Genaugenommen war das Gitter nicht vor, sondern im Fenster, noch genauer: in der kleinen Luke, durch die ein schmales Bündel Sonnenstrahlen mir gerade ins Gesicht fiel. Ich wollte beiseite rücken, was mir aber nicht gelang – bei dem Versuch, mich vom Fußboden abzustemmen, um mich vom Bauch auf den Rücken zu drehen, stellte sich heraus, daß meine Arme gefesselt waren. Ich steckte in etwas, das wie ein Leichengewand aussah und dessen lange Ärmel auf dem Rücken zusammenhingen – wenn ich mich nicht irre, nennt man das eine Zwangsjacke.
Mir fiel es nicht sonderlich schwer zu erraten, was geschehen war – etwas an meinem Verhalten hatte anscheinend den Argwohn der Matrosen geweckt, und nachdem ich im Auto eingeschlafen war, hatten sie mich zur Tscheka gefahren. Ich krümmte meinen Körper so, daß ich auf die Knie und sodann an der Wand zu sitzen kam. Meine Zelle schaute recht merkwürdig aus. Weit oben unter der Decke war das vergitterte Fensterchen, durch das der Sonnenstrahl hereinfiel, welcher mich geweckt hatte. Wände, Tür, Fußboden und Decke waren mit einer dicken, weichen Polsterung versehen, so daß ein romantischer Selbstmord im Geiste Dumas' (»noch einen Schritt, Mylord, und ich schlage mir den Schädel an der Wand ein«) nicht in Frage kam. Offenbar hatten die Tschekisten solcherart Zellen für besonders respektable Gäste hergerichtet – ein Gedanke, der mir, wie ich zugeben muß, einen kurzen Moment schmeichelte.
Es verstrichen einige Minuten, in denen ich an die Wand starrte und mir die erschreckenden Details des vorangegangenen Tages ins Gedächtnis zurückholte, dann wurde die Tür aufgerissen.
Sherbunow und Barbolin standen auf der Schwelle – doch mein Gott, in welchem Aufzug! Sie trugen weiße Kittel, bei Barbolin schaute sogar ein echtes Stethoskop aus der Tasche hervor. Das war nun weit mehr, als ich fassen konnte; meiner Brust entrang sich ein nervöses Gelächter, woraus die vom Kokain verbrannte Kehle eine Art Röchelhusten machte. Barbolin, der näher zu mir stand, drehte sich nach Sherbunow um und sagte etwas, was ich nicht verstand. Schnell hörte ich zu lachen auf – irgend etwas verriet mir, daß sie gleich zuschlagen würden.
Den Tod fürchtete ich am allerwenigsten, das sagte ich wohl schon. Zu sterben war in meiner Situation ebenso naheliegend und vernünftig, wie man ein Theater verläßt, das – noch dazu während einer schlechten Vorstellung – in Flammen aufgegangen ist. Was ich jedoch auf gar keinen Fall wollte, war, daß ich auf meinen letzten Wegen von den Ohrfeigen und Fußtritten wildfremder Leute belästigt sein würde – dafür war ich wohl im Tiefsten meiner Seele nicht Christ genug.
»Meine Herren«, sagte ich, »ich denke, ihr wißt, daß man auch euch demnächst totschlagen wird. So bitte ich euch – aus Ehrfurcht vor dem Tod, wenn nicht vor meinem, dann vor dem eigenen: Erledigt es rasch und ohne Umschweife. Ich habe euch sowieso nichts mitzuteilen. Ich bin, müßt ihr wissen, eine Privatperson, und …«
»Was ist denn das nun wieder?« unterbrach mich Sherbunow grinsend. »Da hat mir dein Auftritt gestern aber besser gefallen. Diese hübschen Verse! Weißt du das wenigstens noch?«
Seine Art zu sprechen hatte etwas unbestimmbar Merkwürdiges an sich, nicht passend zur Situation, und ich vermutete, daß er sich schon zu früher Stunde seinen baltischen Tee genehmigt hatte.
»Mein Gedächtnis ist vorzüglich«, antwortete ich und sah ihm direkt in die Augen.
Sein Blick war unerschütterlich leer.
»Was redest du überhaupt mit diesem Blödmann«, krächzte Barbolin mit hoher Stimme. »Laß den Professor damit klarkommen, der kriegt es bezahlt.«
»Also los«, zog auch Sherbunow einen Schlußstrich, trat auf mich zu und nahm mich beim Arm.
»Könnt ihr mir nicht die Hände losbinden?« fragte ich. »Ihr seid doch zu zweit.«
»Ach so?« fragte Sherbunow. »Damit du einem an die Gurgel gehst?«
Von diesen Worten schwankte ich wie von einem Schlag. Sie wußten alles. Die unerträgliche Schwere, mit der Sherbunows Frage über mich kam, konnte ich beinahe physisch spüren.
Barbolin packte meinen anderen Arm; mühelos stellten sie mich auf die Füße und schleppten mich hinaus auf einen leeren, halbdunklen Gang, wo es tatsächlich irgendwie medizinisch roch – vielleicht nach Blut. Ich leistete keinen Widerstand. Nach einem ganzen Stück Weg stießen sie mich in ein geräumiges Zimmer, plazierten mich auf einen Schemel, der in der Mitte stand, und gingen wieder.
Mir gegenüber stand ein großer Schreibtisch, auf dem sich die Kanzleiordner türmten. Ein intelligent ausschauender Herr im gleichen weißen Kittel wie Sherbunow und Barbolin saß dahinter. Er preßte sich mit der Schulter den schwarzen Hörer des Telefonapparates ans Ohr und schien aufmerksam zu lauschen; seine Hände wälzten derweil mechanisch irgendwelche Papiere. Von Zeit zu Zeit nickte er, sprach aber kein einziges Wort. Mir schenkte er nicht die geringste Beachtung. Noch ein Weißkittel in grünen Hosen mit roter Biese saß auf einem Stuhl an der Wand zwischen den beiden hohen Fenstern, vor die staubige Vorhänge gezogen waren.
Etwas an der Einrichtung dieses Zimmers ließ mich an den Sitz des Generalstabs denken, wo ich anno sechzehn in dem Bemühen, mir meine Sporen auf dem Felde der patriotischen Journalistik zu verdienen, öfters zu tun gehabt hatte. Allerdings gab es hier, direkt über dem Kopf des bekittelten Herrn, wo man das Bildnis des Zaren hätte vermuten dürfen (zumindest aber den lieben Karl, der – o argloser Zungenbrecher aus Kindertagen! – inzwischen in halb Europa die Korallen gekrallt hatte), etwas derart Gräßliches zu sehen, daß ich mir instinktiv auf die Lippe biß.
Es handelte sich um ein großes, auf Karton kaschiertes, in den Farben der russischen Fahne gehaltenes Plakat. Darauf ein blauer Mann mit gewöhnlichen russischen Gesichtszügen, aufgeschnittener Brust und abgesägter Schädeldecke, unter der das Gehirn offen und blutig zutage lag. Ungeachtet dessen, daß seine Eingeweide aus dem Leib gezogen und lateinisch durchnumeriert waren, blickten die Augen des Mannes stoisch, und ein kleines, stilles Lächeln stand ihm auf den Lippen – was eine Täuschung sein konnte, verursacht durch den breiten Schnitt auf der Wange, der einen Teil des Kiefers und der Zähne freilegte, letztere so tadellos weiß wie auf einer deutschen Zahnpulverreklame.
»Also dann«, brummelte der Herr im Kittel und warf den Hörer auf die Gabel.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich, während ich meinen Blick vom Plakat riß und ihm zuwandte.
»Keine Ursache«, sagte er. »Da ich schon meine Gesprächserfahrungen mit Ihnen habe, stelle ich mich am besten gleich noch einmal vor: Professor Kanaschnikow, Timur Timurowitsch.«
»Pjotr Pustota. Leider sehe ich mich außerstande, Ihnen die Hand zu geben.«
»Muß auch nicht sein. Ach Pjotr, ach Pjotr. Wo sind wir da bloß hineingeraten.«
Seine Augen ruhten freundlich und sogar ein wenig mitfühlend auf mir; das keilförmige Kinnbärtchen signalisierte den untadeligen Staatsdiener alter Schule, doch soviel wußte ich von den Winkelzügen der Tscheka, daß mein Mißtrauen sich nicht erschüttern ließ.
»Halb so wild«, sagte ich. »Und wenn Sie die Frage schon so stellen: Ich bin ja nicht der einzige in dieser Lage.«
»So? Wer denn noch?«
Aha, dachte ich, es geht los.
»Sie erwarten von mir irgendwelche Adressen und konspirativen Treffpunkte, nehme ich an? So leid es mir tut, da muß ich Sie enttäuschen. Ich bin in meinem Leben vor Menschen immer nur weggelaufen, und in diesem Kontext figurieren andere Menschen als bloße Kategorie, Sie verstehen?«
»Natürlich«, sagte mein Gegenüber und notierte etwas auf einem Blatt Papier. »Ohne jeden Zweifel. Doch steckt in Ihren Worten ein Widerspruch. Sie sagen einerseits, es gebe Menschen, die seien in derselben Lage wie Sie; andererseits behaupten Sie, von diesen Leuten nichts zu wissen, da Sie immer nur vor ihnen weglaufen.«
»Erlauben Sie«, erwiderte ich und schlug, nicht ohne mein Gleichgewicht zu gefährden, die Beine übereinander, »das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Je mehr ich versuche, die Gesellschaft anderer zu meiden, um so weniger gelingt mir das. Der Grund hierfür ist mir, nebenbei gesagt, erst neulich aufgegangen: Ich lief an der Isaak-Kathedrale vorbei, schaute zur Kuppel hinauf – die frostklare Nacht, die Sterne, Sie wissen schon – da wurde es mir schlagartig klar.«
»Was wurde Ihnen klar?«
»Daß man, wenn man vor anderen davonläuft, notgedrungen ein Leben lang ihrem Zickzackkurs folgt. Und sei es nur, um sie sich vom Leib zu halten. Um vor anderen wegzulaufen, muß man nicht wissen, wo man selber hinwill, sondern nur, wo die anderen sind. So ist man gezwungen, sein Gefängnis immerzu vor der Nase zu haben.«
»Stimmt«, sagte der Professor, »da haben Sie recht. Wenn ich mir vorstelle, wieviel Scherereien wir beide damit haben, wird mir ganz anders.«
Ich hob die Schultern und sah hinauf zu dem Plakat über seinem Kopf. Womöglich war es doch nicht als geniale Metapher, sondern als Unterrichtshilfe gedacht. Ein Ausschnitt aus einem anatomischen Atlas vielleicht.
»Wissen Sie«, fuhr Professor Kanaschnikow fort, »man hat ja so seine Erfahrungen. Ich habe es hier mit sehr vielen Leuten zu tun.«
»Oh, das bezweifle ich nicht«, sagte ich.
»Und ich sage Ihnen folgendes. Mich interessiert weniger die formale Diagnose, die ich zu stellen habe, als vielmehr der tieferliegende Grund, weshalb ein Mensch aus seiner normalen psychosozialen Nische kippt. Und da scheint mir Ihr Fall recht klar zu liegen. Sie wollen einfach das Neue nicht akzeptieren. Ihr Alter kennen Sie?«
»Welche Frage. Sechsundzwanzig.«
»Sehen Sie. Da gehören Sie exakt zu der Generation, die für ein Leben in dem einen soziokulturellen Paradigma programmiert war und sich plötzlich in einem völlig anderen wiederfand. Können Sie mir folgen?«
»Und ob.«
»Das heißt, wir haben hier einen ernsthaften inneren Konflikt vorliegen. Ich kann Sie beruhigen – nicht nur Sie haben damit Ihre Schwierigkeiten. Sogar ich schlage mich mit dem gleichen Problem herum.«
»Ach ja?« fragte ich, es sollte etwas höhnisch klingen. »Und wie belieben Sie es zu lösen?«
»Von mir reden wir später«, sagte er. »Jetzt kümmern wir uns erst einmal um Sie. Wie ich schon sagte, betrifft dieser unbewußte Konflikt heutzutage so gut wie jeden. Ich möchte, daß Sie es lernen dahinterzuschauen. Verstehen Sie, die Welt, die um uns ist, widerspiegelt sich in unserem Bewußtsein und wird dort zu einem geistigen Faktum. Und wenn in der Realität irgendwelche althergebrachten Verhältnisse zu Bruch gehen, dann passiert in der Psyche haargenau das gleiche. Wobei im geschlossenen Raum Ihres Ich eine gigantische Menge psychischer Energien frei werden. Das ist wie eine kleine Atomexplosion. Und das Entscheidende ist, wohin all diese Energien nach dem Ausbruch kanalisiert werden.«
Das Gespräch begann interessant zu werden.
»Welche Kanäle kämen da, mit Verlaub, in Frage?«
»Nun, grob betrachtet, gibt es zwei Möglichkeiten. Die psychische Energie kann sozusagen nach außen gehen, in die Welt hinein, kann gerichtet werden auf Objekte wie zum Beispiel … na, sagen wir, eine Lederjacke, ein teures Auto und so weiter. Viele Ihrer Altersgenossen …«
Die Erinnerung an Ernenzoff jagte mir einen Schauer über den Rücken.
»Alles klar. Das müssen Sie nicht ausführen.«
»Wunderbar. Im anderen Fall verbleibt diese Energie aufgrund bestimmter Ursachen im Inneren. Eine denkbar ungünstige Entwicklung. Stellen Sie sich vor, man sperrt einen wilden Stier in einen Museumssaal.«
»Ein treffliches Bild.«
»Danke. Dieser Saal also mit seinen zerbrechlichen und womöglich sehr kostbaren Ausstellungsstücken soll einmal für Ihre Persönlichkeit, Ihre Innenwelt stehen. Und der Stier, der darin umgeht – das ist die freigewordene psychische Energie, die zu zügeln über Ihre Kräfte geht. Das ist der Grund, weshalb Sie hier sind.«
»Er ist wirklich nicht dumm«, dachte ich. »Und ein Schuft ohnegleichen.«
»Ich sage Ihnen noch mehr«, sprach Kanaschnikow weiter. »Ich habe viel darüber nachgedacht, warum die einen imstande sind, ein neues Leben zu beginnen – nennen wir sie einmal die neuen Russen, obwohl ich diesen Ausdruck überhaupt nicht mag.«
»Ein wirklich gräßliches Wort, und verfälscht obendrein. Falls Sie Tschernyschewski zitieren wollen, so sprach er wohl von den neuen Menschen.«
»Mag sein. Die Frage steht nichtsdestoweniger: Wieso zieht es die einen hin zum Neuen, während die anderen ihre ganze Zeit damit zubringen, fiktive Beziehungen zu den Schatten einer versunkenen Welt zu klären?«
»Also das ist nun wirklich großartig gesagt. Klingt fast wie Balmont.«
»Danke, danke. Die Antwort ist aus meiner Sicht sehr einfach. Ich fürchte gar, Ihnen wird sie primitiv vorkommen. Ich hole ein wenig aus. Im Leben eines Menschen, eines Landes, einer Kultur und dergleichen vollziehen sich unentwegt Metamorphosen. Manchmal erstrecken sie sich über größere Zeiträume und bleiben unbemerkt, manchmal nehmen sie sehr krasse Formen an – so wie heute. Wie man zu diesen Metamorphosen steht, macht einen beträchtlichen Unterschied zwischen den Kulturen aus. Wenn wir uns zum Beispiel China vornehmen, nach dem Sie ja ganz verrückt sind.«
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte ich und spürte, wie sich hinter meinem Rücken die Fäuste in den straffgezogenen Ärmeln ballten.
»Steht alles hier in Ihrer Akte«, sagte Professor Kanaschnikow und hob den dicksten der vor ihm liegenden Ordner in die Höhe. »Ich hab sie vorhin noch mal durchgesehen.«
Er warf den Ordner zurück auf den Tisch.
»Also die Chinesen. Wie Sie sich entsinnen werden, beruht deren ganze Philosophie auf der Vorstellung, daß die Welt degeneriert, daß sie verfällt aus einem goldenen Zeitalter in immer tiefere Finsternis und Stagnation. Das absolute Maß liegt für sie in der Vergangenheit, und jedwede Neuerungen sind schon deswegen von Übel, weil sie von diesem Maß wegführen.«
»Aber erlauben Sie«, sagte ich, »das ist doch der menschlichen Kultur insgesamt eigen. Das zeigt sich sogar an der Sprache. Im Englischen zum Beispiel. Dort heißt es, wir seien descendants of the past. Dieses Wort bezeichnet den Abstieg, nicht den Aufschwung. Wir sind keine ascendants.«
»Schon möglich«, sagte der Professor. »An Fremdsprachen kann ich nur Latein. Wichtig ist etwas anderes. Verankert sich nämlich dieser Bewußtseinstyp in einem einzelnen Individuum, so wird dieser Mensch seine Kindheit als ein verlorenes Paradies empfinden. Nehmen Sie nur Nabokov. Diese ganze endlose Reflexion über seine frühesten Lebensjahre – ein klassisches Exempel für das, wovon ich rede. Aber ein genauso klassisches Exempel für die Gesundung, die Neuorientierung des Bewußtseins auf die Wirklichkeit – jene, nennen wir es einmal Kontrasublimierung, die er meisterlich bewerkstelligte, indem er seine Sehnsucht nach dem unerreichbaren und vielleicht nie dagewesenen Paradies in eine simple, bodenständige und ein wenig sündhafte Leidenschaft zu einem kleinen Mädchen transformierte. Wobei er ja von Anfang …«
»Pardon, von welchem Nabokov ist die Rede?« fiel ich ihm ins Wort. »Dem Chef der Konstitutionellen Demokraten?«
Kanaschnikow zeigte ein betont nachsichtiges Lächeln.
»Nein«, sagte er, »ich spreche von seinem Sohn.«
»Was denn, der kleine Vladimir von der Tenischew-Schule? Haben Sie den etwa auch … Aber der ist doch längst auf der Krim! Und wieso Mädchen? Was reden Sie da?«
»Schon gut, meinetwegen. Auf der Krim«, sagte der Professor. »Von mir aus auf der Krim. Wir hatten ja von China geredet, nicht von der Krim. Davon, daß die klassische chinesische Mentalität jegliche Vorwärtsbewegung als Abstieg sieht. Und dann gibt es den anderen Weg – den Europa seine ganze Historie hindurch gegangen ist, auch wenn Sie in der Sprache anderes finden mögen. Jenen Weg, den auch Rußland seit Ewigkeiten zu beschreiten versucht, indem es immer und immer wieder die unselige alchimistische Ehe mit dem Westen eingeht.«
»Bemerkenswert formuliert.«
»Danke. Hier sieht man das Ideal nicht in der Vergangenheit, sondern potentiell in der Zukunft angesiedelt. Was der eigenen Existenz sogleich einen Sinn verschafft, Sie verstehen?
Die Idee der Entwicklung, des Fortschritts, der Bewegung vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren. Gleiches passiert auf individueller Ebene – auch wenn die persönliche Entwicklung nur so kleine Fortschritte erkennen läßt wie, sagen wir, die Renovierung der Wohnung oder den Kauf eines neuen Autos. Es gibt einem die Möglichkeit weiterzuleben. Sie hingegen wollen in dieses ›Weiter‹ nicht investieren. Der metaphorische Stier, von dem wir sprachen, hetzt durch Ihre Seele und trampelt alles nieder, was ihm in die Quere kommt, nur weil Sie nicht bereit sind, sich der Realität zu stellen. Sie wollen den Stier nicht in die Freiheit entlassen. Sie verachten die Posen, die die Zeit uns abverlangt. Ebendarin liegt der Grund für Ihre Tragödie.«
»Das ist natürlich interessant, was Sie da erzählen, aber etwas sehr konfus«, sagte ich und schielte nach dem an der Wand sitzenden Uniformierten. »Außerdem sind mir die Arme eingeschlafen. Und was den Fortschritt angeht, da könnte ich Ihnen kurz erläutern, was dahintersteckt.«
»Wenn Sie so freundlich wären.«
»Kein Problem. Bringt man das von Ihnen Gesagte auf einen Punkt, so heißt das: Manche Leute passen sich Veränderungen schneller an als andere, basta. Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, warum es überhaupt zu Veränderungen kommt?«
Professor Kanaschnikow antwortete mit einem Achselzucken.
»Ich will es Ihnen sagen. Daß es sich leichter lebt für den, der durchtrieben und gewissenlos ist, werden Sie gewiß nicht bestreiten?«
»Keineswegs.«
»Und leichter lebt es sich vor allem dadurch, daß man sich neuen Gegebenheiten schneller anpaßt, ja?«
»Kann man so sehen.«
»Nun gibt es aber ein Ausmaß an gewissenloser Durchtriebenheit, Euer Gnaden, mit Hilfe dessen mancher diese Gegebenheiten schon absieht, bevor sie überhaupt eingetreten sind, wodurch er natürlich anderen gegenüber einen beträchtlichen Vorsprung in der Anpassung erzielt. Mehr noch, die gerissensten Gauner schaffen es sogar, sich Gegebenheiten anzupassen, die noch nicht im entferntesten abzusehen sind.«
»Na und?«
»So kommt es, daß wir Veränderungen in der Welt überhaupt nur diesem Häuflein gerissener Gauner zu verdanken haben. Sie nehmen die Zukunft nicht vorweg, sie gestalten sie – indem sie nämlich immer an den Ort kriechen, von wo der Wind, wie sie glauben, demnächst wehen wird. So daß dem Wind gar nichts weiter übrigbleibt, als sich tatsächlich dorthin zu bequemen und zu blasen.«
»Warum sollte er das?«
»Warum schon. Ich sagte doch, es handelt sich um die widerwärtigsten, schamlosesten, abgefeimtesten Gauner, die man sich vorstellen kann. Denken Sie, die lassen sich nichts einfallen, um alle anderen davon zu überzeugen, daß der Wind von da weht, wo sie gerade hocken? Zumal der Wind, von dem hier die Rede ist, nur idiomatisch weht. Aber ich mache zuviel Worte. Ehrlich gesagt, hatte ich die Absicht, bis zur Exekution überhaupt nicht mehr zu reden.«
Der Uniformierte an der Wand grunzte und warf dem Professor einen vielsagenden Blick zu.
»Ich vergaß vorzustellen«, sagte Kanaschnikow. »Das ist Oberst Smirnow, Militärpsychiater. Er ist in einer anderer Angelegenheit hier, interessiert sich aber auch für Ihren Fall.«
»Sehr erfreut, Herr Oberst«, sagte ich mit leichter Verbeugung.
Der Professor neigte sich über sein Telefon und drückte einen Knopf.
»Sonetschka, vier Kubik bitte, wie üblich«, sprach er in den Hörer. »Gleich hier bei mir, solange er noch in der Jacke ist. Ja, anschließend in den Trakt.«
Kanaschnikow drehte sich wieder zu mir, traurig seufzend kraulte er sich den Bart.
»Vorläufig müssen wir mit der pharmakologischen Kur fortfahren«, sagte er. »Ich verhehle nicht, daß ich dies als eine Niederlage betrachte – eine kleine Niederlage, aber immerhin. Ich finde, ein guter Psychiater sollte ohne Medikamente auskommen, weil die … Wie soll ich sagen … Es ist Kosmetik. Sie lösen die Probleme nicht, sie verhindern höchstens, daß Außenstehende Einblick bekommen. Doch in Ihrem Fall habe ich einfach keine bessere Idee. Ich brauchte Ihre Hilfe. Um jemanden vor dem Ertrinken zu retten, reicht es nicht, daß man ihm die Hand hinhält – er muß sie auch ergreifen.«
Hinter mir ging die Tür auf, ich hörte leise Schritte. Die zarten Finger einer Frau griffen nach meiner Schulter, und ich spürte, wie ein kalter kleiner Stachel den Stoff der Zwangsjacke durchbohrte und in meine Haut drang.
»Übrigens«, sagte Kanaschnikow, während er sich fröstelnd die Hände rieb, »im Klapsmühlenjargon gibt es den Ausdruck ›Exekution‹ tatsächlich – aber nicht für das, was wir Ihnen momentan spritzen, die normale Mischung Aminasin-Pervitin, sondern das sogenannte Sulfasin-Kreuz, also vier Injektionen in … Na, ich hoffe, so weit wird es nicht kommen.«
Ich unternahm gar nicht erst den Versuch, mich umzudrehen und der Frau, die mir die Spritze gab, ins Gesicht zu sehen. Ich fixierte den blau-rot-weißen Mann auf dem Plakat, und als er endlich zurückschaute, ein Lächeln und ein Blinzeln wagte, erklang von weit her die Stimme des Professors:
»Jawohl, gleich in den Trakt. Der stört schon nicht. Das Zeug hat ja doch eine gewisse Wirkung. Und außerdem sitzt er bald selber auf dem Stuhl.«
Irgendwelche Hände (vielleicht waren es wieder Sherbunow und Barbolin) rissen mir die Zwangsjacke vom Leib und hievten mich wie einen Sandsack auf eine Art Trage. Der Türpfosten schwebte an mir vorüber, dann waren wir wieder auf dem Flur.
Mein taub gewordener Körper wurde an hohen, weißen Türen mit Nummern entlanggeschoben, hinter mir schwatzten und lachten mit entstellten Stimmen die zwei verkleideten Matrosen – ich glaube, es ging um Frauen, über die sie schamlos herzogen. Dann sah ich das über mich gebeugte Gesicht des Professors, der offenbar neben mir herlief.
»Wir legen Sie wieder auf Abteilung III, ist Ihnen das recht? Wenn ich mich recht entsinne, ist Puschkin auch von der III. Abteilung überwacht worden.« Kanaschnikow lachte zufrieden. »Da liegen derzeit vier Mann, mit Ihnen also fünf. Schon mal was von der Gruppentherapie nach Professor Kanaschnikow gehört? Das bin nämlich ich!«
»Nein«, stieß ich mühsam hervor.
Das Vorüberziehen der vielen verschwommenen Türen wurde unerträglich, ich schloß die Augen.
»Es ist, schlicht gesagt, der kollektive Kampf der Patienten um ihre Genesung. Sie müssen sich das so vorstellen: Ihre Probleme werden vorübergehend zum Gemeingut, das heißt, jeder der Sitzungsteilnehmer hat eine bestimmte Zeit lang das gleiche Befinden wie Sie, identifiziert sich sozusagen mit Ihnen. Was glauben Sie, wohin das führt?«
Ich gab keine Antwort.
»Ganz einfach«, fuhr Kanaschnikow fort. »Nach Beendigung der Sitzung tritt ein Rückstoßeffekt ein. Die Teilnehmer ziehen sich geschlossen aus der eben noch als Realität empfundenen Situation zurück. Es ist, wenn Sie so wollen, die Verwendung des menschlichen Herdentriebs zu medizinischen Zwecken. Die Beteiligten mögen noch so sehr von Ihren Ideen und Stimmungen gefangen gewesen sein – sobald die Sitzung zu Ende ist, kehren sie zu ihren eigenen Manien zurück und lassen Sie mutterseelenallein sitzen. Und in diesem Augenblick – vorausgesetzt, der kathartische Aufschluß des pathologischen Psychomaterials ist gelungen – vermag der Patient die Relativität seiner krankhaften Vorstellungen selbst zu empfinden und die Identifizierung damit aufzugeben. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Genesung.«
Vom Sinn dieser Ausführungen (so es einen gab) verstand ich nicht allzu viel, auch wenn das eine oder andere davon im Bewußtsein hängenblieb. Die Injektion wirkte zunehmend. Ich konnte meine Umgebung schon nicht mehr erkennen, der Körper war praktisch empfindungslos und die Seele in schwerem, dumpfem Gleichmut versunken. Das Unangenehmste an alledem war, daß nicht ich, sondern ein anderer es zu sein schien, dem dies passierte und der auf das gespritzte Präparat reagierte. Und dieser andere, so ahnte ich mit Grauen, ließ sich tatsächlich kurieren.
»Was dachten denn Sie!« sagte Professor Kanaschnikow wie zur Bestätigung. »Das schaffen wir schon, keine Bange. Und überhaupt, vergessen Sie das Wort ›Irrenhaus‹. Nehmen Sie's als nettes Abenteuer. Das dürfte Ihnen als Literat doch nicht schwerfallen. Wirklich, was einem hier manchmal zu Ohren kommt, möchte man direkt aufschreiben. Die Gruppensitzung mit Maria, die gleich anfängt, die wird zum Beispiel sehr interessant. Ich nehme an, Sie wissen noch, wer das ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na, hätte ich mir denken können«, sagte er. »Ist jedenfalls eine äußerst interessante Geschichte. Ein Psychodrama von shakespeareschem Format, würde ich behaupten. Da kollidieren äußerlich völlig verschiedene Bewußtseinsinhalte miteinander: mexikanische Seifenoper, Hollywood-Thriller und die ungefestigte russische Demokratie. Die mexikanische Fernsehserie ›Sagen Sie einfach Maria‹ ist Ihnen doch wenigstens ein Begriff? Nicht mal die? Verstehe. Na, kurz gesagt, hier hält sich jemand für die Hauptfigur, besagte Maria. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, aber es kommt noch eine unbewußte Identifikation mit Rußland hinzu. Plus analdynamischer Agamemnon-Komplex. Also eine lupenreine Pseudopersönlichkeitsspaltung. Ganz mein Fall.«
Mein Gott, dachte ich, was für lange Flure die hier haben.
»Zu einer vollwertigen Teilnahme an der Sitzung werden Sie natürlich nicht in der Lage sein«, tönte Kanaschnikows Stimme schon wieder. »Sie dürfen ruhig schlafen. Aber vergessen Sie nicht, daß Sie demnächst selbst an der Reihe sein werden.«
Wir schienen nun irgendwo hineinzufahren: Eine Tür quietschte, und ich hörte, wie eine Unterhaltung, die dort im Gang war, abbrach. Professor Kanaschnikow grüßte in die Finsternis, etliche Stimmen antworteten ihm. Währenddessen wurde ich auf ein unsichtbares Bett gelegt, ein Kissen kam unter meinen Kopf, eine Decke obenauf. Eine Zeitlang lauschte ich den an mein Ohr dringenden Phrasen (der Professor erklärte irgendwem, warum ich so lange nicht dagewesen war), dann schaltete ich vollständig ab, da mich eine außerordentlich bedeutungsvolle Halluzination privater Natur heimsuchte.
Ich weiß nicht, wie lange ich allein mit meinem Gewissen zubrachte, ehe plötzlich wieder die monotone Stimme des Professors meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Schauen Sie genau auf diese Kugel, Maria. Sie sind vollkommen ruhig. Sollte Ihr Mund trocken sein, ist das die Wirkung des Ihnen verabreichten Präparats und wird schnell wieder vergehen. Hören Sie mich?«
»Ja«, erwiderte eine Stimme, die eher einem hohen Tenor nahekam als einem tiefen Alt.
»Wer sind Sie?«
»Maria«, antwortete die Stimme.
»Ihr Nachname?«
»Sagen Sie einfach Maria.«
»Wie alt sind Sie?«
»Schätzungsweise achtzehn«, sagte die Stimme.
»Wissen Sie, wo Sie sich befinden?«
»Ja. In der Klinik.«
»Und weshalb sind Sie hier?«
»Wegen dem Aufprall, was dachten denn Sie! Ist ja ein Wunder, daß ich überhaupt noch am Leben bin. Nie hätte ich gedacht, daß er ein so schlechter Mensch ist.«
»Wogegen sind Sie denn geprallt?«
»Gegen den Moskauer Fernsehturm.«
»Ach. Wie ist denn das passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Macht nichts«, sagte der Professor in nettem Ton, »wir haben keine Eile. Erzählen Sie ruhig, wir hören zu. Wie hat das Ganze angefangen?«
»Angefangen hat es damit, daß ich an der Uferpromenade spazierengegangen bin.«
»Wo waren Sie vorher gewesen?«
»Vorher nirgends.«
»Gut, erzählen Sie weiter.«
»Ja, also. Ich geh da so lang, und auf einmal ist da um mich so ein Rauch. Ich geh weiter, und es wird immer mehr …«
Ich merkte plötzlich, daß es immer schwieriger wurde, den Worten, die zu mir drangen, einen Sinn abzugewinnen. Ich hatte das Empfinden, als hinge dieser Sinn an Fäden, und diese Fäden würden länger und länger. Ich konnte dem Gespräch nicht mehr folgen. Das war aber nicht schlimm, weil sich vor mir ein verschwommenes Bild abzuzeichnen begann: die in Rauchschwaden gehüllte Uferpromenade, auf ihr entlanggehend eine Frau oder wohl eher ein verkleideter Kerl mit breiten, muskulösen Schultern. Sie hieß Maria, soviel war mir klar, ich konnte sie sehen und sah doch zugleich die Welt mit ihren Augen. Im nächsten Augenblick begriff ich, daß all ihre Gedanken und Gefühle auf unklare Weise bei mir ankamen: So dachte sie zum Beispiel gerade, daß aus dem schönen Spaziergang wohl nichts werden würde, der sonnige Morgen, bei dessen Anbruch sie auf dieser armen Welt erschienen war, hatte sich gewandelt zu Gott weiß was. Und das war so allmählich passiert, daß sie es gar nicht bemerkt hatte.
Die Luft roch zunächst nur ein bißchen brenzlig, und Maria vermutete, daß irgendwo Laub verbrannt wurde. Dann mischte sich der Gestank von verschmortem Gummi hinzu, und ganze Schwaden von Rauch kamen auf sie zugeschwommen, die immer dichter wurden, bis außer der gußeisernen Uferbegrenzung und einigen wenigen Metern im Umkreis nichts mehr zu sehen war.
Bald schon kam es Maria so vor, als spazierte sie durch den schlauchartigen Saal einer Kunstgalerie: Die Segmente der Umgebung, wie sie von Zeit zu Zeit aus dem schwarzen Nebel tauchten, glichen in ihrer abgeschmackten Belanglosigkeit modernen Kunstobjekten. Schilder mit der Aufschrift »Wechselstube« kamen auf sie zu, mit Taschenmessern beschnitzte Sitzbänke, weggeworfene Dosen in großer Zahl – man sah, die junge Generation hielt sich doch größtenteils ans Bier.
Nun tauchten irgendwelche hektischen Menschen mit Maschinenpistolen auf und wieder unter. Sie taten, als bemerkten sie Maria gar nicht, und sie vergolt es ihnen ebenso. Gab es doch genügend andere, die an sie dachten. Wie viele mochten es sein – eine Million? Zehn, hundert Millionen? Maria kannte die genaue Zahl nicht, doch eines wußte sie: Hätten alle Herzen, in die sie sich durch die Gunst des Schicksals hatte stehlen können, plötzlich im Takt geschlagen, so hätte das einträchtige Wummern noch diese ohrenbetäubenden Detonationen von jenseits des Flusses übertönt.
Maria sah um sich, ihre strahlenden Augen wurden schmal: Sie wollte wissen, was los war.
Irgendwo in der Nähe – wo genau war des Qualms wegen nicht auszumachen – krachte es in Abständen, worauf jedesmal Hundegebell erscholl und ein vielstimmiger Jubel, wie im Fußballstadion nach einem erzielten Tor. Maria wußte nicht, was sie davon halten sollte – vielleicht wurde dort drüben ein Film gedreht, oder ein paar neue Russen waren dabei zu ermitteln, wer von ihnen der neueste war. Anstatt alles brüderlich zu teilen! dachte Maria seufzend. So aber müssen immer noch mehr dieser schönen jungen Männer auf den Asphalt hinschlagen, und das Blut strömt aus ihren durchschossenen Herzen.
Maria überlegte, wie man die unerträglich schwere Bürde des Lebens all denen erleichtern konnte, die sich wer weiß warum in den schwarzen, Sonne und Himmel verhüllenden Rauchwolken krümmten. Klare, leuchtende, gar nicht hochtrabende Bilder stiegen ihr zu Kopf: wie sie da steht im schlichten Kleid und eintritt in die bescheidene, zu diesem Anlaß von den Mietern hübsch herausgeputzte Wohnung. Da sind sie auch schon – sitzen am Tisch um den Samowar, schauen ihr verliebt in die Augen, und sie weiß, kein Wort ist nötig, es reicht, ihnen gegenüberzusitzen und sie zärtlich anzuschauen, die ratternde Kamera nach Möglichkeit nicht beachtend. Oder so: Ein Krankenzimmer, Menschen im Streckverband, in unbequemen Betten liegend, und ihr Bild hängt an der Wand, so daß es alle sehen können, und sie schauen sie an von ihren Betten und vergessen für ein Weilchen ihr Leid und ihre Schmerzen.
All dies war großartig, und doch spürte sie irgendwie, es reichte noch nicht – nein, in dieser Welt brauchte es Kraft, rohe, unbeugsame Kraft, eine, die notfalls in der Lage war, dem Bösen die Stirn zu bieten. Doch wo nahm man diese Kraft her? Und wie genau mußte sie beschaffen sein? Maria wußte auf diese Frage keine Antwort, sie fühlte nur, dies war es, warum sie hier und jetzt an dieser Uferpromenade, in dieser vom Leid gezeichneten Stadt fürbaß ging.
Ein Windstoß zertrieb für einen Moment den Rauch um sie her, ein Sonnenstrahl traf Maria. Sie schirmte ihre Augen, und plötzlich wußte sie, wo die Antwort zu finden sein würde – natürlich, sie lag in jenen zahllosen Herzen und Hirnen, die sie gerufen und an diesem rauchigen Ufer hatten leibhaftig werden lassen. Sie alle schienen zu einem einzigen Bewußtseinsozean zu verschmelzen, der aus Millionen Augen auf den Bildschirm schaute, und dieser ganze, große Ozean bot sich ihrem Blick offen dar. Maria ließ ihn darüberschweifen und sah zunächst nichts, was hätte helfen können. Aber halt! Sie steckte sehr wohl in diesem Ozean, die allmächtige Kraft, vielfach verkörpert und doch in der Mehrzahl der Fälle immerwiedergleich, so daß sich ein gültiges Bild zusammenfügte: ein junger Mann mit kleinem Schädel und kräftigen Schultern, der einen himbeerroten Zweireiher trug, breitbeinig dastand, vor einem Wagen von langer, niedriger Bauart. Dieses Auto war nur vage und verschwommen zu erkennen, da jene vielen, in deren Seelen Maria blicken konnte, sich hier die verschiedensten Marken vorstellten. Gleiches betraf die Gesichtszüge des jungen Mannes – sie waren nur sehr ungefähr auszumachen, die leicht gelockte, kastanienbraune Kurzhaarfrisur war das einzige, was ein wenig klarer hervortrat. Dafür war der Sakko von außerordentlicher Schärfe, man konnte, wenn man sich etwas Mühe gab, sogar die Aufschrift auf den goldenen Knöpfen lesen. Maria tat dies nicht. Es ging nicht darum, was auf den Knöpfen stand, es ging um die Frage, wie diese unbezwingliche Kraft mit ihrer zarten Liebe zu vereinen war.
Maria hielt inne und lehnte sich gegen einen der Granitpoller, die die einzelnen Abschnitte des gußeisernen Geländers voneinander trennten. Wieder mußte sie Antwort suchen in den Herzen und Hirnen derer, die ihr vertrauten, doch dieses Mal – Maria wußte es ganz genau – konnte sie keine Durchschnittsgedanken brauchen. Etwas anderes mußte her.
Es müßte doch wenigstens ein gescheites Weibsbild darunter sein! dachte sie.
Und dieses gescheite Weibsbild fand sich beinahe augenblicklich. Maria wußte nicht, wie sie hieß, wer sie war und wie sie aussah – was für Sekunden aufblitzte, waren große Bücherregale, ein mit Papieren überladener Schreibtisch, darauf die Schreibmaschine und an der Wand darüber das Foto eines Mannes mit gigantisch geschwungenem Schnurrbart und düsterem Blick – all dies so flackernd, verzerrt und schwarzweiß, als blickte Maria aus dem zigarettenschachtelgroßen Bildschirm eines uralten Fernsehers, der noch dazu nicht in der Mitte des Zimmers, sondern irgendwo in einer Ecke stand. Ohnehin waren die optischen Eindrücke viel zu flüchtig, als daß Maria über das Gesehene hätte nachdenken können, statt dessen kamen die Gedanken zu ihr.
Maria konnte mit dem Wirbelwind von Begriffen, der sich ihr nun darbot, kaum etwas anfangen, zumal er etwas Muffiges, Düsteres an sich hatte – wie die Wolke Staub, die sich erhebt, wenn ein alter Paravent aus der Abstellkammer kippt. Maria schloß daraus, daß es sich um ein stark verunreinigtes, nicht ganz normales Bewußtsein handelte, und sie war sehr erleichtert, als sie es hinter sich hatte. Was als magere Ausbeute in der rosa Blase ihrer Seele hängenblieb, waren einige nicht restlos verständliche Wörter: »die Schöne Dame« (da wußte man noch, wer gemeint war), »die Unbekannte« (dito), alsdann »DER BRÄUTIGAM« (aus unerfindlichen Gründen in Großbuchstaben), sowie »DER GAST« (dito), dahinter hing die rätselhafte Wortgruppe »Alchimistische Ehe« und noch dahinter etwas ganz Unerklärliches: »Ruhen nützt schwerlich. Ich klopfe ans Tor.« Mehr war nicht, danach blitzte nur noch einmal das Photo auf – jenes Mannes mit dem verzückten Blick und dem Riesenschnauzer, der aus der Nase zum Kinn hinunterzuwuchern schien.
Verstört blickte sie um sich. Nach wie vor gab es außer Rauch nicht viel zu sehen. Maria fiel ein, daß es irgendwo in der Nähe ein Tor geben konnte, an das zu klopfen war, und sie tat ein paar zögerliche Schritte in den schwarzen Rauch hinein. Doch als die Schwärze von allen Seiten zugleich über sie hereinbrach, eilte sie voller Angst zur Promenade zurück, wo es immerhin noch ein wenig heller war.
Ob ich nun anklopfe oder nicht, dachte sie, es macht ja doch keiner auf.
Das Brummen eines Automotors näherte sich von hinten. Maria drückte sich an die Uferbalustrade und sah dem, was aus dem Rauch auf sie zukam, mit Bangen entgegen. Einige Sekunden vergingen, bis ein langer, schwarzer, mit bunten Bändern geschmückter Wagen langsam an ihr vorüberschwamm. Ein Tschaika, wie sie erkannte, eine Hochzeitsequipage. Das Auto war vollbesetzt mit in sich gekehrten, schweigenden Menschen; einige Gewehrmündungen ragten aus den Seitenfenstern, und auf dem Dach leuchteten zwei gelbe Ringe, der eine größer, der andere kleiner.
Maria sah dem Tschaika nach und schlug sich dann mit der Hand gegen die Stirn. Aber ja, dachte sie. Genau. Keine Frage. Zwei verschlungene Ringe, DER BRÄUTIGAM, DER GAST, DER SPONSOR. Die Alchimistische Ehe. Was »alchimistisch« bedeutete, wußte sie zwar nicht, doch für den Notfall hatte sie einen guten Rechtsanwalt. Maria schüttelte lächelnd den Kopf. Wie hatte sie so lange das Einfachste übersehen können, die Hauptsache? Und worüber hatte sie sich bloß die ganze Zeit den Kopf zerbrochen?
Sie schaute in die Runde, um einigermaßen die Himmelsrichtungen abzuschätzen, und streckte die Hand gen Westen (daß DER BRÄUTIGAM von dort her zu erwarten war, schien irgendwie klar).
»Komm!« flüsterte sie inbrünstig und spürte im nächsten Augenblick, daß etwas Neues in die Welt getreten war.
Nun hieß es warten, bis die Zeit für das Treffen heran war. Sie stürmte vorwärts und spürte voller Freude, wie der Abstand zwischen ihr und DEM BRÄUTIGAM schmolz – er kam ihr entgegen, das wußte sie schon, und zwar auf eben dieser Promenade, nur hatte er es, im Gegensatz zu ihr, nicht eilig, das entsprach einfach nicht seinem Charakter.
Wie durch ein Wunder glückte der Sprung über ein offenes Gullyloch, das jäh vor ihr aufgetaucht war. Maria verlangsamte ihren Schritt und begann fieberhaft in den Taschen zu wühlen. Ihr war eingefallen, daß sie weder Spiegel noch Kosmetiktäschchen bei sich hatte. Für einen Moment packte sie die Verzweiflung – sie überlegte schon, ob nicht auf dem zurückliegenden Weg eine Pfütze gewesen war, in der sie ihr Spiegelbild hätte betrachten können. Doch zerstob die Verzweiflung so schnell, wie sie gekommen war – Maria wußte plötzlich wieder, daß es in ihrer Macht lag, vor DEM BRÄUTIGAM so zu erscheinen, wie sie wollte.
Ein Weilchen überlegte sie. Soll er mich als ganz junges Mädchen sehen, beschloß sie dann, mit zwei rotblonden Rattenschwänzchen, Sommersprossen im Gesicht und … und … Es brauchte noch ein rührendes Detail, ein naives I-Pünktchen. Ohrringe vielleicht? Ein Baseball-Cap? Es blieb nur noch ganz wenig Zeit, und Maria schaffte es im letzten Moment, sich mit grellrosa Kopfhörern zu schmücken, die die flammende Röte auf ihren Wangen aufzunehmen schienen. Dann hob sie den Blick und blickte nach vorn.
Dort, zwischen den zottigen Rauchfetzen, blitzte etwas Metallisches auf, um sofort wieder zu verschwinden. Als es das nächste Mal auf- und wieder untertauchte, war es schon etwas näher. Plötzlich fegte eine Windböe den Rauch beiseite, und Maria erblickte eine hohe, funkelnde Gestalt, die gemessenen Schrittes auf sie zukam. Zugleich bemerkte Maria – oder schien es ihr nur so –, daß die Erde bei jedem dieser Schritte ein wenig bebte. Der Metallmann war viel größer als sie, und sein furchtlos schönes Antlitz zeigte absolut keine Regungen. Maria bekam es mit der Angst, und sie wich zurück. Zwar wußte sie noch, irgendwo hinter ihrem Rücken gab es den deckellosen Gully, doch sie schaffte es nicht, den Blick von dem metallischen Rumpf loszureißen, der gegen sie vorrückte wie der Bug eines Eisbrechers gegen die Scholle.
Als sie ganz nahe daran war aufzuschreien, ging mit dem Metallmann eine verblüffende Transformation vor sich. Zuerst legten sich über seine blitzenden Schenkel die gestreiften Beine einer Unterhose für den Hausgebrauch, dann folgte weiter oben ein weißes T-Shirt, und schließlich nahm der übrige Körper den normalen Teint wohlgebräunter menschlicher Haut an, worauf er sich in kanariengelbe Hosen, ein Hemd nebst gestreifter Krawatte und jenen bezaubernd schönen himbeerfarbigen Zweireiher mit Goldknöpfen hüllte. Dies war der Moment, da Maria vollends beruhigt war. Allerdings blieb ihr wenig Zeit, sich an dem Anblick des himbeerroten Sakkos zu freuen – er verschwand unter einem langen grauen Trenchcoat. An den Füßen DES GASTES erschienen schwarze Slipper, im Gesicht eine schwarz-verspiegelte Sonnenbrille. Die Haare gerannen zu einem rötlichen Igel, und mit einem frohlockenden Hüpfen des Herzens erkannte Maria im BRÄUTIGAM Arnold Schwarzenegger – es hätte, das war ihr nun klar, kein anderer sein können.
Er stand vor ihr, mit quadratischen dunklen Gläsern blickte er sie an, wortlos; auf seinen Lippen spielte ein kaum wahrnehmbares Lächeln. Maria erblickte ihr Spiegelbild in seinen Brillengläsern und rückte die Kopfhörer zurecht.
»O Jungfrau Maria«, sagte Schwarzenegger leise.
Seine Stimme war ausdruckslos, dumpf, doch angenehm.
»Nein, mein Lieber«, sagte Maria geheimnisvoll lächelnd und zog die gefalteten Hände zur Brust. »Sagen Sie einfach Maria.«
»Einfach Maria«, wiederholte Schwarzenegger.
»Ja«, sagte Maria. »Und du bist der Arnold?«
»Sure«, sagte Schwarzenegger.
Maria öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als ihr auf einmal klar wurde, daß sie absolut nichts zu sagen hatte. Schwarzenegger sah sie immer noch an, schwieg und lächelte. Maria schlug die Augen nieder und errötete, worauf Schwarzenegger sie mit einer zärtlichen, doch unwiderstehlich kraftvollen Bewegung herumdrehte und mit sich fortführte. Maria hob den Blick und lächelte ihr berühmtes dümmlich-unerforschliches Lächeln. Schwarzenegger legte ihr die Hand auf die Schulter. Unter dem Gewicht sackte Maria ein wenig zusammen, und sogleich gab ihr Gedächtnis ein unerwartetes Bild frei: Lenin, wie er auf dem Subbotnik eine Bohle schleppt. Das Bild ließ auf Lenins Schulter nur ein kleines Stück von der Bohle erkennen, und Maria überlegte, ob es vielleicht in Wirklichkeit gar keine Bohle war, sondern die Hand eines überdimensionalen Wesens, das Lenin, hilflos lächelnd, nur aus den Augenwinkeln sehen konnte, sowie sie jetzt Schwarzenegger. Im nächsten Augenblick begriff sie, daß dies ein absolut unpassender Gedanke war, und schlug sich das Ganze aus dem Kopf.
Schwarzenegger drehte sich zu ihr um.
»Du hast Augen«, sagte er mit monotoner Stimme, »wie von Aiwasowski gemalt.«
Vor lauter Überraschung zuckte Maria zusammen. Mit derlei Worten hatte sie nicht gerechnet, und Schwarzenegger merkte das anscheinend sofort. Weiter geschah etwas Seltsames – oder vielleicht geschah es gar nicht, und Maria träumte es nur: Über die Innenseiten von Schwarzeneggers Brillengläsern begannen, kaum erkennbar, rote Leuchtbuchstaben zu laufen, wie man sie von Anzeigetafeln kannte; gleichzeitig begann es in seinem Kopf leise zu surren – es war das Geräusch, mit dem eine Computerfestplatte hochfährt. Maria prallte erschrocken zurück. Dann aber fiel ihr ein, daß Schwarzenegger gleich ihr ein virtuelles Wesen war, gepuzzelt von Tausenden russischer Oberstübchen, die in diesem Moment an ihn dachten – und was die Leute bei dieser Gelegenheit dachten, konnte sehr unterschiedlich sein.
Schwarzenegger hob die freie Hand und fuhrwerkte mit den Fingern in der Luft herum, er schien nach den passenden Worten zu suchen.
»Nein«, sagte er schließlich, »du hast keine Augen, sondern Perlen!«
Maria schmiegte sich an ihn und schielte vertrauensvoll zu ihm auf. Schwarzenegger zog das Kinn zum Hals, anscheinend, damit Maria ihm nicht hinter die Brillengläser sah.
»Hier ist viel Rauch«, sagte er, »warum gehen wir ausgerechnet auf dieser Promenade spazieren?«
»Weiß ich nicht«, sagte Maria.
Schwarzenegger bog ab und führte sie vom Balustradengitter weg mitten durch den Rauch. Nach ein paar Schritten bekam es Maria mit der Angst, denn der Rauch wurde so dicht, daß man nichts mehr sah, nicht einmal Schwarzenegger – sie konnte nur noch seine Hand und den Teil des Armes sehen, der um ihre Schulter gelegt war.
»Woher kommt dieser ganze Rauch?« fragte Maria. »Hier brennt doch nirgends etwas.«
»CNN«, antwortete Schwarzenegger.
»Wie, die verbrennen hier ihren Kram?«
»Nein, nein«, sagte Schwarzenegger. »Sie zeigen es nur.«
Ach so, Maria verstand: Alle, die jetzt an sie und Schwarzenegger dachten, schauten dabei vermutlich CNN, und die wiederum zeigten irgendwelchen Rauch. Das zog sich arg in die Länge.
»Keine Bange«, sagte der unsichtbare Schwarzenegger. »Es hört gleich auf.«
Der Rauch hörte ganz und gar nicht auf, so weit sie sich auch von der Promenade entfernten. Es hätte, wie ihr plötzlich einfiel, gut sein können, daß anstelle von Schwarzenegger schon minutenlang irgendein anderer neben ihr herlief – und wenn es der war, der Lenin auf jener Samstagsschaffe die Hand auf die Schulter … – ein Gedanke, der sie so entsetzte, daß sie mechanisch die Kopfhörer zurechtrückte und den Walkman einschaltete. Die Musik klang seltsam, wie zerhackt: Erst sang jemand schmachtend von der Liebe zwischen einer Gitarre und einer Trompete, dann fuhr ein elektronisches Geheul dazwischen, das sich nach einem Wolfsrudel anhörte. Doch fand Maria das immer noch besser, als den fernen Detonationen und dem nachfolgenden wüsten Stimmengewirr ausgesetzt zu sein.
Da kam auf einmal eine Gestalt aus dem Rauch geschossen, direkt auf Maria zu, und stieß sie heftig vor die Brust. Maria schrie auf und sah einen Mann in Tarnanzug mit Maschinenpistole vor sich stehen. Der Mann blickte sie an und wollte etwas sagen, als Schwarzenegger den Arm von Marias Schulter nahm, den Mann beim Kopf packte, ihn sanft zur Seite drehte und den erschlaffenden Körper außer Sichtweite beförderte. Schwarzeneggers Arm kehrte auf Marias Schulter zurück, und Maria schmiegte sich an seinen stahlharten Rumpf.
»Ach, ihr Männer immer«, gurrte sie leise.
Der Rauch schien sich allmählich zu lichten. Maria konnte wieder Schwarzeneggers Gesicht erkennen und bald schon seinen ganzen großen Körper, der – wie ein Denkmal vor der Enthüllung – unter der hellgrauen Plane des Trenchcoats verborgen war.
»Sag mal, Arnold«, fragte sie, »wohin gehen wir eigentlich?«
»Weißt du das denn nicht?« sagte Schwarzenegger.
Errötend blickte Maria zu Boden.
Wenn ich nur wüßte, was das ist, die alchimistische Ehe! dachte sie. Ob das weh tut? Ich meine, hinterher? Wäre ja nicht das erste Mal.
Sie blickte auf und sah die vielgerühmten Grübchen auf seinen Wangen: Schwarzenegger lächelte. Maria schloß die Augen, sie konnte ihr Glück nicht fassen, doch dann ging sie los – der Richtung folgend, wohin die Hand, die auf ihrer Schulter lag, sie lenkte.
Als Schwarzenegger stehenblieb, schlug sie die Augen auf und sah, daß von dem Rauch ringsum nicht mehr viel übrig war. Sie standen auf einer unbekannten Straße zwischen alten, mit Granitplatten verkleideten Häusern. Die Straße war leer; nur ganz weit hinten, dort, wo hinter einem Streifen Rauch die Uferpromenade zurückgeblieben war, hetzten gekrümmte kleine Männlein mit Maschinenpistolen sinnlos hin und her. Schwarzenegger trat merkwürdig von einem Bein auf das andere – es schien Maria, als plagten ihn irgendwelche Gewissensbisse, und erschrocken überlegte sie, ob diese womöglich mit ihr zu tun hatten.
Ich muß dringend etwas Romantisches von mir geben, dachte sie. Nur was? Ach, eigentlich egal.
»Weißt du, Arnold«, begann sie und schmiegte sich an seine Flanke, »mir ist auf einmal so … Ach, ich weiß nicht, vielleicht kommt dir das dumm vor. Ich darf doch aufrichtig sein?«
»Natürlich«, sagte Schwarzenegger und wandte ihr die schwarzen Brillengläser zu.
»Weißt du, wenn ich bei dir bin, bekomme ich schreckliche Lust zu fliegen! Mir ist, als wäre der Himmel ganz nah!«
Schwarzenegger legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben.
Zwischen den Rauchschwaden war tatsächlich ein tiefblauer Himmel zu sehen – daß er wer weiß wie nahe gewesen wäre, ließ sich nicht sagen, aber besonders weit weg schien er auch nicht zu sein.
Ach, dachte Maria, was rede ich da nur wieder zusammen.
Doch sie durfte jetzt nicht mehr lockerlassen.
»Und du, Arnold, wie ist es mit dir? Möchtest du fliegen?«
Schwarzenegger dachte einen Moment lang nach.
»Möchte ich.«
»Und, nimmst du mich mit? Ich bin …« Maria lächelte verschämt. »Ich bin doch so ein Erdhörnchen.«
Schwarzenegger dachte noch einen Moment lang nach.
»O. k.«, sagte er. »Ich nehme dich mit.«
Er sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, so als suchte er nach ihm allein bekannten Wegzeichen. Augenscheinlich fand er sie, denn nun packte er Maria entschlossen beim Arm und zog sie mit sich fort. Maria war verblüfft, wie schnell der Übergang von der poetischen Abstraktion zum praktischen Handeln erfolgte – doch was ein richtiger Mann war, der verfuhr eben so.
Schwarzenegger schleppte sie die lange Zeile eines zu Stalinzeiten gebauten Hauses entlang. Nach ein paar Schritten hatte Maria sich seiner schnellen Gangart angepaßt und trabte, in seinen Mantelärmel verkrallt, neben ihm her. Wäre sie langsamer gelaufen, hätte sich – das ahnte sie! – Schwarzeneggers galant gebotene Armstütze sofort in einen stählernen Greifer verwandelt und sie erbarmungslos über das Pflaster geschleift – und seltsam, dieser Gedanke machte sie unendlich glücklich, ein Glück, das tief drinnen in ihrem Bauch entsprang und sich in warmen Wellen über den ganzen Körper ausbreitete.
Als die Hausecke erreicht war, bog Schwarzenegger in eine Einfahrt, die Ähnlichkeit mit einem Triumphbogen hatte. Der Hof, auf dem sie kurz daraufstanden, schien zu einer ganz anderen Stadt zu gehören. Nichts störte die morgendliche Stille; nirgendwo ein Fetzchen Rauch, man mochte gar nicht glauben, daß unweit von hier irgendwelche besorgten Menschen mit ihren Maschinenpistolen zugange waren.
Schwarzenegger wußte sichtlich genau, wohin er Maria führte. Sie umrundeten den kleinen Kinderspielplatz, wo die Schaukeln standen, und tauchten in ein Labyrinth schmaler Gänge zwischen rostigen Garagencontainern. Während Maria mit süßem Schauder daran dachte, daß gleich hier irgendwo, schnell und ein bißchen peinlich, die alchimistische Ehe vollzogen werden würde, führte ein letzter Durchschlupf sie in ein leeres, von unterschiedlich hohen, verschiedenfarbigen Blechwänden umgrenztes Geviert.
Bei näherem Hinsehen erwies sich der Ort als doch nicht ganz leer. Er war, wie nicht anders zu erwarten, von Flaschen übersät, zwei alte Autoreifen lagen herum, dazu die verschlissene Tür eines Lada sowie eine große Menge rätselhafter mechanischer Kleinmüll, wie er sich stets in der Nähe von Garagen ansammelt.
Und es gab ein Flugzeug.
Es nahm fast den ganzen Raum ein, obwohl Maria es erst ganz zuletzt bemerkte – vermutlich deshalb, weil ihr Bewußtsein die entsprechenden, von den Augen empfangenen Signale einige Sekunden als offenkundige Halluzination ausgefiltert hatte. Maria wurde bange.
Wie kommt dieses Flugzeug hierher? dachte sie. Obwohl, andererseits: Wie kommt Schwarzenegger hierher? Hm.
Komisch ist es trotzdem.
»Was ist das?« fragte sie.
»Eine Harrier A-4«, sagte Schwarzenegger. »Senkrecht startender und landender Abfangjäger.«
Maria sah die vielgerühmten Grübchen auf seinen Wangen: Schwarzenegger lächelte. Sie runzelte unmerklich ihre buschigen Brauen, und die Furcht machte der Eifersucht Platz. Sie gönnte diesem Rieseninsekt aus Glas und Metall nicht den Platz in Schwarzeneggers Herzen – mehr Platz womöglich, als sie selbst darin einnahm.
Schwarzenegger näherte sich dem Flieger. Da Maria sich, in Gedanken versunken, nicht gleich vom Fleck rührte, wurde sie nach vorn gerissen – so als wäre Schwarzenegger der Traktor und sie das in aller Eile angekuppelte landwirtschaftliche Gerät.
»Aber da ist doch nur ein Platz drin«, sagte sie nach einem Blick durch die Glashaube auf die Rückenlehne des Pilotensitzes.
»Das macht nichts«, sagte Schwarzenegger, packte sie bei den Hüften und setzte sie mit einem lockeren Schwung auf die Tragfläche.
Maria zog die Füße an, stellte sie auf die Schräge aus Duralumin und richtete sich auf. Ihre Kleider flatterten im Wind. Romantische Rollen lagen ihr besonders, fiel ihr ein.
»Und du?« fragte sie.
Doch Schwarzenegger war schon in der Kanzel – man konnte sich nur wundern, wie flink und gewandt er hineingeklettert war. Bestimmt ein geschickter Schnitt oder eine Montage! dachte Maria. Schwarzenegger steckte den Kopf aus der Luke, lächelte und formte Daumen und Zeigefinger zu einem Ring. Könnte gut ein Verlobungsring sein! dachte Maria.
»Setz dich auf den Rumpf«, sagte Schwarzenegger, »da, wo die Tragflächen anstoßen. Hab keine Angst. Denk einfach, es wäre ein Karussell. Stell dir vor, du säßest auf dem Reitpferdchen.«
»Du willst doch nicht etwa …«
Schwarzenegger nickte.
Seine schwarzen Brillengläser blickten geradewegs in Marias Seele, und sie begriff: Jetzt gleich, im nächsten Augenblick, würde sich ihr Schicksal entscheiden. Es war eine Prüfüng, soviel stand fest. Die Frau, die das Zeug hatte, an Schwarzeneggers Seite zu sein, durfte sich nicht als furchtsames Trantütchen entpuppen, das man allenfalls für flaue Nullachtfünfzehnserien mit trivialsexuellem Aufhänger brauchen konnte. Sie mußte imstande sein, der tödlichen Gefahr ins Auge zu sehen, und sie durfte keine Gefühle zeigen, außer einem Lächeln vielleicht. Maria zog versuchsweise den Mund breit und spürte, daß das Lächeln etwas zu matt ausfiel.
»Eine großartige Idee«, sagte sie. »Werd ich mich auch nicht erkälten?«
»Wir sind gleich zurück«, sagte Schwarzenegger. »Nimm Platz.«
Maria zuckte die Achseln, tat einen vorsichtigen Schritt auf den Rumpf zu, der wie die Mittelgräte eines Fisches zwischen den Tragflächen hervorstand, und setzte sich behutsam darauf nieder.
»No«, sagte Schwarzenegger, »die Nymphe kannst du spielen, wenn wir zu meiner Ranch in Kalifornien fahren. Setz dich richtig drauf. Es bläst dich sonst runter.«
Maria zögerte.
»Dreh dich weg«, sagte sie.
Schwarzeneggers linker Mundwinkel lächelte. Schwarzenegger drehte sich um. Maria schwang ein Bein über den Duraluminrücken und setzte sich wie auf einen Sattel. Das Metall unter ihr war kalt und etwas feucht vom Tau; sie erhob sich noch einmal, um die Jackenschöße unter sich zu stopfen, und hatte plötzlich das Gefühl, als preßten ihre delikatesten Körperteile den kantigen Schenkel eines auf dem Rücken liegenden Metallmannes – es hätte das Dshershinski-Monument sein können, knocked down by the wind of change, oder irgendein Höllenroboter. Ein Schauer durchrieselte sie, doch die Halluzination war im Nu verflogen. Dafür kam es ihr jetzt so vor, als säße sie auf einer eben aus dem Kühlschrank gezogenen Bratpfanne. Was hier gespielt wurde, gefiel ihr immer weniger.
»Arnold«, rief sie, »müssen wir das unbedingt tun?«
Diese Worte hielt sie eigentlich für ganz andere Anlässe parat, doch nun kamen sie ihr wie von selbst über die Lippen. Schwarzenegger überlegte.
»Du wolltest doch mit nach oben«, sagte er dann. »Aber wenn du Angst hast …«
»Nein«, überwand sich Maria zu sagen, »Angst nicht die Spur. Ich mach dir nur soviel Umstände.«
»I wo«, sagte Schwarzenegger. »Es wird gleich sehr laut werden, setz dir am besten deine Kopfhörer auf. Was hörst du da eigentlich?«
»›Jihad Crimson‹«, sagte Maria und rückte die kleinen rosa Polster auf den Ohren zu recht.
Schwarzeneggers Gesicht versteinerte. Wäre nicht der Wind gewesen, der seine wasserstoffsuperoxydgebleichten Haare zauste, Maria hätte zu dem Schluß kommen müssen, daß irgendwer aus der Crew den echten Schwarzenegger durch einen Dummy ersetzt hatte.
»Was ist los?« fragte sie erschrocken.
Schwarzenegger blieb eine ganze Weile reglos. Merkwürdige rote Reflexe flimmerten auf seinen Brillengläsern – es mußte das Herbstlaub der hinter den Garagen aufragenden Ahornbäume sein, was sich darin spiegelte.
»Arnie«, rief sie.
Schwarzeneggers Mundwinkel zuckte einige Male, dann schien sein Bewegungsvermögen zurückzukehren. Er drehte den Kopf – es ging nur mit Mühe, so als wäre in das Kugellager, worauf er sich drehte, Sand geraten.
»Crimson Dschihad?« fragte er nach.
»›Jihad Crimson‹«, erwiderte Maria. »Nusrat Fateh Ali Khan und Robert Fripp. Wieso?«
»Nur so«, sagte Schwarzenegger. »Vergiß es.«
Sein Kopf verschwand in der Kanzel. Irgendwo drunten, am metallenen Unterbauch des Flugzeugs, begann ein elektrisches Brummen, das sich binnen weniger Sekunden zu gigantischem Getöse steigerte. Maria war es, als spürte sie, wie die Kunststoffpölsterchen sich ihr in die Ohren preßten. Dann wurde sie elegant herumgeschwungen, und die Garagen tauchten unter ihr hinweg.
Schaukelnd wie ein Boot, stieg die »Harrier« senkrecht in die Höhe – Maria hatte gar nicht gewußt, daß es solche Flugzeuge gibt. Wenn sie die Augen schloß, so dachte sie, müßte sie sich weniger fürchten. Doch gewann die Neugier schnell die Oberhand; noch bevor eine Minute vergangen war, schlug sie die Augen wieder auf.
Das erste, was sie sah, nachdem sie die Augen aufgeschlagen hatte, war ein Fenster, das direkt auf sie zukam – es war bereits so nah, daß Maria auf dem Bildschirm des im Zimmer laufenden Fernsehers deutlich den Panzer sah, der seine Kanone in ihre Richtung drehte. Der Panzer auf dem Bildschirm feuerte ab, und im gleichen Moment neigte sich das Flugzeug heftig und trudelte von der Wand weg. Maria, die beinahe auf die Tragfläche gerutscht wäre, kreischte vor Angst, doch das Flugzeug gewann schnell die Balance zurück.
»Halt dich an der Antenne fest!« rief Schwarzenegger, der sich winkend aus der Kanzel beugte.
Marias Augen suchten. Direkt vor ihr ragte ein längliches, metallisches Etwas mit einer runden Verdickung am Ende aus dem Flugzeugrumpf – unklar, wieso sie es nicht früher bemerkt hatte. Es glich einem schmalen, aufrecht stehenden Stummelflügel und weckte in Maria sogleich schamlose Assoziationen – wenngleich in den Abmessungen üppiger, als man es im wirklichen Leben antraf. Ein einziger Blick auf dieses mächtige Teil genügte, daß die Angst in ihr einem freudigen Hochgefühl wich – eines, das sie mit all den schlaffen Miguels, ungewaschenen Ljonjas und beschwipsten Iwans so sehr vermißt hatte.
Hier war alles ganz anders: Die runde Verdickung am Antennenende hatte viele kleine Löchlein, was entfernt an einen Duschkopf erinnerte, doch zugleich an nichtirdische Formen des Lebens und der Liebe denken ließ. Maria deutete mit dem Finger darauf und sah fragend zu Schwarzenegger hin. Der nickte, grinste breit, und in seinen Zähnen spiegelte sich die Sonne.
Was ihr hier widerfuhr, war, wie Maria einfiel, die Erfüllung eines Kindertraums. Es gab einen Film, in dem sie ausgiebig über Märchenbüchern saß, die Bilder darin betrachtete und sich ausmalte, wie sie auf dem Rücken eines Drachens oder eines Riesenvogels am Himmel flog – und jetzt geschah ihr ebendies wahrhaftig. Nun ja, vielleicht nicht ganz. Aber, so dachte sie, während sie die Hand an den stählernen Antennenknauf legte, Träume werden immer anders wahr, als man denkt.
Das Flugzeug legte sich ein wenig auf die Seite, und Maria schien es deutlich so, als hätte die Berührung der Antenne damit zu tun gehabt. Überhaupt bewegte sich das Flugzeug auf verblüffende, irgendwie menschliche Weise – und die Antenne schien der empfindlichste Teil an ihm zu sein. Maria führte die Hand den Stahlbolzen entlang und preßte den oberen Teil in ihrer Faust. Die »Harrier« schaukelte nervös mit den Flügeln und gewann noch einige Meter an Höhe. Wie ein ans Bett gefesselter Mann! dachte Maria. Einer, der sie nicht in die Arme schließen durfte, der nichts weiter tun konnte, als sich aufzubäumen. Der Eindruck verstärkte sich noch dadurch, daß sie direkt hinter den Tragflächen saß, die wie gespreizte Beine auf sie wirkten, unglaublich muskulös, doch bewegungsunfähig.
Das war witzig, doch zu spitzfindig für ihren Geschmack. Maria hätte anstelle des stählernen Riesenvogels lieber ein ganz gewöhnliches Klappbett bei den Garagen vorgefunden. Doch mit Schwarzenegger, überlegte sie, war es anders wohl nicht denkbar. Sie schaute zur Kanzel. Man sah nicht viel, in der Scheibe spiegelte sich das Sonnenlicht. Anscheinend saß er in seinem Sessel und drehte den Kopf im Einklang mit den Bewegungen seiner Hände – mal ein wenig nach rechts und mal ein wenig nach links.
Der Roboter neulich im Kino, dachte Maria und legte auch die andere Hand an die Antenne, dieser Metallmann, der seine Form ändern konnte, wie er wollte – was der wohl für einen hatte? Wahrscheinlich je nachdem?
Derweil stieg das Flugzeug immer noch höher. Die Dächer der Häuser lagen weit, weit unten, Moskaus prachtvolles Panorama bot sich Marias Augen dar.
Überall glänzten Kirchenkuppeln, die Stadt wirkte wie eine große, dicht an dicht mit sinnlosen Nieten besetzte Motorradjacke. Die Rauchfahne über Moskau war kleiner, als sie geglaubt hatte, während sie die Promenade entlangging. Nur hie und da wölkte Dunst über den Häusern, wobei nicht immer klar war, ob es dort brannte, ob Fabrikschlote Rauch spuckten oder bloß die Wolken so tief hingen.
Sah man von der Häßlichkeit jedes einzelnen Bestandteils ab, war der Anblick der Stadt außerordentlich schön, wobei der Ursprung von soviel Schönheit unbegreiflich war. So geht es einem mit Rußland! dachte Maria, während ihre Hände den kühlen Stahl entlangglitten. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Und schaut man sich näher an, was einen zum Jauchzen bringt, dann könnte einem auch davon speiübel werden.
Auf einmal ruckte das Flugzeug unter ihr, und sie spürte, daß der Bolzen in ihren Händen seltsam zu rütteln begann. Sie zog die Hände zurück, worauf der Metallknauf mit den Löchern von der Antenne absprang, auf den Rumpf hinab und gleich darauf in die Tiefe fiel; von der gewesenen Herrlichkeit blieb nichts als ein kurzes Rohr mit Gewinde am Ende, aus dem zwei verzwirbelte, abgerissene Drähte hervorschauten, einer rot, der andere blau.
Maria sah zur Kanzel. Hinter der Scheibe war Schwarzeneggers unbewegter weißblonder Nacken zu sehen. Zunächst meinte Maria, er hätte gar nichts mitbekommen. Dann kam ihr der Gedanke, er könnte in Ohnmacht gefallen sein. Als sie konsterniert in die Runde blickte und bemerkte, daß der Bug des Flugzeugs sachte und wie unschlüssig wegzukippen begann, wurde die Vermutung zur Gewißheit. Beinahe ohne zu überlegen, wälzte sie sich von ihrem Platz auf dem Rumpf auf die Plattform zwischen den Tragflächen hinunter (dabei riß ihr der Antennenstumpf ein Dreiangel in die Jacke) und kroch zur Kanzel.
Die Luke war offen. Maria stemmte sich ein wenig von der Tragfläche ab, auf der sie lag, und brüllte:
»Arnie! Arnie!«
Es kam keine Antwort. Zaghaft erhob sie sich auf alle viere und sah Schwarzeneggers Nacken nebst einer im Wind flatternden Strähne.
»Arnie!« rief sie noch einmal.
Schwarzenegger drehte den Kopf zu ihr herum.
»Na Gott sei Dank!« brach es aus Maria hervor.
Schwarzenegger nahm die Brille ab.
Sein linkes Auge war etwas zugekniffen und drückte ein sehr deutlich gegliedertes, wenngleich ungemein kompliziertes Spektrum an Gefühlen aus, worin, streng proportioniert und gut durchmischt, alles seinen Platz hatte: Lebenslust, Stärke, eine gesunde Kinderliebe, moralische Unterstützung für die amerikanische Automobilindustrie in ihrer schwierigen Konkurrenzlage gegenüber Japan, Anerkennung der Rechte sexueller Minderheiten, eine gelinde Ironie in bezug auf den Feminismus sowie die gelassene Zuversicht, daß Demokratie und jüdisch-christliches Wertebewußtsein letztendlich alles Übel dieser Welt in die Knie zwingen würden.
Sein rechtes Auge aber war von ganz anderer Art. Es überhaupt Auge zu nennen fiel schwer. Aus der aufgerissenen Höhle mit Spuren von geronnenem Blut blickte Maria eine glasige runde Linse an, wie man sie vom weißen Star kennt, umrahmt von einer raffinierten metallenen Fassung, zu der, knapp unter der Haut, dünne Drähte führten. Aus dem Zentrum dieser Linse stach ein greller, roter Lichtstrahl hervor – was Maria erst bemerkte, als er sie ins Auge traf.
Schwarzenegger lächelte. Dabei drückte die linke Gesichtshälfte das aus, was Arnold Schwarzeneggers Gesicht auszudrücken hatte, wenn es lächelte – etwas verstohlen Gewitztes, Jungenhaftes, eine Art, die einem sofort klarmachte: Dieser Mann war zu keiner Schlechtigkeit fähig, und wenn er doch einmal ein paar dieser Wichser ins Jenseits beförderte, dann erst, nachdem die Kamera etliche Male und aus verschiedenster Perspektive ihre grenzenlose Niedertracht festgehalten und bewiesen hatte. Doch das Lächeln betraf nur die linke Gesichtshälfte, die rechte blieb davon völlig unberührt – sie war kalt, konzentriert und greulich.
»Arnold«, sagte Maria verwirrt, während sie auf die Füße zu kommen suchte, »Arnold, was soll das? Hör auf damit!«
Doch Schwarzenegger antwortete nicht. Im nächsten Moment begann das Flugzeug sich wieder auf die Seite zu legen, so daß Maria die Tragfläche hinunterrutschte. Dabei schlug sie mit dem Gesicht mehrere Male gegen irgendwelche Ausbuchtungen, bis sie schließlich jeden Halt unter sich verlor. Ich falle! beschied sie sich und kniff die Augen zusammen, um nicht die Baumwipfel und Hausdächer auf sich zurasen zu sehen. Sekunden verstrichen, nichts passierte. Als Maria den Motor nach wie vor neben sich brummen hörte, öffnete sie die Augen einen Spalt.
Da sah sie, daß sie unter der Tragfläche hing – die Kapuze ihrer Jacke hatte sich an irgendeinem unten angeklemmten Pflock verfangen, den sie erst allmählich als Rakete identifizierte. Ihr knolliges Vorderteil war der Antenne, mit der sie Minuten zuvor das Vergnügen hatte, nicht unähnlich, und Maria mußte annehmen, daß Schwarzenegger seine Liebesspielchen mit ihr weitertrieb. Das fand sie ein bißchen arg – gewiß hatte sie schon etliche Blutergüsse im Gesicht, und von ihren zerschundenen Lippen tropfte das Blut.
»Arnold«, schrie sie und ruderte mit den Armen, um ihr Gesicht in Richtung Pilotenkanzel zu drehen, »hör jetzt auf! So macht es mir keinen Spaß! Hörst du? So bitte nicht!«
Endlich gelang es ihr, die Kanzel und Schwarzeneggers lächelndes Gesicht in den Blick zu bekommen.
»So macht es mir keinen Spaß, hörst du? Wenn dir das Spaß macht, mir tut es weh!«
»No?« fragte er zurück.
»Njet! Njet!«
»O. k.«, sagte Schwarzenegger. »You are fired.«
Im nächsten Moment sprang sein Gesicht zurück, und eine unvorstellbare Kraft trug Maria davon, das Flugzeug wurde in wenigen Sekunden zu einem winzigen Silbervogel, der nur noch über eine lange Rauchfahne mit ihr zusammenhing. Maria wandte sich nach vorn und sah die Spitze des Moskauer Fernsehturms Ostankino auf sich zukommen. Die Verdickung in seinem mittleren Teil wuchs ins Immense, und kurz vor dem Aufprall konnte Maria deutlich sehen, wie Leute in weißen Hemden mit Krawatten hinter einem Tisch saßen und verdutzt durch die dicken Scheiben starrten.
Glas klirrte, etwas Schweres fiel zu Boden, dann hörte man es heftig weinen.
»Vorsicht, Vorsicht«, sagte Professor Kanaschnikow. »Ja, so ist es gut.«
Als ich begriff, daß keine Fortsetzung folgen würde, öffnete ich die Augen. Ich konnte schon wieder einigermaßen sehen – die Dinge in meiner Nähe waren sogar deutlich erkennbar, nur was weiter weg war, schien verschwommen, und insgesamt kam es mir so vor, als befände ich mich in einer riesigen Christbaumkugel, an deren Innenseite die Außenwelt aufgekleckst war. Vor mir ragten zwei Türme auf: Professor Kanaschnikow und Oberst Smirnow.
»Tja«, kam eine Stimme aus der Ecke, »nun wissen wir, wie sich Arnold Schwarzenegger und Einfach-Maria kennengelernt haben.«
Oberst Smirnow räusperte sich. »Ich möchte«, sagte er zu Professor Kanaschnikow, »auf den deutlich ausgeprägten phallischen Charakter hinweisen, daß der Patient immerzu, ahm, Schwänze sieht. Ist Ihnen das aufgefallen? Die Antenne, die Rakete, der Fernsehturm.«
»Daß ihr Militärs immer so geradezu sein müßt«, entgegnete der Professor. »Das ist doch alles nicht so einfach. Rußland ist mit dem Verstand nicht zu begreifen, wie es so schön heißt, aber die sexuelle Neurose ist auch nicht der Punkt. Immer mit der Ruhe. Wichtig finde ich erst einmal, daß wir einen kathartischen Effekt zu verzeichnen haben, wenngleich in abgeschwächter Form.«
»Stimmt«, sagte der Oberst, »dabei ist sogar der Stuhl zu Bruch gegangen.«
»Genau«, sagte Kanaschnikow. »Will das blockierte pathologische Material an die Oberfläche des Bewußtseins treten, hat es einen starken Widerstand zu überwinden und erscheint daher recht häufig in Begleitung von Unfällen, Zusammenstößen und dergleichen – so wie eben. Das sicherste Anzeichen dafür, daß wir auf dem richtigen Weg sind.«
»Vielleicht ist auch nur die Quetschung schuld?« meinte der Oberst.
»Welche Quetschung?«
»Hab ich Ihnen nicht erzählt, was passiert ist? Als das Weiße Haus unter Beschuß lag, sind ein paar Granaten glatt durchgegangen, durch die Fenster, müssen Sie wissen. Und eine ist ausgerechnet in die Wohnung eingeschlagen, wo zu der Zeit …«
Der Oberst beugte sich zum Professor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nur einzelne Satzfetzen drangen zu mir herüber:
»Kann man verstehen … alles kurz und klein … erst bei den Leichen … wollten wir schon plombieren … gucken hin, da rührt sich was … ernstliche Erschütterung, natürlich.«
»Mein Lieber, und da sitzen Sie die ganze Zeit da und sagen nichts? Das ändert das Bild doch gewaltig«, sagte Kanaschnikow vorwurfsvoll. »Lassen mich hier machen und reden …«
Jetzt beugte er sich zu mir herüber, zog mir mit zwei dicken Fingern ein Lid nach oben und spähte in mein Auge.
»Und Sie?«
»Ich weiß nicht recht«, gab ich zur Antwort, »die spannendste Mär in meinem Leben war das nicht gerade. Aber, wie soll ich sagen. Ich finde es amüsant, mit welch traumhafter Leichtigkeit sich dieser Wahn für ein paar Minuten Zutritt zur Realität verschafft hat.«
»Allerhand, nicht wahr?« meinte der Professor, während er sich nach dem Oberst umdrehte.
Der nickte schweigend.
»Ich wollte eigentlich gar nicht Ihre Meinung hören, lieber Freund, sondern bloß wissen, wie es Ihnen geht«, sagte Kanaschnikow.
»Danke, mir geht es ganz gut«, erwiderte ich. »Ich bin bloß ein bißchen müde.«
Das war nicht gelogen.
»Dann schlafen Sie doch.«
Und er drehte mir den Rücken zu.
»Morgen früh«, sagte er zu der unsichtbaren Schwester, »setzen Sie Pjotr bitteschön vier Kubik Taurepam, direkt vor der Wasserbehandlung.«
»Kann man nicht das Radio anstellen?« fragte die leise Stimme aus der Ecke.
Der Professor drehte an einem Schalter an der Wand, nahm den Offizier beim Arm und ging mit ihm zur Tür. Ich schloß die Augen und wußte im selben Moment, daß ich sie so bald nicht mehr aufbekommen würde.
Unterdessen hatte eine traurige Männerstimme zu singen begonnen:
»Nur manchmal denk ich mir, daß die Soldaten,
die nimmer kehrten heim aus blut'ger Schlacht,
ein Grab in schwarzer Erde sich verbaten –
als weiße Kraniche flohn sie die Nacht.«
Kaum waren die letzten Worte aus dem Lautsprecher verklungen, als im Saal ein Handgemenge auszubrechen schien.
»Serdjuk festhalten!« brüllte eine Stimme direkt über meinem Ohr. »Kraniche! Wer hat das eingestellt? Habt ihr's vergessen oder was?«
»Du hast doch verlangt, daß sie das Radio anmachen«, entgegnete eine andere Stimme. »Wir schalten gleich um.«
Es klickte wieder.
»Sind endlich die Zeiten vorbei«, fragte eine einschmeichelnde Stimme von der Decke herab, »da die russische Popmusik als Synonym für Provinzialität herhalten mußte? Urteilen Sie selbst. ›Blinddarmentzündung‹ ist eine reine Frauenband, wie es sie in Rußland selten gibt. Ihr vollständiges Bühnenequipment wiegt soviel wie ein T-90-Panzer. Außerdem sind alle Bandmitglieder lesbisch. Von diesen ultramodernen Eigenschaften einmal abgesehen, spielt ›Blinddarmentzündung‹ im Grunde klassische Musik – wenn auch in durchaus eigener Interpretation. Hören Sie im folgenden, was die Mädels aus einer Melodie des österreichischen Komponisten Mozart gemacht haben, der vielen unserer Hörer aus dem Forman-Film bekannt sein dürfte wie übrigens auch von dem gleichnamigen österreichischen Likör, den unser Sponsor, die Firma ›Das dritte Auge‹, in Rußland vertreibt.«
Eine schauerliche Musik hob an, wie Sturmgeheul im Zuchthausschornstein. Glücklicherweise war ich schon im Versinken. Anfangs plagten mich noch schwermütige Gedanken in bezug auf das, was mir hier geschah; dann aber erfaßte mich ein kurzer Alptraum, in dem die Geschichte von dem Amerikaner mit der Sonnenbrille, die das arme Ding erzählt hatte, sozusagen weiterging.
Der Amerikaner brachte seinen Flieger auf dem Hof zur Landung, übergoß ihn mit Kerosin, das er Gott weiß woher nahm, und zündete ihn an. Ins Feuer flogen der himbeerrote Sakko, die dunkle Brille und die kanarienvogelgelben Hosen, so daß der Amerikaner zum Schluß in knapper Badehose dastand. Er ließ seine prächtig aufgebauten Muskeln spielen und suchte im Gebüsch längere Zeit nach etwas, das er nicht fand. Dann fehlte ein Stück in meinem Traum, und als ich den Amerikaner wiedersah, war er, ehrlich gesagt, schwanger. Die Begegnung mit Maria schien nicht ohne Folgen für ihn abgegangen zu sein. Doch hatte er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in eine furchteinflößende Metallfigur mit schematischen Gesichtszügen verwandelt, von deren geblähtem Bauch gnadenlos das Sonnenlicht blitzte.