»Mutter? Howard?« Suzy McKenzie wickelte sich in den himmelblauen Frotteebademantel, den ihr Freund ihr im vergangenen Monat zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und tappte barfuß durch den Korridor. Ihre Augen waren vom Schlaf verschwollen. »Ken?« Gewöhnlich wachte sie als letzte auf. »Faule Suzy« nannte sie sich oft selbst, mit einem heimlichen, wissenden Lächeln.
Sie hatte keine Uhren in ihrem Zimmer, aber die Sonne draußen stand hoch genug, daß es zehn Uhr vorbei sein mußte. Die Schlafzimmertüren waren geschlossen. »Mutter?« Sie klopfte an die Tür des Schlafzimmers ihrer Mutter. Keine Antwort.
Sicherlich würde einer ihrer Brüder auf sein. »Kenneth? Howard?« Sie machte mitten im Korridor kehrt, daß die Holzdielen des Bodens knarrten. Dann ergriff sie die Klinke und stieß die Tür zum Zimmer ihrer Mutter auf. »Mutter?« Das Bett war ungemacht; Decke und Laken waren am Fußende verknäuelt. Alle mußten unten sein. Sie ging ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht, inspizierte die Haut ihrer Wangen nach neuen Pickeln, war erleichtert, keine zu finden, und ging die Treppe hinunter in die Diele. Sie hörte nicht ein Geräusch.
»He«, rief sie beim Betreten des Wohnzimmers, verwirrt und unglücklich. »Kein Mensch hat mich geweckt. Ich werde zu spät zu Arbeit kommen.« Seit drei Wochen arbeitete sie in einem Lebensmittelgeschäft in der Nachbarschaft. Die Arbeit machte ihr Freude — sie war viel interessanter und realer als die Arbeit im Sparsamkeitsladen der Heilsarmee —, und es half ihrer Mutter finanziell. Ihre Mutter hatte vor drei Monaten den Arbeitsplatz verloren und lebte von den unregelmäßig eintreffenden Schecks, die Suzies Vater schickte, sowie von ihren rasch zusammenschmelzenden Ersparnissen. Sie warf einen Blick zur Schiffsuhr auf dem Tisch und schüttelte den Kopf. Halb elf; sie hatte sich tatsächlich verspätet. Aber das beunruhigte sie nicht so sehr wie die Überlegung, wo die anderen alle sein mochten. Es gab manchen Streit, gewiß, aber sie waren eine Familie, die zusammenhielt — mit Ausnahme ihres Vaters, den sie kaum noch vermißte, nicht sehr, jedenfalls —, und es würden nicht einfach alle fortgehen, ohne ihr etwas zu sagen, ohne sie zu wecken.
Sie stieß die Pendeltür zur Küche auf und trat halb durch. Was sie sah, entzog sich zuerst ihrer bewußten Wahrnehmung: drei formlose Gestalten, drei Körper, einer in einem Kleid am Boden, halb gegen die Spüle gelehnt, einer in Jeans ohne Hemd auf einem Stuhl am Küchentisch, der dritte halb in der Speisekammer. Kein Durcheinander, keine Unordnung, nur drei seltsam verformte Körper, die sie nicht gleich erkannte.
Sie blieb ganz ruhig. Ihre erste Empfindung war der Wunsch, daß sie die Tür nicht gerade jetzt geöffnet hätte; vielleicht, wenn sie es etwas früher getan hätte, oder auch später, wäre alles normal gewesen. Irgendwie wäre es eine andere Tür gewesen — die Tür zu ihrer Welt —, und das Leben wäre einfach weitergegangen, lediglich mit dem kleinen Versäumnis, daß niemand sie geweckt hatte. Nun aber war sie ohne Warnung in diese unwirkliche Situation geraten, und das war nicht recht, wirklich. Sie hatte die Tür in genau dem falschen Augenblick geöffnet, und nun war es zu spät, sie einfach wieder zu schließen.
Der Körper an der Spüle trug das Kleid ihrer Mutter. Gesicht, Arme, Beine und Hände waren bedeckt mit weißlichen Schwielen. Suzy tat zwei kleine Schritte in die Küche hinein. Ihr Atem ging kurz und stoßweise. Die Türklinke entglitt ihren Fingern, die Tür klappte zu. Sie wich einen Schritt zurück, dann trat sie zur Seite, in einem kleinen unbewußten Tanz des Schreckens und der Unschlüssigkeit. Sie würde die Polizei rufen müssen, natürlich. Oder vielleicht einen Krankenwagen. Aber zuerst mußte sie herausbringen, was geschehen war, und all ihre Instinkte drängten sie, einfach aus der Küche zu laufen, aus dem Haus.
Howard, zwanzig Jahre alt, trug im Haus gewöhnlich Jeans ohne Hemd. Er ging gern mit freiem Oberkörper, um seine muskulöse Gestalt zur Schau zu stellen. Nun war sein Oberkörper von rötlichbrauner Farbe, wie der eines Indianers, und gerippt wie ein altmodisches Waschbrett. Sein Gesicht war noch kenntlich und wirkte ruhig. Augen und Mund waren geschlossen, und er atmete noch.
Kenneth — es mußte Kenneth sein, sah mehr wie ein Klumpen Teig in Kleidern aus als wie ihr ältester Bruder.
Was auch geschehen war, es war völlig unverständlich. Sie fragte sich, ob es etwas sei, wovon jeder wußte, aber vergessen hatte, ihr etwas zu sagen.
Nein, das ergab keinen Sinn. Die Menschen waren selten grausam zu ihr, und ihre Mutter und ihre Brüder niemals. Das Beste war, zur Tür hinauszulaufen und die Polizei zu rufen, oder sonst jemand; jemand, der wissen würde, was zu tun sei.
Sie überflog die Liste der Telefonnummern, die über dem alten schwarzen Telefon im Hausgang an der Wand festgemacht war, dann versuchte sie den Notruf zu wählen. Immer wieder glitt ihr Finger aus dem Loch in der Wählscheibe. Tränen standen ihr in den Augen, als es ihr endlich gelang, die drei Zahlen hintereinander zu wählen.
Das Telefon läutete mehrere Minuten lang, aber niemand meldete sich. Endlich kam eine auf Band gesprochene Durchsage: »Alle Anschlüsse sind belegt. Bitte hängen Sie nicht ein, sonst verlieren Sie Ihre Priorität.« Das Läuten ging weiter. Nach fünf Minuten legte sie schluchzend auf und wählte die Auskunft. Auch dort keine Antwort. Dann dachte sie an das Gespräch, das sie am Abend zuvor geführt hatten, über eine Art Ungeziefer in Kalifornien. Die Meldung war im Radio durchgekommen. Alle waren krank, und man hatte das Militär zum Katastropheneinsatz befohlen. Erst als ihr dies einfiel, ging Suzy McKenzie vor die Haustür und stellte sich auf die Stufen und rief um Hilfe.
Die Straße lag verlassen. Abgestellte Wagen säumten beide Seiten — unerklärlich, denn zwischen acht Uhr früh und sechs Uhr abends war Parken verboten, ausgenommen an Donnerstagen und Freitagen, und heute war Dienstag, und die Polizei achtete streng auf die Einhaltung der Bestimmungen. Niemand fuhr herum. Sie konnte niemanden in einem Wagen sitzen oder gehen oder an einem Fenster sitzen sehen. Sie lief die Straße hinauf, weinte und rief um Hilfe, zuerst bittend, dann zornig, dann in Angst und schließlich wieder flehend.
Als sie einen Postboten auf dem Gehsteig am schmiedeeisernen Zaun eines alten Backsteinhauses liegen sah, hörte sie auf zu schreien. Er lag auf den Rücken, hatte die Augen geschlossen und sah genau wie Mutter und Howard aus. Für Suzy waren Postboten geheiligte Wesen, immer verläßlich. Mit allen zehn Fingern preßte sie das Entsetzen aus ihrem Gesicht und drückte die Augen zu, ihre Gedanken zusammen. »Dieses Ungeziefer ist überallhin gekommen«, sagte sie sich. »Jemand muß wissen, was zu tun ist.« Sie ging wieder nach Hause und nahm den Telefonhörer auf. Sie begann, alle Nummern zu wählen, die sie kannte. In einigen Fällen kam sie durch und hörte das Rufzeichen; in anderen gab es nur Stille oder seltsame Computergeräusche. Niemand meldete sich, ganz gleich, welche Nummer sie wählte. Sie versuchte es noch einmal bei ihrem Freund, Cary Smyslow, und hörte das Rufzeichen, acht—, neun—, zehnmal, bevor sie auflegte. Sie wartete etwas, überlegte, und wählte dann die Nummer ihrer Tante in Vermont.
Diesmal hatte sie beim dritten Läuten Glück. »Hallo?« Die Stimme klang schwach und zittrig, aber es war unzweifelhaft ihre Tante.
»Tante Dawn, hier ist Suzy in Brooklyn. Ich bin hier in großen Schwierigkeiten…«
»Suzy?« sagte die Stimme. Es schien eine Weile zu dauern, bis der Name ihrer Tante etwas sagte.
»Ja, du weißt doch, Suzy. Suzy McKenzie.«
»Kindchen, ich höre nicht allzu gut.« Tante Dawn war einunddreißig Jahre alt, keine hinfällige alte Frau, aber sie hörte sich ganz und gar nicht gesund an.
»Mama ist krank, vielleicht ist sie tot. Ich weiß es nicht, und Kenneth und Howard, und niemand ist da, oder alle sind krank, ich weiß nicht…«
»Ich leide auch irgendwie unter dem Wetter«, sagte Tante Dawn. »Hab diese Beulen. Dein Onkel ist fort, oder vielleicht ist er draußen in der Garage. Jedenfalls ist er seit…« Sie hielt inne. »Seit gestern abend nicht ins Haus gekommen. Er ging hinaus und redete mit sich selbst. Noch nicht zurück. Kindchen…«
»Was geht vor?« fragte Suzy mit überschnappender Stimme.
»Kind, ich weiß es nicht, aber ich kann nicht mehr reden. Ich glaube, ich werde verrückt. Leb wohl, Suzy.« Und dann, so unglaublich es schien, legte sie auf. Suzy versuchte sie noch einmal zu erreichen, bekam aber keine Antwort. Und schließlich, bei ihrem dritten Versuch, nicht einmal ein Rufsignal.
Sie war im Begriff, das Telefonbuch aufzuschlagen und auf gut Glück Anrufe zu machen, besann sich aber eines Besseren und kehrte in die Küche zurück. Vielleicht konnte sie etwas tun — sie kühlhalten, oder warm, oder ihnen bringen, was an Medizin im Haus war.
Ihre Mutter sah dünner aus. Die Schwielen im Gesicht und auf den Armen schienen in sich zusammengesunken zu sein. Suzy streckte die Hand aus, das Gesicht der Mutter zu berühren, zögerte, zwang sich dann dazu. Die Haut fühlte sich warm und trocken an, nicht fiebrig, normal genug für ihr Aussehen. Ihre Mutter schlug die Augen auf.
»Ach, Mutter«, schluchzte Suzy. »Was ist geschehen?«
»Nun«, sagte ihre Mutter und befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge, »eigentlich ist es ganz schön. Dir fehlt nichts, nicht wahr? Oh, Suzy.« Und dann schloß sie die Augen und sagte nichts mehr. Suzy wandte sich zu Howard, der auf dem Stuhl saß. Sie berührte ihn am Arm und schrak zurück, als die Haut Luft abzulassen schien. Dann erst bemerkte sie das Geflecht wurzelartiger Röhren, das aus seinen Jeans kam und in dem Spalt zwischen Küchenwand und Boden verschwand.
Weitere Wurzeln erstreckten sich von Kenneths teigfarbenen Armen in die Speisekammer. Und hinter ihrer Mutter, unter dem Rocksaum herauswachsend und in den Schrank unter der Spüle reichend, war ein einziges dickes Rohr aus bleichem Fleisch. Suzy dachte im ersten Augenblick an Horrorfilme und Make-up, und daß sie vielleicht einen Film drehten und ihr nichts gesagt hatten. Sie beugte sich näher und spähte hinter ihre Mutter. Sie war keine Expertin, aber das Rohr aus Fleisch war nicht Make-up. Sie konnte Blut darin pulsieren sehen.
Langsam stieg Suzy wieder die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie setzte sich aufs Bett, knüpfte ihr langes blondes Haar zu einem Zopf und löste ihn wieder auf, dann legte sie sich hin und blickte zu dem sehr alten silbrigen Linoleum an der Decke auf. »Lieber Gott, bitte komm und hilf mir, denn ich brauche dich jetzt«, betete sie. »Lieber Gott, bitte komm und hilf mir, denn ich brauche dich jetzt!«
Und so weiter, bis in den Nachmittag hinein, als der Durst sie ins Badezimmer trieb, etwas zu trinken. Während sie das Wasser schluckte, wiederholte sie ihr Gebet, bis die Einförmigkeit und Vergeblichkeit sie schließlich verstummen ließen. Sie stand am Treppengeländer, noch immer in ihrem himmelblauen Bademantel und begann, Pläne zu schmieden. Sie war nicht krank — noch nicht —, und sie war ganz gewiß nicht tot.
Also mußte etwas geschehen, mußte sie etwas unternehmen.
Und doch hoffte sie im Hintergrund ihres Bewußtseins, daß sie vielleicht durch die Art und Weise, wie sie eine Tür öffnete oder einem besonderen Pfad durch die Straßen folgte, dem Weg zurück in die vertraute alte Welt finden könne. Sie dachte nicht, daß es wahrscheinlich sei, aber alles, was sie versuchte, war der Mühe wert.
Es galt harte Entscheidungen zu treffen. Was nützte ihr alle Ausbildung, wenn sie nicht selbständig denken und notwendige Entschlüsse fassen konnte? Sie wollte nicht mehr in die Küche, wenn es sich vermeiden ließ, aber dort waren Lebensmittel. Sie konnte versuchen, in andere Häuser einzudringen, oder sogar in den Lebensmittelladen am Ende des Blocks, doch befürchtete sie, daß dort andere Körper liegen würden.
Diese Körper — lebendig oder tot — waren wenigstens ihre Verwandten.
Mit hoch erhobenem Kopf betrat sie die Küche. Allmählich, als sie von der Anrichte zum Küchenschrank und dann zum Kühlschrank ging, senkte sie den Blick. Die Körper waren noch weiter in sich zusammengesunken. Kenneth war nicht viel mehr als ein von weißlichen Fäden wie mit einem Geflecht überzogener Flecken in zerknitterten Kleidern. Die fleischigen Wurzeln hatten die Wasserleitung gesucht, waren direkt zum Spülbecken hinaufgeklettert und von dort sowohl in den Wasserhahn als auch in den Abfluß hinab. Jeden Augenblick rechnete sie, daß etwas sich ausstrecken und nach ihr greifen würde — oder daß Howard oder ihre Mutter zu schwankenden Schreckensgestalten würden —, und sie biß die Zähne zusammen, bis ihre Backenmuskeln schmerzten, aber keiner von ihnen regte sich. Sie sahen nicht mehr so aus, als könnten sie sich bewegen.
Sie verließ die Küche mit einem Karton voller Konserven, die sie in den nächsten Tagen zu benötigen glaubte — und dem Dosenöffner, den sie beinahe vergessen hätte.
Es dämmerte bereits, als ihr einfiel, das Radio einzuschalten. Sie hatten keinen Fernseher mehr, seit der letzte defekt geworden war; sein Gehäuse stand im Hausgang unter der Treppe und setzte hinter Schachteln mit alten Zeitschriften Staub an. Sie zog das tragbare Transistorgerät hervor, das ihre Mutter für Notfälle bereithielt, und suchte methodisch die Skalen ab. In der Theatergruppe der Schule hatte sie einmal einen Funkamateur gespielt, aber natürlich konnte das Transistorgerät nicht senden.
Auf Mittelwelle und Ultrakurzwelle spielte nicht ein einziger Sender. Auf der Kurzwelle empfing sie verschiedene Stationen, einige sogar sehr klar, aber es waren keine englischsprachigen Sender darunter.
Im Zimmer wurde es rasch dunkel. Sie stand Qualen der Ungewißheit aus, bevor sie versuchte, die Lampen einzuschalten. Würde es immer noch Licht geben, wenn alle krank waren?
Als die Schatten das Wohnzimmer gefüllt hatten und dem Dilemma nicht länger auszuweichen war — entweder mußte sie im Dunkeln sitzen oder feststellen, ob sie im Dunkeln würde sitzen müssen —, streckte sie die Hand zur Stehlampe neben der Couch aus und betätigte rasch den Schalter.
Das Licht ging an, kräftig und gleichmäßig.
Damit brach ein sehr schwacher Damm in ihr, und sie überließ sich der Trauer. Auf der Couch sitzend, schaukelte sie mit gekreuzten Beinen vor und zurück und weinte herzzerreißend, bis ihr Gesicht tränenüberströmt und die Augen rot und geschwollen waren. Ihre Hände flochten das Haar zum Zopf und lösten ihn wieder auf und wischten damit die Augen, und zuletzt hing es in feuchten Strähnen. Der Lampenschein warf einen goldenen Halbmond auf ihr Gesicht, und sie saß und weinte, bis die Kehle schmerzte und sie die Augen kaum offenhalten konnte.
Ohne zu essen, ging sie hinauf, schaltete alle Lampen ein — jeder ruhige Lichtschein ein Wunder — und kroch in ihr Bett, wo sie nicht schlafen konnte, weil sie sich einbildete, sie höre jemand die Treppe heraufkommen oder den Korridor entlang zu ihrer Tür gehen.
Die Nacht währte eine Ewigkeit, und in dieser Zeit wurde Suzy ein wenig reifer, oder ein bißchen verrückter, sie wußte nicht, was. Manche Dinge waren nicht mehr wichtig. So war sie beispielsweise durchaus bereit, ihr früheres Leben zurückzulassen und eine neue Art Leben zu suchen. Sie machte dieses Zugeständnis in der Hoffnung, daß derjenige, wer immer er war, der die Aufsicht führte, einfach erlauben würde, daß die Lichter weiterbrannten.
Gegen Morgen war sie ein körperliches Wrack — erschöpft und hungrig, aber unwillig zu essen, der ganze Körper angespannt und ausgelaugt von Furcht, Schrecken und Wachsamkeit. Sie trank wieder vom Wasserhahn im Badezimmer… und dachte plötzlich an die Wurzeln, die in die Wasserleitung führten. Würgend und spuckend setzte sie sich auf die Toilette und sah das Wasser rein und klar aus dem Hahn strömen. Endlich zwang der Durst sie, die Gelegenheit wahrzunehmen und mehr zu trinken, aber sie gelobte, einen Vorrat von Mineralwasser in Flaschen anzulegen.
Im Wohnzimmer bereitete sie eine kalte Mahlzeit aus grünen Bohnen und Corned Beef und war hungrig genug, hinterher noch eine Dose Pflaumenkompott zu essen. Die Dosen standen in einer Reihe auf dem abgenutzten Kaffeetisch. Sie trank den Rest vom süßen Pflaumensirup und fand, daß nichts ihr jemals so gut geschmeckt habe.
Darauf kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück und legte sich nieder, und diesmal schlief sie fünf Stunden, bis sie von einem Geräusch geweckt wurde. Irgendwo im Haus war etwas Schweres gefallen. Vorsichtig schlich sie die Treppe hinunter und spähte in Hausgang und Wohnzimmer umher.
»Nicht die Küche«, murmelte sie und wußte doch instinktiv, daß das Geräusch von dort gekommen war. Zögernd öffnete sie die Pendeltür. Ihrer Mutter Kleider — aber nicht ihre Mutter — lagen in einem Häuflein vor der Spüle. Suzy trat ein und schaute zu der Stelle, wo Kenneth gelegen hatte. Kleider, aber sonst nichts. Sie wandte sich schnell um.
Howards Jeans hingen vom Sitz des Hockers, der umgefallen war. Ein glänzendes blaßbraunes Laken hing von der Wand, bedeckte sie beinahe zur Gänze, war sauber in die Winkel eingefügt und zeigte eine kleine Ausbauchung, wo es einen gerahmten Druck bedeckte.
Sie nahm den Mop aus dem anderen Winkel hinter dem Kühlschrank und trat vor, den Stiel auf das Laken gerichtet. Ich bin unglaublich mutig, dachte sie bei sich. Zuerst stieß sie das Laken behutsam an, dann stieß sie den Besenstiel durch gegen die Wand. Das Laken zitterte, zeigte aber keine weitere Reaktion. »Ihr!« schrie sie und schwang den Besenstiel hin und her, zerfetzte das Laken in immer neuem Zustoßen von einer Ecke zu anderen. »Ihr!«
Als der größte Teil der Fetzen zu Boden gefallen und die Wand mit den Einkerbungen ihrer Stöße bedeckt war, ließ sie den Mop fallen und floh rasch aus der Küche.
Es war ein Uhr mittags, sagte die Schiffsuhr. Suzy kam wieder zu Atem, dann ging sie durch das Haus und schaltete die Lampen aus. Die wundersame Energie mochte länger währen, wenn sie sie nicht gleich aufbrauchte.
Sie zog ein Adressenverzeichnis unter dem Telefon im Hausgang hervor und legte eine Liste ihrer Vorräte und der Dinge an, die sie benötigen würde. Sie hatte noch mindestens fünf Stunden Tageslicht vor sich, oder jedenfalls Licht genug, um etwas zu sehen. Sie zog den Mantel über und ließ die äußere Tür zum Windfang hinter sich offen.
Unten auf der Straße, die gesäumt war von denselben abgestellten Wagen, zur Ecke, zum Lebensmittelgeschäft, ohne Geldbörse oder Geld, den Mantel über dem Pyjama und dem himmelblauen Bademantel; hinaus in die kopfstehende Welt, um zu sehen, was es zu sehen gab. Sie verspürte sogar eine unbestimmte Heiterkeit. Der Wind blies herbstlich kühl, und ein paar Blätter von den in Abständen die Straße begleitenden Bäumen raschelten über das Pflaster. Ranken von wildem Wein und Geißblatt schlangen sich durch die alten schmiedeeisernen Gartenzäune zwischen den Eingangsstufen, und auf den Simsen vor den Fenstern des ersten Stocks standen Blumentöpfe.
Mithridates’ Lebensmittelgeschäft war geschlossen, das Eisengitter vor dem Eingang zugesperrt. Sie spähte hindurch und überlegte, ob es einen anderen Weg hinein gäbe, und dachte an den Lieferanteneingang auf der anderen Seite. Dort stand die Tür angelehnt, ein schweres Ding aus schwarz lackiertem Metall, das sie nur unter Aufbietung aller Kräfte weiter aufstoßen konnte. Sie fühlte, wie die Tür gegen ein Hindernis stieß und ließ sie los und beobachtete sie einen Augenblick lang, um sich zu vergewissern, daß sie offen bleiben würde. Im Korridor stieg sie über einen weiteren Haufen Kleider, zu denen auch die Schürze des Krämers gehörte, und betrat das verlassene Geschäft durch die doppelte Pendeltür auf der rückwärtigen Seite.
Sie ging nach vorn und zog einen der Einkaufswagen heraus. An seinem Boden haftete noch ein sehr altes Salatblatt mit einem Kassenzettel. Sie rollte den holpernden Wagen durch die Gassen und nahm aus den Regalen, was sie für eine vernünftige Zusammenstellung von Lebensmitteln hielt. Ihre üblichen Eßgewohnheiten waren nicht die besten. Trotzdem hatte sie eine bessere Figur als die meisten der Diät- und Gesundheitskost-Fanatikerinnen, die sie kannte — ein Umstand, auf den sie nicht wenig stolz war.
Dosenschinken, Rindfleisch in Dosen, Hühnchen, Frischgemüse und Obst (die bald knapp sein würden, dachte sie), Obstkonserven, einen Kasten Mineralwasser, den sie auf das Untergestell des Wagens stellen konnte, Brot und ein paar etwas weiche Frühstückssemmeln, vier Literpackungen Milch aus dem noch gekühlten Fach für Milchprodukte. Eine Flasche Aspirin und etwas Shampoo, obwohl sie sich fragte, wie lange noch Wasser aus der Dusche kommen würde. Eine große Packung Vitaminbonbons. Sie versuchte, in den Drogerieregalen etwas zu finden, das abwehren könnte, was ihrer Familie geschehen war — und dem Postboten und dem Krämer und vielleicht allen anderen. Aufmerksam las sie die Aufschriften an Flaschen und Schachteln, aber nichts schien geeignet.
Dann schob sie den beladenen Wagen zur Registrierkasse, zwinkerte die verschlossene Tür jenseits davon an und drehte um. Nichts zu bezahlen. Sie hatte ohnehin kein Geld mitgebracht. Sie war auf halbem Weg zum rückwärtigen Ausgang, als ihr noch ein Gedanke in den Sinn kam, und sie ging zurück zur Registrierkasse.
Wo Gerüchte gesagt hatten, daß sie sein würde, nämlich auf einem Regal über dem Fach für Plastiktüten, lag ein großer und schwerer schwarzer Revolver mit einem langen Lauf. Sie fummelte damit herum, wobei sie achtgab, daß sie nicht auf sich selbst zielte, bis sie entdeckte, wie man die Trommel herausrollte. Die Waffe war mit sechs großen Patronen geladen.
Suzy hatte eine Abneigung gegen den Revolver. Ihr Vater besaß Schußwaffen, und anläßlich der wenigen Besuche, die sie bei ihm gemacht hatte, hatte er sie immer ermahnt, die Finger davon zu lassen. Aber Schußwaffen waren zum Schutz, nicht zum Spielen, und sie wollte nicht damit spielen, das war gewiß. Wie auch immer, sie bezweifelte, daß es etwas gab, was sie damit erschießen könnte.
»Man kann nie wissen«, sagte sie sich, steckte den Revolver in eine braune Papiertüte und legte sie in den Korb des Einkaufswagens, den sie zum rückwärtigen Eingang hinausrollte, über die leeren Kleider des Krämers hinweg und auf die Straße.
Sie verstaute die Lebensmittel im Hausgang und überlegte, ob sie die Milchpackungen in den Kühlschrank stellen sollte. »Wenn ich es nicht tue, werden sie nicht lange halten«, sagte sie sich in einem sehr praktischen Ton. »O Gott«, murmelte sie dann, und ein heftiges Schaudern überlief sie. Wenn sie die Augen schloß, sah sie jede Küche in jeder Wohnung in Brooklyn, gefüllt mit leeren Kleidern oder in Auflösung befindlichen Körpern mit röhrenartigen Auswüchsen hierhin und dorthin. Sie lehnte sich gegen das Treppengeländer und ließ den Kopf auf die Arme sinken. »Suzy, Suzy«, flüsterte sie. Dann holte sie tief Atem, richtete sich auf und nahm die Milchpackungen an sich. »Also los!« sagte sie mit erzwungener Munterkeit.
Das braune Laken war verschwunden, und nur die Dellen in der Wand kündeten von ihrem mutigen Kampf mit dem Besenstiel. Sie öffnete den Kühlschrank und legte die Milchpackungen in das untere Regal, dann schaute sie nach, was an Vorräten zum Mittagessen vorhanden war.
Die herumliegenden Kleider störten sie. Sie nahm den Besen und stieß das Kleid ihrer Mutter an, um zu sehen, ob unter den Falten etwas verborgen sei; — nichts. Mit Daumen und Zeigefinger hob sie das Kleid hoch. Der Schlüpfer fiel heraus, und unter seinem Rand schaute ein Tampon hervor, weiß und frisch. Beim Kragen des Kleides glänzte etwas am Boden, und sie bückte sich, um genauer hinzusehen. Kleine Klumpen von grauem und goldenem Metall, unregelmäßig geformt.
Die Antwort kam ihr allzu schnell in den Sinn, ausgedacht mit einer panikartigen Geistesgegenwart, die sie nicht gewohnt war.
Füllungen, Zahnfüllungen und Goldkronen.
Sie hob die Kleider auf und steckte sie alle in den Kasten für schmutzige Wäsche. Das wär’s also, dachte sie. Lebt wohl, Mutter und Kenneth und Howard!
Dann fegte sie den Boden, nahm die Füllungen und den Staub (keine toten Kakerlaken, was ungewöhnlich war) mit der Kehrschaufel auf und beförderte alles in den Abfalleimer neben dem Kühlschrank.
»Ich bin die einzige«, sagte sie, als sie fertig war. »Ich bin die einzige, die in Brooklyn übriggeblieben ist. Ich bin nicht krank geworden.« Sie stand am Tisch, einen Apfel in der Hand, und kaute gedankenvoll. »Warum?« fragte sie.
»Weil«, antwortete sie und wirbelte herum, daß kein verwunschener Winkel in der Küche ihrem Blick entgehen konnte, »weil ich so schön bin, und der Teufel mich zu seiner Frau machen möchte.«
»In den vergangenen vier Tagen«, sagte Paulsen-Fuchs, »sind die meisten Verbindungen mit dem nordamerikanischen Kontinent unterbrochen worden. Die Etiologie der Krankheit ist nicht genau bekannt, aber sie scheint jeden Vektor zu passieren, der den Epidemiologen bekannt ist, geht aber darüber hinaus. Mr. Bernards Unterlagen lassen erkennen, daß die Erreger oder Komponenten der Krankheit selbst intelligent und gelenkter Aktion fähig sind.«
Die Besucher im Vorführraum — Vorstandsmitglieder der Pharmek und Abgesandte von vier europäischen Ländern — saßen mit undurchdringlichen Mienen auf ihren Klappstühlen. Paulsen-Fuchs stand mit dem Rücken zum Fenster, den Delegierten Frankreichs und Dänemarks gegenüber. Er wandte sich um und zeigte zu Bernard, der in seiner Isolierkammer am Schreibtisch saß und mit einer Hand, die von weißlichen Schwielen gezeichnet war, auf die Tischplatte klopfte.
»Mr. Bernard ist unter Inkaufnahme großer Risiken und nicht ohne Tollkühnheit nach Europa gekommen, um sich als Versuchsperson für unsere Experimente zur Verfügung zu stellen. Wie Sie sehen können, sind wir hier gut ausgerüstet, um Mr. Bernard sicher in Quarantäne zu halten, und es besteht keine Notwendigkeit, ihn zu einem anderen Laboratorium oder Krankenhaus zu verlegen. Solch ein Transport könnte tatsächlich sehr gefährlich sein. Wir sind jedoch durchaus bereit, Anregungen zur wissenschaftlichen Verfahrensweise anzunehmen und zu befolgen.
Offen gesagt, wissen wir noch nicht, welche Art von Experimenten wir durchführen sollen. Gewebeproben von Mr. Bernard lassen erkennen, daß die Krankheit — wenn wir das Phänomen so nennen wollen — sich rasch durch seinen Körper ausbreitet, die Funktionen jedoch in keiner Weise beeinträchtigt. Tatsächlich behauptete er, daß er sich mit Ausnahme gewisser Symptome, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, niemals in seinem Leben besser gefühlt habe. Und es hat den Anschein, daß seine Anatomie von Grund auf verändert wird.«
»Warum ist Mr. Bernard nicht vollständig umgewandelt worden?« fragte der Vertreter Dänemarks, ein jugendlich aussehender, dicklicher Mann in einem schwarzen Anzug, dessen Haar wie kurzgeschnittenes Fell aussah. »Unsere wenigen Informationen aus den Vereinigten Staaten zeigen, daß Transformation und Auflösung innerhalb einer Woche nach Infektion stattfinden.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Bernard, dessen Stimme durch Lautsprecher übertragen wurde. »Meine Lebensumstände unterscheiden sich von jenen der Opfer in einer natürlichen Umgebung. Vielleicht ist den Organismen in meinem Körper bewußt, daß es ihnen nicht guttun würde, die Umwandlung zu vollenden.«
Die Bestürzung in ihren Gesichtern zeigte, daß sie das Konzept der Noozyten noch nicht gewohnt waren. Oder vielleicht glaubten sie einfach nicht daran.
Paulsen-Fuchs setzte die Diskussion fort, aber Bernard schloß die Augen und versuchte, die Besucher auszuschließen. Es war schlimmer, als er sich vorgestellt hatte; in nur vier Tagen war er — sehr höflich, und mit großer Fürsorglichkeit — vierzehn solcher Zusammenkünfte ausgesetzt worden, hatte eine Serie von Versuchen über sich ergehen lassen, die auf indirektem Wege vorgenommen worden waren, hatte Fragen nach beinahe jedem Aspekt seines Lebens, seiner Vergangenheit, Gegenwart, seiner privaten und öffentlichen Funktionen beantwortet. Er war der Mittelpunkt einer sekundären Schockwelle, die um die Welt ging — die Welle der Reaktion auf das Geschehen in Nordamerika.
Er war eben noch rechtzeitig herausgekommen. Die Etiologie der Seuche hatte sich drastisch verändert und folgte nun mehreren Mustern, oder vielleicht überhaupt keinem Muster; es war denkbar, daß die Organismen auf ihre jeweilige Umgebung reagierten und ihre Methoden dementsprechend veränderten. So waren die großen Städte beinahe sofort zum Schweigen gebracht worden; die meisten oder alle ihrer Bewohner wurden innerhalb von achtundvierzig Stunden infiziert und umgewandelt. Abgelegenere Kleinstädte und ländliche Gegenden waren weniger rasch betroffen worden, vielleicht wegen des Fehlens einer gemeinsamen Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung. Die Ausbreitung der Seuche auch auf diese Gebiete schien durch Säugetiere, Vögel und Insekten ebenso zu erfolgen wie durch unmittelbare menschliche Kontakte.
Infrarotaufnahmen, die von Landsat- und Spionagesatelliten aufgenommen, verarbeitet und in anderen Ländern ausgewertet wurden, zeigten bedeutsame Veränderungen selbst in den Wäldern und Wasserwegen Nordamerikas.
Schon hatte er das Gefühl, daß Michael Bernard nicht mehr existiere. Er war von etwas Größerem und weitaus Eindrucksvollerem verschluckt worden, und nun war er in einem Museum ausgestellt, etikettiert und, seltsam genug, in der Lage, Antworten zu geben. Exneurochirurg, männlich, einst wohlbekannt und wohlhabend, in letzter Zeit nicht sehr aktiv…
Es schien durchaus möglich, daß Michael Bernard seit sechs Jahren nicht mehr existiert hatte, irgendwann verschwunden war, nachdem er das letzte Mal ein Skalpell angesetzt, einen Schädel angebohrt hatte.
Er öffnete die Augen und sah die Männer und eine Frau im benachbarten Raum.
»Dr. Bernard…« Die Frau versuchte seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, offenbar zum dritten oder vierten Mal.
»Ja?«
»Trifft es zu, daß Sie zumindest teilweise mitschuldig an dieser Katastrophe sind?«
»Nein, nicht unmittelbar.«
»Und mittelbar?«
»Ich konnte die Konsequenzen, die sich aus den Handlungen anderer Menschen ergaben, unmöglich voraussehen. Ich bin kein Hellseher.«
Die Frau errötete. »Ich habe — oder hatte — eine Tochter und eine Schwester in den Vereinigten Staaten. Ich komme aus Frankreich, ja, aber ich bin in Kalifornien geboren. Was ist mit ihnen geschehen? Wissen Sie es denn?«
»Nein, Madame, ich weiß es nicht.«
Die Frau verlor die Fassung, wehrte Paulsen-Fuchs’ Beschwichtigungsversuch ab und rief mit schriller Stimme: »Wird es niemals enden? Katastrophen und Tod, Wissenschaftler dafür verantwortlich, ja, Sie alle sind verantwortlich! Wird es…« Und sie wurde hinausgeführt. Paulsen-Fuchs hob resignierend die Hände und schüttelte den Kopf. Das Zimmer leerte sich rasch, und Bernard blieb hinter der Panzerglasscheibe allein zurück.
Und da er niemand war, bedeutete es, daß, wenn er allein war, es in der Kammer überhaupt nichts gab.
Nichts als die Mikroben, die Noozyten mit ihrem unglaublichen Potential, die sich Zeit ließen…
Die warteten, um mehr aus ihm zu machen, als er je gewesen war.
Am vierten Tag gingen die Lichter aus — am Morgen, kurz nachdem sie erwachte. Sie zog ihre Modelljeans an, ihren besten Büstenhalter und einen Pullover, nahm die Windjacke aus dem Schrank hinter der Treppe, und trat hinaus ins Tageslicht. Nicht mehr gesegnet, dachte sie. Nicht mehr begehrenswert für den Teufel oder sonstwen. »Mit meinem Glück geht’s zu Ende«, sagte sie laut.
Aber sie hatte Nahrung, und das Wasser lief noch immer. Sie überdachte ihre Lage und kam zu dem Schluß, daß sie nicht allzu schlecht dran sei. »Entschuldige, lieber Gott«, sagte sie und blinzelte zum Himmel auf.
Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren vollständig verhängt mit braun und weiß gefleckten Laken, die wie Haut oder Leder in der Sonne glänzten. Die Bäume und Eisengeländer waren mit Fetzen vom gleichen Zeug behangen. Auch auf ihrer Seite waren die Laken drauf und dran, die Häuser zu überwachsen.
Es war Zeit, fortzugehen. Sie würde nicht mehr lange verschont bleiben.
Sie packte Lebensmittel in Kartons und stapelte diese im Einkaufswagen. Auch das Gas war noch an; mit den letzten Eiern und Speckstreifen briet sie sich ein feines Frühstück, toastete Brot über der Gasflamme, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte, bestrich es mit dem Rest Butter und legte dick Marmelade auf. Davon aß sie vier Schnitten, dann ging sie die Treppe hinauf und packte eine kleine Reisetasche. Unbeschwert reisen, dachte sie. Dicke Winterjacke und warme Sachen, Revolver, Stiefel. Wollsocken aus den Schubladen ihrer Brüder. Handschuhe. Grenzlandzeit. Pionierzeit.
»Vielleicht bin ich die letzte Frau auf Erden«, überlegte sie. »Ich muß praktisch denken.«
Der letzte Gegenstand, der in den am Fuß der Stufen auf dem Gehsteig wartenden Einkaufswagen kam, war das Transistorradio. Sie spielte es jeden Abend nur ein paar Minuten lang, und sie hatte bei Mithridates eine Schachtel Batterien mitgehen lassen. Das sollte für einige Zeit reichen.
Aus dem Radio hatte sie erfahren, daß die Leute sehr besorgt waren, nicht bloß wegen Brooklyn, sondern wegen der gesamten Vereinigten Staaten, bis zu den Grenzen, auch wegen Mexiko und Kanada. Kurzwellensendungen aus England verbreiteten sich über die Stille, die »Seuche«, über Flugreisende in Quarantäne, und über U-Boote und Flugzeuge, die die Küsten überwachten. Bisher sei noch kein Flugzeug in das Innere Nordamerikas vorgedrungen, sagte ein sehr distinguiert klingender britischer Kommentator, aber Satellitenaufnahmen, so hieß es, zeigten eine gelähmte, vielleicht tote Nation.
Ich nicht, dachte Suzy. Gelähmt bedeutet ohne Bewegung. »Ich werde mich bewegen. Kommt nur mit euren U-Booten und Flugzeugen und schaut mich an! Ich werde mich bewegen.«
Am Spätnachmittag schob sie den Einkaufswagen durch die Straßen. Nebel verhüllte die fernen Türme Manhattans und ließ nur die blasse Silhouette des World Trade Centers über weißlich graue Undurchsichtigkeit aufragen. Sie hatte noch nie so dichten Nebel auf dem East River gesehen.
Als sie über die Schulter zurückblickte, sah sie große braune und gelbliche Fetzen wie Segel oder Drachen im Wind über der Cadman Plaza schweben. Die Williamsburgh-Sparkasse war in ihrer ganzen Höhe von hundertfünfzig Metern in braune Laken eingehüllt, wie ein Wolkenkratzer, der als Paket verschickt werden soll. Sie hielt auf die Brückenrampe zu, als ihr der Gedanke kam, wie sehr sie einer der mit Plastikbeuteln behangenen obdachlosen Frauen ähneln mußte.
Sie hatte immer befürchtet, einmal obdachlos zu werden. Sie wußte, daß Leute mit Problemen wie den ihren bisweilen kein Dach über dem Kopf finden konnten und auf den Straßen lebten.
Jetzt fürchtete sie das nicht mehr. Alles war anders. Und der Gedanke weckte ihren Sinn für Humor. Eine Obdachlose in einer mit braunem Packpapier bedeckten Stadt. Es war sehr lustig, aber sie war zu müde, um darüber zu lachen.
Jede Art von Gesellschaft wäre ihr willkommen gewesen — Obdachlose, Katzen, Vögel. Aber außer den braunen Laken, die im Wind wehten, bewegte sich nichts.
Sie schob den Einkaufswagen die Flatbush Avenue hinauf, rastete auf der Bank einer Bushaltestelle, stand auf und ging weiter. Sie zog Kenneths dicke Jacke aus der Reisetasche und zog sie über; es wurde Abend, und die Lufttemperatur sank rasch. »Ich werde jetzt singen«, sagte sie sich. Ihr Kopf war voll von Rhythmen und Rockmusik, doch konnte sie keine Melodie finden. Sie zog den Einkaufswagen Stufe für Stufe zum Fußgängerweg der Brücke hinauf, wobei der Wagen schwankte und sein Unterbau über die Stufenkanten scharrte, und bei aller Anstrengung kam ihr plötzlich eine Melodie in den Sinn, und sie fing an, die Beatles-Nummer »Michelle« zu summen, eine Aufnahme aus einer Zeit, als sie noch nicht geboren war. »Michelle, ma belle«, war der einzige Teil des Textes, an den sie sich erinnerte, und den sang sie schnaufend zwischen angestrengtem Ein- und Ausatmen.
Nebel verhüllte den East River und ergoß sich über die Schnellstraße. Die Brücke erhob sich über den Nebel, eine Straße über den Wolken. Mutterseelenallein schob Suzy ihren Einkaufswagen den mittleren Gehweg entlang, hörte den Wind und ein unheimliches, tiefes Summen, das von den vibrierenden Trägerkabeln der Brücke herrühren mußte.
Da es keinen Verkehr auf der Brücke gab, hörte sie alle Arten von Geräuschen, die sie nie zuvor gehört hatte; metallisches Seufzen, leise und unterdrückt, aber sehr eindrucksvoll; das dumpfe Summen der armdicken Kabel; den fernen Gesang des Flusses; die tiefe Stille jenseits davon. Keine Schiffssirenen, keine Fahrzeuge, kein U-Bahn-Gerumpel. Keine plappernden, drängenden Menschen. Sie hätte geradesogut mitten in einer Wildnis sein können.
»Ein Pionier«, ermahnte sie sich. Dunkelheit lag überall, nur über New Jersey machte die Sonne mit einem Streifen gelblichgrünen Lichtes ihr endgültiges Testament. Der Gehweg über die Brücke war stockfinster. Sie blieb stehen und kauerte neben dem Einkaufswagen, wickelte Jacke und Mantel fester um sich, zog Stiefel und Wollsocken an. Mehrere Stunden saß sie in dumpfer Erstarrung neben dem Einkaufswagen, einen Fuß zwischen Chassis und Rad geklemmt, um ihn am Davonrollen zu hindern.
Die Geräusche des Flusses und der Brücke veränderten sich. Ihr Nackenhaar prickelte, obwohl sie keinen wirklichen Grund hatte, erschreckt zu sein. Dennoch glaubte sie zu spüren, daß etwas vorging, etwas Unbekanntes. Über ihr schimmerten die Sterne still und klar, und die Milchstraße leuchtete herab, völlig unbeeinträchtigt von verschmutzter Luft und all den Lichtern der Stadt.
Sie stand auf und reckte gähnend die Arme. Zu einem Gefühl von Furcht und Verlassenheit gesellte sich eine eigentümliche Hochstimmung. Sie überkletterte die Absperrung des Fußweges zur Gegenfahrbahn und ging zum Rand der Brücke. Dort umfaßte sie das Geländer mit behandschuhten, vor Kälte tauben Fingern und blickte über den East River zur South Street, dann ließ sie den Blick hinüber zu den Umrissen der Fährstationen schweifen.
Es war noch lange nicht Morgen, aber vom Fluß schien ein grüner und bläulicher Schimmer auszugehen, und wenn sie hinabschaute, war das Wasser voll von Augen und Feuerrädern und langsamen, gemessenen Ausbrüchen wie von unterseeischem Feuerwerk, alles funkelnd und schimmernd vor einem kobaltblauen Leuchten. Es war, als schaute sie auf ungezählte nächtliche Städte hinab, alle ineinander verschlungen und umeinander wirbelnd.
Der Fluß war lebendig, von Ufer zu Ufer und weiter als Governors Island, wo die Obere Bucht zu einer Art Milchstraße wurde. Der Fluß glomm und schimmerte, und jeder seiner Bestandteile hatte einen Sinn und einen Zweck; Suzy spürte es.
Sie erkannte, daß sie wie eine Ameise auf den Straßen einer großen Stadt war. Sie war die Verständnislose, die Begrenzte, die Vergängliche und Zerbrechliche. Der Fluß war unendlich vielfältiger und schöner als die abendliche Silhouette Manhattans.
»Ich werde das nie verstehen«, sagte sie, riß den Blick vom Wasser los, schüttelte den Kopf und schaute zu den dunklen Wolkenkratzern auf.
Einer von ihnen war nicht völlig dunkel. In den obersten Geschossen vom Südturm des World Trade Centers flackerte grünlicher Lichtschein. »He«, sagte sie bei sich. Dieser Lichtschein verwunderte sie mehr als alles andere. Sie stieß sich vom Geländer ab und kehrte zu ihrem Einkaufswagen auf dem Fußgängerüberweg zurück. Alles sehr schön, dachte sie, aber wichtiger war es, nicht zu erfrieren und in Bewegung zu bleiben, bis der Morgen käme und es hell genug wäre, bei Tageslicht zu sehen.
»Ich werde nachsehen, was in dem Gebäude ist«, sagte sie. »Vielleicht ist es jemand wie ich, jemand, der klüger ist und sich mit Elektrizität auskennt. Morgen früh werde ich hingehen und nachsehen.«
Kurz darauf stieß sie auf den dunklen Umriß eines Zeltes, das Straßenarbeiter bei Reparaturarbeiten im Kabelschacht unter dem Fußweg aufgestellt haben mußten. Dankbar kroch sie hinein, zog den Einkaufswagen zum Eingang und kauerte im Windschutz nieder, den Tag abzuwarten. Schlafend oder wachend, fröstelnd oder still, sie bildete sich ein, sie könne etwas vernehmen, was jenseits des Hörens lag: den Ton der Veränderung, der Seuche und des Flusses und der wehenden Laken, wie ein großer Kirchenchor, dessen Mitglieder die Münder weit aufgesperrt hatten und Stille sangen.
Paulsen-Fuchs zog einen Stuhl zum Zwischenfenster des Beobachtungsraumes und setzte sich. Bernard beobachtete ihn schläfrig vom Bett aus. »So früh am Morgen«, sagte er.
»Es ist Nachmittag. Ihr Zeitgefühl läßt nach.«
»Ich bin in einer Höhle, oder könnte es geradesogut sein. Keine Besucher heute?«
Paulsen-Fuchs schüttelte den Kopf, gab aber keine Erklärung.
»Neuigkeiten?«
»Die Russen sind aus den Vereinten Nationen ausgetreten. Offenbar sehen sie keinen Vorteil in einer solchen Organisation, wenn sie die einzige nukleare Supermacht auf Erden sind. Aber vor ihrem Austritt beantragten sie im Sicherheitsrat eine Erklärung, daß die Vereinigten Staaten eine Nation ohne Führung und eine Gefahr für den Rest der Welt sei.«
»Worauf zielt das ab?«
»Ich glaube, sie streben einen Beschluß an, der sie zu einem Atomschlag ermächtigt.«
»Großer Gott«, sagte Bernard. Er schwang die Beine aus dem Bett, richtete sich auf und blieb auf der Bettkante sitzen. Er betrachtete seine Handrücken. Die Schwielen waren etwas zurückgegangen; die Quarzlampenbestrahlungen brachten wenigstens kosmetische Besserung. »Wurden Mexiko und Kanada erwähnt?«
»Bloß die Vereinigten Staaten. Sie wollen dem Leichnam noch einen Fußtritt versetzen.«
»Und was sagen oder tun alle anderen?«
»Die amerikanischen Streitkräfte in Europa versuchen, eine Interimsregierung zu bilden. Ein Senator aus Kalifornien, der sich gerade auf einer Auslandsreise befand, soll zum neuen Präsidenten gewählt werden. Die Luftwaffenoffiziere der hiesigen Stützpunkte haben sich allerdings dagegen ausgesprochen. Sie sind der Meinung, die US-Regierung sollte einstweilen von Militärs gebildet werden. Diplomatische Vertretungen sollen in den Dienst der neuen Regierung gestellt werden. Das Problem ist, daß kein Geld da ist. Die Russen verlangen, daß amerikanische Schiffe und U-Boote spezielle Quarantänehäfen auf Kuba und entlang der russischen Pazifikküste anlaufen sollen, um entseucht zu werden.«
»Tun sie es?«
»Keine Antwort. Ich glaube es jedoch nicht.«
»Gibt es Neuigkeiten über die Vogelmorde?«
»Ja. In England töten sie alle Zugvögel, ganz gleich, woher sie kommen. Einige Gruppen wollen sogar alle Vögel unterschiedslos töten. Es gibt viel Barbarei, und nicht nur gegen Tiere, Michael. Amerikaner sind in aller Welt schimpflicher Behandlung ausgesetzt, selbst wenn sie seit Jahrzehnten in Europa leben. Religiöse Wirrköpfe verbreiten, Christus sei in Amerika wiedergekehrt und schicke sich an, nach Europa zu ziehen und das Zeitalter des Glücks und Friedens einzuleiten. Aber Sie werden Ihre Nachrichten wie gewöhnlich über den Datenanschluß bekommen. Dort können Sie alles nachlesen.«
»Es ist bestimmt besser, wenn es von einem Freund kommt.«
»Ja«, sagte Paulsen-Fuchs, »aber selbst die Worte eines Freundes können die Nachrichten, wie sie heute sind, nicht verbessern.«
»Würde ein Atomschlag das Problem lösen? Ich bin kein Epidemiologe — ließe sich ein ganzer Kontinent wie Nordamerika tatsächlich sterilisieren?«
»Ich halte es für unwahrscheinlich, und die Russen werden sich dessen bewußt sein. Wir haben einiges über die Zielgenauigkeit ihrer Gefechtsköpfe gehört, über Blindgängerhäufigkeit und dergleichen. Sie könnten bestenfalls die Hälfte des Kontinents hinreichend ausbrennen, daß alle Lebensformen vernichtet werden. Das wäre so gut wie nutzlos. Und die Strahlungsgefahr — ganz zu schweigen von den meteorologischen Veränderungen und den Unberechenbarkeiten der Verbreitung intakter mikrobiologischer Organismen durch die Staubwolken wären enorm. Aber wir haben es mit Russen zu tun«, sagte er achselzuckend. »Sie können es nicht wissen, aber ich erinnere mich an die Kämpfe um Berlin und die Besetzung. Ich war damals noch ein Junge, aber ich erinnere mich an sie — stark, sentimental, grausam, schlau und dumm zugleich.«
Bernard hielt es nicht für opportun, das Verhalten der Deutschen in Rußland zu kommentieren. »Was also hält sie zurück?«
»Die NATO. Frankreich, überraschenderweise. Die energischen Einsprüche der meisten blockfreien Länder, insbesondere in Mittel- und Südamerika. Aber genug davon. Ich brauche einen Bericht.«
»Jawohl«, sagte Bernard und salutierte. »Ich fühle mich gut, wenn auch ein wenig benommen. Ich denke daran, verrückt zu werden und Lärm zu schlagen. Ich komme mir vor wie in einem Gefängnis.«
»Verständlich.«
»Noch keine weiblichen Freiwilligen?«
»Nein«, antwortete Paulsen-Fuchs, und fügte vollkommen ernst hinzu: »Ich verstehe es nicht. Es heißt immer, Ruhm sei das beste Aphrodisiakum.«
»Nun, auch gut. Wenn es ein Trost sein kann: seit vorgestern habe ich keine Veränderungen in meiner Anatomie bemerkt.«
Das war der Zeitpunkt, als die Schwielen auf seiner Haut sich zurückbildeten.
»Sie haben sich entschlossen, die Bestrahlung fortzusetzen?«
Bernard nickte. »Es gibt mir etwas zu tun.«
»Wir denken noch immer an Antimetaboliten und DNS- Polymerase-Inhibitoren. Die infizierten Tiere zeigen keine Symptome — anscheinend sind Ihre Noozyten über Tiere nicht sehr erfreut. Jedenfalls nicht hier. Es gibt verschiedene Theorien. Haben Sie Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, etwas von der Art, selbst, wenn sie Ihnen normal erscheinen mögen?«
»Ich habe mich nie im Leben besser gefühlt. Ich schlafe wie ein kleines Kind, das Essen schmeckt mir, keine Schmerzen oder Beschwerden. Ein gelegentliches Hautjucken. Ja, und manchmal juckt es innen, in meinem Bauch, aber es ist schwierig zu lokalisieren. Nicht sehr störend.«
»Ein Bild der Gesundheit«, sagte Paulsen-Fuchs, der mitgeschrieben hatte. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir Ihre Aufrichtigkeit überprüfen?«
»Ich habe keine Wahl, nicht wahr?«
Sie untersuchten ihn zweimal täglich, so regelmäßig wie seine unberechenbaren Schlafperioden es gestatteten. Er unterzog sich allen Behandlungen und Untersuchungen mit grimmiger Geduld; das ungewohnte und störende Novum einer Untersuchung, die durch ferngesteuerte Mechanismen vorgenommen wurde, war längst zur Routine geworden.
Der große rechteckige Ausschnitt der Wandverkleidung öffnete sich summend, und ein Tablett, das Glasgegenstände und Werkzeug enthielt, schob sich vorwärts. Dann entfalteten sich vier lange Arme aus Metall und Plastik, deren Greifwerkzeuge sich versuchsweise öffneten und schlossen. In einer Kabine hinter den Armen stand eine Frau und beobachtete Bernard durch ein doppeltes Fenster aus Panzerglas. Eine Videokamera am Ellbogen eines der Arme drehte sich, und als sie Bernard im Visier hatte, glomm ein rotes Licht daran auf. »Guten Abend, Dr. Bernard«, sagte die Frau freundlich. Sie war jung, von strenger Attraktivität, mit rotbraunem Haar, das glatt zurückgekämmt und im Nacken aufgesteckt war.
»Ich liebe Sie, Dr. Schatz«, sagte er, als er sich auf den niedrigen Behandlungstisch legte, der unter den Greifarmen und dem Tablett vorgerollt war.
»Nur für Sie, und nur für heute, ich heiße Frieda. Wir lieben Sie auch, Doktor«, sagte sie. »Und ich an Ihrer Stelle würde mich überhaupt nicht lieben.«
»Diese Sache fängt an, mir zu gefallen, Frieda.«
»Hm.« Mit einem der Greifer nahm sie eine Vakuumampulle vom Tablett und lenkte die Nadel mit unglaublicher Geschicklichkeit in eine Ader, der sie zehn Kubikzentimeter Blut entnahm. Er bemerkte mit Interesse, daß das Blut purpurrosa war.
»Seien Sie vorsichtig, daß sie nicht zurückbeißen«, sagte er.
»Wir sind sehr vorsichtig, Doktor«, erwiderte sie. Bernard spürte Anspannung hinter der scherzhaften Fassade. Es konnte Verschiedenes geben, was sie ihm über seinen Zustand verschwiegen. Aber warum etwas verbergen? Er betrachtete sich bereits als einen zum Untergang Verurteilten.
»Sie sagen mir nicht alles, Frieda«, sagte er, als sie zur Hautuntersuchung einen Spezialklebestreifen an seinem Rücken anbrachte. Ein Greifer zog den sehr fest haftenden Streifen mit einem Ruck ab und ließ ihn in eine Glasschale fallen, der andere Arm verschloß die Schale und versiegelte sie in einem Bad aus flüssigem Wachs.
»Oh, ich finde, daß wir Ihnen nichts verschweigen«, antwortete sie, auf die Bedienung der Fernsteuerung konzentriert. »Welche Fragen haben Sie?«
»Gibt es in meinem Körper noch Zellen, die nicht umgewandelt worden sind?«
»Nicht alle sind Noozyten, Dr. Bernard, aber die meisten sind in der einen oder der anderen Weise verändert, ja.«
»Was geschieht mit ihnen, nachdem sie analysiert worden sind?«
»Zu dem Zeitpunkt sind sie alle tot, Doktor. Seien Sie unbesorgt. Wir sind sehr gründlich.«
»Ich bin nicht besorgt, Frieda.«
»Das ist gut. Nun drehen Sie sich bitte um.«
»Nicht wieder die Harnröhre.«
»Wie ich hörte, war dies einst ein sehr kostspieliger Genuß unter reichen jungen Herren zur Zeit der Weimarer Republik. Ein seltenes Erlebnis in den Bordellen von Berlin.«
»Frieda, Sie verblüffen mich immer wieder aufs neue.«
»Ja. Nun drehen Sie sich bitte um.« Er gehorchte und schloß die Augen.
Kerzen säumten das lange Fenster des Foyers. Suzy trat zurück und überblickte ihr Werk. Am Tag zuvor hatte sie sich durch eine vom Wind zerfetzte Strecke brauner Laken gekämpft und ein Kerzengeschäft gefunden. Mit einem zweiten Einkaufswagen, den sie bei einem armenischen Krämerladen in der South Street hatte mitgehen lassen, hatte sie eine Ladung Votivkerzen zum World Trade Center geschafft, wo sie im Erdgeschoß des südlichen Turms ihr Lager aufgeschlagen hatte. Im obersten Geschoß dieses Gebäudes hatte sie den grünen Lichtschein gesehen.
Mit all den Kerzen würden die U-Boote oder Flugzeuge sie vielleicht finden. Und es spielte noch ein Impuls dabei mit, der ihr freilich so albern vorkam, daß sie kichern mußte, wenn sie darüber nachdachte. Sie wollte dem Fluß Antwort geben. Sie stellte die Kerzen auf das Fensterbrett, zündete eine nach der anderen an und schaute zu, wie ihr warmer Lichtschein sich in der weiten Dunkelheit ringsum verlor.
Nun arrangierte sie die Kerzen in Spiralen am Boden, mußte aber die Abstände vergrößern, als ihr Vorrat zur Neige ging. Sie zündete die Kerzen an und ging von Flamme zu Flamme, lächelte ins Licht und verspürte vage Schuldgefühle, weil das tropfende Wachs den Teppichboden befleckte.
Sie aß einen Schokoladeriegel und las im Schein von fünf gebündelten Kerzen in einem Exemplar des Ladies Home Journal, das sie von einem Zeitungsstand mitgenommen hatte. Sie war ziemlich gut im Lesen — langsam, aber sie kannte viele von den Worten. Die Zeitschriftenseiten mit ihrer Überfülle von Anzeigen und schmalen Textspalten über Kleider und Kochen und Familienprobleme waren eine willkommene Anästhesie.
Sie lag auf dem Rücken auf dem Teppichboden, den Einkaufswagen mit den Lebensmitteln und den leeren Kerzenwagen in der Nähe, und fragte sich, ob sie jemals verheiratet sein würde — ob es jemanden zum Heiraten geben würde —, und ob sie jemals ein Haus haben würde, wo sie einige der Ratschläge würde anwenden können, die sie jetzt las. »Wahrscheinlich nicht«, sagte sie sich. »Von nun an werde ich mit Sicherheit eine alte Jungfer bleiben.« Sie war nie sehr viel mit Jungen ausgegangen, hatte auch ihrem Freund Cary nie alles gewährt und war mit dem Ruf von der Oberschule abgegangen, nett und hübsch, aber langweilig zu sein. Manche Leute wie sie waren abenteuerlustig und versuchten durch allerhand gewagte Dinge auszugleichen, daß sie nicht allzu helle waren.
»Jedenfalls bin ich immer noch da«, sagte sie zu der hohen dunklen Decke, »und ich bin immer noch langweilig.«
Sie trug die Zeitschrift die Stufen hinunter zum Zeitungsstand, die Kerze in einer Hand, und wählte als nächste Lektüre eine Nummer des Cosmopolitan aus. Wieder auf der Ebene des Foyers, schlief sie eine Weile, wachte erschrocken auf, als ihr die Zeitschrift raschelnd herunterrutschte, und ging von Kerze und Kerze und löschte sie für den Fall, daß sie den morgigen Abend wieder in ihrem Schein verbringen wollte. Dann legte sie sich auf die Seite, Kenneths Jacke als Kopfkissen zusammengelegt, eine Kerze noch brennend, und dachte an das gewaltige Gebäude über ihr. Sie konnte sich nicht erinnern, ob die Zwillingstürme noch immer die höchsten der Welt waren. Wahrscheinlich nicht. Jeder war wie ein Ozeandampfer, der aufgerichtet in die Erde gesteckt worden war — aber diese Türme waren höher als jeder Ozeandampfer lang war, behaupteten jedenfalls die an Touristen verteilten Prospekte.
Es würde Spaß machen, durch die Ladenstraße zu bummeln, doch selbst im Halbschlaf wußte sie, was sie schließlich würde tun müssen. Sie würde die Treppen bis zur Spitze ersteigen müssen, um herauszubringen, wer oder was den grünen Lichtschein verursachte, und über New York hinauszublicken — von diesem Aussichtspunkt würde sie die ganze Stadt und einen großen Teil der umliegenden Landschaft sehen können. Sie würde sehen, was geschehen war und was geschah. Und dort oben mochte der Radioempfänger mehr Sender empfangen. Außerdem gab es im obersten Geschoß ein Restaurant, und das bedeutete, mehr Lebensmittel. Außerdem eine Bar. Sie verspürte ein plötzliches Verlangen, sich zu betrinken, etwas, was sie bisher nur zweimal versucht hatte.
Einfach würde es nicht sein. Sie wußte, daß sie für das Ersteigen der Treppen einen Tag oder mehr benötigen würde.
Nach unbestimmter Zeit schreckte sie aus unruhigem Schlaf hoch. Etwas in der Nähe hatte ein Geräusch gemacht, ein quietschendes, gleitendes Scharren. Draußen stand grau und trübe der Morgen. Auf dem Platz herrschte Bewegung — Dinge rollten dort herum, wie Staubmäuse unter einem Bett. Sie zwinkerte und rieb sich die Augen, erhob sich auf die Knie und blinzelte, um besser zu sehen.
Federleichte Gebilde wie Wagenräder wurden vom Wind über den Platz getrieben, bald rotierend und mit flatternden Fetzen als Speichen, bald auf die Seite fallend und wieder hochgerissen. Sie waren grau und weiß und braun. Manche der zu Boden gefallenen blieben am Beton und Pflaster kleben, breiteten sich aus und reckten fußhohe Büschel empor. Als der Tag heller wurde, ergossen sie sich in großer Zahl über den Platz, wurden vom Wind gegen die Glaswände getrieben und hafteten dort wie schmierige Algen, um sich weiter auszubreiten.
An ein Verlassen des Gebäudes war unter diesen Umständen nicht zu denken. Sie aß einen Riegel Schokolade und schaltete das Radio ein, um vielleicht den Britischen Sender zu empfangen, den sie am Vortag gehört hatte. Nach der Feineinstellung ertönte eine schwache, von Schwund immer wieder unterbrochene Stimme aus dem Lautsprecher, wie ein Mann, der durch eine Filzmatte sprach.
»… zu sagen, daß die Weltwirtschaft leiden wird, ist sicherlich sehr zurückhaltend ausgedrückt. Mit Nordamerika ist nicht nur einer der größten Absatzmärkte verloren gegangen, sondern auch die größte Konzentration von Wirtschaftskapital. Es ist klar, daß die meisten Menschen sich heutzutage mehr um ihr unmittelbares Überleben sorgen und sich fragen, ob und wann die Seuche den Ozean überqueren wird, oder ob sie bereits unter uns ist und sich Zeit läßt…« — Störgeräusche verdrängten die schwindende Stimme für mehrere Minuten. Suzy saß mit gekreuzten Beinen neben dem Radio und wartete geduldig. Sie verstand nicht viel, aber die Stimme war tröstlich — »… die Sorge der Wirtschaftsfachleute gilt jedoch der Zeit nach der Krise. Vorausgesetzt, sie geht vorüber. Nun, ich denke, es gibt Anlaß zu begründetem Optimismus. Ein gläubiger Mensch wird sagen, daß Gott in seiner Weisheit Gründe für dies alles hat, doch werden sich nicht alle mit solch einer Erklärung zufriedengeben. Eine drastische Schrumpfung des Welthandels ist bereits eingetreten, die Investitionsbereitschaft hat überall einer abwartenden Haltung Platz gemacht. Trotzdem ist meines Erachtens nicht zwangsläufig mit einer Weltwirtschaftskrise größten Ausmaßes zu rechnen. Mit Ausnahme der berühmt gewordenen meteorologischen Station auf der Insel Afognak gibt es keine Kommunikation aus dem gesamten nordamerikanischen Raum, und alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Nordamerika als Wirtschaftsfaktor endgültig ausgefallen ist. Die Finanziers sind tot. Die Vereinigten Staaten waren immer die große Bastion des privaten Kapitals. Eine Umorientierung wird zwangsläufig erfolgen. Rußland ist jetzt die beherrschende Weltmacht, militärisch und über kurz oder lang vielleicht auch finanziell. Was können wir erwarten?«
Suzy schaltete das Radio aus. Gewäsch. Sie wollte wissen, mußte wissen, was mit ihrer Heimat geschehen war.
»Warum?« fragte sie laut. Sie sah die Räder flatternd und torkelnd über den Platz wehen, sah ihre Überreste den Beton wie mit dünnem Schleim überziehen. »Warum bringe ich mich nicht einfach um und mache alledem ein Ende?« Sie breitete melodramatisch die Arme aus, fing an zu lachen. Sie lachte, bis es schmerzte, und bekam es mit der Angst, als sie merkte, daß sie nicht mehr aufhören konnte. Sie hielt sich mit beiden Händen den Mund zu, lief zu einem Wasserhahn und trank von dem klaren, gleichmäßig fließenden Strom.
Was ihr wirklich Angst machte, begriff Suzy jetzt, war der Gedanke, den Turm zu ersteigen. Würde sie Schlüssel benötigen? Würde sie halb hinaufkommen und finden, daß sie nicht weitergehen konnte?
»Ich werde mutig sein«, sagte sie mit einem Schokoladenriegel im Mund. »Etwas anderes kann ich nicht sein.«
Es war ein normales und gutes Leben gewesen, aus seinem Hinterhof Einzelteile und Trödel aller Art zu verkaufen, zu Auktionen zu gehen und dies und das mitzunehmen, seine Tochter aufzuziehen und stolz auf seine Frau zu sein, die Lehrerin war. Seine größeren Erwerbungen hatten ihm viel Freude bereitet: eine Ladung Fliesen der verschiedensten Art, mit der er Badezimmer und Küche in dem großen alten, weiß gestrichenen Haus hergerichtet hatte; einen alten englischen Geländewagen; fünfzehn verschiedene Personen- und Lastwagen, alle blau; anderthalb Tonnen alte Büromöbel, einschließlich eines »antiken« hölzernen Aktenschrankes, dessen Wert sich als höher erwies als der Betrag, den er für die gesamte Ladung bezahlt hatte.
Das Unheimlichste, was er (seit seiner Eheschließung) je getan hatte, war die mutige Beschleunigung seiner beginnenden Kahlköpfigkeit gewesen, indem er sich das lichter werdende Haar vom Schädel rasiert hatte, weil ihm der Übergangszustand verhaßt gewesen war. Ruth hatte bei seinem Anblick geweint. Das war vor zwei Monaten gewesen, und das dünne Haar war inzwischen nachgewachsen, spärlich und unordentlich und so widerwärtig wie zuvor.
John Olafsen war gut zurechtgekommen, solange das Leben seinen normalen Gang genommen hatte. Er hatte Ruth und die siebenjährige Loren gut gekleidet und genährt. Das Haus gehörte seit neunzig Jahren seiner Familie, seit es neu gewesen war. Sie hatten keine großen Ansprüche gestellt.
Er setzte das zerkratzte schwarze Fernglas ab und wischte sich mit einem roten Halstuch Müdigkeit und Schweiß von den Augen. Dann setzte er seine Beobachtung fort. Er hatte den Feldstecher auf das weitläufige Gelände der Lawrence Livermore National Laboratories und die Sandia Laboratories auf der anderen Straßenseite gerichtet. Der Geruch von Staub und dünnem Gras weckte in ihm den Wunsch, sich zu schneuzen, zusammenzupacken und wegzugehen — und doch wiederzukommen, weil dies der einzige Ort war, der ihm geblieben war. Es war halb sechs, und die Dämmerung senkte sich auf das Land herab. »Nun zeig schon deine Fahne, Jerry!« murmelte er. »Du Armleuchter!«
Jerry war sein Zwillingsbruder, fünf Minuten jünger und doppelt so leichtsinnig wie er. Jerry hatte im Salinas-Tal Sprühflugzeuge geflogen. Wie John es geschafft hatte, der Seuche zu entgehen, wußte keiner von ihnen, aber es lag auf der Hand, daß Jerry bis zum Kragen voll mit DDT und PCBs und weiß Gott was noch war. Er konnte dem, was die Stadt Livermore und Ruth und Loren gefressen hatte, einfach nicht schmecken.
Jerry war unten zwischen den großen, modernen Kästen und den alten Bungalows und Baracken, die zehn Meter hohen Hügel zu erforschen, die sich nun überall erhoben, wo auf dem Gelände der Lawrence Livermore freier Raum war. Er hatte ein weiteres rotes Halstuch an einen Stock gebunden. Keiner der beiden Brüder war jemals ohne ein Halstuch gesehen worden. Jedes Jahr hatten sie einander zu Weihnachten neue gekauft und in rote Folie mit breiten roten Bändern verpackt.
John schwenkte den Feldstecher ein Stück weiter und sah das rote Halstuch rasch am Stock kreisen: einmal im Uhrzeigersinn, einmal anders herum, dann wieder dreimal im Uhrzeigersinn. Das bedeutete, das John hinunterkommen und sehen sollte, was es zu sehen gab. Nichts Gefährliches… soweit Jerry es beurteilen konnte.
Er wuchtete seine zweihundertfünfzig Pfund in die Höhe und streifte dürre Halme von den Hosenbeinen seiner verschlissenen schwarzen Jeans. Sein rotes Kraushaar und der Bart hoben sich leuchtend vom tiefen Graublau des Osthimmels ab, als er aus dem Entwässerungsgraben stieg und sich durch den Stacheldrahtzaun zwängte, dann durch das Loch im Maschendrahtzaun und den nicht mehr unter Strom stehenden inneren Schutzzaun.
Dann lief und schlitterte er den steilen Hang hinab und übersprang einen weiteren Graben, bevor er zu einem beiläufigen Schlendern verlangsamte. Er zündete sich eine Zigarette an und zerbrach das Streichholz, bevor er es wegwarf. Fünfzehn oder zwanzig Wagen standen noch immer auf dem Parkplatz neben den alten Gebäuden des Fusionsprojekts. Ein besonders eindrucksvoller Hügel, ungefähr zwanzig Meter im Durchmesser, erhob sich nahe dem Parkplatz aus der Erde. Jerry stand obendrauf. Er war irgendwo zu einer Spitzhacke gekommen und ließ sie am ausgestreckten Arm baumeln, ein breites Grinsen im bartlosen Gesicht.
»Keine Jogger mehr«, sagte er, als John den Hügel erstieg und bei ihm anlangte. Sie nannten einige der eigentümlichen Dinger, die sie in Livermore gesehen hatten, Jogger. Der Name schien passend, da die Dinger fast immer liefen; nicht ein einziges Mal hatten sie eins stillstehen gesehen.
»Erfreut mein Herz«, sagte John. »Was hast du vor?«
»Mich nach China durchgraben«, sagte Jerry und klopfte auf den Hügel. »Bist du nicht neugierig?«
»Man kann neugierig sein, und neugierig«, sagte John. »Angenommen, diese Hügel sind etwas, was die Leute hier sich ausgedacht haben? Was Militärisches, oder vielleicht ein Experiment, das ihnen außer Kontrolle geriet?«
»Ich würde sagen, daß ein Experiment bereits außer Kontrolle geraten ist.«
»Ich glaube noch immer nicht, daß es von hier seinen Ausgang genommen hat.«
»Scheiße.« Jerry ließ die Spitzhacke auf den Hügel plumpsen, daß die rissige Erde und das ausgetrocknete Gras staubten. »Warum nicht, und wo sonst, zum Teufel?«
»Anderswo gibt es mehr zu holen.«
»Sicher, und vor allem die Seuche.«
John zuckte die Achseln. Wahrscheinlich würden sie es nie wissen. »Also dann mach schon, in Gottes Namen!«
Jerry holte mit der Spitzhacke aus und schlug zu. Die Spitze durchbrach die Erde wie eine Nadel, die durch eine Eierschale gestoßen wird, und der Griff wurde ihm fast aus den Händen gerissen. »Hohl«, grunzte er und zog die Spitzhacke mit einiger Mühe heraus. Er kniete nieder und spähte in das Loch. »Nichts zu sehen.« Er stand auf und holte abermals aus.
»Hast sie getroffen«, sagte John und leckte sich die Lippen. »Laß mich mal ran!«
»Wir wissen nicht, was da unten ist«, sagte Jerry und brachte den Spitzhackenstiel vor der breiten, dicken, ausgestreckten Hand des Bruders in Sicherheit.
John nickte widerwillig und steckte die Hand in die Jeanstasche. Er blickte zur untergehenden Sonne hinüber und schüttelte den Kopf. »Wir können ihnen nichts anhaben«, sagte er. »Es gibt bloß uns.«
Jerry holte dreimal in rascher Folge mit der Spitzhacke aus, und ein Loch von fast einem Meter Durchmesser brach ein. Die Brüder sprangen zurück, dann zogen sie sich vorsichtshalber noch einmal mehrere Schritte zurück. Der Rest des Hügels hielt. Jerry ließ sich auf alle viere nieder und kroch zum Loch hinauf. »Kann noch immer nichts sehen«, sagte er. »Geh und hol die Lampe!«
Es wurde dunkel, als John mit einer großen, wasserdichten Batterielampe von ihrem Lastwagen zurückkam. Jerry saß beim Loch, rauchte eine Zigarette und schnippte die Asche hinein. »Hab auch ein Seil mitgebracht«, sagte John und warf die Rolle neben seines Bruders Knie.
»Wie sieht die Stadt aus?« fragte Jerry.
»Soviel ich sehen konnte, genauso wie vorher, nur noch mehr so.«
»Wird morgen noch was übrig sein?«
John zuckte die Achseln. »Das, zu dem sie wird, nehme ich an.«
»Gut. Da unten ist es dunkel, da macht die Nacht keinen Unterschied. Du hältst das Seil, ich werde mich mit dem Licht hinunterlassen…«
»Kommt nicht in Frage«, sagte John. »Ohne ein Licht bleibe ich nicht hier oben.«
»Dann gehst du hinunter.«
John dachte darüber nach. »Ach was, wir binden das Seil an einen Wagen und gehen beide hinunter.«
»Fein«, sagte Jerry. Er lief mit dem Seil zum nächsten Wagen, knotete es um eine Stoßstange und kam zurück. Ungefähr zehn Meter Seillänge blieben ihnen, als er auf dem Hügel anlangte. »Ich zuerst«, sagte er.
»Also los!«
Jerry ließ sich in das Loch hinab. »Licht!«
John gab ihm die Lampe. Jerrys Kopf verschwand unter dem Rand. »Es reflektiert«, sagte er. Der Lichtstrahl schoß gerade hinauf in die feuchte Abendluft und erfaßte Johns Gesicht, als dieser hinabspähte. Als genug Raum war, ergriff er das gespannte Seil und folgte seinem Zwillingsbruder in die Öffnung.
Ihre Mutter hatte ihnen Geschichten erzählt, die sie von einer dänisch sprechenden Großmutter gehört hatte und in denen von solchen Hügeln voller Elfengold, Leichen, unheimlichem blauen Feuer und Gesang und Dudelsackmusik die Rede war.
Er hätte es niemals zugegeben, aber was er wirklich zu sehen erwartete, waren Zwerge.
Beide Zwillinge schwitzten, als sie am Boden des hohlen Hügels standen. Die Luft war hier viel wärmer und feuchter als draußen. Der Lichtkegel der Lampe durchschnitt einen süßlich riechenden dichten Nebel. Ihre Stiefel sanken in eine elastische, dunkelpurpurne Oberfläche, die quietschte, wenn sie sich bewegten. »Gottverdammich«, sagten sie gleichzeitig.
»Was, zum Kuckuck, sollen wir tun, da wir nun schon hier sind?« fragte John in klagendem Ton.
»Wir werden Ruth und Loren suchen, und vielleicht Tricia.« Tricia war in den vergangenen sechs Jahren Jerrys Freundin gewesen. Er hatte ihre Auflösung nicht gesehen, aber es lag nahe zu vermuten, daß dies ihr Schicksal gewesen war.
»Die sind nicht mehr«, sagte John mit leiser, kehliger Stimme.
»Und ob sie sind. Sie sind bloß auseinandergenommen und hier heruntergebracht worden.«
»Wie, zum Teufel, kommst du auf die Idee?«
Jerry schüttelte den Kopf. »Entweder das, oder sie sind tot, wie du sagst. Hast du das Gefühl, daß sie tot sind?«
John dachte nach. »Nein«, räumte er ein. Beide wußten, wie es war, einen Menschen zu verlieren, der ihnen nahestand. »Vielleicht mache ich mir bloß etwas vor.«
»Unsinn«, versetzte Jerry. »Ich weiß, daß sie nicht tot sind. Und wenn sie nicht tot sind, dann sind auch alle anderen nicht tot. Und du hast selbst gesehen…«
John nickte. Er hatte die mit sich auflösendem Fleisch gefüllten Kleider gesehen. Er hatte nicht gewußt, was er tun sollte. Es war vormittags gewesen, und am Abend zuvor waren Ruth und Loren an etwas erkrankt, was sie für eine Art Grippe gehalten hatten. Weißliche Streifen auf den Händen und Gesichtern. Er hatte ihnen gesagt, daß sie am nächsten Vormittag zum Arzt gehen würden.
Was in der Zeitspanne zwischen seiner gräßlichen Entdeckung und Jerrys Ankunft geschehen war, wußte er auch jetzt noch nicht. Er hatte geschrien oder etwas anderes getan, was seiner Kehle solch einen Schmerz verursacht hatte, daß er kaum hatte sprechen können. »Warum sind wir dann nicht auch betroffen?«
Jerry klopfte sich auf den Bauch, der Johns an Umfang nicht nachstand. »Ein zu großer Happen«, sagte er und wedelte mit der Hand im Nebel. Der Lichtkegel reichte nicht weiter als ein paar Schritte in jeder Richtung. »Also, mir ist nicht geheuer«, sagte er. »Hier unten wird mir angst und bange.«
»Das erfreut mein Herz«, sagte John.
»Du bist derjenige, der den Vorschlag machte, wir sollten hier hinein«, sagte Jerry. John erhob keine Einwände gegen die Umkehrung der Wahrheit. »Also sagst du jetzt auch, wohin wir gehen sollen.«
»Geradeaus«, sagte John. »Und gib acht auf Kobolde!«
»Ja, mein Gott. Kobolde!«
Langsam gingen sie über den schwammigen, purpurnen Boden. Mehrere feuchte und unglückliche Minuten vergingen, bevor der Lichtkegel voraus eine Oberfläche zeigte. Glänzende, unregelmäßige Röhren, grau und braun gefleckt und pulsierend, bedeckten eine Wand. Zur Linken bogen sie um und verschwanden in einem dunklen Tunnel. »Ich kann es nicht glauben«, sagte Jerry.
»Na?« John zeigte zum Tunnel.
Jerry nickte. »Dunkel wie eine Negerhochzeit, aber wir wissen bereits, was das Schlimmste ist«, sagte er.
»Hoffentlich«, brummte John.
Jerry zeigte. »Du zuerst.«
»Du gefällst mir.«
»Los!«
Sie betraten den Tunnel.
Paulsen-Fuchs wies Uwe an, auf der Anhöhe zu halten. Das Feldlager der Protestierenden um das Firmengelände der Pharmek hatte sich in nur einer Woche um das Doppelte vergrößert. Die Zahl der Demonstranten wurde auf hunderttausend geschätzt, ein Meer von Zelten und Transparenten und Fahnen, die meisten davon auf der Ostseite, wo die Hauptzufahrt lag. Der Protest schien ohne irgendeine besondere Organisation zustande gekommen zu sein, was ihm Sorgen bereitete.
Die Leute waren nicht politisch motiviert — bloß ein Querschnitt der Bevölkerung, von Verhängnissen, die sie nicht begreifen konnte, zur Verzweiflung getrieben. Sie waren Bernards wegen zur Pharmek gekommen und wußten noch nicht, was sie wollten. Aber das würde sich ändern. Jemand — wahrscheinlich aus dem Lager politischer Unruhestifter — würde die Initiative ergreifen und dem Massenprotest Richtung geben.
Weniger gut informierte Teile der Öffentlichkeit verlangten Bernards Tötung und die Sterilisierung der Isolierkammer, doch war nicht anzunehmen, daß sie mit der Forderung durchdringen würden. Die meisten europäischen Regierungen waren sich darin einig, daß Forschung an Bernards Person die einzige Möglichkeit sei, die Seuche zu studieren und Möglichkeiten zu finden, sie zu beherrschen.
Gleichwohl war ganz Europa in Panik. Viele Reisende — Touristen, Geschäftsleute, Militärpersonal — waren vor der Quarantäne aus Nordamerika zurückgekehrt. Nicht alle von ihnen waren ermittelt und untersucht worden. Einige von ihnen waren in Hotels, Wohnungen, Häusern im Zustand der Transformation aufgefunden worden. Die Opfer waren beinahe ausnahmslos von den örtlichen Behörden getötet, die Gebäude desinfiziert und eingeäschert worden, und die Abwässer und Wasserleitungen hatte man mit starken Dosen Desinfektionsmitteln behandelt.
Niemand wußte jedoch, ob solche Maßnahmen wirksam waren.
Die Mehrzahl der Menschen überall auf der Welt war überzeugt, daß es lediglich eine Frage der Zeit sei.
Die Nachrichten, die er an diesem Morgen erhalten hatte, ließen ihn beinahe hoffen, daß diese Leute recht hätten. Die Seuche mochte dem Selbstmord vorzuziehen sein. »Zur Nordeinfahrt«, sagte Paulsen-Fuchs, nachdem er wieder eingestiegen war.
Die Ausrüstung war endlich geliefert worden und nahm jetzt die Hälfte der Isolierkammer ein. Bernard stellte Feldbett und Schreibtisch um und betrachtete das kompakte Laboratorium mit Befriedigung. Endlich würde er etwas zu tun bekommen. Er konnte sich selbst stechen und anzapfen.
Wochen waren verstrichen, und er hatte die endgültige Transformation noch immer nicht erfahren. Niemand konnte ihm sagen, warum; doch konnte er sich selbst erklären, warum noch keine Kommunikation zwischen ihm und den Noozyten zustande gekommen war, wie Vergil sie erlebt hatte. Oder sich eingebildet hatte.
Vielleicht hatte Vergil einfach den Verstand verloren, war halluzinatorischen Wahrnehmungen zum Opfer gefallen. Es war denkbar, daß eine Kommunikation überhaupt nicht möglich war.
Er benötigte weitaus mehr Ausrüstungen als in die Kammer gezwängt werden konnten, aber der größte Teil der chemischen Analysen, die er plante, konnte draußen vorgenommen und die Information seinem Datenanschluß eingegeben werden.
Er fühlte sich ein wenig wie der alte Michael Bernard. Er war auf einer Fährte. Er würde herausbringen oder den anderen helfen, zu entdecken, wie die Zellen kommunizierten, welche chemische Sprache sie gebrauchten. Und wenn sie nicht direkt mit ihm sprechen wollten, würde er einen Weg finden, zu ihnen zu sprechen. Sie vielleicht zu beherrschen. Pharmek verfügte über alle notwendigen Fachleute und Einrichtungen, über alles, was Ulam zur Verfügung gehabt hatte, um mehr; falls erforderlich, konnten sie die Experimente wiederholen und von vorn anfangen.
Bernard bezweifelte, daß es dafür eine Erlaubnis geben würde. Von Gesprächen mit Paulsen-Fuchs und anderen Pharmek-Fachleuten hatte er den Eindruck gewonnen, daß gegenwärtig eine stürmische Auseinandersetzung um ihn tobte.
Nachdem er eine kurze Inventur der Ausrüstung gemacht hatte, fing er damit an, daß er sein Gedächtnis in Verfahrensfragen auffrischte, indem er die Gebrauchsanweisungen und Handbücher las. Nach ein paar Stunden wurde er dessen müde und machte einen Eintrag in sein Computer-Notizbuch, obwohl er sehr wohl wußte, daß es nicht privat bleiben, sondern jetzt oder später von Pharmek- Leuten und Behördenvertretern gelesen würde — Psychologen, vielleicht. Alles über ihn war jetzt wichtig.
Es gibt keinen mir bekannten biologischen Grund, warum das uns bekannte Leben auf der Erde nicht bereits zugrunde gegangen ist. Die Seuche ist anpassungsfähig, kann jedes Lebewesen umwandeln. Aber Europa bleibt frei — ausgenommen verstreute Einzelfälle —, und ich zweifle daran, daß es ein Verdienst der scharfen Maßnahmen ist. Vielleicht wird die Antwort auf die Frage, warum ich atypisch für den Ablauf der Seuche bin, dieses andere Geheimnis erklären. Morgen werde ich mir wieder Blut und Gewebeproben entnehmen lassen, aber nicht alles davon wird aus der Kammer entfernt. An Teilen dieser Proben werde ich selbst arbeiten, insbesondere an Blut und Lymphe.
Er zögerte, die Finger über der Tastatur, und war im Begriff, weiterzuschreiben, als Paulsen-Fuchs in den Nebenraum kam und mit einem Summton um seine Aufmerksamkeit bat.
Bernard drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Guten Tag.« Wie seit einiger Zeit üblich, war er nackt. Eine Kamera in der oberen rechten Ecke des Nebenraumes nahm ihn kontinuierlich auf und gab die Konturen und Besonderheiten seines Körpers zur Analyse in den Computer ein.
»Kein guter Tag, Michael«, antwortete Paulsen-Fuchs. Sein langes Gesicht war noch länger und hagerer als sonst. »Als hätten wir nicht schon genug Probleme, sehen wir uns nun der Möglichkeit eines Krieges gegenüber.«
Bernard stand auf und trat zum Fenster, hinter dem der andere eine britische Tageszeitung aufschlug. Die Schlagzeile sandte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
RUSSISCHER ATOMSCHLAG GEGEN PANAMAKANAL
»Wann?« fragte er.
»Gestern nachmittag. Kuba meldete eine über den Atlantik ziehende radioaktive Wolke. Militärische Nachrichtensatelliten der Nato entdeckten die heiße Stelle. Ich vermute, daß die Militärs schon vorher Bescheid wußten — sie müssen ihre Seismographen oder was immer haben —, aber die Presse und die Rundfunkanstalten erfuhren erst heute früh, was geschehen war. Die Russen setzten neun oder zehn Raketen mit Gefechtsköpfen von jeweils einer Megatonne ein, wahrscheinlich von einem U-Boot abgeschossen. Die gesamte Kanalzone ist…« Er schüttelte den Kopf. »Von den Russen gibt es keine Stellungnahme. In Deutschland glaubt die Hälfte der Bevölkerung, daß wir noch in dieser Woche angegriffen werden. Die andere Hälfte ist betrunken.«
»Gibt es Nachrichten vom Kontinent?« So bezeichnete man seit kurzem Nordamerika: der Kontinent, das wirkliche Zentrum der Geschehnisse.
»Nichts«, sagte Paulsen-Fuchs und warf die Zeitung auf den Tisch.
»Glauben Sie — und die anderen Europäer —, daß die Russen in Nordamerika eindringen werden?«
»Die Meinungen sind geteilt. Manche rechnen jeden Tag damit. Sie könnten sich auf das Recht berufen, herrenloses Gut in Besitz zu nehmen.« Er schmunzelte.
»Ich bin kein Anwalt, aber sie werden sich schon die richtigen Begründungen ausdenken und in Genf rechtfertigen, wenn sie Genf nicht inzwischen auch bombardiert haben.« Er beugte sich über den Tisch, beide Arme rechts und links neben der Zeitung aufgestützt. »Niemand ist darauf vorbereitet, die Frage zu erörtern, was mit ihnen geschehen wird, wenn sie sich zu einer Besetzung Nordamerikas entschließen. Die amerikanische Exilregierung möchte mit ihren in Europa stationierten Truppen und Marineeinheiten drohen, aber die europäischen Regierungen setzen sie aus Furcht vor einem Atomkrieg unter Druck, und die Russen nehmen sie nicht ernst. Bevor Sie mich im vergangenen Monat anriefen, hatte ich geplant, meine erste Urlaubsreise seit sieben Jahren anzutreten. Offensichtlich wird wieder nichts daraus. Michael, Sie haben etwas in mein Leben gebracht, das mich umbringen kann. Bitte vergeben Sie mir die selbstsüchtige Regung.«
»Ich verstehe«, sagte Bernard.
»In Deutschland gibt es einen alten Soldatenspruch«, sagte Paulsen-Fuchs. ›»Es ist die Kugel, die du nicht hörst, die dich erwischt. ‹ Sehen Sie darin eine Bedeutung für sich?«
Er nickte.
»Dann machen Sie sich an die Arbeit, Michael. Tun Sie, was Sie können, bevor wir alle von eigener Hand den Tod finden!«
Am Arbeitsplatz des Wachmannes fand Suzy eine lange, starke Taschenlampe — sehr aufwendig, schwarz wie ein Feldstecher und mit einem Lichtkegel, der durch Drehen eines Knopfes scharf gebündelt oder weit gefächert werden konnte — und machte sich daran, die Einkaufsstraße und den Verbindungsweg zwischen den beiden Türmen zu erkunden. In einer Boutique verbrachte sie einige Zeit mit der Anprobe von Kleidern, konnte sich selbst jedoch nicht sehr gut im Lichtkegel sehen, und das Vergnügen wurde rasch langweilig. Außerdem war es spukhaft. Sie unternahm einen halbherzigen Versuch festzustellen, ob andere wie sie das Gebäude betreten hatten, und wagte sich sogar in die U-Bahn-Station Cordtlandt Street. Als sie sich vergewissert hatte, daß die unteren Geschosse leer waren — mit Ausnahme der allgegenwärtigen Häufchen von Kleidern —, kehrte sie zurück zu ihrem Kerzenschein-Raum, wie sie ihn getauft hatte, und plante ihren Aufstieg.
Sie hatte einen Übersichtsplan vom Nordturm gefunden und fuhr mit dem Finger die Grundrisse von Foyer und Verbindungsbau nach, um sich zu orientieren. Beim Durchblättern des Plans wurde ihr klar, daß das Gebäude keine hohen Treppenhäuser hatte, sondern Verbindungstreppen, die in jedem Stockwerk an anderer Stelle waren.
Das bedeutete eine weitere Erschwernis ihres Aufstiegs. Sie fand auf dem Plan die Tür, die zur ersten Treppe führte und ging hin. Sie war verschlossen. Wieder am Tisch des Wachmannes, stieß sie mit dem Fuß eine in sich zusammengesunkene Uniform an und förderte einen großen Schlüsselring an einer selbstaufspulenden Kordel zutage. Sie zog den Gürtel aus den Schlaufen, bemerkte, daß ein Büstenhalter in der Kleidung war und brachte die Schlüssel an sich. »Verzeihung«, flüsterte sie und versuchte, die Kleider wieder in ihren vorherigen Zustand zu bringen. »Ich leihe sie bloß aus. Bin gleich wieder da.« Sie faßte sich und biß sich auf den Daumen. Dummes Zeug, dachte sie bei sich. Niemand ist da. Bloß ich, jetzt.
Es dauerte einige Minuten, bis sie mühsam die Etiketten der verschiedenen Schlüssel entziffert und denjenigen gefunden hatte, der die Tür zum Treppenhaus öffnete. Hinter der Tür waren schmucklose Stufen aus Beton und Stahl. Im nächsten Geschoß kam sie in einen Korridor, spähte um die Ecke und sah Türen, die zu verschiedenen Büros führten, manche mit Schildern gekennzeichnet, andere bloß numeriert. Ein rascher Blick in mehrere der Büros brachte ihr wenig Aufschluß.
»In Ordnung«, sagte sie sich. »Es ist nichts als ein Fußmarsch, ein langer, steiler Fußmarsch. Ich werde Essen und Wasser brauchen.« Sie blickte auf ihre Turnschuhe und seufzte. Sie würde sich mit ihnen behelfen müssen, es sei denn, sie nähme ein paar leere Schuhe von…
Diese Idee war ihr zuwider. Hinter dem Zeitungsstand im Foyer fand sie einen Plastikeinkaufsbeutel und füllte ihn mit leichtgewichtigen Lebensmitteln aus ihrem Einkaufswagen. Wasser war schwieriger; die Plastikflaschen mit Mineralwasser waren zu dick, um sie in den Gürtel zu stecken, aber es gab keine rechte Alternative. Und wenn sie in den oberen Stockwerken entdeckte, daß die Wasserversorgung noch funktionierte — außerdem mußte es Wasserkühler geben —, konnte sie die Flaschen immer noch zurücklassen.
Um acht Uhr dreißig am Morgen begann sie den Aufstieg. Es war am besten, sagte sie sich, in gleichmäßigem Schritt zehn Stockwerke zu steigen und dann auszuruhen oder zu erforschen, was es auf dieser Ebene gab und was von dort von der Stadt zu sehen war. Auf diese Weise würde sie bis zum Abend vielleicht oben ankommen.
Während sie »Michelle« summte, stieg sie Treppe um Treppe hinauf, eine Hand am Eisengeländer, eine Tür nach der anderen aufstoßend. Sie versuchte, eine Art Rhythmus zu finden. Kenneth und Howard waren einmal mit ihr in Maine wandern gewesen, und sie hatte dort gelernt, daß jeder Wanderer einen bestimmten Rhythmus hatte. Folgte man ihm, wurde das Gehen viel einfacher; unterbrach man ihn, um jemand anderem zu folgen, wurde es viel anstrengender.
»Niemand da, dem ich folgen könnte«, sagte sie sich im vierten Stock. Wieder summte sie »Michelle«, doch gelang es ihr nicht, den Rhythmus ihren Schritten anzugleichen, so daß sie sich damit begnügte, einen Marsch zu pfeifen. Im neunten Stock begann sie zu schnaufen. »Noch eine Etage.« Und im zehnten Stock setzte sie sich auf den Boden, den Rücken an der Wand zum Aufzug-Vorraum, und starrte die Türen an. Vielleicht war es keine gute Idee, aber sie war hartnäckig — ihre Mutter hatte immer mit einigem Stolz gesagt, daß sie Ausdauer habe —, und sie wollte nicht nachlassen. »Nichts anderes zu tun«, sagte sie, und ihre Stimme hallte hohl im verlassenen Raum.
Nachdem sie verschnauft hatte, stand sie auf und nahm ihre Traglast auf. Dann ging sie zur nächsten Tür und öffnete sie. Wieder eine Treppe hinauf. Ein weiterer Vorraum, mehr Korridore und Büros. Sie beschloß, eines der Ausruhzimmer zu untersuchen.
»Vielleicht gibt’s Wasser«, sagte sie sich. Sie betrat den Vorraum der Toiletten, schaute zwischen Herren- und Damentoilette hin und her und kicherte, ging dann in die Herrentoilette. Sie leuchtete mit der Lampe über Spiegel und Armaturen, gab der Neugier nach und ging durch den Waschraum zum Pissoir. Sie hatte noch nie die Reihe der weißen Porzellanbecken an der Wand gesehen, hatte sogar vergessen, wie sie genannt wurden. Sie schaute unter die Toilettentüren und bekam einen Schreck. Furcht vermischte sich mit aufkommender perverser Heiterkeit.
In einer der Toiletten lag ein Haufen Kleider. »Den hat es gleich in die Toilette gesaugt«, murmelte sie, richtete sich auf und fuhr mit der Hand über die Augen. »Armer Kerl. Was für ein Ende.« Sie drehte den Warmwasserhahn am Waschbecken. Wasser tröpfelte heraus. Mehr kam, als sie den Kaltwasserhahn aufdrehte, aber es sah nicht vielversprechend aus.
Sie verließ die Toiletten und schlenderte einen Korridor entlang. Hinter einer großen hölzernen Flügeltür mit japanisch klingenden Namen war ein Wartezimmer, samtbezogene Sofas, Glastische und ein großer Schreibtisch nahe der Rückwand. Es gab keine Empfangsdame und auch keine Kleider.
Sie schaute aus dem Fenster des Wartezimmers hinab auf den Platz. Der Beton war jetzt ganz unter einem braunen Überzug verschwunden. »Weiter«, sagte sie sich. Die Himmelsleiter. Stirb oben und sei dem Ziel näher!
»Wie wenn man eine Kehle hinunterkriecht«, sagte John.
»Gott, bist du krankhaft.«
»Es ist aber so, nicht?«
»Tja«, sagte Jerry, grunzte und bückte sich tiefer. »Wir benehmen uns wie Idioten. Warum dieser Hügel, und warum jetzt?«
»Du hast ihn ausgesucht.«
»Und ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht ohne irgendeinen Grund.«
»Ob dieser oder ein anderer, es wird aufs gleiche hinauslaufen.«
Die Tunnelwände veränderten sich, als sie weiter vordrangen. Große fleischige Röhren machten einem feinen, glänzenden Netzwerk Platz, dessen Beschaffenheit an die Innenwände von Gedärmen oder Mägen erinnerte. John richtete den Lichtkegel nach oben und sah, daß jede kleine Höhlung zwischen den Zotten mit winzigen Scheiben und Würfeln und Kugeln angefüllt war, die in ungeordnetem Durcheinander gestapelt waren. Der Boden verengte sich, das schwammige, purpurne Material bildete Rücken, die parallel zum Tunnel verliefen. »Drainage«, sagte Jerry und zeigte hin.
Sie ließen den Lichtkegel hin und her wandern, um an dem Gefühl von Normalität und Sicherheit teilzuhaben, das er ihnen gab. Manchmal leuchteten sie einander in die Gesichter, oder inspizierten ihre Haut oder ihre Kleider, um sicherzugehen, daß nichts an ihnen haftete.
Auf einmal weitete sich der Tunnel und der dichte, süßliche Nebel trieb um sie. »Wir sind weit genug gegangen, um unter einem anderen Hügel zu sein«, sagte Jerry. Er machte halt und zog seinen Stiefel aus etwas Klebrigem. »Da ist so ein Zeug überall am Boden.«
John leuchtete Jerrys Stiefel an. Eine bräunlichrote zähe Masse haftete an der Sohle. »Scheint nicht tief zu sein«, sagte er.
»Vorläufig noch nicht.« Der Nebel roch schwach nach Dünger, oder wie die See. Lebendig. Er zirkulierte in Schleiern, als würde er von Luftströmen in Bewegung gehalten.
»Wohin jetzt? Wir wollen nicht im Kreis laufen«, sagte Jerry.
»Du bist der Anführer«, sagte John. »Verlang nicht, daß ich die Initiative ergreife.«
»Riecht, als hätte jemand Seetang in einem Süßwarengeschäft abgeladen«, sagte Jerry. »Schnürt einem die Kehle zu.«
»Pilze«, sagte John und richtete den Lichtkegel abwärts. Weiße Kappen von ungefähr zehn Zentimetern Durchmesser waren um ihre Füße und bildeten sich unter ihnen, während sie gingen. Er schwenkte den Lichtkegel höher und sah durch den Nebel vor ihnen vertikale und horizontale Linien.
»Regale«, sagte Jerry. »Regale, auf denen was wächst.«
Die Regale waren kaum dicker als ein halber Zentimeter und wurden in unregelmäßigen Abständen von Wandhaltern getragen, die alle aus einer harten weißen Substanz waren, die im Lichtschein glänzte. Auf den Regalen waren Stapel von einem Material, das wie verbranntes Papier aussah — nasses, verbranntes Papier.
Jerry befühlte einen der Stapel mit dem Zeigefinger und schauderte.
»Ich würde an deiner Stelle nichts anrühren«, sagte John.
»Was heißt, an meiner Stelle? Du bist ich, Bruder. Bis auf unbedeutende Unterschiede.«
»Ich würde trotzdem nichts anfassen!«
»Ja. Wahrscheinlich hast du recht.«
Sie gingen weiter die Regale entlang und kamen zu einer mit Röhren bedeckten Wand. Die Röhren wuchsen aus den Regalen und verzweigten sich zu kleineren Bündeln, die zu den glänzenden braunen Stapeln führten. »Was für Zeug ist das, Plastik oder was?« fragte Jerry und klopfte an eine der Halterungen.
»Sieht nicht wie Plastik aus«, sagte John. »Mehr wie sauberer weißer Knochen.« Sie starrten einander an.
»Hoffentlich nicht«, sagte Jerry und wandte sich weg. Sie gingen durch wogende Nebel zum anderen Ende der Regale und fanden dort eine schwammartige weiße Matrize, die an Bienenwaben aus Gummi gemahnte und mit offenen Blasen übersät war, die bis zum Rand mit purpurfarbenem Sirup gefüllt waren. Einige der Blasen vertropften purpurne Flüssigkeit auf den Boden, wo jeder Tropfen beim Auftreffen zischte und rauchte.
John unterdrückte einen Brechreiz und murmelte, daß sie hinaus müßten.
»Einverstanden«, sagte Jerry und bückte sich, die Blasen genauer anzusehen. »Aber vorher sieh dir dies an!«
Widerwillig bückte sich John, die Hände auf die Knie gestützt und besah die Blase, die sein Bruder ihm zeigte.
»Siehst du all diese kleinen Drähte?« fragte Jerry. »Winzige Perlen, die an Drähten über dem purpurnen Zeug dahinwandern. Rote Perlen. Sieht wie Blut aus, nicht?«
John nickte. Er grub in seiner Jeanstasche und zog ein Schweizer Armeemesser hervor, das er unter den zerrissenen Sitzen des britischen Geländewagens gefunden hatte. Mit den Fingernägeln zog er ein kleines Vergrößerungsglas aus dem Messergriff. »Leuchte darauf!« Als der Lichtschein sein Objekt voll traf, spähte er durch das Glas und beobachtete die winzigen Drähte mit den roten Tropfen.
Je genauer er hinsah, desto detaillierter wurde das Bild. Es zeigte keine Strukturen, die er identifizieren konnte, aber die purpurne Oberfläche bestand aus Tausenden winziger Pyramiden. Und das weiße Material glich Styropor oder Korken.
Er biß die Zähne zusammen. »Sehr hübsch«, sagte er. Er faßte den Rand der Blase und riß ihn weg. Die Flüssigkeit ergoß sich zu seinen Füßen, und der Nebel verdichtete sich. »Sie sind nicht hier.«
»Warum hast du das getan?« fragte Jerry.
John schlug nach den weichen Bienenwaben und zog die Hand zurück. Sie glänzte von dem purpurnen Zeug. »Weil sie nicht hier sind.«
»Wer?«
»Ruth und Loren. Sie sind einfach fort.«
»Warte…«, ermahnte ihn Jerry aber John holte mit beiden Armen aus und riß das blasige Netzwerk auseinander. Sie konnten einander durch den süßlichen, stickigen Nebel kaum erkennen. Jerry faßte seinen Bruder bei der Schulter und versuchte ihn zurückzureißen. »Hör auf, hör auf, John, verdammt noch mal!«
»Sie haben sie genommen!« brüllte John. Seine Kehle verkrampfte sich, und er hielt sich mit einer Hand den Hals, während er mit der anderen weiterstieß und zerrte und riß. »Sie sind nicht hier drin, Jerry!«
Jerry wollte ihn zurückreißen, aber John setzte sich zur Wehr, und sie kamen zu Fall und wälzten sich in dem klebrigen Zeug, bis es Jerry gelang, die Arme seines Bruders niederzudrücken. Hinter ihnen zeigte der Lichtkegel schräg aufwärts. John schüttelte den Kopf, dann begann er leise und anhaltend zu schluchzen, die Augen zugedrückt, den Mund breit gedehnt. Jerry half ihm auf und umarmte seinen Bruder, blickte über seine Schulter hinweg in den wogenden, vom Lichtkegel durchschnittenen Nebel. »Schhh!« machte er immer wieder. Sie waren über und über bedeckt mit dem unangenehm riechenden, klebrigen braunen Schmutz. »Schhh.«
»Ich habe es in mir zurückgehalten«, sagte John, nachdem er tief und bebend Atem geholt hatte. »Jerry, laß mich los! Ich habe es zu lange in mir verschlossen. Laß uns von hier verschwinden! Niemand ist da. Niemand ist hier unten.«
»Ja«, sagte Jerry. »Nicht hier. Vielleicht irgendwo, aber nicht hier.«
»Ich kann sie fühlen, Jerry.«
»Ich weiß. Aber nicht hier.«
»Aber wo dann, zum Teufel…«
»Schhh.« Sie lauschten dem leisen Säuseln der Luft, die den Nebel in Wallung brachte. Jerry spürte, wie seine Augen sich in der Dunkelheit so weit wie Katzenaugen öffneten. »Still. Da ist was…«
»Mein Gott.« John machte sich von seinem Bruder los. Sie standen da, triefend vom klebrigen Schlamm und blickten in die Richtung des Lichtkegels. Dort wogte und brodelte der Nebel.
»Es ist ein Jogger«, sagte Jerry, als die Silhouette Gestalt annahm.
»Es ist zu groß«, meinte John.
Das Objekt hatte einen Durchmesser von mindestens drei Metern, war abgeflacht und hatte Fransen, die von seiner Seite herabhingen. Im ungewissen Licht schien es bräunlich zu sein.
»Es hat keine Beine«, wisperte Jerry. »Es schwebt einfach da.«
John trat vor. »Gottverdammte Bestien«, sagte er mit gepreßter Stimme. Er hob die Faust. »Ich werde sie…«
Und es folgte ein Augenblick des Vergessens.
Der Morgen färbte den Osthimmel aquamarinblau. Die Stadt, bedeckt mit braunen und weißlichen Laken, gemahnte an etwas, das eher unter Wasser gehörte, eine niedrige, ebene Strecke Meeresgrund.
Sie standen im Entwässerungsgraben jenseits der Zäune und blickten zur Stadt hin.
»Ich kann mich kaum bewegen«, sagte Jerry.
»Ich mich auch nicht.«
»Ich glaube, es hat uns gestochen.«
»Ich fühlte nichts.«
John bewegte versuchsweise den Arm. »Ich glaube, ich sah sie.«
»Du sahst — wen?«
»Ich bin ziemlich durcheinander, Jerry.«
»Ich auch.«
Die Sonne war schon ein gutes Stück am Himmel emporgestiegen, als sie endlich imstande waren, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Über der Stadt trieben transparente Halbkugeln zwischen den Umrissen der Gebäude und versprühten bisweilen dünne Lichtimpulse. »Erinnert mich an eine Qualle«, bemerkte Jerry, während sie schwankend zur Straße und zum Lastwagen tappten.
»Ich glaube, ich sah Loren und Ruth. Ich bin nicht sicher«, sagte John. Langsam und mit steifen Bewegungen näherten sie sich allmählich dem Lastwagen, kletterten ins Fahrerhaus und schlossen die Türen. »Fahren wir!«
»Wohin?«
»Ich sah sie unten, wo wir waren. Aber sie waren nicht da. Das ergibt keinen Sinn.«
»Nein, ich meine, wohin fahren wir jetzt?«
»Aus der Stadt. Anderswohin.«
»Sie sind überall, John. Sagt das Radio.«
»Verdammte Marsbewohner.«
Jerry seufzte. »Marsbewohner? — Die hätten uns längst umgelegt, John.«
»Scheiß auf sie! Laß uns fahren!«
»Was immer sie sind«, meinte Jerry, »ich bin ziemlich sicher, daß sie von hier sind.« Er deutete mit einem Nicken hinüber zum Lawrence Livermore-Gelände. »Von dort drüben.«
»Fahr los!« sagte John. Jerry startete den Motor, legte den Gang ein und rumpelte die ungeteerte Straße entlang. Sie bogen in die East Avenue ein, wichen an der nächsten Kreuzung mit knapper Not einem verlassenen Wagen aus und schleuderten mit quietschenden Reifen auf die South Vasco Road, um die Fernstraße zu erreichen. »Wieviel Sprit haben wir im Tank?«
»Hab gestern erst aufgetankt. Bevor die Laken die Zapfsäulen einwickeln konnten.«
»Weißt du«, sagte John, bückte sich und hob Putzwolle vom Boden auf, sich die Hände zu wischen, »ich glaube nicht, daß wir klug genug sind, diesen Dingen auf den Grund zu kommen. Wir haben einfach keine Ahnung.«
»Oder keine guten Ideen, vielleicht.« Jerry kniff die Augen zusammen. Einen Kilometer voraus stand jemand am Straßenrand und winkte lebhaft. John folgte der Blickrichtung seines Bruders.
»Wir sind nicht allein«, sagte er.
Jerry verlangsamte. »Eine Frau.« Vierzig oder fünfzig Schritte vor der Stelle, wo sie wartete, hielten sie an. Jerry beugte sich aus dem Fenster der Fahrerseite, um sie genauer ins Auge zu fassen. »Jung ist sie nicht«, sagte er in enttäuschtem Ton.
Sie war Anfang oder Mitte fünfzig, mit offenem schwarzen Haar, und sie trug ein pfirsichfarbenes Seidengewand, das bis zu den Knöcheln reichte und hinter ihr flatterte, als sie näherlief. Die Brüder sahen einander an und schüttelten den Kopf, ungewiß, was sie denken oder tun sollten.
Sie kam zur Beifahrerseite, außer Atem und lachend. »Gott sei gedankt!« sagte sie. »Oder der glücklichen Fügung des Schicksals. Ich dachte schon, ich sei die einzige Überlebende in der ganzen Stadt.«
»Anscheinend nicht«, murmelte Jerry. John öffnete die Tür, und sie kletterte herauf ins Fahrerhaus. Er rückte zur Seite und machte ihr Platz, und sie setzte sich mit einem tiefen Seufzer und lachte wieder. Sie wandte den Kopf und betrachtete die beiden mit einem Ausdruck plötzlich erwachten Mißtrauens. »Sie sind hoffentlich keine Straßenräuber, oder?«
»Glaube ich nicht«, sagte Jerry, den Blick nach vorn auf die Straße gerichtet. »Von wo sind Sie?«
»Aus der Stadt. Mein Haus ist weg, und die ganze Nachbarschaft ist eingewickelt wie ein Weihnachtspaket. Ich dachte, ich sei die einzige Überlebende auf der Welt.«
»Dann haben Sie nicht Radio gehört«, sagte John.
»Nein. Ich mag die elektronischen Sachen nicht. Aber ich weiß auch so, was vorgeht.«
»Was Sie nicht sagen«, sagte Jerry und legte den Gang ein.
»In der Tat. Mein Sohn. Er ist für dies alles verantwortlich. Ich hatte keine Ahnung, welche Form es annehmen würde, aber es gibt keinen Zweifel. Und ich warnte ihn noch!«
Die Zwillinge tauschten wieder einen Blick. Die Frau warf das Haar zurück und zog es im Nacken geschickt durch ein Gummiband.
»Ja, ich weiß«, sagte sie und lachte leise. »Verrückt wie eine Bettwanze, die Alte. Aber wenn Sie mir schon nicht glauben, ich kann Ihnen sagen, wohin wir fahren sollten.«
»Wohin?« fragte Jerry.
»Nach Süden«, sagte sie entschieden. »Dorthin, wo mein Sohn arbeitete.« Sie strich das Gewand über ihren Knien glatt. »Übrigens, mein Name ist Ulam, April Ulam.«
»John«, sagte John, streckte unbeholfen die Rechte aus und ergriff ihre Hand. »Und das ist mein Bruder, Jerry.«
»Ah, ja«, sagte April. »Zwillinge. Leuchtet ein.« Jerry fing an zu lachen. Tränen traten ihm in die Augen, und er wischte sie mit dem schmutzigen Handrücken ab. »Südwärts, meine Dame?« fragte er. »Selbstverständlich.«
Elektronisches Tagebuch von Michael Bernard
15. Januar: Heute begannen sie, mit mir zu sprechen. Stockend zuerst, dann, im weiteren Tagesverlauf, mit größerer Zuversicht.
Wie soll ich die Erfahrung ihrer »Stimmen« beschreiben? Nachdem sie endlich die Blut-Gehirn-Barriere überwunden und die (für sie) enormen Grenzgebiete meines Gehirns erforscht haben, und nachdem sie in den Aktivitäten dieser neuen Welt ein ordnendes Prinzip — nämlich mich — erkannt und begriffen haben, daß die Information aus ihrer fernen Vergangenheit vor Monaten zutreffend war, daß eine makroskopische Welt tatsächlich existiert…
Nachdem sie dies alles gelernt haben, müssen sie sich nun mit der Vorstellung vertraut machen, was es ist, Mensch zu sein. Denn erst in diesem Stadium können sie mit diesem Gott in der Maschine kommunizieren. Indem sie während der letzten Tage vielleicht Zehntausende von »Gelehrten« an diesem Projekt arbeiten ließen, haben sie die Aufgabe tatsächlich gelöst und plaudern jetzt mit mir nicht anders als beispielsweise ein australischer Ureinwohner.
Ich sitze in meinem Schreibtischsessel, und wenn die verabredete Zeit kommt, sprechen wir. Ein Teil davon ist in englisch (ich denke, daß die Unterhaltung möglicherweise auf einer vorsprachlichen Ebene des Gehirns stattfindet und von meinem eigenen Verstand nachträglich ins Englische übertragen wird), teils visuell, teils in anderen Sinneswahrnehmungen — überwiegend durch den Geschmack, an Sinnesorgan, das ihnen besonders zuzusagen scheint.
Ich kann die Größe der Population in mir nicht schätzen. Sie kommen in vielen Kategorien vor: die ursprünglichen Noozyten und ihre Derivate, die unmittelbar nach der Invasion umgewandelt wurden; die Kategorien mobiler Zellen, von denen viele dem Körper offenbar neu sind, neu entworfen und mit neuen Funktionen versehen; die stationären Zellen, vielleicht keine Individuen im geistigen Sinne, da sie keine Mobilität haben und feste, wenn auch komplexe Funktionen erfüllen; die bisher noch unveränderten Zellen (nahezu alle Zellen in meinem Gehirn und Nervensystem fallen in diese Kategorie); und andere, über die ich mir noch nicht im klaren bin.
Zusammen mag ihre Zahl über zehn Billionen betragen. Nach grober Schätzung existieren in mir vielleicht zwei Billionen voll entwickelte, intelligente Individuen.
Wenn ich diese annähernde Zahl mit der Bevölkerung Nordamerikas multipliziere, die etwa eine halbe Milliarde betragen haben muß, gelange ich zu einer Milliarde Billionen, also in eine Größenordnung von 1020. Das ist die Zahl der intelligenten Lebewesen auf dem amerikanischen Kontinent — wobei selbstverständlich die gesamte vernachlässigbare menschliche Bevölkerung nicht mitgerechnet ist.
Bernard schob seinen Schreibtischsessel zurück, nachdem er die Eintragung dem Speicher übergeben hatte. Es gab zu viel aufzuzeichnen, zu viele Details; er verzweifelte angesichts der Aufgabe, die Erkenntnisse und Empfindungen den Forschern draußen auseinanderzusetzen. Nach wochenlanger Frustration und klaustrophobischen Anwandlungen, und dann dem Versuch, die chemische Sprache in seinem Blut zu entschlüsseln, gab es plötzlich eine so gewaltige Überfülle von Informationen, daß er sich außerstande sah, sie aufzunehmen. Er brauchte nur zu fragen, und tausend oder eine Million intelligenter Wesen organisierten sich, seine Frage zu analysieren und ausführlich und schnell zu beantworten.
»Was bin ich euch?« brachte etwa die Antwort:
— Vater/Mutter/Universum
— Welt-Herausforderung
— Quelle von allem
— Alt, langsam
— Berg/Galaxis
Und er konnte Stunden damit verbringen, die Komplexe sinnlicher Wahrnehmung, welche die Worte begleiteten, nachzuvollziehen; den Geschmack seines eigenen Blutserums, die festen Gewebe seines Körpers, die Freude über eingeschwemmte Nährstoffe, die Notwendigkeit von Reinhaltung und Schutz.
Wenn er in der Stille der Nacht auf seinem Feldbett lag, nur beleuchtet von den Infrarot-Sensoren, von den anderen, an seinem Körper befestigten Meß- und Kontrollgeräten zu schweigen, schwamm er in seine Träume und wieder heraus, und die vorsichtigen, beinahe ehrerbietigen Fragen und Antworten der Noozyten vermischten sich mit seinen Traumbildern. Hin und wieder erwachte er, als sei er von einem geistigen Wachhund aufgerüttelt worden, um zu erfahren, daß neues Territorium sondiert wurde.
Selbst am Tag erfuhr sein Zeitgefühl eine Verzerrung. Die Minuten, die er in Gesprächen mit den Zellen verbrachte, erschienen ihm wie Stunden, und wenn er danach in die Welt der Isolierkammer zurückkehrte, geschah es mit einem verwirrenden Mangel an Überzeugung von ihrer Realität.
Die Besuche von Paulsen-Fuchs und anderen schienen in längeren Abständen zu erfolgen, obwohl sie tatsächlich jeden Tag zur gleichen festgesetzten Zeit stattfanden.
Um drei Uhr nachmittags kam Paulsen-Fuchs mit seinen Zeitungen und Erörterungen der Neuigkeiten, die Bernard früher am Morgen in den Fernsehnachrichten gehört hatte. Die Nachrichten waren unweigerlich schlecht und wurden noch schlechter. Mit der Bombardierung der Panama-Kanalzone hatte die Sowjetunion ganz Westeuropa in Panik und hilflosen Zorn versetzt. Daraufhin hatte sie sich in ein verdrießliches Schweigen zurückgezogen, das niemanden ermutigen konnte. Bernard dachte über diese Probleme nur flüchtig nach; wichtiger war ihm, welche Fortschritte es in der Beherrschung der intelligenten Zellen gab.
»Keine«, antwortete Paulsen-Fuchs. »Sie kontrollieren offensichtlich das gesamte Immunsystem; abgesehen davon, daß sie eine erhöhte Stoffwechselrate haben, sind sie sehr gründlich getarnt. Wir glauben, daß sie inzwischen alle Antimetaboliten neutralisieren können, bevor diese zu wirken beginnen; sie sind bereits gewarnt vor Inhibitoren wie Aktinomycin. Kurzum, wir können ihnen nicht schaden, ohne Ihnen zu schaden.«
Bernard nickte. Seltsamerweise interessierte ihn das kaum noch.
»Und Sie kommunizieren inzwischen mit ihnen?« fragte Paulsen-Fuchs.
»Ja.«
Paulsen-Fuchs seufzte und wandte sich von dem Panzerglasfenster weg. »Sind Sie noch ein Mensch, Michael?«
»Selbstverständlich«, erwiderte er. Dann aber kam ihm der Gedanke, daß er es nicht war, daß er seit mehr als einem Monat nicht bloß ein Mensch war. »Ich bin immer noch ich, Heinz.«
»Warum mußten wir schnüffeln, um diese Tatsache aufzudecken?«
»Ich würde das nicht so sehen. Ich dachte, meine Eintragungen würden abgefragt und gelesen.«
»Aber Michael, warum haben Sie mir nichts davon gesagt? Es mag albern klingen, aber ich fühle mich verletzt. Ich dachte, ich sei eine Vertrauensperson in Ihrer Welt.«
Bernard schüttelte den Kopf und schmunzelte. »Das sind Sie in der Tat, Heinz. Sie sind mein Gastgeber. Und sobald ich mir darüber im klaren bin, wie ich es sprachlich auszudrücken habe, werde ich Ihnen alles erklären. Der Dialog zwischen den Noozyten und mir beginnt gerade erst. Ich kann nicht ausschließen, daß es noch zahlreiche fundamentale Mißverständnisse gibt.«
Paulsen-Fuchs ging zur Tür des Nebenzimmers. »Sagen Sie mir, wenn Sie bereit sind, es könnte sehr wichtig sein«, sagte er in müdem Tonfall.
»Gewiß.«
Paulsen-Fuchs ging hinaus.
Das war beinahe kalt, dachte Bernard. Ich benahm mich wie ein Außenseiter, der allen mißtraut. Und Heinz ist ein Freund.
Doch was konnte er tun?
Vielleicht näherte seine Menschlichkeit sich ihrem Ende.
Im sechzigsten Stockwerk erkannte Suzy, daß sie an diesem Tag nicht würde höher steigen können. Sie saß im Schreibtischsessel eines Direktors hinter einem riesigen Schreibtisch (sie hatte den grauen Anzug und das feine Seidenhemd und die Alligatorschuhe des Mannes in eine Ecke geworfen) und schaute zum breiten Fenster hinaus auf die einige zweihundert Meter unter ihr liegende Stadt. Die Wände hatten echte Holzvertäfelung und waren mit signierten Drucken von Werken Norman Rockwells in bronzierten Rahmen geschmückt. Sie aß Zwieback mit Marmelade und Erdnußbutter aus ihrem in der Plastiktüte mitgebrachten Vorrat und trank dazu Mineralwasser aus der gut sortierten Bar des Geschäftsmannes.
Ein vor dem Fenster aufgestelltes Messingteleskop bot eine großartige Gelegenheit, ihre heimatliche Nachbarschaft zu beobachten, die inzwischen völlig in die ledrigen braunen Laken eingehüllt war. Auch konnte sie alles beobachten, was sie im Süden und Westen interessierte. Der Fluß um Governors Island sah nicht mehr wie Wasser aus, sondern schlammig und wie gefroren, und eigentümlich verfestigte Wellen breiteten sich kreisförmig aus, um anderen Wellen zu begegnen, die von Ellis Island und Liberty Island ausgingen. Das alles sah mehr wie geharkter Sand denn wie Wasser aus, aber sie wußte, das es nicht zu Sand geworden sein konnte.
»Du mußt sehr reich gewesen sein und eine Menge Geld verdient haben«, sagte sie zu dem grauen Anzug und dem seidenen Hemd und den Schuhen. »Ich meine, es ist hübsch hier, und elegant. Ich würde dir danken, wenn ich könnte.« Sie trank die Flasche leer und steckte sie in einen hölzernen Papierkorb unter dem Schreibtisch.
Der Schreibtischsessel war so bequem, daß man darin schlafen konnte, aber sie hoffte, ein Bett zu finden. In Fernsehfilmen sah man manchmal reiche Geschäftsleute, die in ihren Büroräumen private Schlafzimmer eingerichtet hatten. Dieses Büro sah sicherlich vornehm genug aus. Aber im Moment war sie zu müde, um nach einem Schlafzimmer zu suchen.
Die Sonne ging über New Jersey nieder, und Suzy massierte sich die strapazierten Beinmuskeln.
Der größte Teil der Stadt, so weit sie sehen konnte, war verhängt mit braunen und schwarzen Decken. Es gab keine bessere Beschreibung. Jemand war gekommen und hatte alle Gebäude in Manhattan bis zum zehnten oder zwanzigsten Stockwerk in Decken gehüllt. Von Zeit zu Zeit sah sie riesige Bahnen des Materials auffliegen und davonsegeln, wie sie es schon in Brooklyn beobachtet hatte, aber anscheinend hatte der Wind nachgelassen, denn es gab jetzt weniger von dieser Aktivität.
»Leb wohl, Sonne«, sagte sie. Der kleine rote Bogen versank hinter dem Horizont, und zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie in der letzten Sekunde gebrochenen Lichts ein kurzes Aufleuchten von Grün. Sie hatte in der Schule davon gehört; die Lehrerin hatte gesagt, es sei ein sehr seltenes Phänomen (und hatte sich nicht die Mühe gemacht zu erklären, wodurch es verursacht wurde), und nun lächelte sie voll Freude. Sie hatte es tatsächlich gesehen.
»Ich bin eben privilegiert, das ist es«, sagte sie. Und das brachte sie auf eine Idee. Sie war nicht sicher, ob es einer ihrer unheimlichen Anflüge von Einsicht war, oder ob es sich bloß um einen Tagtraum handelte. Sie wurde beobachtet. Das Braune beobachtete sie, und der Fluß. Die Häuflein der Kleider. Was aus den Menschen geworden war, beobachtete sie. Es war keine unangenehme Art von Beobachtung, weil Suzy wußte, daß sie ihnen gefiel. Sie würde unverändert bleiben, solange sie weiterhin tat, was sie tat.
»Nun, ich muß mir mein Bett suchen«, sagte sie, stemmte sich aus dem Schreibtischsessel hoch und reckte die Arme. »Hübsches Büro«, sagte sie zu dem grauen Anzug.
Hinter dem Sekretärinnenschreibtisch im Vorzimmer war eine unmarkierte Tür. Sie öffnete sie und fand eine Kammer voll von Akten und Papieren, die auf Regalen gestapelt waren, darunter verschiedene Büromaterialien und einen eigentümlichen kleinen Kasten mit einem glimmenden roten Licht. Etwas versorgte ihn noch mit Elektrizität. Vielleicht war es ein Einbruchsalarm, dachte sie, eine von Batterien gespeiste Anlage. Oder vielleicht war es ein Rauchdetektor. Sie schloß die Tür und ging in die entgegengesetzte Richtung. Um die Ecke vom großen Büro war eine weitere Tür, und sie trug eine Messingplakette mit der Aufschrift PRIVAT. Sie nickte und probierte den Drücker. Die Tür war verschlossen, aber mittlerweile war sie routiniert in der Beschaffung von Schlüsseln. Sie fand einen wahrscheinlichen Kandidaten in der Schreibtischschublade und steckte ihn ins Schloß. Er öffnete die Tür.
Der Raum war dunkel. Sie schaltete die Taschenlampe ein. Der breitgefächerte Lichtkegel wanderte über ein bequem aussehendes Bett, einen Nachttisch, einen Tisch mit einem kleinen Computeranschluß in einer Ecke, und…
Suzy schrie auf. Sie hörte ein dumpfes Geräusch und sah aus den Augenwinkeln, wie ein kleines Ding unter den Schreibtisch und andere Dinger unter das Bett huschten. Sie hob den Lichtkegel. Neben dem Bett erhob sich eine Röhre. Auf ihrem Ende saß ein runder Gegenstand mit vielen flachen, dreieckigen Facetten und Strähnen oder Fransen, die von den Seiten hingen. Es schwankte und versuchte, dem Lichtschein zu entgehen. Etwas Kleines und Dunkles sauste an ihren Füßen vorbei, und sie sprang zurück und leuchtete auf ihre Schuhe.
Es mochte eine Ratte gewesen sein, aber dafür war es zu groß und nicht richtig geformt, und für eine Katze wiederum zu klein. Es hatte viele große Augen oder glänzende Teile an einem runden Kopf, aber nur drei mit rotem Pelz bedeckte Beine. Es rannte in das große Büro. Hastig schloß Suzy die Tür zum Schlafzimmer und wich zurück, eine Hand vor dem Mund.
Zum Teufel mit dem obersten Stockwerk. Es lag ihr nichts mehr daran.
Der Korridor außerhalb des Vorzimmers war frei. Sie nahm das Transistorradio vom Schreibtisch der Sekretärin, die Wasserflasche und ihren Plastikbeutel mit Lebensmitteln, und machte sich eilig marschbereit, zog den Gürtel durch den Handgriff an der Flasche und hängte den Beutel über die Schulter. »Mein Gott, mein Gott«, flüsterte sie. Dann rannte sie den Korridor entlang, daß die Flasche ihr gegen den Hintern schlug und öffnete die Tür zum Treppenhaus. »Abwärts«, murmelte sie. »Abwärts, abwärts, abwärts!« Sie wollte versuchen, das Gebäude zu verlassen. Wenn es in den oberen Stockwerken solche Dinger gab, hatte sie keine andere Wahl. Ihre Turnschuhe trappelten eilig über die Stufen. Der Plastikbeutel schwang hin und her und platzte plötzlich auf, verstreute Zwieback und Schokoladeriegel und kleine Dosen und Gläser über die Treppe. Die Gläser brachen, und eine ungeöffnete Dose Pflaumenkompott rollte eine Stufe nach der anderen hinab, rollte und plumpste, rollte und plumpste.
Sie fing an, die verstreuten Dinge aufzusammeln, dann lenkte eine undeutlich wahrgenommene Bewegung ihren Blick zur Wand. Mit geweiteten Augen sah sie weißliche Fäden über eine Tür hinkriechen, während ein dunkelbraunes Laken mühsam die Seitenwand erklomm.
»Nein!« schrie sie. »Verdammt, nein! Laßt mich in Ruhe, laßt mich hinuntergehen!« Sie warf den Kopf zurück und schlug auf das Treppengeländer, bis ihre Fäuste sie schmerzten. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Laßt mich in Ruhe!« Aber die Laken rückten vor.
Wieder hinauf. Ganz gleich, was weiter oben war, sie mußte hinauf. Sie konnte das Zeug mit einem Besenstiel abwehren, aber sie konnte nicht hindurchwaten — das wäre zuviel, und sie würde wirklich den Verstand verlieren.
Sie sammelte von ihren Lebensmitteln auf, was sie konnte und stopfte es in die Taschen. Oben im Restaurant mußte es Lebensmittel geben.
»Ich werde nicht darüber nachdenken«, sagte sie sich wieder und wieder, nicht in bezug auf das Essen, das ihr jetzt nur wenig Sorge bereitete. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was sie anfangen würde, nachdem sie es bis zum obersten Stockwerk geschafft hätte.
Das lederige braune Deckenmaterial war offensichtlich bestrebt, die ganze Stadt zu überziehen, bis hin zu den oberen Geschossen des World Trade Centers.
Und das würde für Suzy McKenzie sehr wenig Raum übrig lassen.
April Ulam beschirmte die Augen, um in den Sonnenaufgang zu sehen. Die Windmühlen von Tracy standen in dünnen Silhouetten vor dem gelb verfärbten Himmel. Die Propeller drehten sich im Wind und versorgten die verlassene Tankstelle, wo die Zwillinge den Lastwagen aufgetankt hatten, mit Strom. Sie blickte zu John und nickte wie in stummer Übereinstimmung: ja, wahrhaftig. Ein weiterer Tag. Dann ging sie zurück in den kleinen Lebensmittelladen, Jerrys Suche nach Proviant zu überwachen.
Sie war viel zäher, als sie aussah, dachte John. Verrückt oder nicht, sie hatte die Brüder in ihren Bann geschlagen. Sie hatten die Nacht erschöpft in der Tankstelle verbracht, nachdem sie von Livermore weniger als dreißig Kilometer gefahren waren. Sie hatten sich schließlich für die Route durch das zentralkalifornische Tal entschieden. April hatte es vorgeschlagen; sie dachte, es sei am besten, die einst dicht bevölkerten Gegenden zu meiden. »Nach allem zu urteilen, was in Livermore geschah«, hatte sie gesagt, »kann es nicht in unserem Interesse liegen, in San Jose oder sonstwo steckenzubleiben.«
Die Richtung, die sie genommen hatten, würde sie freilich unausweichlich nach Los Angeles führen und zwingen, die Stadt zu durchfahren oder einen Weg außen herum zu finden, aber John hatte das nicht erwähnt.
Wenigstens gab sie ihnen eine Richtung. Es hatte keinen Sinn zu kritisieren, denn ohne sie würden sie noch immer in Livermore sein und so oder so verrückt werden — wahrscheinlich auf gewalttätige Art und Weise. John ging um den Lastwagen herum, die Hände in den Taschen und blickte zu Boden.
Sie würden alle sterben.
Ihm war es gleich. Am vergangenen Abend war er sehr, sehr müde geworden — müde in einer Weise, die Schlaf nicht heilen konnte. Er merkte, daß Jerry genauso zumute war. Sollte die verrückte Frau sie nur an der Nase herumführen. Wen kümmerte es?
Los Angeles mochte interessant sein. Er bezweifelte, daß sie jemals bis La Jolla kommen würden.
Jerry und April kamen mit Einkaufstüten in beiden Armen aus dem Laden. Sie lehnten die Tüten auf der Ladefläche gegen die Wand, und Jerry zog eine abgenutzte Landkarte aus dem Handschuhfach des Lastwagens.
»Auf der 580 südwärts bis zur Bundesstraße 5«, sagte er. John kletterte hinter das Lenkrad, und sie rumpelten weiter die Straße entlang.
Die Fernstraße war größtenteils frei von Fahrzeugen. Aber in weiten Abständen passierten sie verlassene oder zumindest leere Lastwagen, Personenwagen und sogar einen Bus der Luftwaffe am Straßenrand. Sie hielten nicht an, um Nachforschungen anzustellen.
Die Straßendecke war trocken und sauber, und sie kamen schnell voran. Die Hügel um die Wasserspeicher von San Luis und Los Baños hätten grün von den Winterregen sein sollen, waren aber von einem matten Grau, als hätten sie vor Aufbringung einer neuen Farbe eine Grundierung erhalten. Die Wasserspeicher selbst waren tiefgrün und still wie Glas. Nirgendwo waren Vögel oder Insekten sichtbar. April betrachtete all dies mit schicksalergebenem Stolz; mein Sohn hat das zuwege gebracht, schien sie zu denken, und obschon sie die Stirn runzelte, als sie an den Stauseen vorüberfuhren, schien sie im großen und ganzen nicht zu mißbilligen, was sie sah.
Jerry war von ihr zugleich gefesselt und eingeschüchtert, und so mochte er nichts sagen. John spürte jedoch sein Unbehagen.
Die Felder zu beiden Seiten der Bundesstraße 5 waren bedeckt mit moosigen braunen Laken, die wie Plastikfolie in der Sonne glänzten. »All die Bäume und Feldfrüchte«, sagte April kopfschüttelnd. »Was mag mit der Ernte geschehen sein?«
»Ich weiß es nicht, Madam«, sagte Jerry. »Ich besprühe die Felder bloß, ich bestelle sie nicht.«
»Nicht bloß die Menschen. Es hat alles überwältigt.« Sie lächelte sinnend. »Der arme Vergil. Hatte keine Ahnung.«
Bei einem Rasthaus neben der Straße machten sie Pause. Die Türen standen offen, und hinter der Kasse und im angeschlossenen Laden lagen ein paar Haufen Kleider, aber das Gebäude war offenbar ungestört und unverändert. Als sie nebeneinander im Pissoir standen, sagte John zu seinen Bruder: »Ich glaube ihr.«
»Warum?«
»Weil sie so sicher ist.«
»Soll das ein Grund sein?«
»Und sie lügt nicht.«
»Das vielleicht nicht, aber sie hat einen Dachschaden.«
»Glaube ich nicht.«
Jerry zog den Reißverschluß hoch und sagte: »Sie ist eine Hexe, John.«
John mochte nicht widersprechen.
Das gleichförmige, braun überzogene Farmland wechselte allmählich Farbe und Charakter, als sie sich der Abzweigung Lost Hills näherten. Mehr nackte Erde erschien, staubig und leblos aussehend. In der Ferne trieb der Wind Staubwolken über das Land, als ob unsichtbare Dienstmädchen nach einer ausgelassenen Feier mit Ausfegen beschäftigt wären. »Was ist bloß aus der, Ernte geworden?« wunderte sich April.
Jerry schüttelte den Kopf. Er wußte es nicht und wollte es nicht wissen.
John blinzelte in den staubigen Dunst voraus und trat auf die Bremse, schaltete gleichzeitig herunter. Dann trat er mit aller Macht auf das Bremspedal, und der Lastwagen brach mit quietschenden Reifen aus. Jerry fluchte, und April klammerte sich grimmig an den Fensterrahmen.
Der Lastwagen kam um hundertachtzig Grad gedreht am Straßenrand zum Stillstand. John wendete und schaltete den Leerlauf ein.
Sie starrten. Worte waren überflüssig — und auch nicht möglich.
Ein Hügel überquerte die Fernstraße. Langsam und schwerfällig, vielleicht dreißig Meter hoch, schob sich die glänzend braune und grau grundierte Masse kaum zweihundert Meter voraus durch die Staubfahnen.
»Wie viele von denen mag es geben?« fragte April schließlich.
»Wer kann das sagen?« antwortete John.
»Muß einer von den Lost Hills sein, die angezeigt waren«, sagte Jerry ohne eine Andeutung von Leichtsinn.
»Vielleicht ist das eine Erklärung für das Verschwinden der Ernte«, spekulierte April. Den Brüdern lag nichts daran, die Frage zu diskutieren. John wartete, bis der Hügel die Straße freigab, was eine halbe Stunde dauerte, und als er sich in westlicher Richtung weiter über die Felder schob, startete John den Motor und legte den ersten Gang ein. Im Schrittempo holperten sie über den zerwühlten Asphalt. Es roch nach zerquetschten Pflanzen und Staub.
»Marsbewohner«, sagte John. Das war sein letzter Protest gegen Aprils Behauptung zu wissen, was tatsächlich geschehen sei. Danach sagte er sehr wenig, bis die Steigung begann, vorüber an den unveränderten Bäumen und Gebäuden von Fort Tejon und den undeutlichen Umrissen der kleinen Ortschaft Gorman. Als sie sich der Paßhöhe näherten, warf er Jerry einen Seitenblick zu und sagte: »Voraus die Stadt der Engel.«
Es war fünf Uhr nachmittags, früher Abend, und es wurde bereits dunkel.
Die Luft über Los Angeles war purpurrot wie gut abgehangenes rohes Fleisch.
Zur Mittagszeit wurde Bernards Essen durch die kleine Luke geschickt — eine Schale mit Obst und Brötchen mit Roastbeef mit einem Glas Mineralwasser. Er aß langsam und nachdenklich, und von Zeit zu Zeit ging sein Blick zum Bildschirm. Der Datenanschluß zeigte die letzten Ergebnisse der Analyse einiger seiner Serumproteine.
Die Zahlen auf dem Bildschirm waren pfefferminzgrün. Unter ihnen nahmen rote Linien Gestalt an, die sich zusammenrollten, als neue Zahlenserien hinzugefügt wurden.
Bernard, was ist das?
— Keine Bange, antwortete er auf die innere Frage. Wenn ich nicht arbeiten kann, funktioniere ich schlecht.
Die Kommunikationsebene hatte sich in den letzten Tagen enorm vervollkommnet.
Du analysierst etwas, was mit unserer Kommunikation in Zusammenhang steht. Dazu gibt es keine Notwendigkeit. Du kommunizierst bereits durch die richtigen Kanäle, durch uns.
— Ja, richtig. Aber werdet ihr mir alles sagen, was ich wissen muß?
Wir sagen dir, was zu sagen wir beauftragt sind.
— Ihr habt mich enträtselt, also erlaubt mir, euch zu enträtseln. Ich muß fühlen, daß ich nicht machtlos bin, daß ich etwas Nützliches tue.
Mit großer Schwierigkeit haben wir versucht, deine Situation zu verstehen, Sie VORZUSTELLEN. Du bist in einem geschlossenen RAUM. Dieser RAUM ist von »Konzentration«, die du als klein betrachtest.
— Aber ausreichend, da ich jetzt euch habe, mit denen ich plaudern kann.
Du bist festgehalten. Du kannst die Grenzen des eingeschlossenen RAUMS nicht durchdringen. Ist diese Beschränkung Folge deiner Entscheidung?
— Ich werde nicht bestraft, wenn es das ist, was euch Sorgen macht.
Wir können BESTRAFT nicht »codieren«. Du bist gesund. Deine Körperfunktionen sind in Ordnung. Deine EMOTION ist nicht extrem.
— Warum sollte ich aufgeregt sein? Ich habe verloren. Alles ist vorbei bis auf die… ähem… Verschlüsselung.
Wir WÜNSCHTEN, du wärst dir der Physiologie deines Gehirns mehr bewußt. Wir könnten dir viel mehr über deinen Zustand sagen. Wie die Dinge liegen, haben wir extreme Schwierigkeiten, WORTE zu finden, um die Örtlichkeit unserer Arbeitsgruppen zu beschreiben. Aber um zu der vorherigen Frage zurückzukehren: Warum WÜNSCHST du andere Formen der Kommunikation zu verarbeiten?
— Ich blockiere meine Gedanken nicht, oder? (Tue ich es?) Ihr solltet von selbst imstande sein, festzustellen, was ich tue. (Wie könnte ich euch meine Gedanken verbergen?)
Du erkennst unsere Unzulänglichkeit. Du bist uns so neu. Wir betrachten dich mit…
— Ja?
Diejenigen, die beauftragt worden sind, diesen Zustand nachzubilden als ****** Dies ist unklar.
— Scheint mir auch so.
Wir betrachten dich, als ob du einer leichten Form von »Doppelbewußtsein« fähig wärst. Tadel für minimale Leistung zugewiesener Verarbeitung.
— Ihr betrachtet mich als was?
Wir betrachten dich als »oberste Befehlsgruppe«.
— Was ist das? Und das bringt mich auf eine ganze Menge von Fragen, die ich stellen möchte.
Wir sind autorisiert, diese Fragen zu beantworten.
(Mein Gott! Sie wußten den Inhalt der Fragen, noch ehe sie in seinem Verstand Gestalt angenommen hatten.)
— Ich möchte gern zu einem Individuum sprechen.
INDIVIDUUM?
— Nicht bloß zur Gruppe oder Forschungsabteilung. Zu einem von euch, der allein handelt.
Wir haben INDIVIDUUM in deinen Begriffen studiert. Wir passen nicht zu dem Wort.
— Es gibt keine Individuen?
Nicht genau. Information wird zwischen Anhäufungen von ***** geteilt.
— Nicht klar.
Vielleicht ist dies, was du mit INDIVIDUUM meinst. Nicht das gleiche wie eine einzelne Mentalität. Dir ist bewußt, daß Zellen sich zu grundlegender Strukturierung zusammenschließen; jeder Zusammenschluß ist das kleinste INDIVIDUUM. Diese Zusammenschlüsse trennen sich selten für längere Zeit in einzelne Zellen. Information wird zwischen Zusammenschlüssen, die gemeinsam an zugewiesenen Aufgaben arbeiten, ausgetauscht, einschließlich Unterweisung und Erinnerung. Mentalität wird auf diese Weise zwischen Gruppen geteilt, die eine Funktion ausführen. Wichtige Erinnerung kann durch alle Zusammenschlüsse verbreitet werden. Was du als INDIVIDUUM denkst, mag durch die »Totalität« verbreitet werden.
— Aber ihr seid nicht alle von einer Mentalität, einem kollektiven Bewußtsein.
Nein, soweit wir diese Begriffe analysieren können.
— Ihr könnt miteinander streiten?
Es kann Differenzen in der Zugangsweise geben, ja.
— Was also ist eine Befehlsgruppe?
Eine Schlüsselgruppe entlang wichtiger »Verkehrsverbindungen« wie Adern, um die Wirkung wandernder Gruppen, Dienerzellen und für Spezialzwecke geschaffene Designerzellen zu überwachen. Du bist wie die mächtigste der Kommandogruppen, und doch bist du EINGESCHLOSSEN und hast noch nicht entschieden, deine Macht zur »Lysis« zu gebrauchen. Warum übst du nicht Herrschaft aus?
Die Augen geschlossen, dachte er lange über diese Frage nach — vielleicht eine Sekunde oder mehr —, und antwortete:
— Ihr macht Bekanntschaft mit dem Geheimnis.
Versuchst du durch diese Forschungen unsere Kommunikation herauszufordern?
— Nein.
Hier liegt eine »Trennung« vor.
— Ich werde jetzt müde. Bitte laßt mich für eine Weile allein.
Verstanden.
Er rieb sich die Augen und nahm ein Stück Obst aus der Schale. Plötzlich fühlte er sich erschöpft.
»Michael?«
Paulsen-Fuchs stand im Nebenraum. »Hallo, Heinz«, sagte Bernard. »Ich habe gerade eben das unheimlichste Gespräch geführt, das Sie sich denken können.«
»Ja?«
»Ich glaube, sie behandeln mich wie eine Art Gottheit.«
»Ach du liebe Zeit«, sagte Paulsen-Fuchs.
»Und wahrscheinlich bleiben mir nur noch ein paar Wochen.«
»Das sagten Sie schon bei Ihrer Ankunft — nur sprachen Sie damals von einer Woche.«
»Ich kann die Veränderungen jetzt spüren. Es geht langsam voran, aber es wird doch dazu kommen.«
Sie starrten einander durch das Dreischichtenglas an. Paulsen-Fuchs setzte mehrere Male zum Sprechen an, brachte aber nichts hervor. Dann hob er hilflos die Hände und ließ sie fallen.
»Ja«, sagte Bernard seufzend.
Ja, fertig — alle Leitungen entwirrt und angeschlossen — wir alle sind hier ein wenig nervös, machen Sie sich nichts aus dem Zähneklappern. Aufnahme jetzt? Und die Direktleitung… ja, Arnold? 1,2,3, Lloyd Upton hier, ja, das ist richtig… In Ordnung. Colin, diese Flasche. Wird der orangefarbene Anzug das Videobild nicht stören? Mich stört er. Fangen wir an!
Hallo, ich bin Lloyd Upton vom britischen Zweig des Sendernetzes Europäischer Rundfunkanstalten. Ich befinde mich jetzt zwanzigtausend Meter über dem Herzland der Vereinigten Staaten von Amerika, im Nachrichtenraum eines als Höhenfernaufklärer umgebauten B1-Kampfflugzeugs, des RB-IH. Mit mir sind Korrespondenten von vier großen Kontinentalen Sendergruppen, von internationalen Nachrichtenagenturen und der BBC. Wir sind die ersten zivilen Berichterstatter, die seit dem Ausbruch der schrecklichsten Seuche in der Menschheitsgeschichte die Vereinigten Staaten überfliegen. In unserer Begleitung befinden sich zwei namhafte Wissenschaftler, die wir auf der Rückkehr von unserem Aufklärungsflug, auf dem bisher eine Durchschnittsgeschwindigkeit von Mach 2 erreicht wurde, eingehend zu den beobachteten Erscheinungen befragen werden.
In nur acht Wochen, zwei kurzen Monaten, hat der gesamte nordamerikanische Kontinent eine kaum zu beschreibende Umwandlung erfahren. Alle vertrauten Landmarken — ganze Städte — sind unter der Landschaft eines biologischen Alptraums verschwunden oder umgewandelt worden. Unsere Maschine folgte einem Zickzackkurs von New York nach Atlantic City, dann hinüber nach Washington, durch Virginia, Kentucky und Ohio, und bald werden wir auf eine Höhe von eintausend Metern heruntergehen und Chikago, Illinois und die Großen Seen überfliegen. Dort werden wir umkehren und die Ostküste südwärts nach Florida fliegen, von dort über den Golf von Mexiko, wo wir von einem auf dem Marinestützpunkt Guantanamo, auf Kuba, der wie durch ein Wunder den Auswirkungen der Seuche entgangen ist, stationierten Tankflugzeug Treibstoff übernehmen werden.
Wir können den Kummer vieler in England, Europa und Asien wie in anderen Teilen der Welt gestrandeten Amerikaner verstehen. Ich fürchte sehr, daß wir ihnen mit diesem historischem Überflug keine Tröstung bringen können. Was wir gesehen haben, kann keinen Menschen erfreuen. Gleichwohl haben wir nicht Verlassenheit beobachtet, sondern vielmehr eine unheimliche und — wenn ich hier ein ästhetisches Urteil abgeben darf — wundersame Landschaft, gestaltet von einer völlig neuen Lebensform, deren Ursprünge in geheimnisvolles Dunkel gehüllt sind. Spekulationen, daß die Seuche in einem biogenetischen Laboratorium bei San Diego, Kalifornien, entstand, sind von amtlicher Seite weder bestätigt noch dementiert worden, und uns war es bisher nicht möglich, eine potentielle Schlüsselfigur in dem Drama zu interviewen, den berühmten Neurochirurgen Dr. Michael Bernard, der gegenwärtig bei Wiesbaden in Quarantäne gehalten wird.
Während dieses Fluges senden wir Videoaufzeichnungen und Einzelaufnahmen unserer Reihenbildkameras. Einige Bildfolgen werden direkt übertragen, andere ausgewertet und geschnitten, um dieser historischen Lifesendung zu einem späteren Zeitpunkt zu folgen.
Wie kann ich die Landschaft unter uns bildhaft beschreiben? Ein neues Vokabular, eine neue Sprache mag dazu notwendig sein. Strukturen und Formen, die Biologen und Geologen bislang unbekannt waren, haben die Städte und ihre Vororte abgelöst und sogar die unbewohnten Gebiete Nordamerikas umgewandelt. Während die Wälder ihr Aussehen weitgehend behalten haben, sind weite landwirtschaftliche Flächen zu grüngrauen Dickichten geworden. Durch Teleobjektive haben wir da und dort Bewegung in diesen Komplexen beobachtet, elefantengroße Objekte, die sich auf unbekannte Weise fortbewegen. Wir haben gesehen, wie Flüsse in eine Art Kontrollierter Strömung überführt wurden und Strömungsmuster zeigen, die dem Fluß natürlicher Wasserwege unähnlich sind. An der Atlantikküste, vor allem aber in der Nachbarschaft von Städten wie New York und Atlantic City, ist der Ozean selbst über eine Entfernung von zehn bis zwanzig Kilometern bedeckt mit einer anscheinend lebenden Schicht glänzender, glasig-grüner Materie.
Was die Städte selbst betrifft, so konnten wir kein Zeichen vertrauten Lebens feststellen, auch keine Zeichen überlebender Menschen. Das Stadtgebiet von New York ist heute ein fremdartiges Gewirr teils organisch anmutender, teils geometrischer Formen, eine Stadt, die offensichtlich niedergerissen worden ist und nun nach den Bedürfnissen der Seuche umgestaltet wird — wenn eine Seuche Ziele und Bedürfnisse haben kann. Tatsächlich bestätigt alles, was wir, gesehen haben, die volkstümlichen Gerüchte, nach denen Nordamerika der Invasion einer Form intelligenten biologischen Lebens erlegen ist — das heißt, intelligenter Mikroorganismen, die zusammenarbeiten, mutieren, sich anpassen und ihre Umwelt verändern. New Jersey und Connecticut zeigen ähnliche biologische Formationen, die wir Journalisten »Megaplexe« zu nennen uns angewöhnt haben, da uns ein passenderer Ausdruck fehlt. Wir überlassen die weitere Verfeinerung der Nomenklatur den Wissenschaftlern.
Wir gehen jetzt tiefer. Die Stadt Chikago liegt im Bundesstaat Illinois am Südwestende des Michigansees, eines riesigen Süßwasserreservoirs. Wir befinden uns gegenwärtig einhundert Kilometer von Chikago entfernt und überfliegen den Michigansee in südwestlicher Richtung. Schwenken wir die Kamera, um zu zeigen, was wir, die Korrespondenten, Wissenschaftler und Besatzungsmitglieder an Bord dieser Maschine, mit eigenen Augen sehen. Dieser besondere Bildschirm, der sich durch hohes Auflösungsvermögen auszeichnet, zeigt die Oberfläche des Michigansees absolut glatt, ähnlich der Oberfläche des Ozeans im Umkreis der großen Hafenstädte. Das Gitternetz ist vermutlich für kartographische Zwecke. Verzeihen Sie, daß ich meinen Finger ins Bild bringe, aber ich möchte diese eigentümlichen Merkmale zeigen, die wir schon in den Wassern des Hudson gesehen haben, diese charakteristischen, sehr lebhaft erscheinenden gelbgrünen Kreise oder Atolle, von denen äußerst komplexe Linien wie die Speichen eines Rades ausstrahlen. Eine Erklärung für diese Formationen ist nicht bekannt, obwohl Satellitenaufnahmen bisweilen gezeigt haben, daß Ausläufer der Speichen sich rasch zum Ufer hin verlängerten, um dort Verbindung mit topographischen Veränderungen aufzunehmen, die auf dem Festland stattfanden.
Wie bitte? Ja, ich verstehe. Wir sind… ah… soeben unterrichtet worden, daß einige dieser Phänomene vorläufig der Geheimhaltung unterliegen.
Wir haben den Kurs geändert und gehen in einem weiten Bogen über Waukegan, Illinois nieder. Illinois ist bekannt für das Fehlen von Bodenerhebungen und für seine Automobile, da Detroit in… nein, Detroit ist oder war in Michigan. Ja. Illinois ist bekannt für seine flache Topographie, und Chikago trug den Beinamen Windy City, wegen der Winde, die oft vom Michigansee hereinblasen. Wie wir sehen können, ist die Topographie jetzt zu Strukturen verändert worden, die an Farmgebiete erinnern, doch sind die Unterteilungen nicht rechteckig oder gitterförmig, sondern oval oder kreisförmig, wobei kleinere Kreise die Räume zwischen den größeren ausfüllen. Im Mittelpunkt eines jeden Kreises liegt ein Hügel, eine Erhebung, die an die Zentralkegel von Mondkratern erinnert. Diese Kegel — ja, ich sehe, daß sie tatsächlich kegelförmige Pyramiden mit konzentrischen Ringen oder Stufen sind, haben wahrscheinlich eine Funktion, die uns jedoch nicht bekannt ist. Die Spitzen dieser Kegel sind orangefarben, etwa wie der Fluganzug, den ich trage. Leuchtfarbenorange, sehr auffallend.
Wir haben beträchtlich verlangsamt. Die Tragflächen sind weiter ausgefahren worden, und in diesem Augenblick überfliegen wir in vergleichsweise niedriger Höhe und Geschwindigkeit die Stadt Evanston nördlich von Chikago. Kein Zeichen menschlichen Lebens, so weit das Auge reicht. Wir sind alle… äh… ein wenig nervös, glaube ich, selbst die aus Luftwaffenoffizieren bestehende Mannschaft, denn sollte etwas schief gehen, würden wir inmitten dieses… Nein, daran wollen wir nicht denken. Wir gehen tiefer und verlangsamen weiter.
Wir haben beschlossen, Chikago zu überfliegen, weil Aufnahmen von Satelliten und Höhenaufklärern eine Konzentration biologischer Aktivität um diese einstige Millionenstadt zeigen. Wie Chikago einmal das wirtschaftliche Zentrum des amerikanischen Herzlandes war, so dient es allem Anschein nach jetzt als eine Art Brennpunkt, eine Schaltstelle vielleicht, für die Aktivitäten überall im Land, von Kanada bis Mexiko. Deutlich sind in den Aufnahmen Strukturen wie Erdölleitungen zu erkennen, die aus allen Richtungen in Chikago zusammenfließen. In einigen Gegenden öffnen sich diese Strukturen zu breiten Kanälen, und gerade jetzt überfliegen wir einen und können das rasche Dahinströmen einer breiig aussehenden grünen Flüssigkeit beobachten… Ja, dort. Können wir vielleicht…? Nun, später in der Sendung. Der Kanal muß annähernd einen halben Kilometer breit gewesen sein. Erstaunlich. Furchterregend.
Gerüchten zufolge, die auf Kreise des militärischen Geheimdienstes in Wiesbaden, London und Schottland zurückgehen sollen, befindet sich ein weiteres und sehr andersartiges Zentrum biologischer Aktivität an der Westküste der Vereinigten Staaten. Einzelheiten sind nicht zugänglich, doch scheint Chikago mit Südwestkalifornien die Auszeichnung zu teilen, ein Hauptpunkt des Interesses für Forscher und Entdecker zu sein. Wir werden jedoch nicht zur Westküste fliegen; unsere Maschine verfügt nicht über die erforderliche Reichweite ohne aufzutanken, und so weit im Westen des Kontinents gibt es keine Auftankmöglichkeiten.
Die Maschine kreist nun über dem nördlichen Stadtgebiet Chikagos und beschleunigt wieder etwas. Unter uns liegt der Vorort Oak Park, doch läßt sich nicht eine einzige Straße nach dem uns vorliegenden Stadtplan identifizieren. Und nun befinden wir uns über Chikago selbst, wenn ich die Entfernungen richtig einschätze, und wir kommen wieder hinaus über den See; ja, da ist der Hafen von Montrose, die Uferstraße und der Lincoln Park, erkennbar durch die Umrisse des Seeufers. Wieder ein weiter Kreis, diesmal über dem Gebiet, wo das Museum für Wissenschaft und Industrie stand — wir alle können nur raten. Und jetzt sehe ich Wasserwege, vielleicht die ursprünglichen Verzweigungen des Schiffskanals, und wir sind jetzt auf ungefähr eintausend Meter Höhe heruntergegangen, eine sehr gefährliche Höhe, denn wir haben keine Ahnung, wie hoch diese biologischen Mikroorganismen sich ausbreiten können. Keiner von uns ist frei von Befürchtungen. Wir überfliegen jetzt… ja…
Großer Gott! Verzeihen Sie. Das müssen die Schlachthöfe gewesen sein. Wir haben sie eben kaum gesehen, denn der Pilot hat die Maschine steil hochgezogen, und wir nehmen jetzt Kurs nach Süden. Was wir gesehen haben…
Verzeihen Sie.
Ich muß erst meine Fassung wiedergewinnen, denn ich habe in all den Stunden, die wir über dem Alptraumland zugebracht haben, nichts dergleichen gesehen. Das Teleobjektiv zeigte uns genau Einzelheiten der Gegend, wo einst die berühmten Schlachthöfe und Viehpferche von Chikago gewesen sein müssen. Wenn wir die enorme Menge lebender Tiere in Betracht ziehen — Schweine, Schafe, Rinder — die in diesem Bereich konzentriert waren, sollten wir vielleicht nicht überrascht oder erschreckt sein. Die größten mir bekannten Lebewesen sind bisher Wale gewesen, aber was wir hier gesehen haben, übertraf selbst den größten Wal um… ich weiß nicht genau wieviel. Riesengroße bräunliche und weißliche Eier, können sie in der Luft geschwebt sein? Vielleicht ruhten sie am Boden. Größer als Dinosaurier, doch ohne erkennbare Beine, Köpfe, Schwänze. Doch auch nicht ohne Merkmale, Verlängerungen und Erweiterungen, und sie waren umgeben und wurden vielleicht gepflegt von Polyedern, das heißt, Ikosaedern oder Dodekaedern — mit insektenähnlichen Beinen, gerade und ohne Gelenke, Beinen, die zwei oder drei Meter dick sein mußten. Eine von den eiförmigen Kreaturen, oder was immer sie waren, hätte sicherlich ein Fußballfeld ausgefüllt.
Ja, ja — wir sind informiert worden… wir sind gerade informiert worden, daß es fliegende Lebensformen gibt, und daß wir mit knapper Not der Kollision mit einigen von ihnen entgangen sind, die gigantischen Rochen, Gleitflüglern oder Segeln ähnelten, auch braun und weißlich. Sie flogen in einer Reihe nach Südwesten, als hätten sie sich zu einem Geschwader oder einem Schwarm formiert. Entschuldigen Sie. Entschuldigen Sie…
Ton und Bild aus! Ton und Bild aus, verdammt noch mal!
(Pause von fünf Minuten.)
Wir sind wieder da, und ich bitte, die Verzögerung zu entschuldigen. Ich bin auch nur ein Mensch und… nun, bisweilen in Gefahr, von Gemütsbewegungen überwältigt zu werden. Ich hoffe, Sie werden dies verstehen. Und lassen Sie mich an dieser Stelle sagen, daß ich die Ruhe und das Können unserer Offiziere und Besatzungsmitglieder bewundere, die sich durch nichts aus der Fassung bringen lassen. Wir haben soeben Danville in Illinois überflogen und werden in Kürze Indianapolis erreichen. Wir haben Veränderungen im Charakter der Landschaft — oder vielleicht sollte ich sagen, der Biostrukturen — gesehen, Veränderungen in Farbe und Form, doch ist uns eine Interpretation dessen, was wir unter uns vorbeiziehen sehen, schlechterdings unmöglich. Es ist, als überflögen wir eine völlig neue, fremde Welt, und unsere beiden Wissenschaftler sind viel zu sehr mit Ablesungen und Tonbanddiktaten ihrer Beobachtungen beschäftigt, als daß sie uns Journalisten Theorien oder Hypothesen, die sie möglicherweise entwickelt haben, mitteilen könnten.
Jetzt liegt Indianapolis unter uns, genauso geheimnisvoll, unbegreiflich, fremdartig und… ja… schön wie die anderen Megaplexe. Einige der Strukturen hier scheinen annähernd so hoch zu sein wie die Gebäude, die sie ersetzen, vielleicht einhundert oder zweihundert Meter hoch, und jetzt werfen sie im späten Tageslicht lange Schatten. Bald wird sich der Zeitablauf für uns beschleunigen, wenn wir auf Ostkurs gehen, und die Sonne wird untergehen. Die Atmosphäre ist bemerkenswert klar — keine Industrie, keine Automobile —, doch wer kann sagen, welche Art von Umweltverschmutzung eine lebende Landschaft verursachen mag, die nicht durch Photosynthese Sauerstoff erzeugt und so lufterneuernd wirkt? Was an Verseuchung vor sich geht, scheint jedenfalls nicht in die Atmosphäre abgegeben zu werden.
Ja, das wird von unseren Wissenschaftlern bestätigt. Als wir in geringer Höhe Chikago überflogen, zeigten die Meßergebnisse praktisch reine Luft an, frei von Rauch und Abgasen, und diese Reinheit der Luft zeigt sich auch in den klaren Farben des Horizonts. Die Luft ist zudem feucht und für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Vielleicht wird es in Nordamerika dieses Jahr keinen Winter geben, denn inzwischen müßten Chikago und die anderen überflogenen Städte bereits unter dünnen Schneedecken liegen. Aber es gibt keinen Schnee, nur Regen, warm und in großen Tropfen. Wir haben Gebiete mit dichter Bewölkung überflogen, aber nirgendwo Schnee oder Eis gesehen.
Ja. Ja. Ich sah es auch. Wie eine Feuerkugel sah es aus, eine Art Meteor vielleicht, bemerkenswert — Und mehrere andere, anscheinend…
(Laute Stimmen im Hintergrund, ein Alarmsignal.)
Großer Gott! Das war anscheinend der Wiedereintritt eines ausgedienten Satelliten in die obere Atmosphäre, vielleicht ein paar Dutzend Kilometer entfernt. Detektoren an Bord der Maschine geben Strahlungsalarm. Die Besatzung hat alle Notsysteme aktiviert, und wir befinden uns jetzt in einem steilen Steigflug aus der Gefahrenzone, mit… ja… nein, wir gehen tiefer und zeigen dem Objekt, was immer es war, ein Heckprofil…
Hier wird davon gesprochen, daß die Feuerkugel möglicherweise eine wieder in die Erdatmosphäre eintretende Interkontinentalrakete war, die jedoch nicht zündete, andernfalls würden wir kaum noch hier sein, und nun…
(Mehr Stimmen, die verwirrt durcheinander rufen; weitere Alarmsignale.)
Großer Gott! Nein! Ich fürchte, wir können die Maschine nicht mehr abfangen. Die meisten Instrumente und die Triebwerke sind ausgefallen, und wir sind in einem antriebslosen Sturzflug. Noch ist die Radioverbindung intakt, aber…
(Ende der Sendung RB-IH. Ende der Direktübertragung Lloyd Upton für das Sendernetz Europäischer Rundfunkanstalten. Ende der wissenschaftlichen Telemetrie.)
Bernard lag auf dem Feldbett, einen Fuß am Boden, das andere Bein angezogen und den Fuß gegen eine Falte in der Matratze gestützt. Er hatte sich seit einer Woche weder rasiert noch gebadet. Seine Haut war gezeichnet von weißlichen Schwielen, und aus den Schienbeinen hatten sich beulenartige Auswüchse entwickelt, die bis zu den Mittelfußknochen reichten. Sogar unbekleidet sah er aus, als trage er ausgestellte Hosen.
Ihm war es gleich. Mit Ausnahme seiner einstündigen Sitzung mit Paulsen-Fuchs und seiner täglichen Untersuchung, die etwa zehn Minuten in Anspruch nahm, verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit auf dem Feldbett, wo er, die Augen geschlossen, mit den Noozyten kommunizierte. Den Rest der Zeit widmete er dem Bemühen, die chemische Sprache zu entschlüsseln. Er hatte wenig Hilfe von den Noozyten erhalten. Das letzte Gespräch über den Gegenstand hatte drei Tage zuvor stattgefunden.
Deine Konzeption ist nicht vollständig, nicht richtig.
— Sie ist noch nicht fertig.
Warum läßt du deine Kameraden nicht mit der Arbeit fortfahren? Es kann mehr erreicht werden, wenn du deine Aufmerksamkeit nach innen lenkst.
— Es wäre einfacher, wenn ihr mir einfach sagen würdet, wie ihr kommuniziert…
Wir WÜNSCHEN, wir könnten mehr »rein« miteinander sein, aber Befehlsgruppen glauben, daß Verschwiegenheit jetzt das Beste ist.
— Das kann ich mir denken!
Die Noozyten wollten ihm und den Forschern außerhalb der Isolierkammer also Informationen vorenthalten. Die Leute der Pharmek wiederum verschwiegen ihm in letzter Zeit immer mehr. Bernard konnte über die Gründe nur Mutmaßungen anstellen; er hatte Paulsen-Fuchs wegen der allmählichen Reduktion von Nachrichten und Untersuchungsergebnissen nicht zur Rede gestellt. In mancher Weise schien es ihm kaum der Mühe wert; er hatte mehr als genug zu tun, sich den Wechselwirkungen der Noozyten anzupassen.
Der Datenanschluß war noch eingeschaltet, zeigte noch immer Datenmaterial, das dem Computer vor drei Tagen eingegeben worden war. Die roten Linien hatten die grünen Zahlenkolonnen jetzt vollständig verdrängt. Von Zeit zu Zeit kamen blaue Linien hinzu. Die Kurven ihres Koordinatensystems flachten sich mehr und mehr ab, als die chemische Zusammensetzung in eine vermittelnde mathematische Sprache umgesetzt wurde, die in der nächsten Phase in eine Art Hilfssprache formaler Logik übersetzt würde. Aber diese nächste Phase war noch Wochen oder Monate entfernt.
Sein Gedankengang löste eine untypische Unterbrechung von Seiten der Noozyten aus.
Bernard, arbeitest du noch immer an unserer »Blutmusik«?
Hatte Ulam diese Wendung nicht auch einmal gebraucht?
Ist es dein WUNSCH, dich auf unserer Ebene zu uns zu gesellen? Wir hatten diese Möglichkeit nicht erwogen.
— Ich verstehe nicht recht, was ihr damit andeuten wollt.
Der Teil von dir, der hinter allen ausgegebenen Kommunikationen steht, mag verschlüsselt, aktiviert, zurückgegeben werden. Es wird wie ein TRAUM sein, wenn wir völlig verstehen, was das ist. (ANMERKUNG: Du träumst die ganze Zeit. Wußtest du das?)
— Ich kann einer von euch werden?
Wir denken, das ist eine richtige Einschätzung. Du bist bereits einer der unsrigen. Wir haben Teile von dir in viele Arbeitsgruppen verschlüsselt. Wir können deine PERSÖNLICHKEIT verschlüsseln und den Kreis schließen. Du wirst einer der unsrigen sein — zeitweilig, solltest du das wollen. Wir können es jetzt tun.
— Ich fürchte mich. Ich fürchte, ihr werdet mir die Seele stehlen…
Deine SEELE ist bereits verschlüsselt, Bernard. Wir werden nichts einleiten, solange wir nicht von all deinen geistigen Fragmenten die Erlaubnis erhalten.
»Michael?« Paulsen-Fuchs’ Stimme riß ihn aus dem inneren Zwiegespräch. Bernard schlug die Augen auf und blinzelte zum Fenster des benachbarten Raums. »Michael? Sind Sie wach?«
»Ich bin wach. Was gibt es?«
»Vor einigen Tagen gaben Sie uns Ihre Einwilligung, Sean Gogarty zu empfangen. Er ist jetzt hier.«
Michael stand auf. »Ja, verstehe. Dort bei Ihnen? Meine Sicht ist verschwommen.«
»Nein, draußen. Ich denke, Sie werden sich vorher anziehen und säubern wollen.«
»Wozu?« erwiderte Bernard gereizt. »Ganz gleich, wie oft ich mich rasiere, ich werde keinen hübschen Anblick bieten.«
»Sie wünschen ihn zu empfangen, wie Sie sind?«
»Ja. Bringen Sie ihn herein. Sie unterbrachen gerade ein interessantes Zwiegespräch, Heinz.«
»Wir alle werden für Sie jetzt immer mehr zu bloßen Unterbrechungen, nicht wahr?«
Bernard versuchte zu lächeln. Sein Gesicht fühlte sich steif an, unvertraut. »Bringen Sie ihn herein, Heinz!«
Sean Gogarty, Professor für theoretische Physik am Kings College der Universität London, betrat den Beobachtungsraum und beschirmte mit einer Hand die Augen, als er in die Isolierkammer spähte. Sein Gesicht war offen und freundlich, mit vorstehenden Vorderzähnen und einer langen Nase. Er war groß und hielt sich gut, und unter seinem Jackett aus irischer Wolle wirkten seine Arme kräftig und muskulös. Aber sein Lächeln verblaßte, und die Augen hinter der modischen Brille wurden schmal, als er Bernard sah. »Dr. Bernard?« sagte er zögernd. Seine Stimme hatte einen angenehmen irischen Dialekt mit einem Firnis von Oxford.
»Dr. Gogarty.«
»Ja, nun… ah… Ich weiß von Ihnen, und ich bin sicher, daß Sie nie von mir gehört haben, Dr. Bernard.« Wieder das Lächeln, aber die Selbstsicherheit war dahin, und er schien gründlich beunruhigt. Als hätte er, dachte Bernard, ein menschliches Wesen erwartet und sehe sich nun…
»Heinz — Dr. Paulsen-Fuchs — hat mich über einige Ihrer Arbeiten unterrichtet. Es geht etwas über meine Begriffe, Dr. Gogarty.«
»Geradeso wie diese Ereignisse in Ihrem Land über meine Begriffe gehen. Ich habe ein paar Punkte, die ich gern mit Ihnen erörtert hätte, Dr. Bernard, und nicht bloß mit Ihnen.«
Paulsen-Fuchs warf ihm einen etwas besorgten Seitenblick zu. Diese Zusammenkunft war unzweifelhaft von den beteiligten Regierungen abgesegnet worden, dachte Bernard, oder es wäre nie dazu gekommen. Aber Paulsen-Fuchs befand sich trotzdem in einem Zustand sichtlicher Anspannung.
»Meine Kollegen?« Bernard machte eine Handbewegung zu Paulsen-Fuchs.
»Nein, nicht ihre menschlichen Kollegen?« sagte Gogarty.
»Meine Noozyten.«
»Noozyten? Ja, ja, ich verstehe. Ihre Noozyten. Teilhard de Chardin hätte diesen Namen gebilligt, denke ich.«
»Ich habe in letzter Zeit nicht viel an Teilhard de Chardin gedacht«, antwortete Bernard, »aber er mag kein schlechter Führer sein.«
»Ja, gut, ich habe es mit knapper Not geschafft, hierher zu kommen«, sagte Gogarty, »und meine Zeit war und ist leider begrenzt. Ich habe Ihnen einen Gedanken vorzutragen und möchte Sie und Ihre kleinen Kollegen bitten, ein Urteil darüber abzugeben.«
»Wie erhielten Sie detaillierte Information über mich und über die Noozyten?« fragte Bernard.
»Fachleute aus ganz Europa zerbrechen sich den Kopf über diese Fragen. Jemand kam zu mir, weil er eine Idee hatte. Ich hoffe, es wird seine berufliche Karriere nicht beeinträchtigen. Nicht alle Kollegen zollen mir den höchsten Respekt, Dr. Bernard. Meine Ideen sind, so fürchte ich, bisweilen mehr als nur ein bißchen weit hergeholt.«
»Dann lassen Sie hören!« sagte Bernard mit wachsender Ungeduld.
»Ja. Ich nehme an, Sie haben nicht viel über Informationsmechanik gehört?«
»Nicht ein Flüstern«, sagte Bernard.
»Ich arbeite auf einem sehr spezialisierten Gebiet dieses Zweiges der Physik — einem noch nicht anerkannten Gebiet, das sich mit den Auswirkungen von Informationsverarbeitung auf die Raumzeit beschäftigt. Ich werde versuchen, es mit einfachen Worten auszudrücken, weil die Noozyten bereits mehr wissen mögen als ich und besser in der Lage sein werden, es Ihnen zu erklären…«
»Verlassen Sie sich nicht darauf! Die Noozyten schätzen Komplexität, und ich teile diese Vorliebe durchaus nicht.«
Gogarty saß einige Sekunden still und wie in sich versunken, bis Paulsen-Fuchs ihn besorgt ansah.
»Dr. Bernard, ich habe eine große Menge theoretischer Strukturen gesammelt, welche die folgende Aussage stützt.« Tiefer Atemzug. »Informationsverarbeitung hat eine Wirkung auf Ereignisse, die im Raumzeitkontinuum stattfinden. Bewußte Wesen spielen im Universum eine integrale Rolle; wir bestimmen seine Grenzen und im großen Umfang seine Natur, wie es unsere Natur bestimmt. Ich habe Grund zu der Annahme — bloß eine Hypothese einstweilen —, daß wir physikalische Gesetze weniger entdecken als vielmehr an ihnen mitarbeiten. Unsere Theorien werden an früheren Beobachtungen von uns selbst und anderen erprobt — und vom Universum selbst. Wenn das Universum zustimmt, daß vergangenen Ereignissen nicht von einer Theorie widersprochen wird, dann gewinnt die Theorie Schablonencharakter. Das Universum geht darauf ein. Je besser die Theorie den Tatsachen entspricht, desto länger hat sie Bestand — wenn ihr überhaupt ein Bestand beschieden ist. Dann unterteilen wir das Universum in Territorien — unser besonderes Territorium als Menschen zeichnet sich infolgedessen durch ganz besondere Eigenschaften aus. Kein extraterrestrischer Kontakt, verstehen Sie? Wenn es jenseits der Erde andere intelligente Wesen gibt, würden sie weitere Territorien der Theorie besetzen. Wir würden zwischen den Theorien verschiedener Territorien keine größeren Differenzen erwarten — schließlich spielt das Universum eine bedeutende Rolle —, aber kleine Differenzen wären zu erwarten.
Die Theorien können nicht für allezeit wirksam sein. Das Universum ist in steter Veränderung begriffen; wir können uns Regionen der Realität vorstellen, die sich entwickeln, bis neue Theorien notwendig sind. Bislang hat die Menschheit nicht Annähernd die Dichte oder Menge von Informationsverarbeitung erzeugt, um wirklich erkennbare Auswirkungen auf die Raumzeit zu haben. Wir haben keine so vollständigen Theorien geschaffen, daß sie die Evolution der Wirklichkeit festhalten könnten. Aber das alles hat sich geändert, vor kurzer Zeit.«
Hör gut auf den GOGARTY!
Bernard merkte auf und begann, den Worten des anderen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
»Leider reicht meine Zeit nicht, Ihnen meine mathematischen Berechnungen und die Wechselbeziehungen zur formalen Informationsmechanik und Quanten-Elektrodynamik darzulegen… Und ich fürchte, Sie würden nicht alles verstehen.«
»Ich höre, Professor Gogarty. Wir hören.«
Gogartys Augen weiteten sich. »Die… Noozyten? Haben sie reagiert?«
»Sie haben ihnen nicht viel gegeben, worauf sie reagieren könnten. Bitte fahren Sie fort, Professor!«
»Bisher war die dichteste Einheit der Informationsverarbeitung auf dieser Welt das menschliche Gehirn — man müßte vielleicht bestimmte Wale und Delphine miteinbeziehen, aber ich würde sagen, daß in dem Bereich nicht annähernd so viel Stimulus existiert, was auf die Menge des verarbeiteten Materials nicht ohne Auswirkung bleiben kann. Bleiben wir also bei den Menschen. Vier oder fünf Milliarden von uns denken jeden Tag. Die Auswirkungen sind gering. Zeitspannungen, kleine Erschütterungen, nicht einmal meßbar. Unsere Beobachtungsfähigkeit — unsere Fähigkeit, effektive Theorien zu formulieren — ist nicht hinreichend intensiv, um die Auswirkung zu erzeugen, die ich in meiner Arbeit entdeckt habe. Nichts im ganzen Sonnensystem, vielleicht nicht einmal in der Galaxis!«
»Sie schweifen ab, Professor Gogarty«, sagte Paulsen-Fuchs. Gogarty nickte zerstreut, ohne den Blick von Bernard zu wenden.
Er spricht von Interesse.
»Er kommt schon zur Sache, Heinz, drängen Sie ihn nicht!«
»Danke. Ich danke Ihnen sehr, Dr. Bernard. Was ich sagen möchte, ist dies: wir haben jetzt Bedingungen, die ausreichend sind, die Wirkungen zu verursachen, die ich in meinen Untersuchungen beschrieben habe. Nicht bloß vier oder fünf Milliarden individueller Denker, Dr. Bernard, sondern Billionen… vielleicht Milliarden von Billionen. Die meisten in Nordamerika. Winzig, sehr dicht, alle Aspekte ihrer Umwelt in ihre Aufmerksamkeit einbeziehend, vom sehr sehr Kleinen bis zum sehr Großen. Sie beobachten alles in ihrer Umgebung und theoretisieren über die Dinge, die sie nicht beobachten. Beobachter und Theoretiker können die Form von Ereignissen, von Realität in durchaus signifikanter Weise bestimmen. Es gibt nichts als Information, Dr. Bernard. Alle Partikel, alle Energie, selbst Raum und Zeit sind letzten Endes nichts als Information. Die Natur, die Klangfarbe des Universums kann verändert werden, Dr. Bernard. Hier und jetzt. Von den Noozyten.«
»Ja«, sagte Bernard. »Das wird sie interessieren.«
»Vor zwei Tagen«, fuhr Gogarty mit zunehmender Lebhaftigkeit fort, »führte die Sowjetunion anscheinend einen großangelegten Atomschlag gegen Nordamerika. Anders als im Fall des Angriffs auf den Panamakanal detonierte nicht ein einziger der Gefechtsköpfe.«
Bernard blickte zu Paulsen-Fuchs, zuerst unwillig, dann erheitert. Man hatte ihm nichts davon gesagt.
»Die Sowjetunion ist im Bau nuklearer Gefechtsköpfe nicht so schlecht, Dr. Bernard. Noch ist sie ohne Erfahrung darin. Es hätte eine atomare Vernichtung größten Stils geben müssen. Sie trat nicht ein. Nun, ich habe nach Beobachtungen und Informationen mehrere eindrucksvolle Diagramme zusammengestellt. Eine sehr wichtige Quelle war ein Fernaufklärer, der Wissenschaftler und Journalisten über Teile Nordamerikas flog und durch die Satellitenverbindung eine Liveübertragung für die Europäischen Rundfunkanstalten ermöglichte. Die Maschine befand sich mitten über dem Kontinent, als der Atomschlag versucht wurde. Allem Anschein nach stürzte sie ab, aber nicht wegen des Angriffs. Es gibt keine Gewißheit über die Ursachen des Absturzes, doch kann man Schlüsse aus der Art und Weise ziehen, wie Kommunikation und Telemetrie unterbrochen wurden… Der Zeitpunkt des Geschehens paßt genau in meine Theorie. Nicht nur das, sondern auch in anderen Weltteilen wurden recht eigentümliche Auswirkungen festgestellt. Funkstille, Stromausfall, meteorologische Phänomene. Bis hinaus in eine geosynchrone Umlaufbahn, wo zwei Satelliten, die zwölftausend Kilometer voneinander entfernt waren, vorübergehend Funktionsstörungen zeigten. Ich gab alle bekanntgewordenen Auswirkungen und Koordinaten der Vorfälle unserem Computer ein, der dieses Profil des Vierraumfeldes lieferte.« Er zog eine Vergrößerung von einer Computergraphik aus seiner Aktentasche. Bernard kniff die Augen zusammen, um sie besser zu sehen. Plötzlich verbesserte sich sein Sehvermögen. Er konnte sogar das Korn des Fotopapiers ausmachen. »Wie der Alptraum eines Gewichthebers«, sagte er.
»Ja, etwas verdreht um den Wulst«, sagte Gogarty. »Dies ist die einzige Form, die im Licht der verfügbaren Informationen einen Sinn ergibt. Und niemand außer mir wird aus dieser Form schlau. Ich nehme an, sie wird meine Aktie auf dem wissenschaftlichen Markt um einen guten Sprung steigen lassen. Wenn ich recht habe, und ich glaube daran, stehen uns noch weit mehr Schwierigkeiten bevor, als wir glauben, Dr. Bernard — oder viel weniger, je nachdem, welche Art von Schwierigkeiten wir erwarten.«
Bernard spürte, daß das Diagramm intensiv studiert und aufgenommen wurde. Die Noozyten unterbrachen sogar für Sekunden ihr ständiges Einwirken auf seinen Geist.
»Sie geben meinen kleinen Kollegen viel zu denken, Professor.«
»Ja, und ihre Reaktionen?«
Bernard schloß die Augen.
Nachdem mehrere Sekunden vergangen waren, öffnete er wieder die Augen und schüttelte den Kopf. »Nicht ein Wort«, sagte er. »Tut mir leid.«
»Nun, ich hatte nicht viel erwartet.«
Paulsen-Fuchs schaute auf seine Armbanduhr. »Ist das alles, Dr. Gogarty?«
»Nein, noch nicht ganz. Dr. Bernard, die Seuche kann sich nicht über Nordamerika hinaus verbreiten. Oder, genauer gesagt, über einen Umkreis von siebentausend Kilometern hinaus, wenn die Noozyten in jenem Weltteil eine gleichmäßige Verbreitungsdichte erreicht haben.«
»Warum nicht?«
»Weil es bereits zu viele von ihnen gibt. Verbreiten sie sich über diesen Radius hinaus, so würden sie ein ganz eigentümliches Phänomen erzeugen — einen Teil der Raumzeit, der viel zu eingehend beobachtet wird. Das Territorium würde außerstande sein, sich zu entwickeln. Zuviel brillante Theoretiker, verstehen Sie? Es würde ein Erstarrungszustand eintreten, ein Zusammenbruch auf Quantenebene. Eine Einzigartigkeit. Ein Schwarzes Loch des Denkens. Die Zeit würde ernstlich deformiert, und die Auswirkungen könnten die Erde zerstören. Ich vermute, sie haben ihr Wachstum in Kenntnis dieser Zusammenhänge begrenzt.« Gogarty wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch und seufzte.
»Wie verhinderten sie die Detonation der Gefechtsköpfe?« fragte Bernard.
»Ich würde sagen, sie haben gelernt, isolierte und sehr starke Beobachtungszentren zu schaffen. Sie verleiten Billionen von Beobachtern dazu, eine kleine, vorübergehende Zone veränderter Raumzeit zu etablieren. Eine Zone, wo physikalische Vorgänge so sehr verschieden sind, daß Gefechtsköpfe nicht detonieren. Die Lebensdauer solch einer Zone ist natürlich sehr begrenzt, da sie in Widerspruch zu den physikalischen Gesetzen des Universums steht, aber sie währt lange genug, um eine atomare Vernichtung zu verhüten.«
»In diesem Zusammenhang habe ich eine entscheidende Frage«, fuhr er nach kurzer Pause fort, »befinden Ihre Noozyten sich in Kommunikation mit Nordamerika?«
Bernard lauschte in sich hinein und erhielt keine Antwort.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Sie können in Verbindung sein, ohne Funk oder ähnliche vertraute Mittel zu gebrauchen. Wenn sie die Wirkungen beherrschen können, die sie auf den lokalen Bereich haben, könnten sie Wellen subtil deformierter Zeit erzeugen. Ich fürchte, wir besitzen keine Instrumente, die empfindlich genug wären, solche Signale auszumachen.«
Paulsen-Fuchs stand auf und tippte bedeutsam auf seine Uhr.
»Heinz«, sagte Bernard, »ist das der Grund, warum mir Nachrichten vorenthalten wurden? Warum hörte ich nicht von dem russischen Angriff?«
Paulsen-Fuchs antwortete nicht. »Können Sie etwas für Mr. Gogarty tun?« fragte er.
»Nicht sofort. Ich…«
»Dann werden wir Sie jetzt Ihrer Kontemplation überlassen.«
»Augenblick, Heinz! Was, zum Teufel, geht vor? Mr. Gogarty würde offensichtlich gern mehr Zeit mit mir verbringen, und ich mit ihm. Warum die Einschränkungen?«
Gogarty blickte peinlich berührt von einem zum anderen.
»Sicherheitsvorschriften, Michael«, sagte Paulsen-Fuchs. »Kleine Pötte haben große Ohren, wissen Sie.«
Bernards Reaktion war ein jähes, bellendes Auflachen. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Professor Gogarty«, sagte er.
»Ganz meinerseits«, sagte Gogarty. Das Mikrofon im Nebenraum wurde ausgeschaltet, und die beiden Männer gingen. Bernard trat hinter den Toilettenvorhang und urinierte. Sein Urin war rötlich purpurn.
Du bist ihnen nicht übergeordnet? Sie befehlen dir?
— Solltet ihr noch nicht darauf gekommen sein: ich bin durchaus sterblich. Was ist mit meinem Urin? Er ist purpurn.
Phenyle und Ketone werden ausgestoßen. Wir müssen MEHR ZEIT mit der Untersuchung deines hierarchischen Status VERBRINGEN.
»Ich bin eine kleine Nummer«, sagte er laut. »Eine sehr kleine Nummer jetzt.«
Das Feuer knisterte fröhlich und warf breite, undeutliche Baumschatten auf die historischen alten Gebäude von Fort Tejon. April Ulam stand dem Feuer abgewandt, die Arme vor der Brust verschränkt, und ihr zerrissenes Gewand wehte leicht in der kühlen Abendbrise. Jerry stocherte mit einem Stecken im Feuer und schaute seinen Zwillingsbruder an. »Was haben wir nun eigentlich gesehen?«
»Die Hölle«, sagte John mit Entschiedenheit.
»Wir sahen Los Angeles, meine Herren«, sagte April, ohne sich umzuwenden.
»Ich habe nichts wiedererkannt«, meinte John. »Nicht mal wie Livermore, oder die Felder und Weiden. Ich meine…«
»Es war einfach nichts wirklich«, beendete Jerry den Satz für ihn. »Einfach ein… ein Durcheinander.«
April machte kehrt, zog ihr Gewand hoch und ließ sich auf einen Holzklotz nieder. »Ich finde, wir sollten einander erzählen, was wir sahen, so genau, wie wir es beschreiben können. Ich werde anfangen, wenn Sie einverstanden sind.«
Jerry zuckte die Achseln. John starrte ins Feuer.
»Ich glaube, ich erkannte die Umrisse des San Fernando- Tales. Es sind zehn Jahre vergangen, seit ich zuletzt Los Angeles besuchte, aber ich erinnere mich, wie ich über die Höhen kam, und dort war Burbank, und dort Glendale… Ich erinnere mich bloß nicht mehr, wie sie damals aussahen. Dunstige Luft. Es war heiß, nicht wie jetzt.«
»Der Dunst ist noch da«, meinte Jerry. »Aber er sieht nicht mehr genauso aus.«
»Purpurner Dunst«, sagte John kopfschüttelnd.
»Nun, wenn Sie mir zustimmen, daß wir das Tal sahen…«
»Ja«, sagte Jerry. »Das vielleicht.«
»Dann war etwas in dem Tal, weit ausgebreitet.«
»Aber nicht fest. Nicht aus festem Material gemacht«, sagte John.
»Einverstanden«, sagte April. »Wie sollen wir es dann nennen — Energie?«
»Sah aus wie ein Gemälde von Jackson Pollock auf einer Töpferscheibe«, sagte Jerry.
»Oder ein Picasso«, sagte John.
»Meine Herren, ich stimme zu, und berichtige ein wenig: für meine Begriffe sah es genau wie ein Vasarely aus.«
»Kenne ich nicht«, sagte Jerry. »In der Mitte drehte sich etwas. Ein Tornado.«
Sie nickte. »Ja. Aber was für ein Tornado?«
John rieb sich die Augen und blinzelte. »Am Boden ausgebreitet, und alle Arten von Speichen gingen davon aus — wie Blitze, aber nicht leuchtend. Wie Schatten von Blitzen.«
»Die immer nur für kurze Zeit zu sehen waren«, sagte John, »und dann verschwanden.«
»Wie ein tanzender Tornado, vielleicht«, schlug April vor.
Die Zwillinge nickten.
»Ich sah Ketten oder Scheiben, die sich unter dem Tornado hinein- und herausschlängelten«, fuhr sie fort. »Sie auch?«
Beide schüttelten die Köpfe.
»Und auf den Hügeln bewegten sich Lichter, als ob Glühwürmchen zum Himmel hinaufkröchen.« Sie hatte wieder ihr exaltiertes Aussehen angenommen und starrte wie in träumerischer Verzückung über das Feuer hin. John stützte den Kopf in die Hände.
»Nicht wirklich«, sagte er.
»Sie haben recht, nicht wirklich. Aber es muß einen Zusammenhang damit haben, was mein Sohn tat.«
»Unsinn!« sagte John.
»Nein«, widersprach ihm Jerry und nickte April zu. »Ich glaube Ihnen.«
»Wenn es in La Jolla anfing und sich von dort über das Land ausbreitete, wo ist es dann am ältesten und am festesten etabliert?«
»In La Jolla«, sagte Jerry und schaute sie erwartungsvoll an. »Vielleicht fing es bei der UCSD an?«
»Nein, in La Jolla, wo Vergil arbeitete und lebte. Aber es breitete sich rasch die Küste entlang aus. Also vielleicht bis hinunter nach San Diego. Es hat sich vereint, ist zusammengekommen und hat diesen Ort zu seinem Zentrum gemacht.«
»Scheiß drauf!« sagte John.
April sagte: »Wir können nicht nach La Jolla, solange dies im Weg ist. Und ich bin hierher gekommen, um bei meinem Sohn zu sein.«
»Sie müssen zu heiß gebadet haben«, sagte John.
»Ich weiß nicht, warum Sie verschont wurden, meine Herren«, sagte April, »aber warum ich verschont geblieben bin, ist offensichtlich.«
»Weil Sie seine Mutter sind«, sagte Jerry und lachte und nickte, als hätte er eine großartige Schlußfolgerung gezogen.
»Genau«, sagte April. »Also, meine Herren, werden wir morgen zurückfahren, und wenn Sie wollen, können Sie sich mir anschließen, aber ich werde, wenn nötig, allein gehen und mich meinem Sohn anschließen.«
Jerry ernüchterte sich. »Aber das ist wirklich verrückt! Angenommen, dieses Ding oder diese Erscheinung ist etwas wahrhaft Gefährliches, wie ein schweres Gewitter, oder ein durchgeschmolzener Atomreaktor?«
»In Los Angeles gibt es keine Atomkraftwerke«, sagte John. »Aber Jerry hat recht. Es ist einfach verrückt, in diese Hölle hineinzugehen oder auch nur daran zu denken!«
»Wenn mein Sohn dort ist, wird es mir nicht schaden«, sagte April.
Jerry stocherte energisch im Feuer. »Ich werde Sie hinfahren«, sagte er, »aber ich werde nicht mit Ihnen hineingehen.«
John bedachte seinen Bruder mit einem scharfen und kritischen Blick. »Ihr seid beide übergeschnappt!«
»Ich kann auch zu Fuß gehen«, sagte April entschlossen.
John starrte, die Hände in die Hüften gestemmt, grollend seinem Bruder und April Ulam nach, die zum Lastwagen gingen. Süßlicher purpurrosa Nebel stieg aus dem Becken von Los Angeles und zog in Baumwipfelhöhe über Fort Tejon hinweg, trübte den Schein der Morgensonne und ließ alles schattenlos und geisterhaft erscheinen.
Erst als die beiden einstiegen und Jerry den Motor startete, setzte John sich in Bewegung. »He!« rief er. »Verdammt noch mal, he! Laßt mich nicht einfach hier!«
Die verlassene Fernstraße zog sich in weiten Kurven über die Höhen, und sie blickten hinab in den Strudel. Bei Tageslicht sah es kaum anders aus als am Abend zuvor.
»Es ist wie alles, was du je geträumt hast, alles zusammengerollt und durcheinandergeschoben«, sagte Jerry.
»Keine schlechte Beschreibung«, erwiderte April. »Ein Wirbel von Träumen. Vielleicht den Träumen aller Menschen, die von der Veränderung erfaßt wurden.« John hatte beide Hände am Armaturenbrett und starrte mit aufgerissenen Augen die Straße hinunter. »Es sind noch knapp zwei Kilometer Straße übrig«, sagte er. »Dann müssen wir halten.«
Jerry stimmte mit kurzem Nicken zu und verlangsamte. Mit weniger als fünfzehn Stundenkilometern näherten sie sich einem Vorhang tanzender, vertikaler Nebelstreifen. Dieser Vorhang erreichte über der Straße und zu beiden Seiten eine Höhe von annähernd fünfzehn Metern und umhüllte undeutlich sichtbare, orangefarbene Umrisse, die einmal Gebäude gewesen sein mochten.
»Herr Jesus«, sagte John.
»Halt!« befahl April, und Jerry brachte den Lastwagen zum Stillstand. Die Frau schaute John mit strengem Blick an, bis er die Tür öffnete und ausstieg, um sie hinauszulassen. Jerry schaltete den Leerlauf ein und zog die Bremse an, dann stieg er auf der anderen Seite aus.
»Sie vermissen Angehörige, nicht wahr, meine Herren?« sagte April und strich ihr zerrissenes Seidengewand glatt. Der Strudel brüllte wie ein ferner Tornado — brüllte und zischte und dröhnte.
John und Jerry nickten.
»Wenn mein Vergil hier drin ist, und ich weiß es, dann müssen sie auch dort sein. Oder wir können sie von hier erreichen.«
»Das ist verrückt«, sagte John. »Meine Frau und mein Junge können nicht dort drin sein.«
»Warum nicht? Sind sie tot?«
John starrte sie an.
»Sie wissen, daß sie nicht tot sind. Ich weiß, daß mein Sohn nicht tot ist.«
»Sie sind eine Hexe«, sagte Jerry, weniger anklagend als bewundernd.
»Sie sind nicht der erste, der das sagt. Vergils Vater sagte es, bevor er mich verließ. Aber Sie wissen es, nicht wahr?«
John begann zu zittern. Tränen rannen ihm über die Wangen. Jerry starrte mit einem ungewissen Grinsen auf den wogenden Vorhang.
»Na, John, sind sie da drin?« fragte er seinen Bruder.
»Ich weiß nicht«, antwortete John. Er schnupfte und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel.
April ging ein paar Schritte auf den Vorhang zu. »Danke für Ihre Hilfe, meine Herren«, sagte sie, dann ging sie weiter. Als sie in den Vorhang trat, verzerrten sich ihre Umrisse wie in einer Bildstörung im Fernsehen, und dann verschwand sie.
»Sieh dir das an!« sagte John. Sein Zittern verstärkte sich.
»Sie hat recht«, sagte Jerry. »Spürst du es nicht?«
»Ich weiß es nicht!« heulte John. »Großer Gott, Bruder, ich weiß es nicht.«
»Laß uns gehen und sie suchen!« sagte Jerry und nahm den Zwillingsbruder bei der Hand. Er zog ihn behutsam, aber John widerstrebte.
Jerry zog wieder, etwas energischer.
»Einverstanden«, sagte John leise. »Zusammen.«
Seite an Seite gingen sie die wenigen Schritte die Straße entlang und in den Vorhang.
Im zweiundachtzigsten Stockwerk setzte der Muskelkrampf in ihrem Oberschenkel mit solch jäher Heftigkeit wieder ein, daß sie strauchelte, mit dem Kopf gegen das Treppengeländer schlug und auf die Stufen fiel. Ihre Kniescheibe prallte schmerzhaft auf eine Stufenkante, Taschenlampe und Radio flogen aus ihren Händen auf den betonierten Treppenabsatz. Die Wasserflasche platzte auf, bespritzte sie und ergoß den Inhalt über die Stufen, während Suzy, gelähmt vom Schmerz, hilflos zusah. Es schien Stunden zu dauern — waren aber wahrscheinlich nur Minuten —, bis sie sich zum Treppenabsatz hinaufziehen, auf den Rücken legen und die Beinmuskeln entspannen konnte. Während sie mit beiden Händen das Bein massierte, schloß sie die Augen. Es fühlte sich an, als hätte sie Sand darin, so sehr wünschte sie zu weinen, aber sie hatte keine Tränen mehr.
Eine Beule an der Stirn, ein Bein, das bei jeder neuerlichen Anstrengung schmerzte, wenig Nahrung und kein Wasser, und dreißig Stockwerke waren noch zu steigen. Das Licht der Taschenlampe flackerte und ging aus, ließ sie in vollkommener Dunkelheit. »Scheiße«, sagte sie. Ihre Mutter hatte den Gebrauch dieses Wortes noch mehr beklagt als die Anrufung des Namens Gottes ohne Notwendigkeit. Da sie keine sonderlich religiöse Familie waren, galt dies als eine geringere Übertretung, abstoßend nur in Gegenwart jener, die es beleidigen würde. Aber »Scheiße« zu sagen, war das letzte. Eine Anerkennung schlechter Manieren und schlechter Erziehung, oder einfach eine disziplinlose Kapitulation vor den niedrigsten Regungen.
Suzy versuchte, aufzustehen und sank wieder zu Boden. Ein stechender Schmerz war ihr durchs Knie gefahren. »Oh, oh«, stöhnte sie. »Werde besser, bitte, werde besser!« Sie versuchte, das Knie zu massieren, wie sie es zuvor mit den Beinmuskeln getan hatte, aber das machte den Schmerz nur schlimmer.
Sie tastete nach der Taschenlampe und fand sie. Nach kurzem Schütteln ging das Licht wieder an, und sie leuchtete umher und vergewisserte sich, daß die braunen und weißlichen Fasern und Laken sie nicht überholt hatten. Sie blickte abschätzend zur Tür des dreiundachtzigsten Stockwerks und erkannte, daß sie einstweilen nicht in der Lage sein würde, Treppen zu steigen, vielleicht den Rest des Tages nicht mehr. Sie kroch zur Tür und blickte über die Schulter zum Radio, als sie die Hand zur Klinke ausstreckte. Das Radio lag auf dem Treppenabsatz; es war hart aufgeprallt, als sie gestrauchelt war. Einen Augenblick lang dachte sie, daß sie es gerade so gut aufgeben könne, aber das Radio hatte eine besondere Bedeutung für sie: es war das einzige Bindeglied zur menschlichen Vergangenheit, die sie verloren hatte, das einzige Ding, das zu ihr sprach. Vielleicht würde sie irgendwo in dem Gebäude ein anderes finden, aber gewiß war das nicht, und sie glaubte, die Stille nicht ertragen zu können. Bemüht, das schmerzende Bein geradezuhalten, kroch sie zurück, das Radio zu holen.
Durch die schwere feuersichere Tür zu kommen, war mit mehr und neuen Schmerzen verbunden, als sie ihr im Zufallen den Arm einklemmte, aber schließlich streckte sie sich auf dem Teppichboden vor den Aufzügen aus und blickte zur schallschluckenden Decke auf. Dann wälzte sie sich auf den Bauch, lauschte aufmerksam, ob sich irgendwo etwas regte.
Stille, völlige Ruhe.
Langsam, bemüht, ihre Kräfte zu schonen, kroch sie aus dem Vorraum und um eine Ecke.
Hinter einer Glaswand lag ein großer Raum voller Zeichentische. Weiß emaillierte Beine auf beigefarbenem Teppichboden, schwarze Arbeitslampen mit verstellbaren Armen, die wie Krähen auf ihren Stangen saßen. Die Glastür stand angelehnt; ein Gummikeil hinderte sie am Schließen. Suzy hoppelte am Vorzimmer vorüber, bis sie den nächstbesten Tisch erreichte, auf den sie sich stützen konnte, die Augen glänzend von Erschöpfung und Schmerz. Auf dem Zeichentisch neben ihr lagen Blaupausen. Sie war in den Räumen eines Architekturbüros. Sie schaute eine der Zeichnungen genauer an und sah, daß sie einen Decksplan für ein Schiff darstellte. Also war es ein Konstruktionsbüro für Schiffe. Nun, ihr konnte es gleich sein.
Sie setzte sich auf einen Drehstuhl, dessen Gleitrollen blockiert waren. Mit einem Fuß bemühte sie sich eine halbe Minute lang, die Blockierung zu lösen, dann rollte sie sich mit dem Stuhl durch einen Gang zwischen den Tischen, wobei sie sich an den Tischkanten weiterzog.
Eine weitere lange Glaswand trennte den Zeichensaal von Büroabteilen. Sie hielt an und starrte. Alle Furcht war von ihr gewichen. Sie hatte sich erschöpft. Am nächsten Morgen, dachte sie bei sich, würde vielleicht mehr Furcht erhältlich sein, aber einstweilen vermißte sie sie nicht. Sie beobachtete bloß.
Die Büroteile waren voller Bewegung. Was dort herumwimmelte, war so seltsam, daß sie kaum wußte, wie sie sich selbst eine Beschreibung davon geben konnte. Scheiben mit Schneckenfüßen krochen über das Glas, und ihre Ränder leuchteten. Etwas Formlos-Flüssiges wie ein Tropfen Wachs oder Gummiarabikum hüpfte in einem anderen Abteil herum und schien sich gegen schwarze Kabel oder Seile zu werfen, die funkelnd den Raum durchzogen; der Tropfen strahlte fluoreszierendes grünes Licht aus, wann immer er mit Glas oder Mobiliar in Berührung kam. Im letzten Abteil erhob sich ein Wald von schuppigen Stecken, die an Hühnerbeine erinnerten und in einer unmöglichen Brise schwankten und wogten.
»Es ist irrsinnig«, sagte sie sich. »Es hat nichts zu bedeuten. Nichts geschieht, weil es keinen Sinn ergibt.«
Sie rollte ihren Stuhl fort von den Büroabteilen und an die Fenster. Der Boden schien aufgeräumt, nirgendwo war herumliegende Kleidung zu sehen. Von der anderen Seite des Raumes gesehen, ähnelten die Büroabteile Aquarien, in denen sich exotische Meereslebewesen tummelten.
Vielleicht war sie sicher. Was in einem Aquarium war, kam gewöhnlich nicht heraus. Sie versuchte, sich davon zu überzeugen, daß sie in Sicherheit sei, aber im Grunde war es gleich. Einstweilen konnte sie nirgendwohin.
Ihr Knie schwoll an, daß die Jeans sich spannte. Sie dachte daran, den Stoff aufzuschneiden, fand es dann aber besser, die Hose einfach auszuziehen. Grunzend vor Anstrengung, ließ sie sich vom Stuhl auf den Boden herab und lehnte sich gegen einen Ablageschrank. Indem sie die Hüften hob und auf einem Bein balancierte, brachte sie die knapp sitzenden Jeans herunter und vorsichtig über die Anschwellung hinweg.
Es sah noch nicht sehr schlimm aus, nur dick und mit einem purpurnen Bluterguß unter der Kniescheibe. Sie befühlte das Knie und verspürte Übelkeit, nicht vor Schmerzen, sondern einfach vor Erschöpfung. Es war jetzt nichts mehr von Suzy McKenzie übrig. Die alte Welt war vor ihr dahingegangen, bis nichts davon geblieben war außer Gebäuden, die ohne Bewohner wie Skelette ohne Fleisch waren. Neues Fleisch zog ein, die Skelette zu bedecken. Bald würde auch die alte Suzy McKenzie fort sein und nichts hinterlassen als einen lächerlichen Schatten.
Sie blickte nach Norden, um die Ecke des Ablageschrankes und über eine niedrige Kredenz.
Dort war das neue Manhattan, eine Zeltstadt mit vereinzelt stehengebliebenen Wolkenkratzern als Masten; eine Stadt aus Spielzeugblöcken, die unter rostfarbenen Planen versteckt und umgeordnet waren. Der Sonnenuntergang tauchte alles in warme braune und gelbe Töne. Das Neuere York, angefüllt mit leeren Kleidern.
Suzy ließ sich auf den Teppich zurücksinken, legte den Kopf auf die Arme und schob die gespenstisch leeren Jeans unter das Knie, um es etwas anzuheben. »Wenn ich aufwache«, sagte sie sich, »werde ich eine Wunderfrau sein, glänzend und hell. Und ich werde wissen, was geschieht.«
Tief in ihrem Innern verstand sie jedoch, daß sie aufwachen und unverändert die alte Suzy sein würde, und die Welt würde sich nicht ihr zuliebe zurückverwandelt haben.
»Kein gutes Geschäft«, murmelte sie.
In der Dunkelheit wuchsen Fasern lautlos über den Teppich, reichten in die verglasten Büroräume und unterdrückten die überschäumende Kreativität darin.
— Ich gehöre niemandem. Ich bin nicht, was ich einst war. Ich habe keine Vergangenheit. Ich bin losgetrennt von allem, und es gibt tatsächlich keinen Ort, wohin ich gehen könnte. Ich muß mich ganz ihnen und ihren Plänen überlassen.
— Ich bin physikalisch von der Außenwelt getrennt, und nun auch geistig.
— Meine Arbeit hier ist getan.
— Ich warte.
— Ich warte.
WÜNSCHST du wirklich unter uns zu reisen, unter uns zu sein?
— Ja.
Er starrt auf die roten und grünen und blauen Zeichen auf dem Bildschirm. Die Zahlen und Diagramme verlieren momentan alle Bedeutung, als ob er ein Neugeborenes wäre. Dann werden der Bildschirm, die Konsole, auf der er steht, der Vorhang zur Duschkabine dahinter und die Wände der Isolierkammer durch eine silbrige Null ersetzt.
Michael Bernard überquerte eine Zwischenschicht.
Er wird entschlüsselt.
Nicht länger aller Empfindungen, in einem Körper zu stecken, bewußt, kein automatisches Horchen und Reagieren auf die Bewegungen von Muskeln, das Blubbern von Flüssigkeiten im Bauch, das Pulsieren und Rauschen des Blutes, das gleichmäßige Pochen des Herzens. Er gleicht nicht mehr aus, spannt und entspannt nicht mehr. Es ist wie der plötzliche Übergang aus einer Stadt in das Innere einer stillen Höhle.
Anfangs ist das Denken selbst körnig, unterbrochen. Wenn so etwas möglich ist, sieht er sich selbst am Grundpfeiler des Universums, wo alle Atome und Moleküle sich vereinigen und trennen, stille Geräusche zueinander machen, wie die tastenden Beine von Schalentieren am Meeresgrund. Er ist aufgehängt in lautloser, zuckender Aktivität, außerstande, seine Lage kritisch zu betrachten oder auch nur Gewißheit zu haben, was er ist. Ein Teil seiner Fähigkeiten ist vorübergehend abgeschnitten. Dann, mit einem Ruck, kann er beurteilen, bewerten. Gedankenbewegungen wie das Rascheln dürrer Blätter über eine Rasenfläche, wenn der Herbstwind bläst. Wie ein träger Strom von Gelatine, der in eine kalte Schale gegossen, umgerührt wird und zur Ruhe kommt.
Seine Reise hat noch nicht einmal begonnen. Er ist noch immer in der Zwischenschicht, nicht groß, nicht klein. Ein Teil von ihm verläßt sich noch immer auf sein universumgroßes Gehirn, das die Gedanken nach wie vor an den Zellen entlang leitet, statt durch sie hindurch.
Der Schwebezustand wird zu einer hinausgezogenen Bewußtlosigkeit, das Denken wie ein Faden gezogen, bis es in ein winziges Nadelöhr paßt. --------------
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Auf einmal ist seine Welt erfüllt von Tätigkeit und Einfachheit. Es gibt kein Licht, aber es gibt Geräusch, Geräusch, das ihn in gewaltigen, trägen Wellen durchwogt, nicht gehört, aber durch seine hundert Zellen gefühlt. Die Zellen pulsieren, trennen sich, ziehen sich zusammen, je nach dem Strom der Flüssigkeit. Er ist in seinem eigenen Blut. Er kann die Gegenwart der Zellen schmecken, die sein neues Wesen ausmachen, und von Zellen, die nicht unmittelbar von ihm sind. Er kann das Kratzen von Mikroröhren fühlen, die sein Cytoplasma antreiben. Am bemerkenswertesten aber ist, daß er — und das ist tatsächlich die Grundlage allen Empfindens — das Cytoplasma selbst fühlen kann.
Dies ist jetzt die Grundlage seines Seins, der Strom elektrisierender Empfindung reinen Lebens. Er ist sich der messerscharfen chemischen Balance zwischen Belebtheit und toter Gallerte bewußt, der geordneten Funktionen von Wurzeln, Hierarchie, Wechselwirkung. Zusammenarbeit. Er ist Individuum, und zugleich ist er jedes der Mitglieder seiner Gruppe, der anderen Hundert-Zellen-Ansammlungen stromaufwärts, stromabwärts. Die Gefährten stromabwärts sind so fern, chemisch so isoliert, als befänden sie sich am Grund eines tiefen Brunnens; die Gefährten stromaufwärts sind stark und reich.
Er kann die Mechanismen seines Denkens so wenig ergründen, wie er es in seinem universumgroßen Gehirn vermochte. Das Denken erhebt sich über die chemischen Vorgänge, die Wechselwirkungen innerhalb seiner Gruppe und die Prozesse in seinen Zellen. Das Denken ist die Kombination, die Sprache aller Wechselwirkung.
Das Empfinden entlang den Membranen seiner Zellen ist außerordentlich stark. Hier empfängt und fühlt er den Druck gewaltiger molekularer Botschaften von außen. Er nimmt datenübertragende Plasmide auf, gießt Information aus ihnen, absorbiert sie in sein Wesen, dupliziert jene Teile, die von anderen unter seinen Gefährten benötigt werden. Nun kommen die Klumpen in rascher Folge, und in dem Maße, wie er sie aufbricht und ausgießt, jeder Strang von Molekülen eine Bibliothek, findet er, daß Stücke von Michael Bernard zu ihm zurückkehren.
Der riesige Bernard ist umschlossen von einer winzigen, aus hundert Zellen bestehenden Gruppe. Er fühlt, daß es auf der Ebene der Noozyten tatsächlich ein menschliches Wesen gibt — ihn selbst.
Willkommen.
— Ich danke euch.
Er fühlt ein Gruppenmitglied als eine Geschmacksvielfalt, in allen nur denkbaren Spielarten von Süßigkeit und Fülle. Die Kameradschaft ist überwältigend. Er liebt seine Gruppe (wie kann er etwas anderes lieben?). Er ist ein integraler Teil von ihr, seinerseits geliebt und benötigt.
Plötzlich schmeckt er die Wand eines Kapillargefäßes. Er ist Mitglied der Forschungsgruppe, die Information weitergibt, indem sie Pakete von Nukleinsäuren erzeugt. Absorbiert, umgestaltet, weitergibt, absorbiert…
Hinaus! Durchstoßen!
Das ist seine Anweisung. Er wird das Kapillargefäß verlassen und in das Gewebe eindringen.
Laß eine Portion draußen im Datenstrom!
Er drängt sich zwischen die Kapillarzellen — unterstützenden Zellen, die selbst keine Noozyten sind — und macht sich in der Wand fest. Nun wartet er auf Daten in Gestalt strukturierter Proteine, Hormone und Pheromone, Nukleinsäureketten, vielleicht sogar Daten in Form »geschneiderter« Zellen, Viren oder domestizierter Bakterien. Er benötigt nicht nur grundlegende Nährstoffe, die dem Blutserum leicht entnommen werden können, sondern auch Vorräte von den Enzymen, die ihm die Aufnahme und Verarbeitung von Daten, das Denken schlechthin gestatten. Diese Enzyme werden von »geschneiderten« Bakterien geliefert, die sowohl herstellen als auch liefern.
Das Blut ist ein Highway an Daten, eine Fernverbindung, eine Symphonie von Informationen und Anweisungen. Es ist ein Genuß, die reichhaltige Suppe zu verarbeiten und zu modifizieren. Die Information hat ihre eigene Geschmacksvielfalt und ist wie ein Lebewesen, imstande, sich im Blut zu verändern, sofern sie nicht sorgfältig überwacht, von Zuwächsen befreit und geschnitten wird. Worte können nicht übermitteln, was er tut. Sein ganzes Sein ist erfüllt vom Geplapper des Interpretierens und Verarbeitens.
Er fühlt die schwindelerregende Spirale der Rekursion, denkt über seine eigenen winzigen Denkprozesse nach — Moleküle, die über Moleküle nachdenken, über sich selbst Buch führen —, verwendet Wörter, die bis jetzt keinen Platz in diesem Bereich hatten. Es ist, als bringe er Gottes an einem Baum gerichtetes Wort hinab zu dem Baum und spreche es, beobachte, wie der Baum in errötender Verwirrung aufblüht.
Du bist die Macht, die sanfte Kraft, der reichhaltigste Geschmack von allem… die höchste Botschaft von stromaufwärts.
Seine Gefährten nähern sich ihm, versammeln sich um sein Anhängsel im Blut, umdrängen ihn. Er ist wie ein Mönch, der in einem Kloster plötzlich vom Atem Gottes inspiriert ist. Die anderen Mönche versammeln sich, beseelt von der Sehnsucht nach Teilhabe, nach einer Berührung, einem Zeichen der Entsühnung und Wegweisung. Es ist berauschend. Er liebt sie, weil sie seine Gruppe sind; ihr Empfinden für ihn geht über Liebe hinaus, denn er ist die Quelle.
Die Befehlsgruppen wissen, daß er selbst Teil einer größeren Hierarchie ist, aber diese Information ist noch nicht bis hinab zu der Ebene gedrungen, die er jetzt bewohnt. Die gewöhnlichen Gruppen sind noch von Ehrfurcht erfüllt.
Du bist der Strom allen Lebens. Du hältst den Schlüssel zum Offnen und Schließen von Puls und Stille.
— Weiter, sagt er. Führt mich weiter und zeigt mir euer Leben!
»Suzy. Wach auf!«
Suzy zwinkerte, schlug die Augen auf. Kenneth und Howard standen über sie gebeugt. Sie hob ein wenig den Kopf sah die blau getünchten Wände ihres Zimmers. Sie hatte die Decke bis zum Hals hochgezogen. »Kenny?«
»Mama wartet.«
»Howard?«
»Komm mit, Sämling!« So hatte Kenneth sie immer genannt. Sie schlug die Decke zurück, dann zog sie sie wieder hoch; sie hatte noch immer Bluse und Schlüpfer an, nicht ihren Schlafanzug.
»Ich muß mich anziehen«, sagte sie.
Howard reichte ihr die Jeans. »Mach schnell!« Sie verließen das Zimmer und schlossen die Tür hinter sich. Sie schwang die Beine über die Bettkante und steckte sie in die Hosenbeine, dann stand sie auf und zog den Hosenbund höher, schloß den Reißverschluß und den Knopf darüber. Ihr Knie schmerzte nicht. Die Schwellung war zurückgegangen, und alles schien in Ordnung. Ihr Mund hatte einen komischen Geschmack. Sie hielt Ausschau nach der Taschenlampe und dem Transistorradio. Beide lagen am Boden neben dem Bett. Sie hob sie auf, öffnete die Tür und trat hinaus in den Gang. »Kenny?«
Howard nahm sie beim Arm und führte sie zum Schlafzimmer der Mutter. Die Tür war geschlossen. Kenneth legte die Hand auf die Klinke und öffnete, und sie bestiegen den Aufzug. Howard drückte den Knopf für Restaurant und Aussichtsraum.
»Ich wußte es«, sagte sie und ließ die Schultern hängen. »Ich träume.«
Ihre Brüder schauten sie an und lächelten, schüttelten den Kopf.
»Nein, du träumst nicht«, sagte Kenneth. »Wir sind wieder da.«
Der Aufzug hob sie lautlos die verbleibenden fünfundzwanzig Stockwerke empor.
»Dummes Zeug«, sagte sie und fühlte die Tränen auf den Wangen. »Es ist grausam.«
»Gut, der Teil mit dem Schlafzimmer, dem Haus — das ist ein Traum. Manches dort unten würdest du wahrscheinlich nicht sehen mögen, aber wir sind hier. Wir sind wieder bei dir.«
»Ihr seid tot«, sagte sie. »Mama auch.«
»Wir sind anders«, sagte Howard. »Nicht tot.«
»So, was seid ihr dann, Marionetten? Verdammt!«
»Sie haben uns nicht getötet«, sagte Kenneth. »Sie haben uns bloß… auseinandergenommen. Wie alle anderen.«
»Nun, wie beinahe alle anderen.« Howard wies auf sie, und beide grinsten.
»Du hast Glück gehabt, oder etwas versäumt, je nachdem, wie man es sieht«, sagte Kenneth.
Mittlerweile war ihr himmelangst. Die Aufzugtür öffnete sich, und sie traten hinaus in eine elegante, verspielte Halle. Zu beiden Seiten setzten sich die Lichtreflexe der Lampen bis in die Unendlichkeit fort. Die Lampen waren eingeschaltet! Der Aufzug funktionierte! Sie mußte träumen, oder sie war schließlich verrückt geworden.
»Manche sind auch gestorben«, sagte Kenneth in feierlichem Ton und nahm sie bei der Hand. »Unfälle, Fehler.«
»Das ist nur ein Teil dessen, was wir jetzt wissen«, sagte Howard. Sie gingen zwischen den Spiegeln dahin, vorüber an einer großen aufgeschnittenen Druse, deren Inneres eine Pracht von Amethystkristallen zeigte, vorbei an einem monumentalen Klumpen Rosenquarz und an einem durchschnittenen und polierten Malachitknollen. Niemand kam ihnen im Foyer des Restaurants entgegen. »Mama ist drin«, sagte er. »Wenn du Hunger hast, hier oben gibt es jede Menge zu essen, das ist sicher.«
»Der Strom ist eingeschaltet«, sagte sie.
»Notstromaggregat im Keller. Lief noch eine Weile, nachdem die Stromversorgung der Stadt aufhörte, aber der Treibstoff ging aus, verstehst du? Also suchten wir Treibstoff. Sie sagten uns, wie man das Ding bedient, und wir schalteten es ein, bevor wir dich holten«, sagte Howard.
»Ja. Es fällt ihnen schwer, Leute zu rekonstruieren, also machten sie nur Mama und uns. Nicht das Instandhaltungspersonal und die anderen. Wir erledigten die ganze Arbeit. Du hast eine Weile geschlafen, weißt du?«
»Zwei Wochen.«
»Deshalb ist dein Knie jetzt besser.«
»Das und…«
»Pst«, sagte Kenneth und hob die Hand, seinen Bruder zur Schweigsamkeit zu ermahnen. »Nicht alles auf einmal.« Suzy blickte von einem zum anderen, als sie sie in die Mitte nahmen und in das Restaurant führten.
Es war Spätnachmittag. Die Stadt, deutlich sichtbar durch die Panoramafenster des Restaurants, war nicht mehr in die lebendigen Laken gehüllt.
Sie konnte keine vertrauten Landmarken erkennen. Vorher hatte sie wenigstens die verborgenen Umrisse von Gebäuden, die Straßenschluchten und die Umrisse von Stadtteilen ausmachen können.
Es war nicht mehr derselbe Ort.
Grau, schwarz, blendend weiß wie Marmor, angeordnet in Polyedern und Pyramiden, manche durchscheinend wie Milchglas. Organisch anmutende Formen wechselten mit Platten von einigen Dutzend Metern Höhe, die wie aufgestellte Dominosteine vom Battery Park bis zum Riverside Park führten. Alle Formen und Massen der Gebäude Manhattans waren in seinen Sack gesteckt, durcheinandergeschüttelt, umgeformt und frisch gestrichen worden.
Vor allem aber waren die Strukturen nicht mehr aus Beton und Stahl. Suzy wußte nicht, woraus sie waren.
Aber sie waren lebendig.
Ihre Mutter saß hinter einem breiten, mit Speisen überladenen Tisch. Entlang der Vorderseite waren Salate in Schüsseln aufgereiht, ein dicker angeschnittener Schinken erhob sich in der Mitte, Schalen mit Oliven und eingelegtem Gemüse nahmen die Seiten ein, Kuchen und Süßspeisen den rückwärtigen Teil. Ihre Mutter lächelte und kam hinter dem Tisch hervor, die Arme ausgebreitet. Sie trug ein teures Kleid, dessen Ärmel mit Spitzen und Perlen besetzt waren, und sah absolut umwerfend aus. »Suzy«, sagte sie. »Schau nicht so ängstlich! Wir sind zu Besuch gekommen.«
Sie umarmte ihre Mutter, fühlte den festen Körper unter dem Stoff und gab die Vorstellung auf, daß es ein Traum sei. Es war Wirklichkeit. Ihre Brüder hatten sie nicht zu Hause abgeholt — das konnte nicht Wirklichkeit gewesen sein, nicht wahr? —, sondern sie mit dem Aufzug heraufgebracht, und nun war sie bei ihrer Mutter, die sie warm und liebevoll empfing und ihr Essen vorsetzte.
Und über der Schulter ihrer Mutter, außerhalb der breiten Fenster, die veränderte Stadt. Das konnte sie sich nicht einbilden, oder?
Sie löste sich von ihrer Mutter, wischte sich die Augen und blickte von ihr zu Kenneth und Howard. »Was geht vor, Mutter?«
»Als ich dich das letzte Mal sah, waren wir in der Küche«, sagte ihre Mutter und betrachtete sie von Kopf und Fuß. »Ich war damals nicht sehr gesprächig. Vieles geschah gleichzeitig.«
»Du warst krank«, sagte Suzy.
»Ja… und nein. Komm, setz dich! Du mußt sehr hungrig sein.«
»Ich habe zwei Wochen geschlafen. Ich hätte verhungern müssen«, sagte sie.
»Sie glaubt es noch immer nicht«, sagte Howard grinsend.
Ihre Mutter winkte ab. »Still! Ihr würdet es auch nicht glauben, keiner von euch beiden.«
Sie gaben es zu.
»Aber ich bin doch hungrig«, sagte Suzy. Kenneth zog ihr einen Stuhl heraus, und sie setzte sich vor ein makelloses Tischgedeck aus feinem Porzellan und Silber.
»Wir haben es wahrscheinlich zu vornehm gemacht«, sagte Howard. »Zu sehr wie einen Traum.«
»Ja«, sagte Suzy. Sie fühlte sich benommen, glücklich, und inzwischen war ihr gleich, was wirklich und was nicht wirklich war. »Ihr Clowns habt übertrieben.«
Ihre Mutter häufte Schinken und Salate auf Suzys Teller, und Suzy zeigte auf das Kartoffelmus und die Bratensoße.
»Zum Mästen«, sagte Kenneth.
Suzy schnalzte, führte die erste Gabel voll Schinken zum Mund und kaute darauf. Echt. Der Biß der Zähne auf die Gabel: echt. »Wißt Ihr, was geschehen ist?«
»Nicht alles«, sagte ihre Mutter und setzte sich zu ihr.
»Wir können jetzt viel klüger sein, wenn wir wollen«, sagte Howard. Einen Augenblick lang fühlte Suzy sich verletzt; meinte er sie? Howard hatte sich immer seiner Noten geschämt, er war ein fleißiger Schüler gewesen, der sich angestrengt hatte, aber er war alles andere als begabt. Immerhin war er noch klüger als seine langsame Schwester.
»Wir brauchen nicht mal unsere Körper«, sagte Kenneth.
»Nicht so schnell!« ermahnte ihre Mutter sie. »Es ist sehr verwickelt, liebes Kind.«
»Wir sind jetzt Dinosaurier«, sagte Howard und nahm sich im Stehen vom Schinken. Dann machte er ein Gesicht und ließ den Bissen wieder fallen.
»Als wir krank waren…«, begann ihre Mutter.
Suzy legte die Gabel aus der Hand und kaute nachdenklich. Sie hörte nicht auf ihre Mutter, sondern lauschte anderen Stimmen, die von innen kamen.
Heilen dich
Pflegen dich.
Brauchen…
»Ach du lieber Gott«, murmelte sie mit vollem Mund. Sie schluckte und blickte zu den anderen. Sie hob die Hand. Weiße Schwielen zogen sich über den Handrücken und die Gelenke, verloren sich in schwach ausgeprägten Verzweigungen unter der Haut ihres Armes.
»Sei nicht bange, Suzy«, sagte ihre Mutter. »Bitte ängstige dich nicht. Sie ließen dich in Ruhe, weil sie nicht in deinen Körper eindringen konnten, ohne dich zu töten. Du hast eine ungewöhnliche Chemie, mein Kind. Du und ein paar andere. Das ist jetzt kein Problem mehr. Aber du hast die Wahl, Kind. Hör auf uns… und auf sie! Sie sind jetzt viel mehr verfeinert, Suzy, viel klüger als sie zur Zeit unserer… Umwandlung waren.«
»Dann bin ich jetzt auch krank, nicht wahr?« fragte Suzy.
»Es gibt so viele von ihnen«, sagte Howard mit einer alles umfassenden Armbewegung zum Aussichtsfenster, »daß du alle Sandkörner auf Erden und jeden Stern am Himmel zählen könntest, ohne ihre Zahl zu erreichen.«
»Nun hör gut zu!« sagte Kenneth und beugte sich zu seiner Schwester nieder. »Du hörst immer auf mich, nicht wahr, Sämling?«
Sie nickte wie ein Kind, langsam und besonnen.
»Sie wollen nicht verletzen, oder töten. Sie brauchen uns. Wir sind ein kleiner Teil von ihnen, aber sie brauchen uns.«
»Ja?«
»Sie lieben uns«, sagte ihre Mutter. »Sie sagen, sie kommen von uns und lieben uns wie… wie du deine Wiege liebst, die im Keller.«
»Wie wir Mama lieben«, sagte Kenneth. Howard nickte feierlich.
»Und nun geben sie dir die Wahl.«
»Was für eine Wahl?« fragte Suzy. »Sie sind schon in mir.«
»Die Wahl, ob du weitermachen möchtest, wie du bist, oder ob du dich zugesellen willst.«
»Aber ihr seid jetzt wieder wie ich.«
Kenneth kniete neben ihr nieder. »Wir möchten dir gern zeigen, wie es ist, wie sie sind.«
»Ihr habt eine Gehirnwäsche bekommen«, sagte sie. »Ich möchte lebendig sein.«
»Mit ihnen sind wir noch weit mehr lebendig«, sagte ihre Mutter. »Kindchen, wir haben keine Gehirnwäsche bekommen, wir sind überzeugt. Anfangs haben wir Schlimmes durchgemacht, aber das ist jetzt nicht mehr notwendig. Sie zerstören nichts. Sie können alles in sich bewahren, in der Erinnerung, aber es ist viel besser als Erinnerung…«
»Weil du dich selbst hineindenken und dort sein kannst, genauso wie es war…«
»Oder sein wird«, ergänzte Howard.
»Ich weiß noch immer nicht, was ihr meint. Sie wollen, daß ich meinen Körper aufgebe? Sie werden mich umwandeln, wie sie euch umwandelten, wie sie die ganze Stadt umwandelten!«
»Wenn du bei ihnen bist, wirst du deinen Körper nicht mehr brauchen«, sagte ihre Mutter. Suzy schaute sie entsetzt an. »Suzy, Kindchen, wir haben es mitgemacht. Wir wissen Bescheid.«
»Ihr redet wie diese Leute von der Mun-Sekte«, sagte Suzy. »Ihr habt mich immer gewarnt, daß die Mun-Leute und andere Jugendsekten mich übervorteilen und ausnutzen würden. Nun kommt ihr und wollt mir eine Gehirnwäsche machen. Ihr füttert mich und macht es mir angenehm, und ich weiß nicht mal, ob ihr meine Mutter und Brüder seid.«
»Du kannst so bleiben wie du bist, wenn du das willst«, sagte Kenneth. »Sie dachten bloß, du würdest gern mehr darüber wissen. Es gibt eine Alternative zu Alleinsein und Angst.«
»Werden sie meinen Körper verlassen?« fragte sie und hielt die Hand hoch.
»Wenn es das ist, was du willst«, sagte ihre Mutter.
»Ich möchte lebendig sein, nicht ein Geist.«
»Ist das deine Entscheidung?« fragte Kenneth.
»Ja«, sagte sie mit Entschiedenheit.
»Möchtest du, daß auch wir gehen?«
Sie spürte wieder die aufkommenden Tränen und griff nach der Hand der Mutter. »Ich bin verwirrt«, sagte sie. »Ihr würdet mich nicht belügen, nicht wahr? Ihr seid wirklich Mutter und Kenny und Howard?«
Sie nickten. »Nur besser«, fügte Howard hinzu. »Hör zu, Schwesterchen! Ich hatte die Weisheit wirklich nicht mit Löffeln gegessen, nicht wahr? Ich war vielleicht gutmütig, aber manchmal doch ein rechter Klotz. Doch als sie in mich kamen…«
»Wer sind sie?«
»Sie kamen von uns«, sagte Kenneth. »Sie sind wie unsere eigenen Zellen, nicht wie eine Krankheit.«
»Sie sind Zellen?« Sie dachte an die klumpigen Dinger — die Namen hatte sie vergessen —, die sie in der Schule unter dem Mikroskop gesehen hatte. Das machte ihr noch mehr Angst.
Howard nickte. »Und klug. Als sie in mich kamen, fühlte ich mich so stark — im Geist. Ich konnte denken und mich an alles mögliche erinnern, sogar Ereignisse, die ich gar nicht erlebt hatte. Es war, als unterhielte ich mich am Telefon mit Tausenden von klugen Leuten, allesamt gute Freunde, zur Zusammenarbeit geneigt…«
»Meistens«, sagte Kenneth.
»Na ja, sie streiten manchmal, und wir streiten auch. Es ist nicht alles eitel Sonnenschein. Aber niemand haßt den anderen, weil wir alle hunderttausendfach, vielleicht millionenfach dupliziert sind. Weißt du, wie im Kopiergerät. Über das ganze Land verteilt. Sollte ich hier und jetzt sterben, so gibt es Hunderte von anderen, die auf mich eingestimmt sind, bereit, ich zu werden, und so sterbe ich nicht. Ich verliere bloß dieses bestimmte Ich. Dafür kann ich mich auf alle anderen einstimmen, und ich kann überall sein, und es wird unmöglich — zu sterben.«
Suzy hatte aufgehört zu essen. Nun ließ sie das Herumstochern mit der Gabel sein und legte sie aus der Hand. »Das ist jetzt zu schwer für mich«, sagte sie. »Ich möchte wissen, warum ich nicht auch krank wurde.«
»Laß sie diesmal antworten«, sagte ihre Mutter. »Du brauchst ihnen bloß zuzuhören.«
Suzy schloß die Augen.
Verschiedene Leute
manche wie du
starben/Unheil/Ende
beiseitegelegt, konserviert
wie Nationalparks
diese Leute/du
zu lernen.
Die Worte formten sich nicht bloß in ihrem Bewußtsein. Sie waren begleitet von einer klaren, lebhaften Serie visueller und sinnlich wahrgenommener Reisen über weite geistige und physikalische Entfernungen. Sie wurde sich der Unterschiede zwischen Zellintelligenz und ihrer eigenen bewußt, der verschiedenen, nun zusehends integrierten Erfahrungen; sie kam in Berührung mit den Gestalten und Gedanken vom Menschen, die in die Zellerinnerungen eingegangen waren; sie gewann sogar den Eindruck, daß die Erinnerungen jener, die vor der Absorption gestorben waren, teilweise in den Zellen überdauert hatten. Sie hatte niemals eine derartige Vielfalt gesehen, gefühlt, geschmeckt.
Suzy schlug die Augen auf. Sie war schon nicht mehr dieselbe. Etwas in ihr war überbrückt worden — der Teil, der sie langsam machte. Sie war jetzt nicht mehr so langsam, nicht durchgängig.
»Siehst du, wie es ist?« fragte Howard.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie und schob den Stuhl vom Tisch zurück. »Sagt ihnen, sie sollen mich in Ruhe lassen und mich nicht krank machen!«
»Du hast es ihnen bereits gesagt«, erwiderte ihre Mutter.
»Ich brauche einfach Zeit«, sagte Suzy.
»Kindchen, wenn du willst, kannst du alle Zeiten der Welt haben.«
Bernard treibt in seinem eigenen Blut dahin, ungewiß, mit wem er kommuniziert. Die Kommunikation wird von Geißeltierchen durch den Blutstrom aufwärts getragen, angepaßten Protozoen, die im Serum hohe Geschwindigkeit erreichen können. Seine Antworten kehren auf dem gleichen Weg zurück, oder werden einfach in den Blutstrom geworfen.
Alles ist Information, oder Mangel an Information.
— Wie viele von mir gibt es?
Diese Zahl wird sich immer verändern. Mittlerweile vielleicht eine Million.
— Werde ich sie treffen? Sie integrieren oder in sie integriert werden?
Keine Gruppe hat die Fähigkeit, die Erfahrungen aller gleichartigen Gruppen zu absorbieren. Das muß den Befehlsgruppen vorbehalten werden. Nicht alle Information ist zu jeder gegebenen Zeit gleich nützlich.
— Aber keine Information geht verloren?
Information geht immer verloren. Das ist das Ringen. Aber keiner Gruppe Gesamtstruktur geht je verloren. Es gibt stets Verdoppelungen.
— Wohin gehe ich?
Schließlich über die »Blutmusik«. Du bist die Gruppe, welche zur Reintegration mit BERNARD ausgewählt wurde.
— Ich bin Bernard.
Es gibt viele BERNARD.
Vielleicht eine Million anderer, die denken, wie er jetzt dachte, die sich durch Blut und Gewebe ausbreiten und allmählich in die Noozyten-Hierarchie eingehen. Eine Million in Veränderung begriffener Versionen, die niemals reintegriert werden.
Du wirst mit Befehlsgruppen zusammentreffen. Du wirst GEDACHTES UNIVERSUM erfahren.
— Es ist zuviel. Ich fürchte mich wieder.
FURCHT ist unmöglich ohne hormonale Reaktion BERNARDS auf Makro-Ebene. FÜRCHTEST du dich tatsächlich?
Er sucht nach den Kennzeichen und Wirkungen der Furcht und findet sie nicht.
— Nein, aber ich sollte mich fürchten.
Du hast Interesse an Hierarchie ausgedrückt. Dazu ist erforderlich die Anpassung deiner Verarbeitung an **********.
Die Botschaft bleibt seinem menschlichen Geist unverständlich, eingebettet in die Biologik der Noozytengruppe, aber die Gruppe selbst versteht und bereitet die Einführung bestimmter Datenpakete vor.
Und als die Daten eintreffen — schlanke, zusammengerollte RNS-Stränge und knorrig, verschlungene Proteine —, fühlt er seine Zellen absorbieren und eingliedern. Es ist nicht möglich zu wissen, wieviel Zeit dies in Anspruch nimmt, aber er scheint beinahe augenblicklich die Erfahrung der im Kapillargefäß vorbeiströmenden Zellen zu begreifen. Er nährt sich von ihren kürzlich abgelegten Erfahrungserinnerungen.
Die bei weitem größte Zahl sind nicht reife Noozyten, sondern gewöhnliche somatische Zellen, die entweder geringfügig verändert wurden, um Störungen der Noozytenaktivität auszuschließen, oder Dienerzellen mit begrenzten Funktionen, die von einfacher Biologik bestimmt sind. Einige dieser Zellen sind im Auftrag von Befehlsgruppen unterwegs, andere übertragen erfahrene Erinnerung in hybridisierten oder polymerisierten Klumpen von einem Ort zum anderen. Wieder andere führen neue Körperfunktionen aus, die für unspezialisierte somatische Zellen noch nicht erreichbar sind.
Noch tiefer auf der Stufenleiter stehen domestizierte Bakterien, sorgfältig maßgeschneidert, um eine oder zwei Funktionen auszuführen. Verschiedene dieser Bakterien (es besteht keine Möglichkeit, ihre Art mit einer in Zusammenhang zu bringen, die er bei ihren wissenschaftlichen Namen kennt) sind kleine Fabriken, die das Blut mit den für die Noozyten erforderlichen Molekülen versorgen.
Und ganz unten auf der Stufenleiter, doch in ihrer Bedeutung keineswegs zu vernachlässigen, sind maßgeschneiderte Phagen-Viren. Von diesen fungieren verschiedene als Hochgeschwindigkeits-Transportmittel für wichtige Informationen, in Schlepp genommen von Geißeltierchen- Bakterien oder schlank gemachten Lymphozyten; andere bewegen sich freizügig durch das Blut, umringen die größeren Zellen wie Staubwolken. Wenn somatische Zellen, Dienerzellen oder sogar reife Noozyten die Hierarchie verlassen haben — aus Rebellion oder einer drastischen Fehlfunktion —, greifen die Viruspartikel sie an und injizieren ihre Ladung zersetzender RNS. Die angegriffenen Zellen platzen bald und stoßen eine Wolke weiterer maßgeschneiderter Viren aus, und die Abfälle werden von verschiedenen Noozyten und Dienerzellen absorbiert und beseitigt.
Jeder Zelltyp, der ursprünglich in seinem Körper vorhanden war, ob Freund oder Feind, ist von den Noozyten studiert und nutzbringend eingesetzt worden.
Mach dich los und folge der Spur der Befehlsgruppe! Du wirst interviewt.
Bernard fühlt, wie seine Gruppe sich in das Kapillargefäß zurückzieht. Dessen Wände verengen sich, bis die Gruppe in eine lange Linie aufgereiht ist, deren interzellulare Kommunikationen reduziert sind, bis sich das Noozyten- Äquivalent von Erstickung einstellt. Dann passiert die Gruppe die Wand des Kapillargefäßes und ist in Körperflüssigkeit gebadet. Die Spur ist sehr deutlich. Er kann die Anwesenheit reifer Noozyten »schmecken«. Es müssen sehr viele von ihnen sein.
Plötzlich kommt ihm in den Sinn, daß er tatsächlich noch nahe seinem Gehirn ist, möglicherweise noch in seinem Gehirn, und daß er sich anschickt, einige der Forscher zu treffen, die für den Durchbruch zu den Maßstäben des Makrokosmos verantwortlich sind.
Er passiert Mengen von Dienerzellen, Informationen befördernder Flagellaten, auf Befehle wartender Noozyten.
Ich werde, sagt er sich, mit dem großen Menschenfresser zusammentreffen. Der Gedanke und das begleitende geistige Schmunzeln geht augenblicklich in seine Erfahrungsdaten ein, wird von einer Dienerzelle hastig herausgezogen, geborgen und zur Befehlsgruppe fortgetragen. Schon im nächsten Augenblick erreicht ihn eine Antwort.
Bernard vergleicht uns mit einem UNGEHEUER.
— Nicht im geringsten. Ich bin hier das Ungeheuer. Entweder das, oder die Situation selbst ist ungeheuerlich.
Wir sind noch weit davon entfernt, die Subtilitäten deines Denkens zu verstehen. Hast du die Reise »stromabwärts« informativ gefunden?
— Bisher sehr informativ. Und ich gebe zu, daß ich mich hier klein und bescheiden fühle.
Nicht wie eine oberste Befehlsgruppe?
— Nein. Ich bin kein Gott.
Wir verstehen nicht GOTT.
Die Befehlsgruppe war viel größer als eine normale Noozyten-Ansammlung. Bernard schätzte, daß sie mindestens zehntausend Zellen enthielt, mit einer entsprechend größeren Denkkapazität. Er kam sich vor wie eine geistige Eintagsfliege, auch unter dem Eindruck der Schwierigkeit, im Noozytenbereich Urteile abzugeben.
— Habt ihr Zugang zu meinen Erinnerungen von H. G. Wells?
Pause. Dann:
Ja, dafür, daß es keine Erinnerungen wirklicher Erlebnisse sind, erscheinen sie ziemlich lebendig.
— Ja, nun, sie entstammen einem Buch, der Verschlüsselung einer unwirklichen Erfahrung.
Wir sind mit dem Begriff der »Fiktion« vertraut.
— Ich komme mir vor wie Cavour in Die ersten Menschen im Mond.
Der Vergleich mag passend sein, aber wir verstehen ihn nicht. Wir sind sehr verschieden, BERNARD, weitaus verschiedener als dein Vergleich mit der unwirklichen Erfahrung vermuten lassen würde.
— Ja, aber wie Cavour habe auch ich Tausende von Fragen. Vielleicht wünscht ihr, nicht alle zu beantworten.
Um zu verhüten, daß Makro-MENSCHEN alles wissen, was wir tun könnten, und versuchen, uns daran zu hindern.
Die Botschaft war gerade unklar genug, um Bernard zu zeigen, daß die Befehlsgruppe noch unfähig war, die Realität des Makrokosmos vollständig zu erfassen.
— Steht ihr in Verbindung mit den Noozyten in Nordamerika?
Wir sind uns bewußt, daß es andere, weitaus »mächtigere« Konzentrationen gibt, in viel besseren Umständen.
— Und…? Keine Antwort.
Dann:
Ist dir bekannt, daß dein »eingeschlossener Raum« in Gefahr ist?
— Nein. Welcher Art von Gefahr? Ihr meint das Laboratorium?
»Das Laboratorium« ist umringt von deinen Mitmenschen in »ungewisser hierarchischer Beziehung«.
— Ich verstehe nicht.
Sie wünschen das Laboratorium zu zerstören, und mit ihm vermutlich uns alle.
— Woher wißt ihr dies?
Wir sind in der Lage, RADIOFREQUENZ- SENDUNGEN in mehreren SPRACHEN — »Kodierungen« zu empfangen. Kannst du diese Versuche beenden? Bist du in einer Position von hierarchischem EINFLUSS?
Bernard grübelt über die Frage nach.
Wir haben Erinnerung an die SENDUNGEN.
— Dann laßt sie mich hören!
Er kann von Vorbeigang eines Flagellaten schmecken, der den Boten der Befehlsgruppe abfängt und mit einem Datenpaket zurückkehrt. Bernards Gruppe absorbiert das Material.
Er »hört« die Sendungen jetzt im Gedächtnis. Sie sind nicht von bester Empfangsqualität, und die meisten kommen in deutscher Sprache, die er nur mangelhaft versteht. Aber er kann genug aufnehmen, um zu verstehen, warum Paulsen- Fuchs in letzter Zeit merklich schlechter und erschöpfter ausgesehen hat.
Das Pharmek-Gelände ist umgeben von einer riesigen Zelt- und Hüttenstadt protestierender Menschen. Bis zum Flugplatz hinaus ist das Land mit ihnen übersät; die Zahl der Protestierenden beträgt schätzungsweise eine halbe Million, und jeden Tag treffen weitere mit Bussen, Automobilen oder zu Fuß ein. Militär und Polizei beschränken sich auf die Abriegelung des Pharmek-Geländes und die Bewachung der Zufahrtstraßen. Die politische Führung wagt nicht gegen die Demonstranten vorzugehen; die Stimmung in ganz Deutschland und in den meisten Ländern Europas ist sehr explosiv.
— Ich habe keine Macht, sie zurückzuhalten.
ÜBERREDUNG?
Wieder schmunzelt Bernard innerlich. — Nein, ich bin der, den sie vernichtet sehen wollen. Und ihr seid es.
Du bist in deinem Bereich viel weniger einflußreich, als wir es hier sind.
— O ja, natürlich.
Längere Zeit kommen keine Botschaften von der Befehlsgruppe.
Dann:
Es ist sogar noch weniger Zeit. Wir übertragen dich jetzt.
Er spürt eine subtile Veränderung in der Stimme, als er von Flagellaten aus der Befehlsgruppe entfernt wird. Folge. Er bemerkt, daß eine Anzahl kleinerer Gruppen sich von der Befehlsgruppe gelöst hat. Sie kommunizieren mit ihm, und ihre Stimme kommt ihm seltsam vertraut vor, unmittelbarer und zugänglicher.
— Wer führt mich?
Die Antwort ist chemisch. Ein Flagellat bringt ihm eine identifizierende Kette, und auf einmal weiß er, daß er von vier Gruppen primärer B-Lymphozyten geführt wird, den frühesten Versionen von Noozyten. Primäre B-Lymphozyten haben einen Platz in den meisten Befehlsgruppen und werden mit großem Respekt behandelt; sie sind die Vorläufer, obgleich ihre Aktivitäten begrenzt sind. Sie sind in beiden Bedeutungen des Wortes primitiv: in Entwurf und Funktion weniger vervollkommnet als die in jüngerer Zeit geschaffenen Noozyten, und die Vorfahren von allen.
DU MAGST DAS GEDANKENUNIVERSUM BETRETEN.
Die Stimme schwindet und kommt wieder, wie bei schlechtem Senderempfang. Bruchstückhaft, unvollständig.
Die Empfindung, in einer Noozytenansammlung zu sein, fand ein abruptes Ende. Jetzt war Bernard weder verkörpert noch auf den Maßstab der Noozyten geschrumpft. Seine Gedanken waren einfach, und der Ort, wo sie waren, war außerordentlich schön.
Wenn es eine Verlängerung im Raum gab, war sie illusorisch. Dimensionen schienen vom Gegenstand definiert zu sein; Information, die für sein gegenwärtiges Denken bedeutsam war, befand sich in der Nähe, andere Gegenstände waren weiter entfernt. Der Gesamteindruck war der einer ungeheuren, vielschichtigen Bibliothek, die in einer Sphäre um ihn angeordnet war. Er teilte dieses Zentrum mit einer anderen Gegenwart.
Menschen, menschliche Form, sagte die Gegenwart. Ein Hasten und Jagen von Informationen umgab Bernard, verlieh ihm Arme, Beine, einen Körper und ein Gesicht. Neben ihm, scheinbar in einem Liegestuhl ruhend, war ein undeutliches, nebelhaftes Abbild von Vergil Ulam. Ulam lächelte wenig überzeugend.
»Ich bin Ihr zellularer Vergil Ulam. Willkommen im inneren Kreis der Befehlsgruppen.«
»Sie sind tot«, sagte Bernard. Seine Stimme war eine unvollkommene Annäherung.
»Das hörte ich.«
»Wo sind wir?«
»Wenn ich die beschreibende Kette der Noozyten vereinfacht übersetze, dann befinden wir uns in einem Gedankenuniversum. Ich nenne es eine Noosphäre. Hier drin wird alles, was wir erleben, durch Denken erzeugt. Wir können sein, was wir wollen, können lernen, was uns gefällt, können über alles in der Welt nachdenken. Wir sind nicht eingeschränkt durch fehlendes Wissen oder mangelnde Erfahrung; alles steht zu unserer Verfügung und kann zu uns gebracht werden. Wenn ich nicht von den Befehlsgruppen gebraucht werde, verbringe ich den größten Teil meiner Zeit hier.«
Ein Dodekaeder aus Granit, dessen Kanten mit goldenen Stäben geschmückt waren, bildete sich zwischen ihnen. Eine Weile kollerte er hierhin und dorthin, dann wandte er sich an Vergils blasse, geisterhafte Gestalt. Bernard verstand nichts von der Kommunikation. Der Dodekaeder verschwand.
»Wir alle nehmen hier charakteristische Formen an, und die meisten von uns fügen Strukturen und Einzelheiten hinzu. Noozyten haben keinen Namen, Mr. Bernard. Sie haben Sequenzen identifizierender Aminosäuren, die von Codonen aus den Intronen ribosomer RNS ausgewählt werden. Hört sich kompliziert an, ist tatsächlich aber viel einfacher als ein Fingerabdruck. In der Noosphäre müssen alle aktiven Forscher deutlich identifizierende Symbole haben.«
Bernard versuchte, Spuren des Vergil Ulam zu finden, dem er begegnet und mit dem er einen Händedruck ausgetauscht hatte. Viele schien es nicht zu geben. Selbst der Stimme fehlte der Akzent und die leichte Atemlosigkeit, an die er sich erinnerte. »Es gibt hier nicht sehr viel von Ihnen, nicht wahr?«
Vergils Gespenst schüttelte den Kopf. »Nicht alles von mir war auf die Noozytenebene übersetzt, bevor meine Zellen Sie infizierten. Ich hoffe, es gibt irgendwo eine bessere Aufzeichnung. Diese ist kaum hinreichend. Ich bin nur zu etwa einem Drittel hier. Was hier ist, wird jedoch geliebt und beschützt. Die Gestalt des geehrten Urahnen, vage Erinnerung an den Schöpfer.« Seine Stimme litt unter Schwunderscheinungen, blieb ganz aus oder kam verzerrt. Das Abbild schien fast unbeweglich zu sein. »Die Hoffnung ist, daß sie mit Noozyten daheim Verbindung aufnehmen und mehr von mir finden werden. Nicht bloß Bruchstücke einer zerschlagenen Vase.«
Das Bild wurde noch durchsichtiger. »Muß jetzt gehen. Ergänzungen kommen. Ein Teil von mir ist immer hier anzutreffen; Sie und ich, wir sind die Modelle. Ich vermute, Sie haben jetzt den Vorrang. Bis später.«
Bernard stand allein in der Noosphäre, inmitten von Optionen, von denen er kaum Gebrauch zu machen wußte. Er streckte die Hand zur umgebenden Information aus. Sie flimmerte ringsumher, Lichtwellen, die sich vom Nadir zum Zenit ausbreiteten. Reihen von Information wechselten die Prioritäten, und seine Erinnerungen waren wie Kartenhäuser um ihn aufgestapelt, jedes dargestellt durch eine Lichtlinie.
Die Linien vereinigten sich in einer Lichtkaskade.
Er hatte gedacht.
»Für dich bloß ein Tag wie jeder andere, nicht?« sagte Nadia, wandte sich um und trat anmutig auf die Rolltreppe des Gerichtsgebäudes.
»Nicht der angenehmste«, sagte er. Sie wurden abwärts getragen.
»Ja doch, ein Tag wie jeder andere.« Sie duftete nach Teerosen und etwas anderem, das er mit Reinlichkeit gleichsetzte. Sie war in seinen Augen immer schön gewesen, und unzweifelhaft auch in den Augen anderer: zierlich, schlank, schwarzhaarig, zog sie nicht sofort die Blicke auf sich, aber ein paar Minuten allein in einem Raum mit ihr beseitigten jeden Zweifel: die meisten Männer würden mit Freuden viele Stunden, Tage, Monate mit ihr verbringen.
Aber nicht Jahre. Nadia war rasch gelangweilt, selbst Michael Bernard machte da keine Ausnahme.
»Also zurück zum Geschäft«, sagte sie und auf halbem Weg nach unten. »Mehr Interviews.«
Er antwortete nicht. Wenn Nadia sich langweilte, wurde sie bissig.
»Nun, du bist mich los«, sagte sie, als sie unten anlangten. »Und ich dich.«
»Ich werde dich nie los sein«, entgegnete Bernard. »Du stelltest für mich immer etwas Wichtiges dar.« Sie machte auf den hohen Absätzen kehrt und zeigte ihm die Rückseite eines makellos geschneiderten blauen Kostüms. Er faßte sie nicht zu sanft beim Arm und zog sie wieder herum. »Du warst meine letzte Chance, normal zu sein. Ich werde niemals eine andere Frau lieben, wie ich dich liebte. Du branntest. Ich werde Frauen mögen, aber ich werde mich ihnen niemals überantworten; ich werde niemals naiv mit ihnen sein.«
»Du plapperst dummes Zeug, Michael«, sagte Nadia, und ihre Lippen spannten sich ungeduldig bei der Erwähnung seines Namens. »Laß mich gehen!«
»Nichts da«, sagte er. »Du hast anderthalb Millionen Dollar. Gib mir etwas dafür!«
»Verzieh dich!« sagte sie.
»Du magst keine Szenen, nicht wahr?«
»Laß mich los!«
»Die kühle, würdevolle Dame. Aber ich kann jetzt etwas nehmen, als eine Art Gegenleistung.«
»Du Dreckskerl!«
Er zitterte und gab ihr eine Ohrfeige. »Für meine letzte Naivität. Für drei Jahre, von denen das erste wundervoll war, das dritte ein Elend.«
»Ich werde dich umbringen«, zischte sie. »Niemand…«
Er stellte ihr ein Bein und brachte sie zu Fall. Mit einem spitzen Schrei fiel sie rücklings auf den Hintern.
Die Beine gespreizt, die Arme steif nach hinten gestreckt und auf die Hände gestützt, blickte sie mit zuckenden Lippen zu ihm auf. »Du…«
»Rohling«, sagte er. »Ruhige, kalte, rationale Brutalität. Nicht sehr verschieden von dem, was du mir zugemutet hast. Aber du brauchst keine körperliche Gewalt. Du provozierst sie bloß.«
»Halt’s Maul!« Sie streckte die Hand aus, und er half ihr auf die Beine.
»Tut mir leid«, sagte er. Während ihrer drei gemeinsamen Jahre hatte er sie nicht ein einziges Mal geschlagen. Er fühlte sich sterbenselend.
»Unsinn! Du bist alles, was ich dir nachsagte, du Bastard. Du jämmerlicher kleiner Junge!«
»Tut mir leid«, wiederholte er. Die zahlreichen Leute in der Eingangshalle beobachteten sie wachsam, murmelten mißbilligend. Glücklicherweise waren keine Reporter da.
»Geh spielen mit deinem Spielzeug!« sagte sie. »Deinen Skalpellen, deinen Krankenschwestern, deinen Patienten. Geh hin und ruiniere ihr Leben und bleib mir vom Leibe!«
Eine ältere Erinnerung.
»Vater.« Er stand am Bett, unbehaglich in der Umkehrung der Rollen, nicht mehr der Arzt, sondern ein Besucher. Es roch nach Desinfektionsmittel und etwas, den Geruch von Desinfektionsmittel zu überdecken, Teerosen oder etwas ähnlich Süßlichem; das Ergebnis war ein Geruch wie in einer Leichenhalle. Er nahm die Hand seines Vaters in die seine.
Der alte Mann (er war alt, sah alt aus, abgenutzt vom Leben) öffnete die Augen und blinzelte. Seine Augäpfel waren gelb, wäßrig, seine Haut hatte die Farbe von französischem Senf. Er hatte Leberkrebs, und alles versagte Stück für Stück. Er hatte gebeten, daß auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet werden sollte, und Bernard war mit seinem Anwalt zum Chefarzt des Krankenhauses gegangen, um sicherzustellen, daß die Wünsche seines Vaters nicht ignoriert wurden. (Wollen Sie Ihren Vater tot sehen? Wollen Sie sichergehen, daß er schneller stirbt? Natürlich nicht. Wollen Sie, daß er ewig lebt? Ja. O ja. Dann werde auch ich nicht sterben.)
Alle paar Stunden bekam er ein starkes Schmerzmittel, eine moderne Abwandlung des Brompton-Cocktails, der in allgemeiner Gunst gestanden hatte, als Bernard angehender Arzt gewesen war.
»Vater. Ich bin’s, Michael.«
»Ja. Mein Verstand ist klar. Ich kenne dich.«
»Ursula und Gerald lassen grüßen.«
»Ich danke für die Grüße und erwidere sie.«
»Wie fühlst du dich?«
(Wie jemand, der im Sterben liegt, du Idiot.)
»Ich häng jetzt an der Spritze, Mike. Bin ein Fixer geworden.«
»Ja, richtig.«
»Ich muß jetzt mit dir sprechen.«
»Worüber, Vater?«
»Über deine Mutter. Warum ist sie nicht hier?«
»Mutter ist tot, Vater.«
»Ja. Ich weiß das. Mein Verstand ist klar. Es ist nur… und ich beklage mich nicht, wohlgemerkt… es ist nur, daß es schmerzt.« Er ergriff Bernards Hand und drückte sie so fest er konnte — ein jämmerlicher Druck. »Wie lautet die Prognose, Junge?«
»Du weißt es, Vater.«
»Kannst du nicht mein Gehirn für mich übertragen?«
Bernard lächelte. »Noch nicht. Wir arbeiten daran.«
»Nicht früh genug, fürchte ich.«
»Wahrscheinlich nicht, nein.«
»Du und Ursula — geht es gut?«
»Wir regeln die Dinge außergerichtlich, Vater.«
»Wie nimmt Gerald es?«
»Schlecht. Er schmollt.«
»Wollte mich mal von deiner Mutter scheiden lassen.«
Bernard blickte stirnrunzelnd in seines Vaters Gesicht. »Ja?«
»Sie hatte einen Liebhaber. Brachte mich in Rage. Lehrte mich aber auch einiges. Ließ die Scheidung sein.«
Bernard hatte nie etwas davon gehört.
»Du weißt, sogar mit Ursula…«
»Das ist vorbei, Vater. Wir beide hatten Affären, und meine entwickelt sich zu einer ziemlich ernsthaften Sache.«
»Kannst eine Frau nicht besitzen, Mike. Die nichts taugen, sind wie gefährliche Kinder, hat einer mal gesagt, aber die anderen… wunderbare Kameraden. Kannst sie nicht besitzen.«
»Ich weiß.«
»Wirklich? Vielleicht, ja. Ich dachte, als ich von dem Liebhaber deiner Mutter erfuhr — ich dachte, ich würde sterben. Es schmerzte beinahe so wie dies hier. Ich dachte, sie gehört mir.«
Bernard wünschte, das Gespräch würde eine andere Richtung nehmen. »Gerald hat nichts dagegen, für ein Jahr ins Internat zu gehen.«
»Aber sie gehörte mir nicht. Ich hatte bloß teil an ihr. Selbst wenn eine Frau dich nur zum Liebhaber hat, hast du teil an ihr. Und sie an dir. Treue ist eine großartige Sache, Mike, das Fundament einer gute Ehe, aber schließlich kommt es darauf an, was beide Teile darüber hinaus einbringen. Was du tust, wie gut du es tust, wie beharrlich du bist.«
»Ja, Vater.«
»Sag mal…« Seines Vaters Augen weiteten sich.
»Was?« fragte Bernard und griff wieder die welke Hand.
»Danach blieben wir noch dreißig Jahre zusammen.«
»Ich wußte nie etwas davon.«
»War auch nicht nötig. Ich war derjenige, der wissen mußte, der sich abfinden mußte. Das ist aber nicht alles, was mir durch den Sinn geht. Mike, erinnerst du dich an die Hütte? Auf dem Dachboden, unter der Schlafstelle, liegt ein Stoß von Papieren.«
Die Hütte in Maine war vor zehn Jahren verkauft worden.
»Ich hatte etwas geschrieben«, fuhr sein Vater fort, nachdem er mühsam und unter Schmerzen geschluckt hatte. Sein Gesicht knitterte in tausend Runzeln, und er machte eine bittere Grimasse. »Über meine Zeit als Arzt.«
Bernard wußte, wo die Papiere waren. Er hatte sie geborgen und während seiner Zeit als Internist gelesen. Sie befanden sich jetzt in einem Aktenordner in seinem Büro in Atlanta.
»Ich habe sie, Vater.«
»Gut. Hast du sie gelesen?«
»Ja.« Und sie waren mir sehr wichtig, Vater. Sie halfen mir bei der Entscheidung, was ich in der Neurologie tun wollte, bei der Wahl der Richtung, die ich einzuschlagen hatte… Sag es ihm, sag es ihm!
»Gut. Ich habe es immer gewußt, Mike.«
»Was?«
»Wie sehr du uns liebtest. Du bist bloß nicht der demonstrative Typ, nicht wahr?«
»Nie gewesen.«
»Ich liebe dich. Liebte Mutter.«
»Sie wußte es. Sie war nicht unglücklich, als sie starb. Gut.« Wieder machte er das Gesicht. »Ich muß jetzt schlafen. Bist du sicher, daß du keinen guten jungen und neuen Körper für mich finden kannst?«
Bernard nickte. Sag es ihm.
»Die Papiere waren sehr wichtig für mich, Vater. Papa.«
Er hatte ihn seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr »Papa« genannt. Aber der alte Mann hörte nicht. Er war eingeschlafen. Bernard nahm Mantel und Koffer und ging, schaute in die Station und fragte die Schwester aus Gewohnheit, wann die nächste Verabreichung sein würde.
Sein Vater starb am nächsten Morgen um drei Uhr früh, im Schlaf und allein.
Und weiter…
Olivia Ferguson, die gleichen wundervoll glatten achtzehn Jahre alt wie er, ihr Vorname wie ein Echo ihres Teints, ihr dichtes dunkles Haar an der Kopfstütze der Corvette, blickte ihn aus ihren großen grünen Au gen an und lächelte. Er erwiderte den Blick und das Lächeln, und es war der herrlichste Abend auf der Welt, es war phantastisch; das dritte Mal, daß er mit einem Mädchen verabredet war. Er war, Wunder über Wunder, eine Jungfrau — und diesen Abend schien es nichts auszumachen. Er hatte sie beim Glockenturm des Universitätscampus von Berkeley angesprochen, als sie bei einem der bronzenen Zwillingsbären gestanden hatte, und sie hatte ihn dabei mit echter Sympathie angeschaut.
»Ich bin verlobt«, hatte sie gesagt. »Das heißt, es kann nichts daraus werden…«
Enttäuscht und doch stets bereit, galant zu sein, hatte er gesagt: »Nun, dann wird es eben bloß ein unterhaltsamer Abend. Unter Freunden.« Er kannte sie kaum; sie hatte einen der Kurse belegt, die auch er besuchte. Sie war das schönste Mädchen von allen, groß und gefaßt, ruhig und selbstsicher, doch nicht im mindesten eingebildet. Sie hatte lächelnd eingewilligt.
Und nun fühlte er die Freiheit, entlassen aus der Verpflichtung, einen Erfolg zu erringen. Zum ersten Mal fühlte er sich mit einer Frau auf gleichen Fuß gestellt. Ihr Verlobter, so erläuterte sie, war bei der Marine, stationiert auf der Marinewerft in Brooklyn. Ihre Familie wohnte auf Staten Island, in einem Haus, wo Herman Melville einmal einen Sommer verbracht hatte.
Der Wind blies in ihr Haar, ohne es in Unordnung zu bringen — wunderbares, prachtvolles Haar, das (theoretisch) köstlich anzufühlen wäre, ein Genuß, es durch die Finger gleiten zu lassen. Sie hatten sich unterhalten, seit er sie zu Haus abgeholt hatte, in einer Wohnung, die sie mit zwei Frauen teilte und die nahe dem alten weißen Hotel Clairemont lag. Sie waren über die Golden Gate-Brücke gefahren, um in einem kleinen Fischrestaurant, dem Klamshak, zu essen, und dort hatten sie über alles mögliche gesprochen — über Studienkurse, Pläne, was es mit dem Heiraten auf sich habe (er wußte es nicht und bemühte sich nicht einmal, Kenntnisse oder Erfahrungen vorzutäuschen). Sie waren übereingekommen, daß das Essen gut sei, und die Einrichtung des Lokals nicht im mindesten originell — Netze und Korkschwimmer an der Wand, in den Maschen Plastikhummer und ein abgenutzt aussehender getrockneter Kugelfisch, ein alter durchlöcherter Fischerkahn vor dem Eingang auf muschelbestreutem Sand. Nicht ein einziges Mal kam er sich unbeholfen oder jung oder auch nur unerfahren vor.
Als sie über die Brücke zurückfuhren, dachte er, daß sie sich unter anderen Umständen gewiß ineinander verlieben und in ein paar Jahren heiraten würden. Sie war überwältigend — und er konnte und wollte nichts versuchen. Seine Empfindungen angesichts dieser Lage waren traurig und romantisch und insgesamt wundervoll.
Wenn er sie drängte, würde sie vielleicht mit ihm auf sein Zimmer gehen, und sie würden miteinander schlafen.
Doch obwohl er es als Makel empfand, unerfahren zu sein, wollte er sie nicht drängen. Er würde es nicht einmal andeuten. Die Stimmung dieses Abends war zu vollkommen.
Sie saßen vor dem umgebauten alten Herrenhaus, wo sie wohnte, noch eine Weile im Wagen, diskutierten über Kennedy und lachten über ihre Ängste während der Raketenkrise, und dann hielten sie einander bei den Händen und schauten sich in die Augen.
»Weißt du«, sagte er leise, »es gibt Zeiten, wo…« Er brach ab.
»Danke«, sagte sie. »Ich dachte mir gleich, daß du dich bei einer Verabredung anständig benehmen würdest. Die meisten Männer, weißt du…«
»Ja. Nun, so bin ich eben.« Er grinste. »Harmlos.«
»O nein. Nicht harmlos. Nicht im mindesten.«
Dies war der Wendepunkt. Es konnte so gehen, oder so. Er warf einen Blick auf ihre olivfarbene Haut und wußte, daß sie glatt war, jugendlich vollkommen. Er wußte auch, daß sie mit ihm auf sein Zimmer gehen würde.
»Du bist ein Romantiker, nicht wahr?« sagte sie.
»Ich glaube, das bin ich.«
»Ich auch. Die einfältigsten Leute auf der Welt sind Romantiker.«
Er fühlte Wärme in Hals und Gesicht emporsteigen. »Ich mag Frauen«, sagte er. »Ich mag die Art, wie sie sprechen und sich bewegen. Sie sind bezaubernd.« Er schloß sich ihr auf, um es später zu bedauern, aber seine Empfindung war zu wahr und unleugbar, besonders nach diesem Abend. »Ich glaube, die meisten Männer sollten spüren, daß eine Frau wie… wie geheiligt ist.
Nicht auf einem Postament, nicht in dieser Art. Aber einfach zu schön für Worte. Von einer Frau geliebt zu werden und… Das wäre einfach unglaublich.«
Olivia schaute durch die Windschutzscheibe, und ein Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Dann senkte sie den Blick auf ihre Handtasche und strich ihr wadenlanges blaues Kleid glatt. »Es wird geschehen«, sagte sie.
»Ja, sicher«, sagte er. Aber nicht zwischen uns.
»Danke«, sagte sie wieder. Er ließ ihre Hand los und hob sie, um ihr die Wange zu liebkosen. Sie rieb sich wie ein Kätzchen an seiner Hand und zog am Türgriff. »Wir sehen uns im Kurs.«
Sie hatten sich nicht mal geküßt.
— Was ist seitdem mit mir geschehen? Drei Ehefrauen — die dritte, weil sie wie Olivia aussah — und diese Di stanz, diese unüberbrückbaren Abstände. Ich habe bei weitem zu viele Illusionen verloren.
Es gibt Optionen.
— Ich verstehe nicht.
Was würdest du gern revidieren?
— Wenn ihr zurückgehen meint, ich sehe nicht, wie das geschehen sollte.
Hier im Gedankenuniversum ist alles möglich. Simulationen. Rekonstruktionen nach deinem Gedächtnis.
— Ich könnte ein weiteres Leben durchleben? Wenn Zeit ist.
— Mit der echten Olivia? Sie… wo war sie, ist sie? Das ist nicht bekannt.
— Dann werde ich es lieber sein lassen. An Träumen bin ich nicht interessiert.
Es gibt mehr Erinnerungen in dir.
— Ja…
Aber wo paßten sie hinein, wo kamen sie her?
Randall Bernard, vierundzwanzig, hatte Tiffany Marnier am siebzehnten November 1943 in einer kleinen Kirche in Kansas City geheiratet. Sie trug ein weißes Seidenkleid mit silbernen Perlen und einem weißen Spitzenüberwurf, den schon ihre Mutter zur Hochzeit getragen hatte, keinen Schleier, und die Blumen waren blutrote Rosen gewesen. Sie hatten…
Sie nippten vom Kelch mit Wein, tauschten ihre Gelübde aus und brachen ein Stück Brot, und der Geistliche, ein Theosoph, der sich im Laufe des nächsten Jahrzehntes zum Anhänger der indischen Vedanta wandeln sollte, erklärte sie für gleich in den Augen der Gottheit und nunmehr vereint durch gegenseitige Liebe und die rechtliche Bindung des Ehestands.
Die Erinnerung war verfärbt wie eine alte Fotografie, und nicht gut in Details. Aber sie war da, obwohl er damals noch nicht einmal geboren war, und er sah es, und sah dann ihre Hochzeitsnacht, bestaunte, was sich in flüchtigen Einblicken offenbarte und möglicherweise seine eigene Erschaffung war, und wie wenig sich zwischen Mann und Frau geändert hatte, bestaunte seiner Mutter Leidenschaft und seines Vaters präzise, wissende Geschicklichkeit, selbst im Bett ein Arzt…
Und sein Vater zog in den Krieg, drang mit Pattons Dritter Armee durch die Ardennen vor, erlebte die erbitterten Kämpfe und überschritt schließlich den Rhein bei Koblenz, und sein Sohn sah, was er nicht gesehen haben konnte. Und dann sah er, was sein Vater nicht gesehen haben konnte:
Ein Soldat in Reithosen, der den dunklen, feuchten Hausgang eines Pariser Bordells betrat; weder sein Vater noch sonst jemand, den er kannte…
Sehr trübe, aber klar in den Umrissen, eine Frau, die ihr Kind wiegte, beschienen von orangefarbenem Sonnenlicht, das durch ein Fenster aus getrockneter Fischblase drang…
Einen Mann, der im Grau des frühen Morgens mit Kormoranen in einem Fluß fischte…
Ein Kind, das vom Heuboden eine Gruppe von Männern beobachtete, die unten auf dem Hof einen großen, ängstlich glotzenden, schwarzweiß gefleckten Ochsen umstanden und sich anschickten, ihn zu schlachten…
Männer und Frauen, die ihre langen weißen Gewänder ablegten und in einem lehmigen, von roten Sandsteinfelsen gesäumten Fluß schwammen…
Einen Mann, der auf einer Klippe stand, den Hornbogen in der Hand, und eine Antilopenherde beim Durchqueren einer dunstigen Steppenebene beobachtete…
Eine Frau, die in einem dunklen unterirdischen, von Talglampen erhellten Raum ein Kind gebar, umringt von beschmierten, sorgenvollen Gesichtern…
Zwei alte Männer, die über Lehmkugeln in einem in den Sand gezogenen Kreis stritten…
— Ich erinnere diese Dinge nicht. Sie haben nichts mit mir zu tun. Ich erlebte sie nicht.
Er riß sich los vom Informationsstrom. Mit beiden Händen reichte er hinauf zu rotglühenden Kreisen über seinen Kopf, die so warm und attraktiv waren. Woher kamen sie? Er berührte die Kreise und spürte die Antwort in seinem hundertzelligen Körper.
Nicht alle Erinnerung kommt aus dem Leben eines Individuums.
— Woher dann?
Erinnerung ist gespeichert in Neuronen — wechselwirkende Erinnerung, bewahrt als Ladung und Potential, dann abgeladen in chemische Speicherung in Zellen, darauf weiterverfrachtet auf die molekulare Ebene. Gespeichert von den Intronen einzelner Zellen.
Die Einsicht war in ihrer Vollständigkeit und Intensität geradezu quälend.
Symbiotische Bakterien und Trägerviren, die von Natur aus in allen Tieren vorkommen und für jede Art bestimmte Funktionen entwickelt haben, werden mit molekularer Erinnerung, die von den Intronen übertragen wird, versehen. Sie verlassen das Individuum und gehen auf ein anderes über, »infizieren« die somatischen Zellen mit der Erinnerung. Einige der Erinnerungen kehren dann in den chemischen Speicher zurück, und ein paar werden wieder zu aktiver Erinnerung.
— Über Generationen hinweg?
Über Jahrtausende hinweg.
— Die Intronen sind nicht Sequenzen ohne Merkmalausprägung…
Nein, sie sind hochverdichtete Gedächtnisspeicher.
Vergil Ulam hatte Biologik in Zellen nicht aus dem Nichts geschaffen. Er war auf eine natürliche Funktion gestoßen — die Übertragung rassischer Erinnerung. Er hatte ein bereits existierendes System verändert.
— Es ist mir gleich! Keine Enthüllungen mehr, keine Einsichten mehr. Ich habe genug. Was ist aus mir geworden? Was nützt Offenbarung, wenn sie an einen Dummkopf verschwendet wird?
Er war wieder im Rahmenwerk des Gedankenuniversums. Er sah sich zwischen den Bildern um, den symbolischen Ursprüngen verschiedener Zweige von Information, dann zu den Ringen über seinem Kopf. Sie glommen jetzt grün.
Du bist BEKÜMMERT. Berühre sie!
Er reichte hinauf und berührte sie wieder.
Mit einem Ruck streckte er sich aus in die Zwischenschicht und begann, sich in den Bernard des Makro-Maßstabs zu integrieren; den Tunnel der Auflösung hinauf in die warme Dunkelheit des Laboratoriums. Es war Nacht — oder jedenfalls Schlafenszeit.
Er lag auf seinem Feldbett, kaum in der Lage, einen Arm zu bewegen.
Wir können deine Körperform nicht länger erhalten.
— Was?
Du wirst bald wieder in unseren Bereich zurückgezogen werden, innerhalb von zwei Tagen. All deine Arbeit im Makro-Maßstab muß bis dahin abgeschlossen sein.
— Nein…
Wir haben keine Wahl. Wir haben es lange genug hinausgezögert. Wir müssen umwandeln.
»Nein! Ich bin nicht bereit! Das ist zuviel!« Er merkte, daß er schrie, und die Angst gab ihm die Beweglichkeit zurück. Er fuhr hoch und saß auf dem Rand des Feldbettes, das grotesk von Schwielen verformte Gesicht schweißtriefend.
»Wollt ihr wieder gehen? Einfach weggehen?« Suzy hielt die Hand des Bruders fest. Kenneth machte vor dem Aufzug halt. Die Tür ging auf.
»Es ist hart, einfach wieder menschlich zu sein, weißt du«, sagte er. »Es ist einsam. Also werden wir zurückgehen, ja.«
»Einsam? Und wie, glaubt ihr, wird mir zumute sein? Ihr seid wieder tot.«
»Nicht tot, Sämling. Du weißt das.«
»Ihr könntet es genausogut sein.«
»Warum kommst du nicht zu uns?«
Suzy begann zu zittern. »Kenny, ich fürchte mich.«
»Sieh mal, sie haben dich verlassen, wie du wolltest. Und sie werden dich gehen lassen. Obwohl ich nicht weiß, was du dort draußen anfangen willst. Die Stadt ist nicht mehr für Menschen gemacht. Du wirst ernährt und wirst leben, aber… Suzy, alles verändert sich. Die Stadt wird sich noch mehr verändern. Du wirst im Wege sein… aber sie werden dir nicht weh tun. Wenn du es so willst, werden sie dich wie einen Nationalpark unter Schutz stellen.«
»Komm mit mir, Kenny! Du und Howard und Mama! Wir könnten zurückgehen…«
»Brooklyn existiert nicht mehr.«
»Mein Gott, du bist wie ein Geist oder was. Ich kann nicht vernünftig mit dir reden.«
Kenny zeigte zum Aufzug. »Sämling…«
»Hör auf, mich so zu nennen, verdammt! Ich bin deine Schwester, du Gruselgespenst! Ihr wollt mich da draußen einfach allein lassen…«
»Das ist deine Wahl, Suzy«, sagte Kenneth.
»Oder mich zu einer Gliederpuppe machen.«
»Du weißt, daß wir keine Gliederpuppen sind, Suzy. Du fühltest, wie sie sind, was sie für dich tun können.«
»Aber ich würde nicht mehr ich sein!«
»Hör auf zu jammern! Wir alle verändern uns.«
»Nicht so!«
Kenneth sah geschmerzt aus. »Als kleines Mädchen warst du nicht so. Hattest du jemals Angst, erwachsen zu werden?«
Sie starrte ihn an. »Ich bin immer noch ein kleines Mädchen«, sagte sie. »Ich bin langsam. Alle sagen das.«
»Hattest du jemals Angst, aus dem Kindesalter herauszukommen? Das ist der Unterschied. Wir haben diese Angst nicht und konnten uns weiterentwickeln. Du könntest auch erwachsen werden.«
»Nein«, sagte Suzy und wandte sich vom Aufzug weg. »Ich gehe zurück und spreche mit Mama.«
Kenny hielt sie am Arm zurück. »Sie sind nicht mehr da«, sagte er. »Es ist sehr anstrengend, so wiedererbaut zu sein.«
Suzy starrte ihn mit offenem Mund an, dann sprang sie in den Aufzug und drückte sich gegen die Rückwand. »Fährst du mit mir hinunter?«
»Nein. Ich gehe zurück. Wir lieben dich noch immer, Sämling. Wir werden über dich wachen. Du wirst mehr Mütter und Brüder und Freunde haben, als du jemals wissen wirst. Und vielleicht wirst du uns einmal bei dir aufnehmen.«
»Du meinst, in mich aufnehmen, wie die anderen?«
Kenneth nickte. »Wir werden immer in der Nähe sein. Aber wir werden unsere Körper nicht für dich wiedererbauen.«
»Ich möchte jetzt nach unten«, sagte sie.
»Also abwärts«, sagte Kenneth. Die Aufzugtüren begannen sich zu schließen. »Leb wohl, Suzy! Sei vorsichtig!«
»Kennnnethhh!« Aber die Tür schloß sich, und der Aufzug sank abwärts. Sie stand da und fuhr sich mit den Fingern durch das lange, strähnige Blondhaar.
Die Tür öffnete sich.
Das Foyer war ein Geflecht grauer, massiv aussehender Bogen, welche die Masse des Turmhauses trugen. Sie stellte sich vor — oder erinnerte sich vielleicht, was sie ihr gezeigt hatten —, daß der Aufzugschacht und das Restaurant alles waren, was vom ursprünglichen Gebäude geblieben war, eigens für sie.
Wohin sollte sie gehen?
Sie betrat den grau und rot gesprenkelten Boden — nicht Teppich, nicht Beton, sondern etwas leicht Elastisches, wie Kork. Ein braun und weiß geflecktes Laken — das letzte, was sie von dieser besonderen Substanz zu Gesicht bekam — glitt über die Aufzugtür hinab und versiegelte sie mit einem leise zischenden Geräusch.
Sie ging durch das Geflecht der Bögen, stieg über zylindrische Buckel in der roten und grauen Oberfläche, verließ den Schatten des umgewandelten Wolkenkratzers und stand in halbbewölktem Tageslicht.
Der Turm, in dem sie sich aufgehalten hatte, stand allein. Der andere war abgetragen. Alles, was vom World Trade Center geblieben war, war ein runder Turm um die Aufzugschächte, glatt und glasig grau in manchen Bereichen, rauh und schwarz gefleckt in anderen, und da und dort sah sie Verästelungen durch das äußere Material empordringen.
Zwischen dem umgewandelten Platz, der mit gefiederten, baumähnlichen Gewächsen bedeckt war, und dem Ufer gab es nichts, was eine Höhe von sechs oder sieben Metern überragt hätte.
Sie ging zwischen den gefiederten Wedeln der »Bäume«, die sich sanft auf ihren roten Stämmen wiegten, hinab zum Ufer. Das Wasser war von einem festen, gelatineartigen Grüngrau, eben wie Glas und genauso glänzend. Sie konnte die unregelmäßigen, organischen Formen von Jersey City sehen, ähnlich einer unheimlichen Sammlung von Kinderspielzeug und Bauklötzen; die Spiegelung im geronnenen Fluß war vollkommen.
Der Wind seufzte angenehm. Es hätte kalt oder wenigstens kühl sein müssen, aber die Luft war warm. In ihrer Brust zog sich ein Schmerz zusammen, den nur Weinen lindern konnte. »Mutter«, sagte sie, »ich möchte bloß sein, was ich bin. Sonst nichts. Nicht weniger.« Und nicht mehr? Suzy, das ist eine Lüge.
Lange stand sie am Ufer, dann wandte sie sich um und machte sich auf den Weg ins Innere der Insel Manhattan.
Für Bernard hatte die lächerliche Umgebung, in der er so viele Wochen verbracht hatte, dem Anschein der geringeren von zwei Wirklichkeiten.
Er arbeitete kaum noch. Meistens lag er auf dem Feldbett, die Tastatur des Datenanschlusses unter dem Arm, dachte nach und wartete. Draußen, das wußte er, wuchsen die Spannungen. Er war der Brennpunkt.
Paulsen-Fuchs und das Aufgebot von Polizei und Militär konnten zwei Millionen Menschen nicht daran hindern, die Gebäude zu überrennen, ihn und das Laboratorium zu zerstören. (Dorfbewohner mit Fackeln; er war zugleich Dr. Frankenstein und das Ungeheuer. Unwissende, ängstliche Dorfbewohner verrichteten Gottes Werk).
In seinem Blut, seinem Fleisch, trug er etwas von Vergil Ulam, etwas von seinen Eltern, etwas von Menschen, die er nie gekannt hatte, von Menschen vielleicht, die seit Jahrtausenden tot waren. In seinem Innern gab es Millionen von Duplikaten seiner selbst, die tiefer in die Noozytenwelt absanken und die ungezählten Schichten von Universen innerhalb der Biologik entdeckten: alt, neu und potentiell.
Und doch — wo war die Versicherungspolice, die Garantie, daß er nicht getäuscht wurde? Wie, wenn sie einfach falsche Träume heraufbeschworen, um ihn zu beruhigen, für die Metamorphose unter Drogen zu setzen? Wie, wenn ihre Erklärungen nichts als ein Zuckerguß von Redensarten wären, ihn aufzumuntern? Er hatte keine Hinweise darauf, daß die Noozyten logen — aber wie konnte man beurteilen, ob und wann etwas so Fremdes wie die Noozyten log, oder ob »Lügen« für sie überhaupt ein zugänglicher Begriff darstellte?
(Olivia. Sie hatte ihre Verlobung gelöst, erfuhr er viel später, zwei Monate nach ihrer einzigen Verabredung. Am letzten Tag des gemeinsam besuchten Kurses hatten sie einander zugelächelt — und waren ihrer Wege gegangen, hinaus aus dem Leben des jeweils anderen. Er war — was gewesen? Schüchtern, ungeschickt? Zu romantisch, zu sehr verliebt in diesen einen kostbaren, vom Petrarkismus verklärten Abend? Wo war sie? In der nordamerikanischen Biomasse?)
Und selbst wenn er akzeptierte, was ihm gesagt worden war, so war ihm sicherlich nicht alles gesagt worden. Ungezählte Fragen blieben, manche weniger wichtig, die meisten von Bedeutung. Schließlich war er noch immer er ein Individuum (nicht wahr?) und sah einer praktisch unbekannten Erfahrung entgegen.
Die Befehlsgruppen, die Forscher — keiner antwortete ihm jetzt. Was geschah in Nordamerika mit all den schlechten Menschen, deren Gedächtnisinhalte von den Noozyten bewahrt wurden? Freilich waren sie von der Welt, in der sie schlecht gewesen waren, genauso wirksam isoliert wie sie es in den Gefängnissen gewesen waren — weitaus wirksamer isoliert. Aber schlecht zu sein, bedeutete schlechtes, verdorbenes Denken, bedeutete eine Krebszelle in der Gesellschaft zu sein, eine gefährliche und antisoziale Fehlentwicklung, und er dachte dabei nicht bloß an Amokläufer oder Axtmörder. Er dachte an Politiker, die zu gierig oder blind waren, um zu wissen, was sie taten, Wirtschaftsverbrecher, die Tausende von Anlegern um ihre Ersparnisse gebracht hatten, Eltern, die zu dumm waren, um zu wissen, daß man seine Kinder nicht mißhandeln und zu Tode prügeln sollte. Was wurde aus diesen Leuten und den Millionen von krankhaften, kriminellen und antisozialen Elementen in der menschlichen Gesellschaft?
Waren alle unterschiedslos millionenfach dupliziert, oder ließen sich die Noozyten in ihrem Handeln von etwas Überlegung und Urteilsvermögen leiten? Tilgten sie in aller Stille eine Anzahl Persönlichkeiten, oder veränderten sie sie?
Aber wenn die Noozyten sich die Freiheit nahmen, die wirklich gefährlichen und gemeinschaftsschädlichen Elemente auszuschalten, sei es durch Veränderung, sei es durch irgendeine Form von Fixierung oder Lähmung, mußten sie zuvor in ihre Denkprozesse eingedrungen sein und einen allgemeinen Konsens rechtschaffenen Denkens als Maßstab eingeführt haben…
Wer konnte dann sagen, daß sie nicht auch andere veränderten, Menschen mit geringeren Problemen, Leute mit all den Komplexen kleiner Verschrobenheiten und Irrtümer und zeitweiliger Bosheit — Eigenschaften, von denen niemand frei war? Berufsrisiken des Menschseins, des Lebens in einer harten Welt, einer anderen als jener, die die Noozyten bewohnten? Wenn sie wirklich korrigierten und eliminierten und veränderten, wer konnte sagen, wie gut oder schlecht sie darin waren? Wer konnte sagen, daß sie wußten, was sie taten, und hinterher arbeitsfähige menschliche Persönlichkeiten behielten?
Was taten die Noozyten mit Menschen, die der Veränderung nicht standhielten, die verrückt wurden — oder die, wie angedeutet worden war, unvollkommen assimiliert starben und Teilerinnerungen zurückließen, wie Vergils Teilerinnerungen in Bernards eigenem Körper? Wurde auch hier gejätet und ausgelesen?
Gab es in der Noosphäre Politik, gesellschaftliche Wechselwirkungen? Hatten Menschen gleiches Stimmrecht wie Noozyten? Menschen waren natürlich Noozyten geworden — aber waren die echten, die ursprünglichen Noozyten mehr oder weniger hoch angesehen?
War mit Konflikten, mit Revolution zu rechnen?
Oder würde tiefe Stille herrschen, die Ruhe des Grabes, weil der Wille zum Widerstand ausgelöscht war? Für eine strenge Hierarchie war der freie Wille keine wichtige Sache. War die Noosphäre eine strenge Hierarchie, in der es an abweichenden Meinungen oder selbst Kommentaren fehlte?
Er hatte nicht den Eindruck.
Aber wie konnte er Gewißheit erlangen?
Respektierten und liebten sie die Menschen wirklich als Herren und Schöpfer, oder saugten sie sie einfach ein, verdauten die benötigten Informationen und ließen den Rest verrotten, desorganisiert und tot?
War dies alles nur die Furcht vor der großen Veränderung? Die Furcht vor dem völlig Andersartigen, sei es himmlisch oder höllisch, im Gegensatz zu dem schwierigen, oftmals höllischen, aber bekannten Status quo?
Es war kaum anzunehmen, daß Vergil Ulam diese Fragen jemals durchdacht hatte. Vielleicht hatte es ihm an der nötigen Zeit gefehlt, doch selbst wenn ihm die Zeit dafür geblieben war, hatte es einfach nicht Vergil Ulams Wesensart entsprochen, solche Dinge gründlich zu durchdenken. Hervorragend in der wissenschaftlichen Arbeit und ihrer schöpferischen Umsetzung, verantwortungslos und schlampig in der Einschätzung der Folgen.
Galt das nicht für jeden Schöpfer?
Führte nicht jeder große Veränderer letzten Endes einige Menschen — vielleicht sehr viele Menschen — in Kummer, Qual und Tod?
Die armen menschlichen Prometheuse, die ihren Mitmenschen das Feuer brachten.
Edel.
Einstein. Der arme Einstein und sein Brief an Roosevelt: ›Ich habe die Dämonen der Hölle losgelassen, und nun müssen Sie einen Pakt mit dem Teufel unterschreiben, oder ein anderer wird es tun. Jemand, der noch schlimmer ist.‹ Curie, die mit Radium experimentierte; wie verantwortlich war sie für alle nichtsahnenden Opfer radioaktiver Strahlung, bis hin zu Slotin, mehr als vier Jahrzehnte später?
Hatten Pasteurs oder Salks Arbeiten, oder seine eigene, was das anging, Männern oder Frauen das Leben gerettet, die schließlich Unheil anrichteten, sozialschädlich wurden oder durchdrehten? Unzweifelhaft.
Und dachten die Opfer jemals, daß die Urheber vor Gericht gezerrt werden müßten?
Unzweifelhaft.
So verwirrend.
Bernard schwankte zwischen Schlaf und Alptraum, prallte hart auf der Seite des Alptraums auf und hob sich beim nächsten Ausschwingen in eine Art Ekstase.
Nichts wird jemals wieder sein, wie es war.
Gut! Großartig! War es nicht ohnedies alles schlimm verpfuscht gewesen?
Nein, vielleicht nicht. Erst jetzt.
O Herr, es treibt mich zum Gebet. Ich bin schwach und unfähig, diese Urteile zu fällen. Ich glaube nicht an dich, nicht in einer Form, wie man sie mir beschrieben hat, aber ich muß beten, weil ich in Furcht bin, in unheiliger Angst.
Was haben wir geboren?
Bernard blickte auf seine Hände und Arme herab, die angeschwollen waren, und bedeckt mit weißen Schwielen.
So häßlich, dachte er.
Die Nahrung erschien auf einem hüfthohen, schwammig aussehenden grauen Zylinder am Ende einer von hohen Wänden eingeschlossenen Sackgasse. Suzy blickte auf das Essen, streckte die Hand aus, das allem Anschein nach gebratene Hühnchen zu berühren, und zog den Finger langsam zurück. Das Essen war warm, die Tasse Kaffee dampfte, und alles sah völlig normal aus. Nicht ein einziges Mal war ihr etwas serviert worden, was sie nicht mochte, und nicht ein einziges Mal hatte es zuviel gegeben, oder zuwenig.
Sie beobachteten sie aufmerksam und vergaßen keines ihrer Bedürfnisse. Sie wurde umsorgt wie ein Tier in einem Zoo, wenigstens kam sie sich so vor.
Sie kniete nieder und begann zu essen. Danach setzte sie sich mit dem Rücken an den Zylinder, trank den Rest des Kaffees und schlug sich den Kragen hoch. Es wurde kälter. Sie hatte die warme Jacke ihres Bruders im World Trade Center zurückgelassen — oder was daraus geworden war —, und während der vergangenen zwei Wochen hatte sie kein Bedürfnis danach verspürt. Die Lufttemperatur war immer angenehm gewesen, sogar bei Nacht.
Alles veränderte sich, und das war beunruhigend — oder aufregend. Sie war nicht sicher, was.
Um die Wahrheit zu sagen, hatte Suzy McKenzie sich viel gelangweilt. Sie war nie besonders phantasievoll gewesen, und die Teile des umgewandelten Manhattan, die sie durchwandert hatte, waren nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Die großen Kanalrohre, die grüne Flüssigkeit vom Fluß ins Innere der Insel pumpten, die träge wedelnden Fächerbäume, die Flächen glasig-silbriger Buckel, die Sammlungen von Straßenreflektoren, ausgebreitet über Hunderte von Morgen unregelmäßiger Oberfläche — nichts von alledem hatte sie länger als ein paar Minuten interessiert. Diese Dinge standen in keiner Beziehung zu ihr. Suzy verstand nichts von ihnen und ihren Funktionen.
Sie wußte, daß es alles faszinierend sein sollte, aber es war nicht von Menschen für Menschen, und es war auch nicht Natur im überkommenen, angenehm entspannenden Sinn, und so lag ihr nicht viel daran.
Menschen interessierten sie; was sie dachten und taten, wer sie waren, wie sie sich zu ihr verhielten, und wie sie über sie dachten.
»Ich hasse euch«, sagte sie zu dem Zylinder, als sie Teller und Tasse auf seine Oberfläche stellte. Der Zylinder schluckte sie und versank im Boden. »Euch alle!« schrie sie die Wände der Sackgasse an. Sie umfaßte die Oberarme mit den Händen, um sich warmzuhalten, dann fiel ihr ein, daß es bald dunkel sein würde; sie brauchte eine Schlafgelegenheit. Sie hob Taschenlampe und Radio auf. Die Batterien wurden bereits schwächer, obwohl sie das Radio immer nur für kurze Zeit eingeschaltet hatte. Sie verließ die Sackgasse und starrte in einen Wald von Fächerbäumen, der einen steilen rotbraunen Hügel überwuchert hatte.
Auf der Kuppe der Anhöhe befand sich ein schwarzer Polyeder, dessen Facetten jeweils eine knapp meterlange silbrige Nadel trugen. Auf der Insel gab es viele ähnliche Gebilde. Sie achtete kaum noch darauf. Das Umwandern des Hügels dauerte ungefähr zehn Minuten. Sie kam in ein flaches Tal von der Länge eines Fußballplatzes, umsäumt von sanft gebogenen schwarzen Röhren, deren Durchmesser ungefähr ihrer Taillenweite gleichkam. Die Rohre verschwanden in einer Grube am Ende des Tales. Sie hatte des öfteren an solchen Kreuzungspunkten geschlafen. Sie ging zum Ende des Tales und kniete in der Mulde nieder, befühlte die Oberfläche mit beiden Händen; sie war ganz warm. Hier konnte sie die Nacht unter den Rohren liegend einigermaßen bequem verbringen.
Im Westen überhauchte purpurner Schein den Himmel. Die Sonnenuntergänge waren gewöhnlich orangefarben und rot, gedämpft; heute hingegen sah der Horizont geradezu elektrisch aus.
Sie schaltete das Radio an und legte das Ohr an den Lautsprecher. Um die Batterien zu schonen, hatte sie die Lautstärke verringert, obwohl sie vermutete, daß es wirkungslos war. Der englische Kurzwellensender, stets zuverlässig, war sofort da. Sie verbesserte die Einstellung und kroch tiefer unter die Rohre.
»… die Unruhen in Westdeutschland konzentrieren sich auf die Forschungseinrichtungen der Pharmek, wo sich Dr. Michael Bernard aufhält, ein mutmaßlicher Träger der nordamerikanischen Seuche. Obwohl diese sich außerhalb Nordamerikas nirgendwo weiter ausgebreitet hat, haben die allgemeine Nervosität und die daraus resultierenden Spannungen nicht nachgelassen. Die Sowjetunion hat ihre Grenzen für Ausländer geschlossen, und…« — der Ton verzerrte sich, und sie stellte die Skala neu ein — »… katastrophale Hungersnot in Rumänien und Ungarn dauert nun schon seit drei Wochen an, und eine Linderung ist nicht in Sicht…«
»… Mrs. Thelma Rittenbaum, das bekannte Medium aus Battersea, berichtet von Traumgesichten, in denen Christus mitten in Nordamerika erschienen sei, die Toten auferweckt und ein Heer um sich gesammelt habe, um den Rest der Welt zu erobern.« (Eine zittrige Frauenstimme auf einem Tonband schlechter Qualität sprach ein paar unverständliche Worte.)
Der Rest der Nachrichten betraf England und Europa; dies gefiel Suzy am besten von allem, denn bisweilen schien es, daß die Welt normal sei, oder sich wenigstens erhole. Für ihre Heimat gab es keine Hoffnung; die hatte sie vor Wochen aufgegeben. Aber andere Völker konnten ein normales Leben führen. Daran zu denken, war tröstlich.
Nicht, daß jemand irgendwo von ihr gewußt oder sich um sie gekümmert hätte.
Sie schaltete das Radio aus, rollte sich enger zusammen und lauschte dem Zischen der Flüssigkeit, die in den Röhren strömte, und leisem, tiefem Ächzen aus den Tiefen des Untergrunds.
Sie schlief, umgeben von Schwärze, im Schein vereinzelter Sterne, die tröstlich zwischen den Umrissen der Röhren vom Himmel blinzelten. Und als sie mitten in einem warmen Traum über einen Kleidereinkauf erwachte…
Etwas wurde um sie gewickelt. Sie strich schläfrig darüber: weich wie Samt, warm. Sie tastete nach der Taschenlampe und leuchtete auf ihre bedeckten Beine und Hüften. Die Decke war anschmiegsam, hellblau mit unbestimmten grünen Streifen — ihre Lieblingsfarben. Wo sie nicht zugedeckt war, fröstelte sie. Sie war zu schläfrig, um sich Fragen zu stellen; sie zog die Decke höher und glitt zurück in ihre Träume. Diesmal war sie ein kleines Mädchen und spielte mit früheren Freundinnen auf der Straße, Freundinnen, die inzwischen herangewachsen und in vielen Fällen fortgezogen waren.
Dann wurden die Gebäude eines nach dem anderen abgerissen. Sie sahen zu, wie Männer mit riesigen Schmiedehämmern daherkamen und das alte braune Backsteinmauerwerk zerschlugen. Sie wandte den Kopf um zu sehen, wie ihre Freundinnen reagierten, und sie waren alle erwachsen oder sogar alt geworden, wichen von ihr zurück und winkten und riefen ihr, sie solle ihnen folgen. Sie begann zu weinen. Ihre Schuhe klebten am Pflaster, und sie konnte keinen Schritt tun. Als alle Gebäude verschwunden waren, war das Viertel ein eingeebneter Platz, wo die Rohre der Wasserleitungen in die Luft ragten, wo in der Höhe eines oberen Stockwerks eine Toilette auf einem Abflußrohr balancierte.
»Die Dinge werden sich wieder ändern, Suzy.« Ihre Schuhe kamen los, und sie wandte sich um und sah Cary, in peinlicher Nacktheit.
»Meine Güte, ist dir nicht kalt?« fragte sie. »Ach nein, es kann dir nichts ausmachen. Du bist bloß ein Geist.«
»Na ja, vielleicht«, sagte Cary lächelnd. »Wir alle wollten dich bloß warnen, weißt du. Es wird sich alles wieder ändern, und wir wollten dir die Wahl lassen.«
»Ich träume nicht, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sind in der Decke. Du kannst mit uns sprechen, wenn du wach bist.«
»In der Decke… ihr alle? Mama und Kenny und Howard?«
»Und viele andere mehr. Dein Vater, wenn du mit ihm sprechen willst. Es ist ein Geschenk«, sagte er. »Eine Art Abschiedsgeschenk. Wir meldeten uns alle freiwillig, aber schließlich gibt es viel mehr von mir und all den anderen, als wir genau genommen benötigen.«
»Ich verstehe nicht, was du sagen willst, Cary.«
»Du wirst es schon schaffen. Du bist ein starkes Mädchen, Suzy.«
Der Traumhintergrund war nebelhaft geworden. Sie standen jetzt beide in orangebrauner Dunkelheit, und der ferne Himmel leuchtete orangefarben, als stünde der Horizont in Flammen. Cary blickte umher und nickte. »Es sind die Künstler. Es gibt so viele Künstler, Wissenschaftler, daß ich mir ganz verloren vorkomme. Aber sobald ich mich entscheide, werde ich einer von ihnen sein. Sie geben uns Zeit. Wir werden geehrt, Suzy. Sie wissen, daß wir sie gemacht haben, und sie behandeln uns wirklich gut. Weißt du, dort könnten wir zusammen leben«, sagte er und wies in die Dunkelheit hinter sich. »Es gibt einen Ort, wo sie alle denken. Es ist ganz wie im richtigen Leben, in der realen Welt. Es kann so sein, wie es früher war, oder wie es sein wird. Ganz wie du es willst.«
»Ich mache nicht mit, Cary.«
»Nein, ich dachte auch nicht, daß du es tun würdest. Ich selbst hatte keine andere Wahl, als ich dazu kam, aber ich bedauere es nicht. In Brooklyn Heights hätte ich niemals erreicht, was ich jetzt bin.«
»Du bist auch eine Marionette.«
»Ich bin ein Geist.« Er lächelte ihr zu. »Nun, jedenfalls wird ein Teil von mir bei dir bleiben, wenn du sprechen willst. Und ein anderer Teil wird fortgehen, wenn die Veränderung kommt.«
»Es soll wieder so werden, wie es war?«
Er schüttelte den Kopf. »Es wird nie wieder so sein. Und… sieh mal, ich verstehe dies alles nicht, aber es wird nicht allzu lange dauern, bis eine weitere Veränderung eintreten wird. Nichts wird je wieder so sein, wie es war.«
Suzy schaute ihn mit festem Blick an. »Du denkst, es würde mich locken, wenn du nackt erscheinst?«
Cary blickte an seinem Abbild herab. »Daran hatte ich nicht gedacht«, sagte er. »Du siehst daran, wie zwanglos ich geworden bin. Kannst du es dir nicht anders überlegen?«
Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin die einzige, die nicht krank geworden ist.«
»Na, nicht die einzige. Es gibt ungefähr zwanzig, fünfundzwanzig. Wir kümmern uns um sie, so gut wir können.«
Sie zog es vor, einzigartig zu sein. »Vielen Dank«, sagte sie.
»Wie auch immer, du solltest die Decke tragen. Wenn die Veränderung kommt, mußt du dich ganz fest hineinwickeln. Es wird eine Menge Nahrung übrigbleiben.«
»Gut.«
»Ich nehme an, du wirst jetzt bald aufwachen, also werde ich dich nicht länger stören. Du kannst uns sehen, wenn du wach bist, übrigens. Noch eine Weile.«
Suzy nickte.
»Wirf die Decke nicht fort«, ermahnte er sie. »Andernfalls wirst du Schaden nehmen.«
»Ich werde sie nicht wegwerfen.«
»Gut.« Er streckte die Hand aus und berührte ihre gekreuzten Arme mit den Fingerspitzen.
Sie schlug die Augen auf. Der Morgen war gelblichgrau über den Röhren. Die Oberfläche der Grube und die Röhren selbst waren kalt.
Suzy zog die Decke fester um sich und wartete.
Paulsen-Fuchs stand im Beobachtungsraum, hatte sich über den Tisch gebeugt und überlas seine Aufzeichnungen. Er hatte lange genug angestarrt, was auf dem Feldbett in der Isolierkammer lag.
Bernard hatte früh am Morgen seine menschliche Gestalt verloren. Die Kameras hatten die Umwandlung festgehalten. Jetzt lag eine formlose graue und dunkelbraune Masse auf seinem Bett und hing auf zwei Seiten zum Boden herab. Die Masse geriet von Zeit zu Zeit in zuckende Bewegung, als würde sie von einem kurzen, heftigen Schaudern ergriffen.
Als er sich noch hatte bewegen können, hatte Bernard die tragbare Tastatur seines Datenanschlusses vom Tisch genommen und zu seinem Feldbett getragen. Das Telefonkabel kam unter der Masse hervor, und die Tastatur war wie der Telefonhörer von ihr bedeckt oder in sie eingeschlossen.
Und Bernard sendete noch immer Botschaften aus, obwohl er nicht sprechen konnte. Der Monitor zeigte einen ungleichmäßigen Informationsfluß an, Bernards Beschreibung seiner Umwandlung.
Das meiste, was in die Tastatur eingegeben wurde, war jedoch unverständlich. Vielleicht war Bernard bereits mehr Noozyt als Mensch.
Die Umwandlung machte Paulsen-Fuchs’ Entscheidung nicht leichter. Die protestierende Menge — und die Regierung, in dem sie sich auf ein Minimum von Schutzmaßnahmen beschränkte — hatten verlangt, daß Bernard getötet und die Isolierkammer vollständig sterilisiert werde.
Die Zahl der Belagerer wurde auf über zwei Millionen geschätzt, und wenn ihre Forderungen nicht erfüllt wurden, bestand die Gefahr, daß sie das gesamte Gelände überrennen und Pharmek anzünden oder dem Erdboden gleichmachen würden. Das Militär hatte sich unter Hinweis auf seine Unzuständigkeit für Polizeieinsätze geweigert, Pharmeks Interessen gegen Übergriffe zu schützen; Polizei und Grenzschutz hatten Anweisung, Konfrontationen zu vermeiden und sich auf den reinen Objektschutz zu beschränken. Käme es zu einem Massenansturm, so würde sie von der ersten Welle überrannt, zumal der Innenminister sich die Erlaubnis zum Schußwaffengebrauch vorbehalten hatte. Paulsen-Fuchs konnte nichts zum Schutz der Werksanlagen tun; nur fünfzig Beschäftigte waren noch auf dem Gelände, alle anderen hatte man aus Sicherheitsgründen evakuiert.
Oft hatte er mit dem Gedanken gespielt, den belagerten Komplex zu verlassen und einfach nach Hause zu gehen, oder sich eine Weile in sein Ferienhaus in Spanien zurückzuziehen. Zu vergessen, was geschehen war und was sein Freund Michael Bernard mit sich nach Deutschland gebracht hatte.
Aber Heinz Paulsen-Fuchs war zu lange im Geschäft, und sein Verantwortungsgefühl ließ nicht zu, daß er sich in dieser schwierigen Lage einfach davonmachte.
Als blutjunger Mensch hatte er die Schlacht um Berlin und das Eindringen der Russen miterlebt. Danach war er bemüht gewesen, den ausgenutzten Idealismus seiner Jugend und die Schreckensbilder, in denen er untergegangen war, zu verdrängen und zu allen Fragen des Zeitgeschehens eine möglichst schwer klassifizierbare Haltung einzunehmen, doch war er vor keiner Gefahr und Herausforderung zurückgewichen. Er war bis 1955 in Berlin geblieben, als er und zwei andere die Pharmek gegründet hatten. Die Firma war im Anschluß an die Contergan-Panik beinahe untergegangen; aber er war nicht zurückgewichen.
Nein, er wollte sich nicht vor der Verantwortung drücken. Er selbst würde den Schalter betätigen, der die sterilisierenden Gase in die Isolierkammer einströmen ließ. Er selbst wollte die Männer des Desinfektions- und Aufräumungstrupps instruieren und beaufsichtigen. Andere mochten darin eine Niederlage sehen, aber er wußte, was die Pflicht von ihm verlangte. Sich in kritischen Situationen nach Spanien abzusetzen, wäre erbärmlich und seiner unwürdig.
Er hatte keine Ahnung, was die protestierende Menge tun würde, sobald Bernard tot wäre. Er verließ den Beobachtungsraum und setzte sich an den Monitor, über dessen Mattscheibe Bernards Botschaft lief.
Er ließ sie noch einmal von vorn anfangen. Er konnte schnell genug lesen, um mit den Worten Schritt zu halten. Wichtig erschien ihm vor allem der Zusammenhang dessen, was Bernard bereits gesagt hatte, mit seinen letzten Äußerungen, um zu sehen, ob sich mehr darin finden ließ als die isolierten Äußerungen erkennen ließen.
Bernards letzte elektronische Tagebucheintragungen, beginnen 08:35: Gogarty. Innerhalb von Wochen werden sie verschwunden sein.
Ja, sie kommunizieren. Kleine Verwandte. Ausbrüche der »Seuche«, der wir uns nicht einmal bewußt sind — Europa, Asien, Australien — Menschen ohne Symptome. Augen und Ohren, die sammeln, lernen, die unermeßliche Ernte unserer Leben und Geschichte einbringen. Großartige Spione.
Heinz — rassische Erinnerung. Derselbe Mechanismus wie Biologik. In jedem von uns sind viele Leben; im Blut, im Gewebe.
Belastung lokaler Raumzeit. Zu viele. Direkt durchstoßen… sie können nicht anders. Müssen den Vorteil nutzen. Wir — Sie — können und würden sie vielleicht nicht aufhalten wollen.
Sie sind die großartige Leistung. Sie lieben. Sie arbeiten zusammen. Sie haben Disziplin, sind jedoch frei; sie kennen den Tod, sind aber unsterblich.
Sie kennen mich durch und durch. All meine Gedanken und Regungen. Ich bin ein Thema in ihrer Kunst, ihrer wundervollen lebendigen »Fiktionen«. Sie haben mich millionenfach dupliziert. Welches Ich schreibt dies? Ich weiß es nicht. Es gibt kein Original mehr.
Ich kann in eine Million Richtungen gehen, eine Million Leben führen (und nicht bloß in der »Blutmusik«, sondern in einem Universum des Denkens, der Phantasie!), und dann meine Selbste sammeln, eine Konferenz veranstalten und wieder von vorn beginnen. Narzißmus jenseits des Stolzes; Verwandtschaft und Nähe, bei weitem großartiger als einfach ewig zu leben. (Sie haben sie gefunden!)
Jeder von ihnen kann tausend, zehntausend, eine Million Gegenstücke haben, je nach ihrer Qualität, ihrer Funktion. Niemand braucht zu sterben, aber mit der Zeit werden sich alle oder annähernd alle verändern. Die meisten der Million Ichs werden im Laufe der Zeit jede Ähnlichkeit mit dem gegenwärtigen Ich verlieren, denn wir sind unendlich variabel. Unser Verstand arbeitet an der unendlichen Vielfalt des Lebens und seiner Fundamente.
Heinz, ich wollte, Sie könnten sich uns anschließen.
Wir sind uns des Drucks bewußt, unter dem Sie stehen.
(Textunterbrechung 08:47-10:23)
Kein Tippen auf die Tasten. In die Tastatur, in die Elektronik.
Weiß, Sie müssen vernichten.
Warten Siel Warten Sie bis 11:30! Geben Sie einem alten Freund diese Frist!
Mein altes Selbst gefällt mir nicht, Heinz. Ich habe es größtenteils aufgegeben. Verwelkte Stücke gestutzt. Ganze Abschnitte meiner zweiundfünfzig Jahre neu gelebt und neu geformt. Man könnte hier ein Heiliger werden, ohne eine Vielzahl von Sünden zu erforschen. Welcher Heilige weiß nichts von Sünde?
(Textunterbrechung 10:35-11:05)
Gogarty.
CGATCATTAG (UCAGCUGOGAUCGAA) Name jetzt.
Gogarty. Erstaunlich, viel zu dicht, viel zu viel sehen, theoretisieren, viel zu viel Sein. Sie wissen in Nordamerika. Bis zum kleinsten haben sie Nordamerika ausgespäht. Unterrichten uns, bereiten vor. Alle gehen zusammen. In tödlicher Furcht, wundervoller Furcht, der feinsten Furcht, Heinz, nicht in den Gedärmen gefühlt, sondern in Gedanken überlegt, nichts kommt ihr gleich. Furcht vor Freiheit jenseits der Beschränkungen jetzt, und scheinbar schon wundervoll frei. Soviel Freiheit, daß wir verändern müssen, um unterzubringen. Unkenntlich.
Heinz 11:30 soviel Zeit.
11:30 11:30 11:30!
Solch ein Ansturm von Gefühl für das Alte, Zuneigung des Huhnes zum Ei, des Menschen zur Mutter, des Schülers zur Schule.
Verzweigung. Jemand anders übernimmt das Schreiben.
Begegnung mit meinen Selbsten. Befehlsgruppen koordinieren. Feier. So viel, so reichhaltig! Drei von mir bleiben zu schreiben, bereits sehr verschieden. Freunde zurück vom Urlaub. Trunken von Erfahrung der Freiheit, des Wissens.
Olivia, wartend…
Und Heinz, dies ist ein hinterwäldlerischer Noozytenslum, nicht wie Nordamerika. Bald kommt Neues Jahr!
NOVA
(Textende 11:26)
Heinz Paulsen-Fuchs las die letzten Worte vom Bildschirm ab und zog die Brauen hoch. Die Hände auf den Armlehnen des Sessel, blickte er zur Wanduhr auf.
11:26:46
Er blickte zu Dr. Schatz und stand auf. »Öffnen Sie die Tür!« sagte er.
Sie streckte die Hand zum Schalter aus und öffnete die Tür zum Beobachtungsraum.
»Nein«, sagte er. »Zum Labor!«
Sie zögerte.
11:26.52
Er eilte zur Konsole, stieß sie beiseite und betätigte in rascher Folge die drei Schalter.
11:27.56
Die Dreischichtenluke begann sich schwerfällig in Bewegung zu setzen.
»Herr Paulsen-Fuchs!«
Er schlüpfte durch die Öffnung in den äußeren Isolationsbereich, noch frostig vom Vakuum, und in den Hochdruckbereich, daß es in seinen Ohren knackte. Von dort mit wenigen Schritten in die Isolierkammer.
11:29.32
Der Raum war von Feuer erfüllt. Einen Augenblick dachte Paulsen-Fuchs, daß Dr. Schatz eine geheimnisvolle Notreinigung begonnen und alles in der Kammer getötet habe.
Aber sie hatte nicht.
11:29.56
Das Feuer erlosch, hinterließ Ozongeruch und etwas wie eine verbogene Linse in der Luft über dem Bett.
Das Feldbett war leer.
11:30.00
Suzy fühlte die Übelkeit und stellte den Teller weg. »Ist es jetzt?« fragte sie die leere Luft. Sie zupfte an ihrem Umhang. »Kenny, Howard, ist es jetzt? Cary?«
Sie stand inmitten einer ebenen, kreisförmigen Fläche, hinter sich den grauen Zylinder, der ihr das Essen gebracht hatte. Die Sonne bewegte sich in unregelmäßigen Kreisen, und die Luft schien zu schimmern. In der vergangenen Nacht, während sie geschlafen hatte, war Cary dagewesen und hatte ihr, soweit sie verstehen konnte, von den bevorstehenden Dingen erzählt. »Cary? Mutter?«
Der Umhang versteifte sich.
»Geht nicht fort!« schrie sie. Die Luft wurde wieder warm, und der Himmel schien mit altem Firnis überzogen. Die Wolken glätteten sich zu öligen Streifen, und der Wind frischte auf und pfiff zwischen dem säulenbestandenen Hügel auf einer Seite der Fläche und dem stachligen Polyeder auf der anderen hindurch. Die Stacheln des Polyeders glommen blau und zitterten. Dann teilte sich der Polyeder in dreieckige Keile auf; zwischen ihnen drang Lichtschein hervor, rot wie glutflüssige Lava.
»Dies ist es, nicht?« fragte sie weinend. In den Träumen der vergangenen Woche hatte sie soviel gesehen, hatte soviel Zeit mit ihnen verbracht, daß sie über die Frage, was wirklich war und was nicht, in Verwirrung geraten war. »Antwortet mir!«
Ein Zittern lief durch den Umhang, und er schob sich zu einer Kapuze über ihren Kopf. Die Kapuze verschloß sich selbst unter ihrem Kinn und hüllte ihre Stirn in eine dünne, durchscheinende weiße Schicht. Dann wuchs der Umhang um ihre Finger und bildete Handschuhe, wuchs an ihren Beinen und Füßen abwärts und hüllte sie fest ein, ohne jedoch ihre Bewegungsfreiheit zu beeinträchtigen.
Die Luft roch angenehm nach Früchten und Blumen. Dann nach frischem, warmem Brot. Der Umhang flatterte um ihr Gesicht, und sie versuchte, mit den Fingern daran zu kratzen. Sie wälzte sich am Boden, bis die Stimme in ihren Ohren sagte, sie solle aufhören. Dann lag sie flach in der Mitte des Platzes und starrte durch die Transparenz nach oben.
Sei ruhig! Sei still! Es war ihrer Mutter Stimme, streng, aber gütig. Du bist ein sehr eigenwilliges junges Mädchen gewesen, sagte die Stimme, und du hast alles abgelehnt, was wir dir boten. Nun, ich hätte genauso verfahren können. Jetzt frage ich noch einmal, und entscheide rasch. Möchtest du mit uns gehen?
»Werde ich sterben, wenn ich es nicht tue?« fragte Suzy mit tränenerstickter Stimme.
Nein. Aber du wirst allein sein. Niemand von uns bleibt.
»Sie bringen euch fort!«
Was Cary sagte. Hast du zugehört, Sämling? Das war Kenneth. Sie versuchte, sich den Umhang vom Leibe zu reißen.
»Geht nicht fort!«
Dann komm mit uns!
»Nein! Ich kann nicht!«
Keine Zeit, Sämling. Letzte Chance.
Der Himmel war von einem elektrischen Schwefelgelb, und die Wolken hatten sich zu dünnen zerfaserten Streifen aufgelöst. »Mutter, ist es sicher? Werde ich Angst haben?«
Es ist sicher. Komm mit uns, Suzy!
Ihr Mund war gelähmt, aber in ihrem Geist schien es zu knistern, als wollte er aus den Fugen gehen. Nein, dachte sie.
Die Stimmen verstummten. Eine Weile sah sie nichts als rasende rote und grüne Linien, und der Kopf schmerzte sie und ihr war, als müsse sie erbrechen.
Hoch über ihr glitzerte die Luft. Der Boden unter ihr schrumpfte, die Oberfläche wurde rissig und brach auf.
Und für einen schwindelerregenden Augenblick war sie an zwei Orten zugleich, sie war mit ihnen — sie hatten sie mitgenommen, und noch in diesem Augenblick sprach sie zu ihrer Mutter, und ihren Brüdern, zu Cary und ihren Freundinnen…
Und sie war auf der zerbröckelnden Fläche, umgeben von den rasch verfallenden Resten des säulenbestandenen Hügels und des stachligen Polyeders. Die Strukturen zerfielen, als wären sie von spielenden Kindern aus nassem Sand geformt und trockneten nun unter der Sonne und fielen zusammen.
Dann verging das Gefühl, und mit ihm ihre Übelkeit. Der Himmel war blau, obwohl es schmerzte, zu einigen Stellen aufzublicken.
Der Umhang fiel von ihr ab und war vom Staub des Bodens nicht zu unterscheiden.
Sie stand auf und klopfte sich den Staub aus den Kleidern.
Die Insel von Manhattan war eben und leer wie ein Backblech. Im Süden türmten sich Wolken dick und dunkelgrau. Sie wandte sich um. Wo der Nahrungszylinder gewesen war, standen jetzt Dutzende offener Kisten, die aufs Geratewohl mit Dosen gefüllt worden waren. Auf einer der Dosen lag ein Dosenöffner.
»Sie denken an alles«, sagte Suzy McKenzie. Minuten später begann es zu regnen.