8

»Wie kamen Sie eigentlich ausgerechnet auf Schatten?« fragte Professor Kanaschnikow.

Wolodin zerrte nervös an den Riemen, die seine Arme und Beine an die Garrotte banden und nicht nachgaben. Große Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.

»Weiß ich nicht«, sagte er. »Sie wollten doch hören, was ich in dem Moment gedacht hab. Gedacht hab ich, wenn irgendein außenstehender Beobachter dazugekommen wäre, daß der bestimmt gedacht hätte, es gab uns nicht wirklich, und wir wären bloß ein Schattenspiel, eine Täuschung im Geflacker vom Feuer, weiter nichts. Da war ein Feuer, sagte ich ja. Obwohl na ja, ich glaub, Professor, es kam auf den Beobachter an.«


Das Feuer auf der Wiese begann gerade erst richtig zu brennen und gab noch nicht genügend Licht, um den Nebel zu zerstreuen und die darumsitzenden Leute sichtbar werden zu lassen. Sie erschienen als gespenstische Schatten von Erdbrocken und angekohlten Stubben, wie sie in der Nähe des Feuers lagen – auf eine unsichtbare Leinwand projiziert. Was ja, von einer gewissen, höheren Warte gesehen, stimmte. Da aber auch der letzte Neuplatoniker der Region lange vor dem XX. Parteitag aufgehört hatte, sich seines Körpers zu schämen, war im Umkreis von hundert Kilometern niemand, der zu einem solchen Schluß hätte gelangen können.

Sagen wir es also lieber einfach: Im Halbdunkel rings um das Feuer saßen drei Dumpfbacken. Und zwar sichtlich von der Art, daß unser Neuplatoniker, einmal angenommen, er hätte den XX. Parteitag nebst all seinen weitreichenden Prophezeiungen überlebt und nunmehr den Wald verlassen, um mit Durchreisenden am Feuer zu sitzen und über den Neuplatonismus zu sprechen, dieses Ansinnen mit schweren körperlichen Schäden bezahlt hätte, kaum daß das Wort Neuplatonismus in die Stille der Nacht geplatzt wäre. Zumindest gab es eine Reihe von Anzeichen, die einen solchen Lauf der Dinge hätten erwarten lassen.

Da war vor allem der unweit des Feuers geparkte teure japanische Amphibien-Jeep der Marke »Harbour Pearl«. Ferner die riesige, an seinem Bug befindliche Seilwinde – ein Gegenstand ohne jeden praktischen Nutzen und nichtsdestoweniger auf Gangsterschlitten des öfteren zu finden. (Manche mit der Erforschung der »neuen Russen« befaßte Anthropologen sind der Auffassung, daß derlei Winden als Rammsporn Verwendung finden, andere sehen im gehäuften Vorkommen solcher Aufbauten gar einen indirekten Beweis für die langerhoffte Renaissance des russischen Nationalcharakters ihrer Ansicht nach erfüllen die Winden die mystische Funktion von Galionsfiguren, wie sie einstmals die Fregatten der alten Slawen zierten.) Man sah also, daß die mit dem Jeep eingetroffenen Männer etwas in die Waagschale zu werfen hatten. Da überlegte man es sich gut, ehe man ein überflüssiges Wort äußerte.

Die Männer waren in ein leises Gespräch vertieft.

»Wieviel davon muß man einwerfen, Wolodin?« fragte einer.

»Je nachdem«, erwiderte Wolodin, der ein Bündel auf den Knien hielt und auswickelte. »Ich zum Beispiel eß schon an die hundert aufs Mal. Dir rat ich, bei dreißig einzusteigen.«

»Das soll langen?«

»Das langt dick, mein lieber Schurik«, sagte Wolodin und war schon dabei, den Inhalt des Bündels, einen kleinen Berg trockener, mürber Materie, in drei ungleiche Häufchen zu teilen. »Genug, damit du vor lauter Bäumen durch den Wald rennst und nicht weißt, wo dich verstecken. Du genauso, Kolja.«

»Ich?« fragte der dritte mit tiefer Stimme. »Vor wem soll ich wegrennen, sagst du?«

»Vor dir selber, Kolja. Nur vor dir selber.«

»Ich bin in meinem Leben noch nie weggerannt«, sagte Kolja, während er seine Portion entgegennahm – sie paßte in die hohle Hand, die dabei aussah wie die Schaufel eines Spielzeugbaggers. »Gib acht, was du sagst. Ich vor mir selber wegrennen? Wie soll das gehen?«

»Das ließe sich nur an einem Beispiel erklären«, sagte Wolodin.

»Dann erklär's mir an einem Beispiel.«

Wolodin dachte kurz nach.

»Na, stell dir vor, zu dir ins Office kommt irgend so ein Stinker, fächert auf Gangsterart mit den Fingern vor dir rum und meint, du solltest mit ihm halbe-halbe machen. Was tust du?«

»Ich hau ihn weg«, sagte Kolja.

»Ach so? Gleich im Office haust du ihn weg?«

»Daß er nicht mehr zuckt. Vor mir fächert keiner ungestraft rum.«

Schurik klopfte Kolja auf die Schulter, drehte sich dann zu Wolodin um und sagte begütigend:

»Nicht im Office natürlich. Ein kleines Scharmützel wird anberaumt.«

»Gut«, sagte Wolodin. »Ein kleines Scharmützel also. Und weiter? Kolja soll sagen.«

»Na wie«, ließ Kolja hören. »Wir fahren da halt hin. Wenn der Dämlack auftaucht, sag ich, na was, Alter, spuck aus. Der fängt zu labern an, ich wart ein Minütchen, dann nick ich einmal kurz und putz ihn weg. Danach die anderen.«

Er sah auf das Häuflein schwarzes Gebrösel in seiner Hand und fragte:

»Wie jetzt? Einfach so runterschlucken?«

»Erst kauen«, sagte Wolodin.

Kolja beförderte, was er in der Hand hatte, in den Mund.

»Riecht nach Pilzsuppe«, teilte er mit.

»Schluck's runter«, sagte Schurik. »Ich hab schon. Schmeckt nicht übel.«

»Du putzt ihn also weg«, sinnierte Wolodin. »Und wenn die euch selber auflaufen lassen?«

Kolja brauchte einige Sekunden, um zu überlegen, saß da mit mahlenden Kiefern; dann schluckte er und sagte überzeugt:

»Tun die nicht.«

»Na schön«, sagte Wolodin, »wie tätst du ihn denn umlegen: gleich im Auto, aus der Entfernung, oder läßt du ihn erst rauskommen?«

»Ich laß ihn raus. Im Auto killen, das tun Hosenscheißer. Außerdem gibt's Löcher, Blut und so. Wozu die schöne Hütte versauen. Die coolste Variante wäre, wenn er auf unser Auto zugelaufen käme.«

»Gut. Nehmen wir die coolste Variante. Stell dir vor, er steigt aus seinem Auto aus, kommt rüber zu deinem, du willst ihn grad wegputzen und siehst …«

Wolodin machte eine Kunstpause.

»Du siehst, das ist gar nicht er, das bist du! Und da sollst du jetzt draufhalten. Sag mal, fliegt einem da nicht das Blech weg?«

»Aber hallo.«

»Wenn's so weit kommt, verkühlt man sich doch lieber nicht den Arsch und schiebt ab – wär doch erlaubt, oder nicht?«

»Wär erlaubt, in dem Fall.«

»Also Rückwärtsgang und ab?«

»In dem Fall wär's besser.«

»Und schon bist du vor dir selber am Wegrennen! Kapiert?«

»Nö«, sagte Kolja nach einer Pause. »Kapier ich nicht. Wenn das nicht der andere war, sondern ich selber, wo bin ich denn dann?«

»Du bist er.«

»Und er?«

»Ist du.«

»Seh ich nicht ein«, sagte Kolja.

»Hör zu«, sagte Wolodin. »Kannst du dir vorstellen, daß alles rings um dich her verschwindet – nur du bist da, überall nur du?«

»Kann ich mir gut vorstellen. Auf dem Trip war ich paarmal vom Schwarzen. Oder von der Strohsuppe, weiß nicht mehr.«

»Wie willst du in dem Zustand irgendwen wegputzen, wenn der einzige, der dir in die Quere kommt, immer nur du selber bist? Unter jeder Mütze, wo du draufhaust, guckt dich die eigne Visage an. Wenn einem da nicht das Blech wegfliegt! Anstatt den andern wegzuputzen, gehst du krachen. Und jetzt überleg mal, was am Ende bei rauskommt. Am Ende kommt bei raus, daß du vor dir selber wegläufst, so sieht's aus.«

Kolja dachte lange nach.

»Dann tät Schurik das übernehmen«, entschied er.

»Und knallt dich übern Haufen! Weil da bist ja nur du.«

»Wieso?« mischte Schurik sich ein. »Mir ist das Blech doch nicht weggeflogen. Ich schieß, auf wen ich will.«

Diesmal war es Wolodin, der Zeit zum Nachdenken brauchte.

»Nein«, sagte er dann, »so kann man das nicht erklären. War ein schlechtes Beispiel. Laß die Pilze kommen, dann reden wir noch mal drüber.«

Die nächsten Minuten verstrichen, ohne daß ein Ton gesprochen wurde. Die Männer am Feuer öffneten Konservendosen, schnitten Wurst auf und tranken Wodka. All dies wurde schweigend verrichtet – so als wären die Worte, die bei solcher Gelegenheit gern gesagt werden, nichtig und unangebracht, weil da etwas im Raum stand, dunkel und unausgesprochen, etwas, das alle gemeinsam betraf.

Nach dem Wodka rauchte jeder, immer noch wortlos, eine Zigarette.

»Wie sind wir überhaupt auf diesen Quatsch gekommen?« brach Schurik endlich das Schweigen. »Das mit dem Scharmützel und dem Blech, meine ich?«

»Wolodin hat behauptet, wir würden in den Wald rennen und die Bäume nicht sehen, wenn die Pilze kommen.«

»Ach ja. Sag mal, wieso heißt es eigentlich ›die Pilze kommen‹? Wo sollen die denn herkommen?«

»Fragst du mich das?« fragte Wolodin.

»Mal angenommen.«

»Ich tät sagen, die kommen von innen«, sagte Wolodin.

»Dann müßten die da schon länger hocken?«

»Irgendwie ja. Kann man so sehen. Und da sind sie nicht die einzigen. Den ganzen Spaß der Welt hast du sozusagen schon stecken. Wenn du schluckst oder fixt, machst du bloß was in dir locker. In der Droge steckt der Spaß nicht drin, das ist bloß Pulver oder, wie das hier, ein Pilz. Wie der Schlüssel zum Safe, verstehst du?«

»Wahnsinn«, sagte Schurik etwas abwesend; ihm hatte sich der Kopf in Uhrzeigerrichtung zu drehen begonnen.

»Absoluter Wahnsinn«, bestätigte Kolja, worauf das Gespräch wieder für einige Minuten versiegte.

»Sag mal«, meldete sich erneut Schurik als erster, »gibt's da drinnen viel von dem Spaß?«

»Jede Menge«, sagte Wolodin kategorisch. »Die unglaublichsten Sorten. Da sind Sachen dabei, die hast du noch nie probiert.«

»O Mann. So 'ne Art Safe, sagst du, wo drin der Spaß ist?«

»Vereinfacht gesagt, ja.«

»Und könnte man den Safe nicht stemmen? Daß bißchen was von dem Spaß, der da drinsteckt, rüberwächst?«

»Ließe sich machen.«

»Wie denn?«

»Dem muß man sein ganzes Leben widmen. Was glaubst du, wofür die Leute ins Kloster gehen? Um dem Abt die Füße zu küssen? Die holen sich dort einen Rausch, kannst du wissen, wie du für tausend Georgies keinen kriegst. Und das auf Dauer, verstehst du. Früh, mittags und abends. Manche sogar im Schlaf.«

»Und wie heißt das, wovon die den Rausch kriegen?«

»Ganz verschieden. Meistens so was mit Barmherzigkeit. Liebe.«

»Was für Liebe?«

»Einfach Liebe. Die wo du nicht drüber nachdenkst, was für welche und von und zu wem. Du denkst überhaupt nicht mehr.«

»Hattest du das schon mal?«

»Ja«, sagte Wolodin. »Hatte ich mal.«

»Und, wie war's? Läßt sich das mit was vergleichen?«

»Schwer zu sagen.«

»Sag so ungefähr. Wie Schwarzer vielleicht?«

»Ach wo!« Wolodin verzog das Gesicht. »Dagegen ist Schwarzer einfach Scheiße.«

»Oder so was wie Heroin? Speed?«

»Nicht doch, Schurik, nein. Wirklich kein Vergleich. Stell dir vor, du hast dich mit Speed vollgepumpt und bist drauf. Sagen wir, vierundzwanzig Stunden am Stück. Kriegst Lust aufne Frau und alles so was.«

Schurik kicherte.

»Und hinterher zieht's dich runter, und zwar so heftig, daß du denkst, na, hat's das überhaupt gebracht …«

»Soll vorkommen«, sagte Schurik.

»Dagegen das hier, da kommst du drauf und nie wieder runter. Jede Frau kann dir gestohlen bleiben, und kein Fraß kann dich locken. Du hast keinen Hänger und keinen Abriß und nix sonst. Alles, was du tust, ist beten und immer nur beten, daß es nicht aufhört. Kapito?«

»Heftiger als wie Schwarzer?«

»Viel heftiger.«

Wolodin beugte sich nach vorn und stocherte in den brennenden Ästen herum. Das Feuer loderte auf, als hätte man Benzin hineingegossen. Die Flamme war sonderbar: Ungewöhnlich schöne, bunte Funken flogen, und das Licht, das auf die Gesichter der Umsitzenden fiel, war auch nicht normal – es war weich, schillernd und so intensiv, daß man nur staunen konnte.

Nun waren die am Feuer sitzenden Männer gut zu sehen. Wolodin war um die Vierzig, korpulent, mit geschorenem Kopf und Stutzbärtchen. Insgesamt machte er den Eindruck eines zivilisierten mittelasiatischen Freischärlers. Schurik war ein hagerer Blondschopf, der nicht stillhalten konnte, pausenlos und ohne Sinn herumfuhrwerkte. Er schien nicht sehr kräftig, doch hatte seine fortwährende nervöse Zappelei etwas derart Aggressives, daß der wie aufgepumpt dasitzende Kolja neben ihm wie ein großer Wolfshundwelpe wirkte. Kurz, wenn Schurik den gehobenen Petersburger Banditen verkörperte, so war Kolja der typische Moskauer Stahlschrank, dessen Erscheinen die Futuristen zu Beginn des Jahrhunderts so genial vorausgesehen hatten: Er bestand gewissermaßen aus einem Satz einfacher geometrischer Körper: Kugeln, Würfeln und Pyramiden – und in dem kleinen, flachgezogenen Kopf erkannte man jenen Stein, den, wie es beim Evangelisten so schön heißt, die Bauleute einst verwarfen, um ihn später zum Eckstein in Rußlands neuem Staatsgebäude zu erküren.

»Langsam kommen sie, die Pilzlein«, sagte Wolodin.

»Kannst du laut sagen«, bestätigte Kolja. »Ich bin außen rum schon ganz blau.«

»Ja«, sagte auch Schurik, »das haut rein. Aber sag noch mal, Wolodin, war das dein Ernst?«

»Was, das?«

»Na eben, daß man sich einen lebenslangen Kick beschaffen könnte. Der die ganze Zeit anhält.«

»Lebenslang hab ich nicht gesagt. Die haben dort andere Wörter dafür.«

»Man ist auf Dauer drauf, hast du vorhin gesagt.«

»Hab ich auch nicht gesagt.«

»Kolja, hat er das gesagt oder nicht?«

»Weiß ich nicht mehr«, brummte Kolja. Er hatte sich allem Anschein nach aus dem Gespräch verabschiedet und war anderweitig in Anspruch genommen.

»Und was hast du gesagt?« fragte Schurik.

»Von ›ganzer Zeit‹ war jedenfalls keine Rede. ›lmmer‹, hab ich gesagt. Mußt genauer zuhören.«

»Wo ist da der Unterschied?«

»Der Unterschied ist, daß es da, wo der ganze Spaß seinen Anfang nimmt, keine Zeit gibt.«

»Was denn dann?«

»Seligkeit.«

»Und sonst?«

»Nichts.«

»Soll einer draus schlau werden«, sagte Schurik. »Hängt sozusagen in der Luft, die Seligkeit, oder was?«

»Luft gibt's dort auch nicht.«

»Ja, was denn?«

»Seligkeit, sagte ich doch.«

»Tut mir leid, kapier ich nicht.«

»Mach dir nichts draus«, sagte Wolodin. »Wenn es so einfach zu kapieren wäre, tät halb Moskau sich davon gratis einen abschneiden. Denk doch mal, zwei Hunderter legst du hin fürs Gramm Kokain, und das hier ist für Nasse.«

»Zweihundertfünfzig«, korrigierte Schurik. »Irgend'nen Haken hat die Sache. Auch wenn's schwer ist dahinterzusteigen, jemand wär längst drauf gekommen. Die Leute lassen sich was einfallen. Aus Nasentropfen haben sie schon Speed gemacht.«

»Knips deinen Verstand an, Schurik«, sagte Wolodin. »Nehmen wir mal an, du dealst mit Koks, ja? Das Gramm zwohundertfünfzig, davon zehn für dich. Und im Monat setzt du, sagen wir, fünfhundert Gramm ab. Macht wieviel?«

»Fünfzig Franklins.«

»Gut. Und jetzt stell dir vor, da kommt so ein Arschloch und macht, daß du anstatt fünfhundert nur noch fünf verkaufst. Was hast du da unterm Strich?«

Schurik bewegte die Lippen, wälzte unhörbar Zahlen hin und her.

»Den blanken Anschiß, tät ich sagen«, antwortete er dann. »Genau. Gerade genug, um 'ne Hure ins McDonald's auszuführen. Reicht nicht mal für den Eigenbedarf. Was würdest du mit einem Arschloch machen, das dir so mitspielt?«

»Das tät ich platt machen«, sagte Schurik. »Keine Frage.«

»Ist dir jetzt klar, warum keiner von der Sache Wind hat?«

»Du meinst, die Dealerszene hält den Daumen drauf?«

»Da geht's nicht mal nur um Drogen«, erläuterte Wolodin. »Da werden noch ganz andere Connections aufgemischt. Wenn du den Durchbruch zur ewigen Seligkeit schaffst, kann dir nämlich alles den Buckel runterrutschen: Autos, Sprit, Reklame, Pornos, Nachrichten, der ganze Scheiß. Und deinem lieben Nachbarn auch. Was dann?«

»Dann bricht's zusammen«, sagte Schurik und sah sich unruhig um. »Das ist der Untergang der Kultur. Das Ende der Zivilisation. Klarer Fall.«

»Darum darf kein Schwein was wissen vom ewigen Kick.« »Und wer hält die Fäden in der Hand?« fragte Schurik nach kurzem Nachdenken.

»Ergibt sich automatisch. Tut der Markt.«

»Hör mir bloß auf mit dem Markt«, sagte Schurik stirnrunzelnd. »Das kenn ich schon. Von wegen automatisch. Automatisch oder Einzelfeuer, wie sich's anbietet. Und wenn man den Bügel ganz nach hinten zieht, rastet die Sicherung ein. Einer hat immer den Hut auf, wetten? Man weiß bloß nicht, wer. Das erfährt man frühestens vierzig Jahre später.«

»Oder auch nie«, ließ Kolja sich hören, ohne die Augen zu öffnen. »Was dachtest denn du! Braucht einer bloß einen großen Schein in der Tasche haben, schon hält er still und rührt sich nicht, und wer ihn anpinkelt, wird kaltgemacht. Und erst mal die, die den Hut aufhaben, oder die von ganz, ganz oben, da geht's noch anders zur Sache! Dagegen sind wir doch kleine Fische. Irgendeinen Drecksack verprügeln oder mal ein Office abfackeln, das war's auch schon. Wir sind im großen Dschungel die kleine Gesundheitspolizei. Die dagegen, die können Panzer auffahren, wenn's drauf ankommt. Und wenn das nicht reicht Flugzeuge. Oder gleich die Atombombe. Habt ihr gecheckt, wie sie auf den Dudajew losgegangen sind, als er nicht mehr blechen wollte? Wenn die nicht im letzten Moment über die eignen Füße gestolpert wären, hätte er alt ausgesehen. Oder denk ans Weiße Haus. Meinst du, wir könnten es uns leisten, einfach so auf die Bosse von Slav-East Oil einzudreschen?«

»Was nervst du uns hier mit deinem Weißen Haus«, fuhr Schurik ihn an. »Guten Morgen auch. Die Politik laß gefälligst aus dem Spiel. Hier geht's um den ewigen Kick … Obwohl, da fällt mir ein … In der Kiste haben sie erzählt, der Chasbulatow würde in einem fort bekifft durch die Gegend laufen. Vielleicht wissen die was vom ewigen Kick, er und Ruzkoi? Und wollten's dem Volk im Fernsehen erzählen und deswegen Ostankino stürmen, und die Kokainmafia hat sie nicht rangelassen. Da schnallst du ab.«

Schurik faßte sich mit beiden Händen an den Kopf und verstummte.

Der Wald ringsumher lag in des Feuers unerklärlichem, rhythmisch flackerndem, regenbogenfarbenem Widerschein, und am Himmel über der Wiese flammten immer wieder neue Mosaikbilder auf, unglaublich schön und mit nichts zu vergleichen, was einem im schnöden Alltag begegnete. Die Welt hatte sich von Grund auf verändert, sie schien von Geist und Seele durchdrungen wie nie zuvor – als wäre nun endlich klar, wozu auf der Wiese das Gras wächst, wozu der Wind weht und die Sterne am Himmel stehen.

Indes war nicht nur mit der Welt, sondern auch mit den Männern am Feuer etwas geschehen. Kolja schien sich ganz in sich selbst zurückgezogen zu haben, die Augen hielt er geschlossen. Sein kleines, quadratisches Gesicht, das für gewöhnlich eine finstere Verdrossenheit zur Schau trug, zeigte keinerlei Gefühlsregung mehr, war wie ein nicht mehr ganz frischer, leicht aufgedunsener Batzen Fleisch. Auch der kastanienbraune Nullachtfünfzehnigel auf seinem Kopf ließ irgendwie die Borsten hängen, glich einem lächerlichen, fransigen Pelzmützchen. Und wenn der himbeerfarbene Zweireiher im Flackerlicht des Feuers den Eindruck einer alttatarischen Kriegstracht machte, dann vor allem der Goldknöpfe wegen, die den Blechplättchen, wie man sie in Hünengräbern findet, zum Verwechseln ähnlich sahen.

Schurik wiederum kam einem noch dürrer, noch zappeliger und furchterregender vor als sonst. Etwas wie ein Gestell, zusammengeschustert aus morschen Brettern, woran vorzeiten irgendwer irgendwelche Lappen zum Trocknen aufgehängt und dann vergessen hatte, und in diesen Lappen begann sich auf wundersame Weise Leben zu regen und machte sich alsbald so sehr breit, daß mancher im Umkreis es mit der Angst bekam. An ein Lebewesen von Fleisch und Blut mochte man nicht glauben, eher an einen ausgestopften und elektrifizierten Matrosen im Kaschmirkittel.

Wolodin dagegen hatte sich nicht sonderlich verändert. Höchstens hatte ein unsichtbarer Meißel die Kanten und Unebenheiten seiner materiellen Hülle geglättet und durchgehend weiche, geschwungene, ineinanderfließende Linien geschaffen. Sein Gesicht war noch etwas blasser geworden, in den Brillengläsern blitzten mehr Funken auf, als das Feuer zaubern konnte. Auch seine Bewegungen hatten an Eleganz und Zielstrebigkeit gewonnen – mit einem Wort, man sah, daß dieser Mensch nicht zum erstenmal Pilze aß.

»Och, Mann«, platzte Schurik in die Stille, »och, Mannomann! Kolja, wie geht's dir?«

»Geht so«, sagte Kolja, ohne die verklebten Augen zu öffnen, »ich seh irgendwelche Feuerchen.«

Schurik fuhr zu Wolodin herum. Seine ruckartige Bewegung schlug Wellen im Äther, die erst verebben mußten, bevor er sprechen konnte:

»Du, Wolodin … Du wirst es doch wissen, wie man sich den ewigen Kick verschafft, oder?«

Wolodin sagte nichts.

»Ich hab schon verstanden, also, ich meine, wieso niemand davon weiß und keiner darüber reden darf«, fuhr Schurik fort. »Aber mir kannst du's doch sagen, he? Ich bin doch keiner von diesen Freaks. Ich tät mit dem Kick still in meiner Laube sitzen, und fertig.«

»Vergiß es«, sagte Wolodin.

»Ja, Himmel noch mal, hast du wirklich gar kein Vertrauen zu mir? Glaubst du, da gäb's Probleme?«

»Nein, nein«, sagte Wolodin, »das glaub ich nicht. Nur käm bestimmt nichts Gutes bei raus.«

»Ach, komm«, sagte Schurik. »Mach halblang!«

Wolodin nahm die Brille ab, wischte sorgfältig mit dem Hemdzipfel die Gläser und setzte sie wieder auf.

»Entweder man steigt dahinter oder nicht«, verkündete er. »Ich weiß nicht, wie ich's erklären soll … O. k. Du erinnerst dich, daß wir mal vom inneren Staatsanwalt gesprochen haben?«

»Ja. Der einen für die Ewigkeit einbuchten kann. Wie den Raskolnikow, der die Alte um die Ecke gebracht hat. Er dachte, sein innerer Verteidiger haut ihn raus, war aber nicht.«

»Exakt. Was meinst du, wer dieser innere Staatsanwalt eigentlich ist?«

Schurik überlegte.

»Weiß nicht … Wahrscheinlich bin ich's selber. Irgendein Teil von mir. Wer soll's sonst sein.«

»Und der Verteidiger, der dich da raushaut?«

»Bestimmt auch ich. Was natürlich irgendwie komisch ist – daß ich mir selber die Anklage bastle und mich anschließend raushaue.«

»Das ist nicht komisch. Das ist der Lauf der Dinge. Jetzt stell dir vor, dieser innere Staatsanwalt hat dich vor Gericht gezerrt, alle deine inneren Anwälte sind verarscht worden, und du bist in dein eignes Kittchen eingefahren. Und da gibt es nun, mal angenommen, noch 'nen vierten Mann: Der ist nicht der Staatsanwalt, nicht der, dem er ans Leder will, und nicht der Verteidiger. Einer, der überhaupt nie irgendwelchen Geschäften nachgeht – kein schwerer Junge und kein Drahtzieher und kein Bulle und kein Nix.«

»Bin im Bild.«

»Dieser vierte hat den ewigen Kick. Und der muß ihn nicht erst erklärt kriegen, verstehst du?«

»Wer ist denn dieser vierte Mann?«

»Niemand.«

»Aber sehen kann man ihn doch?«

»Nein.«

»Oder wenigstens fühlen, daß er da ist?«

»Auch nicht.«

»Also gibt's ihn in Wirklichkeit gar nicht?«

»In Wirklichkeit, wenn du's genau wissen willst«, sagte Wolodin, »gibt's die Anwälte nicht. Und dich selber auch nicht. Wenn's in Wirklichkeit überhaupt wen gibt, dann ihn.«

»Tut mir leid, da komm ich nicht mit. Erzähl mir lieber, was ich tun muß, daß ich den ewigen Kick kriege.«

»Nichts«, sagte Wolodin. »Tun mußt du gar nichts, das ist es ja. Kaum fängst du an, was zu unternehmen, schon ist die Kiste verfahren. So ist es doch, oder?«

»Kann man so sagen.«

»Siehst du. Und was ein Verfahren ist, weiß man ja: Anklage, Verteidigung, Pipapo.«

Schurik blieb nun stumm und rührte sich nicht mehr; seine ganze Bewegungsenergie schien auf Kolja übergesprungen, der urplötzlich wie aus einem Tiefschlaf erwachte, die Augen aufschlug, Wolodin einen langen, grimmigen Blick zuwarf und die Zähne fletschte. Eine Palladiumkrone blitzte.

»Was den inneren Staatsanwalt angeht, da hast du uns sowieso kräftig angeschissen, Wolodin«, sagte er.

»Wieso denn?« fragte Wolodin verwundert zurück.

»Wieso, wieso. Wowtschik, der Abgehackte, hat mir hinterher ein Buch gegeben, wo das alles breitgetreten war. Und lebensnah, wie sich's gehört. Nietzsche heißt der Typ, der's geschrieben hat. Alles in so verrenkten Formulierungen, daß kein normaler Mensch dahintersteigt, aber clever. Wowtschik hat extra so einen Hungerleider angeheuert, einen Professor, und dazu einen von unseren Knaben, der Zaches redet. Zu zweit haben sie's in einem Monat so hingekrempelt, daß es Hand und Fuß hatte, und der ganze Klub hat's lesen gekonnt. In normale Sprache übersetzt. Jedenfalls, es läuft drauf hinaus, daß man den inneren Bullen schlachten muß. Dann kommt keiner mehr und will was von dir, verstehst du?«

»Mensch, Kolja, was redest du da?« Wolodins Stimme klang sanft und fast ein bißchen mitleidig. »Weißt du, wieviel sie dir für 'nen Bullen aufbrummen?«

Kolja lachte höhnisch.

»Wer soll das denn tun? Vielleicht die inneren Oberbullen? Darum geht's ja, die schlachten wir hübsch alle nacheinander!«

»Na schön«, sagte Wolodin, »nehmen wir an, die inneren Bullen hast du erledigt. Dann übernimmt die innere Eingreiftruppe.«

»Red ruhig weiter, die Tour kenn ich aus dem Effeff. Erst kommt die innere Stasi, dann die Elitetruppe ›Alpha‹, dann ›Omon‹ und so weiter und so fort. Und ich sag dir: Die werden geschlachtet, und am Ende bist du dein eigner innerer Präsident.«

»Wenn du meinst«, sagte Wolodin. »Dann bist du also dein eigner innerer Präsident. Und plötzlich kommen dir irgendwelche Zweifel. Was machst du dann?«

»Kein Problem«, sagte Kolja. »Wegdrücken und weitermachen.«

»Aber zum Wegdrücken brauchst du doch deine inneren Bullen, oder etwa nicht? Und wenn's hart kommt, die innere Eingreiftruppe?«

»Aber das sind ja dann meine Leute. Ich bin ihr vorgesetzter innerer Präsident. Muß ich nur mit dem Finger schnipsen.«

»Gut hat dich dein kleiner Wowtschik instruiert, alle Achtung. Also, wir waren beim inneren Präsidenten, der bist du. Da hast du deine eignen Bullen an der Hand und noch dazu einen Riiiiesensicherheitsdienst, inklusive tibetanische Astrologen und so weiter …«

»Na, genau. Da traut sich keiner mehr in die Nähe.«

»Und, was machst du dann so den lieben langen Tag?«

»Was ich will.«

»Zum Beispiel?«

»Na, zum Beispiel krall' ich mir 'ne Schickse und düs' mit ihr auf die Kanaren.«

»Und was machst du dort?«

»Ich mach, was mir grad einfällt. Baden gehen oder vögeln oder koksen – was ich will.«

»Aha«, sagte Wolodin, und in seinen Brillengläsern blitzte es feuerrot, »koksen also auch. Da kommt man auf schöne Gedanken, nicht wahr?«

»Aber hallo.«

»Und so als sein eigner Präsident, da muß man doch bestimmt irgendwelche staatstragenden Meinungen vertreten?«

»Vermutlich.«

»Dann will ich dir mal sagen, was passiert. Beim erstenmal Koksen haut es dir so rein, daß du deinem inneren Präsidenten vor lauter schöner Gedanken die Freundschaft kündigst. Impeachment nennt sich das.«

»Das kratzt mich gar nicht. Da fahr ich die inneren Panzer auf.«

»Gegen wen denn? Gegen dich selber? Vergiß nicht, du hast gegen deinen inneren Präsidenten geputscht. Wer also fährt die Panzer auf?«

Kolja schwieg.

»Im Nu haben wir einen neuen Präsidenten«, führte Wolodin aus. »Was das Innenministerium mit dem alten anstellt, damit er dem neuen in den Arsch kriecht, das wollen wir uns mal lieber nicht ausmalen.«

Kolja dachte nach.

»Na und«, sagte er unschlüssig. »Haben wir halt einen neuen Präsidenten.«

»Aber du warst der vorige, nicht wahr? Wem also schlagen sie in der inneren Lubjanka mit dem Schlauch die Nieren kaputt? Willst du nicht sagen, wem? Dir natürlich. Überleg mal, was besser ist: sich von den inneren Bullen wegen 'ner gekillten Oma abführen zu lassen oder als Ex-Präsident in die Fänge der inneren Stasi zu geraten?«

Koljas Gesicht verdüsterte sich, er drehte und spreizte die Finger der ausgestreckten Hand, schien damit etwas sagen zu wollen, doch irgendein unangenehmer Gedanke kam ihm offenbar in die Quere, plötzlich ließ er den Kopf hängen.

»Shit … Ist wahrscheinlich wirklich besser, sich da nicht reinzuhängen. Alles nicht so einfach …«

»Da haben dich deine inneren Bullen ganz schön reingeritten«, stellte Wolodin fest. »Und du kommst mir mit Nietzsche. Nietzsche! Wenn du wüßtest, wie's dem ergangen ist!«

Kolja räusperte sich den Hals frei. Ein Fladen Rotz riß sich wie ein winziger Bullterrier von seinen Lippen los und klatschte ins Feuer.

»Wolodin, du bist ein verdammtes Ekel«, stellte er fest. »Daß du einem immer alles vermasseln mußt. Letztens hab ich mir ein Video reingezogen, ›Pulp fiction‹, über die amerikanischen Gangs. Da ging's mir hinterher richtig gut! Mir war, als hätt ich begriffen, wie man leben muß. Mit dir braucht man bloß 'ne Weile zu reden, schon fällt man ins schwarze Loch. Ich will dir mal was sagen: Deinen inneren Bullen bin ich noch kein einziges Mal begegnet. Und falls es dazu kommt, hau ich die entweder um, oder ich markier den dummen August.«

»Wozu denn umhauen?« ließ Schurik sich wieder einmal hören. »War doch viel einfacher, die zu bestechen!«

»Sag bloß, die machen da mit?« erkundigte sich Kolja.

»Aber ja doch. Hast du den ›Paten III‹ gesehen? Dieser Don Corleone, weißt du nicht mehr? Seine inneren Bullen zu beschwichtigen, hat er sechshundert Mille an den Vatikan überwiesen und ist mitsamt dem Dreck am Stecken im inneren Geheimquartier untergetaucht. Oder willst du behaupten, die inneren Bullen wären nicht korrupt?« wandte er sich an Wolodin.

»Korrupt oder nicht, das tut nichts zur Sache«, erwiderte der.

»Stimmt, darum ging's gar nicht. Kolja hat angefangen mit Bullenverdreschen und so. Worum ging's denn? Gleich fällt's mir wieder ein. Es ging um den ewigen Kick. Jawohl. Da war was mit 'nem vierten Mann, der permanent drauf ist, während unsereiner sich mit den inneren Links- und Rechtsanwälten rum schlägt, stimmt's?«

»So ist es. Die Frage ist nicht, wie du dich mit den inneren Bullen einigst: ob du ihnen eins drüberziehst oder sie schmierst oder mit 'nem Geständnis antanzt. Der Bulle und der, der ihn anzapft, und der reuige Sünder, die existieren ja alle nicht wirklich, soweit waren wir schon. Du bist derjenige, der abwechselnd mal den einen und mal den anderen markiert. Das hattest du geschnallt, denk ich.«

»Ehrlich gesagt, nicht ganz.«

»Dann erinnere dich mal, wie ihr vorm Kaufhaus am Roten Platz gearbeitet habt, Kolja und du, bevor die Demokratie kam. Er hat Devisen verkauft, und du bist mit gefälschtem Polizeiausweis hingegangen und hast die beiden hochgenommen, weißt du nicht mehr? Wenn man nicht vorübergehend selber dran glaubt, daß man 'n Bulle ist, glaubt's der Kunde auch nicht und sträubt sich, hast du damals gesagt. Also hast du dich als Bulle gefühlt, stimmt's?«

»Klar doch.«

»Vielleicht warst du ja wirklich einer?«

»Wolodin, ich bitte dich«, sagte Schurik, »wir sind Freunde, aber überleg dir trotzdem, was du sagst.«

»Das tue ich, keine Bange, hör nur zu. Begreifst du die Situation? Man kann selber für 'ne Weile glauben, Bulle zu sein. Und jetzt stell dir mal vor, das wär dein Job fürs Leben – nur daß es keine fremde Kundschaft ist, die du anschmierst, du bist es selber und merkst es nicht. Mal bist du der Bulle und mal der Angeschmierte. Mal der Kläger, mal der Anwalt. Was glaubst du, weshalb ich sage, daß es die beiden in Wirklichkeit nicht gibt? Weil, wenn du grad Staatsanwalt bist, gibt es keinen Verteidiger. Und wenn du Verteidiger spielst, ist der Staatsanwalt weg. Einfach nicht da. So daß man meint, man hätte ihn bloß geträumt, verstehst du?«

»Hm.«

»Außer diesen Bullen gibt's da noch 'ne Latte anderer Typen, die alle mal an die Reihe kommen wollen: Arschkriecher, Schwanzlutscher, Spitzel, und und und. Bis du die alle durch hast, ist das Leben vorbei. Die stehen bei dir drinnen Schlange, das gab's nicht mal unter den Kommunisten am Wurststand. Und wenn du den ewigen Kick abkriegen willst, mußt du als erstes diese Schlange auseinandertreiben. Sich in keinen von denen reinversetzen, basta. Das ganze Anwaltspack in die Wüste schicken.«

»Und wie stellt man das an?«

»Ich sagte doch: Man stellt nicht an. Etwas anzustellen heißt, entweder Staatsanwalt oder Verteidiger zu sein. Alle fünfe grade sein lassen, das ist es.«

Schurik versank ins Grübeln.

»Scheiß drauf«, sagte er schließlich. »Da nehm ich doch lieber fünf Gramm Kokain, ehe ich überschnappe. Vielleicht verfängt der ewige Kick bei mir gar nicht. Gegen Hasch bin ich ja auch immun.«

»Siehst du, darum weiß keiner was vom ewigen Kick«, sagte Wolodin. »Genau deswegen.«

Wieder trat Stille ein – diesmal für lange. Wolodin fing an, Äste zu zerbrechen und ins Feuer zu werfen. Schurik zog einen metallenen Flachmann aus der Tasche, in den die Silhouette der Freiheitsstatue eingeprägt war, tat ein paar große Schlucke und reichte ihn an Kolja weiter. Der trank seinen Teil, gab Schurik die Flasche zurück und war von da an damit beschäftigt, in regelmäßigen Abständen in die Glut zu spucken.

Das Knallen der Äste im Feuer klang wie Schüsse – mal einzeln, mal in kurzen Salven, man konnte sich dieses Feuer als eine kleine Welt für sich vorstellen, und irgendwelche Winzlinge, deren kaum zu bemerkende Schatten zwischen den Flammen hin und her huschten, kämpften um einen Platz an den ins Feuer niederfallenden Spuckefladen, die die unerträgliche Hitze zumindest für Augenblicke zu lindern versprachen. Gar traurig war das Los dieser kleinen Wesen! Denn selbst wenn einer ihre Lemurenexistenz ahnte, wie hätte er ihnen erklären sollen, daß sie doch gar nicht in das Feuer, sondern in die nächtliche Kühle des Waldes gehörten und daß es genügt hätte, die Hatz nach der Blasen schlagenden Spucke einzustellen, damit alles Leid ein Ende hatte. Das heißt, vielleicht gab es jemanden, der dies vermocht hätte. Am ehesten wäre wohl jener Neuplatoniker dazu in der Lage gewesen, der irgendwann ganz in der Nähe gelebt, doch – o weh! – inzwischen das Zeitliche gesegnet hatte, ohne den XX. Parteitag zu erleben.

»Nein, wirklich, die Welt gleicht einem brennenden Haus«, gab Wolodin voll Trauer kund.

»Einem brennenden Haus, na, ich weiß nicht«, versetzte Schurik beflissen. »Vielleicht einem sinkenden Schiff?«

»Was soll's? Das Leben geht weiter«, gab Kolja das Seine hinzu. »Oder sag mal, Wolodin, glaubst du eigentlich an den Weltuntergang?«

»Kommt ganz auf den individuellen Standpunkt an. Wenn zum Beispiel grad ein Tschetschene auf dich anlegt, dann steht der Weltuntergang kurz bevor.«

»Das wolln wir doch mal sehen, wer auf wen als erster anlegt«, sagte Kolja. »Aber ob es wirklich stimmt, daß alle Orthodoxen Amnestie kriegen?«

»Wo?«.

»Na, beim Jüngsten Gericht«, sagte Kolja schnell und leise.

»Sag bloß, du glaubst an diesen Tinnef?« fragte Schurik mißtrauisch.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dran glaube«, sagte Kolja. »Einmal, wie ich mir grad wieder die Hände schmutzig gemacht hatte, kriegte ich plötzlich einen seelischen Hänger, Gewissensbisse und so weiter. Und da komm ich an so 'ner Bude mit Ikonen und Broschüren und so was vorbei. Hab ich gleich eine gekauft, ›Leben im Jenseits‹ hieß die. Da konnte man lesen, wie's nach dem Tod weitergeht. Und das waren an sich lauter bekannte Dinge, man wußte gleich Bescheid: U-Haft, Verhandlung, Paragraphen, Strafe, Amnestie und so weiter. Abkratzen ist wie aus dem Knast ins Lager überführt werden. Die Seelenüberführung geschieht mit einer Art Sondertransport zum Himmel, Fegefeuer nennt sich das. Eingerichtet mit allem Drum und Dran, unten die Dunkelzelle, oben die normale, zwei Begleitwachen. Und auf dem Transport versuchen sie dir eben alles mögliche anzuhängen – deine Paragraphen und noch ganz andere, da mußt du sehen, wie du dich rauswindest. Die Regeln zu kennen ist das wichtigste. Aber wenn der Pate es will, läßt er dich trotzdem in die Dunkelzelle einfahren. Die Regeln sind nämlich so, daß du schon dadurch, daß du überhaupt geboren bist, die Hälfte der Paragraphen gegen dich hast. Einer davon heißt zum Beispiel: für sein Wort einstehen. Da geht's nicht drum, daß man sich mal verquatscht hat, nein, du büßt für jedes einzelne Wort, das du im Leben gesprochen hast. Verstehst du? Da kannst du noch so 'nen Eiertanz veranstalten, die kriegen dich doch am Arsch. Seele gleich Fegefeuer. Der Pate kann dir die Strafe allerdings erlassen. Wenn du dich oft genug ein Stück Scheiße genannt hast, tut er's vielleicht. Das hört er nämlich gerne. Und außerdem findet er's cool, wenn einer Angst vor ihm hat. Angst hat und sich so fühlt wie das letzte Stück Scheiße. Außerdem hat er so 'nen Riesenheiligenschein um sich rum und Flügel und 'ne Leibgarde – alles, wie sich's gehört. Und guckt so von oben auf dich runter als wie: ein Stück Scheiße, was denn sonst. Verstehst du? Ich hab das gelesen, und mir ist eingefallen, daß so was Ähnliches schon mal im ›Ogonjok‹ gestanden hat, damals in Perestrojka-Zeiten, als ich noch an der Gewichtheberschule war. Mir ist der Schweiß ausgebrochen, wie ich mich dran erinnert hab. Das muß man sich mal vorstellen: Die Leute haben unter Stalin so gelebt wie jetzt nach dem Tod!«

»Nix verstehen«, sagte Schurik.

»Paß auf. Unter Stalin gab's nach dem Tod den Atheismus. Jetzt haben wir wieder die Religion. Und trotzdem ist alles wie unter Stalin. Denk doch mal dran, wie's damals war. Alle wußten, im Kreml brennt noch Licht, und da sitzt Er. Und er liebt dich wie einen leiblichen Sohn, du hast einen Heidenschiß vor ihm und sollst ihn trotzdem von Herzen zurücklieben. Genau wie in der Religion. Das war's, weshalb ich gleich an Stalin denken mußte. Wie geht das zusammen, hab ich gedacht: Heidenschiß und heiße Liebe.«

»Und wenn die liebe Seele keinen Schiß hat?« fragte Schurik.

»Dann fehlt ihr die Gottesfurcht. Dafür gibt's die Dunkelkammer.«

»Was denn für 'ne Dunkelkammer?«

»Was genau für eine, darüber stand da wenig. Heulen und Zähneklappern, darum ging's im wesentlichen. Wie ich das gelesen hab, hatte ich 'ne halbe Stunde zu tun, mir vorzustellen, was die Seele für Zähne hat, davon ist mir beinahe das Blech weggeflogen. Aber dann hab ich doch weitergelesen. Begriffen hab ich es so, daß, wenn du beizeiten lernst, dich als ein Stück Scheiße zu sehen, und sagst es nicht nur, sondern meinst es auch so, dann hast du die besten Chancen, Amnestie zu kriegen, und darfst zu ihm ins Paradies. Die größte Wonne scheint dort zu sein, dem Paten zuzugucken, wie er auf der Tribüne die Parade abnimmt. Mehr wollen die gar nicht, und mehr findet auch nicht statt: Pate gucken vor der Tribüne oder Zähne klappern vorm Tor. Und die Hauptsache, Mann, die Hauptsache ist, daß es nur ein Entweder-Oder gibt: entweder rauf auf die oberste Pritsche, oder ab in die Dunkelzelle. Mit einem Wort: die ganze große Knastmaschine, wie man sie kennt. Ich hab nur nicht rausgekriegt, wer sich das alles so schlau ausgedacht hat. Hast du 'ne Ahnung, Wolodin?«

»Kannst du dich an Globus entsinnen?« fragte Wolodin zurück.

»Der zuletzt Banker war? Aber klar!« erwiderte Kolja.

»Kenn ich auch noch«, sagte Schurik, der gerade wieder von der entfesselnden Flüssigkeit in seiner Reliefflasche nippte. »Der hat's doch kurz vor seinem Ende noch zu was gebracht. Hat 'nen Porsche gefahren und ist mit Goldkettchen rumgelaufen, fünf Mille das Stück. Den haben sie sogar im Fernsehen gezeigt, als Sponsor und sonstwas, kriegst die Motten.«

»Tja«, meinte Wolodin. »Wie der nach Paris gefahren ist wegen 'nem Kredit, weißt du, was er da gemacht hat? Er ist mit dem Banker von den Franzosen ins Restaurant gegangen, mal in Ruhe reden, unter Männern. Hat sich besoffen wie zu Hause im ›Slawischen Eck‹ und brüllt auf einmal: ›Herr Ober, zwei Stricher und 'nen Eimer dicken schwarzen Tee!‹ Der war nicht etwa schwul, der war's bloß so gewöhnt aus dem Lager …«

»Mußt du mir nicht erklären. Wie weiter?«

»Ganz normal. Sie haben's ihm gebracht, beides. Freie Marktwirtschaft.«

»Und den Kredit hat er gekriegt?«

»Ist doch egal. Man muß sich das mal überlegen: Wenn er bis ans Ende seiner Tage in solchen Welten gelebt hat, dann hat er das Lager eigentlich nie verlassen. Er hat's allenfalls geschafft, daß er sozusagen mit dem Porsche im Lager rumfahren und Interviews geben durfte, und zu guter Letzt hat er dort auch noch sein Paris gefunden. Was meinst du, wenn dieser Globus mit seinem schwarzen Tee und seinen Pupjungen sich das Jenseits ausgemalt hätte, was da rausgekommen wäre?«

»Auf die Idee wird er gar nicht gekommen sein.«

»Gesetzt den Fall, er wäre. Wenn er außer dem Lager nichts kennt und strebt doch wie jeder Mensch nach Höherem, nach dem Licht, was tät er sich drunter vorstellen?«

»Mir ist nicht klar, wo du drauf rauswillst. Was für höheres Licht? Budenzauber mit Lightshow? Höheres Licht hat den garantiert überhaupt nicht gelockt. Die Lampe auf dem Wachturm war immer an.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Schurik. »Hätte Globus sich ein Bild vom Jenseits gemacht, dann wär er exakt auf das gekommen, was in Koljas Broschüre steht. Und jeder andere auch. Kolja, überleg doch mal, unser Land ist immer ein großer GULAG gewesen, und das wird so bleiben. Und der liebe Gott sieht dementsprechend aus, mit Suchscheinwerfern und Rundumleuchte. Wer glaubt hierzulande an einen anderen?«

»Was willst du, gefällt dir unser Land etwa nicht?« fragte Kolja streng.

»Doch, doch, wieso nicht. Stellenweise ganz hübsch.«

Kolja wandte sich Wolodin zu.

»Nun sag doch mal, hat der Globus damals in Paris den Kredit gekriegt oder nicht?«

»Ich denke schon. Dem Banker hat das alles sehr gefallen. Mit den Homos hatten die's ja schon immer, aber den Teesud hat er zum erstenmal probiert. Das ist dort hinterher richtig in Mode gekommen: ›thé à la russe nouveau‹.«

»Weißt du was«, kam es plötzlich von Schuriks Seite. »Ich denk mir … Hoho … Starkes Stück.«

»Was hast du?« fragte Kolja.

»Wenn's nun in Wirklichkeit alles ganz anders wäre? Der liebe Gott ist nicht deswegen eine Art Gangsterboß mit Suchscheinwerfern, weil wir lebenslang nicht aus dem GULAG rausgekommen sind, sondern umgekehrt: Weil wir uns einen Gefängnisdirektor mit Alarmsirene als lieben Gott ausgesucht haben, sind wir in der Zone gelandet? Diesen ganzen Firlefanz mit klappernden Seelenzähnen, Hochsicherheitshimmel und Kessel zum Kommunistenschmoren haben die sich doch schon vor Ewigkeiten ausgedacht! Zu unserer Zeit hatten sie einen anderen Flitz und wollten das Paradies auf Erden bauen. Haben sie ja dann auch. Streng nach Zeichnung! Und wie sie mitten dabei waren, haben sie gemerkt: Paradies ohne Hölle geht nicht. War bloß Wischiwaschi und kein ordentliches Paradies. Also, man möchte das gar nicht zu Ende denken, so ätzend ist das.«

»Vielleicht ist dort, wo die Leute weniger Scheiße bauen, auch der liebe Gott netter. In den Staaten meinetwegen oder unten in Japan«, schlug Kolja vor.

»Was meinst du, Wolodin?« fragte Schurik.

»Was ich meine? Rum wie num, num wie rum. Steht alles kopf. Von wegen oben und unten. Alles abgeschafft. Nachts ist jeder Spalt 'ne Frau, wie der alte Russe sagt.«

»Holla, der ist ja gut drauf«, wunderte sich Kolja. »Könnte man glatt neidisch werden. Wieviel hast du denn von dem Zeug, gefressen, Mann?«

»Du willst doch nicht behaupten, daß du gar nichts merkst?« warf Schurik ein. »Grad eben bist du noch quer durchs Jenseits spaziert und wolltest uns unbedingt mitschleifen. Du hast mehr als nur 'nen Staatsanwalt und 'nen Bullen in petto, da steckt 'ne ganze Synode drin, das sag ich dir.«

Kolja streckte eine Hand aus und besah sie sich gründlich.

»Da«, sagte er, »schon wieder blau. Wieso werd ich von diesem Pilzzeug so blau?«

»Liegt am Verfallsdatum«, sagte Schurik und wandte sich wieder Wolodin zu. »Ja nun, da kannst du mal sehen. Wenn einem das Blech wegfliegt, kommt man vom Hundertsten ins Tausendste. Vom ewigen Kick wollten wir reden, und nun sind wir wieder völlig vom Thema abgekommen.«

»Wieso abgekommen? Wir sitzen, wo wir sitzen. Das Feuer brennt schön, die Hähne krähen schön.«

»Was für Hähne? Das ist der Piepser von Kolja.«

»Ach so. Na macht nichts, die krähen schon noch.«

Schurik grinste und nahm einen Schluck aus der Flasche.

»Wolodin, ich tät wirklich gern wissen, wer der vierte Mann ist.«

»Wer?«

»Der vierte Mann. Hast du schon wieder vergessen? Darum ging's vorhin: daß es einen inneren Staatsanwalt gibt, einen inneren Verteidiger und einen, der den großen Kick hat. Aber wieso ist das der vierte Mann? Er war ja erst die Nummer drei.«

»Hast du den Angeklagten vergessen?« fragte Wolodin.

»Den sie verknacken wollen? So mir nichts, dir nichts vom Kläger zum Verteidiger werden, Bäumchen wechsle dich, das geht nicht. Für ein Minütchen mußt du wenigstens auf die Anklagebank. Das ist der dritte. Während der vierte von dem ganzen Spiel keinen blassen Schimmer hat. Er braucht nichts weiter als den ewigen Kick.«

»Und woher kennt er den?«

»Wer sagt denn, daß er ihn kennt?«

»Du selber.«

»Das wüßte ich aber. Ich hab bloß gesagt: Ihm muß man die Sache mit dem Kick nicht erklären. Das heißt nicht, daß er was davon weiß. Wenn er nämlich wüßte,« – Wolodin dehnte das Wort bedeutungsvoll –, »müßte er in deiner Angelegenheit als Zeuge auftreten.«

»Ach, Zeugen gibt's auch noch? Erzähl mal.«

»Na, stell dir vor, du hast Scheiße gebaut. Der innere Staatsanwalt verkündet, du wärst ein mieses Schwein, der Angeklagte glotzt an die Wand, und der innere Verteidiger schwafelt was von schwerer Kindheit und so.«

»Ja, und?«

»Damit die Verhandlung in Gang kommen kann, mußt du dich an die Scheiße, die du gebaut hast, erst mal erinnern, nicht wahr.«

»Wär ganz günstig.«

»Und indem du das tust, wirst du zum Zeugen in eigener Sache.«

»Wenn man dich so reden hört, könnte man denken, ich hätte 'nen kompletten Gerichtssaal intus.«

»Was dachtest denn du?«

Schurik war eine Weile still, dann klatschte er sich plötzlich auf die Schenkel.

»Ha!« stieß er schrill hervor. »Ich hab's! Ich weiß, wie man den ewigen Kick kriegt! Man wird vierter Mann, stimmt's? Wie Kläger und Verteidiger, so als neue Legende.«

»Stimmt. Die Frage ist nur, wie.«

»Tja. Wahrscheinlich muß man es einfach wollen.«

»Wenn du dir ein Bein ausreißt, vierter Mann zu werden, wird's nie was. Du bleibst immer der, der sich ein Bein ausreißt. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Staatsanwalt wirst du auch nicht davon, daß du's werden willst, sondern weil du dir im stillen sagst: ›Mann, Schurik, was bist du bloß für'n Stück Scheiße.‹ So merkt dein innerer Verteidiger, daß er eben noch Staatsanwalt war.«

»O. k. Dann sag mir, wie man vierter Mann wird, wenn man's nicht will.«

»Wollen oder nicht wollen, darum geht's nicht. Wenn du was erreichen willst, bist du jedenfalls am längsten vierter Mann gewesen. Der vierte Mann will nicht. Wozu soll er was wollen, wenn er doch den ewigen Kick hat.«

»Sag mal, wieso redest du immerzu um den heißen Brei? Kannst du nicht normal und ohne Zickerei sagen, was es mit dem vierten Mann auf sich hat?«

»Sagen kann ich alles mögliche. Das bringt's nicht.«

»Probier's trotzdem.«

»Ich könnte zum Beispiel sagen, es ist der Sohn Gottes.«

Die letzten Worte waren noch nicht verhallt, da hörten die am Feuer sitzenden Männer plötzlich von allen Seiten die Hähne krähen. Ein durchaus sonderbarer Umstand, wenn man bedenkt, daß in der Gegend schon lange keine Hühner mehr gehalten wurden, schon seit dem XX. Parteitag nicht mehr. Trotzdem wurden die Hähne nicht müde zu krähen, und ihr altmodisches Krakeelen ließ an nichts Gutes denken, höchstens an Hexerei und Teufelsspuk oder auch an Dudajews gegen Moskau reitende Kavalleriegeschwader, die mit gefällten ›Stingers‹ die Steppe durchquerten und mit schreienden Hähnen, um die feindliche Aufklärung auf eine falsche Fährte zu locken. Letztere Befürchtung wurde durch den Umstand erhärtet, daß immer drei dieser Schreie gleichzeitig ertönten, woraufhin jedesmal eine kurze Pause eintrat. Das war mysteriös, höchst mysteriös. Eine Zeitlang lauschten alle wie gebannt dieser vergessenen Musik, bis sie verklungen oder aber so mit dem übrigen Geräuschteppich verschmolzen war, daß man nicht mehr darauf achtgab. Was man nicht alles hört auf so einem Pilztrip! dürften die Männer am Feuer gedacht haben. Das Gespräch kam wieder in Gang.

»Du verklebst mir alle Hirnwindungen mit deinem Geschwafel«, sagte Schurik. »Kannst du nicht klipp und klar sagen, wie man's wird?«

»Wie oft soll ich dir das denn noch erklären? Wenn's so einfach wäre, hätten sich längst alle den Spaß gemacht. Es gibt nur einen einzigen Weg: Um vierter Mann zu werden, darf man kein anderer mehr sein.«

»Keine neuen Legenden mehr?«

»Keine neuen und keine alten. Man darf keiner werden und keiner sein, verstehst du. Wenn du das hinkriegst, geht's los. Du kommst kaum dazu, boah! zu sagen, schon bist du drauf und bleibst es.«

»Boah!« sagte Kolja leise. Schurik schielte zu ihm hinüber. Wie versteinert saß er da, der Mund ein dreieckiges Loch, die Augen scheinbar nach innen gekehrt.

»Na, der dreht dir vielleicht ab«, sagte Schurik. »Gleich fliegt ihm das Blech weg.«

»Das macht nichts«, sagte Wolodin zärtlich. »Braucht doch eh keiner mehr.«

»He, das würd ich nicht sagen«, sagte Schurik. »Wenn uns erst mal das Blech wegfliegt, hältst du deins auch nicht mehr fest.«

»Wie kommst du darauf?«

»Na, was denkst du, wer dir das Blech hält? Kolja und ich, wer sonst! Stimmt's, Kolja?«

Kolja gab keine Antwort.

»He! Kolja!«

Kolja reagierte nicht. Mit steifem Rücken und starrem Blick saß er am Feuer. Der Blick ging durch Schurik und Wolodin glatt hindurch auf etwas zu, das im Nirgendwo lag. Das eigentlich Interessante aber war, daß über seinem Kopf eine senkrechte Lichtsäule stand, die bis in den Himmel hinaufging.

Anfangs erschien die Säule fadendünn; kaum aber war sie den beiden Männern aufgefallen, nahm sie an Umfang zu und wurde immer greller, ohne die Umgebung im geringsten zu erhellen. Nach kurzer Zeit war sie so dick wie Koljas Kopf, dann geriet das ganze Feuer mitsamt den vier Männern hinein, und schließlich war da nur Licht und nichts sonst.

»Holla!« kam Schuriks Stimme von allen Seiten geflogen.

Seiten waren zu diesem Zeitpunkt genaugenommen nicht mehr zu unterscheiden, Stimmen ebensowenig, sagen wir es so: Man spürte eine sich auf andere Weise artikulierende Präsenz, die erkennen ließ, daß Schurik dahintersteckte. Und dieser Äußerung entsprach sinngemäß, was das Wort »holla« aus drückt.

»Holladibolla! Wolodin, hörst du mich?«

»Ich höre«, antwortete Wolodin von überall her.

»Ist das der ewige Kick?«

»Was fragst du mich das? Sieh selber hin. Du siehst und weißt alles.«

»Ja. Aber das ganze Drumrum, was ist das? Ah ja, freilich. Wo ist denn das andere alles hin?«

»Nirgendwohin. Alles an Ort und Stelle. Mach die Augen auf!«

»Ach so. Kolja, wo bist du? Wie geht's dir?«

»Ich!« tönte es aus dem schillernden Nichts. »Ich!«

»He, Kolja! Sag was!!«

»Ich!!! Ich!!!«

»Mensch, wie sich das alles in Wirklichkeit anfühlt, was? Wer hätte das gedacht?« Schurik, erregt und glücklich, redete drauflos. »Nie hätte ich das gedacht, hörst du, Wolodin? Du mußt nichts sagen, ich versteh auch so. Wer hätte das gedacht! Gleich sag ich dir was. So was läßt sich gar nicht ausdenken! Das denkt man nicht, das denkt man nicht!«

»Ich!!!« gab Kolja von sich.

»Und siehe da, die Welt ist gar nicht so schrecklich«, fuhr Schurik fort. »Kein Stück! Ich weiß alles, ich seh alles. Ich sehe was, was du nicht siehst. Was du sehen willst, kann ich verstehen. Und wenn es … Eieiei. So was! Kolja, hörst du, den Schieler haben wir damals ganz für umsonst umgehauen! Der hat die Knete in Wirklichkeit gar nicht genommen. Das war … Ach. Das warst ja du, Kolja!«

»Ich!!! Ich!!! Ich!!! Ich!!!«

»Hör auf zu schwätzen!« mischte Wolodin sich ein. »Sonst furzt der uns noch allen ins Hemd.«

»Hat er doch schon! Der Hund!« brüllte Schurik.

»Hör auf, sag ich! Das paßt nicht hierher. Guck dich lieber selber an.«

»Wen noch mal?«

»Dich. Den, der in einem fort Stuß redet. Den guck dir an.«

»Den? Als wie mich? Ach, du liebes … Ojojoi!«

»Da siehst du mal. Die Welt ist nicht schrecklich, sagst du?«

»Ja. Ist doch wahr. O Schei… Wolodin, weißt du was? Sie ist eigentlich doch ziemlich schrecklich. Und wie! Wolodin, wo ist denn das ganze Licht hin? Wolodin? Wie schrecklich!«

»Die Welt ist gar nicht schrecklich, haha«, sagte Wolodin hob den Kopf und starrte mit geweiteten Augen ins Leere, so als gäbe es dort etwas zu sehen.

»Na gut«, sagte er mit veränderter Stimme und rüttelte die beiden anderen. »Wir verduften. Schnell!«

»Wolodin! Ich kann dich fast nicht hören«, jammerte Schurik und wiegte sich von einer Seite zur anderen. »Ganz schrecklich, Wolodin! He, Kolja! Kolja, sag was!«

»Ich. Ich. Ich.«

»He, Kolja! Kannst du mich sehen? Guck dich bloß nicht an, sonst wird's finster. Kannst du mich sehen?«

»Ich? Ich?«

»Los, in den Wald! Hurtig!« befahl Wolodin wieder und sprang auf.

»Welchen Wald? Es gibt doch gar keinen Wald.«

»Lauf nur, dann kommt der Wald von alleine. Mach hin! Du auch, Kolja, hopp, hopp! Die Karawane zieht weiter.«

»Ich? Ich? Ich?«

»Ich und du, Blindekuh. In den Wald, sag ich! Wir brennen sonst an!«


Selbst wenn man der Vermutung erlegen gewesen war, daß das Lagerfeuer, das noch vor Stunden auf dieser Wiese gebrannt hatte, ein kleiner Kosmos für sich gewesen wäre – jetzt hatte dieser Kosmos seine Existenz aufgegeben, und all die Leiden seiner Bewohner waren mit ihm erloschen. Die Wiese war dunkel, von der kalten Holzkohle ging nur noch ein schwacher Brandgeruch aus.

Im Jeep klingelte das Funktelefon, worauf ein kleines Federvieh im Gebüsch nebenan erschrocken davonraschelte. Das Telefon klingelte lange, und erst beim ungefähr zwanzigstenmal wurde seine Penetranz belohnt. Im nahen Wald knackten Äste, Schritte näherten sich rasch, ein vager Schatten wischte durch das Gras hin zum Auto, und endlich tönte eine Stimme:

»Hallo! Aktiengesellschaft Ultima Thule! Klar weiß ich das. Schon lange. Ja! Ja! Nein! Sag Serjosha Mongoli, er soll mich bloß nicht reizen. Keine Überweisungen. Cash und ohne MWS, und den Vertrag kann er sich in den Arsch … Morgen um zehn im Büro. Nein, nicht um zehn, um zwölf. Mein letztes Wort.«

Es war Wolodin. Nachdem er eingehängt hatte, klappte er den Kofferraum auf, wühlte einen Kanister hervor und schwappte etwas Flüssigkeit daraus auf die Feuerstelle. Nichts geschah – die Glut schien restlos erloschen zu sein. Wolodin rieb ein Streichholz an und warf es hin, worauf sich ein greller rotgoldner Feuerball erhob.

Wolodin stellte den Kanister zurück in den Kofferraum, suchte einige Minuten lang trockenes Geäst auf der Wiese zusammen und warf es ins Feuer, so daß es bereits wieder ordentlich brannte und Funken warf, als Schurik und Kolja aus dem Wald geschlendert kamen.

Sie kamen einer nach dem anderen. Erst Kolja, der, bevor er die Wiese betrat, seltsamerweise eine ganze Weile im Gebüsch gehockt und durch die Hände hindurch auf die Flammen gestarrt hatte. Schließlich raffte er sich auf, kam zum Feuer und ließ sich wortlos auf seinem alten Platz nieder. Zehn Minuten später folgte Schurik; eine TT mit verlängertem Schalldämpfer in der Hand, trollte er sich auf die Wiese und schob die Waffe nach einem Blick auf die beiden Männer unter seine Kaschmirjacke.

»Den Dreck steck ich mir im Leben nicht noch mal zwischen die Kiemen«, sagte er mit dumpfer Stimme, »da kannst du mir sonstwas bieten. Zwei Magazine hab ich verschossen und weiß nicht mal, auf wen.«

»Hat's dir nicht gefallen?« fragte Wolodin.

»Ach, am Anfang war's ganz nett«, entgegnete Schurik, »aber dann. Wovon haben wir vor der Explosion eigentlich geredet?«

»Was für eine Explosion?« fragte Wolodin verwundert.

»Na dieses … Wie soll man das sonst nennen?«

Schurik schaute Wolodin an, als müßte er ihm mit dem passenden Wort aushelfen, doch da kam nichts.

»Naja«, sagte Schurik, »am Anfang haben wir vom ewigen Kick gesprochen, das weiß ich noch. Dann sind wir ruck, zuck auf was andres gekommen, und plötzlich hat es einem die Augen verblitzt. Du hast noch gebrüllt, daß wir in den Wald verduften sollten. Als ich wieder zu mir kam, hab ich erst gedacht, das Auto wäre in die Luft geflogen, daß die Typen von Slav-East Oil 'ne Bombe versteckt hätten oder so. Aber dann hab ich gemerkt, das war's nicht. Gebrannt hat's, aber es roch nicht nach Benzin. Psycho.«

»Psycho«, bestätigte Wolodin. »Das kannst du laut sagen.«

»Soll das etwa dein ewiger Kick gewesen sein?« fragte Schurik.

»Davon kannst du mal ausgehen«, entgegnete Wolodin.

»Und wie kam's, daß wir ihn alle zusammen hatten?«

»Dafür kann ich nichts. Das lag an Kolja, der hat uns da reingerissen.«

Schurik sah zu Kolja hinüber. Der zuckte dümmlich mit den Achseln.

»Tja, so ist das«, sagte Wolodin, während er diverse um das Feuer verstreute Utensilien einsammelte und durch die offene Autotür ins Wageninnere warf. »Guck dir deinen Kumpel bloß mal an. Sieht aus, als könnte er kein Wässerchen trüben, und kommt dermaßen auf Tour. Selig sind die, die arm im Geist sind – scheint was dran zu sein an dem Spruch.«

»Willst du etwa schon los?« fragte Schurik.

»Höchste Zeit. Um zwölf ist Showdown mit Slav-East Oil. Bis wir dort sind und …«

»Alles in allem hab ich den totalen Filmriß«, sagte Schurik. »Nur so ein komisches Gefühl ist noch übrig. Das kenn ich überhaupt nicht von mir. Als müßte ich jetzt irgendwem was Gutes tun. Helfen und so. Oder erlösen von allem Leid. Am liebsten gleich die ganze Welt.«

Für einen Moment legte er den Kopf in den Nacken, und sein Gesicht, zum Sternenhimmel gewandt, nahm einen entrückten, verzückten Ausdruck an; er seufzte leise. Doch dann hatte er sich augenscheinlich wieder in der Gewalt, schritt zum Feuer, drehte seinen zwei Gefährten den Rücken zu, nestelte am Gürtel, und ein Schaumstrahl prasselte in die züngelnden Flammen, der sie beinahe augenblicklich zum Erlöschen brachte.


Einige Minuten später fuhr das Auto die Chaussee entlang, die eher einem in den Wald hineingetriebenen Schützengraben glich. Kolja schnarchte auf dem Rücksitz, Wolodin saß hinterm Lenkrad und starrte in die von den Scheinwerferkegeln durchschnittene Finsternis, Schurik, nervös an der Unterlippe kauend, in Gedanken versunken neben ihm.

»Hör mal, eins ist mir noch unklar«, sagte er schließlich. »Hattest du nicht gesagt, wenn man einmal drauf ist auf dem ewigen Trip, daß man dann nie wieder runterkommt?«

»Genauso ist es«, gab Wolodin zur Antwort, während er, die Stirn in Falten, das Steuer heftig herumriß. »Allerdings nur, wenn du auf normalem Weg einsteigst, durch die Tür sozusagen. Wir sind, wenn du so willst, durch den Lüftungsschacht gekrochen gekommen. Da ist die Alarmanlage angesprungen.«

»Verschärfte Alarmanlage«, sagte Schurik.

»Und ob«, sagte Wolodin. »Um ein Haar hätten sie uns am Arsch gehabt. Solche Fälle hat's gegeben. Diesem Nietzsche, von dem Kolja geredet hat, dem ist das mal passiert.«

»Und wenn sie einen kriegen, was dann?« fragte Schurik mit seltsamer Ehrfurcht im Ton.

»Rein physisch gesehen, landest du in der Klapsmühle. Aber im Kopf passieren da noch ganz andere Sachen, da blickt man nicht durch. Ziemlich rätselhaft.«

»Und du selber gehst dort einfach so ein und aus, oder was? Wie du grad lustig bist?«

»Nein. Ich … Wie soll ich das erklären. Für mich ist da kein einfaches Reinkommen. Ich hab mir zu viel geistige Werte im Leben aufgelesen. Die wieder loszuwerden ist schwieriger, als Hundescheiße aus 'ner Reliefsohle zu kratzen. Also schick ich in der Regel einen Minderbemittelten vor, daß er sozusagen durchs Schlüsselloch schlüpft und die Tür von innen aufsperrt. So wie vorhin. Wer konnte ahnen, daß man, wenn gleich zwei Schwachköpfe zusammenkommen, vor lauter Dämlichkeit anbrennen kann.«

»Was meinst du mit anbrennen?«

Wolodin antwortete nicht – er hatte mit einem besonders schwierigen Straßenabschnitt zu kämpfen. Der Wagen rüttelte heftig, einmal und noch einmal. Der Motor jaulte auf, es ging steil hinauf, dann um eine Kurve, schließlich waren sie auf Asphalt und gewannen rasch an Tempo. Ein paar alte Shiguli kamen ihnen entgegen, eine Kolonne von Militärlastern folgte. Wolodin stellte das Radio an, und bald darauf hatte die alte, vertraute und bis in alle Einzelheiten durchschaubare Welt die vier Männer im Auto wieder.

»Wie denn anbrennen?« wiederholte Schurik seine Frage.

»Laß mal«, sagte Wolodin, »das bereden wir später. Das kriegst du als Hausaufgabe auf. Wir sollten lieber überlegen, wie wir den Typen von Slav-East Oil entkommen.«

»Dann überleg mal«, sagte Schurik. »Du bist der Kopf. Wir halten dir bloß das Blech.«

Eine Weile sagte er nichts, und dann:

»Wenn ich bloß wüßte, wer dieser vierte Mann ist.«

Загрузка...