»Achttausendzweihundert Werst Schall und Rauch
Aber ein Bett gibt's für uns nirgendwo
Mutter Erde trägt Steine im Bauch
Ohne dich, Vaterland, wäre ich froh …«
sang eine gefühlig bebende Männerstimme aus dem Radiolautsprecher. Wolodin stand auf und drückte eine Taste. Die Musik brach ab. Serdjuk hob den Kopf.
»Warum hast du ausgeschaltet?«
»Ich kann diesen Grebenschtschikow nicht mehr hören. Der Mann hat Talent, aber immer dieses verschwiemelte Zeug. Das ist der blanke Buddhismus. Der kann sich gar nicht geradlinig ausdrücken. Jetzt eben zum Beispiel, das mit dem Vaterland. Soll ich dir sagen, woher er das hat? Da gab's eine chinesische Sekte, Weißer Lotos, die hatten das als Mantra: Das absolute Nichts – das Vaterland – die Mutter Erde – das Ungeborene. Das chiffriert er so lange, bis man's nicht mehr erkennt. Einfach zum Verrücktwerden.«
Serdjuk zuckte die Schultern und arbeitete weiter. Während ich mein Plastilin weich knetete, sah ich zu, wie er mit flinken Fingern einen neuen Papierkranich faltete. Er tat es mit erstaunlichem Geschick, ohne hinzusehen. Der Fußboden des heilästhetischen Praktikums war mit Kranichen übersät; dabei hatten Sherbunow und Barbolin erst heute morgen einen ganzen Berg davon auf den Flur hinausgekehrt. Serdjuk schien es nicht zu kümmern, was mit seinen uniformen Kunstwerken passierte – wenn er mit Bleistift die laufende Nummer auf den Kranichflügel geschrieben hatte, schmiß er das Ding von sich und riß die nächste Seite aus dem Schulheft.
»Wieviel hast du noch?« fragte Wolodin.
»Bis zum Frühling dürfte ich es schaffen«, sagte Serdjuk und sah zu mir herüber. »Du, mir ist noch einer eingefallen.«
»Erzähle.«
»Also, Tschapajew und Petka sitzten da und saufen. Kommt ein Soldat rein und sagt: ›Die Weißen kommen!‹ Sagt Petka: ›Los, Tschapajew, wir verduften!‹ Tschapajew sitzt seelenruhig da, gießt noch mal ein und sagt: ›Komm, trink, Petka.‹ Sie trinken. Kommt der Soldat noch mal rein und sagt: ›Die Weißen kommen!‹ Tschapajew schenkt wieder ein: ›Komm, trink, Petka.‹ Kommt der Soldat wieder rein und sagt: ›Die Weißen sind schon draußen vorm Haus.‹ Fragt Tschapajew den Petka: ›Kannst du mich noch erkennen?‹ – ›Nö‹, sagt Petka. ›Ich dich auch nicht‹, sagt Tschapajew. ›Klasse Tarnung, was, Petka?‹«
Ich schnaufte verächtlich und nahm ein neues Stück Knete vom Tisch.
»Den kannte ich schon, aber das Ende ging anders«, sagte Wolodin. »Die Weißen stürmen ins Zimmer, gucken sich um und sagen: ›Scheiße, schon wieder getürmt!‹«
»Das kommt der Wahrheit schon näher«, bemerkte ich. »Obwohl es immer noch gesponnen ist. Von wegen, die Weißen! Ich frage mich, wie derartige Entstellungen möglich sind. Habt ihr noch mehr auf Lager?«
»Ja, einen hab ich noch«, sagte Serdjuk. »Also, Tschapajew und Petka schwimmen durch den Ural. Tschapajew hat einen kleinen Koffer zwischen den Zähnen …«
»Ogottogott«, stöhnte ich, »wer denkt sich bloß diesen Blödsinn aus.«
»Jedenfalls ist er knapp vorm Ertrinken und läßt den Koffer trotzdem nicht los. Petka schreit: ›Wassili Iwanowitsch, schmeiß den Koffer weg, du säufst sonst ab!‹ Darauf Tschapajew: ›Spinnst du, Petka, das geht nicht, da sind die Generalstabskarten drin!‹ Wie sie drüben ankommen, sagt Petka: ›Na, Wassili Iwanowitsch, jetzt zeig doch mal die Pläne!‹ Tschapajew macht den Koffer auf, Petka guckt rein, alles voll Kartoffeln. ›Wo sind denn die Generalstabskarten?‹ – ›Das sind sie doch‹, sagt Tschapajew und nimmt in jede Hand eine Kartoffel. ›Das da sind wir. Und das die Weißen.‹«
Wolodin lachte.
»Das stimmt nun wirklich hinten und vorne nicht«, sagte ich. »Erstens wären Sie ein großer Glückspilz, Serdjuk, wenn Sie auch nur einmal in zehntausend Leben die Gelegenheit bekämen, durch den Ural zu schwimmen. Zweitens ist es mir ein absolutes Rätsel, was immerzu diese Weißen sollen. Ich denke, da hatte Dsershinski mit seinen Konsorten die Hand im Spiel. Drittens handelte es sich um keine Generalstabskarten, sondern um eine rein metaphorische Konstellation des Bewußtseins. Und außerdem waren es keine Kartoffeln, sondern Zwiebeln.«
»Zwiebeln?«
»Jawohl, Zwiebeln. Wobei ich wünschte, es wären Kartoffeln gewesen – aber das sind Erwägungen rein privater Natur.«
Wolodin und Serdjuk wechselten einen vielsagenden Blick.
»Und dieser Mensch will entlassen werden«, sagte Wolodin. »Ach, da fällt mir auch noch einer ein. Tschapajew schreibt in sein Tagebuch: ›Sechster Juni. Gegen die Weißen vorgerückt.‹«
»Tschapajew hat nie Tagebuch geführt«, warf ich ein.
»›Siebter Juni. Von den Weißen zurückgeschlagen worden. Achter Juni. Der Förster ist gekommen und hat uns aus der Schonung gejagt.‹«
»Ach so«, sagte ich, »damit ist wohl Baron Jungern gemeint. Aber gekommen ist der im entscheidenden Moment leider nicht. Und Förster ist er auch nicht gewesen, obwohl er es als Kind werden wollte. Meine Herren, ich finde das alles sehr merkwürdig. Sie sind ganz gut unterrichtet, aber ich kann mir nicht helfen, da scheint einer, der weiß, wie die Dinge wirklich gelaufen sind, die Wahrheit auf groteskeste Weise verdrehen zu wollen. Mir ist nur nicht klar, was er damit bezweckt.«
Eine Weile waren alle still. Ich vertiefte mich in meine Arbeit und dachte an das bevorstehende Gespräch mit Professor Kanaschnikow. Sein Vorgehen in letzter Zeit erschien mir alles andere als logisch. Maria war entlassen worden – eine Woche nachdem er mir die Aristoteles-Büste auf den Kopf gehauen hatte. Wolodin hingegen (ein normalerer Mensch war mir im Leben noch nicht begegnet) hatte erst vor Tagen eine neue Tablettenkur verschrieben bekommen. Auf keinen Fall durfte ich den Fehler machen, mir vorher irgendwelche Antworten zurechtzulegen, denn es konnte sein, daß er keine der erwarteten Fragen stellen und ich mit meinen vorschnell präsentierten Antworten Unausgegorenes preisgeben würde – überflüssigerweise. Kurz: Man konnte eigentlich nur auf das Glück und den Zufall hoffen.
»Gut«, nahm Wolodin das Gespräch wieder auf, »dann nennen Sie doch mal ein Beispiel, bei dem die Wahrheit verdreht worden ist. Und erzählen Sie, wie es wirklich war.«
»Was genau würde Sie denn interessieren?« fragte ich. »Welche der von Ihnen genannten Episoden, meine ich?«
»Mir egal. Oder nehmen wir getrost etwas anderes. Ich wüßte zum Beispiel einen, da ließe sich beim besten Willen nichts verdrehen. Tschapajew kriegt von Kotowski aus Paris roten Kaviar und Kognak geschickt. Tschapajew schreibt ihm zurück: ›Lieber Kotowski, vielen Dank für das Paket, den Fusel haben wir niedergemacht, obwohl er nach Fliegenleim schmeckte, aber die Marmelade mußten wir wegschmeißen, die stank zu sehr nach Fisch.‹«
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
»Nie im Leben hat Kotowski ein Paket aus Paris geschickt. Aber ganz aus der Luft gegriffen ist die Geschichte nicht. Einmal im Restaurant haben wir tatsächlich Kognak getrunken und roten Kaviar gegessen – ich weiß, das klingt blöd, aber es gab keinen schwarzen. Unsere Unterhaltung drehte sich um das christliche Paradigma, weswegen wir auch die entsprechende Terminologie im Munde führten. Tschapajew kommentierte eine Stelle bei Swedenborg, wo er beschreibt, wie ein Strahl des Himmelslichts auf den Höllengrund fällt und den dort vegetierenden Seelen wie eine übelriechende Pfütze erscheint. Ich deutete es so, daß das Licht selbst sich dergestalt verwandelt haben konnte; Tschapajew hingegen war der Meinung, daß sich die Natur des Lichts nicht verändern könne und alles hänge vom Subjekt der Wahrnehmung ab. Er sagte sinngemäß, keine Macht sei imstande, eine sündige Seele ins Paradies zu befördern, insofern ihr selbst nicht daran gelegen sei. Das wollte mir nicht einleuchten, und da meinte Tschapajew, der Kaviar, den ich gerade aß, würde Furmanows Webern gewiß auch nur wie eine nach Fisch stinkende Marmelade vorkommen.«
»Aha«, sagte Wolodin und war auf einmal merkwürdig blaß.
Ich hatte eine Idee.
»Woher, sagten Sie noch mal, soll der Kognak geschickt worden sein?«
Wolodin gab keine Anwort.
»Was macht das für einen Unterschied?« fragte Serdjuk.
»Keinen großen, nur komme ich anscheinend langsam dahinter, wer diesen ganzen Quatsch in die Welt gesetzt haben könnte. Das wäre zwar höchst seltsam und sähe ihm überhaupt nicht ähnlich, aber jede andere Erklärung wäre noch viel absurder.«
»Ah, ich weiß auch noch einen«, sagte Serdjuk. »Also da kommt Tschapajew zu Anna, und die sitzt nackig in ihrem Zimmer …«
»Könnte es sein, mein Verehrtester, daß Sie im Begriff sind, den Bogen zu überspannen?« unterbrach ich ihn.
»Das hab doch nicht ich mir ausgedacht«, entgegnete Serdjuk dreist, während er den nächsten Kranich in die Ecke schmiß. »Also, er fragt sie: ›Anna, warum bist du denn nackig?‹ Darauf sie: ›Ich hab nichts anzuziehend Da macht er den Schrank auf und sagt: ›Wieso nichts anzuziehen? Hier hängt doch alles voll. Kleid Nummer eins, Kleid Nummer zwei, guten Morgen, Petka, Kleid Nummer drei, Kleid Nummer vier …‹«
»Im Prinzip müßte man Ihnen paar aufs Maul geben für so eine Story«, sagte ich. »Dummerweise werd ich davon ganz melancholisch. In Wirklichkeit war nämlich alles ganz anders. Anna hatte Geburtstag, und wir sind rausgefahren zum Picknick. Kotowski war schnell besoffen und ist eingeschlafen, und Tschapajew hat Anna einen Vortrag darüber gehalten, daß die Persönlichkeit für den Menschen wie eine Anzahl Kleider sei, von denen man eins nach dem anderen aus dem Schrank holt und anzieht, und je weiter der Mensch von der Realität entfernt sei, desto mehr Kleider habe er im Schrank hängen. Das war sein Geburtstagsgeschenk für Anna – nicht die Kleider, sondern der Vortrag. Anna wollte das zuerst überhaupt nicht einsehen. Sie meinte, das wäre im Prinzip alles schön und gut, beträfe sie aber nicht, sie bliebe immer sie selber und trüge nie irgendwelche Masken. Aber zu allem, was sie einwandte, hatte Tschapajew immer nur den einen Kommentar: ›Kleid Nummer eins.‹ – ›Kleid Nummer zwei.‹ – und so weiter. Verstehen Sie? Darauf stellte Anna die Frage, wer denn diese Kleider letztlich am Leibe habe, und Tschapajew meinte, derjenige existiere nicht. Und da ging Anna ein Licht auf. Sie schwieg verdutzt ein paar Sekunden und nickte dann, sah ihn an, worauf Tschapajew lächelte und sagte: ›Guten Morgen, Anna!‹ Das ist eine meiner kostbarsten Erinnerungen. Aber wozu erzähle ich Ihnen das.«
Jener überraschende Gedanke von vorhin ließ mich immer noch grübeln. Ich sah Kotowskis seltsames Lächeln beim Abschied vor mir. Nein, es war unbegreiflich. Wie konnte er? Daß ihm etwas von dieser Bewußtseinskarte zu Ohren gekommen sein mochte, war vielleicht noch denkbar – aber die Sache mit der Tarnung? Da war er doch längst abgereist. Mir fiel ein, was Tschapajew auf meine Frage nach Kotowskis Verbleib geantwortet hatte.
Plötzlich war mir alles sonnenklar. Nur eins hat Kotowski, dieser Schuft, nicht bedacht, sagte ich mir, während die Wut in mir hochschoß. Daß ich nämlich zu gleichem in der Lage bin. Und falls dieser zugedröhnte Pferdefuzzi aus dem Klub der geheimen Freiheit mir tatsächlich die Irrenanstalt eingebrockt hat, dann …
»Jetzt bin ich mal dran mit Witzeerzählen«, sagte ich.
Die in mir tobenden Gefühle schienen sich auf meinem Gesicht widerzuspiegeln, denn die beiden Männer sahen mich entsetzt an; Wolodin rückte sogar mit seinem Stuhl ein Stück von mir ab.
»Nur nicht zu sehr aufregen, ja?« sagte Serdjuk.
»Wollt ihr ihn hören oder nicht? Also, wie war das doch gleich? Richtig. Kotowski ist einmal einer Horde Papuas in die Hände gefallen. Und da sagen die zu ihm: ›Dich fressen wir auf, und aus deinem kahlen Skalp basteln wir uns eine schöne Trommel. Sag uns deinen letzten Wunsch.‹ Kotowski überlegt und sagt: ›Gebt mir eine Nadel.‹ Er kriegt die Nadel und sticht sich damit in den Kopf. ›Ha!‹ brüllt er. ›Hat sich was von wegen Trommel!‹«
Mitten in mein grimmiges Lachen hinein ging die Tür auf. Sherbunows bärtiges Gesicht schaute herein, sein Blick irrte argwöhnisch im Zimmer umher und blieb an mir hängen. Ich hüstelte und rückte meinen Kragen zurecht.
»Zum Professor.«
»Ich komme«, sagte ich, stand auf und legte meine Plastilinkugel vorsichtig auf den mit Serdjuks Kranichen überhäuften Tisch.
Professor Kanaschnikow war bester Laune.
»Na, Pjotr! Ich denke, Sie wissen, warum ich das, was Ihnen zur letzten Sitzung passiert ist, als die totale Katharsis bezeichnet habe?«
Ich antwortete mit einer ausweichenden Geste.
»Schauen Sie«, fuhr er fort, »ich hatte Ihnen ja bereits erläutert, daß irregeleitete psychische Energie zu Manien und Phobien jeder erdenklichen Form gerinnen kann. Meine Methode besteht darin, eine solche Manie oder Phobie nach der ihr innewohnenden Logik zu betrachten. Sie halten sich zum Beispiel für Napoleon.«
»Das hab ich nie behauptet.«
»Nein, nur mal angenommen. Anstatt zu versuchen, Ihnen den Irrtum zu beweisen, anstatt Ihnen einen Insulinschock zu verpassen, sage ich: Aha. Sie sind also Napoleon. Was haben Sie denn so als nächstes vor? Wollen Sie in Ägypten landen? Die Kontinentalsperre verhängen? Oder doch lieber auf den Thron verzichten und friedlich nach Korsika in Ihr Nestchen zurückkehren? Und je nachdem, was Sie darauf antworten, richtet sich alles Weitere. Schauen Sie sich zum Beispiel Serdjuk an, Ihren Zimmergenossen. Diese Japaner, die ihn angeblich überredet haben, sich den Bauch aufzuschlitzen – das ist der vitalste Bereich seiner psychischen Welt. Denen passiert nichts, auch wenn Serdjuk seinen symbolischen Tod stirbt – im Gegenteil, in seiner Vorstellung haben sie ihn überlebt. In hellen Momenten fällt ihm nichts Besseres ein, als diese Papierschwalben zu falten. Ich wette, daß das deren Idee war, die haben sie ihm bei irgendeiner seiner Halluzinationen ans Herz gelegt. Kurz, die Krankheit hat so große Bereiche der Psyche angegriffen, daß ich mich manchmal schon frage, ob nicht ein operativer Eingriff das beste wäre.«
»Was meinen Sie damit?«
»Das spielt hier keine Rolle. Serdjuk sollte bloß zum Vergleich dienen. Wenn man sich dagegen anschaut, wie es Ihnen ergangen ist! Ich finde, hier hat meine Methode einen sehr schönen Sieg errungen. Diese ganze krankhaft verstiegene Welt, die Ihr umnachtetes Bewußtsein errichtet hatte, ist entschwunden, hat sich in nichts aufgelöst, und das ohne jeden ärztlichen Kunstgriff, gewissermaßen den eigenen Gesetzen folgend. Ihre Psychose hat sich selbst erschöpft. Die irregeleitete psychische Energie ist zurückintegriert worden. Wenn meine Theorie stimmt – und davon möchte ich ausgehen –, dann sind Sie jetzt völlig geheilt.«
»Die Theorie stimmt, davon bin ich überzeugt«, sagte ich.
»Auch wenn ich sie nicht bis ins letzte nachvollziehen kann.«
»Das müssen Sie gar nicht«, sagte Professor Kanaschnikow. »Sie sind sich selbst zum heutigen Tag der beste Beweis. Und ich muß mich bei Ihnen bedanken, Pjotr. Dafür, daß Sie mich an Ihren Halluzinationen in dieser Ausführlichkeit teilhaben ließen – dazu sind längst nicht alle Patienten in der Lage. Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich Fragmente Ihrer Aufzeichnungen in meiner Monographie verwende?«
»Das wird mir eine große Ehre sein.«
Professor Kanaschnikow tätschelte mir zärtlich die Schulter.
»Na, na, wer wird denn gleich so offiziell werden. Lassen Sie sich ruhig etwas mehr gehen in meiner Gegenwart. Ich bin Ihr guter Freund.«
Er nahm einen kleinen Stapel Papier vom Tisch, der von einer Büroklammer zusammengehalten wurde.
»Bliebe nur noch der Fragebogen. Ich möchte Sie bitten, beim Ausfüllen gründlich zu sein.«
»Was für ein Fragebogen?«
»Reine Formsache«, sagte der Professor. »Im Gesundheitsministerium sitzen eine Menge Beamte herum und denken sich immerzu etwas Neues aus. Hier handelt es sich um den sogenannten Test zum Nachweis der sozialen Adäquanz. Er beinhaltet die verschiedensten Fragen mit je einer Auswahl möglicher Antworten dazu. Eine davon ist zutreffend, die anderen sind absurd. Jeder normale Mensch weiß sofort Bescheid.«
Er blätterte den Fragebogen durch. Es mußten an die zwanzig, dreißig Seiten sein.
»Eine bürokratische Angelegenheit, zweifellos, wir kriegen eben auch unsere Rundschreiben. Der Bogen ist Vorschrift für jeden Entlassungsfall. Und da ich keinen Grund sehe, Sie noch länger hierzubehalten – da ist ein Stift. Frisch ans Werk!«
Ich nahm ihm die Zettel ab und setzte mich an den Tisch. Der Professor wandte sich diskret seinem Bücherschrank zu und zog irgendeinen Folianten hervor.
Der Fragebogen umfaßte mehrere Teile: »Kultur«, »Geschichte«, »Politik« und noch einige andere. Ich schlug aufs Geratewohl den Abschnitt »Kultur« auf und las:
32. In welchem Film vertreibt der Hauptheld am Ende die Bösen, indem er ein großes Kreuz über dem Kopf schwenkt?
a) Alexander Newski
b) Jesus von Nazareth
c) Ludwig II.
33. Welcher der aufgeführten Namen symbolisiert das Gute und Allmächtige?
a) Arnold Schwarzenegger
b) Sylvester Stallone
c) Jean-Claude van Damme
Bemüht, meine Ratlosigkeit zu verbergen, überblätterte ich etliche Seiten und wechselte in den Abschnitt zur »Geschichte«:
74. Auf welches Objekt schoß der Kreuzer »Aurora«?
a) auf den Reichstag
b) auf den Panzerkreuzer »Potjomkin«
c) auf das Weiße Haus
d) Die vom Weißen Haus haben angefangen
Unversehens hatte ich jene schrecklich finstere Oktobernacht vor Augen, als die »Aurora« in der Newamündung auftauchte. Mit hochgeschlagenem Kragen stand ich auf der Brücke, zog nervös an meiner Zigarette und sah die schwarze Silhouette des Kreuzers langsam näher kommen: Kein einziges Licht an Deck war zu sehen, nur an den Enden der dünnen Stahlmasten ein schwacher, flimmernder Schein. Zwei späte Passantinnen – eine bildschöne Gymnasiastin in Begleitung ihrer Gouvernante, letztere vom Umfang her einer Litfaßsäule ähnelnd – blieben neben mir stehen.
»Look at it, Missis Brown!« juchzte das Mädchen und wies mit dem Finger auf das düstere Schiff. »This is Saint Elmo's fires!«
»You are mistaken, Katya«, erwiderte die Gouvernante mit gedämpfter Stimme. »There is nothing saintly about this ship.« Sie warf einen schrägen Blick zu mir herüber. »Let's go«, sagte sie dann. »Standing here could be dangerous.«
Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu verscheuchen, und blätterte noch ein paar Seiten weiter:
102. Wer ist der Schöpfer des Universums?
a) Gott
b) Das Komitee der Soldatenmütter
c) Ich
d) Kotowski
Ich legte die Blätter akkurat aufeinander und sah aus dem Fenster. Dort war der verschneite Wipfel einer Pappel zu sehen, mit einer Krähe darin. Wenn sie das Standbein wechselte, rieselte von dem Zweig, auf dem sie hockte, der Schnee. Jetzt heulte unten ein Motor auf und verscheuchte den Vogel. Mit schwerem Flügelschlag schwang er sich in die Luft und flog weg – ich blickte ihm nach, bis er zu einem schwarzen Punkt zusammengeschrumpft war, so winzig, daß er sich nur mehr ahnen ließ. Langsam wandte ich den Kopf und begegnete dem gespannten Blick des Professors.
»Sagen Sie, wozu soll dieser Fragebogen eigentlich gut sein?« fragte ich. »Was hat er für einen Zweck?«
»Kann ich selbst nicht genau sagen«, erwiderte der Professor. »Obwohl ein gewisser Sinn natürlich erkennbar ist. Manche Patienten sind so gewitzt, daß sie auch den erfahrenen Arzt um den Finger zu wickeln vermögen. Sagen wir, der Fragebogen ist auf den Fall hin ausgelegt, daß Napoleon zur Abwechslung mal zugibt, geisteskrank zu sein, nur um die Klinik verlassen und seine ›Hundert Tage‹ angehen zu können.«
In den Augen des Professors blitzte etwas auf, das man als Schreck hätte deuten können; er senkte sogleich die Lider.
»Obwohl«, sagte er und kam rasch auf mich zu, »eigentlich haben Sie recht. Ich merke gerade, daß ich Sie immer noch wie einen Kranken behandle. Anscheinend traue ich mir selber nicht ganz. Das ist furchtbar dumm, eine Berufskrankheit.«
Er nahm mir den Fragebogen aus der Hand, riß ihn mittendurch und warf ihn in den Papierkorb.
»Sie können packen«, sagte er und drehte sich zum Fenster. »Die Entlassungspapiere sind schon fertig. Sherbunow bringt Sie zur Bahnstation. Für den Notfall haben Sie ja meine Nummer.«
Die dunkelblauen Baumwollhosen und der schwarze Pullover, die Sherbunow mir aushändigte, rochen nach Staub und Kleiderkammer; am meisten mißfiel mir, daß die Hosen zerknittert und mit irgend etwas bespritzt waren. Wie Sherbunow behauptete, gab es im Wirtschaftstrakt der Klinik kein einziges Bügeleisen.
»Wir sind hier keine Wäscherei«, sagte er giftig, »und kein Kulturministerium.«
Ich zog die hohen Schnürschuhe mit der Riffelsohle an, setzte die runde Pelzmütze auf. Der graue Lodenmantel wäre vielleicht sogar elegant gewesen, hätte ihn nicht ein Brandloch am Rücken verunziert.
»Wird dir einer von deinen Saufkumpanen die Kippe aufgedrückt haben«, stellte Sherbunow Vermutungen an, während er eine giftgrüne Kapuzenjacke überzog.
Derlei freche Kommentare hatte man auf Station nie von ihm zu hören bekommen. Doch sie kratzten mich wenig, klangen mir im Gegenteil wie Engelstrompeten in den Ohren, denn sie signalisierten die Freiheit. Im Grunde waren sie auch nicht frech gemeint, es war einfach Sherbunows Art, mit den Leuten zu reden. Umgangsregeln, wie ein dienstlicher Ethos sie einforderte, mußten an mir nicht mehr befolgt werden – ich war für Sherbunow kein Patient mehr und er für mich kein Pfleger. Alles, was uns zuvor verbunden hatte, war mitsamt dem weißen Kittel an einem krummen Nagel in der Wand hängengeblieben.
»Und mein Koffer?« fragte ich.
Er machte große Augen, so als wüßte er nicht, wovon ich redete.
»Von einem Koffer weiß ich nichts«, sagte er. »Mußt du den Professor fragen. Hier ist dein Portemonnaie, zwanzigtausend waren drin, sieh nach.«
»Schon gut«, sagte ich. »Auf die Wahrheit braucht man hier sowieso nicht zu hoffen.«
»Wär ja auch noch schöner.«
Zu streiten hatte keinen Zweck. Es war dumm gewesen, überhaupt davon anzufangen. Ich tröstete mich damit, daß es mir gelang, heimlich einen Füllfederhalter aus seiner Jackentasche zu ziehen.
Die Türen zur Freiheit öffneten sich so sang- und klanglos, daß ich fast enttäuscht war. Vor mir lag der leere, zugeschneite Hof, von einer Betonmauer umgeben, und genau gegenüber das große, grüne, merkwürdigerweise mit roten Sternen verzierte Metalltor. Daneben die Pförtnerloge, aus deren Schornstein schwacher Rauch aufstieg. All dies hatte ich oft genug durch das Fenster gesehen. Ich ging die Stufen hinunter und warf einen Blick zurück auf das gesichtslose weiße Klinikgebäude.
»Sagen Sie, Sherbunow, welches Fenster gehört zu unserem Zimmer?«
»Dritter Stock, das zweite von außen. Da, siehst du, sie winken dir.«
Tatsächlich sah ich in dem Fenster die Umrisse zweier Männer, einer preßte die erhobene Hand gegen die Scheibe. Ich winkte zurück. Sherbunow riß mich ziemlich grob am Ärmel.
»Komm. Du verpaßt den Zug.«
Ich drehte mich um und ging mit ihm zum Tor.
In der Bude des Pförtners war es eng und stickig. Der Diensthabende – er trug eine grüne Schirmmütze mit Kokarde, darauf zwei gekreuzte Gewehre – saß hinter einem Schalter; davor gab es die aus einem grüngestrichenen Eisenrohr bestehende Andeutung eines Schlagbaums. Lange studierte der Mann die Papiere, die Sherbunow ihm hingeschoben hatte; sein Blick ging einige Male zwischen mir und meinem Paßfoto hin und her, er wechselte mit Sherbunow ein paar leise Sätze, dann tat sich der Schlagbaum auf.
»Hast du diesen Wichtigtuer gesehen«, sagte Sherbunow, als wir die Pförtnerloge verließen. »Früher hat der mal beim Abschirmdienst gearbeitet.«
»Aha«, sagte ich, »interessanter Fall. Den hat Professor Kanaschnikow wohl auch geheilt?«
Sherbunow warf mir einen schrägen Blick zu, sagte aber nichts.
Vom Kliniktor weg schlängelte sich ein schmaler, verschneiter Trampelpfad zunächst durch eine Art Birkenhain und dann zehn Minuten lang übers freie Feld, bis wir wieder in ein Waldstück eintauchten. Von ein paar dicken, zwischen Stahlmasten hängenden Stromkabeln abgesehen, gab es nirgends Anzeichen von Zivilisation; die einförmigen Masten wirkten wie überdimensionale Gerippe von Rotarmisten mit Budjonnymützen. Plötzlich war der Wald zu Ende, und wir standen vor einem Bahnsteig, zu dem eine Holzstiege hinaufführte.
Oben stand einsam und allein ein kleines Ziegelhüttchen mit träge vor sich hin qualmendem Schornstein, das der Loge des Klinikpförtners extrem ähnlich sah. Daß es die vorherrschende Architekturform in dieser für mich fremden Welt war, durfte ich mangels Überblick nur vermuten. Sherbunow trat zum Fensterchen und kaufte mir eine Fahrkarte.
»Siehst du«, sagte er, »da kommt der Zug schon. Eine Viertelstunde bis zum Jaroslawler Bahnhof.«
»Wunderbar«, sagte ich.
»Und, geht's gleich ran an die Buletten?«
Die Frage berührte mich etwas unangenehm. Aus vieler Erfahrung im Umgang mit der gemeinen Truppe wußte ich zwar, daß der ungezwungene Austausch von Intimitäten in den unteren Klassen der Gesellschaft die gleiche Funktion erfüllte wie ein Gespräch übers Wetter in den höheren. Dennoch schien mir Sherbunow mit seiner Frage allzu unverfroren die Nase in meine Privatangelegenheiten stecken zu wollen.
»Frischfleisch hat mir nie besonders gefehlt, wenn Sie das meinen, Sherbunow.«
»Wieso nicht?«
»Alle Weiber sind Schlampen.«
»Das ist wohl wahr«, sagte er und seufzte. »Aber so im allgemeinen – was hast du vor? Bißchen Geld verdienen muß ja wohl auch sein?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Ich könnte wieder Gedichte schreiben. Oder eine Schwadron übernehmen. Man wird sehen.«
Der Zug fuhr ein, zischend öffneten sich die Türen.
»Na dann«, sagte Sherbunow und hielt mir seine schraubzwingenförmige Hand hin. »Okie-dokie.«
»Leben Sie wohl«, sagte ich. »Und richten Sie bitte meinen Zimmergenossen die besten Wünsche aus!«
Als ich seine Pranke drückte, sah ich am Handgelenk eine Tätowierung, die mir früher nie aufgefallen war: einen fahlblauen Anker, oberhalb dessen die Buchstaben BALTFLOT gerade noch zu entziffern waren – blaß und unscharf, als hätte man sie auszumerzen versucht.
Ich betrat den Waggon und setzte mich auf eine der harten Holzbänke. Der Zug fuhr an; Sherbunows bullige Gestalt zog vor dem Abteilfenster vorbei und entschwand für immer. Erst als der Wagen das Ende des Bahnsteigs erreicht hatte, sah ich das an zwei Pfähle geschraubte Schild mit der Aufschrift LOSOWAJA.
Der Twerskoi-Boulevard war beinahe genau so, wie ich ihn zum letztenmal gesehen hatte. Wieder Februar, Schneewehen und eine seltsam ins Tageslicht sickernde Finsternis. Auf den Bänken hockten reglose Weiblein, die knallbunt angezogene, in langwierige Schneewehengrabenkämpfe verwickelte Kinder hüteten; oben über dem schwarzen Geflecht der Drähte hing der Himmel fast bis auf die Erde durch.
Einen Unterschied gab es allerdings, der mir auffiel, als ich am Ende des Boulevards angelangt war: Der Bronzepuschkin war weg. Wobei ich fand, daß die an seiner Stelle gähnende Leere das beste aller möglichen Denkmäler war. Auch der Platz, wo früher das Strastnoi-Kloster gestanden hatte, war leer – ein paar mickrige Bäume und einige geschmacklose Laternen konnten es schlecht verbergen.
Ich setzte mich auf eine Bank, dem unsichtbaren Denkmal gegenüber, und rauchte eine Zigarette mit kleinem gelben Mundstück, die mir ein Offizier in Operettenuniform, der in der Nähe saß, liebenswürdigerweise angeboten hatte. Die Zigarette brannte so schnell herunter wie eine Bickford-Zündschnur und hinterließ einen leichten Salpetergeschmack.
In meiner Tasche fanden sich einige zerknitterte Geldscheine – sie unterschieden sich wenig von jenen denkwürdigen regenbogenfarbigen Hundertrubelnoten aus der Zarenzeit, waren nur um einiges kleiner. Daß das Geld allenfalls für eine Mahlzeit in einem einfachen Restaurant reichen mochte, hatte ich noch auf dem Bahnhof festgestellt. Lange saß ich auf der Bank und überlegte, wie es weitergehen sollte. Es dämmerte bereits, und auf den Dächern der Häuser (von denen ich viele im Umkreis kannte) flammten riesige Leuchtschriften auf, irgendein verrücktes Kauderwelsch: SAMSUNG, OCA-CO A, OLBI. In dieser Stadt wußte ich entschieden keinen Ort, an dem ich hätte Zuflucht suchen können; ich fühlte mich wie ein Perser, der irrigerweise von Marathon nach Athen gerannt war.
»Fi-ni-to. Juchhei!« entfuhr es mir leise, während ich auf die am Himmel brennenden Buchstaben starrte; ich dachte an den Marmeladow aus der »Spieldose«, der eine Frau gewesen war, und mußte lachen.
Und plötzlich war mir klar, was ich zu tun hatte.
Ich erhob mich von der Bank, überquerte die Straße, blieb auf der Bordsteinkante stehen und hob die Hand, um eines der vorüberfahrenden Autos anzuhalten. Beinahe umgehend bremste vor mir ein vibrierendes, tropfenförmiges Gefährt, das mit Schneematsch bis oben hin besudelt war. Ein bärtiger Herr saß am Steuer, der mich an den Grafen Tolstoi erinnerte – nur mit kürzerem Bart.
»Wo soll's hingehen?« fragte der Herr.
»Zur ›Spieldose‹. Das ist so ein Varieté«, begann ich zu erklären, »mir fällt die genaue Adresse nicht ein, wissen Sie. Muß ganz in der Nähe sein, den Boulevard hinunter und dann links. Nicht weit von Nikitskie Worota.«
»Uliza Gerzena, oder was?«
Ich hob die Schultern.
»Von so einem Varieté hab ich noch nie was gehört«, sagte der bärtige Herr. »Hat wohl erst vor kurzem aufgemacht?«
»I wo. Das gibt's schon lange.«
»Zehntausend«, sagte der Herr. »Vorkasse.«
Ich öffnete die vordere Tür und setzte mich neben den Chauffeur. Das Auto fuhr los. Ich schielte aus den Augenwinkeln nach dem Mann neben mir. Er trug ein sonderbares Jackett, dem Schnitt nach an einen Uniformrock erinnernd, wie ihn die bolschewistischen Führer mit Vorliebe getragen hatten, hier allerdings mit eher liberalem Karomuster.
»Sie haben ein schönes Auto«, sagte ich.
Meine Worte schienen ihm zu schmeicheln.
»Ist schon alt«, antwortete er. »Nach dem Krieg, da hättest du ein besseres Auto als den ›Pobeda‹ nirgends auf der Welt finden können.«
»Nach dem Krieg?« fragte ich zurück.
»Na ja, nicht die ganze Zeit nach dem Krieg natürlich, aber die ersten fünf Jahre schon. Inzwischen ist alles den Bach runtergegangen. Deswegen sind die Kommunisten ja jetzt wieder am Ruder.«
»Bloß keine Politik«, sagte ich, »da habe ich keinen blassen Schimmer und schmeiße alles durcheinander.«
Er sah kurz zu mir herüber.
»Das ist es ja, junger Mann, weswegen alles am Boden liegt, weil euereins keinen blassen Schimmer hat. Was heißt Politik anderes als die Frage, wie das Leben aussehen soll? Hätte jeder sich beizeiten Gedanken gemacht, wie Rußland zum Besseren zu bekehren wäre, müßte es jetzt nicht erst bekehrt werden. Das ist, mit Verlaub, die Dialektik.«
»Und woran wollen Sie die aufhängen, Ihre Dialektik?« fragte ich.
»Wie bitte?«
»Ach, nichts«, sagte ich. »Lassen Sie mal.«
Noch am oberen Ende des Boulevards kamen wir zum Stehen. Vor uns staute sich der Verkehr – Alarmsirenen waren zu hören, rote und orangefarbene Signalleuchten blinkten. Der Mann neben mir schwieg; ich fürchtete, daß er meine Worte in den falschen Hals bekommen hatte, und beschloß, die Scharte auszuwetzen.
»Wissen Sie, wenn man aus der Geschichte überhaupt eine Lehre ziehen kann, dann die, daß am Ende immer alle, die Rußland bekehren wollten, selber bekehrt worden sind. Und eben nicht zum Allerbesten, möchte ich behaupten.«
»Richtig. Und damit sich das nicht wiederholt, will diesmal gut überlegt sein, wie wir vorgehen müssen.«
»Ich für meine Person muß da nicht lange überlegen. Ich weiß genau, wie vorzugehen ist.«
»Ach so? Wie denn?«
»Ganz einfach. Sowie einem Rußland ins Bewußtsein tritt, als Bild und als Begriff, muß man es in seiner eigenen Natur aufgehen lassen. In dem Moment, da Rußland als Bild und als Begriff über keine eigene Natur mehr verfügt, darf man es als vollständig bekehrt betrachten.«
Der Mann sah mir forschend ins Gesicht.
»Alles klar«, sagte er. »Das täte den amerikanischen Zionisten so passen. Dafür haben sie ja eurer ganzen Generation die Hirne verkleistert.«
Das Auto fuhr wieder an und bog in die Nikitskaja ein.
»Mir ist nicht ganz klar, was Sie meinen«, sagte ich, »aber man müßte dann eben auch diese amerikanischen Zionisten bekehren.«
»Das möchte ich sehen! Wie denn?«
»Auf dieselbe Art. Ganz Amerika wird so bekehrt. Man muß überhaupt nicht erst klein-klein anfangen. Wenn bekehrt wird, dann am besten gleich die ganze Welt.«
»Warum tun Sie's dann nicht?«
»Ich hab es mir für heute vorgenommen«, verkündete ich.
Der Bart des Mannes wippte verächtlich.
»Es ist natürlich müßig zu glauben, man könnte mit euch ein vernünftiges Wort wechseln, aber immerhin solltest du wissen, daß ich diesen Blödsinn nicht zum erstenmal höre. So zu tun, als glaubte man nicht an die Realität – das ist die billigste Art und Weise, sich dieser Realität zu entziehen. Die armseligste, wenn du's genau wissen willst. Diese Welt kann einem noch so absurd vorkommen, grausam und sinnlos bis dorthinaus, aber sie ist da, ob du willst oder nicht. Sie existiert mit all ihren Problemen.«
Ich sagte nichts.
»Und deshalb zeugt alles Palavern darüber, daß die Welt eigentlich nicht existiert, nicht von edlem Geist, sondern eher vom Gegenteil. Wer an die Schöpfung nicht glaubt, beleidigt den Schöpfer.«
»Was meinen Sie mit edlem Geist?« fragte ich. »Und was den Schöpfer des Universums angeht – mit dem bin ich flüchtig bekannt.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Jaja. Er heißt Grigori Kotowski und wohnt in Paris, und wenn ich so aus Ihrem schönen Wagenfenster gucke, muß ich annehmen, daß er immer noch kokainsüchtig ist.«
»Ist das alles, was Sie von ihm wissen?«
»Na ja … Er dürfte ein großes Pflaster am Kopf haben.«
»Aha. Darf man fragen, aus welcher psychiatrischen Anstalt Sie kommen?«
Ich dachte nach.
»Ich glaube, aus Nummer 17. Doch, da hing ein blaues Schild an der Tür mit der Zahl 17 drauf. ›Objekt der vorbildlichen Sauberkeit und Hygiene‹ stand darunter.«
Der Wagen bremste.
Ich schaute nach draußen. Wir standen vor dem Konservatorium. Die »Spieldose« konnte nicht weit sein.
»Wissen Sie was«, sagte ich, »wir fragen am besten jemanden.«
»Ich fahre Sie nicht weiter«, sagte der Mann. »Steigen Sie aus, und scheren Sie sich zum Teufel.«
Ich zuckte die Schultern, öffnete die Tür und stieg aus. Das tropfenförmige Automobil rollte in Richtung Kreml davon. Daß mein Versuch, offen und ehrlich zu sein, auf so wenig Gegenliebe gestoßen war, kränkte mich. Im übrigen hatte ich, als wir an der Ecke des Konservatoriums vorfuhren, den bärtigen Herrn mitsamt seinen Teufeln längst vollständig bekehrt.
Ich versuchte mich zu orientieren. Eine der Straßen kam mir entschieden bekannt vor. Ich lief vielleicht fünfzig Meter hinein, bis mir eine Seitenstraße nach rechts auffiel – und gleich darauf erblickte ich die Einfahrt, vor der Grigori von Ernens Wagen in jener denkwürdigen Winternacht geparkt hatte. Sie sah exakt so aus wie damals, nur der Anstrich der Fassade schien sich geändert zu haben. Und vor der Einfahrt standen diesmal etliche Wagen verschiedenster Formen und Farben.
Im Nu hatte ich den unglaublich deprimierenden Hinterhof durchquert und stand vor der gewissen Tür – über ihr nun ein futuristisch anmutendes Vordach aus Glas und Stahl. An ihm hing ein kleines Schild:
ИВАН БЬIК
John Вull Рubis International
Mehrere Fenster neben der Tür waren erleuchtet, die rosaroten Vorhänge dahinter halb heruntergelassen. Der schwermütige und doch etwas mechanisch wirkende Klang eines fremdartigen Instruments drang heraus.
Ich zog die Tür auf. Dahinter lag ein kurzer Gang, der voller schwerer Pelze und Mäntel hing; an seinem Ende eine überraschend massive Stahltür. Ein Mann mit Verbrechergesicht erhob sich von seinem Schemel und eilte auf mich zu; er trug ein kanariengelbes Jackett mit goldenen Knöpfen und in der Hand eine seltsame Art Telefonhörer mit gekappter Leitung, das Schnurende nicht länger als ein Zoll. Ich hätte schwören können, daß er eben noch in diesen Hörer hineingesprochen hatte – vor Aufregung wippte er mit dem Fuß und hielt den Hörer verkehrt herum, das Schnurende nach oben. Diese kindliche Fähigkeit, zu spielen und dabei die Welt um sich her zu vergessen, die man bei einem Grobian wie ihm schwerlich vermutet hätte, war rührend und weckte in mir etwas wie Sympathie.
»Eintritt nur für Klubmitglieder«, sagte er.
»Hören Sie, ich bin erst vor kurzem mit zwei Bekannten hiergewesen, erinnern Sie sich nicht? Von denen haben Sie eins mit dem Gewehrkolben in den Bauch gekriegt.«
Auf dem bösen Gesicht des kanariengelben Mannes malten sich Abscheu und Überdruß.
»Sie erinnern sich?« hakte ich nach.
»Allerdings«, sagte er. »Wir haben übrigens schon bezahlt.«
»Um Geld geht's nicht«, erläuterte ich. »Ich möchte gern ein halbes Stündchen bei Ihnen reinschauen. Nicht länger, glauben Sie mir.«
Mit gequältem Lächeln öffnete der Kanarienvogel die Stahltür, hinter der eine weinrote Samtportiere zum Vorschein kam; er schlug sie zurück, und ich trat in den schummrigen Saal.
Auch hier hatte sich wenig verändert. Die Lokalität machte immer noch den Eindruck eines durchschnittlichen Mittelklasserestaurants, das einen gewissen Schick für sich in Anspruch nahm. An den kleinen, quadratischen Tischen saß in dichten Rauchschwaden ein recht buntes Publikum. Irgendwer schien Haschisch zu rauchen. Anstelle des Kronleuchters hing von der Decke ein großes, rundes, seltsames Etwas, das sich langsam drehte und eine Vielzahl blasser, kleiner Lichtreflexe, wie man sie aus Vollmondnächten kennt, durch den Saal wandern ließ. Auf mich achtete niemand; ich nahm an einem leeren Tischchen unweit des Eingangs Platz.
Vorn im Saal gab es eine hellerleuchtete Bühne. Dort oben stand ein Mann mittleren Alters hinter einem kleinen Orgelmanual und sang. Ein schwarzer Rauschebart wucherte ihm im breiten, knochigen Gesicht, und seine Stimme klang gräßlich:
Du sollst nicht töten? Laß ich die halt leben
Du sollst nicht lügen? Sag ich die Wahrheit eben
Du sollst nicht geizen? Mein letztes Hemd
geb ich mit Freuden her
Du sollst nicht stehlen? – Macht der's mir aber schwer!
Das war der Refrain. Offensichtlich handelte das Lied von den christlichen Geboten, jedoch unter recht merkwürdigem Blickwinkel. Der Gesangsstil, den ich ebenso merkwürdig fand, schien den Anwesenden im Saal vertraut zu sein – jedesmal, wenn der Sänger an die rätselhafte Stelle »Macht der's mir aber schwer!« kam, brach unten im Saal tosender Beifall los, und der Sänger verbeugte sich dezent, während seine Riesenfinger weiter über die Tasten glitten.
Mich beschlich ein tristes Gefühl. Ich hatte immer viel auf meine Fähigkeit gehalten, den neuesten Kunstströmungen etwas abgewinnen zu können und hinter der zugespitzten, schockierenden äußeren Form das Ewige und Konstante zu erkennen; hier aber war die Kluft zwischen dem, was ich kannte, und dem, was ich sah, unerhört groß. Freilich mochte es dafür eine simple Erklärung geben: Es hieß, daß Kotowski vor seiner Bekanntschaft mit Tschapajew eine fast kriminell zu nennende Vergangenheit gehabt hatte. Von daher war es nicht verwunderlich, wenn ich die Chiffren dieser obskuren Kultur nicht zu deuten wußte; sie hatten mich ja auch in der Irrenanstalt schon einmal in die Sackgasse geführt.
Die Portiere am Eingang bewegte sich, der Mann im Kanariensakko schob sich herein, immer noch mit dem Telefonhörer in der Hand. Er schnipste mit den Fingern und deutete auf meinen Tisch. Wie aus dem Boden gewachsen stand ein Kellner im schwarzen Frack und mit Fliege vor mir und hielt mir eine in Leder gebundene Speisekarte hin.
»Was darf s sein?« fragte er.
»Ich möchte nichts essen«, erwiderte ich, »aber einen kleinen Wodka hätte ich gern. Für die innere Wärme.«
»Smirnoff? Stolitschnaja? Absolut?«
»Absolut«, entschied ich. »Und dazu hätte ich gern … wie soll ich sagen … etwas Enthemmendes.«
Zweifelnd sah der Kellner mich an, drehte sich dann nach dem gelbbefrackten Türsteher um und tat eine abgefeimte Handbewegung. Der Gelbfrack nickte kurz, worauf sich der Kellner zu mir herunterbeugte und in mein Ohr wisperte:
»Psilozybin? Barbiturate? Ecstasy?«
Ein, zwei Sekunden suchte ich diese fremdartigen Kürzel gegeneinander abzuwägen.
»Ach, wissen Sie, wenn Sie mir die Ekstase im Absoluten auflösen könnten … Das wär genau das richtige.«
Noch einmal wandte sich der Kellner nach dem Gelbfrack um, hob kaum merklich die Schultern und drehte den Zeigefinger an der Schläfe. Der Türsteher verzog wütend das Gesicht und nickte erneut.
Ein Aschenbecher erschien auf meinem Tisch, dazu eine Vase mit Papierservietten. Letzteres kam mir sehr gelegen. Ich zog den Füller aus der Tasche, den ich Sherbunow stibitzt hatte, nahm eine der Servietten und wollte zu schreiben beginnen, als ich bemerkte, daß da, wo die Feder am Ende des Schreibgerätes hätte sitzen müssen, ein kleines Loch klaffte; das Ganze sah nach einem gestutzten Miniaturpistolenlauf aus. Ich schraubte den Füller auf, eine kleine Patrone mit einer schwarzen Bleikugel ohne Ummantelung fiel auf den Tisch – wie die, die man vor der Revolution mit den »Montechristo«-Kindergewehren zu kaufen bekam. Diese schlaue Erfindung kam mir nun noch gelegener – ohne den Browning in der Hosentasche hatte ich mich schon wie ein Scharlatan gefühlt. Ich setzte die Patrone sorgfältig wieder ein, schraubte den Füller zusammen und bat den blassen Bediensteten im gelben Frack, mir ein Schreibgerät zu bringen.
Der Kellner kam mit dem Tablett, auf dem ein Glas stand.
»Ihr Getränk.«
Ich kippte den Wodka hinter, bekam vom Gelbfrack einen Füllfederhalter zugesteckt und machte mich ans Werk. Zunächst wollten die Worte nicht recht fließen; nach einer Weile jedoch begannen mich die klagenden Orgeltöne zu becircen, stachelten mich an, und binnen zehn Minuten war der passende Text fertig.
Der bärtige Sänger war unterdessen von der Bühne verschwunden. Ich hatte den Moment seines Abgangs verpaßt, weil die Musik nicht aufgehört hatte. Sonderbar: Ein ganzes unsichtbares Orchester spielte, zehn Instrumente oder mehr, ohne daß irgendwelche Musiker zu sehen waren. Um ein Radio, an dessen Existenz ich mich in der Anstalt gewöhnt hatte, konnte es sich ebensowenig handeln wie um eine Grammophonaufzeichnung – der Klang war sehr rein und keinesfalls technisch reproduziert. Meine Konfusion legte sich erst, als mir der Gedanke kam, daß es wohl das vom Kellner gereichte Elixier war, das zu wirken anfing.
Ich lauschte der Musik und bekam auf einmal deutlich ein paar englische Textzeilen mit; eine heisere Stimme intonierte sie irgendwo dicht neben meinem Ohr:
… You had to stand beneath my window
with your bugle and your drum
while I was waiting for the miracle –
for the miracle to come …
Ich erschrak.
Es war das Zeichen, auf das ich gewartet hatte. Die Worte »miracle« und »drum« (was sich unmißverständlich auf Kotowski bezog) sowie »bugle« (was man nicht weiter kommentieren mußte) ließen keinen Zweifel zu. Es hatte keinen Sinn, noch länger in diesem verräucherten Saal zu hocken. Ich erhob mich und wankte durch das pulsierende Aquarium des Zuschauerraums gemächlich in Richtung Bühne.
Die Musik brach ab, was gut für mich war. Ich erklomm die Bühne, stützte mich auf das Orgelbrett, das prompt mit einer unangenehm jaulenden Note antwortete, und schaute hinunter in den erwartungsvoll verstummten Saal. Das Publikum schien sehr gemischt, doch waren, wie es in der Geschichte der Menschheit alleweil zu sein pflegt, schweinsgesichtige Spekulanten und teuer ausstaffierte Huren in der Überzahl. Die Gesichter, die ich erkennen konnte, verschmolzen zu einem einzigen, das liebedienernd und nichtsdestoweniger frech zu mir heraufsah, eine erstarrte Grimasse unterwürfiger Selbstzufriedenheit – es war, ganz ohne allen Zweifel, das Gesicht der alten Wucherin, von anderem Fleisch und Blut zwar, doch lebendig wie ehedem. Vor der Portiere am Eingang hatten ein paar Jungen in Matrosenanzügen und mit frostroten Gesichtern Posten bezogen; sie schienen mir eher kostümiert als echte Matrosen zu sein. Der kanariengelbe Bedienstete bewegte die Lippen und nickte in meine Richtung.
Ich nahm den Ellbogen vom jaulenden Manual, hielt mir die beschriebene Serviette vor die Nase, hüstelte und las, wie ich es von früher gewohnt war, ohne jede Betonung, nur mit kurzen Pausen zwischen den Quartetten:
Nimmerwiederkehr
Unstet, Formen annehmend, beständig im Abdrehen,
Am Gitter sägend das siebenhundertste Jahr,
Entweicht aus der Psychiatrie Nummer siebzehn
Ein Verrückter, der heißt noch dazu Pustota.
Zu entkommen ist gar nicht die Zeit, das weiß er –
Selbst wenn einer sagen könnte, wohin.
Und das Ärgste ist: Diesen Hosenscheißer
Pustota gibt es auch nicht, ihn zu suchen war sinn-
Los. Also: Was bleibt? Allenfalls noch die Säge.
Ihr Vorhandensein ist bestreitbar, kurzum:
Man wünscht sich, ein lila Rosenkranz läge
In Pustotas Hand, und er stellte sich dumm
Oder schlau, je nachdem. Sich festzulegen
war der größte Fauxpas
In einer Welt, die nicht da ist. Also sagt er
(statt ja oder nein): »Na ja.«
Mit diesen Worten hob ich Sherbunows Füllfederhalter und schoß auf den neumodischen Kronleuchter, jene große Weihnachtskugel. Sie barst in tausend Stücke. Unter der Decke gab es eine grelle elektrische Stichflamme, dann wurde es stockfinster. Im nächsten Augenblick blitzte auch von der Tür her, wo der Gelbfrack mit den rotbäckigen Jungen gestanden hatte, Gewehrfeuer. Ich ließ mich auf alle viere fallen und kroch langsam an der Bühnenrampe entlang. Die Schüsse dröhnten schmerzhaft in den Ohren – auch am entgegengesetzten Ende des Saales wurde jetzt geschossen, es blitzte aus mehreren Läufen gleichzeitig, funkenschlagend prallten Querschläger von der Stahltür ab, ein lustiges Silvesterfeuerwerk. Ich fand, daß es klüger war, vom Bühnenrand weg nach hinten in die Kulissen zu kriechen, und vollzog eine Wendung um neunzig Grad.
Von der Stahltür her hörte ich es stöhnen, es klang wie das Winseln eines todwunden Wolfs. Eine verirrte Kugel riß die Orgel vom Gestell, sie knallte dicht neben mir auf dem Bühnenboden auf. Schön, dachte ich, diesmal habe ich den Kronleuchter getroffen. Mein Gott! Zeit meines Lebens hatte ich nichts anderes getan, als aus einem Füllfederhalter auf die Spiegelkugel einer falschen Welt zu ballern. Welch tiefgreifende Symbolik! – und wie traurig, daß keiner der im Saal Sitzenden zu würdigen wußte, was hier geschah. Und nicht einmal das konnte man wissen.
Hinter den Kulissen war es ebenso finster wie im Saal – wahrscheinlich war der Strom auf der ganzen Etage ausgefallen. Bei meinem Erscheinen stürzte jemand über den Korridor davon, stolperte und fiel, stand nicht wieder auf, schien sich im Dunkeln zu verbergen. Ich erhob mich, streckte die Hände nach vorn und irrte den finsteren Korridor entlang. Offenbar hatte ich mir den Weg zum Hinterausgang gut gemerkt. Die Tür war verschlossen. Ich machte mich eine Weile am Schloß zu schaffen, bekam es auf und trat ins Freie.
Ein paar tiefe Atemzüge in eiskalter Luft brachten mich zur Besinnung; dennoch mußte ich mich an der Hauswand abstützen, so sehr hatte mich der Weg über diesen Korridor er schöpft.
Vielleicht fünf Meter schneebedeckter Asphalt trennten mich von der Tür, als diese noch einmal aufflog – zwei Männer kamen herausgesprungen und rannten zu einem langen, schwarzen Automobil, dessen Kofferklappe sie öffneten. Mit furchtbar ausschauenden Waffen in den Händen stürzten sie, ohne den Kofferraum zu schließen, wieder hinein, so als sei es ihre größte Sorge, ja nichts von dem zu verpassen, was sich dort drinnen abspielte. Mich würdigten sie keines Blickes.
Immer neue Einschußlöcher platzten in die schwarzen Fensterscheiben des Restaurants; man bekam den Eindruck, als wären mehrere Maschinengewehre im Saal zugange. Zu meiner Zeit waren die Menschen gewiß auch nicht besser, dachte ich, aber die Sitten waren entschieden weniger rauh.
Es war Zeit zu gehen.
Ich wankte über den Hof hinaus auf die Straße.
Tschapajews Panzerwagen stand genau dort, wo ich ihn vermutet hatte, und die Schneehaube auf seinem Turm war, wie sie sein mußte. Der Motor lief; ein graues Rauchwölkchen wälzte sich das angeschnittene Heck hinauf. Ich schleppte mich bis zur Tür und klopfte. Die Tür ging auf, ich kroch hinein.
Tschapajew war ganz der alte – nur daß sein linker Arm in einer schwarzen Schlaufe steckte. Das Handgelenk war verbunden. Unter einigen Schichten Mull war die Abwesenheit des kleinen Fingers zu ahnen.
Ich bekam zunächst kein Wort heraus; die Kraft reichte gerade noch, um mich auf die Bank fallen zu lassen. Tschapajew war sofort im Bilde. Er schlug die Tür zu, sprach leise etwas in den Hörer, und der Panzerwagen fuhr an.
»Was macht die Kunst?« fragte er.
»Ich weiß nicht. Das Innenleben hat so viele Widersprüche … In dem Wirbel von Klängen und Farben findet man sich schwer zurecht.«
»Kann ich verstehen«, sagte Tschapajew. »Übrigens, schönen Gruß von Anna. Ich soll dir das hier geben.«
Er beugte sich nach vorn, griff mit der gesunden Hand unter den Sitz und stellte eine leere Flasche mit einem quadratischen Stück Goldfolie als Etikett auf den Tisch. Aus dem Flaschenhals ragte eine gelbe Rose.
»Sie sagte, du würdest das schon verstehen«, erklärte Tschapajew. »Und außerdem hättest du ihr irgendwelche Bücher versprochen.«
Ich nickte, drehte mich zur Tür und preßte das Auge gegen den Spion. Anfangs sah ich nur, wie sich die blauen Lichtpunkte der Laternen durch die klare Frostluft schoben. Doch wir legten an Tempo zu – und bald, sehr bald knirschte der Wüstensand, und es rauschten die Wasserfälle meiner heißgeliebten Inneren Mongolei.
Kafka-Jurte
1923-1925