Der Mythos vom Feldkommandeur oder: Wer war Wassili Tschapajew?
Anstelle eines Nachworts

Hinter Wassili Tschapajew verbergen sich vier grundverschiedene Personen. Da wäre zunächst der realhistorische Träger dieses Namens, ein Offizier in der Roten Armee, der anno 1919 mit seiner Truppe im Vorland des Uralgebirges gegen die Weißen kämpfte. Zweitens die Hauptfigur aus einem gleichnamigen Film der Gebrüder Wassiljew in den dreißiger Jahren, einem der bedeutendsten und beliebtesten sowjetischen Filmklassiker. Drittens kennen wir Wassili Iwanowitsch Tschapajew aus einer zu Sowjetzeiten weitverbreiteten Endlosserie von Witzen, worin außer ihm noch sein Adjutant Petka, Kommissar Furmanow und die schöne Maschinengewehrschützin Anka vorkommen. Und viertens gesellt sich der literarische Held zweier Tschapajew-Romane dazu. Den einen schrieb in den zwanziger Jahren Dmitri Furmanow, der zuvor Politkommissar des authentischen Tschapajew gewesen war. (Sein Buch diente dem Film der Wassiljews im weitesten Sinne als Vorlage.) Den anderen habe ich geschrieben – oder sagen wir, auch in meinem Buch gibt es eine handelnde Person, die Wassili Tschapajew heißt.

Ein militärischer Vorgesetzter im modernen Sinne ist jener authentische rote Kommandeur Tschapajew beileibe nicht gewesen – eher ließe er sich, mit einem heutigen Begriff, als Feldkommandeur bezeichnen. Dieses Wort kam bei uns erstmals zu Zeiten des von Breshnew angezettelten Afghanistan-Krieges auf und feierte jüngst während des Tschetschenien-Krieges fröhliche Urständ in sämtlichen Zeitungen und Nachrichtenprogrammen. Ein Feldkommandeur ist das Machtzentrum eines bestimmten, flexiblen Territoriums, dessen Grenzen in der Regel in Sichtweite liegen und das er sozusagen als mobiles kleines Fürstentum mit sich führt. Theoretisch ist der Feldkommandeur höheren Chargen in der militärischen Rangordnung unterstellt, in der Praxis jedoch ist diese Unterstellung relativ und unerheblich, denn handeln muß er stets unter den Bedingungen totaler Anarchie und Unsicherheit, mehr noch: Das Auftauchen von Feldkommandeuren ist gerade ein Symptom dafür, daß Chaos herrscht. Sie sind dazu da, der Entropie die Stirn zu bieten, wieder Ordnung ins Leben zu bringen, wenn auch mit ziemlich blutigen Methoden. Ich las einmal in der Zeitung eine hübsche Liste (sie hätte von Borges stammen können), die dem Feldkommandeur folgende typische Eigenschaften zuschreibt: tapfer, ungebildet, reaktionsschnell, stotternd, naiv und grausam.

Warum hat die Figur des Feldkommandeurs einen solch gewichtigen Platz in der sowjetischen Mythologie inne? Zur Erklärung bediene ich mich ungern abstrakter Konzepte, lieber vertraue ich dem persönlichen Erfahrungs- und Erlebnisschatz meiner Moskauer Schulzeit. Geboren in den Sechzigern, bezog ich erste Unterweisungen zur Geschichte meines Landes nicht aus Lehrbüchern, sondern aus der Visualkultur meiner alltäglichen Umgebung. Und da sah die Vergangenheit so aus: Erst kurze Zeit war es her, daß wir das Weltall erobert, alles Irdische hinter uns gelassen und uns für alle Zeiten in der Ewigkeit angesiedelt hatten. Davor hatten wir den furchtbaren und heroischen Großen Vaterländischen Krieg gewonnen. Noch davor lagen die ersten Jahre der Sowjetunion, als das Land, atemlos vor Glück und vom vielen Singen, die großen Fabriken und Elektrizitätswerke erbaute. Und davor schließlich gab es die Revolution, ein halbmythisches, transzendentes Ereignis, von dem nicht so sehr Fakten wie Bilder kündeten: zyklopenhafte Skulpturengruppen, mit Vorschlaghämmern bewaffnete Titanen oder auch (als Mosaik an den Wänden einer Metrostation) eine Schar Reiter mit Budjonnymützen, die in einer gigantischen, glutrot aufgehenden Sonne versinkt. Alles dem Sinn nach verschwommen, doch von stark aufgeladener Emotionalität. Die in der sowjetischen Öffentlichkeit allgegenwärtige sogenannte »Sichtagitation« bewirkte, daß die Geschichte nicht als Abfolge von Ereignissen, sondern als Baukasten emotionaler Codes erschien.

Der sowjetische Gründungsmythos in all seinen Komponenten verwies auf eine sogenannte Frühzeit – die Epoche der Revolution, da die alte Welt zerstört, der alte Gott gekippt und kastriert und ein neuer auf den Thron gehoben wurde. Wiewohl diese Frühzeit, von den fünfziger, sechziger Jahren aus gesehen, chronologisch noch zur jüngeren Vergangenheit gehörte, schien sie aus der Innenperspektive des Mythos unglaublich weit entlegen. Gewissermaßen lagen die Zeiten, in denen Reiterhelden unter den Klängen revolutionärer Lieder durch die Steppen des Südens galoppierten, viel, viel weiter zurück als das Rußland eines Lew Tolstoi und sogar eines Alexander I. Der monströse Bruderkrieg der Jahre 1918-1921 hatte das Land seiner dünnen Schale von Kultur und Zivilisation beraubt; es war fürwahr eine Zeit neuer Titanomachie, da grausame, hundertarmige Wesen einander stürzten und vernichteten, Götter und Heroen miteinander rangen – und es war jene unscharfe Grenze, hinter der das Nichts gähnte und wo die Geschichte erst begann.

Diese Art Mythologizität entsprach voll und ganz den Forderungen der Ideologie und der marxistischen Dogmatik: Die sowjetische Welt war radikal neu, nicht der vorherigen entwachsen; in deren rauchenden Trümmern hatte sie sich selbst gezeugt und geboren. Die Zeit, da sie entstand, war eine Zeit der Schöpfung. Von daher die allenthalben in der sowjetischen Kunst zu findenden Züge des altertümlichen Epos, die prähistorische Motivik.

Eine schlüssige Erklärung, warum ausgerechnet über Wassili Tschapajew die meisten und beliebtesten Witze im sowjetischen Rußland kursierten, gibt es nicht. Der historische Feldkommandeur kann sicher am allerwenigsten dafür. Vielleicht kam jener senile Oberst a. D. dem Kern der Sache am nächsten, der uns damals in der Schule die vormilitärische Ausbildung erteilte. »Ich weiß, ihr erzählt euch immerzu diese Witze über Tschapajew und Petka«, sagte er und rollte vor der verstummten Klasse mit den Augen. »Habt ihr eine Ahnung! In den dreißiger Jahren organisierte sich in Paris extra eine große Spionagegruppe aus weißen Emigranten, die das siebenbändige ›Lexikon des Humors der Völker‹ gewälzt und alle Witze, die sich einigermaßen verwenden ließen, auf Tschapajew und Petka umgeschrieben hat. Das sind die durchtriebensten Formen der ideologischen Aggression: Scherz und Ironie.«

Wenn wir von der Spionagegruppe einmal gnädig absehen wollen, steckt in diesen Worten eine tiefe Wahrheit. Bedenkt man, daß die gesamte Heldenmythologie aus sowjetischer Frühzeit auf Legenden von Feldkommandeuren basierte, so rührten die Tschapajew-Witze durchaus an die Wurzeln. Die Infiltration des sowjetischen Mythos ins Bewußtsein und seine Destruktion gingen praktisch einher. Der Tschapajew der Witz-Folklore ankerte im Bewußtsein der meisten jungen Leute sogar früher als der Film- oder Romanheld, und das bestimmte die Art und Weise, in der Film und Buch rezipiert wurden. Kaum eine Filmszene, die nicht in irgendeinem Witz ihr Zerrbild gefunden hätte. Und umgekehrt wird jedesmal, wenn Russen einen neuen Tschapajew-Witz hören, das kleine Filmstudio im Kopf in Betrieb genommen, und in dem Schwarzweißclip, der da abläuft, sind die altbekannten Filmgesichter zu sehen.

Da gibt es im Film zum Beispiel die berühmte Szene, in der Tschapajew seinem Politkommissar mit Hilfe einer Anzahl Kartoffeln strategischen Nachhilfeunterricht erteilt. Der dazugehörige Witz geht so: Tschapajew und Petka müssen im MG-Feuer der Weißen den Uralfluß durchschwimmen. Tschapajew ist nahe daran zu ertrinken, läßt aber seinen kleinen Koffer nicht los. »Laß doch den Koffer los«, schreit Petka, »wir ertrinken!« Darauf Tschapajew: »Geht nicht, Petka! Da sind die Generalstabskarten drin!« Wie durch ein Wunder entrinnen sie dem Tod und kriechen ans andere Ufer. Petka macht den Koffer auf und sieht, daß er voller Kartoffeln ist. »Wo sind denn die Generalstabskarten?« – »Das sind sie doch«, sagt Tschapajew und nimmt in jede Hand eine Kartoffel. »Das da sind wir. Und das die Weißen.«

Die Witze über Tschapajew machen vor den realen Grenzen der Sowjetepoche nicht halt. Sie handeln überall und zu allen Zeiten. In einem zum Beispiel kommt der Papst zum sterbenden Fantomas, will ihm seine Sünden vergeben und sieht, es ist Petka – und er selber ist natürlich Tschapajew. In einem anderen brüstet sich Tschapajew vor Petka, er habe jetzt einen Job als Musiker bei den Beatles: Wenn sie »Come Together« spielen, muß er den Säbel vor dem Mikrofon schwingen, und es macht dieses »Tschschscht«.

Tschapajew und Petka sind so etwas wie die Projektion des kurzlebigen sowjetischen Kosmos auf das unendliche Universum.

Ein beträchtlicher Teil der Witze von Tschapajew und Petka ist höchst unanständig. (Vielleicht war es gerade das, was sie bei Kindern so beliebt machte und für ihre lauffeuerhafte Verbreitung sorgte.) Doch hat diese Obszönität eine tiefere Bedeutung: Unterschwellig verweist sie auf die Erbsünde der sowjetischen Welt, gezeugt durch unreines Blut, inmitten von Tod und Verderben. Und der schwarze Dreck, den es in einem Witz aus den Fußlappen Tschapajews in den Ural schwemmt, ist in Wirklichkeit der, mit dem die sowjetische Erbsünde das Leben in der Sowjetunion für alle Zeiten vergällt hat. Der Ursprung der schönen neuen Welt war unrein, und diese Unreinheit war letztlich die Ursache für ihren Untergang.

Von den vielen Göttern und übernatürlichen Wesen des alten Tibet weiß man, daß die Gläubigen sie nicht unbedingt für real oder objektiv existent hielten; gebildete Lamas vergleichen sie gern mit psychischen Akkumulatoren. Erst durch das gemeinsame Beten vieler erhalten sie ihre Energie – diese Aufladung durch die Hoffnung und den Glauben der Massen ist es, was den Gott zum Gott macht. Ähnliches ließe sich über unseren Tschapajew sagen. Einen Witz über ihn zu erzählen oder erzählt zu bekommen war eine Art gesamtnationales Gebet, und daraus ging ein Tschapajew-Bild hervor, das seine blassen historischen, literarischen und kinematographischen Doppelgänger an Authentizität weit übertraf. Dieser andere Tschapajew kann wohl als eine der wenigen Geistesgeburten gelten, die dazu angetan waren, Rußland »höheren Orts« zu repräsentieren – und dabei waren Witze und Film für diesen virtuellen Tschapajew Attribute wie der Koran für Allah.

In der Triade von Buch, Film und folkloristischer Überlieferung ist ein Element den anderen weit unterlegen – Furmanows Roman »Tschapajew«, ein Frühwerk des sozialistischen Realismus. Er ist leider furchtbar langweilig – für Generationen von Slawistikstudenten ein Graus. (Dabei entbehren die äußeren Umstände nicht einer gewissen Pikanterie. Dmitri Furmanow war seinerzeit Politkommissar des realen Tschapajew und litt an dem Mann, dem er später ein Denkmal setzte, über alle Maßen. Wie seine unlängst veröffentlichten Briefe an Tschapajew offenbaren, hatte Furmanows Ehefrau Anna ein heimliches Verhältnis mit Tschapajew. In dem Roman – 1923, also vier Jahre nach Tschapajews Tod geschrieben – findet sich davon selbstverständlich kein Wort.)

Ich ging für meinen Tschapajew-Roman von folgender Überlegung aus: Was, wenn man einmal eine Art Anti-Extrapolation anstellte und die »Verarbeitungslogik« des »sozrealistischen« Textes umkehrte, indem man sich eine Welt edler, erhabener Leute ausmalte, deren Andenken durch zahllose Fälschungen und Verdrehungen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt worden ist? Wenn der sowjetische Mythos nicht der Lack auf einer ungestalten Wirklichkeit, sondern im Gegenteil die Verzerrung und Fälschung einer heroischen, grandiosen Wahrheit wäre? Wenn sich hinter dem süßlichsentimentalen Vorzeigekommunisten namens Tschapajew nicht der grobschlächtige Säbelheld verbärge, den in trunkenem Zustand die Kugel eines Unbekannten traf, sondern ein geheimnisumwitterter, ungreifbarer buddhistischer Meister, der Leben und Tod bezwingt? Dann dürfte man die Tschapajew-Witze als blasphemische Zeugnisse einer anderen, seltsamen, sperrigen Wahrheit erkennen. Diese Wahrheit weiterzudenken, schrieb ich meinen Roman.

Der Tschapajew-Mythos ist allzeit eng an das sowjetische Paradigma gebunden gewesen, und viele junge Leute, die mein Buch heute lesen, sind mit dem Prototyp wenig vertraut. Die Witze über Tschapajew – ebenso wie die über Lenin, Stalin, Breshnew, Andropow, Gorbatschow etc., die ganze Schatzkammer sowjetischer Folklore, dieses Riesendepot gratis zu beziehender Beruhigungsmittel – schienen Anfang der Neunziger, als die berühmte russische Privatisierung begann, in Vergessenheit zu geraten. Es gab eine Zeit, da wurden überhaupt keine Witze mehr erzählt – eine schwere Heimsuchung für die Seele, die es gewohnt war, wenigstens einmal täglich für Sekunden der Häßlichkeit der Welt durch Lachen zu entrinnen. Ein paar Publizisten behaupteten natürlich sofort: Seht, Rußland wird endlich ein normales Land, in dem es keiner mehr nötig hat, seine psychischen Komplexe und Perversionen folkloristisch zu kompensieren.

Doch als zwei, drei Jahre vergangen waren, entstand eine neue Serie von Witzen – diesmal über die sogenannten Neuen Russen. Meines Wissens wurde der Ausdruck seinerzeit vom »Newsweek«-Magazin erfunden – in einem jener großen Rußland-Artikel, wie sie zu Beginn der Perestroika geschrieben wurden. Er hat sich auch bei uns eingebürgert, wobei Amerikaner und Russen ihn völlig verschieden verstehen. Die Amerikaner sehen im Neuen Russen eine Art Yuppie, den prosperierenden urbanen Jungprofi. Für die Russen ist der Neue Russe eine Witzfigur: ein Mann im grell himbeerfarbenen Sakko (solche waren vor einiger Zeit tatsächlich in Mode), mit Handy und Pistole, dickem Goldkettchen um den Hals, alle zehn Finger sonderbar verrenkt (Gangsterzeichensprache!). Der sozialen Zugehörigkeit nach ein Mittelding zwischen Bankier und Bandit – man könnte ihn vielleicht »Bandier« nennen.

Das Verblüffende war, daß in diesen Witzen der alte russische Mythos vom Feldkommandanten auferstand. Auch ihm, dem Neuen Russen, kann keiner. Er ist die Macht auf seinem gewählten Territorium und wird einzig von seinesgleichen in die Schranken gewiesen. Die Feldkommandeure im Bürgerkrieg der zwanziger Jahre fuhren mit sogenannten »Tatschankas« durch die Welt: geschwinden dreispännigen Kaleschen mit Maschinengewehr am Heck. Die Neuen Russen als die Feldkommandeure der Neunziger fahren – zumindest in den Witzen – ausschließlich 600er Mercedes, und im Kofferraum liegt eine MPi. Nach dem Tod von Prinzessin Diana war in sämtlichen Moskauer Revolverblättern davon die Rede, daß es die Arme in einem 600er Mercedes erwischt habe (obwohl es, glaube ich, ein 280er war) – nur dieser Tod gilt im Rußland von heute als wahrhaft königlich. Es gibt im Jargon sogar schon das Adjektiv »sechshunderter« in der Bedeutung von »stattlich«: »Boah, guck mal, was dort für eine Riesenschabe krabbelt«, könnte man einen modernen Moskauer in seiner Küche sagen hören, »eine sechshunderter!«.

Und wenn es noch eines letzten Beweises bedürfte, daß der Mythos vom Feldkommandeur die Perestroika überlebt und im Mythos vom Neuen Russen seine Reinkarnation gefunden hat, so liegt er in dem einfachen Umstand, daß viele Witze, die man sich früher über Tschapajew erzählte, kurzerhand zu Neue-Russen-Witzen umfunktioniert wurden. Der sowjetische Kosmos, wie er bis zur Perestroika existierte, jener klapprige, zahnlose Stalinismus mit Gorbatschows menschlichem Gesicht, ist bis auf die Grundfesten zerstört. Rußland ist in die Epoche der Frühzeit zurückgefallen und wieder zur Titanomachie gelangt, zum Kampf der Feldkommandeure. Und wieder herrscht in Rußland mehr oder weniger offiziell eine Ideologie, nämlich die des oligarchischen Konsumismus – bestehend in dem (reichlich naiven) Glauben, die immer exzessivere Konsumtion durch eine immer geringere Zahl von Ex-Kommunisten wäre der Weg zum simplen menschlichen Glück. Was zu Sowjetzeiten die Sichtagitation war – die verordnete Hirnwäsche, die einen dazu zwang, im Reich des Witzes Zuflucht zu suchen –, finden wir heute in der Reklame: In einem Land, wo kaum ein Mittelstand vorhanden ist und es also wenig Sinn macht, breite Kreise der Bevölkerung zum Kauf zu animieren, spielt sie eine weitgehend rituelle und ideologische Rolle.

Eine solch kühne, ja, avantgardistisch-revolutionäre Transformation des an sich harmlosen Konsumismus kann nur den erstaunen, der übersieht, daß der Kapitalismus in Rußland von ehemaligen Kommunisten errichtet wird. Groß geworden mit der sowjetischen Propaganda, haben sie im Kapitalismus immer das Reich des absolut Bösen, der totalen Ausplünderung und Entmenschlichung gesehen. Und als von oben der Befehl kam, den Kapitalismus aufzubauen, bauten die Kommunisten ihn so, wie sie ihn verstanden, nach dem einzigen Modell, das sie kannten – nämlich so, wie er von den Karikaturisten in der sowjetischen Presse allzeit an die Wand gemalt worden war. Und ganz nach dem alten Schnittmuster geht man davon aus, daß heutige Generationen irgendwie und einigermaßen zurechtkommen müssen, damit dereinst die Kinder und Kindeskinder im Kapitalismus leben mögen – so wie weiland im Kommunismus. Der Ismus ist ein anderer, das ist alles. Die Logik der Erbauer ist die alte geblieben – es ist die Logik der »Internationale«, mit einem Minuszeichen versehen:


Reinen Tisch macht mit den Bedrängern! Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein – trag es nicht länger! Alles zu werden strömt zuhauf!


So also kommt es, daß der frühzeitliche Mythos vom Feldkommandeur sich am Leben erhalten hat – nur daß letzterer nicht mehr in der Tatschanka durch die Steppe fegt, sondern mit dem 600er Mercedes durchstartet: von der Bank geradewegs ins Nirwana.


Paris, 1998

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