatte sich in der dünnen Lanzette festgesetzt.
Billy stieg aus seiner Rüstung.
Er hatte sich nicht vollständig mit neuer Energie aufgeladen, obgleich er die Rüstung in der Vorwoche sehr oft getragen hatte, und vielleicht war das gut so — denn eine volle Aufladung hätte die Drüse im Deckflügel stärker belastet, vielleicht sogar das Blutgerinnsel in eine Arterie transportiert. Er hätte sterben können.
Die Rüstung hing schlaff in seiner Hand. Er drehte das Innere des flexiblen Deckflügels nach außen und entblößte die Lanzette — eine lange, schmale Mikroröhre, die noch nass war von Blut.
Dort hatte sich das Gerinnsel eingenistet.
Billy ging in die Küche und stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd. Während es kochte, schüttete er eine Handvoll Mortonsalz hinein, um den Salzgehalt menschlichen Blutes zu erreichen. Das war eine »Notfallmaßnahme«, eine Technik, die er noch nie ausprobiert hatte, allerdings erinnerte er sich an sie aus seiner Ausbildung.
Als das Wasser so weit abgekühlt war, dass man es benutzen konnte, tauchte Billy die Lanzette hinein.
Mikropumpen reagierten auf die Wärme. Dunkle Blutfäden verteilten sich in dem Wassertopf.
Er konnte allerdings nicht feststellen, ob sich das Gerinnsel ganz aufgelöst hatte.
Er reinigte die Lanzette und setzte sie wieder ein. Dann wickelte er den Deckflügel um seinen Körper, verschloss ihn und ließ das Diagnoseprogramm noch einmal aktiv werden.
Die Zahlen sahen besser aus. Nicht perfekt — aber man konnte schließlich nichts Genaues sagen, ehe er die Lanzette in seinen eigenen Körper eingeführt und seinem eigenen Blut den Zustrom ermöglicht hatte.
Billy aktivierte das System.
Er spürte, wie die Lanzette unter seine Haut glitt. Es brannte ein wenig — vielleicht klebte noch immer etwas Salz an der Mikroröhre, trotz seiner Sterilisierungsmaßnahmen und der Betäubung. Aber wenigstens…
Ah!
… schien alles wieder zu funktionieren.
Billy verspürte ein Schwindel erregendes Gefühl des Triumphs. Er verließ sofort seine Wohnung.
Er hatte sehr viel Zeit verloren. Es war jetzt spät. Ein Straßenreinigungswagen war vor Kurzem durch die Straße gefahren, und Billy sah das Spiegelbild der schmalen Mondsichel auf dem nassen Asphalt.
Nur eine Unterbrechung, sagte er sich. Wie kindisch von ihm, wegen eines solchen geringen Defekts gleich in eine derartige Panik zu geraten. Aber das war durchaus verständlich: All seinen Mut bezog er schließlich aus der Rüstung.
Er dachte an die geheime Drüse, die in den Falten des Deckflügels verborgen war.
Sie war ausgeschaltet, wenn die Rüstung zusammengefaltet war und das Gewebe mit lebensverlängernden Chemikalien getränkt wurde.
Aber die Drüse war etwas Lebendiges — gezüchtet, wie er annahm, in irgendeiner Fabrik. Sie war eine modifizierte Mutation einer Hirnanhang- oder Schilddrüse. Wenn sie lebte, dann lebte sie von Billys Blut, das aus einer Arterie durch das Stilett hineingepumpt, dann behandelt und durch die Lanzette wieder zurücktransportiert wurde. Die Drüse erzeugte die Chemikalien, die Billy zu dem hervorragenden Jäger machten, der er in dieser Nacht war.
Aber weil die Drüse etwas Lebendiges war, konnte sie altern, erkranken, einen Tumor bilden, vergiftet werden — Billy wusste nicht, was noch alles. Trotz der Diagnoseprogramme der Rüstung waren solche Probleme eigentlich das Arbeitsgebiet der Infanterieärzte.
Aber hier gab es keine Infanteriedoktoren.
Er überlegte, ob die Drüse durch das Blutgerinnsel wohl beschädigt worden war. Ob das Blut wieder gerinnen würde. Vielleicht… vielleicht war diese letzte Episode nur ein Symbol für seine eigene Sterblichkeit.
Aber nein, dachte Billy, das stimmt nicht. Ich bin der Tod.
Das ist es, was ich heute Nacht verkörpere. Und der Tod kann nicht sterben.
Er lachte laut auf in seinem freudigen Überschwang. Es war ein gutes Gefühl, wieder zu jagen.
Er ging zu dem Haus, das sein Opfer betreten hatte, als die Jagd unterbrochen worden war. Er justierte die Bandbreite seines Sichtgeräts und entdeckte eine Staubspur blauen Lichts im Hauseingang, sehr schwach. Und die Treppe hinauf.
Heute Abend, dachte Billy, heute kommt alles zusammen.
Heute, endlich, würde er jemanden töten.
Catherine verließ schnellstens den Holzschuppen, wirbelte herum und rannte davon. Dabei stolperte sie über Dornenranken und zerkratzte sich die Beine. Sie fühlte von all dem nichts. Sie hatte zu viel Angst.
Das Ding in dem Schuppen war…
War unbenennbar.
War nicht menschlich.
War die pulsierende Travestie eines menschlichen Wesens.
Sie rannte, bis sie völlig außer Atem war, dann stützte sie sich an einem Baumstamm ab. Ihre Lungen stachen, und ihre bloßen Arme waren blutig von den Nesseln. Der Wald ringsum war still, groß und auf absurde Weise sonnendurchflutet.
Sie ließ sich auf das weiche Bett aus Fichtennadeln sinken, schlang die Arme um ihren Oberkörper.
Sehr vernünftig, dachte Catherine. Was es auch ist, es kann dir nichts anhaben. Es kann sich nicht rühren.
Es war blutig und hilflos. Vielleicht kein Monster, dachte sie; vielleicht ein menschliches Wesen in furchtbarer Not, abgehäutet, zerfleischt…
Aber ein zerfleischtes menschliches Wesen hätte nicht mit dieser ruhigen und ernsten Stimme »Helfen Sie mir« gesagt.
Es war verletzt. Nun, natürlich war es verletzt — eigentlich hätte es längst tot sein müssen! Sie hatte durch seine Haut blicken können, in sein Inneres, durch den Schädel in sein Gehirn. Wer oder was könnte dies einem menschlichen Wesen angetan haben, und welches menschliche Wesen könnte so etwas überleben?
Geh nach Hause, gab Catherine sich selbst den Befehl. Zurück zu Grandma Peggys Haus. Was immer sie unternahm — die Polizei anrufen, einen Krankenwagen alarmieren —, sie konnte es von dort aus tun.
Zu Hause konnte sie nachdenken.
Zu Hause konnte sie die Türen abschließen.
Sie schloss die Türen ab und suchte in den Küchenschränken nach etwas Beruhigendem. Was sie fand, war eine Karaffe aus geschliffenem Glas mit Pfirsichschnaps, noch zu zwei Dritteln voll — »für schlaflose Nächte«, pflegte Grandma Peggy zu sagen. Catherine nahm einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche. Sie spürte die Flüssigkeit wie einen kleinen Heizofen, feurig und wärmend.
Im Bad im Parterre wusch sie sich das Blut von den Armen und besprühte die Kratzer mit Bactine. Ihre Bluse war zerrissen. Sie zog eine andere an, wusch sich das Gesicht und die Hände.
Dann machte sie die Runde im Parterre, überprüfte die Türen, ob sie alle abgeschlossen waren, und blieb vor dem Telefon stehen. Wahrscheinlich sollte ich jemanden anrufen, dachte sie.
911?
Die Polizei von Belltower?
Aber was konnte sie erzählen?
Sie dachte einige Zeit nach, war völlig gelähmt, weil sie sich nicht entscheiden konnte, bis sie eine ganz andere Idee hatte. Es war ein spontaner Impuls, aber durchaus einleuchtend. Sie holte Doug Archers Visitenkarte aus einer Schreibtischschublade und wählte die Nummer, die er auf der Karte notiert hatte.
Sein Auftragsdienst versprach, dass er in einer Stunde zurückrufen werde. Catherine war durch diese unerwartete Verzögerung etwas durcheinander. Sie saß am Küchentisch, die Flasche Pfirsichschnaps vor sich, und versuchte, ihr Erlebnis im Holzschuppen irgendwie einzuordnen.
Vielleicht hatte sie irgendetwas missverstanden. Das war möglich, nicht wahr? Menschen sehen schon mal seltsame Dinge, vor allem, wenn sie gerade eine Krise durchleben. Vielleicht war dieses Wesen schrecklich verletzt worden. Sie hätte wohl doch nicht weglaufen sollen.
Aber Catherine hatte die Beobachtungsgabe einer Künstlerin, und sie erinnerte sich an die Szenerie, als sei sie auf einer Leinwand festgehalten: dunkle Stockflecken auf alten Zeitungen, Sonnenlichtbalken, die durch grün bemooste Wände drangen, und in der Mitte in Pink- und Blautönen und in Rot und Gelb, ein halbfertiges Ding, das die Worte Helfen Sie mir hervorbrachte, während der Kehlkopf in seinem gläsernen Hals hüpfte.
Lieber Gott, dachte Catherine. Das alles ist überhaupt nicht zu fassen. Es ist völlig verrückt.
Sie hatte die Pfirsichschnapskaraffe zur Hälfte geleert, als Doug Archer endlich anklopfte. Catherine öffnete ihm die Tür. Sie war etwas beschwipst, spürte aber immer noch eine versteckte Angst. Er sagte: »Ich hatte hier in der Gegend zu tun, daher dachte ich, ich komme gleich mal vorbei, anstatt Sie anzurufen… Hey, sind Sie in Ordnung?«
Dann, ohne es bewusst zu wollen, lehnte sie sich an ihn. Er fing sie auf und führte sie zur Couch.
»Ich habe etwas gefunden«, stieß sie hervor. »Etwas Furchtbares. Und Seltsames.«
»Sie haben etwas gefunden«, wiederholte Archer.
»Im Wald, bergab, Richtung Süden.«
»Erzählen Sie mir davon.«
Catherine erzählte stammelnd die Geschichte und schämte sich plötzlich ihrer scheinbaren Hysterie. Wie konnte er überhaupt verstehen, was geschehen war? Archer saß aufmerksam in Grandma Peggys Sessel, aber er war im Grunde ein Fremder. Vielleicht war es dumm gewesen, ihn anzurufen. Als er sie gebeten hatte, sich bei ihm zu melden, falls sie etwas Seltsames bemerken sollte… Hatte er womöglich so etwas gemeint? Vielleicht war das Ganze eine Verschwörung. Belltower, Washington, in der Hand von feindseligen Fremden aus dem All. Vielleicht war Archer unter seiner ordentlichen Levi’s und der blauen Jacke von Belltower Immobilien genauso durchsichtig und seltsam wie das Ding im Holzschuppen.
Aber als sie ihren Bericht beendet hatte, stellte sie fest, dass das Erzählen sie ungemein beruhigt hatte.
Archer sagte, dass er ihr glaube, aber vielleicht war das nur Höflichkeit. »Ich möchte, dass Sie mich hinbringen«, fügte er hinzu.
Diese Vorstellung weckte ihre Furcht aufs Neue. »Jetzt?«
»Bald. Heute. Noch vor Einbruch der Dunkelheit.« Er zögerte. »Sie könnten sich auch geirrt haben bei dem, was Sie sahen. Vielleicht braucht wirklich jemand Hilfe.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Möglich, dass es so ist. Aber ich weiß, was ich gesehen habe, Mr. Archer.«
»Doug«, verbesserte er sie geistesabwesend. »Ich denke dennoch, wir müssen dorthin. Falls auch nur die vage Möglichkeit besteht, dass dort draußen jemand verletzt wurde. Ich glaube, wir haben keine andere Wahl.«
Catherine ließ sich das durch den Kopf gehen. »Ja«, sagte sie unglücklich. »Ich denke, Sie haben recht.«
Aber es war später Nachmittag, und der Wald wirkte noch unheimlicher. Gestärkt durch den Brandy und durch ein ausführliches beruhigendes Gespräch, führte Catherine Archer den Berghang hinab am Bach vorbei, zu den Brombeersträuchern und den hohen Douglasfichten und weiter zum Rand der Wiese, wo der Holzschuppen stand.
Der Schuppen hatte sich nicht verändert. Er war mit Moos bewachsen, alt, klein und völlig unauffällig. Sie betrachtete ihn und stellte sich darin Monster vor.
Sie standen einen Moment lang still da und schwiegen.
»Als wir uns das erste Mal trafen, baten Sie mich, auf ungewöhnliche Dinge zu achten.« Sie sah ihn direkt an. »Haben Sie dies hier erwartet? Haben Sie irgendeine Idee, was hier vorgeht?«
»Nein, so etwas hatte ich nicht erwartet.«
Er erzählte ihr die Geschichte von einem Haus, das er einem Mann namens Tom Winter verkauft hatte, von der merkwürdigen, selbsttätigen Ordnung darin, von Tom Winters Verschwinden.
»Steht es hier in der Nähe?«, wollte sie wissen.
»Ein paar hundert Meter in Richtung Straße.«
»Gibt es irgendeine Verbindung?«
Archer zuckte die Achseln. »Es wird allmählich spät, Catherine. Wir sollten es besser tun, solange wir es noch können.«
Sie näherten sich der roh behauenen Tür des Holzschuppens.
Archer langte nach dem Handgriff, doch Catherine hielt ihn zurück. »Nein. Lassen Sie mich.« Du hast ihn gefunden, hätte Grandma Peggy gesagt. Er gehört sozusagen dir, Catherine.
Das Ding im Schuppen war schon ein »Er« und kein »Es« mehr. Sie hatte den Anblick verdrängt und konzentrierte sich auf die Stimme.
Helfen Sie mir.
Catherine holte tief Luft und öffnete die Tür.
Die Sonne hatte sich den Baumspitzen genähert. In dem Holzschuppen war es dunkler als am Morgen. Es war eine grüne, summende, lehmige Dunkelheit. Catherine rümpfte die Nase und wartete darauf, dass ihre Augen sich anpassten. Doug Archer hielt sich dicht neben ihr. Seine Anwesenheit war zumindest ein wenig beruhigend.
Für einige Zeit konnte sie nichts anderes hören als den schnellen Schlag ihres Herzens. Und sie konnte nichts sehen, außer Halbdämmer und Unordnung.
Dann drückte Archer die Tür so weit auf, wie die Scharniere es gestatteten, und etwas mehr Licht drang ein.
Das Monster lag auf dem festgestampften Lehmfußboden genau dort, wo sie es am Morgen zurückgelassen hatte.
Catherine blinzelte. Das Monster blinzelte. Hinter sich hörte sie, wie Archer plötzlich schockiert einatmete. »Heilige Mutter Gottes«, stieß er hervor.
Das Monster richtete seine blassen, feuchten Augen für einen Moment auf Archer. Dann sah es wieder zu Catherine.
»Sie sind zurückgekommen«, stellte es fest.
Das war der schlimme Teil, dachte sie benommen, das wirklich Unerträgliche, diese Stimme aus dieser Kehle. Er klang wie jemand, den man an einer Bushaltestelle traf.
Sie zwang ihre Augen, sich auf etwas über ihm zu richten, auf den Stapel modriger Zeitungen. »Sie sagten, Sie brauchen Hilfe?«
»Ja.«
»Ich habe Hilfe mitgebracht.«
Es war alles, was ihr in diesem Moment einfiel.
Archer drängte sich an ihr vorbei und kniete neben dem Mann nieder — falls es überhaupt ein Mann war. Sei vorsichtig!, dachte sie.
Catherine hörte das Zittern in seiner Stimme. »Was ist mit Ihnen passiert?«
Nun wanderte Catherines Blick zurück zum Kopf des Mannes, zu der Haube aus durchsichtigem Material, dort wo die Schädeldecke hätte sein sollen, und zu dem Gehirn darunter — jedenfalls nahm sie an, dass diese weißliche, undeutliche Masse sein Gehirn sein musste. Das Wesen redete weiter. »Es würde zu lange dauern, wenn ich es erklären müsste.«
»Was wollen Sie, dass wir tun?«, fragte Archer.
»Wenn Sie es schaffen, dann bringen Sie mich zurück ins Haus.«
Archer schwieg für einen Moment. Catherine bemerkte, dass er nicht fragte: In welches Haus? Ins Tom-Winter-Haus, dachte sie. Diese Dinge standen in enger Verbindung miteinander. Mysteriöse Ereignisse und lebende tote Männer.
Sie kam sich vor wie Alice im Wunderland, hoffnungslos verirrt in irgendeinem ungemütlichen Kaninchenbau.
Aber es war wenigstens etwas, das man tun konnte: dieses Monster zu Tom Winters Haus zurückzubringen. Und dass sie darüber nachdachte, wie sie es am besten taten, holte sie auf die Ebene des Praktischen zurück. Es gab ein altes Feldbett, das Grandma Peggy im Keller aufbewahrte. Sie eilte zurück ins Haus ihrer Großmutter und holte es, wobei Doug Archer ihr half. Keiner der beiden redete viel. Sie wollten noch vor Einbruch der Nacht fertig sein. Die Schatten wurden immer länger und bedrohlicher.
Wir müssen das Ding anfassen, dachte Catherine. Sie stellte sich vor, dass das verletzte Ding sich kühl und feucht anfühlen würde, wie die Quallen, die in Pudget Sound an den Strand gespült werden. Sie erschauerte, wenn sie nur daran dachte.
Archer öffnete die Tür des Schuppens und wuchtete den Fremden hoch. Er stützte das Ding — den Mann — mit den Händen unter den Armen ab und führte ihn hinaus ins nachlassende Tageslicht, wo er noch entsetzlicher aussah. Einige Stellen seiner Haut waren dunkel und voller Schuppen, andere waren fleischfarben. Aber ganze Stücke waren durchsichtig wie Fischhaut. Er blinzelte mit grauen Augenlidern ins grelle Licht. Er sah aus wie etwas, das lange unter Wasser gelegen hatte. Ein Bein fehlte. Der Stumpf endete in einer rosigen, porösen Gewebemasse.
Wenigstens gab es kein Blut.
Catherine holte tief Luft und half mit, so gut sie konnte, indem sie den Beinstumpf auf das Feldbett legte. Auch hier war bleiche Haut und ein feines Netzwerk aus Blutgefäßen darunter, als sei das Ganze eine Illustration aus einem Anatomielehrbuch. Aber das Fleisch war nicht kalt oder glitschig. Es war warm und fühlte sich an wie ganz normale Haut.
Archer hob das Kopfende des Feldbettes an und Catherine das Fußende. Der verletzte Mann war schwer, so schwer wie ein normaler Mensch. Seine Fremdartigkeit hatte ihn nicht leichter gemacht. Auch das war gut. Ein Wesen mit einem derartigen Gewicht, so argumentierte Catherine insgeheim, konnte eigentlich kein Gespenst sein.
Es war schwierig, die Röhrenbeine des Feldbettes so zu halten, dass der Mann nicht herunterrollte, und sie schwitzte, und ihre Hände verkrampften sich und schmerzten, als sie aus dem Wald hinaustraten und einen mit Moos und Farn zugewachsenen Pfad entlanggingen in den Garten des Hauses, das Archer ihr beschrieben hatte. Es war ein völlig normal und durchschnittlich aussehendes Haus.
Sie setzten das Feldbett für einen Moment auf der ungemähten Wiese ab. Archer wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. Catherine massierte ihre Hände. Sie wich seinem Blick aus. Wir wollen uns nicht bewusst machen, was wir wirklich tun, dachte sie. Lieber behandeln wir das Ganze als einen ganz normalen Notfall.
Das Ding auf dem Bett sagte etwas. »Sie sollten auf das vorbereitet sein, was Sie im Haus finden.«
Archer musterte das Wesen verblüfft. »Und was ist im Haus?«
»Maschinen. Sehr viele kleine Maschinen. Sie tun Ihnen nichts.«
»Aha«, sagte Archer. Er blickte wieder zum Haus. »Maschinen.« Er runzelte die Stirn. »Ich habe keinen Schlüssel.«
»Sie brauchen auch keinen«, sagte das Monster.
Die Tür öffnete sich schon beim ersten Versuch.
Sie trugen das Feldbett hinein, durch eine ganz normale Küche und in das große Wohnzimmer, das überhaupt nicht normal war, denn die Wände waren mit den Maschinen bedeckt, vor denen das Monster sie gewarnt hatte.
Die Maschinen — es mussten Tausende sein, dachte Catherine — waren wie winzige Edelsteine, bunt, facettiert, insektenhaft, und die Augen waren ausschließlich auf den Mann auf dem Feldbett gerichtet.
Sie waren völlig reglos, aber in Catherines Vorstellung zitterten sie vor Erregung.
Es ist wie eine Heimkehr, dachte sie verwirrt.
Nichts von alledem war möglich.
Sie begriff, dass sie an einem unerwarteten Wendepunkt in ihrem Leben angelangt war. Sie fühlte sich so, wie Menschen sich nach einem Flugzeugabsturz fühlen mussten oder nachdem ihr Haus ein Raub der Flammen geworden war. Nun war alles anders. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Infolge dieser Ereignisse konnte man sich kein normales Bild von der Welt und ihrer Wirkungsweise mehr machen. Nichts von alledem würde hineinpassen.
Aber sie war ruhig. Außerhalb des verfallenen Holzschuppens — außerhalb des Waldes — hatte sogar das Monster nichts Erschreckendes mehr an sich. Er war kein Monster, nur ein etwas seltsamer Mann, der einen seltsamen Unfall gehabt hatte. Vielleicht war er mit einem Fluch belegt worden.
Sie trugen ihn ins Schlafzimmer, wo sich weitere Maschineninsekten aufhielten. Sie half Archer, den Fremden ins Bett zu heben. Archer erkundigte sich mit unsicherer Stimme, was der Mann sonst noch brauchte. »Zeit«, antwortete der Mann. »Und bitte erzählen Sie niemandem davon.«
»In Ordnung«, sagte Archer. Und Catherine nickte.
»Und Nahrung«, sagte der Mann. »Alles, was reich an Proteinen ist. Fleisch wäre gut.«
»Ich hole etwas«, bot Catherine ihre Hilfe an und war über sich selbst überrascht. »Genügt es morgen?«
»Das wäre schön.«
»Wer sind Sie eigentlich?«, wollte Archer nun wissen.
Der Mann lächelte, aber nur ganz knapp. Er weiß sicherlich, wie er aussieht, dachte Catherine. Wenn man fast völlig transparente Lippen hat, dann sollte man nicht lächeln. Es entsteht sonst der gegenteilige Effekt. »Mein Name ist Ben Collier«, sagte er.
»Ben«, wiederholte Archer. »Ben, ich möchte wissen, was Sie sind.«
»Ich bin ein Zeitreisender«, erwiderte Ben.
Sie ließen Ben Collier, den Zeitreisenden, mit seinen Maschinenkäfern allein. Als sie das Haus verließen, bemerkte Catherine, wie Archer zwei Gegenstände vom Küchentisch mitnahm: ein blaues Notizbuch mit Spiralheftung und eine Ausgabe der New York Times.
In Grandma Peggys Haus stürzte Archer sich auf die beiden Dokumente. Catherine kam sich leer, verloren vor. Was käme als Nächstes? Es gab keinerlei Verhaltensmuster für diese Situation. Sie räusperte sich. »Soll ich uns etwas zu essen zubereiten?«, fragte sie. Archer blickt kurz hoch und nickte.
Es war ihr niemals in den Sinn gekommen, dass Menschen, die gemeinsam eine solche Erfahrung gemacht hatten — Leute, die von fliegenden Untertassen entführt oder von Gespenstern besucht wurden —, sich auch mit derart prosaischen Dingen wie einem Abendbrot abgeben mussten. Eine Begegnung mit dem Jenseits, gefolgt von einer Portion Spaghetti carbonara, das war einfach unmöglich.
Nun mal langsam, dachte sie. Eins nach dem anderen. Sie stellte die Bratpfanne auf den Herd, fand eine Hühnerbrust, die sie zum Auftauen am Morgen herausgelegt hatte, holte eine zweite aus dem Tiefkühlfach und taute sie im Schnellverfahren im Mikrowellenherd auf — diese würde sie selbst essen. Catherine hielt wenig von Schnellgerichten, vor allem nicht für Gäste. Sie hielt auch nichts von gebratenem Huhn, aber es ging schnell und war gerade vorhanden.
Sie deckte den Tisch für zwei Personen. Das Esszimmer war geräumig und viktorianisch eingerichtet. Grandma Peggys Kuckucksuhr hing über einem Schrank mit blauem Wedgwoodgeschirr. Catherine setzte die Kaffeemaschine in Gang und servierte das Essen auf dem billigen Geschirr, das sie in einem Laden in Belltower gekauft hatte. Irgendwie erschien es ihr falsch und stillos, von Grandma Peggys Geschirr zu essen, wenn die alte Frau nicht im Haus war. Archer brachte seine beiden Souvenirs, das Notizbuch und die New York Times, an den Tisch. Aber er legte beides neben seinen Teller und machte ihr ein Kompliment über ihre Kochkünste.
Catherine kostete von ihrem Hühnerfleisch. Es schmeckte nicht besonders.
Sie ließ die Hand mit der Gabel sinken. »Nun, in was sind wir da hineingeraten?«
Archer brachte ein Lächeln zustande. »In etwas absolut Unerwartetes. Etwas, das wir nicht begreifen.«
»Sie klingen, als gefiele Ihnen die Geschichte.«
»Tatsächlich? Irgendwie ist es auch so. Es bestätigt in gewisser Weise einen Verdacht, den ich hatte.«
»Einen Verdacht?«
»Dass die Welt viel seltsamer ist, als sie sich dem Auge darbietet.«
Catherine dachte darüber nach. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Als ich achtzehn war, fing ich mit Jogging an. Am liebsten war ich immer an besonders dunklen Winterabenden unterwegs. Ich liebte all die erleuchteten Fenster in den Häusern. Es war ein seltsames Gefühl, der einzige Mensch draußen auf der Straße zu sein und seinen Atem als weiße Wolke zu sehen. Ich stellte mir dann immer vor, dass alles Mögliche passieren konnte, dass ich zum Beispiel um irgendeine Ecke bog und plötzlich in Oz stünde. Und niemand wüsste es — vor allem die Menschen, die hinter den erleuchteten Fenstern schlafwandelten, würden es nie erfahren. Ich wüsste, was für eine Welt es war. Sie nicht.«
»Genau«, pflichtete Archer ihr bei.
»Aber es gab kein Oz. Sondern nur eine andere dunkle Straße.«
»Bis heute.«
»Ist das Oz?«
»Es könnte durchaus sein.«
Sie nickte zustimmend. »Schon möglich. Aber wir können es wohl niemandem erzählen, nicht wahr?«
»Ich glaube nicht.«
»Und wir müssen morgen früh dorthin zurück.«
»Ja.«
»Wir können es nicht einfach vergessen und weggehen. Er braucht unsere Hilfe.«
»Ich denke schon.«
»Aber was ist er?«
»Na ja, ich glaube, er hat uns die Wahrheit gesagt, Catherine. Er ist wohl ein Zeitreisender.«
»Ist so etwas möglich?«
»Keine Ahnung. Vielleicht. Ich schließe schon lange keine Wetten mehr darauf ab, was möglich ist und was nicht.«
Sie deutete auf das Notizbuch und die Zeitung. »Was haben Sie gefunden?«
»Beides gehörte Tom Winter, zumindest nehme ich das an. Sehen Sie.«
Sie schob ihren Teller mit dem Hühnerfleisch beiseite und betrachtete die Zeitung.
Sonntag, 13. Mai 1962. Die abendliche Stadtausgabe.
U.S. KRIEGSSCHIFFE MIT 1800 MARINEINFANTERISTEN UNTERWEGS NACH INDOCHINA: LAOS VERHÄNGT AUSNAHMEZUSTAND… ÄRZTE VERPFLANZEN MENSCHLICHE HERZKLAPPE… KIRCHE IN SPANIEN UNTERSTÜTZT ARBEITER IM KAMPF UM STREIKRECHT
Die Titelseite war vergilbt — aber nur ein wenig.
»Sehen Sie mal in das Notizbuch«, forderte Archer sie auf.
Sie blätterte darin herum. Die Eintragungen füllten nur die ersten drei Seiten. Der Rest des Buchs war leer.
Dringende Fragen, lautete die Überschrift.
Du könntest das Ganze auf sich beruhen lassen, hieß es weiter.
Es ist gefährlich, und du könntest die Finger davon lassen.
Jeder andere Mensch auf der Erde wird Stunde für Stunde weiter in die Zukunft gestoßen, aber du brauchst das nicht mitzumachen. Du hast eine Hintertür gefunden.
Was war vor dreißig Jahren?, las Catherine. Sie haben die Bombe. Denk daran. Sie haben Umweltverschmutzung. Sie haben Rassismus, Ignoranz, Verbrechen, Hunger…
Hast du wirklich Angst vor der Zukunft?
Ich gehe ein einziges Mal zurück. Wenigstens, um mich umzusehen. Um wirklich dort gewesen zu sein. Wenigstens einmal.
Sie sah Doug Archer an. »Es ist eine Art Tagebuch.«
»Aber ein sehr kurzes.«
»Von Tom Winter?«
»Darauf würde ich wetten.«
»Was hat er getan?«
»So wie es aussieht, hat er sich ganz schön in die Scheiße geritten. Aber das bekommen wir schon noch heraus.«
Erst später kam Catherine die nächstliegende Frage in den Sinn: Vielleicht sind auch wir ganz schön in die Scheiße geraten.
Archer schlief auf dem Sofa. Am nächsten Morgen rief er in der Immobilienagentur an und erklärte, er sei krank. »Nicht so gut«, sagte er. »Das stimmt. Jawohl. Ich weiß. Ich weiß. Klar, das hoffe ich auch. Danke.«
Catherine sah ihn fragend an. »Bekommen Sie keine Schwierigkeiten?«
»Ich verliere wohl ein paar Provisionen.«
»Geht das denn?«
»Ich denke schon. Ich hab auch noch andere Eisen im Feuer.« Er grinste sie an — ein bisschen zu wild für Catherines Geschmack. »Hey, hier finden gerade Wunder statt. Sind Sie deswegen denn überhaupt nicht aufgeregt?«
Sie lächelte schuldbewusst. »Ich glaube schon.«
Dann fuhren sie zum Safeway-Supermarkt und besorgten fünf tiefgefrorene T-Bone-Steaks für Ben, den Zeitreisenden.
Archer suchte eine Woche lang das Haus jeden Tag auf, manchmal zusammen mit Catherine und manchmal ohne sie. Er brachte Nahrung, die der Zeitreisende niemals in seiner Gegenwart zu sich nahm; vielleicht absorbierten die Maschinenkäfer sie und führten sie ihm auf direkterem Weg zu. Er wollte die Einzelheiten gar nicht wissen.
Jeden Tag wechselte er einige Worte mit Ben.
Es wurde zunehmend einfacher, ihn als »Ben« zu sehen, als etwas Menschliches und nichts Monströses. Die Bettlaken verhüllten seine Deformierungen zum größten Teil, und die weiße, schuppige Haube, wo seine Schädeldecke eigentlich hätte sein müssen, hatte am dritten Tag so viel Pigmente gebildet, dass man sie als menschliche Haut bezeichnen konnte. Archer hatte zuerst vor den Maschinenkäfern überall im Haus Angst gehabt, doch sie kamen ihm niemals zu nahe und stellten auch keine Bedrohung dar. Daher fing Archer an, Fragen zu stellen.
»Wie lange waren Sie in dem Schuppen?«
»Etwa zehn Jahre.«
»Waren Sie die ganze Zeit in diesem verletzten Zustand?«
»Die meiste Zeit war ich tot.«
»Klinisch tot.«
Ben lächelte. »Mindestens.«
»Was ist mit Ihnen passiert?«
»Ich wurde ermordet.«
»Was hat Sie gerettet?«
»Sie waren es.« Die Maschinenkäfer.
Oder er erkundigte sich nach Tom Winter. »Was ist mit ihm geschehen?«
»Er ist irgendwo hingegangen, wo er nicht hätte hingehen sollen.«
Das klang irgendwie seltsam. »Hat er eine Zeitreise unternommen?«
»Ja.«
»Lebt er noch?«
»Das weiß ich nicht.«
Kurze Fragen, kurze Antworten. Archer beließ es dabei. Er versuchte, ein Gefühl dafür zu bekommen, wer diese Person in Wirklichkeit war — wie gefährlich oder wie vertrauenswürdig. Und er spürte, dass Ben ähnliche Urteile über ihn fällte, vielleicht auf eine etwas genauere oder sicherere Art und Weise.
Catherine schien darüber nicht sehr überrascht zu sein. Sie ließ Archer gelegentlich in ihrem Wohnzimmer schlafen. Sie nahmen gemeinsam das Abendessen und das Frühstück ein, unterhielten sich manchmal über diese seltsamen Vorgänge und manchmal nicht. Ebenso wie Archer schaute sie jeden Tag im Winter-Haus nach. »Wir sind wie Seelsorger«, sagte Archer. »Wir besuchen die Kranken.« Und sie entgegnete: »So kommt es einem vor, nicht wahr? Irgendwie seltsam.«
Das war es, dachte Archer. Sogar sehr seltsam. Und dass es so seltsam war, stimmte ihn zufrieden. Er erinnerte sich, dass er mit Tom Winter darüber gesprochen hatte, über seine Überzeugung, dass eines Tages der Himmel aufreißen und Frösche und Ringelblumen auf Belltower herabregnen würden. (So ähnlich hatte er sich ausgedrückt.) Und nun war das auf eine gewisse Art und Weise tatsächlich geschehen, und es war ein Geheimnis, das er nur mit Catherine Simmons teilte und vielleicht auch mit Tom Winter, wohin Tom auch verschwunden sein mochte. Er hatte den absoluten Beweis, dass die normale Welt überhaupt nicht normal war… dass Belltower eine Art Massenhalluzination war, eine Normalität vorgaukelnde Bühne, die über einer wilden, fremdartigen Landschaft errichtet worden war.
»Aber auch gefährlich«, widersprach Catherine, als er ihr das mitteilte. »Wir wissen es ja gar nicht. Irgendetwas Furchtbares ist Ben zugestoßen. Er wurde beinahe getötet.«
»Wahrscheinlich gefährlich«, gab Archer zu. »Sie können gerne aussteigen, wenn Sie wollen. Verkaufen Sie das Haus und kehren Sie nach Seattle zurück. Dort dürften Sie in Sicherheit sein.«
Sie schüttelte den Kopf mit einer Entschiedenheit, die er reizend fand. »Das kann ich nicht, Doug. Ich habe das Gefühl, einen Vertrag abgeschlossen zu haben. Er hat mich um Hilfe gebeten. Vielleicht hätte ich in diesem Moment noch weggehen können. Aber ich habe es nicht getan. Ich bin zurückgekommen. Es ist genauso, als hätte ich versprochen, okay, ich helfe Ihnen.«
»Sie haben geholfen.«
»Aber nicht nur dadurch, dass ich ihn ins Haus getragen habe. Das ist nicht alle Hilfe, die er braucht. Erkennen Sie das denn nicht?«
»Doch.« Archer nickte. »Das erkenne ich schon.«
Sie bereitete eine Mahlzeit aus Krabben und Salat zu. Archer hasste Krabben — seine Mutter kaufte immer billiges Krabbenfleisch und Hummer von einem Fischerboot draußen bei der Veteranenstation —, aber er beobachtete lächelnd ihre Bemühungen. »Sie sollten mich irgendwann mal für Sie kochen lassen«, sagte er.
Sie nickte. »Das fände ich nett. Irgendwie ist das Ganze schon komisch. Wir kennen uns kaum, aber wir pflegen diese… Person aus einer Zeitmaschine.«
»Wir kennen uns doch ganz gut«, widersprach Archer. »So viel gibt es doch gar nicht kennenzulernen. Ich bin ein verkrachter Immobilienmakler, und sie sind eine mäßig erfolgreiche Künstlerin aus Seattle, die ihre Großmutter vermisst, weil sie niemals eine richtige Familie gehabt hat. Wir wissen beide nicht, was wir weiterhin mit unserem Leben anfangen sollen, und wir sind einsamer, als wir zuzugeben bereit sind. Mehr gibt es doch dazu nicht zu sagen, oder?«
»Gar nicht schlecht erkannt.« Sie lächelte ein wenig wehmütig und öffnete eine Flasche Wein.
In der darauffolgenden Nacht ging sie mit ihm ins Bett.
Das Bett war ein knarrendes, mit Pfosten versehenes antikes Stück in einem Raum, den Catherine Gästezimmer nannte und der sich im ersten Stock befand. Die Laken waren alt, dünn, fein und kühl. Sie versanken in der Matratze wie in einem Ozean.
Catherine war schüchtern und aufmerksam. Archer war tief bewegt von ihrem Eifer, ihm entgegenzukommen, und er gab sich Mühe, sich entsprechend zu revanchieren. Archer hatte niemals viel von kurzen, einmaligen Gastspielen gehalten. Guter Sex, wie alles andere Gute, erforderte Übung und Lernen. Aber Catherine war sehr leicht zu verstehen, und sie kamen zusammen wie ein altes, vertrautes Paar. Es war auf jeden Fall, so dachte Archer, ein verdammt schöner Anfang.
Nun trieb Catherine neben ihm in den Schlaf hinüber, während Archer wach dalag und auf die Stille lauschte. Hier oben an der Post Road war es sehr ruhig. Zweimal hörte er draußen einen Wagen vorbeifahren — offenbar jemand aus dem Ort, der erst spät nach Hause kam, oder ein Tourist auf der Suche nach dem Highway.
Wichtige Fragen waren entstanden, die beantwortet werden mussten, dachte er. Archer ließ sich das Wort »Zeit« durch den Kopf gehen und überlegte, wie seltsam und einsam er sich dabei fühlte. Als er noch ein Kind gewesen war, fuhr seine Familie immer mit ihm zur Ranch seines Onkels bei Santa Fe in New Mexico. Dort gab es nur Schotterstraßen und die Sangre-de-Christo-Berge in der Ferne, Krüppelkiefern und Salbeibüsche und uralte Pueblos. Das Wort »Zeit« weckte in ihm die gleichen Empfindungen wie diese Wüstenstraßen. Er kam sich vor, als habe er sich in etwas verirrt, das zu groß, zu riesig war, um es zu begreifen. Durch die Zeit zu reisen, dachte Archer, musste genauso sein wie eine Fahrt über diese Straßen. Seltsame Felsformationen und Staubteufel und ein leerer Horizont, wohin man schaute.
Als er erwachte, stand Catherine neben dem Bett und zog sich an. Er wandte sich rücksichtsvoll ab, als sie in ihr Höschen schlüpfte. Archer fragte sich manchmal, ob irgendetwas mit ihm nicht stimmte, wenn er sah, mit welch zweifelndem Ausdruck Frauen ihn morgens zu betrachten pflegten. Aber dann stand er auf und zog sie an sich und spürte, wie sie sich in seinen Armen entspannte. Sie waren demnach immer noch Freunde.
Aber irgendetwas war heute anders, und das kam nicht nur daher, dass sie in der vergangenen Nacht miteinander geschlafen hatten. Etwas an diesem ganzen Projekt war nun weniger rätselhaft, dafür aber ernsthafter geworden. Sie wussten es, ohne miteinander darüber gesprochen zu haben.
Nach dem Frühstück wanderten sie hinunter zum Winter-Haus, um Ben Collier zu besuchen.
Die Steaks aus dem Safeway hatten ihm gutgetan, Ben saß an diesem Morgen aufrecht im Bett und hatte die Decken um seine Taille drapiert. Er sah so fröhlich aus wie ein Buddha, dachte Archer. Aber am Faltenwurf der Laken war zu erkennen, dass sein Bein immer noch fehlte.
Archer glaubte jedoch, dass der Stumpf etwas länger geworden war. Ihm wurde bewusst, dass er erwartete, dem Zeitreisenden würde ein neues Bein wachsen — was offensichtlich tatsächlich der Fall war.
»Guten Morgen«, grüßte Archer. Catherine stand neben ihm, nickte mit dem Kopf und machte noch immer einen etwas ängstlichen Eindruck.
Ben drehte sich um. »Guten Morgen. Vielen Dank für Ihren Besuch.«
Archer räusperte sich. »Wir müssen ernsthaft miteinander sprechen. Uns beiden macht es nichts aus hierherzukommen. Aber, Ben, es ist irgendwie verwirrend. Solange wir nicht wissen, was hier wirklich vorgeht…«
Ben hatte auf Anhieb dafür Verständnis und beschrieb mit der Hand eine Geste. Archer brauche nicht fortzufahren. »Ich begreife sehr wohl«, sagte er. »Ich beantworte all Ihre Fragen. Und dann, wenn Sie nichts dagegen haben, stelle ich Ihnen eine Frage.«
Archer nickte. Das klang fair. Catherine holte zwei Stühle aus der Küche, da sie annahm, dass ihr Gespräch wohl etwas länger dauern würde.
»Wer sind Sie wirklich«, fragte Archer, »und was tun Sie hier?«
Ben Collier überlegte, wie er darauf antworten sollte.
Sich diesen Menschen anzuvertrauen, wäre ein ziemlich radikaler Schritt… aber nicht unbedingt einmalig und unter den gegebenen Umständen eigentlich unvermeidbar. Er war bereit, ihnen zu vertrauen. Dieses Urteil war nur zum Teil intuitiv. Er hatte sie mit seinen eigenen Augen beobachtet und auch mithilfe der kritischeren Augen seiner kybernetischen Helfer. Sie schienen nicht zu lügen und nicht zu versuchen, ihn zu manipulieren.
Vor allem Archer schien eifrig bemüht zu sein, ihm zu helfen. Sie mussten sich mit ihrer beängstigenden Erfahrung auseinandergesetzt haben, und das rechnete Ben ihnen hoch an.
Aber sie würden Mut auch dringend benötigen. Und ob sie den auch in ausreichendem Maß aufbrachten, das war schon schwieriger zu beurteilen.
Er wollte ihre Fragen so ehrlich und gründlich wie möglich beantworten. Das war er ihnen schuldig, gleichgültig, was als Nächstes passierte. Catherine hätte seine Situation weitaus schwieriger machen können, als sie ihn im Schuppen im Wald entdeckt hatte — wenn sie zum Beispiel die Polizei alarmiert hätte. Dadurch, dass sie das unterlassen hatte, war seine Wiederherstellung bedeutend schneller erfolgt. Es wäre daher sinnlos und sehr unfreundlich, wenn er ihnen Lügen über sich selbst erzählte.
Er war, so erklärte er, im Jahr 2157 in einer kleinen Stadt nicht weit vom derzeitigen Städtchen Boulder, Colorado, entfernt geboren worden. Dort hatte er den größten Teil seines Berufslebens verbracht und für eine historische Stiftung wissenschaftlich gearbeitet.
All das machte eine Definition der Begriffe »Städtchen«, »Berufsleben« und »historische Stiftung« notwendig, wenn man bedachte, wie Archer und Catherine diese Worte verstanden — aber sie kamen der Wahrheit doch sehr nahe.
Catherine nickte. »So wurden Sie also Zeitreisender?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wurde rekrutiert und dazu verpflichtet. Catherine, wenn Sie das einundzwanzigste Jahrhundert besuchten, würden Sie dort sehr viele wunderbare Dinge finden, aber die Zeitreise ist nicht dabei. Jeder halbwegs ernsthafte Physiker meiner eigenen Epoche hätte diese Idee von vornherein als unsinnig verworfen. Nicht den Gedanken, dass die Zeit grundsätzlich unveränderbar und vielleicht nicht linear ist, sondern die Vorstellung, dass menschliche Wesen sich in ihr bewegen können. Das Wasser im Ozean ist wie das Wasser in einem Swimmingpool, aber man kann nicht hinüberschwimmen. Ich wurde von Wesen aus meiner eigenen Zukunft ausgesucht, die wiederum von anderen aus ihrer Zukunft rekrutiert worden waren, und so weiter.«
»Ähnlich wie Trittsteine in einem Fluss«, sagte Archer.
»Genauso.«
»Aber wozu wurden Sie ausgewählt?«
»Vorwiegend als Hausmeister. Um in diesem Haus zu wohnen. Um es zu warten und zu schützen.«
»Weshalb?«, fragte Catherine, aber er vermutete, dass sie die Antwort längst wusste.
»Weil dieses Haus eine Art Zeitmaschine ist.«
»Demnach sind Sie gar kein richtiger Zeitreisender«, stellte Archer fest. »Ich meine, Sie kommen aus der Zukunft… aber Sie sind nur eine Art Angestellter.«
»Ich denke, diese Beschreibung passt sehr gut.«
»Die Maschine in diesem Haus funktioniert nicht so, wie sie sollte — habe ich recht?«
Er nickte.
»Aber wenn sie es täte, und Sie wären der Wächter, wer könnte dann hierherkommen? Wer sind die wahren Zeitreisenden?«
Dies war eine heiklere Frage und weitaus schwieriger zu beantworten. »Die meiste Zeit, Doug, käme niemand hierher. Hier herrscht nicht viel Betrieb. Ich sammle vorwiegend zeitgenössische Dokumente, Bücher, Zeitungen, Illustrierte, und schicke sie weiter.«
»An wen?«, wollte Catherine wissen.
»An Leute aus einer Zeit, die meiner eigenen sehr fern ist. Sie sehen menschlich aus, aber sie sind es nicht ganz. Sie haben die Tunnel geschaffen, die Zeitmaschinen.«
Er fragte sich, wie viel Sinn das für sie ergab. »Die wahren Zeitreisenden«, hatte Archer gesagt. Die Beschreibung war genauso gut wie alle anderen. Ben zitterte immer ein wenig bei den Gelegenheiten, wenn er mit diesen Wesen zusammentraf. Sie waren freundlich und nur ein wenig hochmütig. Aber man war sich der evolutionären Kluft stets bewusst. »Bitte, verstehen Sie eines: Vieles von dem entzieht sich meinem Verständnis genauso wie dem Ihren. Alles, was ich wirklich weiß, sind Legenden, die von Leuten wie mir weitergegeben werden, von anderen Wächtern, anderen Hausmeistern. Legenden aus der Zukunft, so könnte man sie nennen.«
»Dann erzählen Sie uns einige«, bat Archer.
Sie beschäftigen sich, berichtete Ben, mit dem Leben auf der Erde.
Man sollte das Ganze mal unter dem Aspekt der geologischen Zeit betrachten.
Im urzeitlichen Sonnensystem wurde die Form der Erde durch die Kollisionen von Kleinplaneten und Meteoriten geschaffen, die auf ihren Kreisbahnen durch das All zogen. Die Erde hat einen flüssigen Kern, eine Hülle aus kälterem Gestein. Sie gibt Gase und Flüssigkeiten ab — Kohlendioxid, Wasser. Nach einiger Zeit bilden sich Atmosphäre und Meere.
Im Laufe der Jahrmillionen entsteht Leben in Gestalt kristalliner Strukturen im porösen Gestein heißer, mineralreicher untermeerischer Quellen. Nach einiger Zeit passen diese kristallinen Strukturen sich ihrem kühleren Lebensraum an, indem sie Proteine aufnehmen. Später wird das kristalline Skelett zurückgelassen, und reines, auf Protein basierendes Leben beherrscht schon bald die noch sehr primitive Biosphäre. RNS und DNS werden als genetische Erinnerung geschaffen, und die Evolution beginnt richtig. Eine fast unendliche Vielfalt von Strukturen kämpft gegen die Umgebung. Niemals wieder wird es derart komplexe Lebensformen auf der Erde geben. Die restliche Evolution wird sparsamer, nimmt einen Ausleseprozess vor.
Das Klima verändert sich. Prokaryotische Zellen vergiften die Atmosphäre mit Sauerstoff. Kontinente treiben als tektonische Platten auf dem Magma. Das Leben wogt in den langen Intervallen zwischen den Kollisionen mit Kometen auf und ab.
Die Menschheit erscheint. Es stellt sich heraus, dass die Menschheit, genauso wie die Gräser, wie blühende Pflanzen, eine der Spezies ist, die den Planeten selbst verändern kann. Sie manipuliert das klimatische Gleichgewicht und wäre beinahe in ihren eigenen Abfallprodukten ertrunken, besäße sie nicht die außerordentliche Fähigkeit, sich selbst zu modifizieren und neue Lebensformen zu schaffen. Diese sind parallele und ergänzende Technologien. Die Menschheit, vom Tode bedroht, lernt, Maschinen nach ihrem eigenen Ebenbild herzustellen. Sie lernt es, sich in grundlegender Weise zu verändern. Die beiden Fähigkeiten wirken zusammen, um eine neue Lebensform zu schaffen, selbstreproduzierend, aber nur noch andeutungsweise biologisch. Sie kann menschlich genannt werden, weil das Menschliche zu ihrer Entwicklung gehört. Sie ist die legitime Erbin der Menschheit. Aber sie unterscheidet sich von der Menschheit genauso wie kristallines Leben von dem Gestein, aus dem es geboren wurde, oder wie auf Protein basierendes Leben von den Kristallstrukturen, die ihm vorausgingen. Diese neuen Wesen sind nahezu grenzenlos anpassungsfähig. Einige leben im Meer, andere leben im Weltraum. Sie besiedelten die meisten Planeten des Sonnensystems. Sie sind sehr erfolgreich. Sie fangen an zu verstehen und manipulieren einige fundamentale Konstanten des physikalischen Universums. Sie besuchen die Sterne. Sie entdecken verborgene Strukturen im Gewebe der Zeit und des Raums.
Ben hielt inne. Er war ein wenig außer Atem geraten. Wie lange war es her, seit ihm diese Geheimnisse erklärt worden waren? Jahre, dachte er — gleichgültig, wie man es misst. »Catherine«, sagte er, »würden Sie bitte das Fenster öffnen? Draußen weht ein angenehmer Wind.« Ein wenig benommen zog sie die Jalousien hoch und kippte das Fenster. »Vielen Dank«, sagte Ben. »Sehr angenehm.«
Archer dachte nach und runzelte die Stirn. »Diese ›neuen Wesen‹ sind diejenigen, die Zeitreisen unternehmen?«
»Die die Maschine bauten, die sich in diesem Haus befindet, ja. Sie müssen begreifen, was Zeitreise bedeutet, in diesem Fall zumindest. Sie haben etwas in der Struktur von Zeit und Raum entdeckt, das man Falten nennen könnte, Risse, wenn Sie wollen, in einer Form und mit einer zeitlichen Ausdehnung außerhalb der definierbaren Grenzen dieses Universums, aber mit Berührungen und Überschneidungen an gewissen Stellen und zu gewissen Zeiten. Es gibt Knotenpunkte des Kontakts. Dieses Haus samt einer Zone ringsum von einigen hundert Metern Durchmesser ist ein solcher Knoten.«
»Warum hier?«, fragte Archer.
»Das ist eine bedeutungslose Frage. Die Knoten sind natürliche Erscheinungen, ähnlich wie Berge. Es gibt Knoten, die unter der Meeresoberfläche in der Erdkruste stecken, oder Knoten, die sich mitten in der Luft befinden.«
»Wie viele Orte wie diesen gibt es?«
Ben zuckte die Achseln. »Das habe ich nie erfahren. Sie neigen dazu, Trauben zu bilden, und zwar sowohl im Raum wie auch in der Zeit. Im zwanzigsten Jahrhundert sind sie ziemlich häufig anzutreffen. Natürlich werden nicht alle benutzt. Und dann bedenken Sie eines: Sie haben eine begrenzte Lebensdauer. Ein Knoten kann zwanzig Jahre lang wirksam sein, fünfzig Jahre, hundert Jahre, ehe er verschwindet.«
Catherine hatte den Erklärungen aufmerksam gelauscht. Sie hob eine Hand. »Habe ich das richtig verstanden? Leute, die weit vor uns in der Zukunft leben, öffnen den Zugang zu diesen Knoten, oder?«
Ben nickte.
»Aber weshalb? Wozu benutzen sie sie?«
»Sie bedienen sich ihrer zum Zweck historischer Untersuchungen. Dieses Jahrhundert — und auch das nächste, mein eigenes — markieren die Geburt ihrer Rasse. Für sie ist es die dunkle und ferne Vergangenheit.«
»Demnach sind sie Archäologen«, schloss Catherine.
»Archäologen und Historiker. Beobachter. Sie achten darauf, sich nicht einzumischen. Dieses Projekt hat auch für sie eine begrenzte Dauer. Die Zeit verstreicht an beiden Enden der Verbindungslinie. Sie arbeiten in einem auf zweihundert Jahre angesetzten Projekt, um ihr Wissen über diese wichtigen Jahrhunderte zu vervollständigen. Wenn sie diese Aufgabe erfüllt haben, wollen sie die Tunnel abbauen. Sie machen sich Sorgen wegen der Auswirkungen des Paradoxons; mit diesem Problem wollen sie sich nicht herumschlagen.«
»Des Paradoxons?«, fragte Catherine.
Archer nickte. »Ein Zeitparodoxon. Zum Beispiel, wenn du deinen eigenen Großvater tötest, ehe du geboren wirst, existierst du dann noch?«
Sie betrachtete ihn staunend. »Woher weißt du das denn?«
»Ich hab früher sehr viel Science-Fiction gelesen.«
»Ich habe gehört, es gibt erste Erklärungsversuche«, sagte Ben. »Das Problem ist nicht so überwältigend, wie man vielleicht den Eindruck haben könnte. Aber niemand ist begierig, einen praktischen Versuch durchzuführen.«
Archer kratzte sich am Kopf. »Allein die Anwesenheit von jemandem aus der Zukunft könnte schon gewisse Auswirkungen haben. Wenn diese Person auch nur eine Pflanze ausreißt oder einen Käfer zerquetscht.«
Ben lächelte. »Dieses Phänomen ist nicht nur auf die Zeitreisen beschränkt. In der Meteorologie nennt man es ›die empfindliche Abhängigkeit von ursprünglichen Bedingungen‹. Die Atmosphäre ist ein einziges Chaos. Ein kleiner Vorfall an einem Ort kann an einem anderen eine enorme Wirkung hervorrufen. Wenn man in China mit der Hand hin und her wedelt, kann man damit einen Sturm im Atlantik auslösen. In ähnlicher Weise könnte man den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl im Jahr 1996 beeinflussen, indem man um 1880 ein Insekt zertritt. Die Analogie ist recht gut, Doug, aber die Verbindung ist nicht unbedingt kausaler Natur. Es gibt stabile Elemente in der Atmosphäre, die stets wiederkehren, egal was passiert…«
»Attraktoren«, warf Archer ein.
Ben gefiel das. »Sie beschäftigen sich mit moderner Mathematik?«
Archer grinste. »Ich versuche es.«
»Mir wurde angedeutet, dass es ähnliche Strukturen auch in der historischen Zeit gibt; sie tauchen immer wieder auf. Aber ja, die Möglichkeit zu einer Veränderung besteht. Es ist ein Beobachterphänomen. Die Regel lautet, dass die Gegenwart immer die Gegenwart ist. Die Vergangenheit ist stets fixiert und unveränderlich, die Zukunft ist immer unbestimmt, egal, wo man sich befindet.«
»Von hier aus betrachtet«, sagte Archer, »ist das Jahr 1988 unveränderlich.«
»Weil es die Vergangenheit ist.«
»Aber wenn ich drei Jahre weit zurückginge…«
»Dann wäre es die Zukunft, daher unvorhersagbar.«
»Aber da ist doch schon das Paradoxon«, sagte Archer. »Es ergibt keinen Sinn.«
Ben nickte. Er hatte sich bereits selbst mit dieser Idee beschäftigt — und sich dann geschlagen gegeben. Es war ein Zen-Paradoxon, das zufälligerweise zutraf und dem daher nicht widersprochen werden konnte. »So funktioniert die Zeit eben«, sagte er. »Wenn es keinen Sinn ergibt, dann nur deshalb, weil man nichts Sinnvolles mit ihr angefangen hat.«
»Sie sagten, es gebe dafür eine ganz spezielle Mathematik?«
»Ich habe etwas Derartiges gehört.«
»Sie kennen sie nicht?«
»Es ist keine Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie kommt mehrere Jahrhunderte später. Ich bezweifle, dass Sie oder ich dies ohne einen gewissen Zuwachs an neuraler Substanz begreifen können.«
Catherine schüttelte den Kopf. »Das alles ist furchtbar abstrakt.«
Archer nickte und beschäftigte sich für einen Moment mit eigenen Gedanken.
Ben schaute aus dem Fenster. Er fand, dass diese Douglasfichten etwas ungemein Beruhigendes ausstrahlten. Dazu gehörte auch das Geräusch, das sie verursachten, wenn der Wind hindurchstrich.
Archer räusperte sich. »Ich habe noch eine weitere wichtige Frage.«
Die kritische Frage. »Sie wollen sicherlich wissen, was schiefgelaufen ist.«
Archer nickte.
Ben seufzte und atmete tief durch. Diese Erinnerungen machten ihm keine Freude.
Er hatte das Folgende aus seinen eigenen Erfahrungen, aus den fragmentarischen Erinnerungen der kybernetischen Helfer und aus Hinweisen konstruiert, die der Tunnel selbst geliefert hatte.
Es gab ein Haus wie dieses, erzählte er Archer und Catherine, ein vorübergehendes Depot, in der zweiten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Es stand in Florida, in jener Zeit Schauplatz heftigster tropischer Unwetter und des Bürgerkriegs.
Der Wächter des Hauses war eine Frau namens Ann Heath gewesen.
(Ann, dachte er, es tut mir leid, dass dies passieren musste. Du warst sehr gütig, als du mich rekrutiert hast, und ich hatte nie die Gelegenheit, dir diese Güte zu vergelten. Die Zeit mag zwar bereist werden können, aber sie lässt sich nicht beherrschen. Das Unerwartete passiert nun mal, und auf lange Sicht sind wir alle sterblich.)
Das Haus in Florida sollte geschlossen werden. Die Umgebung wurde zu unberechenbar. Aber etwas Unerwartetes geschah kurz vor der Schließung. Soweit Ben aus den verfügbaren Hinweisen schließen konnte, drangen Streitkräfte der amerikanischen Regierung in das Haus ein.
Das Haus verfügte über einige Verteidigungsanlagen, ebenso Ann Heath, aber wahrscheinlich waren diese wegen der Schließung bereits entfernt worden. Jedenfalls waren die Soldaten des schlimmen letzten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts wirklich hervorragend und verfügten über Waffen und Rüstungen, die tief in ihren Körpern und Nervensystemen verankert waren.
Einer dieser Männer musste das Haus in Besitz genommen, Ann überwältigt und sie dann gezwungen haben, einige der Geheimnisse des Tunnels zu offenbaren. Der Mann hatte diese Informationen benutzt, um in die Vergangenheit zu fliehen.
(Sie muss tot sein, dachte Ben. Sie haben sie sicherlich getötet.)
Der Eindringling war ohne Vorwarnung hier aufgetaucht, hatte die kybernetischen Helfer mit einem elektromagnetischen Impuls ausgeschaltet, einen großen Teil von Bens Körper zerstört und seine Leiche in den Holzschuppen geschafft. Der Angriff war schnell und erfolgreich abgelaufen.
Dann hatte der Eindringling einen etwa dreißig Jahre langen Tunnel geöffnet, der zu einem Knoten in New York City führte, wo er eine ähnliche Attacke ausgeführt hatte, diese aber gründlicher. Ein weiterer Wächter und all seine kybernetischen Helfer waren unwiederbringlich vernichtet worden.
Schließlich — als letzte, raffinierte Verteidigungsmaßnahme — hatte der Eindringling die Kontrolleinrichtungen des Tunnels funktionsunfähig gemacht, sodass die Verbindung zwischen Belltower und Manhattan permanent offen blieb.
»Permanent offen?«, fragte Catherine. »Was ist denn daran sinnvoll?«
Ben verlor sich für einen Moment in temporaler Heuristik, dann fiel ihm ein simpler Vergleich ein. »Stellen Sie sich die Knoten als Endpunkte eines Telefonnetzes vor. Gleichzeitige Verbindungen sind unmöglich. Ich kann sehr viele verschiedene Endpunkte von meinem Apparat aus anrufen, aber immer nur einen zu einer bestimmten Zeit. So lange die Verbindung mit Manhattan hergestellt ist, kann keine andere Verbindung geschlossen werden.«
»Anders ausgedrückt«, sagte Catherine, »an beiden Enden wurde der Hörer nicht aufgelegt.«
»Genau das meine ich. Er hat sich selbst ausgesperrt. Und uns gleich mit.«
»Aber wenn ein Telefon nicht funktioniert«, sagte Catherine, »kann man immer noch hingehen und an die Tür klopfen. Jemand von einer anderen Endstation hätte doch hingehen und helfen können. Besser noch, sie hätten Sie warnen können. Man hätte 1962 eine Nachricht hinterlassen können: Nehmen Sie sich in siebzehn Jahren vor einem gefährlichen Burschen in Acht«
Oh mein Gott, dachte Ben. »Ich wollte eigentlich gar nicht so tief in die fraktale Logistik einsteigen, aber so einfach funktioniert es nicht. Betrachten Sie das Ganze mal aus der Perspektive der fernen Zukunft. Unsere Zeitreisenden verfügen über einen einzigen Durchgang. Dessen Funktionsdauer bestimmt die Funktionsdauer aller anderen Tunnel. Von deren Standpunkt aus verschwanden Belltower 1979 und Manhattan 1952 praktisch gleichzeitig. Seit diesem Verschwinden sind ungefähr zehn Jahre vergangen, hier und an der Endstation in New York und in der Zukunft. Die Öffnung in diesem Haus wurde 1964 geschaffen, vor fünfundzwanzig Jahren, als sein Valenzpunkt mit Manhattan das Jahr 1937 war… Können Sie mir halbwegs folgen?«
Catherine machte ein hilfloses Gesicht. Archer aber nickte. »Ich denke schon… aber ich finde, man hätte trotzdem eine Nachricht hinterlassen können. Eine Art Warnung.«
»Wahrscheinlich. Aber die Zeitreisenden wollten nicht, und die Wächter haben geschworen, nichts dergleichen zu tun. Dadurch würde eine direkte kausale Schleife geschaffen, wodurch möglicherweise beide Endstellen für immer ausgeschaltet worden wären.«
»Möglicherweise?«
»Niemand weiß das genau«, sagte Ben. »Die Mathematik gibt beunruhigende Hinweise. Niemand möchte das ausprobieren.«
Archer zuckte mit den Schultern. Er verstand das alles nicht, schloss Ben daraus, aber er würde es so glauben, wie er es gehört hatte. »Deshalb ist niemand zu Hilfe gekommen. Deshalb war das Haus leer.«
»Ja.«
»Aber Sie sind am Leben geblieben.«
»Die kybernetischen Helfer haben mich wiederaufgebaut. Es war ein langwieriger Prozess.« Er deutete auf seinen Beinstumpf unter der Bettdecke. »Ich bin noch nicht ganz fertig.«
»Sie waren zehn Jahre lang da draußen?«, fragte Catherine verblüfft.
»Ich habe nicht gelitten, Catherine. An dem Tag, an dem Sie die Tür öffneten, bin ich aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht.«
»Woher wissen Sie denn das alles?«
Das war einfacher zu demonstrieren als zu erklären. Er äußerte seine stumme Bitte, und einer der kybernetischen Helfer kletterte an den Bettlaken empor und saß für einen Moment auf seiner Handfläche — ein glitzerndes, vielbeiniges Schmuckstück.
»Mein Gedächtnis«, sagte er.
»Oh«, erwiderte Catherine. »Ich verstehe.«
Das war ziemlich viel, um alles auf einmal zu verarbeiten, dachte Archer. Zeit als fragmentarische Struktur, wie Sandstein, durchzogen von Rissen und Höhlen; Eindringlinge aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, Insektengedächtnisse…
Aber Ben ließ alles plausibel erscheinen. Plausibel nicht wegen seiner Fremdartigkeit, seiner seltsamen Verletzungen oder seiner winzigen Roboter, sondern wegen seines Verhaltens. Archer hatte keine Schwierigkeiten, diesem Mann zu glauben, dass er ein Akademiker aus dem zweiundzwanzigsten Jahrhundert war, rekrutiert für einen ungewöhnlichen und geheimen Auftrag. Ben war ruhig, intelligent und erweckte Vertrauen. Das konnte natürlich auch eine raffinierte Verkleidung sein. Vielleicht war er ein Angehöriger der marsianischen Fünften Kolonne und mit der Aufgabe betraut, den Planeten zu sabotieren — angesichts von Ereignissen der jüngeren Vergangenheit wäre das nicht überraschend. Aber Archers Instinkt sagte ihm, dass er dem Mann vertrauen konnte.
Einige Fragen blieben jedoch offen.
»Zwei Dinge noch«, sagte Archer. »Wenn Ihr Eindringling in Manhattan so gründliche Arbeit geleistet hat, weshalb hat er hier versagt?«
»Er muss geglaubt haben, dass ich völlig tot und nicht mehr wiederzubeleben war. Wahrscheinlich hat er die kybernetischen Helfer ebenfalls für tot gehalten.«
»Warum ist er nicht zurückgekommen und hat nachgeschaut?«
»Keine Ahnung«, sagte Ben. »Aber vielleicht hatte er Angst vor dem Tunnel.«
»Weshalb das denn?«
Zum ersten Mal zögerte Ben. »Es gibt dort auch noch… andere Wesenheiten«, sagte er schließlich.
Archer wollte der Tonfall des Mannes gar nicht gefallen. Wesenheiten? »Ich dachte, Sie hätten betont, dass niemand diesen Weg benutzen kann.«
Der Zeitreisende hielt inne, als versuchte er, eine Antwort zu formulieren.
»Zeit ist etwas Unermessliches«, sagte er schließlich. »Wir neigen dazu, sie zu unterschätzen. Denken Sie nur an die Leute, die diese Tunnel gebaut haben — Jahrhunderte in der Zukunft. Das ist eine nahezu unfassbare Zeitlandschaft. Aber die Geschichte fing nicht mit ihnen an, und sie hörte auch nicht mit ihnen auf. Tatsache ist, als sie die Verbindungswege schufen, stellten sie fest, dass sie bereits bewohnt waren.«
»Bewohnt von was?«
»Von Erscheinungen. Von Kreaturen, die ohne Vorwarnung erscheinen und verschwinden, ohne irgendeinen offensichtlichen Zielort zu haben. Kreaturen, die in ihrer Erscheinungsform nicht grundsätzlich materiell beschaffen sind.«
»Aus einer noch ferneren Zukunft«, sagte Archer. »Meinen Sie das?«
»Vermutlich. Aber das weiß niemand so genau.«
»Sind sie menschlich? In irgendeinem Sinn?«
»Doug, das weiß ich nicht. Mir sind gewisse Spekulationen zu Ohren gekommen. Sie könnten unsere letzten Nachkommen sein. Oder etwas, das in keiner Beziehung zu uns steht. Sie könnten außerhalb unseres vertrauten Raum-Zeit-Gefüges existieren. Sie scheinen völlig willkürlich aufzutauchen, aber sie könnten durchaus auch irgendeine Absicht, ein Ziel haben, allerdings weiß niemand, wie das aussieht. Vielleicht sind sie die letzten Anthropologen der Welt, indem sie menschliche Geschichte auf irgendeine unvorstellbare Art und Weise sammeln oder sie kontrollieren. Sie erschaffen.« Er zuckte die Achseln. »Letztendlich sind sie völlig unerklärlich.«
»Könnte der Eindringling einem von ihnen begegnet sein?«
»Das ist möglich. Sie erscheinen von Zeit zu Zeit ohne Vorwarnung.«
»Könnte ihn das erschreckt haben?«
»Kann schon sein. Es sind sehr beeindruckende Kreaturen. Und nicht immer freundlich.«
»Wie bitte?«
»Sie achten meist überhaupt nicht auf die Leute in ihrer Nähe. Aber gelegentlich holen sie sich einen.«
Archer blinzelte. »Sie holen sich einen?«
»Ob sie ihn entführen? Oder verspeisen? Der Vorgang ist geheimnisvoll, aber sehr gründlich. Kein Körper bleibt zurück. Auf jeden Fall kommt es sehr selten vor. Ich habe diese Wesen schon gesehen und mich niemals von ihnen bedroht gefühlt. Aber der Eindringling hat vielleicht schon davon gehört, hat es vielleicht sogar miterlebt… ich weiß es nicht. Ich stelle nur Vermutungen an.«
Archer schüttelte den Kopf. »Das alles ist sehr bizarr, Ben.«
»Ja«, sagte Ben. »Das glaube ich auch.«
Archer versuchte seine Gedanken zu sammeln, so gut es ging. »Die letzte Frage…«
»Betrifft Tom.«
Archer nickte.
»Er hat den Tunnel entdeckt«, sagte Ben. »Er hat ihn benutzt. Er hätte es besser wissen müssen.«
»Lebt er noch?«
»Das weiß ich nicht.«
»Könnte eines dieser Gespenster ihn aufgefressen haben?«
Ben hob eine Augenbraue. »Ich möchte betonten, wie unwahrscheinlich das ist. ›Gespenst‹ ist ein ganz guter Vergleich. So nennen wir sie nämlich: Zeitgespenster. Sie sind selten zu sehen und noch seltener gefährlich. Nein, die augenblickliche Gefahr geht von dem Eindringling aus.«
»Demnach könnte Tom durchaus schon tot sein«, interpretierte Archer die ausweichende Antwort des Fremden.
»Möglich ist es.«
»Oder er befindet sich in Gefahr.«
»Das ist sehr wahrscheinlich.«
»Und er weiß es nicht; er weiß praktisch überhaupt nichts von all dem.«
»Nein«, sagte Ben, »das tut er nicht.«
Die Unterhaltung weckte in Catherine große Sorgen.
Sie hatte Ben Collier als einen Besucher aus der Zukunft akzeptiert. Als Erklärung war das genauso gut wie alles andere. Aber die Zukunft sollte ein vernünftiger Ort sein — ein schlichter Ort, geschmackvoll in Weiß dekoriert. So hatte sie es im Fernsehen gesehen. Aber die Zukunft, die Ben beschrieb, war unermesslich, verwirrend, endlos mit all ihren unzähligen Verästelungen. Nichts war sicher, und nichts hatte Bestand. Diese Vorstellung von einem Abgrund von Vergänglichkeiten war beängstigend.
Sie machte sich auch wegen Doug Archer große Sorgen.
Er war in der vergangenen Nacht mit dem schüchternen Eifer eines jungen Hundes in ihr Bett gekrochen. Catherine betrachtete dies als eine Geste der Freundschaft, blickte aber mit Unbehagen auf die Konsequenzen. Sie hatte noch nicht mit vielen Männern geschlafen, weil sie sich immer viel zu sehr für sie engagierte. Ihr fehlte die Fähigkeit zum unverbindlichen Sex. Das war zweifellos ein Vorteil im Zeitalter von Aids, aber zu oft sah sie sich vor die Entscheidung zwischen Frustration einerseits und einer Beziehung, die sie nicht wollte oder brauchte, andererseits gestellt. Zum Beispiel Archer: Wer war dieser Mann wirklich?
Sie streifte ihn mit einem Seitenblick, wie er neben ihr saß in seiner Levi’s, dem zerzausten Haar und einem seltsamen knappen Grinsen im Gesicht und Ben zuhörte, dem porzellanweißen Zeitreisenden. Douglas Archer, der all das irgendwie zu genießen schien. Der die unheimliche Seite an dem Geschehen liebte.
Sie wollte ihn warnen. Sie wollte zu ihm sagen: Hör dir nur all diese Geschichten an. Ein desertierter Soldat aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, ein Tunnel, in dem Zeitgespenster ihr Unwesen treiben und manchmal Leute »mitnehmen«, ein Mann namens Tom Winter, der in der Vergangenheit verschollen ist…
Aber Doug saß da wie ein Junge, der sich gespannt eine Abenteuergeschichte anhört.
Sie sah zu Ben Collier — zu diesem Mann, der zehn Jahre tot gewesen war und das mit dem Gleichmut eines Finanzfachmanns ertragen hatte, der sich zur Konferenz seines Bankenvorstands verspätet hatte — und runzelte die Stirn.
Er will etwas von uns, dachte Catherine.
Er wird nichts fordern. (Das war ihr klar.) Er droht uns nicht. Er wird nicht betteln. Er lässt es sogar zu, dass wir ablehnen. Er lässt uns auch wieder gehen. Er wird sich bei uns für alles bedanken, was wir getan haben, und er meint es aufrichtig.
Aber Doug wird nicht Nein sagen. Doug wird nicht weggehen.
So gut kannte sie ihn bereits. Und so wichtig war er ihr auch schon.
»Vielleicht sollten wir eine kleine Mittagspause einlegen und etwas essen«, sagte Doug gerade. Er sah Ben gespannt an. »Wie ist es mit Ihnen? Wir könnten Ihnen ein paar Steaks zubereiten. Es sei denn, Sie haben sie roh am liebsten.«
»Vielen Dank«, sagte Ben, »aber ich nehme Nahrung nicht auf die übliche Art und Weise zu mir.« Er deutete auf seinen Hals und seinen Leib. »Es sind noch immer einige Reparaturen im Gange.«
»Sind die Steaks gar nicht für Sie?«
»Oh, natürlich sind sie für mich, vielen Dank. Aber die kybernetischen Helfer müssen sie zuerst verdauen.«
»Igitt«, sagte Catherine.
»Es tut mir leid, wenn es Ihnen unangenehm ist.«
Das war es, aber sie zuckte mit den Schultern. »Sie haben meine Tante Lacey zwei Jahre lang mithilfe eines Röhrchens gefüttert, ehe sie starb. Das ist sicher nicht viel schlimmer, nehme ich an. Aber es tut mir für Sie leid.«
»Das ist nur vorübergehend. Und ich habe keine Schmerzen. Essen Sie beide ruhig, wenn Sie wollen. Ich bin hier ganz zufrieden.«
»Okay«, sagte Catherine und fuhr zaghaft fort: »Aber ich habe auch zwei Fragen.«
»Ja, bitte«, sagte Ben.
»Sie haben uns erklärt, Sie seien eine Art Wächter. Ein Hausmeister. Sie sagten, Sie seien ›rekrutiert‹ worden. Aber ich weiß nicht, was das bedeutet. Hat jemand bei Ihnen angeklopft und Sie gefragt, ob sie mitmachen wollen?«
»Ich war Historiker, Catherine. Und ein guter dazu. Ein anderer Hausmeister aus meiner näheren Zukunft sprach mich an, ebenfalls ein Historiker. Betrachten Sie uns als eine Art Gilde. Wir suchen uns unsere Leute selbst.«
»Damit haben Sie aber sehr viel Macht in Händen.« Wächter war eine bescheidene Bezeichnung, dachte Catherine, vielleicht zu bescheiden.
»So muss es aber sein«, sagte Ben. »Die Tunnelbauer reisen in ihre eigene ferne Vergangenheit. Ihre Aufzeichnungen über diese Zeit sind sehr vage. Deshalb sind sie hier. Die Wächter fungieren als ihre Puffer in einer manchmal feindlichen Umgebung. Wir beliefern sie mit aktuellen Dokumenten, und wir helfen ihnen, sich bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie der jeweiligen Zeit einen physischen Besuch abstatten, in die zeitgenössische Kultur einzufügen. Könnten Sie zum Beispiel ein Lager von Cro-Magnon-Menschen betreten und erwarten, dass man Sie für ein Mitglied des Stammes hält?«
»Ich verstehe. Sie waren damit einverstanden?«
»Als man es mir ausführlich erklärt hatte.«
»Einfach so?«
»Nicht ohne eine Gewissenserforschung.«
»Aber Sie müssen doch ein eigenes Leben geführt haben. Es bedeutete doch, dass Sie irgendetwas aufgeben mussten.«
»Nicht so viel, wie Sie vielleicht annehmen. Ich war schon alt, Catherine. Ein alter Mann. Und Langlebigkeit ist so etwas wie eine Kunst in meiner Zeit. Ich war älter als ein Jahrhundert und begann zu versagen. Und ich fühlte mich sehr einsam.«
Er sagte das mit einem Ausdruck von Wehmut, sodass Catherine ihm glaubte. »Hat man Sie wieder jung gemacht?«
»Einigermaßen jung«, sagte Ben. »Jung genug, um ein neues Leben zu beginnen, wenn ich von hier weggehe.«
»Dürfen Sie das denn?«
»Ich bin Angestellter und kein Sklave.«
»Also«, fasste Catherine zusammen, »Sie wollen all diese Schäden reparieren. Sie wollen den Tunnel wieder in Gang setzen und irgendwann nach Hause zurückkehren.«
»Ja.«
»Ist das denn möglich? Können Sie ihn reparieren?«
»Die kybernetischen Helfer reparieren so viele Schäden wie möglich. Dann können wir die Verbindung mit Manhattan schließen, sie isolieren, bis sie dort genauso repariert werden kann. Aber das dauert einige Zeit. Mindestens ein paar Wochen.«
»Und bis dahin«, sagte Catherine, »heißt das Problem Tom Winter.«
»Möglich, dass er völlig sicher ist. Möglich aber auch, dass er es nicht ist. Die kybernetischen Helfer haben versucht, ihn zu warnen, aber sie sahen sich einem enormen Informationshindernis gegenüber — ich fürchte, sie waren nicht sehr präzise. Er könnte den Eindringling aufgescheucht haben, oder er tut es noch.«
Catherine biss sich auf die Lippe. Hier lag das eigentliche Problem. »Sie wollen, dass wir ihn zurückholen.«
Ben machte ein ernstes Gesicht. »Das ist wahrscheinlich in diesem Stadium nicht möglich. Die kybernetischen Helfer könnten eingreifen, und sie bieten vielleicht einen gewissen Schutz vor dem Eindringling, aber die Gefahr ist offensichtlich. Ich werde Sie nicht bitten, keinen von Ihnen.«
Sie brauchen gar nicht zu fragen, dachte Catherine traurig. Sie sah Doug Archer an und wusste Bescheid.
Archer grinste.
»Tom ist ein liebenswerter Hurensohn«, sagte er. »Ich denke, dass ich ihn hierher zurückholen kann.«
Doug ging in die Küche und ließ Catherine mit Ben allein.
Sie zögerte in der Türöffnung, verunsichert durch Bens ausdruckslose Geduld. Schließlich sagte sie: »Ist das wirklich nötig? Wenn Sie Tom Winter nicht zurückholen… würde davon die Welt untergehen?« Sie fügte hinzu: »Ich glaube, Doug riskiert dabei sein Leben.«
»Ich werde alles tun, um das Risiko so gering wie möglich zu halten. Ein gewisses Restrisiko bleibt natürlich bestehen. Die Welt wird nicht untergehen, wenn Tom Winter in Manhattan bleibt… aber es könnte andere Folgen geben. Ich kann es nicht mit Sicherheit vorhersagen.« Er hielt inne. »Catherine, Doug weiß, dass der Durchgang offen ist. Meinen Sie, er hält sich davon fern, wenn ich es von ihm verlange?«
»Nein… ich glaube nicht, dass er das tun würde.« Catherine ärgerte sich darüber, aber sie begriff auch, dass es zutraf. »Auf diese Art und Weise erfüllt er wenigstens einen Zweck. Ist es das?«
»Dann«, sagte Ben, »wird er wohl zurückkommen.«
Tom schlief drei Stunden lang. Er wachte auf und fand Joyce neben sich. Aber er hatte das Gefühl, als hätte er sie bereits verloren.
Er telefonierte mit Max und sagte Bescheid, er komme nicht zur Arbeit. »Vielleicht bin ich am Samstag da und hole die verlorene Zeit nach.«
»Bist du krank?«, wollte Max wissen. »Oder führst du mich an der Nase herum?«
»Es ist wichtig, Max.«
»Wenigstens belügst du mich nicht. Sehr wichtig?«
»Sehr wichtig.«
»Hoffentlich. Das passt mir gar nicht.«
»Es tut mir leid.«
»Bring deine Angelegenheiten möglichst bald in Ordnung, ja? Du leistest gute Arbeit. Und ich habe keine Lust, schon wieder einen Neuen anzulernen.«
Das Problem war nicht Joyce. Das Problem lag in dieser empfindlichen Verbindung, die wahrscheinlich zerbrochen war.
Sie schlief noch, lag entspannt auf ihrer Seite des Bettes und hatte eine Hand unter ihr Kopfkissen geschoben. Das Baumwolllaken war zwischen ihre Beine gerutscht. Ihre Brille lag auf der Apfelsinenkiste neben dem Bett. Sie sah ohne die Brille nackt aus, wehrlos, zu jung. Tom betrachtete sie, trank Kaffee, bis sie einen unglücklichen Laut ausstieß und sich umdrehte.
Er wagte kaum, sich klarzumachen, was dies alles für sie bedeutete. Zuerst war da die interessante Neuigkeit, dass der Mann, mit dem sie zusammenlebte, ein Besucher aus der Zukunft war… gefolgt von einer Begegnung mit etwas Sonderbarem und Monströsem in einem Tunnel unter der Erde. Dies waren Erlebnisse, die eigentlich niemand haben sollte. Vielleicht hasste sie ihn deshalb. Vielleicht sollte sie das auch.
Er wälzte diese Gedanken in seinem Kopf, als sie aus dem Schlafzimmer herausstolperte und sich auf einen Stuhl am dreibeinigen Küchentisch fallen ließ. Tom füllte eine Kaffeetasse für sie und stellte erleichtert fest, dass der Blick, mit dem sie ihn musterte, in keiner Weise hasserfüllt war. Sie gähnte und strich sich das Haar aus der Stirn. »Hast du Hunger?«, fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf. »Oh, Gott. Jetzt etwas essen? Bitte, nein.«
Nichts Hasserfülltes in der Art und Weise, wie sie ihn betrachtete, dachte Tom, aber etwas Neues und Beunruhigendes: ein verletztes, gequältes Erstaunen.
Sie trank ihren Kaffee. Sie sagte, sie habe an diesem Abend einen Auftritt in einem Café namens Mario’s. »Aber ich weiß nicht, ob ich das bringe.«
»Das war eine ziemlich harte Nacht«, stellte Tom fest.
Sie starrte stirnrunzelnd in ihre Kaffeetasse. »Es war doch alles real, oder? Ich denke die ganze Zeit, es war ein Traum oder irgendeine Halluzination. Aber das war wohl nicht der Fall. Wir könnten dorthin zurückkehren, und es wäre noch alles da.«
Tom nickte. »Das wäre es. Wir sollten es aber nicht tun.«
»Wir müssen reden«, sagte sie.
Er nickte. »Ich weiß.«
Sie gingen durch den vormittäglichen Sonnenschein und den Juligeruch von aufgeweichtem Asphalt und heißem Beton zum Frühstücken.
Die Stadt hatte sich seit gestern Abend auch verändert, dachte Tom.
Es war eine Stadt, verloren im Brunnen der Zeit, verzaubert und unendlich fremd, unterirdisch, mehr Legende als Wirklichkeit. Er war aus einer Welt der Enttäuschung und des Irrtums hierhergekommen und hatte ein Taschenuniversum voller Optimisten und zynischer Romantiker entdeckt — mit Menschen wie Joyce, wie Soderman, wie Larry Millstein. Sie sagten, sie hassten die Welt, in der sie lebten, aber Tom wusste es besser. Sie liebten sie mit ihrer Entrüstung und ihren Gedichten. Sie liebten sie mit der Überzeugung ihres eigenen Neuseins. Sie glaubten an eine Zukunft, die sie nicht definieren, sondern nur erahnen konnten — sie benutzten Worte wie »Gerechtigkeit« und »Schönheit«, Worte, die ihren eigenen grundlegenden Optimismus verrieten. Sie glaubten ohne Scham an die Möglichkeit der Liebe und an die Macht der Wahrheit. Sogar Lawrence Millstein glaubte an diese Dinge. Tom hatte einen Durchschlag von einem seiner Gedichte gefunden, den Joyce in einer Küchenschublade vergessen hatte. Das Wort »morgen« war unterstrichen — »… morgen wie ein Vater, der seine müden Kinder liebt und sie zusammensucht«. Ja, dachte Tom, du bist einer von ihnen, Larry, immer vor dich hinbrütend und schlecht gelaunt, aber du singst das gleiche Lied wie sie. Und von all diesen Menschen war Joyce die reinste Inkarnation. Ihre Augen waren auf die Bosheiten der Welt gerichtet, aber sie sah darüber hinweg in einer Art Erlösung, unentdeckt, ein versunkenes Jahrtausend, das wie ein Meerestier dem Licht entgegensteigt.
All das in dieser heißen, schmutzigen, oft gefährlichen und rundum wunderbaren Stadt, in dieser Nautilusschale vergessener Ereignisse.
Aber ich habe das verändert, dachte Tom.
Ich habe es vergiftet.
Er hatte die Stadt mit Alltäglichkeiten, mit Langeweile vergiftet. Die Schlussfolgerung war unausweichlich: Wenn er hierbliebe, würde dies lediglich zu einem Ort werden, an dem er lebte, wären die Morgenzeitungen und die Abendnachrichten nicht wundervoll, sondern vorhersagbar, genauso banal und selbstverständlich wie sein morgendlicher Gang zur Toilette. Sein einziger Trost wäre ein großes, privates auf die Zukunft gerichtetes Panoramafenster, dreißig Jahre breit. Und Joyce.
Das ist Trost genug, dachte Tom… es sei denn, er vergiftete auch sie.
Er versuchte sich daran zu erinnern, was er am Abend vorher gesagt hatte, ein betrunkenes Aufzählen irgendwelcher grundlegender Geschichtsdaten. Zu viel, wahrscheinlich. Er begriff nun, was er gestern schon hätte begreifen sollen: dass er ihr nicht die Zukunft schenkte, sondern dass er sie ihr stahl. Er nahm ihr den Wein ihres Optimismus und gab ihr dafür den sauren Essig seiner eigenen Desillusionierung.
Er bestellte Frühstück in einem kleinen Imbissrestaurant, wo die Serviererin, eine zierliche Farbige namens Mirabelle, sie kannte. »Ihr seht müde aus«, stellte Mirabelle fest. »Und zwar ihr beide.«
»Kaffee«, sagte Tom. »Und zwei Brötchen.«
»Ihr braucht keine Brötchen. Ihr braucht etwas, das euch aufbaut. Ihr braucht Eier.«
»Wenn ich jetzt nur ein Ei sehe«, sagte Joyce, »dann kommt’s mir hoch.«
»Dann nur Brötchen?«
»Das reicht schon«, sagte Tom. »Vielen Dank.«
Joyce sah ihn nicht an. »Ich möchte heute mal etwas allein sein.«
»Das verstehe ich.«
»Du bist sehr rücksichtsvoll«, sagte Joyce. »Du bist ein sehr rücksichtsvoller Mann, Tom. Ist das dort, wo du herkommst, üblich?«
»Wahrscheinlich nicht üblich genug.«
»Die Hälfte der Männer hier reiten die Dylan-Thomas-Masche — sehr scharf und sehr betrunken. Sie deklamieren die schlimmsten Gedichte, und dann sind sie beleidigt, wenn man keine weichen Knie bekommt und sich nicht auf der Stelle auszieht.«
»Und die andere Hälfte?«
»Die ist liebenswert, aber schwul. Du bist eine nette Ausnahme.«
»Vielen Dank.«
»Trotzdem stört mich etwas.«
»Das überrascht mich nicht.«
»Tom, ich weiß, weshalb du mich belogen hast. Das ist durchaus begreiflich. Und es war auch keine richtige Lüge — du hast einfach ein paar Dinge für dich behalten. Weil du nicht wusstest, ob ich sie verstehen würde. Nun, das ist in Ordnung.«
»Jetzt bist du sehr rücksichtsvoll«, gab er ihr Kompliment zurück.
»Nein, es ist wahr. Aber was ich nicht verstehe: weshalb du hier bist. Ich meine, wenn ich ein Loch in der Erde fände mit dem Jahr 1932 am anderen Ende, dann würde ich ganz gewiss nachschauen… aber weshalb würde ich dort leben wollen? Um mir ein paar Filme mit Myrna Loy anzusehen oder ein Schwätzchen mit F. Scott Fitzgerald zu halten? Vielleicht um Herbert Hoover einmal in Fleisch und Blut sehen zu können? Sicher, es wäre absolut faszinierend, das gebe ich zu. Aber ich habe doch ein Leben.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, es wäre etwas anderes, wenn der Tunnel in die andere Richtung verlaufen würde. Es würde mich eher reizen, ein paar Jahrzehnte in die Zukunft zu springen. Aber einen riesigen Schritt zurück zu tun — das ergibt für mich nicht allzu viel Sinn.«
Sie zündete sich eine Zigarette an. Tom verfolgte, wie der Rauch vor ihren Augen hochstieg. Sie hatte eine wichtige Frage gestellt und wartete nun auf seine Antwort.
Er empfand plötzlich eine schreckliche Angst, dass ihm keine einfiel, dass er nichts vorbringen könnte, um sich zu rechtfertigen.
Er sagte: »Aber wenn du kein Leben hättest… wenn dein Leben mies und völlig verkorkst wäre…«
»War es denn so?«
»Ja, Joyce, genau das war es.«
»Neunzehnhundertzweiundsechzig als Alternative zum Selbstmord? Das ist eine recht seltsame Vorstellung, Tom.«
»Es ist auch ein seltsames Universum. So weit das Plädoyer der Verteidigung.«
Mirabelle erschien mit den Brötchen und dem Kaffee. Joyce schob ihren Teller beiseite, als sei er etwas völlig Unwichtiges oder nur eine Ablenkung. Sie sagte: »Okay, aber hör dir an, was mich stört.«
Tom nickte.
»Damals in Minneapolis ging ich mit einem Typen namens Ray. Ray redete die ganze Zeit vom Zweiten Weltkrieg. Wir gingen ins Kino, und anschließend saßen wir in irgendeinem billigen Restaurant, während er mir von Guadalcanal oder von der Schlacht um Midway erzählte. Und zwar alles, jedes kleine Detail — ich kann dir von Midway mehr erzählen, als du jemals wissen willst. Nach einer Weile wurde es richtig seltsam. Eines Tages fragte ich ihn, wie alt er gewesen war, als man die Bombe auf Hiroshima warf. ›Ich war zwölf, fast dreizehn‹, antwortete Ray. Ich fragte ihn weiter, woher er all die Dinge über den Krieg wisse, und er sagte, er habe alles aus Büchern und aus Zeitungsartikeln. Er war niemals in der Armee. Er war untauglich wegen seiner Allergien. Aber das sei ganz okay, sagte er, weil heutzutage ja sowieso nichts passiere, nichts wie damals im richtigen Krieg, nicht einmal Korea sei so gewesen. Er redete davon, wie toll es gewesen sein musste, dass junge Männer ihr Leben für ein Anliegen aufs Spiel setzten, das ihnen wirklich wichtig war. Ich fragte ihn, was er denn getan hätte, wenn er an der Invasion in Italien hätte teilnehmen müssen. Er strahlte mich an und sagte: ›Mann, Joyce, ich hätte alle Nazis umgebracht und mit allen Frauen geschlafen!‹«
Sie stieß eine dichte Rauchwolke aus. »Mein Onkel war in Italien. Er hat nie darüber geredet. Immer wenn ich ihn nach dem Krieg fragte, bekam er einen abweisenden Gesichtsausdruck. Er starrte einen an, bis man den Mund hielt. Daher wusste ich, dass das alles im Grunde großer Unfug war. Es machte mich rasend. Wenn Ray unbedingt wie ein Held leben wollte, weshalb tat er es nicht einfach? Es war nicht einmal das, was man Nostalgie nennt. Er wollte irgendeine magische Veränderung, er wollte in einer Welt leben, in der alles überlebensgroß war. Ich sagte: ›Weshalb gehst du denn nicht nach Italien? Ich gebe zu, dort herrscht gerade kein Krieg. Aber du könntest am Strand leben, dich mit den Fischern volllaufen lassen und dich in irgendein hübsches Bauernmädchen verlieben.‹ Er schüttelte den Kopf. Das sei nicht dasselbe. Die Leute seien anders als früher.«
»Ist die Geschichte wahr?«, wollte Tom wissen.
»Im Wesentlichen, ja.«
»Und die Moral?«
»Ich dachte gestern an Ray. Ich dachte, was ist, wenn er nun einen Tunnel findet? Und wenn dieser Tunnel ins Jahr 1940 zurückführt?«
»Er würde in den Krieg ziehen«, sagte Tom. »Es wäre nicht das, was er erwartet hat, und er hätte Angst und wäre unglücklich.«
»Schon möglich. Aber vielleicht würde es ihm auch gefallen, und das fände ich viel beängstigender, oder nicht? Er würde mit einem Dauerständer herumlaufen, denn es wäre seine Geschichte, und er wüsste, wie sie verläuft. Er würde mit all den italienischen Mädchen schlafen, aber es wäre makaber, schrecklich, denn in Gedanken würde er mit der Geschichte schlafen. Er würde es mit Geistern treiben. Und das finde ich ziemlich entsetzlich.«
Tom stellte fest, dass sein Mund plötzlich trocken war. »Du denkst, dass ich das tue?«
Joyce senkte den Blick. »Ich muss zugeben, dass mir diese Möglichkeit in den Sinn gekommen ist.«
Er sagte, er werde sie nach ihrem Auftritt bei Mario’s abholen. Allein empfand Tom die Stadt um sich herum wie einen Kopfschmerz. Er könnte zu Lindner’s gehen, doch er bezweifelte, dass er sich auf ein Radiochassis konzentrieren konnte, ohne einzuschlafen. Stattdessen fuhr er mit einem Autobus in die Innenstadt und wanderte eine Zeit lang auf der Fifth Avenue herum. Aus einem verrückten Impuls heraus folgte er einer Touristengruppe zur Aussichtsplattform im hundertzweiten Stockwerk des Empire State Building, wo er in einer durch Schlafmangel bedingten Halbtrance am Fenster stand und versuchte, sich die Namen der Gebäude ins Gedächtnis zu rufen, die er erkannte — das Chrysler Building, Welfare Island — und diejenigen unterzubringen, die noch nicht existierten, zum Beispiel das World Trade Center, das noch ein Erdwall am Hudson River war. Das Gebäude, in dem er sich befand, war dreißig Jahre alt, etwa halb so alt wie im Jahr 1989 und um so vieles seinem Art-deco-Glanz näher, erkennbar am feineren Schimmer auf seinem belgischen Marmor und seinen Kalksteinfassaden. Die Touristen waren Ehepaare mit Kindern, mittleren Alters oder jung. Die Männer trugen braune Anzüge und adrette weiße Hemden, die am Hals offen waren, schossen Fotos mit Kodak-Brownies und verteilten Zehncentmünzen an ihre Kinder, die sich um die unförmigen Ferngläser drängten und so taten, als seien es Geschütze, mit denen sie Manhattan im Tiefflug angriffen. Diese Leute streiften Tom mit gelegentlichen Seitenblicken, diesen unrasierten Mann in weitem Sweatshirt und Jeans. Wahrscheinlich ein Beatnik oder irgendein anderer Vertreter des New Yorker Menschenzoos. Tom betrachtete die Stadt durch drahtverstärkte Fenster.
Die Stadt war grau, verraucht, grenzenlos, alt, fremd. Die Stadt war dreißig Jahre zu jung. Die Stadt war ein Fossil in Bernstein, wiederauferstanden, und ihr Pflaster und ihre Vordächer und Oldsmobiles waren mit rätselhaftem Leben erfüllt. Es war eine Stadt der Geister.
Geister wie Joyce.
Er schirmte die Augen gegen die grelle Nachmittagssonne ab. Irgendwo in diesem Gewirr aus Stein und schwarzen Schatten hatte er sich verliebt. Das war eine klare Erkenntnis und nahm dem, was Joyce gesagt hatte, ein wenig die Schärfe. Er schlief nicht mit Gespenstern. Aber er hatte sich vielleicht in eines verliebt.
Und das war vielleicht ein Fehler. Er versuchte sich daran zu erinnern, weshalb er hierhergekommen war und was er erwartet hatte. Einen Rummelplatz: Vielleicht hatte sie recht. Die Sechzigerjahre — dieses legendäre Jahrzehnt — war zu Ende, als er gerade elf gewesen war. Er war in dem Glauben aufgewachsen, etwas Wichtiges versäumt zu haben, obgleich er sich nie ganz sicher war, was — es kam darauf an, mit wem man sich darüber unterhielt. Eine wunderbare oder eine schreckliche Zeit. Als der Vietnamkrieg für oder gegen die Freiheit geführt wurde. Als Drogen etwas Gutes oder etwas Schlechtes waren. Als Sex niemals tödlich war. Ein Jahrzehnt, in dem die »Jugend« wichtig war. Als Tom heranwuchs, hatte das Wort viel von seinem Glanz verloren.
Vielleicht hatte er erwartet, all diese Wunder gebündelt anzutreffen, serviert mit einer Beilage aus Unverwundbarkeit und privatem Wissen. Ein unendliches Geisterdrama, in dem er zugleich Publikum und Darsteller war.
Aber Joyce hatte das unmöglich gemacht.
Er war hierhergekommen mit dem Wunsch nach Liebe — nach irgendeinem erlösenden Segen —, aber Liebe war auf dem Rummelplatz unmöglich. Liebe war eine andere Kategorie. Liebe beinhaltete Verlust und Zeit und Verletzbarkeit. Liebe machte all die Kulissen und Bühnenbilder real: realer Krieg, realer Tod, reale Hoffnungen, reale Wünsche.
Weil er sie liebte, hatte er begonnen, die Welt genauso zu sehen wie sie. Nicht als buntes Ansichtskartenfoto, sondern solide, greifbar, befrachtet mit anderen Bedeutungen.
Er ließ seine Blicke zum Horizont wandern, wo der heiße Dunst der Stadt hochstieg in einen trostlosen blauen Himmel.
Er aß in einer Cafeteria zu Mittag, ging später dann zu Mario’s, einem Kellercafé unter einem Buchladen, bevor Joyce auf die Bühne kam. Die »Bühne« war eine Plattform aus Holzlatten, die mit Sperrholzplatten abgedeckt waren. Dort standen ein Korbstuhl und ein rostfleckiger Mikrofonständer. Letzterer war nicht unbedingt nötig, wenn man den doch recht kleinen Raum betrachtete. Tom setzte sich an einen Tisch in der Nähe der Tür.
Joyce erschien mit ihrer zwölfsaitigen Hohner und einem nervösen Lächeln. In einem Anflug von Eitelkeit hatte sie sich entschlossen, auf der Bühne auf ihre Brille zu verzichten, und Tom war etwas eifersüchtig. Ohne Brille sah er sie nur, wenn sie zusammen im Bett lagen. Ohne Brille und im Licht der Bühnenbeleuchtung war ihr Gesicht unscheinbar, oval und ein wenig eulenhaft. Sie schaute blinzelnd ins Publikum und zog das Mikrofon näher an den Stuhl heran.
Sie begann zaghaft, ließ sich vom Klang der Gitarre tragen. Sie verließ sich mehr auf ihre Finger als auf ihre Stimme. Tom saß inmitten des allmählich ruhiger werdenden Publikums, während sie ein paar Akkordfolgen spielte und einmal innehielt, um eine Saite nachzustimmen. Er schloss die Augen und lauschte dem vollen Klang der Hohner-Gitarre.
»Dies ist ein alter Song«, sagte Joyce.
Sie sang »Fannerio«, und Tom spürte die scharfe Dissonanz der verschiedenen Zeiträume. Dort saß diese langhaarige Frau in einem Café im Village und spielte Folkballaden. Es war ein Bild, das er mit verblassten Technicolorfilmen, zerfledderten Schallplattencovern auf Trödelmärkten, modrigen alten Life-Nummern in Verbindung brachte. Es war ein Klischee, und es war schmerzlich naiv.
Aber dies war Joyce, und sie liebte diese Texte und diese Melodien.
Sie sang »The Bells of Rhymney« und »Lonesome Traveler« und »Nine Hundred Miles«. Ihre Stimme klang direkt, kontrolliert und manchmal untröstlich traurig.
Vielleicht hatte Larry recht, dachte Tom. Wir lieben sie wegen ihrer Güte, und dann treiben wir sie ihr aus.
Was hatte er ihr gegeben?
Eine Zukunft, die sie nicht wollte. Eine Nacht des nackten Grauens in einem Erdloch unter den Mauern von Manhattan. Eine Bürde unbeantwortbarer Fragen.
Er war in ihr Leben getreten wie ein Schatten, wie ein unheiliger Geist, der ihr mit seinem knochigen Finger ihr Grab zuwies.
Er wünschte sich ihren Optimismus und ihre Innigkeit und ihre bedingungslose Anteilnahme, weil er selbst nichts von alledem hatte… weil er all diese Dinge in seiner eigenen unzulänglichen Vergangenheit abgelegt hatte.
Sie sang »Maid of Constant Sorrow« unter einem blauen Scheinwerfer, allein auf einer winzigen Bühne.
Tom dachte an Barbara.
Der Applaus war großzügig. Ein Hut wurde herumgereicht, sie winkte und trat zurück in den Schatten. Tom ging nach vorn und hinter die Bühne, wo sie gerade ihre Gitarre in den Koffer legte. Ihr Gesicht war ernst.
Sie schaute hoch. »Der Geschäftsführer hat gesagt, Lawrence habe angerufen.«
»Hier?«
»Er sagte, er habe den ganzen Tag versucht, uns zu erreichen. Er will, dass wir zu ihm in seine Wohnung kommen; es muss wohl sehr dringend sein.«
Was war los? »Vielleicht ist er betrunken.«
»Möglich. Aber es sieht ihm gar nicht ähnlich, hier anzurufen. Ich denke, wir sollten uns beeilen.«
Sie gingen zu Fuß. Joyce rannte fast und machte sich offensichtlich große Sorgen. Tom war mehr verwirrt als besorgt, aber er machte keine Anstalten, sie zu bremsen.
Sie vergeudeten keine Zeit. Aber sie kamen trotzdem zu spät.
Eine Menschenmenge drängte sich im Treppenhaus, und in der Ferne erklang eine Sirene. Auf der Treppe überall Blut, Blut an den Wänden, Blut, das unter der Tür von Millsteins Apartment hervorgequollen war, eine unglaubliche Menge Blut. Tom versuchte, Joyce zurückzuhalten, aber sie riss sich von ihm los und schrie Lawrences Namen mit einer Stimme, die bereits voller Trauer war.
Eingehüllt in seine Rüstung, wachsam und vollständig mit Energie aufgeladen, identifizierte Billy das blaue Leuchten an der Apartmenttür und stellte sein Sichtgerät auf Breitbandfunktion. Sein Herz schlug in seiner Brust wie eine herrliche Maschine, und seine Gedanken waren schnell und klar.
Der Korridor war leer. Der empfindliche Sinnesapparat Billys katalogisierte den Geruch von Weißkohl, Kakerlakengift, schimmeligem Linoleum; das blasse Blumenmuster der Tapete; die behutsamen Schritte und den Druck seiner Füße auf dem Fußboden.
Er brannte das Schloss mit einem Fingerlaser auf und bewegte sich mit einem Tempo durch die Tür, dass die Angeln ein leises Quietschen von sich gaben, als seien sie überrascht worden.
Er schloss die Tür hinter sich.
Das Apartment war lang gestreckt und hatte einen rechteckigen Grundriss. Eine Tür, offen, führte in die Küche, und eine andere Tür, geschlossen, wahrscheinlich in das Schlafzimmer. Durch ein Fenster am Ende des rechteckigen Raums war die nächtliche Silhouette der Con-Edison-Schornsteine in der Fourteenth Street zu erkennen. Ein Vorhang war mit einem Band zusammengerafft, das an einem einzelnen Nagel befestigt war. Die Wand zur Linken war mit Bücherregalen bedeckt.
Der Raum war leer.
Billy stand einen Moment lang da und lauschte.
Dieser Raum und die Küche waren leer… aber er hörte aus dem Schlafzimmer ein leises Rascheln.
Er lächelte und öffnete diese Tür genauso schnell wie die erste.
Dieser Raum war kleiner und sogar noch schäbiger. Die Wände waren kahl bis auf einen notdürftig gerahmten Druck von einem abstrakten Gemälde. Das Bett bestand aus einer Matratze auf dem Fußboden. In dem Bett lag ein Mann.
Billys Lächeln erstarb, denn das war nicht der Mann, dem er von Lindner’s gefolgt war.
Dies war ein anderer Mann. Dieser war groß und schmalbrüstig. Er war nackt, zog ein Baumwolllaken über sich und blinzelte Billy in der Dunkelheit mit vor Verwunderung weit aufgerissenem Mund an.
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«, fragte der Mann auf der Matratze.
»Aufstehen«, befahl Billy.
Der Mann stand nicht auf.
Er weiß nicht, wer ich bin, erkannte Billy. Er denkt, ich bin ein alter Mann mit einer Motorradbrille. Es ist dunkel; er kann nicht sehr gut sehen. Vielleicht hält er mich für einen Dieb.
Billy korrigierte diesen Eindruck, indem er neben dem ausgestreckten linken Arm des nackten Mannes ein Loch in die Matratze brannte. Das Loch war groß und tief. Es stank nach versengtem Kapok und Baumwolle und nach dem Bohnerwachs auf dem Holzfußboden darunter. Das Loch war schwarz und begann sofort an den Rändern zu brennen. Der nackte Mann stieß einen Schrei aus und erstickte die Flammen mit seiner Decke. Dann sah er zu Billy hoch, und Billy genoss die Angst in seinen Augen. Es war die Art von Angst, die ihn gehorsam und beeinflussbar machte, noch nicht die panikartige Furcht, die ihn unberechenbar werden ließ.
»Aufstehen«, wiederholte Billy.
Als er stand, war der Mann ziemlich groß, aber zu dünn.
Billy fühlte sich durch den schütteren Bartsaum, die sich deutlich abzeichnenden Rippen, das Zittern der Hüftknochen abgestoßen. Sein Penis und das verschrumpelte Skrotum baumelten mitleiderregend zwischen seinen Beinen.
Billy stellte sich vor, wie er den Fleischsack wegbrannte und damit diesen Mann in ähnlicher Weise veränderte, wie die Infanterieärzte es mit ihm getan hatten… aber das war keine vernünftige Taktik.
»Wo ist der Mann, der hier wohnt?«, fragte Billy.
Der nackte Mann schluckte zweimal und erwiderte: »Ich bin der Mann, der hier wohnt.«
Billy ging zur Wand und knipste die Beleuchtung an. Das Licht kam von einer Sechzig-Watt-Birne, die an einer mehrfach verknoteten Schnur von der Decke herabhing. Qualm von der versengten Matratze stieg hoch. Billys Sichtgerät passte sich sofort an dieses neue Licht an und senkte seinen Verstärkungsfaktor. Der nackte Mann blinzelte und kniff die Augen zusammen.
Er starrte Billy an. »Mein Gott«, stieß er schließlich hervor. »Wer sind Sie denn?«
Billy wusste, dass die Frage spontan gestellt wurde und der Mann keine Antwort erwartete. Er sagte: »Wie heißen Sie?«
»Lawrence Millstein«, erwiderte der nackte Mann.
»Arbeiten Sie in einem Laden namens Lindner’s Radio Supply?«
»Nein.«
Das stimmte. Billy hörte es im Zittern der Stimme des Mannes, in den Oberschwingungen seiner Angst.
»Wohnen Sie hier allein?«
»Ja.«
Auch das entsprach der Wahrheit.
»Ein Mann ist von Lindner’s hierhergekommen«, sagte Billy. »Kennen Sie den Mann, der bei Lindner’s arbeitet?«
»Nein«, antwortete Lawrence Millstein.
Aber das war eine Lüge, und Billy reagierte augenblicklich. Er bündelte den Strahl seiner Handgelenkwaffe und schnitt damit den Zeigefinger an Lawrence Millsteins linker Hand über dem obersten Knöchel ab. Millstein stand für einen Moment in stummem Nichtbegreifen da, bis der Schmerz und der Gestank seines verbrannten Fleisches von seinem Gehirn registriert wurden. Er starrte auf seine verletzte Hand.
Seine Knie gaben nach, und er sank auf die angesengte Matratze.
»Sie kennen den Mann, den ich meine«, sagte Billy vorwurfsvoll.
»Ja«, keuchte Millstein.
»Erzählen Sie mir von ihm«, verlangte Billy.
All das erinnerte Billy an früher, vor langer Zeit, in der Zukunft, in Florida, und an die Frau, die dort gestorben war.
Diese Erinnerungen stiegen in ihm auf, während er sich Lawrence Millsteins Geständnis anhörte.
Billy erinnerte sich an die Glasscherbe und an den Namen der Frau, Ann Heath, und an die Art und Weise, wie sie ihn ständig wiederholt hatte, Ann Heath Ann Heath, während ihr das Blut über das Gesicht lief und die Vorderseite ihrer Bluse tränkte, sodass sie aussah wie ein hellroter Latz.
Er war mit seinen Kameraden Hallowell und Piper von Nordwesten aus den Ruinen Miamis herübergekommen, einen wilden Sturm auf den Fersen. Während eines Angriffs von ihrer Einheit abgeschnitten, hatten sie sich angesichts überlegenen Feuers durch ein Labyrinth aus Vorstadtstraßen und fensterlosen Wohnboxen, die von Böen wilder Meeresluft umpeitscht wurden, zurückgezogen. Das Barometer hatte einen Tiefstand erreicht und fiel noch weiter. Die Nacht wurde von grellen Blitzen am östlichen Horizont erhellt, wo eine Wolkenwand um das extreme Vakuum ihres Kerns rotierte. Sie rannten und redeten nicht viel. Sie hatten jede Hoffnung aufgegeben, auf eigenes Gebiet zu gelangen, und sie wünschten sich nichts anderes als einen ausreichenden Abstand zwischen sich und den Aufständischen, ehe sie sich einen Unterschlupf suchten.
Als sie das Haus entdeckten, hatte Billy sich daran gewöhnt, dass der Wind wie eine Riesenfaust ständig auf seinen Rücken einschlug.
Es war ein Haus wie die meisten anderen Häuser in dieser mit Abfall übersäten, leeren Straße, ein flacher Bunker des Typs, der nach den ersten Katastrophen in der Zone gerne als »wetterfest« angepriesen wurde. Natürlich war er das nicht. Aber sein Dach war intakt, und die Mauern schienen sicher und Schutz spendend zu sein; er musste viele Stürme relativ unversehrt überstanden haben. Er war heil, und das hatte Billys Interesse geweckt.
Die meisten dieser Häuser standen leer, aber man konnte immer wieder auf Hausbesetzer stoßen. Daher sprang Bruder Hallowell, ein hochgewachsener Mann und unter seiner Rüstung athletisch gebaut, über einen Zaun und arbeitete sich zur Rückseite des Hauses vor, während Billy und Bruder Piper eine Sprengwaffe durch den schmalen Sichtschlitz neben der Tür warfen. Billy grinste, als die Tür aufgerissen wurde und weißer Qualm in den Regen herauswallte. Er trat über die Schwelle und spürte, wie sein Sichtgerät sich auf die Dunkelheit einstellte. Er nahm einen Taschenlöscher von seinem Gürtel und löschte den brennenden Teppich. Bruder Piper sagte: »Ich öffne für Bruder Hallowell die Hintertür«, und begab sich in den hinteren Teil des Hauses, während Billy die Vordertür vor dem peitschenden Regen schloss und dabei dachte, wie schön es wäre, für die Nacht im Trockenen zu sein… aber dann veränderte die Lage sich sehr schnell auf sonderbare Art und Weise. Bruder Piper begann etwas Unverständliches zu brüllen, Bruder Hallowell trommelte gegen die Hintertür, während Maschinenkäfer aus den Wänden quollen. Sie kamen aus ihren Verstecken hinter Gipsplatten, aus Kisten und Kästen, die Billy irrtümlich für den Abfall von Hausbesetzern gehalten hatte — Tausende von glitzernden, edelsteinähnlichen Kreaturen, die Billy nur vage als etwas Mechanisches identifizieren konnte. Bruder Piper brüllte, als sie an seinen Beinen emporkrabbelten. Billy hatte von brasilianischen Waffen gehört, die von den Aufständischen importiert worden waren, winzige giftige Roboter, so groß wie Tausendfüßler, und er griff instinktiv nach dem Maschinenkiller an seinem Gürtel: eine Impulsbombe von der Größe einer Walnuss, die er scharf machte und gegen die hintere Wand schleuderte. Sie explodierte ohne erwähnenswerte Druckentwicklung. Sie sandte einen Impuls elektromagnetischer Strahlung aus, der stark genug war, um alles in der nächsten Umgebung zu überladen. Sogar Billys Rüstung, die gegen solche Impulse gesichert war, schien zu zögern und schwer zu werden. Sein Sichtgerät verdunkelte sich und lieferte ihm für eine lange Sekunde nur unsinnige Zahlen. Als seine Sicht sich wieder klärte, waren die Maschinenkäfer stumm und regten sich nicht mehr. Bruder Piper führte einen wilden Tanz auf und schüttelte sie von seinen Beinen ab. Dann kam Bruder Hallowell, ihr kommandierender Offizier, durch die Tür aus dem hinteren Teil des Hauses und sagte: »Was ist das denn, verdammt noch mal? Ich musste zwei Bomben einsetzen, um überhaupt reinzukommen, und eine dritte habe ich nach unten geworfen; dieser Bau hat einen Riesenkeller. Bruder Billy, weißt du, was diese kleinen Käfer sind?«
Billy war der Jüngste, aber er las sehr viel. Piper und Hallowell stellten ihm immer derartige Fragen. Diesmal musste er passen.
»Sir, ich habe keine Ahnung«, sagte Billy.
Bruder Hallowell zuckte die Achseln und sagte: »Nun, wir sind ganz sicher in etwas Seltsames hineingeraten. Ihr wisst, dass sich nebenan eine Frau aufhält?«
Billy machte widerwillig einen Schritt vorwärts. Er empfand Abscheu vor dem Geräusch der Maschinenkäfer, die er unter seinen Füßen zerquetschte. »Eine Frau?«
»Richtig«, sagte Bruder Hallowell, »aber deine Sprenggranate, Bruder Billy, hat sie ausgeschaltet. Sie hat ein Stück Glasscheibe im Kopf. Sie ist nicht tot, ihre Augen sind offen, aber… Na komm, sieh selbst.«
Billy war etwas benommen, aber seine Rüstung hielt ihn funktionsfähig. Sogar Bruder Piper beruhigte sich allmählich. Der Deckflügel nahm seine volle Funktion wieder auf, und Billy hatte das Gefühl, als wäre sein Blut um zwei bis drei Grad abgekühlt. Vielleicht war dieses Haus ein Waffenlager. Vielleicht wurden sie dafür belobigt, dass sie es entdeckt hatten. Es war eine angenehme Vorstellung, aber Billy glaubte nicht daran, noch während er darüber nachdachte — die Maschinenkäfer waren ein zu seltsames Produkt, sogar für brasilianische Sektenführer.
Er folgte Bruder Hallowell ins Zimmer nebenan, wo eine Frau in einer Ecke zwischen zwei Kisten auf dem Fußboden lag. Die Sprenggranate hatte eine gläserne Trennwand zerstört und einen langen grün getönten Keil zwischen rechtem Ohr und rechtem Auge in den Kopf der Frau getrieben. Es war Blut zu sehen, aber nicht so viel, wie Billy erwartet hatte. Der Anblick dieser jungen Frau mit einem Glaskeil, der aus ihrem Schädel ragte wie ein besonders grässlicher Partyhut, rührte Billy seltsam an. Er bückte sich, um den Glaskeil zu berühren — eine fast andächtige Geste —, und als seine Finger dagegenstießen, blinzelte die Frau und atmete zischend ein… nicht vor Schmerzen, dachte Billy, sondern als hätte das Vibrieren seiner Berührung irgendeine angenehme, längst versunkene Erinnerung in ihr geweckt. Sie schaute mit einem Auge, dem linken, zu Billy hoch. Das rechte Auge, blutunterlaufen, starrte gleichgültig auf irgendetwas, das nicht vorhanden war.
»Wie heißen Sie?«, fragte Billy.
»Ann Heath«, erwiderte die Frau einfach.
»Weg da.« Billy machte Platz, während Bruder Hallowell eine Erste-Hilfe-Tasche aus seinem Rucksack holte und ein kardiovaskuläres Gerät heraussuchte. Er riss die Bluse der Frau auf, dann klemmte er das Gerät zwischen ihre Brüste. Als er es einschaltete, hörte Billy, wie die hämotropen Röhren sich in Ann Heaths Körper bohrten. Es war ein furchtbares Geräusch. »Oh«, seufzte die Frau, als das Gerät begann, ihren Atem zu regulieren. Nun würde sie nicht sterben, selbst wenn ihr Herz und ihre Lungen streikten, allerdings konnte sie noch immer ins Koma fallen. Billy erkannte den Zweck dieses Schritts: Sie sollte noch für eine Weile in einem Zustand gehalten werden, in dem man sie verhören konnte.
Bruder Hallowell wartete einen Moment, bis die Maschine einwandfrei funktionierte, dann beugte er sich über Ann Heath. »Ma’am«, sagte er, »können Sie mir genau erklären, was dieses Haus ist?«
Ann Heath antwortete gehorsam, als ob die Glasscherbe den Teil ihres Gehirns, der für Vorsicht und Widerstand zuständig war, abgetrennt hätte, um nur noch Diensteifer und Unterwürfigkeit übrig zu lassen.
»Eine Zeitmaschine«, sagte sie.
Bruder Hallowell verzog in seiner Verblüffung das Gesicht zu einer fast spaßigen Grimasse. »Eine was?«
»Eine Zeitmaschine«, sagte Ann Heath. Die kardiovaskuläre Maschine legte ein Zittern in ihre Stimme, das klang, als hätte sie einen heftigen Schluckauf.
Bruder Hallowell seufzte. »Sie ist durcheinander«, sagte er. »Sie ist hirntot.« Er richtete sich auf. »Bruder Billy, würdest du die Gefangene befragen? Sieh zu, ob du irgendetwas Zusammenhängendes aus ihr herausbekommst. Unterdessen werden Bruder Piper und ich uns umsehen und versuchen, irgendeine Energiequelle in Gang zu setzen.«
Windböen ließen das Gebäude erbeben. Billy setzte sich neben die verletzte Frau und tat so, als sähe er den grünen Glaskeil nicht, der in ihrem Kopf steckte. Er wartete, bis Bruder Hallowell und Bruder Piper den Raum verlassen hatten.
Ann Heath kam ihm nicht wie eine Lügnerin vor. In ihrem Zustand, dachte Billy, ist es wahrscheinlich gar nicht möglich zu lügen.
Er sagte: »Ist dieses Haus wirklich eine Zeitmaschine?«
»Im Keller befindet sich ein Tunnel«, sagte Ann Heath tonlos, nur unterbrochen von dem Schluckauf.
»Wohin führt er?«, fragte Billy.
»In die Zukunft«, antwortete sie. »Oder in die Vergangenheit.«
»Erzählen Sie mir mehr«, sagte Billy.
Der Sturm hielt sie zwei Tage lang in dem Haus fest. Ann Heath wurde zunehmend unverständlicher, aber in dieser Zeit, während Bruder Hallowell und Bruder Piper ihre Rüstung säuberten oder Verpflegungsrationen auf der Wärmepumpe des Gebäudes erhitzten oder Karten spielten, tat Billy das, was von ihm verlangt worden war — er verhörte die Gefangene. Er erklärte Piper und Hallowell, dass sie völlig verwirrt sei, aber dass er hoffe, doch noch etwas Nützliches aus ihr herauszuholen. Piper und Hallowell interessierten sich eigentlich nicht für das, was sie sagte. Sie hatten die toten Maschinenkäfer entfernt und schienen sie als eine besondere Erscheinung der Sturmzone abzutun, etwas, für das das Forschungscorps sich vielleicht interessierte, später. Weder Piper noch Hallowell hatten viel für Geheimnisse übrig. Billy auch nicht. Aber Billy glaubte das, was Ann Heath ihm erzählte.
Was Ann Heath ihm mitteilte, war ein ganzer Katalog von Wundern. Sie redete ohne Leidenschaft und zunächst auch mit großer Klarheit, als ob in ihrem Kopf eine Tür geöffnet worden wäre, durch die die Antworten auf Billys Fragen hervorsprudelten wie ein lange eingesperrter Schatz.
Am Abend des dritten Tages, während der Sturm um das Haus tobte und Bruder Hallowell und Bruder Piper in der angenehmen Wärme ihrer Rüstungen ein Nickerchen hielten, nahm Billy Ann Heath mit hinunter in den Keller. Ann Heath konnte nicht aus eigener Kraft gehen. Die linke Seite ihres Körpers sackte unter ihr weg, als funktionierten ihre Gelenke nicht mehr, daher schlang Billy einen Arm um sie und trug sie. Dabei besudelte er seine Hände mit dem Blut auf ihrer Bluse. Er war vom Keller enttäuscht, denn er war ein ebenso kahler Raum wie die Zimmer oben — hier gab es keine sichtbaren Wunder. Billy hatte sich während des Verhörs einen letzten Rest Skepsis bewahrt, und der Keller schien seine Zweifel zu bestätigen. Aber dann zeigte sie ihm die Kontrolltafel in der glatten Wand, unsichtbar, bis sie ein Wort sagte in einer Sprache, die Billy nicht kannte. Dann legte er seine eigene Hand auf die Tafel, während sie weitere Worte sagte, bis die Tafel Billys Berührung gespeichert hatte. Ann Heath lehrte ihn, welche Worte er aussprechen musste, um die Maschine zu bedienen, und Billy und seine Rüstung merkten sich die seltsamen Laute. Dann sank ihr Kopf herab, und sie begann zu sabbern, und Billy schob ihr ein Polster aus zusammengeknüllten Tüchern hinter den Rücken, damit sie schlafen konnte — falls das überhaupt ein Schlafen war —, während die kardiovaskuläre Maschine stetig gegen ihr Brustbein schlug. Billy öffnete den Tunnel — er erschien sofort, weiß und wunderbar, seine letzte Bestätigung, dass die Wunder echt waren —, und dann schloss er ihn wieder. Ann Heath hatte ihm erklärt, wie sie Vorbereitungen getroffen hatte, den Tunnel für immer zu schließen, und Billy fragte sich, was wohl geschehen wäre, wenn er und Bruder Piper und Bruder Hallowell an diesem Haus vorbeigelaufen wären und woanders Unterschlupf gefunden hätten. Er hätte nie etwas geahnt, hätte nie etwas davon erfahren. Er hätte sein Leben gelebt, ohne je etwas von Tunnels zwischen verschiedenen Zeitzonen gehört zu haben. Er dachte darüber nach und über Ohio und über die Infanterie, und wie sehr er sie hasste. Er dachte an seine Rüstung. Dann schaltete er die Rüstung auf volle Leistung und ging nach oben, wo Bruder Piper und Bruder Hallowell schliefen, und er legte seine Hand auf Bruder Pipers bloßen Kopf und brannte einen qualmenden Kanal durch dessen Schädel, dann wandte er sich um und tat das Gleiche bei Bruder Hallowell, ehe er vollständig aufgewacht war. Dann rannte er nach unten und beeilte sich, weil er befürchtete, dass dieser seltsame, aufrührerische Mut sich verflüchtigte und er am Ende weinend zusammenbrechen würde.
Er hielt inne und beugte sich über Ann Heath. Ann Heath war wieder wach und beobachtete ihn mit ihrem linken Auge. Billy sagte: »Leiden Sie?« Und sie antwortete mit ihrer tonlosen, rauen Stimme: »Ja.« Billy fragte: »Wären Sie lieber lebendig oder tot?« Und als sie antwortete: »Tot!«, tat er bei ihr das Gleiche wie bei Piper und Hallowell. Aber er schaute dabei weg, damit er nicht mit ansehen musste, wie der Glaskeil mit der neuen Wunde verschmolz, die er ihr zufügte.
Die kardiovaskuläre Maschine streikte, als das Blutvolumen rapide absackte. Billy schaltete die Maschine aus, ehe er ging.
Er erinnerte sich an diesen kahlen Raum, während er bei Lawrence Millstein saß.
Billy erinnerte sich seit Kurzem an eine ganze Menge. Manchmal strömten die Erinnerungen einfach aus ihm heraus wie ein Fluss aus einer mysteriösen Quelle. Vielleicht wurde er alt. Vielleicht ließ irgendein Defekt in der Rüstung — oder in ihm selbst — diese Erinnerungsschübe zu. Er war eigentlich nie ein besonders guter Soldat gewesen. Er war das, was die Infanterieärzte ein »anomales Subjekt« nannten, anfällig für unberechenbare chemische Reaktionen und ungewöhnliche neurale Vorgänge. Die meisten Soldaten liebten ihre Rüstung, und das tat auch Billy, aber er liebte sie, wie ein Süchtiger seine Sucht liebt: innig und voller Bitterkeit.
Er zwang Lawrence Millstein, die Adresse des Apartments preiszugeben, in dem sein Opfer — Tom Winter — wohnte. Er erwog, direkt dorthin zu gehen, doch die Sonne war mittlerweile aufgegangen, und die morgendlichen Straßen waren strahlend hell. Er sah aus Lawrence Millsteins Hoffenster auf eiserne Feuerleitern und über einen engen Hinterhof hinweg, in dem ein ausrangierter Fernseher glänzte wie eine Flasche, die das Meer angespült hatte. Billy trug seine vollständige Rüstung, und es wäre schwierig, bei Tageslicht hinauszugehen, ohne aufzufallen.
Aber hier war er in Sicherheit… wenigstens für eine Weile.
Lawrence Millstein hatte Toilettenpapier um seinen Fingerstumpf gewickelt. Er saß auf einem Stuhl und starrte Billy an. Er hatte Billy nicht aus den Augen gelassen, seit er die Schlafzimmerlampe angeknipst hatte. »Es wird ein heißer Tag«, sagte Billy und beobachtete, wie Millstein beim Klang seiner Stimme zusammenzuckte. »Ein richtiger Glutofen.«
Millstein gab darauf keine Antwort.
»Dort, wo ich herkomme, ist es richtig heiß«, sagte Billy. »Wir haben Sommer, dagegen ist dies hier wie Weihnachten. Allerdings nicht so feucht.«
Mit einer Stimme, die unangenehmerweise ähnlich klang wie die von Ann Heath, fragte Lawrence Millstein: »Woher kommen Sie denn?«
»Aus Ohio«, antwortete Billy.
»So was wie Sie gibt es in Ohio nicht«, sagte Millstein.
»Da haben Sie recht.« Billy lächelte. »Ich lebe im Wind. Ich bin noch nicht einmal geboren.«
Lawrence Millstein, der ein Dichter war, schien diese Aussage zu akzeptieren.
Eine Stunde verstrich, in der Billy seine Alternativen überdachte. Schließlich sagte er: »Kennen Sie seine Nummer?«
Millstein war müde und hatte nicht auf seinen Bewacher geachtet. »Wie bitte?«
»Seine Telefonnummer. Tom Winter.«
Millstein zögerte.
»Belügen Sie mich nicht schon wieder«, warnte Billy.
»Ja. Ich kann ihn anrufen.«
»Dann tun Sie das«, sagte Billy.
Millstein wiederholte. »Wie bitte?«
»Rufen Sie ihn an. Er soll hierherkommen. Er war schon mal hier. Sagen Sie ihm, Sie müssten mit ihm reden.«
»Weshalb?«
»Damit ich ihn töten kann«, sagte Billy ungehalten.
»Sie verdammter Kerl«, sagte Millstein. »Ich kann ihn doch nicht in seinen Tod locken.«
»Dann überlegen Sie sich die Alternative«, schlug Billy ihm vor.
Millstein dachte nach und schien vor Billys Augen zu schrumpfen. Er presste die verletzte Hand gegen seine Brust und schaukelte vor und zurück, vor und zurück.
»Nehmen Sie den Hörer«, sagte Billy.
Millstein gehorchte und drückte den Hörer gegen seine Schulter, während er die Nummer wählte. Billy registrierte die Nummer, indem er dem Rattern der Wählscheibe lauschte, und prägte sie sich ein. Er war ein wenig überrascht, dass Millstein tatsächlich seinen Befehl ausführte. Er hatte auf eine Chance von fünfzig zu fünfzig getippt, dass Millstein sich weigern würde und dass Billy ihn töten müsste. Millstein hielt den Hörer an sein Ohr und atmete abgehackt. Er hatte dabei die Augen halb geschlossen. Dann legte er den Hörer mit einer triumphierenden Geste auf. »Es ist niemand zu Hause!«
»Na schön«, sagte Billy. »Wir versuchen es später noch mal.«
Billys Vorhersage erwies sich als richtig. Der Tag wurde lang und heiß. Er öffnete das winzige Fenster, doch die Luft, die hereindrang, war klebrig und stank nach Benzin. Billys Rüstung kühlte ihn, aber Lawrence Millstein wurde bleich und begann zu schwitzen. Der Schweiß rann in glänzenden Bächen über sein Gesicht, und Billy riet ihm, er solle etwas Wasser trinken, ehe er bewusstlos würde.
Die Sonne ging spät unter, und Billy wurde allmählich ungeduldig. Er spürte den Druck der Rüstung. Wenn er nicht bald irgendetwas tat, musste er die Energie drosseln. Wenn er zu lange auf den Beinen war, dann wurde er gereizt, nervös und ein wenig unsicher. Er betrachtete Lawrence Millstein und runzelte die Stirn.
Millstein hatte sich den ganzen Tag über nicht von seinem Stuhl wegbewegt. Er saß aufrecht neben dem Telefon, und jedes Mal, wenn er in Tom Winters Apartment anrief, stellte Billy sich Lawrence Millstein als Ann Heath vor, wobei die Glasscherbe mit jeder Nummer, die er wählte, etwas tiefer in die Wunde eindrang. Millstein war ziemlich fertig.
Billy dachte darüber nach.
»Lebt Tom Winter allein?«, fragte er.
Millstein sah ihn mit einem gequälten Ausdruck an, an den er sich mittlerweile gewöhnt hatte.
»Nein«, antwortete Millstein leise.
»Lebt er mit einer Frau zusammen?«
»Ja.«
»Wissen Sie, wo die sein könnte?«
Die Stille dehnte sich aus.
»Sie könnten sie anrufen und eine Nachricht hinterlassen«, schlug Billy vor. »Das wäre doch nicht zu schwierig.«
»Sie könnte mit ihm hierherkommen«, sagte Millstein, und Billy erkannte dies als einen Vorboten der Kapitulation. Nicht dass er jemals daran gezweifelt hätte.
»Sie interessiert mich nicht«, sagte Billy.
Millstein zitterte, als er nach dem Telefonhörer griff.
Danach hätte alles einfacher ablaufen müssen, und Billy hatte keine Erklärung, weshalb es anders geschah. Vielleicht ein Nachlassen seiner Aufmerksamkeit oder der Wachsamkeit der Rüstung.
Er wartete mit Lawrence Millstein den ganzen langen Abend nach dem Sonnenuntergang, während die Luft, die durchs Fenster hereindrang, abkühlte und das Apartment sich mit Schatten füllte. Er lauschte den Stimmen unten im Hof. Nicht weit entfernt rief ein Mann etwas auf Spanisch. Ein Baby quengelte. Ein Plattenspieler spielte La Traviata.
Billy war für einen kurzen Moment von dem einsamen Klang der Musik und dem Rascheln der Vorhänge im Wind abgelenkt. Dies war fast ein Paradies, dachte er, dieses alte Haus, wo Menschen lebten, ohne sich wegen Reis oder Getreide zu streiten, wo niemand erschien, um Kinder mitzunehmen und sie in eine goldene Rüstung zu stecken. Er fragte sich, ob Lawrence Millstein wusste, dass er in einem Paradies lebte.
Dann klopfte es an der Tür.
Billy wandte sich um, aber Lawrence Millstein war bereits aufgesprungen und brüllte etwas. »Nein! Nein! Oh Scheiße, Joyce, lauf weg!«
Dann tötete Billy ihn. Die Tür öffnete sich, und eine Frau stand als Silhouette im Licht des Flurs, eine große, braunhäutige Frau in einem geblümten Kleid. Sie schaute durch dicke Brillengläser in die Wohnung. »Lawrence?«, fragte sie. »Ich bin’s, Nettie — von nebenan.«
Billy tötete Nettie mit seinem Handgelenkstrahler, aber seine Hand zitterte, und der Strahl drang nicht so sauber ein, sondern eher wie ein schartiges Messer, sodass überall Blut umherspritzte, und Nettie gab einen Laut von sich, der wie »Woof!« klang, und kippte nach hinten gegen die verblichene Tapete.
Dann war der Flur voller Stimmen und Rufe, und obgleich Billy seine Rüstung mit diesen Morden besänftigt hatte, wusste er, dass sein eigentliches Vorhaben warten musste.
Eine Frau in der Menge zog Joyce von der Tür und den Leichen weg. Tom konnte in ihrem Gesicht lesen, dass Lawrence in der Wohnung war und dass Lawrence nicht mehr lebte.
Aus einem ersten Impuls heraus wollte er sie trösten. Aber die herandrängenden Mieter verhinderten das, und die Sirenen waren nun näher gekommen… Er eilte die Treppe hinunter und hinaus auf den Bürgersteig. Er konnte es sich nicht leisten, sich ausfragen zu lassen. Schließlich hatte er eine Brieftasche voller Ausweise aus der Zukunft und niemanden außer Joyce, der für ihn bürgen konnte.
Eine Menschentraube bildete sich, als die Polizeiwagen vorfuhren. Tom hielt sich unauffällig im Hintergrund. Er verfolgte, wie die Polizisten eine Sperre errichteten. Er sah zwei Sanitäter aus einem Ambulanzwagen springen und ins Haus rennen. Kurz darauf kamen sie zurück, blieben unter einer Straßenlaterne stehen, rauchten und lachten. Die roten Blinklichter auf den Dächern der Streifenwagen schufen in der Straße eine unheimliche und triste Atmosphäre. Tom blieb noch lange auf seinem Platz stehen, nachdem die Menschenmenge sich etwas verlaufen hatte. Er wartete.
Unruhe kam auf, als die Leichen herausgetragen wurden: zwei Gestalten unter Decken.
Joyce erschien wenig später. Ein dicker Mann in einem braunen Anzug geleitete sie zu einem neutralen Fahrzeug. Der dicke Mann, vermutete Tom, war ein Detective. Er hatte sie sicherlich gefragt, ob sie eines der Opfer kennen würde. Ja, hatte sie bestimmt gesagt, den dort… Sie würde mithelfen, weil sie wünschte, dass der Mörder gefunden wurde.
Aber Tom erkannte an der Art und Weise, wie sie ihn ansah und dann den Blick abwandte, dass sie verwirrt war, was seine Rolle in diesem Drama betraf.
Dabei war er mindestens genauso verwirrt. Hing Millsteins Tod irgendwie mit seinen Zeitreisen zusammen? Es gab zu viele Möglichkeiten, dachte Tom. In einer Welt, in der Übergänge von einem Jahrzehnt zum anderen existierten… Jede Art von bösartigem Monstrum hätte ihn bis zu Millsteins Wohnung verfolgen können.
Die Streifenwagen setzten sich in Bewegung und fuhren ab, und die Menschenmenge zerstreute sich endgültig. Eine Wolkenbank hatte sich von Nordwesten über den Himmel geschoben, und die Nacht wurde schlagartig kühler. Eine Windböe heulte aus der Avenue B heran.
Sicherlich regnet es noch vor Tagesanbruch, dachte Tom.
Er überlegte, ob er zu Fuß zu seiner Wohnung zurückkehren sollte, was in diesen nächtlichen Straßen nicht ungefährlich war.
Er spürte eine Hand auf der Schulter… und wirbelte herum, erschrocken. Er rechnete damit, einem Polizisten gegenüberzustehen, oder mit noch Schlimmerem, und erschrak erneut.
»Hey, Tom«, sagte Doug Archer. »Wir müssen schnellstens von hier verschwinden.«
Tom wich einen Schritt zurück und sog zischend die Luft ein. Ja, alles war möglich. Tatsächlich, das war Doug Archer aus Belltower im Staate Washington gegen Ende der Achtzigerjahre. Und in dieser schmutzigen Straße war er mindestens ebenso fehl am Platze wie eine griechische Amphore oder eine ägyptische Urne.
Doug Archer, der irgendwie zu ahnen schien, was hier im Gange war. Das ist wirklich ein tolles Ding, dachte Tom.
Er hatte Mühe, einen Ton hervorzubringen. »Wie haben Sie mich denn gefunden?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Archer legte den Kopf schief, als lausche er auf etwas Bestimmtes. »Tom, wir müssen sofort weg von hier. Wir können uns im Wagen unterhalten, ja?«
Tom warf einen letzten Blick auf das Haus, in dem Lawrence Millstein gestorben war. Ein Krankenwagen entfernte sich gerade in Richtung Innenstadt. Joyce war ebenfalls verschwunden.
Er nickte.
Archer zog einen überdimensionalen Avis-Schlüsselanhänger aus der Tasche.
Tom spürte, verstand aber die Dringlichkeit nicht, als Archer ihn in einen Ford-Kastenwagen schob und sofort losfuhr. Die Hitze hatte nachgelassen, und der Regen fiel in einem heftigen Schauer. Bis zum Morgengrauen waren es noch einige Stunden.
Sie fuhren zu einem auch nachts geöffneten Imbissrestaurant im Village und suchten sich einen freien Tisch.
»Ein Mann wurde getötet«, sagte Tom. Er versuchte noch immer, die Tatsache von Millsteins Tod zu verarbeiten. »Jemand, den ich kannte. Jemand, mit dem ich mal getrunken habe.«
»Das hätten auch Sie selbst sein können«, sagte Archer. »Sie hatten Glück, dass es nicht so war.« Er fügte hinzu: »Deshalb müssen wir schnellstens nach Hause zurückkehren.«
Tom schüttelte den Kopf. Er war viel zu müde und niedergeschlagen, um sich eine vernünftige Entgegnung zu überlegen. Er betrachtete Archer, der ihm gegenübersaß. Doug Archer mit einem Bürstenhaarschnitt und einem gestärkten Hemd und schwarzen Lederschuhen; seine Turnschuhe hatte er offenbar im Jahr 1989 zurückgelassen. »Wie kommt es, dass Sie über alles Bescheid wissen?« Millstein tot, und Doug Archer vor dem Haus auf der Straße. Das war kein Zufall. »Was haben Sie hier eigentlich zu suchen?«
»Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig«, sagte Archer. »Ich hoffe nur, dass wir dafür noch genügend Zeit haben.«
Eine Stunde tickte auf der Wanduhr vorbei, während Archer von Ben Collier, dem Zeitreisenden, dem Wächter, erzählte.
Vieles von dem, was Archer berichtete, klang wenig überzeugend. Tom glaubte es trotzdem. Es hatte sich schon seit Langem an Unglaubliches gewöhnt.
Am Ende von Archers Bericht stützte er den Kopf in seine Hände und bemühte sich, wenigstens eine Andeutung von Ordnung in die soeben erhaltenen Informationen zu bringen. »Sie sind hierhergekommen, um mich zurückzuholen?«
»Ich kann Sie überall hinbringen. Aber ja, ich glaube, das wäre das Klügste, was man jetzt tun kann.«
»Wegen dieses sogenannten Eindringlings.«
»Er weiß über Sie Bescheid und hat offensichtlich vor, Sie zu töten.«
Es war eine hypothetische Bedrohung. Tom war ungehalten. »Der Tunnel war intakt, als ich in das Haus an der Post Road zog. Er hätte hereinkommen und mich im Schlaf umbringen können, wenn er wirklich existiert… falls er noch am Leben ist. Damals schwebte ich in Gefahr, und jetzt tue ich das auch, also wo ist der Unterschied? Solange er mich nicht finden kann…«
»Aber er kann Sie finden! Mein Gott, Tom, er hat Sie sogar beinahe gefunden… heute!«
»Meinen Sie, er war es, der Lawrence getötet hat?« Tom war von dieser Vorstellung tief betroffen.
»Es wäre der reine Selbstmord, daran zu zweifeln«, sagte Archer.
»Es ist doch nur eine Vermutung…«
»Es ist eine Tatsache, Tom. Er war dort. Er war ganz in der Nähe, als ich Sie fand. Noch weitere fünf, zehn Minuten, die Straße hätte sich geleert, Sie wären in irgendeine Gasse abgebogen, und er hätte Sie erwischt.«
»Das können Sie nicht mit Sicherheit sagen.«
»Nun, das ist es ja gerade. Ich kann es.«
Tom ließ sich nicht anmerken, dass er besorgt war.
»Es ist ganz einfach«, fuhr Archer fort. »Dieser Kerl hat drei Stationen im Zeitgefüge vernichtet, und jede war mit Maschinenkäfern besetzt, die bereit waren, diese um jeden Preis zu verteidigen. Er hat die kybernetischen Helfer mit einer elektromagnetischen Impulswaffe ausgeschaltet. Seine Rüstung hielt dem Impuls stand, die Maschinenkäfer aber nicht. Kaum ein kybernetischer Helfer hat das überlebt — es sei denn, sie wurden auch von seiner Rüstung geschützt.«
»Wie war das denn möglich?«
»Sie befanden sich in der Luft, die er einatmete. Winzig kleine Exemplare, nicht größer als Viren — kennen Sie die?«
»Die kenne ich«, gab Tom zu. »Aber wenn sie sich in ihm aufhalten, warum können sie ihn dann nicht stoppen?«
»Sie sind wie Drohnen ohne Zentrale. Sie sind versprengt und bekommen keinerlei Instruktionen. Aber sie senden auf schmaler Bandbreite kleine Mengen an Daten. Es ist eine Art Peilsignal. Ich kann es auffangen.«
»Sie können es?«
Archer drehte den Kopf zur Seite und zeigte einen kleinen Knopf in einem Ohr, der einem Hörgerät für Schwerhörige glich. »Ben hat dieses Ding von einigen kybernetischen Helfern für mich bauen lassen. Ich kann ihn orten, wenn er sich im Umkreis von acht- bis neunhundert Meilen aufhält. Sie übrigens auch.«
»Sie sind auch in mir?«
»Vollkommen freundlich. Machen Sie sich nicht in die Hose, Tom. Vielleicht haben sie Ihnen das Leben gerettet. Ich bin drei Tage lang in Manhattan herumgekurvt, vom Battery Park bis hinauf nach Washington Heights in der vagen Hoffnung, dass ich auf irgendetwas stoße.« Er legte den Kopf schief. »Sie klingen wie ein Telefon. Ein Rufzeichen. Der Eindringling klingt eher wie ein Zahnarztbohrer.«
»Sie sagen also, dass er in Larry Millsteins Apartmenthaus war.«
»Deshalb hatte ich es doch so eilig, von dort zu verschwinden.«
»Er muss gewusst haben, dass ich dorthin ging.«
»Ich nehme es an. Aber…«
»Nein«, unterbrach Tom ihn. »Lassen Sie mich mal nachdenken.«
Es war schwierig, überhaupt zu denken. Falls Archer recht hatte, war er nur wenige Meter von dem Mann entfernt gewesen, der ihn ermorden wollte. Der Millstein tatsächlich ermordet hatte. Und wenn der Eindringling auf ihn gewartet hatte, dann musste Millstein dem Eindringling geholfen haben.
Sie waren zu dem Haus geeilt, weil Millstein Joyce bei Mario’s angerufen hatte.
Der Eindringling wusste über Mario’s Bescheid. Der Eindringling kannte auch Tom. Vielleicht kannte er sogar seine Adresse. Ganz sicher wusste der Eindringling über Joyce Bescheid.
Die in Begleitung eines Polizisten weggefahren war. Die vielleicht gerade jetzt nach Hause zurückkehrte. Wo der Eindringling unter Umständen auf sie wartete.
Tom verschüttete seinen Kaffee, als er aufsprang.
Archer versuchte ihn zu beruhigen. »Sie tun wahrscheinlich nichts anderes, als sie so lange auszufragen, wie sie bereit ist, stillzusitzen und mitzuspielen. Sicherlich macht sie gerade vor irgendeinem verschlafenen Cop eine Aussage, während wir hier herumdiskutieren. Ihr kann bestimmt nichts passieren.«
Tom hoffte es. Aber wie lange wäre sie bereit, Fragen zu beantworten? Durchaus möglich, dass sie selbst auch einige Fragen auf der Zunge hatte.
Er konnte seine Erinnerung an den Hausflur vor Lawrence Millsteins Wohnungstür nicht verdrängen. All das Blut.
»Fahren Sie mich nach Hause«, bat er Archer. »Wir warten dort auf sie.«
Archer hob die Augenbrauen bei dem Wort »nach Hause«, aber er suchte in der Tasche nach den Autoschlüsseln.
Sie fuhren durch die engen Straßen der Lower East Side. Die Stadt wirkte verlassen, dachte Tom, das Straßenpflaster und die Ladenfronten glänzten vom Regen, und aus den Gullyöffnungen stieg Dampf auf. »Dort ist es«, sagte er, und Archer fuhr vor dem Haus an den Bordstein.
Der Regen trommelte laut auf das Dach des alten Wagens.
Tom streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Archer hielt ihn fest.
»Ist er etwa in der Nähe?«, fragte Tom.
»Ich glaube nicht. Aber er kann hinter der nächsten Ecke lauern, einen halben Block entfernt. Hören Sie, was geschieht, wenn sie nicht zu Hause ist?«
»Dann warten wir auf sie.«
»Wie lange?«
Tom zuckte die Achseln.
»Und wenn sie dort ist?«
»Dann nehmen wir sie mit.«
»Was? Zurück nach Belltower?«
»Dort ist sie in Sicherheit… jedenfalls sicherer als hier.«
»Tom, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
Er öffnete die Tür. »Ich habe keine bessere.«
Er drückte auf den Klingelknopf.
Niemand öffnete. Dann stieg er die Treppe hinauf — diese alten schmutzigen Stufen, die unter seinen Füßen protestierten.
Es musste gegen vier Uhr morgens sein, schätzte Tom. Das Licht der Glühbirne über dem Absatz war fahl und unangenehm.
Er öffnete die Tür und wusste sofort, dass die Wohnung leer war.
Er knipste die Beleuchtung an. Joyce war nicht zu Hause, und er vermutete — hoffte inständig —, dass sie auch noch nicht dagewesen war. Nichts hatte sich seit dem Morgen verändert. Zwei Kaffeetassen standen auf dem Küchentisch mit eingetrockneten braunen Resten. Er ging ins Schlafzimmer. Das Bett war noch nicht gemacht. Der Regen trommelte gegen das Fenster, ein einsames Geräusch.
Die Zeitung vom Vortag lag aufgeschlagen auf der Armlehne des Sofas, und Tom betrachtete sie mit einem Anflug von Sehnsucht. Wenn er nur einen Tag zurückgehen könnte, dann könnte er alles ändern, Joyce in Sicherheit bringen, vielleicht sogar Lawrence Millstein das Leben retten — er wüsste ja, was passieren würde.
Aber der Gedanke war absurd. Hatte er das nicht längst bewiesen? Mein Gott, da stand er, im Besitz von fast dreißig Jahren Vorausschau, und er konnte noch nicht einmal sich selbst helfen. Es war alles ein Traum gewesen. Ein Traum von etwas, das »die Vergangenheit« genannt wird, eine Fiktion, sie existierte nicht. Nichts war vorhersagbar, nichts lief zweimal auf die gleiche Weise ab, jegliche Sicherheit löste sich bei näherem Hinsehen auf.
Die Geschichte war ein Ort, an dem Dramen auf einer Geisterbühne aufgeführt wurden, so wie Joyces alter Freund sich den D-Day vorgestellt hatte. Aber das stimmte nicht, dachte Tom. Dies war Geschichte: eine Adresse, eine Wohnung, eine Stadt, in der Menschen wohnten. Geschichte war dieses Zimmer. Nicht sinnbildlich, kaum etwas Besonderes, nur dieser leere Raum, den er zu lieben gelernt hatte.
Er dachte an Barbara, die sich niemals mit der Vergangenheit beschäftigt hatte, sondern nur an die Zukunft dachte… an die Zukunft, in der es keine Sicherheiten gab, sondern nur Möglichkeiten.
Es war überall das Gleiche, dachte Tom. Ob 1962 oder 1862 oder 2062. Jeder Flecken der Welt war übersät mit Gebeinen und Hoffnungen.
Er war unbeschreiblich müde.
Er trat hinaus auf den Flur und sperrte das Apartment ab, in dem sein Glück zu Hause gewesen war, das aber nun leer war. Es wäre besser, wenn er mit Doug im Wagen wartete.
Er verließ das Haus, als ein Taxi am Bordstein anhielt.
Er beobachtete, wie Joyce den Chauffeur bezahlte und in den Regen hinaustrat.
Ihre Kleider waren sofort durchnässt, und das Haar klebte an ihrer Stirn. Ihre Augen waren hinter den vom Regen beschlagenen Brillengläsern nicht zu erkennen.
Es hatte auch geregnet, als sie sich kennenlernten, erinnerte sich Tom, vor zwei Monaten im Park. Sie hatte damals etwas anders ausgesehen. Weniger müde. Weniger verängstigt.
Sie musterte ihn wachsam, dann überquerte sie die Straße. Er legte eine Hand auf ihre nasse Schulter.
Sie zögerte, dann warf sie sich in seine Arme. »Er war tot, Tom«, murmelte sie. »Er lag einfach da und war tot.«
»Ich weiß.«
»Oh Gott. Ich muss schlafen. Ich muss unendlich lange schlafen, nur noch schlafen.«
Sie ging in die Halle. Er hielt sie mit der Hand zurück. »Joyce, das darfst du nicht. Dort drin ist es nicht sicher.«
Sie machte sich von ihm los. Er spürte, wie ihr Körper sich plötzlich spannte, so als wappne sie sich gegen einen neuen Schrecken. »Wovon redest du?«
»Das Ding… der Mann, der Lawrence getötet hat… Ich glaube, er hatte es auf mich abgesehen. Er muss diese Adresse mittlerweile kennen.«
»Ich verstehe das nicht.« Sie ballte die Fäuste. »Was redest du da? Du weißt, wer Lawrence getötet hat?«
»Joyce, das alles zu erklären, würde zu weit führen.«
»Er wurde nicht erstochen, Tom. Er wurde auch nicht erschossen. Er wurde regelrecht verbrannt. Es ist nicht zu beschreiben. Ein riesiges Brandloch klaffte in seinem Körper. Weißt du das auch?«
»Wir können in Ruhe reden, wenn wir einen sicheren Ort gefunden haben.«
»Ist das Ganze noch immer nicht zu Ende? Oh Scheiße, Tom. Ich habe heute Nacht zu viel Hässliches gesehen. Erzähl mir jetzt keinen Scheiß mehr. Du musst ja nicht mit hineingehen, wenn du nicht willst. Aber ich muss schlafen.«
»Hör doch, hör mir zu. Wenn du die Nacht in dieser Wohnung verbringst, könnte es dir so ergehen wie Lawrence. Ich will nicht, dass es so kommt, aber das ist die Realität.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich liebe dich! Ich weiß nicht mal, was du bist!«
»Komm, ich bring dich irgendwohin.«
»Was meinst du mit irgendwohin?«
»Weit weg von hier. Draußen wartet ein Wagen, und darin sitzt ein Freund. Bitte, Joyce.«
Archer schob den Kopf aus dem Seitenfenster des Ford und rief etwas gegen das Rauschen des Regens — die Worte waren nicht zu verstehen —, dann zog er den Kopf zurück und ließ den Motor aufheulen.
Tom fühlte, wie sein Herz heftig klopfte. Er zog Joyce hinter sich her zum Wagen.
Sie sträubte sich und hätte kehrtgemacht, doch ein qualmender Spalt klaffte plötzlich neben ihrer Hand im Beton. Tom starrte ein paar Sekunden lang verständnislos auf die verkohlte Mauer, ehe ihm die Bedeutung dieser Erscheinung klar wurde. Irgendeine Waffe hatte das bewirkt — eine Art Strahlenpistole. Das war zwar absurd, aber durchaus beängstigend. Archer lehnte sich über die Rückenlehne des Beifahrersitzes und stieß die hintere Tür des Wagens auf. Tom schob Joyce darauf zu. Diesmal sträubte sie sich nicht, jedoch war sie zu schockiert, um ihre Beine unter Kontrolle zu bekommen. Sie taumelte in den Wagen, und Tom folgte ihr. Diese Aktion schien eine Ewigkeit zu dauern, und der Regen trommelte auf das Wagendach wie Maschinengewehrfeuer.
Archer lenkte den gemieteten Ford auf die Fahrbahn, ehe Tom die Tür schließen konnte. Er vollführte eine Hundertachtziggradwende und hinterließ Schleuderspuren auf dem Asphalt, wobei die Reifen aufschrien.
Während der Wagen sich drehte, erhaschte Tom einen Blick auf den Mann, der versucht hatte, ihn zu töten.
Wenn »Mann« überhaupt das passende Wort war.
Nicht menschlich, dachte Tom.
Oder, wenn menschlich, dann unter irgendeinem Apparat verborgen, unter einem schnauzenähnlichen Helm, einem alten Mantel, der seinen Rücken bedeckte und im Regen und im Schein einer Straßenlaterne ölig glänzte.
Seine Augen waren durch das Heckfenster des Wagens auf Tom gerichtet. Nichts war von dem Gesicht zu sehen, außer einem breiten, begeisterten Grinsen… das einen Moment später verschwunden war, als Archer den Ford um eine Ecke lenkte.
Sie ließen den Wagen in einer einsamen Straße in der Nähe des Tompkins Square einfach stehen.
Der Himmel schien etwas heller zu sein. Der Regen hatte nachgelassen, aber in den Rinnsteinen sammelte sich das Wasser, und es tropfte auch vom Vordach über der Halle des Mietshauses herab, in dem sich der Tunnel befand.
Tom fasste sich an die Schulter, wo ein furchtbarer Schmerz aufbrandete. Ein Reflex oder ein Streifschuss aus der Waffe des Eindringlings hatte dort eine große Hautfläche verbrannt, auf der sich Blasen bildeten.
Die drei Personen standen für einen Moment ratlos in der Halle.
Tom sagte: »Als wir das letzte Mal hierherkamen, hielt irgendetwas sich im Tunnel auf…«
»Ein Zeitgespenst«, sagte Archer. »Sie sind nicht richtig gefährlich. So hat man es mir erklärt.«
Tom bezweifelte das, ließ es aber auf sich beruhen. »Doug, was ist, wenn er hinter uns herkommt? Es gibt nichts, was ihn aufhalten könnte, oder doch?« Er legte einen Arm um Joyce, die völlig benommen und passiv an seiner Schulter lehnte.
»Er könnte es tun«, gab Archer zu. »Aber wir wissen jetzt, was wir zu erwarten haben. Er kann uns nicht mehr überrumpeln. Das Haus ist eine Festung. Bereite dich darauf vor, dass du es vielleicht nicht wiedererkennst.«
»Demnach ist es noch nicht vorbei«, mutmaßte Tom.
»Nein«, sagte Archer. »Es ist nicht vorbei.«
»Dann sollten wir uns beeilen.«
Tom führte sie in den Keller hinunter, kletterte über den Geröllhaufen und ging durch einen leeren Raum voraus in die Zukunft.
Er schlief zwölf Stunden lang in einem Bett, das er niemals als sein eigenes betrachtet hatte. Als er aufwachte, sah er eine fremde Frau, die auf ihn herabblickte.
Zumindest eine unbekannte Frau, dachte Tom — mit dem Wort »fremd« ging er in letzter Zeit etwas sparsamer um.
Sie saß in einem Sessel neben dem Bett und hatte ein Taschenbuch, offenbar einen Liebesroman, in der Hand. Sie legte das Buch aufgeschlagen auf ihre Knie. »Sie sind ja wach«, stellte sie fest.
Noch nicht ganz. »Kenne ich Sie?«
»Nein, noch nicht. Ich bin Ihre Nachbarin. Catherine Simmons. Ich wohne in dem großen Haus oben am Highway.«
Er ordnete seine Gedanken. »Mrs. Simmons, die ältere Frau. Sind Sie ihre Enkelin?«
»Richtig! Sie kannten Grandma Peggy?«
»Ich habe ihr ein- oder zweimal zugewunken. Hab ihr immer die Zeitung gebracht, als ich zwölf Jahre alt war.«
»Sie ist im Juni gestorben… ich bin hierhergekommen, um mich um alles Notwendige zu kümmern.«
»Oh. Das tut mir leid.«
Er sah sich in dem Zimmer um. Das gleiche Zimmer, das gleiche Haus, nicht sehr verändert, zumindest nicht diese Ecke.
Er erinnerte sich nicht, wie er hierhergekommen war. Die Schulterwunde hatte nicht nur Schmerzen verursacht, sondern ihn völlig bewegungsunfähig gemacht, und er hatte die letzten fünfzig Meter des Tunnels mit geschlossenen Augen zurückgelegt, wobei Doug Archer ihn stützen musste.
Die Schulter fühlte sich jetzt besser an… Er schaute nicht nach, ob die Blasen noch vorhanden waren, aber die Schmerzen waren verflogen.
Er konzentrierte sich auf Catherine Simmons. »Ich denke, dies sind nicht die Angelegenheiten, um die Sie sich kümmern wollten.«
»Doug und ich sind irgendwie hineingestolpert.«
»Ich vermute, das sind wir alle.« Er setzte sich auf. »Ist Joyce in der Nähe?«
»Ich glaube, sie sieht fern. Aber Sie müssen mit Ben reden, denke ich.«
Das dachte er auch. »Funktioniert der Fernseher?«
»Oh, Ben tat es sehr leid. Er sagt, die kybernetischen Helfer haben Ihnen einen Schrecken eingejagt, ohne Sie vorzuwarnen. Sie sahen sich einer Situation gegenüber, mit der Sie keine Erfahrung hatten. Sie haben es völlig falsch angefangen. Er hat dafür gesorgt, dass sie Ihren Fernseher wieder in Ordnung brachten.«
»Das war sehr rücksichtsvoll von Ben.«
»Sie werden ihn mögen. Er ist ein netter Kerl.« Sie zögerte. »Sie haben lange geschlafen… Sind Sie sicher, dass Sie in Ordnung sind?«
»Meine Schulter… aber damit geht es schon besser.«
»Sie scheinen sich nicht unbedingt zu freuen, dass Sie wieder zurückgekommen sind.«
»Ein Freund von mir ist gestorben«, sagte Tom.
Catherine Simmons nickte. »Ich weiß, wie das ist. Grandma Peggy war für mich sehr wichtig. Es bleibt immer ein Vakuum zurück, nicht wahr? Melden Sie sich, wenn ich etwas für Sie tun kann.«
»Sie können mir meine Kleider bringen«, sagte Tom.
Er machte sich klar, dass er aus dem Zeitschacht herausgeklettert war und sich nun wieder im Sommer des Jahres 1989 befand — im letzten heißen Sommer des Jahrzehnts und an der Schwelle einer Zukunft, über die er keine Voraussagen machen konnte.
Das Haus war eine Festung, hatte Archer ihm angedeutet, und einige Anzeichen fand er im Wohnzimmer. Die Möbel waren an die Wände geschoben worden, und die Wände selbst waren mit vielen schmuckähnlichen Maschinenkäfern bedeckt. Es sah aus wie eine Vorortfiliale von Aladins Wunderlampe.
Tom folgte Catherine in die Küche, wo die Maschinenkäfer — eine kleinere Anzahl von ihnen — gerade den Kochherd auseinandernahmen.
Ein Mann, offensichtlich menschlich, saß am Küchentisch. Er stand schwerfällig auf, als Tom den Raum betrat.
»Das ist Ben«, sagte Catherine.
Ben, der Zeitreisende. Ben, der wie Lazarus aus dem Grab gestiegen war. Ben, der Wächter dieses fehlerhaft funktionierenden Lochs in der Welt.
Er stand schließlich und stützte sich mit einer Hand auf einen Stock. Sein linkes Bein war verstümmelt, der Jeansstoff war zwischen seinem Knie und der Stelle, wo sein Fuß hätte sein müssen, zusammengeheftet. Er war bleich, und seine Haare waren nicht mehr als feine, helle Stoppeln auf seinem Schädel.
Er streckte Tom eine Hand entgegen. Tom ergriff sie.
»Sie sind also der Zeitreisende«, sagte er.
Ben Collier lächelte. »Setzen wir uns, ja? Dieses Bein ist noch etwas schwach. Möchten Sie ein Bier, Tom? Im Kühlschrank steht eines.«
Tom hatte keinen Durst. »Sie haben hier vor zehn Jahren gewohnt.«
»Das stimmt. Doug hat Ihnen sicherlich alles erklärt, oder?«
»Sie waren verletzt, und Sie lagen in dem Schuppen draußen im Wald. Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Wäre ich nicht in den Tunnel gestiegen…«
»Nichts von dem, was Sie getan oder nicht getan haben, ist irgendjemandes Schuld. Wenn alles richtig gelaufen wäre, hätte dieses Haus nie zum Verkauf gestanden. Sie sind in ein größeres Desaster hineingeplatzt. Sie haben es nicht ausgelöst.«
»Doug sagte, Sie seien… ›tot‹ gewesen. Sie wären für einige Jahre da draußen so gut wie begraben gewesen.«
»Damit hat Doug mehr oder weniger recht.«
»Es fällt mir schwer, das zu begreifen…«
»Wirklich? Sie scheinen aber ganz gut damit fertigzuwerden.«
»Nun… ich habe seit Mai auch eine ganz hübsche Anzahl von Wundern verarbeiten müssen. Ich glaube, eines mehr bringt mich nicht um.«
Er betrachtete Ben etwas eingehender. Ein Sonnenstrahl war durch das große Fenster auf den Zeitreisenden gefallen, und Tom glaubte für einen kurzen Moment, die Konturen des Schädels unter der Haut sehen zu können. Eine optische Täuschung, hoffte er. »Ich glaube, ich nehme doch ein Bier. Wollen Sie auch eines?«
»Nein danke«, sagte Ben.
Tom holte das Bier aus dem Kühlschrank und riss den Verschluss auf. Willkommen in der Zukunft, weg mit dem altmodischen Flaschenöffner.
Ein Herdrost fiel hinter ihm klappernd auf den Fußboden, und eine Brigade Maschinenkäfer begann, ihn zur Kellertreppe zu schaffen.
Das Leben ist schon seltsam, dachte Tom.
»Sie brauchen das Metall«, erklärte Ben. »Um mehr von ihresgleichen herzustellen. Es ist zwar nicht sehr gut für die Haushaltsgeräte, aber wir befinden uns im Augenblick in einer ernsten Notlage.«
»Das können sie? Sich reproduzieren?«
»Wenn ausreichend Rohmaterial vorhanden ist, ganz gewiss.«
»Sie kommen eben aus der Zukunft«, sagte Tom.
»Sie sind tatsächlich meiner eigenen Zeit ein wenig voraus. Ich fand sie zuerst etwas abstoßend, als ich mit diesem Grundprinzip vertraut gemacht wurde. Aber sie sind äußerst nützlich, und man kann sie leicht verbergen.«
»Können sie den Tunnel reparieren?«
»Genau das tun sie gerade… neben anderen Dingen.«
»Aber Sie sprachen von einer ›ernsten Notlage‹. Demnach ist noch nichts repariert, und dieser sogenannte Eindringling…«
»Könnte sich entschließen, Ihnen hierher zu folgen. Genau dagegen schützen wir uns, ja.«
»Aber er hat es noch nicht versucht. Vielleicht tut er es auch nicht.«
»Schon möglich, ich hoffe es. Wir müssen trotzdem Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«
Tom nickte. Das war vernünftig. »Wie gut sind wir geschützt?«
Ben schien über die Frage nachzudenken. »Es gibt keinen Zweifel, dass wir ihn aufhalten können. Was mir Sorgen macht, ist, dass es vielleicht zu lange dauert.«
»Ich verstehe nicht.«
»Soweit ich es rekonstruieren kann, ist der Mann ein gepanzerter Rekrut, ein Deserteur aus den Territorialkriegen gegen Ende des nächsten Jahrhunderts. In gewissem Sinn ist er eigentlich nicht unser Feind; der Feind ist seine Rüstung.«
»Ich hab ihn in New York gesehen«, sagte Tom. »Er schien nicht besonders gepanzert gewesen zu sein.«
»Es ist eine Art kybernetische Rüstung, Tom. Dünn, flexibel, sehr raffiniert, sehr wirkungsvoll. Sie schützt ihn vor den meisten konventionellen Waffen und interagiert mit seinem Körper, um seine Reflexe zu verbessern und seine Aggression zu konzentrieren. Wenn er die Rüstung trägt, dann ist das Töten ein fast sexueller Drang. Er will und er kann nicht anders.«
»Widerlich.«
»Noch viel schlimmer als widerlich. Aber seine Stärke ist zugleich auch seine Schwäche. Ohne seine Rüstung ist er mehr oder weniger hilflos. Er hat dann vielleicht noch nicht einmal die Absicht, uns zu schaden. Die Tatsache, dass er den Tunnel zur Flucht benutzt hat, deutet an, dass seine Loyalität nicht so unerschütterlich ist, wie seine Armeeärzte es gerne gehabt hätten. Wenn wir die Rüstung ausschalten können, neutralisieren wir die Bedrohung.«
»Gut«, sagte Tom. Er nahm einen Schluck Bier. »Können wir das?«
»Ja, wir können, und zwar auf zwei Arten. Erstens, wir haben angefangen, spezialisierte kybernetische Helfer zu bauen — winzig kleine, nicht größer als ein Virus. Sie können in seinen Blutkreislauf eindringen und die Rüstung angreifen… sie von innen beschädigen und vom Körper trennen.«
»Warum haben sie das nicht schon längst getan?«
»Dies sind nicht die Einheiten, denen er ausgesetzt war. Sie wurden ausdrücklich für diesen Zweck gebaut. Er hatte den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite, und den hat er nun nicht mehr.«
»Wenn er also hier auftaucht«, schlussfolgerte Tom, »wenn er die Luft einatmet…«
»Beginnen die kleinen Maschinen sofort mit ihrer Arbeit. Aber er kippt nicht einfach um und stirbt. Er wird für einige Zeit weiterfunktionieren oder wenigstens zum Teil funktionsfähig bleiben.«
»Wie lange?«
»Das lässt sich unglücklicherweise nicht berechnen. Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Jedenfalls lange genug, um großen Schaden anzurichten.«
Tom ließ sich das durch den Kopf gehen. »Demnach sollten wir die Maschinenkäfer zurücklassen und von hier verschwinden. Wenn er auftaucht, sollen sie sich mit ihm befassen.«
»Das können Sie gerne tun, Tom, wenn Sie wollen. Ich kann es nicht. Ich habe eine Verpflichtung, das Anwesen zu schützen und die Reparaturarbeiten zu leiten. Außerdem haben wir Waffen, die den Eindringling aufhalten können, während die kybernetischen Helfer ihn bearbeiten. Es kommt darauf an, ihn auf diesem Gelände festzuhalten. Die kybernetischen Helfer, die er einatmet, sind nicht vollkommen autonom. Sie brauchen Anweisungen von außen, und wenn er sich über einen bestimmten Radius hinaus entfernt, dann verlieren sie die Fähigkeit zur Kommunikation und schaffen es vielleicht nicht, ihn vollständig zu entwaffnen. Er könnte ein ganz schönes Durcheinander erzeugen, wenn er einfach den Highway hinunterwanderte.«
Zweifellos traf das zu. »Doug und Catherine…«
»Haben freiwillig ihre Hilfe angeboten. Sie sind bewaffnet, und sie wissen, was zu tun ist, wenn der Alarm ertönt.«
Er stellte die grundlegende Frage. »Was ist mit Joyce?«
»Joyce macht einen schwierigen Anpassungsprozess durch. Sie hat sehr viel erlebt. Aber sie hat ihre Hilfe in Aussicht gestellt, sobald sie die Situation verarbeitet hat.«
»Dann kann ich mich ja nicht ausschließen«, sagte Tom.
Er fand Joyce im Garten in einem Liegestuhl, wo sie im Schatten der hohen Kiefern die Zeitung von Seattle las.
Es war recht kühl für August. Eine frische Brise wehte von Westen heran. In der Luft lag der Geruch von Kiefernharz, vom fernen Ozean und, ganz schwach und bitter, der Gestank der Papiermühle. Tom stand für einen Moment still da, nahm dies alles in sich auf und wollte sie nicht stören.
Er war gespannt, wie die Schlagzeilen lauteten. Dies war nicht genau die Gegenwart und auch nicht ganz die Zukunft.
Er war auf einem ziemlich verschlungenen Weg hierhergekommen, auf einer Straße, die zu kompliziert war, um Linearität zu vermitteln. Vielleicht wurde gerade ein neues Land okkupiert, oder irgendein Öltanker war auseinandergebrochen.
Sie sah von der Titelseite hoch und bemerkte, dass er sie beobachtete. Er ging über den Rasen auf sie zu.
Sie war ein Anachronismus mit ihrer bunten Brille und dem glatten Haar, und sie war schön im Schatten dieser hohen Bäume.
Ehe er einen Satz formulieren konnte, sagte sie: »Es tut mir leid, wie ich mich benommen habe. Ich war müde, und ich war verzweifelt wegen Lawrence, und ich wusste nicht, inwieweit du in die Sache verwickelt warst. Ben hat mir alles erklärt. Und vielen Dank, dass du mich hierher mitgenommen hast.«
»Leider nicht so weit außer Gefahr, wie ich es gehofft hatte.«
»Aber weit genug. Ich mache mir keine Sorgen. Wie geht es deiner Schulter?«
»Eigentlich ganz gut. Sind die Nachrichten interessant?«
»Ich rede mir ein, dass dies alles real ist. Ich habe auch ein wenig ferngesehen. Diesen Nachrichtensender über Satellit, wie heißt er noch? CNN.« Sie faltete die Zeitung zusammen und stand auf. »Tom, können wir irgendwohin gehen? Der Wald ist so schön. Doug sagte, es gebe dort viele Wege.«
»Ist es klug, das Haus zu verlassen?«
»Ben sagte, es wäre in Ordnung.«
»Ich kenne ein schönes Plätzchen«, sagte Tom.
Er ging mit ihr den Weg, den Doug Archer ihm vor einigen Monaten gezeigt hatte, vorbei an dem mit Moos bewachsenen Holzschuppen. Dessen Tür stand offen, und eine regelrechte Mückenwolke tanzte im Innern. Dann den Berghang hinauf bis in die offenen, felsigen Bastionen, wo das Land steil zum Meer abfiel.
Das Meer bildete den Horizont hinter Belltower und dem Qualm der Papiermühle. In der Stille des Nachmittags hörte Tom das Getschilpe von Spatzen, während sie über ihnen ihre Kreise zogen, und das Rattern eines Trucks auf dem Highway.
Joyce ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder, zog die Beine an und schlang die Arme darum. »Hier oben ist es schön.«
Er nickte. »Weit weg von den Nachrichten.« Weit weg von 1962. Weit weg von New York City. »Wie gefällt dir die Zukunft?«
Die Frage war nicht so beiläufig, wie sie klang. Sie antwortete langsam, nachdenklich. »Nicht so aufregend, wie ich erwartet habe. Hässlicher, als ich dachte. Ärmer. Bösartiger. Kurzsichtiger, selbstsüchtiger und verzweifelter.«
Tom nickte.
Sie blickte stirnrunzelnd in die Sonne. »Viel vertrauter, als ich es mir ausgemalt hatte.«
»Das ist es wohl«, sagte Tom.
»Es sieht gar nicht so schlimm aus.«
»Nein?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe mit Ben darüber geredet. Die Dinge verändern sich. Er sagt, tolle Dinge passieren in Europa. Die nächsten beiden Jahrzehnte würden ziemlich wild.«
Tom bezweifelte das. Er hatte sich in diesem Frühling im Fernsehen die Ereignisse auf dem Tiananmenplatz angesehen. Riesige Panzer. Zerbrechliche Menschen.
»Alles ändert sich«, beharrte Joyce. »Die Politik, die Umwelt… das Klima. Er sagt, wir leben zufälligerweise auf dem einzigen Kontinent, wo Selbstzufriedenheit immer noch möglich ist, aber nur noch für eine kleine Weile. Das ist unser Unglück.«
»Das ist es wohl. Was hat er dir gesagt? Dass die Zukunft eine Art Paradies ist?«
»Nein, nein. Die Probleme sind riesig, beängstigend.« Sie schaute hoch, strich sich die Haare aus den Augen. »Der Mann, der Lawrence getötet hat, gehört ebenfalls zur Zukunft. All die schrecklichen Dinge. Wehrdienst und Hunger und alberne kleine Kriege.«
»Ist es das, womit wir rechnen müssen?«
»Schon möglich. Aber nicht unbedingt. Ben kommt aus einer Zeit, die auf all das herabblickt und es als eine Form von Wahnsinn betrachtet. Aber der Punkt ist der, Tom, dass es die Zukunft ist — es ist noch nicht passiert, und vielleicht muss es das auch nicht, zumindest nicht auf diese Weise.«
»Das ist nicht logisch, Joyce. Der Eindringling ist von irgendwoher gekommen. Wir können uns nicht einfach wünschen, dass er nicht mehr existiert.«
»Er ist eine Tatsache«, gab Joyce zu. »Aber Ben sagt, dass jeder, der in die Vergangenheit reist, das Risiko eingeht, seinen Platz zu verlieren, den er verlassen hat. Ben selbst zum Beispiel. Wenn die Dinge anders ablaufen, könnte er zur Waise werden. Er will vielleicht nach Hause zurückkehren und stellt fest, dass sein Zuhause gar nicht mehr da ist, jedenfalls nicht so, wie er es in Erinnerung hat. Es ist nicht wahrscheinlich, aber es ist möglich.«
»Demnach kann man über die Zukunft nichts wissen.«
»Ich denke, die Zukunft ist so etwas wie ein hohes Gebäude im Nebel — man weiß, dass es da ist, und man kann sich herantasten, aber man kann sich seiner Existenz nicht sicher sein, bis man nahe genug herangekommen ist, um es zu berühren.«
»Damit stehen wir also im Dunkeln«, stellte Tom fest.
»Der Ort, wo du stehst, ist immer die Gegenwart, und das ist alles, was du wirklich hast. Ich glaube nicht, dass das eine so schlechte Sache ist. Ben sagt, der einzige Weg, um die Vergangenheit zu besitzen, besteht darin, sie zu achten… indem man sie nicht in etwas Kurioses oder Lächerliches oder Pastellfarbenes oder Bittersüßes verwandelt. Sie ist ein realer Ort, an dem reale Menschen leben. Und die Zukunft ist real, weil wir sie aus realen Stunden und realen Tagen zusammenfügen.«
Sie ist keine Welt neben der Welt, dachte Tom.
Kein Eden und kein Utopia, sondern nur das, was du berühren kannst, und die Berührung selbst.
Er ergriff ihre Hand. Sie blickte über die Kiefern und über die Stadt hinweg zum Meer. »Ich kann nicht hierbleiben«, sagte sie. »Ich muss zurückkehren.«
»Ich weiß nicht, ob ich mit dir gehen kann.«
»Ich weiß nicht, ob ich möchte, dass du das tust.«
Sie stand auf. Sie ist wunderschön, mit dem Licht der Nachmittagssonne auf den Haaren, dachte Tom.
»Hey«, sagte sie. »Sieh mich nicht so an. Ich bin es nur. Ein verrücktes Huhn aus Minneapolis. Nichts Besonderes.«
Er schüttelte den Kopf und blieb stumm.
»Ich war ein Gespenst für dich«, sagte sie. »Das Gespenst einer Idee davon, wie das Leben war oder wie es sein könnte. Aber das bin ich nicht. Doch das ist schon okay. Vielleicht warst auch du ein Gespenst. Ein Gespenst von etwas, das ich in der Stadt zu finden hoffte. Jemand Geheimnisvolles, Weises, vielleicht auch Wildes. Nun, die Umstände sind sehr seltsam. Aber da sind wir nun, Joyce und Tom, zwei ziemlich durchschnittliche Menschen.«
»Überhaupt nicht so durchschnittlich.«
»Wir kennen uns kaum.«
»Das kann sich ändern.«
»Ich weiß nicht«, sagte Joyce. »Ich bin mir nicht sicher.«
Diese letzten Stunden — ehe der Eindringling angriff oder die Zeitmaschine repariert war, was immer zuerst eintrat — waren eine Art Altweibersommer.
Archer fuhr zum Burger King am Highway und holte etwas zum Abendessen. Sie picknickten auf dem Rasen im späten Sonnenschein. Der Alarm würde ertönen, sagte Ben, falls irgendetwas im Haus passierte.
Ben, der kein zubereitetes Essen zu sich nahm, war eine onkelhafte Erscheinung am Rand des Festes. Er humpelte des Öfteren hinüber zum Holzzaun, wo er einen rechteckigen Streifen Land mit einer Schnur abgesteckt hatte. Es war schon zu spät im Jahr, um noch einen Garten anzulegen, sagte er, aber dort sei die Stelle, wo einer sein müsste. Tom überlegte, fragte aber nicht nach, ob er die Absicht hatte, im kommenden Jahr damit anzufangen, oder ob er das von jemand anderem erwartete.
Nach Einbruch der Dunkelheit ging Archer mit Tom hinunter in den Keller — jedenfalls in das, was vom Keller noch übrig war. Die Wand vor dem Tunnel war vollständig entfernt worden, ebenso eine der Fundamentmauern. Zum Vorschein gekommen war etwas, das aussah wie eine komplizierte Maschinerie, weißliche und bläuliche Kristalle, auf denen es von kybernetischen Helfern wimmelte. Das war das Herz dieser Zeitreisestation, und die Maschineninsekten, so nahm er an, reparierten es gerade. Immer wieder stieben Funken hoch.
»Wir veranstalten ein Wettrennen«, sagte Archer. »Je länger dieser Hurensohn sich in Manhattan nicht rührt, desto eher gelingt es uns, ihn total auszusperren.«
»Wie lange dauert es noch, bis alles fertig ist?«
»Bald, sagt Ben. Vielleicht morgen um diese Zeit. Da…« Er öffnete eine Schublade unter der Werkbank. Es war Toms Werkbank, die er aus Seattle mitgenommen hatte. »Ben sagte, Sie sollten eine von denen an sich nehmen.«
Archer reichte ihm eine Strahlenpistole.
Kein Zweifel, dachte Tom, das war wirklich eine Strahlenwaffe. Sie wog etwa ein Pfund, war aus rotem und schwarzem Polystyrolplastik hergestellt, und auf der Seitenfläche stand die Inschrift SPACE SOLDIER.
Er betrachtete die Waffe, dann schaute er Archer an.
»Wir mussten sie aus irgendetwas herstellen«, sagte Archer. »Ich hab ein paar von den Dingern im K-mart in der Pinetree Mall mitgenommen. Die Maschinenkäfer haben sie ein wenig umgebaut.«
Der Abzugsbügel schien aus Stahl zu bestehen, und auf der Laufmündung steckte eine gläserne Verlängerung, die fein geformt war und nicht zur restlichen Waffe passte. »Wollen Sie mir weismachen, dass sie funktioniert?«
»Sie gibt einen gebündelten Impuls ab, der möglicherweise die Rüstung unseres Freundes ein wenig bremst, vielleicht aber auch nicht. Benutzen Sie sie, aber verlassen Sie sich nicht darauf. Wir alle haben eine.«
»Mein Gott, Doug. SPACE SOLDIER?«
Archer grinste. »Das sieht doch total cool aus, meinen Sie nicht?«
Wieder oben im Haus, während die Sonne im Ozean versank, schaltete Catherine die Wohnzimmerbeleuchtung ein.
Tom half Archer dabei, das Geschirr im Garten einzusammeln. Der Himmel zeigte ein tiefes abendliches Blau. Die Sterne waren herausgekommen, und die Grillen zirpten.
Archer zögerte einen Moment in der sich abkühlenden Luft.
»Alles wird völlig anders sein, wenn das hier vorbei ist«, sagte er. »Plötzlich sind wir nicht mehr im Spiel. Dann sind wir Zuschauer. Aber wir haben etwas Seltenes getan, nicht wahr, Tom? Wir haben einen langen Ausflug in die Vergangenheit unternommen. Stellen Sie sich das mal vor. Ich stand in diesen Straßen von 1962, mein Gott. Damals war ich ein kleiner Junge in der Pine-Balm-Pre-School! Hey, Tom, wissen Sie, was wir taten? Wir gingen einfach zu Vater Zeit und traten dem armseligen Hurensohn mitten in seinen Familienschmuck.«
Tom öffnete die Fliegentür und kehrte in die Wärme der Küche zurück. »Hoffen wir nur, dass er sich nicht auf gleiche Weise revanchiert.«
Archer und Catherine teilten sich eine Matratze im Gästezimmer. Ben verbrachte die Nacht im Keller — er schlief nur dort, falls er überhaupt ein Auge zumachte.
Joyce hatte zwei Nächte auf dem Sofa im Wohnzimmer verbracht. Sie kam in dieser Nacht in Toms Bett — mit, wie er meinte, einer Mischung aus Dankbarkeit und Zweifel.
Als er sich zu ihr umdrehte und sie ansah, wandte sie sich nicht ab.
Es war eine warme Nacht im Sommer 1989. Der Himmel war über dem größten Teil des Kontinents wolkenlos, das Meer ruhig. Die Welt schien auf irgendetwas zu warten, dachte Tom. Auf nichts Bestimmtes, sondern auf Möglichkeiten, gleichermaßen unheilvolle wie auch heitere. Ihre Haut war weich, und sie erwiderte seinen Kuss mit einem Eifer, der sowohl eine Begrüßung wie auch ein Lebewohl sein konnte.
Mitternacht verstrich in der Dunkelheit.
Sie schliefen, als die Alarmsignale ertönten.
Amos Shank, einundachtzig Jahre alt, der von Pittsburgh hierhergezogen war, um seine Gedichte zu veröffentlichen, und der fünfzehn Jahre lang inmitten fleckigen Gipsputzes und sich ablösender Tapeten in diesem schäbigen Apartment gewohnt hatte, stand mitten in der Nacht aus seinem Bett auf, immer noch in Träume von Zeus und Napoleon eingesponnen, um seine Blase zu entleeren.
Er ging zur Toilette, vorbei an seinem Schreibtisch, an Stapeln Papier, gespitzten Bleistiften, in Leder gebundenen Büchern und durch den Lichtkreis von zwei Sechzig-Watt-Stehlampen, die er ständig brennen ließ. Das Plätschern des Wassers in der Porzellanschüssel klang hohl und gespenstisch. Es war der Weckruf der Sterblichkeit. Seufzend zog Arnos seine Boxershorts hoch und kehrte zum Bett zurück, das sich aus einem Sofa herausklappen ließ. Am Fenster blieb er stehen.
Einmal hatte er draußen auf der Straße den Tod gesehen. Eine plötzliche Ahnung überfiel ihn, er würde, wenn er hinausschaute, die Erscheinung erneut sehen. Er hatte tatsächlich mehrere Nächte lang Wache gehalten — hatte sich völlig sinnlos um seinen Schlaf gebracht. Er fühlte sich hin und her gerissen: vergessen oder schauen.
Er zog die Lamellen der Jalousie ein wenig auseinander und blickte hinaus auf die Straße.
Sie war leer.
Amos Shank zog den Schreibtischsessel ans Fenster und setzte sich.
Je älter er wurde, desto mehr Knochen schienen aus seinem Körper herauszuragen. Alles war ungemütlich. Nirgendwo konnte man bequem sitzen. Er stieß pfeifend schale Nachtluft aus, legte den Kopf auf die Fensterbank, wo er mit den Händen ein Kissen geformt hatte.
Ohne es zu wollen, schlief er wieder ein…
Und erwachte unter Schmerzen. Er stöhnte und schaute auf die Straße hinunter, wo — vielleicht — das Geräusch von Schritten ihn geweckt hatte: Denn er war wieder da, der Tod.
Ein Irrtum war ausgeschlossen.
Arnos spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte.
Der Tod ging in einem schmutzig grauen Mantel über den menschenleeren Gehsteig. Er blieb stehen und lächelte Arnos an.
Er lächelte durch seine lederne Maske und die Kapuze seines Sweatshirts.
Dann tat der Tod etwas Erstaunliches. Er begann sich auszuziehen.
Er streifte den Mantel ab und ließ ihn wie eine nutzlos gewordene Haut in die Gosse fallen. Er zog das NYU-Sweatshirt über den Kopf und warf es weg. Er stieg aus seiner Hose.
Unter den Sachen glänzte der Tod goldfarben.
Der Tod leuchtete im Licht der Straßenbeleuchtung.
»Ich kenne dich!«, sagte Arnos Shank. Er war sich nur vage bewusst, dass er laut gesprochen hatte. »Ich kenne dich!«
Er hatte das Bild gesehen. In welchem alten Buch?
Die Kriege des Altertums. Am Hof des Sonnenkönigs. Die Feldzüge Napoleons. Irgendein alter Soldat in strahlender Rüstung auf einer billigen Lithographie.
»Agamemnon«, hauchte Amos Shank.
Agamemnon, der Tod, der Soldat, maskiert und gepanzert, betrat das Gebäude immer noch lächelnd.
Schamerfüllt überprüfte Amos Shank das Schloss seiner Tür, löschte das Licht zum ersten Mal seit einem Monat und verkroch sich unter der Decke seines Bettes.
Billy betrat den Tunnel in einer Rüstung, die mit voller Leistung arbeitete. Die meisten seiner Ängste ließ er in diesem Augenblick hinter sich. Er hatte zu lange in Angst gelebt. Er war vor Dingen davongelaufen, denen er nicht entrinnen konnte. Dieser Besuch aus der Zukunft war eine Strafe, dachte Billy, für ein Leben im Exil.
Nachdem er Lawrence Millstein getötet hatte und nach einem fehlgeschlagenen Versuch, sein legitimes Opfer zur Strecke zu bringen, hatte Billy sich für zwei Tage in seine Wohnung zurückgezogen. Er hatte den Energiefluss gedrosselt, hatte seine Rüstung versteckt und war in die Schatten abgetaucht. Zwei Tage waren genug gewesen. Er fühlte sich nicht sicher. Es gab keine Sicherheit, keine Anonymität mehr… und die Not war quälend und intensiv.
Daher holte er die Rüstung aus ihrer Kiste und trug sie mit all ihren Waffen und Zusatzgeräten hierher, zum Ursprung seiner Probleme, zu dieser unbewachten Grenze zur Zukunft.
In die sein Opfer sich zurückgezogen hatte — er erkannte es an dem Gewirr von Fußabdrücken im Schutt.
Hier nehmen wir die Abrechnung in Angriff, dachte Billy. Hier ist der Beginn oder das Ende von irgendetwas.
Er schritt über eingestürztes Mauerwerk ins helle und aus dem Nichts kommende Licht der Zeitmaschine.
Die Angst hatte ihn jahrelang von dem Tunnel ferngehalten, die Angst vor dem, was er dort gesehen hatte.
Er hatte eine lebhafte Erinnerung an die Erscheinung. Sie war riesengroß und leuchtend gewesen. Sie hatte sich sehr langsam bewegt, aber Billy spürte ihre Fähigkeit, Tempo zu entwickeln. Sie erschien körperlos, immateriell, aber Billy spürte ihre Kraft, ihre Macht. Er war ihr um Haaresbreite entkommen und hatte dabei den Eindruck gewonnen, dass sie ihm die Flucht gestattet hatte. Er war von etwas bewertet und übergangen worden, das so mächtig und unwiderstehlich war wie die Zeit selbst.
Nun — erfüllt von der Tapferkeit seiner Rüstung und unter dem Einfluss des Mutes, der von der künstlichen Drüse im Deckflügel in seinen Körper gepumpt wurde — lebte diese Furcht in vollem Umfang wieder auf.
Billy setzte trotzdem seinen Weg fort. Der Korridor war leer. Hier, mittendrin, beide Ausgänge außer Sicht, fühlte er sich gefangen in reiner Geometrie, in einer Krümmung ohne bedeutungsvolle Dimension.
Jenseits dieser Wände, dachte Billy, tanzten die Jahre dahin wie welkes Laub in einem Herbststurm. Alter verschlang Jugend, Wirbelsäulen krümmten sich, Augen wurden trübe, Särge sanken in die Erde. Kriege jagten vorbei, so kurz und heftig wie schwere Gewitter. Hier war Billy vor all dem geschützt.
War es nicht das, was er sich immer gewünscht hatte?
Schutz. Einen Weg nach Hause.
Aber das waren sprunghafte, verräterische Gedanken. Billy unterdrückte sie und eilte weiter.
Die kybernetischen Helfer waren als feiner Staub aus Polymeren und Metall und langen, zerbrechlichen Molekülen in den Tunnel gelangt. Sie begannen sofort, in Billy einzudringen.
Billy spürte nichts davon. Billy atmete nur. Die Nanomechanismen, so klein wie Viren, wurden durch das feuchte Gewebe seiner Lungen vom Blutkreislauf absorbiert. Während ihre Zahl rapide zunahm, verrichteten sie ihr Werk.
Für die kybernetischen Helfer war Billy ein unendlich weites und verwinkeltes Territorium, ein eigener Kontinent. Zuerst traten sie isoliert auf, nur ein paar Pioniere, die das gefährliche Hinterland entlang der Blutströme kolonisierten. Sie entzifferten die chemische Sprache von Billys Hormonen und reagierten darauf mit eigenen, schwachen chemischen Botschaften. Sie überquerten die heikle Barriere zwischen Blut und Gehirn. Sie versammelten sich in zunehmender Zahl an der Kontaktfläche von Fleisch und Rüstung.
Billy inhalierte tausend Maschinen mit jedem Atemzug.
Der Ausgang tauchte nun vor ihm auf, ein offener Durchgang in das Jahr 1989.
Billy eilte darauf zu. Er spürte bereits, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
Tom sprang aus dem Bett, sobald er das erste Alarmsignal vernommen hatte. Joyce erreichte die Tür noch vor ihm.
Die Maschinenkäfer hatten diese Alarmgeräte aus drei Rauchdetektoren zusammengebaut, die Doug im Eisenwarenladen erstanden hatte. Die Signale waren schrill und durchdringend. Tom und Joyce hatten in Erwartung der Signale in ihren Kleidern geschlafen, aber als der Alarm tatsächlich losschrillte, erschien ihnen das völlig unwirklich. Tom hörte auf, nach seiner Uhr zu suchen, und versuchte sich daran zu erinnern, was Ben ihm für diesen Fall erklärt hatte: Wenn der Alarm losgeht; dann nehmen Sie Ihre Waffe und begeben sich schnellstens zur Grenze des Anwesens. Aber er musste nur Joyce folgen, die an der Tür stand und ihm ungeduldig zuwinkte.
Sie liefen durch das dunkle Wohnzimmer, durch die Küche und hinaus in eine grelle Lichtflut. Fünfzehn Natriumdampf-Sicherheitsleuchten — ebenfalls aus dem Home-Hardware-Eisenwarenladen — waren im Garten installiert worden.
Außerhalb der Reichweite dieser Leuchten, in den Büschen und im hohen Gras am Waldrand, kauerte er zusammen mit Joyce — und mit Doug und Catherine, die noch schneller das Haus verlassen hatten als sie.
Die Alarmsignale brachen abrupt ab. Grillen nahmen nach und nach im Dunkel des Waldes wieder ihr Lied auf. Tom spürte, wie sein Puls raste.
Das Haus war inmitten der als Silhouetten erkennbaren Kiefern und unter einem üppigen Sternenhimmel grell erleuchtet.
Ein nächtlicher Wind strich durch die Kiefernspitzen und ließ sie schwanken. Tom spielte mit den Zehen im feuchten Bett aus Kiefernnadeln. Er war mit nackten Füßen hinausgelaufen.
Er sah sich suchend um. »Wo ist Ben?«
»Im Haus«, sagte Archer. »Hören Sie, wir sollten uns ein wenig verteilen… damit wir eine größere Fläche sichern können.«
Archer spielte Space Soldier. Aber es war kein Spiel. »Das ist es, nicht wahr?«
Archer lachte nervös zu ihm herüber. »Das große Finale.«
Tom wandte sich gerade noch rechtzeitig zum Haus um, sodass er sehen konnte, wie die Fenster explodierten.
Glasscherben regneten auf die Wiese herab. Sie bildeten einen glitzernden Schauer im grellen Licht der Sicherheitsleuchten.
Tom zog sich einen Schritt in den Schutz des Waldes zurück. Er bemerkte, dass Joyce seinem Beispiel folgte.
Aber es gab keinen richtigen Rückzug.
Hier war der absolute Mittelpunkt des Geschehens, die absolute Gegenwart, dachte Tom, und man konnte nichts anderes tun, als sich ihr zu unterwerfen.
Ben stand ruhig da und ertrug gelassen die Detonation der Granate. Es war eine EM-Impulsbombe und für den Eindringling weniger nützlich, als er es in Erinnerung hatte. Die kybernetischen Helfer waren dagegen gewappnet. Der Impuls pflanzte sich über die Kellertreppe nach oben fort und sprengte die Fenster aus den Rahmen. Ben spürte die Detonation als einen Schwall warmer Luft und einen Druck auf den Ohren. Er stand mit dem Rücken zur Tür, stützte sich auf sein gesundes Bein und beobachtete die Treppe.
Er bezweifelte nicht, dass der Eindringling ihn töten konnte. Der Eindringling hatte ihn schon einmal getötet und war sicherlich fähig, es ein zweites Mal zu tun — dann vielleicht endgültig. Aber er hatte keine Angst vor dem Tod. Er hatte zumindest einen Eindruck von seinen Grenzgebieten gewonnen. Ein kalter Ort, einsam, in großer Tiefe, aber nicht besonders Furcht einflößend. Er hatte Angst, sein Leben zurückzulassen… aber selbst diese Furcht war weniger bedrückend, als er erwartet hatte. Er hatte schon viele Dinge zurückgelassen. Zum Beispiel hatte er sich von seinem Leben in der Zukunft getrennt. Er hatte die Frau beerdigt, mit der er dreißig Jahre lang zusammengelebt hatte, lange bevor er von der Existenz fraktaler, verknüpfter Zeit auch nur zu träumen gewagt hatte. Verlust und Verzicht waren ihm nicht fremd.
Er war am Ende eines Lebens rekrutiert worden, mit dem er sich bereits arrangiert hatte. Vielleicht war das die Grundvoraussetzung. Die Zeitreisenden schienen das alles von ihm gewusst zu haben. Ben erinnerte sich an ihre kühlen, unbeweglichen Augen. Sie erschienen aufgrund einer höflichen Geste gegenüber den Wächtern in menschlicher Form, aber Ben hatte ihre Fremdheit unter der Tarnung erahnt. Unsere Nachfahren, hatte er gedacht, ja, unsere Kinder in einem sehr realen Sinn… aber von uns getrennt durch einen unvorstellbar großen Ozean von Jahren.
Er lauschte auf das Geräusch der Schritte, die die Treppe heraufkamen. Er hoffte, dass Catherine Simmons und die anderen sich außerhalb des Hauses postiert hatten… und er hoffte noch inbrünstiger, dass sie nicht gebraucht würden. Er hatte sich freiwillig gemeldet, diesen Stützpunkt zu verteidigen.
Aber die Nanomechanismen verrichteten bereits ihr Werk im Körper des Eindringlings. Ben spürte, wie sie tätig waren.
Er fühlte sie, während der Eindringling die mit Teppich belegten Stufen heraufstampfte. Ben sah ihn herankommen. Der Eindringling bewegte sich langsam. Sein Sichtgerät verfolgte Ben mit geölter Präzision.
Er bot einen atemberaubenden Anblick. Ben hatte sich intensiv mit den Bürgerkriegen des einundzwanzigsten Jahrhunderts beschäftigt, hatte einen solchen Mann schon mal gesehen und wusste, was er zu erwarten hatte. Trotzdem war er zutiefst beeindruckt. Die Verbindung von Mensch und Mechanik stellte die Zukunft der Menschheit dar, aber dies hier war eine sterile Mutation. Ein wechselseitiges Schmarotzertum, das von außen aufgezwungen worden war. Die Rüstung war keine Hilfe, keine Verbesserung oder Steigerung, sondern sie war eine grausame Prothese. Infanterieärzte hatten diesem Mann die Fähigkeit zu wertfreiem Vergnügen genommen. Sie hatten sein Alltagsleben zu einer eintönigen Heuchelei gemacht, hatten jegliche Begierde mit dem Kampf verbunden.
Der Eindringling, nicht sehr groß, kam mit geschmeidigen, schnellen Bewegungen die Treppe herauf. Dann geschah etwas Ungewöhnliches.
Er stolperte.
Er sank auf ein Knie und blickte hoch.
Ben spürte, wie die Nanomechanismen in diesem Mann arbeiteten. Lebenswichtige Verbindungen wurden durchtrennt, Schaltstellen überhitzt, Redundanzen nahmen übermäßig zu… »Wie heißt du?«, fragte Ben mit sanfter Stimme.
»Billy Gargullo«, antwortete der Eindringling und feuerte einen Strahl aus seiner Handgelenkwaffe ab.
Aber der Eindringling war langsam, und Ben, sensibilisiert, erahnte die Aktion und wich aus.
Er feuerte seine eigene Waffe ab. Der gebündelte Impuls, unsichtbar, schien Billy Gargullo nach vorne zu reißen und niederzuwerfen. Seine Rüstung zog sich krampfartig um ihn zusammen wie eine Faust. Er stürzte, bäumte sich einmal auf… Dann nutzte er seinen Schwung aus, als die Rüstung sich entspannte, um seinen Arm nach vorne pendeln zu lassen.
Dies war eine Geste, mit der Ben nicht gerechnet hatte. Er duckte sich, aber nicht schnell genug. Die Strahlenwaffe schnitt eine qualmende Furche quer über seinen Leib.
Ben ließ sich fallen und rollte über den Fußboden, um seine brennende Kleidung zu löschen, dann stellte er fest, dass er sich nicht mehr aufrichten konnte. Er war nahezu in zwei Hälften zerschnitten worden.
Wertvolle Sekunden verstrichen. Ben spürte, wie seine Wachsamkeit abnahm. Eine Woge von kybernetischen Helfern strömte aus den Wänden hervor, bedeckte die Wunde, verschloss sie. Durchtrennte Arterien versiegelten sich von innen. Für einen kurzen Moment stieg sein Blutdruck auf einen halbwegs normalen Wert. Seine Sicht klärte sich.
Ben richtete sich auf, stützte sich auf die Ellbogen und suchte tastend nach seiner Waffe.
Er fand sie, brachte sie in Anschlag…
Aber Billy hatte den Raum bereits verlassen.
Als er das Ende der Kellertreppe erreicht hatte, nahm Billy an, dass er sterben würde.
Er wusste, dass seine Rüstung von innen heraus allmählich zerfiel. Sein Sichtgerät lieferte ihm hellrote Zahlen und am laufenden Band Katastrophenmeldungen über seinen Zustand. Er fühlte sich von sich selbst abgetrennt, losgelöst, als schwebe er über seinem eigenen Körper wie ein Vogel.
Dies geschah völlig unerwartet. Es war ein völlig fremdes Gefühl und zweifelsfrei feindlich. Aber er ließ sich dadurch nicht aufhalten.
Er stieg die Treppe hoch, war immer noch funktionsfähig, wurde jedoch von fremdartigen Empfindungen überschwemmt: blitzartige Schübe panischer Angst, durchwoben von bläulichen Schuldreflexen. Billy hatte immerhin noch einen hinreichend klaren Kopf, um zu erkennen, dass er in eine Falle getappt war; dass sein Opfer, der Zeitreisende, sich irgendwie an seiner Rüstung zu schaffen gemacht hatte. In seinen Ohren hallte ein ständiger schriller Warnton, und das Diagnoseprogramm in seinem Sichtgerät produzierte einen ganzen Katalog von bedeutenden und unbedeutenden Fehlleistungen und Funktionsstörungen. Bisher arbeitete die Drüse im Deckflügel noch — wenn auch unregelmäßig —, und seine Waffen waren einsatzfähig. Aber er war verletzbar, und er war langsam, und es dauerte möglicherweise nicht mehr allzu lange, bis er völlig hilflos wurde.
Nichts von alledem minderte Billys Entschlossenheit. Da sie seine Panik registrierte, schleuste Billys Rüstung wirkungsvolle neue Moleküle in seinen Blutkreislauf. Der Tötungsdrang, der sich in der Vergangenheit so stark bemerkbar gemacht hatte, entfaltete sich zu etwas Neuem und Intensiverem: zu einem qualvollen Bedürfnis.
Am oberen Ende der Treppe sah er sich einem Mann gegenüber, den er schon einmal getötet hatte, einem Zeitreisenden. Billy interessierte sich nicht für die Umstände seiner Auferstehung, sondern beschloss einfach, den Mann erneut zu töten, sooft es nötig wäre. Eine kurzzeitige Schwankung bewirkte, dass er nach vorne kippte. Er stürzte, schaute hoch, und der Zeitreisende fragte nach seinem Namen. Billy antwortete, ohne nachzudenken, und erschrak beim Klang seiner eigenen Stimme.
Dann hob er seine Handgelenkwaffe. Aber das Chaos in seinem Inneren behinderte ihn und verlangsamte seine Bewegungen, und der Zeitreisende konnte in Ruhe zielen und seine eigene Waffe abfeuern, ein Strahlengerät, das Billys Rüstung kurzzeitig in einen Krampfzustand versetzte, sodass Billy in lächerlicher Hilflosigkeit taumelte und hinfiel, ähnlich einer Statue, die von ihrem Sockel herunterkippt.
Er vergeudete keine Zeit, über seine Verletzbarkeit nachzusinnen, sondern wartete ungeduldig, dass dieser Zustand vorüberging. Sobald sein Arm wieder beweglich war, brachte er ihn nach vorn, riss ihn mit aller Präzision hoch, die seine streikende neurale Erweiterung aufbringen konnte, und brannte ein Loch in den Leib des Zeitreisenden.
Das Ergebnis war beeindruckend. Die Wände schienen zu zerbröckeln. Maschinenkäfer strömten über den Teppichboden. Ein Aufwallen primitiven Ekels ließ Billy hochspringen und zurückweichen. Er zündete eine weitere Impulsbombe — seine letzte —, und sie ließ die Käfer langsamer werden, aber sie hielt sie nicht vollends auf.
Da sie über der Erdoberfläche detoniert war, hatte der Impuls eine durchschlagende Wirkung auf das örtliche Stromnetz. Die Hausbeleuchtungen flackerten und wurden dunkler, dann erreichten sie wieder die alte Helligkeit und flackerten erneut. An der Post Road wachten drei Familien auf und mussten feststellen, dass ihre Fernseher durchgebrannt und zu nichts mehr zu gebrauchen waren. In einem Dutzend Häuser am östlichen Ende von Belltower kämpften sich verschlafene Bewohner aus ihren Betten hoch, um die Hörer wild klingelnder Telefone abzunehmen und am anderen Ende nichts anderes zu hören als ein bedrohliches tiefes Brummen.
Die kybernetischen Helfer umschwärmten den Körper des zu Boden gestürzten Zeitreisenden — und heilten oder verschlängen ihn. Billy konnte nicht genau erkennen, was sie taten, aber es war ihm auch gleichgültig.
Sterbend eilte Billy zur Tür.
Tom war um das Haus herum zur Vorderfront geeilt, als das letzte noch heile Fenster — Nordseite, Schlafzimmer — von einer zweiten Detonation aus dem Rahmen gesprengt wurde.
Die Flutlichter wurden dunkler, dann wieder heller, verdunkelten sich erneut. Das Gleiche geschah auch mit den Straßenlaternen an der Post Road.
Er rannte durch den Vorgarten und über die Straße hinüber zum Graben auf der anderen Seite. Ben sollte auf die Vordertür des Hauses achten. Aber es war Tom klar geworden, dass Ben kein unüberwindliches Hindernis darstellte und dass die Vordertür einen günstigen Zugang zur Kellertreppe bot. Er ließ Doug mit Joyce und Catherine im Garten zurück und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die drei dort vorübergehend in Sicherheit wären.
Der Schock, mit dem er aus dem tiefen Schlaf gerissen worden war, hatte sich fast verflüchtigt. Er war jetzt so wach wie irgend möglich, hatte einen klaren Kopf, empfand eine bohrende Angst und war sich seiner eigenen bizarren Situation durchaus bewusst: barfuß und eine modifizierte Strahlenpistole mit der Aufschrift SPACE SOLDIER aus dem nächsten K-mart in der Faust. Jedes Fenster im Haus war mittlerweile zertrümmert worden, und er spürte die Versuchung, sich die Logik dieses Abenteuers noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Was ihn jedoch weiter in Bewegung hielt, war Joyce — deren Verletzbarkeit seine eigene überdeckte — und der einzige Blick auf den Eindringling, den er in einer menschenleeren Straße in Manhattan hatte erhaschen können. In diesen Augen lag der Tod so vieler Menschen, darunter auch der von Lawrence Millstein. Es waren keine rachsüchtigen oder gar leidenschaftlichen Augen, dachte Tom. Der Ausdruck war eher passiv gewesen. Es war der geistesabwesende Blick eines Buspassagiers während einer langen Fahrt durch eine allzu vertraute Umgebung. Tom empfand keine besonderen Sympathien für Lawrence Millstein, aber es tat ihm weh, sich vorstellen zu müssen, dass das Letzte, was Millstein vor seinem Tod gesehen hatte, diese lederartige Schnauze und diese emotionslosen Augen gewesen waren.
Er stirbt bereits, dachte Tom. Er starb, oder er wurde von innen auseinandergenommen. Wir brauchen nichts anderes zu tun, als ihn irgendwie aufzuhalten, abzulenken, zu bremsen.
Daran dachte er, als die Haustür aufschwang und Licht auf die bekieste Auffahrt und die Straße fiel.
Tom sprang in den Straßengraben gegenüber dem Vorgarten.
Für die Dauer von drei Atemzügen presste er das Gesicht in nasses Gras und Spinnennetze und konnte dabei an nichts anderes denken als an seinen panikartigen Wunsch, völlig unsichtbar zu sein, sich so klein wie möglich zu machen, damit diese Erscheinung ihn nicht entdeckte.
Dann holte er ein viertes Mal tief Luft und wagte es, vorsichtig den Kopf zu heben.
Der Eindringling trat mit der übertriebenen Bedächtigkeit eines Betrunkenen aus dem Haus. Ein Schritt, zwei Schritte, drei Schritte. Dann schwankte er und stürzte zu Boden.
Tom kam in die Hocke hoch und hielt die Strahlenpistole schussbereit. Der Eindringling war ganz eindeutig behindert, aber er war vermutlich noch immer gefährlich. Und Ben — wo war Ben? Blauer Rauch drang aus der offenen Tür ins mottendurchflatterte Licht… Irgendetwas Schlimmes war im Haus passiert.
Er entschied sich für eine Douglasfichte, die auf dem verwilderten Grundstück südlich seines Anwesens wuchs, als geeignete Deckung und kehrte in großen Sprüngen über die Post Road zurück, immer noch in Kauerstellung. Es war eine Technik, die er aus dem Fernsehen kannte: Sie sollte dafür sorgen, dass er ein kleineres Ziel bot, obgleich das unter den gegebenen Umständen nicht sehr wahrscheinlich war. Er hatte gerade den Schotter am Rand der Straße verlassen und spürte glatten Asphalt unter seinen Fußsohlen, als der Eindringling sich wieder regte und Tom ausgesprochen dumm darauf reagierte: Er drehte sich zu ihm um und beobachtete ihn. Er blieb zwar nicht stehen, aber er verlangsamte sein Tempo. Er konnte nicht anders. Es war ein einmaliger Anblick, als dieser goldfarbene Mann sich auf ein Knie aufrichtete, zum Leben erwachte wie eine byzantinische Ikone oder wie irgendeine überdimensionale Version des Blechmannes aus Der Zauberer von Oz. Nun stand er vollends auf und drehte den Kopf suchend hin und her. Tom empfand noch nicht einmal Angst, als diese Augen sich auf ihn richteten.
Selbst im Sternenschein und im matten Licht einer Straßenlaterne der Post Road, ein gutes Stück entfernt, entfalteten die Augen ihre Wirkung. Mein Gott, dachte Tom, diese Augen, nur ein Reflex oder eine Brechung in den Brillengläsern, die Illusion von Augen, mehr nicht, aber er fühlte sich plötzlich wie gelähmt, festgenagelt auf dem Asphalt dieser nächtlichen Straße.
Der Eindringling hob eine Hand, eine lässige Geste.
Tom erinnerte sich an seine eigene Waffe. Er brachte sie in Anschlag, fühlte, wie er sie hob, und es war, als hievte er einen Anker vom tiefsten Grund des Meeres hoch, als wuchtete er das enorme Gewicht des Ankers samt Eisenkette zur Wasseroberfläche. Warum lief alles so langsam ab? Ihm wurde bewusst, dass er das Gerät in seiner Faust noch nie abgefeuert hatte, noch nicht einmal probeweise. Er hatte den kleinen Hebel, offenbar eine Art Sicherung, umgelegt, ohne sich völlig sicher zu sein, ob er zur Waffe gehörte oder ob er ein Teil des Spielzeugs war. Fragen drängten sich ihm auf, die zu stellen er bisher unterlassen hatte: Fragen nach der Reichweite, zum Beispiel. Entfaltete die Waffe auf diese Entfernung überhaupt eine ausreichende Wirkung?
Aber ihm blieb nur noch Zeit für den Versuch, zu zielen und abzudrücken. Der große Showdown auf der Post Road. Irgendeine Stimme in seinem Innern ließ sich vernehmen und meinte, das Ganze sei doch wohl zu lächerlich, um richtig ernst genommen zu werden. So etwas ließ sich doch nur in Träumen inszenieren, oder?
Er wurde getroffen, ehe er den Gedanken beenden konnte. Sein Schuss ging daneben.
Der Schuss des Eindringlings hatte ebenfalls nicht richtig getroffen, aber die Flamme zuckte von Toms Hüfte zu seiner Achselhöhle und über den Bizeps seines linken Armes. Es gab keinen Aufschlag, sondern nur eine plötzliche Taubheit und die alarmierende Erkenntnis, dass seine Kleider in Flammen standen. Er stürzte zu Boden, ohne es zu wollen. Er wälzte sich wie ein Hund im Staub am Rand der Post Road, bis die Flammen erstickt waren, obgleich das einen ersten heftigen, lähmenden Schmerzimpuls auslöste.
Wie schlimm waren die Verbrennungen? Ersten Grades? Dritten Grades? Er sah an sich herab. Unter dem zu Asche gewordenen Hemd entdeckte er eine Insel versengter und geschwärzter Haut. Er schloss die Augen und entschied, er würde sich die Wunde nicht mehr ansehen, denn der Anblick des mit Blasen übersäten Fleisches war zu beängstigend und in keiner Weise sinnvoll.
Er fühlte sich jetzt wie betrunken, leicht benommen.
Er stützte sich auf seinen unversehrten Arm und hielt Ausschau nach dem Eindringling. Auch der war gestürzt. Toms Schuss hatte ihn zwar verfehlt, aber diese plötzliche Begegnung hatte ihn aufgehalten. Deshalb bin ich doch hier, entsann Tom sich. Um ihn aufzuhalten, damit die Maschinenkäfer in seinem Innern ihre Arbeit vollenden können. Vielleicht war er schon längst tot.
Es war eine schwache Hoffnung, die sofort erstickt wurde.
Der Eindringling stand erneut auf.
In diesem Akt lag etwas Heldenhaftes, dachte Tom. Es war eine taumelnde, gequälte Bewegung, die auf Fehlfunktion, auf demontierte Getriebe, überhitzte Maschinen, zerbeultes Blech schließen ließ. Der Eindringling stand auf und bewegte den Kopf, als ob seine Brille beschlagen wäre, eine suchende und vogelähnliche Bewegung. Dann riss er sich den Helm herunter und schaute zu Tom herüber.
Tom konnte im schwachen Licht nicht viel von seinen Gesichtszügen erkennen, aber es schien ihm, als sei diese Offenbarung eines menschlichen Gesichts noch schlimmer, als es die Maske gewesen war. Was war das für ein Ausdruck? Etwas wie Verzweiflung, dachte Tom. Er verspürte den seltsamen Drang, um eine Auszeit zu bitten. Ich bin verletzt. Du bist verletzt. Belassen wir es dabei.
Aber der Eindringling zielte, leicht zitternd, mit der tödlichen rechten Hand.
Oh Scheiße, dachte Tom. Was ist mit meiner Pistole passiert?
Er hatte sie auf der Straße liegen lassen.
Ein unzulänglicher Klumpen Plastik. Sie hatte ihm sowieso nicht viel genützt. Sie lag meterweit entfernt. Es hätten ebenso gut mehrere Kilometer sein können.
Der Eindringling zielte, schoss aber nicht, sondern lief in einem humpelnden, jedoch stetigen Trab über Toms bekieste Auffahrt. Wenn ich mich jetzt rühre, dachte Tom, dann bringt er mich um. Wenn ich versuche, meine Waffe zu holen oder mich in den Graben zu rollen, erschießt er mich. Und wenn ich hierbleibe — dann tötet er mich auch.
Er hatte schon so gut wie endgültig den Entschluss gefasst, trotz allem seine Waffe zu bergen, wobei er auf den Überraschungseffekt und darauf hoffte, dass das Wirken der kybernetischen Helfer ihm vielleicht eine Chance gegen die tödliche rechte Hand einräumte — als das Wunder geschah.
Das Wunder kündigte sich durch Licht an.
Das Licht zauberte seltsame, breite Schatten auf die Kiefern, und die Schatten wiegten sich und schwankten wie etwas Riesengroßes und Lebendiges. Dann hörte er das Brummen des Motors, das Geräusch eines Automobils, das vom Highway die Post Road herunterkam. Dabei tasteten die Scheinwerferstrahlen die sanft geschwungene Kurve südlich des Simmons-Hauses ab.
Der Wagen fuhr schnell.
Tom wandte sich ebenso zu ihm um wie der Eindringling. Die Scheinwerfer waren blendend hell. Tom nutzte die Gelegenheit, um sich nach links in den Graben neben der Straße zu werfen. Er hob den Kopf über den Rand und sah, wie der Eindringling in seine Richtung humpelte, während der Wagen zuerst auszuweichen schien… Dann schlingerten Reifen kreischend über Asphalt, der Wagen beschrieb einen Bogen, und der Eindringling stand gebannt im grellen Schein der Wagenscheinwerfer wie ein Bruchstück aus einem Traum, regungslos, bis der Aufprall ihn wie einen fremdartigen Vogel in die Luft schleuderte.
Normalerweise hätte die Rüstung Billy vor den Folgen der Kollision bewahrt — zumindest zum großen Teil. Vielleicht hatte sie ihn auch tatsächlich beschützt. Der Zusammenstoß hatte ihn nicht getötet. Nicht ganz.
Aber er war zerbrochen. Innerlich zerbrochen. Die Rüstung war zerbrochen und der Körper.
Blut sickerte an den aufgeplatzten Scharnieren aus seiner Rüstung. Die Drüse im Deckflügel war zerquetscht worden, der letzte Rest des Stimulans strömte nutzlos aus. Billy war nur noch Billy.
Trotzdem erhob er sich.
Und er spürte dabei, wie sich die Rippen in seiner Brust verschoben.
Er wandte sich zum Haus um. Er ignorierte Tom Winter, ignorierte das Rotieren des nächtlichen Sternenhimmels und versuchte auch, seine Schmerzen zu ignorieren. Er konnte sich kein anderes Ziel denken als den Tunnel, den er verwechselt hatte mit Flucht oder Heimkehr.
Er lief durch die offene Haustür, dieses helle rechteckige Lichtfeld. Diese Tür, hinter der eine Tür lag, die wiederum eine Tür in der Zeit darstellte. Das war alles, was er sich jemals gewünscht hatte, eine Auflösung seines Lebens, einen Weg nach Hause. Er stellte es sich als Straße vor, malte es sich im Geiste mit plötzlicher Klarheit aus. Eine staubige Straße, die sich in trockene, weit entfernte Berge unter einem klaren blauen Himmel schlängelt.
Sanktuarium. Eine Tür zu seiner eigenen Zerstörung.
Billy schälte die zerbrochenen Reste seiner Rüstung von seinem Körper und betrat das Haus.
Entgegen aller Vernunft und Berechnung holte Tom seine Waffe und folgte dem Eindringling ins Haus.
Konfrontiert mit der Aufforderung, seine Handlungsweise zu rechtfertigen, hätte er vielleicht geantwortet, der Eindringling hätte noch immer die Möglichkeit gehabt zu fliehen, durch den Tunnel nach Manhattan zu verschwinden, sich zu erholen und seine Rüstung zu reparieren. Die Vorstellung, dass die Ereignisse, die er soeben miterlebt hatte, nicht das Ende sein könnten, war ein zu schmerzvoller Gedanke. Daher erhob er sich und folgte dem Eindringling, trotz der erdrückenden Schmerzen seines eigenen verbrannten Fleisches, ins Haus. Doug Archer und Joyce und Catherine kamen um die Hausecke, als er gerade zur Tür ging. Sie riefen ihm zu, er solle stehen bleiben, aber er hörte kaum ihre Stimmen. Sie verstanden ihn nicht. Sie hatten den Höhepunkt versäumt.
Das Haus war voll grauen, unangenehmen Rauchs, doch die kybernetischen Helfer hatten alle Brände gelöscht. Ben Collier lag blutend und starr auf den Treppenstufen. Tom nahm diese Tatsache zur Kenntnis, schob sie jedoch beiseite. Das war etwas, womit man sich später beschäftigen musste.
Ihm war schwindelig, als er die Treppe hinuntereilte. Er hatte Schmerzen, aber diese Schmerzen gehörten irgendwie nicht zu ihm. Er machte sich Sorgen wegen eines möglichen Schocks. Wahrscheinlich stand er sogar unter Schock. Was immer das bedeutete oder später bedeuten könnte. Im Augenblick war es gleichgültig. Er zwang sich weiterzugehen.
Er stieß nach einigen Metern im Tunnel auf den Eindringling.
Der Eindringling war an der kahlen weißen Wandung zusammengebrochen — wahrscheinlich zum letzten Mal, dachte Tom. Er war ohne Rüstung, waffenlos, nackt, verwundet. Tom spürte, wie seine eigenen Finger sich öffneten, hörte das Klappern seiner Waffe, als sie zu Boden fiel. Der Eindringling schaute nicht auf.
Tom streckte eine Hand aus, um sich abzustützen, aber die Wand war zu glatt. Er verlor das Gleichgewicht und setzte sich unsanft hin.
Jetzt sitzen wir beide hier unten, dachte Tom.
Er befand sich am Rand der Bewusstlosigkeit. Die Schmerzen waren sehr schlimm. Er schenkte seiner linken Seite einen weiteren kurzen Blick. Seine Benommenheit verlieh ihm ein wenig Objektivität. Versengtes Fleisch, dachte er. Er hatte seinen Körper noch nie zuvor als »Fleisch« betrachtet. Gegrillte Rippchen. Es reizte ihn zum Lachen, aber er hatte Angst vor dem Lärm, den sein Gelächter in diesem leeren Tunnel erzeugen konnte.
In diesem Durchgang durch die Zeiten. Es war kein Tunnel unter der Erde; es war etwas Seltsameres. Ein merkwürdiger Ort, um dort mit einer möglicherweise tödlichen Wunde neben dem Mann zu liegen, der sie einem zugefügt hatte.
Er sah, wie der Eindringling sich bewegte. Entsetzt hob Tom den Kopf. Aber der Eindringling war nicht feindlich gesonnen, sondern er hatte nur Angst, und er versuchte, mit seinem zerbrochenen Körper zurückzuweichen: vor der plötzlichen Erscheinung.
Vor diesem Lichtkranz in Form eines menschlichen Wesens.
Die Erscheinung kam mit unglaublichem Tempo auf den Eindringling zu.
Ein Zeitgespenst, dachte Tom, der zu schläfrig war, um Angst zu haben. Doug hatte es so genannt. Ein Geist von etwas, das in diesem Riss in der Welt geboren worden war. Der Geist einer Spezies, die aus dem Leben gerissen wurde.
Etwas, das zu groß war, um von seiner Vorstellung erfasst zu werden. Er spürte seine Ausmaße, während es nur wenige Meter entfernt schwebend ausharrte. Es war groß — von einer Dimension, die er nicht erfassen konnte. Es bestand aus vielen, während es trotzdem als Einzelwesen erschien.
Er spürte seine Wärme, die über sein Gesicht strich.
Er spürte, wie es über ihn nachdachte… und an ihm vorüberging.
Er sah es über dem Eindringling schweben, sah, wie es den verängstigten Mann in einen Schleier unerträglichen Lichts einwickelte.
Und dann verschwand es, und der Eindringling war nicht mehr vorhanden.
Tom hörte Stimmen, die seinen Namen riefen. Joyces Stimme war darunter. Er drehte sich mit fiebriger Dankbarkeit zu dem Geräusch um und wäre sicherlich aufgestanden, wenn die Dunkelheit ihn nicht in diesem Moment mit sich gerissen hätte.