PROPHASE Oktober-Dezember

9

Irvine, Kalifornien

Zwei Jahre waren vergangen, seit Edward Milligan Vergil zuletzt gesehen hatte. Edwards Erinnerung hatte kaum etwas mit dem gebräunten, lächelnden und gut gekleideten Herrn zu tun, der vor ihm stand. Sie hatten am Tag zuvor eine telefonische Verabredung zum Mittagessen getroffen und standen einander jetzt am Kantineneingang des neuen Medizinischen Zentrums Mount Freedom in lrvine gegenüber.

»Vergil?« Edward drückte ihm die Hand und ging um ihn herum, einen Ausdruck übertriebener Verwunderung im Gesicht. »Bist du es wirklich?«

»Gut, dich wiederzusehen, Edward.« Er erwiderte den Händedruck kräftig. Er hatte zwanzig bis fünfundzwanzig Pfund abgenommen, und was blieb, schien besser proportioniert. Als Medizinstudent war Vergil ein dicklicher junger Mann mit einem ungebärdigen Haarschopf und vorstehenden Zähnen gewesen, der im Studentenwohnheim Türdrücker verkabelt und unter Strom gesetzt hatte, der seinen Kommilitonen Punsch gegeben hatte, der ihren Urin blau färbte, und der es nie zu einer Verabredung mit einem Mädchen gebracht hatte, ausgenommen Eileen Termagant, die einige seiner körperlichen Merkmale mit ihm gemeinsam hatte und froh über jeden war, der ihr auch nur einen Funken Aufmerksamkeit schenkte.

»Du siehst phantastisch aus«, sagte Edward. »Hast du den Sommer in Cabo San Lucas verbracht?«

Sie stellten sich vor der Selbstbedienungstheke an und wählten ihre Speisen. »Die Bräune«, sagte Vergil und stellte einen Karton Milchkakao auf sein Tablett, »ist von drei Monaten Höhensonnenbestrahlung. Und meine Zähne habe ich korrigieren lassen, nachdem ich dich das letzte Mal sah.«

Edward schaute genauer und hob Vergils Lippe mit einem Finger. »Sehr gut gemacht. Aber noch verfärbt.«

»Ja«, sagte Vergil, rieb sich die Lippe und holte tief Atem. »Nun, den Rest werde ich dir noch erzählen, aber wir brauchen einen Platz, wo wir ungestört sprechen können, oder wenigstens einen, wo uns niemand beachtet.«

Edward steuerte ihn in die Raucherecke, wo drei Unentwegte auf die sechs Tische verteilt saßen. »Hör zu, es ist mein Ernst«, sagte er, als sie ihre Tabletts abluden. »Du hast dich verändert. Du siehst gut aus.«

»Ich habe mich mehr verändert, als du ahnst.« Vergils Ton war unheilverkündend und etwas theatralisch, und er verstärkte die schauspielerische Darbietung durch hochgezogene Brauen. »Wie geht es Gail?«

»Gut. Wir sind seit einem Jahr verheiratet.«

»He, meinen Glückwunsch.« Vergils Blick wanderte zu dem Essen vor ihm — Ananasschnitten und Hüttenkäse, ein Stück Kuchen mit Bananencreme. »Fällt dir noch was auf?« fragte er.

Edward musterte ihn mit konzentrierter Aufmerksamkeit. »Hm.«

»Sieh mich genauer an.«

»Ich bin nicht sicher. Nun, ja, du trägst keine Brille. Kontaktlinsen?«

»Nein. Ich brauche keine Brille mehr.«

»Und du kleidest dich modisch und elegant. Wer kauft dir die Sachen? Ich hoffe, sie ist so sexy wie sie geschmackvoll ist.«

»Candice«, sagte er mit dem altvertrauten, halb entschuldigenden Lächeln, das unversehens in ein uncharakteristisches schlaues Grinsen überging. »Ich bin gefeuert worden. Schon vor vier Monaten. Ich lebe von meinen Ersparnissen.«

»Augenblick«, sagte Edward. »Das ist ein bißchen viel auf einmal. Kannst du es nacheinander erklären? Du hattest einen Job. Wo?«

»Zuletzt bei Genetron in Enzyme Valley.«

»In der Torrey Pines Road?«

»Richtig. Eine Niedertracht. Und du wirst sehr bald mehr von denen hören. Sie werden demnächst Aktien ausgeben. Der Höhenflug ist schon programmiert. Sie haben mit MABs einen Durchbruch erzielt.«

»Biochips?«

Er nickte. »Sie haben welche, die funktionieren.«

»Was?« Edward zog die Brauen hoch.

»Mikroskopische logische Schaltkreise. Du injizierst sie dem menschlichen Körper, und sie setzen sich dort fest, wo du es ihnen sagst, und sehen nach dem Rechten. Mit Dr. Michael Bernards Zustimmung.«

Edwards Brauen steilten sich zu Spitzbogen auf. »Gott, Vergil, dieser Bernard ist beinahe ein Heiliger. Alle paar Wochen siehst du sein Bild auf irgendeiner Titelseite. Warum erzählst du mir dies alles?«

»Es soll vorläufig geheim bleiben — Aktienemission, Durchbruch, alles. Aber ich habe noch meine Verbindungen. Ist dir der Name Hazel Overton ein Begriff?«

Edward schüttelte den Kopf. »Sollte er es sein?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich dachte, sie könne mich nicht ausstehen, aber wie sich herausstellt, zollte sie mir widerwilligen Respekt. Vor zwei Monaten rief sie mich an und fragte, ob ich an ihrer Stelle für einen Artikel über F-Faktoren in E. coli Genomen verantwortlich zeichnen würde.« Er blickte über die Schulter und fuhr in gedämpftem Ton fort: »Aber du kannst mit der Information machen, was du willst. Ich bin fertig mit diesen Schweinekerlen.«

Edward pfiff leise. »Willst mich reich machen, wie?«

»Wenn es das ist, was du willst. Oder du kannst mir eine Weile zuhören, bevor du zu deinem Aktienmakler stürzt.«

»Selbstverständlich. Erzähl mir, was du auf dem Herzen hast!«

Vergil hatte den Hüttenkäse und den Kuchen nicht angerührt. Er hatte jedoch die Ananasscheiben gegessen und die Packung Milchkakao leergetrunken. »Vor ungefähr fünf Jahren fing ich ganz unten bei Genetron an. Mit meinem Medizinstudium und meiner Computererfahrung war ich der richtige Mann für die Betriebe im Enzyme Valley. Ich ging mit meinen Unterlagen hausieren und wurde von Genetron eingestellt.«

»So einfach war das?«

»Nein.« Vergil stocherte mit der Gabel im Hüttenkäse herum. Dann legte er die Gabel aus der Hand. »Ich habe meine Unterlagen ein wenig geschönt. Zeugnisse, Examen und dergleichen. Niemand ist bis heute darauf gekommen. Ich wurde gleich als hoffnungsvoller Nachwuchsmann angesehen und konnte mich frühzeitig durch Proteinanordnungen und die Vorstufen zur Biochip-Forschung profilieren. Genetron hat finanzstarke Hintermänner, und wir bekamen alles, was wir brauchten. Nach vier Monaten arbeitete ich selbständig, teilte zwar ein Labor mit einer Kollegin, durfte aber unabhängige Forschung betreiben. Dabei gelang mir ein Durchbruch.« Er winkte nonchalant ab. »Dann stieß ich auf neue Fragestellungen. Ich tat weiterhin meine reguläre Arbeit. Aber nach Feierabend… Die Geschäftsleitung kam mir auf die Schliche und feuerte mich. Es gelang mir, einen Teil meines Experiments zu retten. Aber ich bin dabei nicht eben vorsichtig und überlegt vorgegangen. Und nun geht das Experiment außerhalb des Labors weiter.«

Edward hatte Vergil immer als ehrgeizig und mehr als ein wenig verschroben angesehen. Während seiner Schuljahre und des Studiums waren Vergils Beziehungen zu Autoritätsgestalten niemals problemlos gewesen. Edward war schon damals zu der Schlußfolgerung gelangt, daß die Wissenschaft für Vergil wie eine unerreichbare Frau war, die ihm plötzlich die Schenkel öffnete, bevor er für reife Liebe bereit war — so daß er in ständiger Furcht lebte, die Chance zu verpatzen, den Preis zu verlieren, seine Karriere zu ruinieren. Offenbar war es nun soweit. »Außerhalb des Labors? Ich verstehe nicht, wie du das meinst.«

»Ich möchte, daß du mich untersuchst. Was ich brauche, ist eine gründliche Allgemeinuntersuchung. Vielleicht eine Krebsdiagnostik. Dann werde ich mehr erklären.«

»Du willst eine Zehntausenddollar-Untersuchung?«

»Was du machen kannst. Ultraschall, Computertomographie, Thermogramm, Radiochromatographie, alles.«

»Ich weiß nicht, ob ich zu all diesen Geräten Zugang bekommen kann, Vergil. Die Einrichtungen für die Ganzkörper-Computertomographie sind erst vor zwei Monaten installiert worden. Du hättest dir weiß Gott keine kostspieligere Diagnostik aussuchen können…«

»Dann Ultraschall und Radiochromatographie. Das ist alles, was du brauchst.«

»Ich bin ein Geburtshelfer, Vergil, kein glänzender Wunderdoktor aus einer Fernsehserie. Gynäkologe, Zielscheibe aller Medizinerwitze. Wenn du dich in eine Frau verwandelst, kann ich dir vielleicht helfen.«

Vergil beugte sich vor und steckte den Ellbogen beinahe in den Kuchen, konnte aber im letzten Augenblick ausweichen. Der alte Vergil hätte genau hineingetroffen. »Untersuche mich genau, und du wirst…« Er verengte die Augen und schüttelte den Kopf. »Sieh einfach zu, daß du mich untersuchen kannst!«

»Also werde ich dich für Ultraschall und Radiochromatographie anmelden. Wer bezahlt?«

»Die Krankenkasse. Bevor ich ging, habe ich bei Genetron die Personalakten überarbeitet. Was unter hunderttausend Dollar ausmacht, wird übernommen, und sie werden nie darauf kommen, daß etwas nicht stimmt. Aber es muß absolut vertraulich geschehen.«

Edward schüttelte den Kopf. »Du verlangst viel von mir, Vergil.«

»Möchtest du Medizingeschichte machen, oder nicht?«

»Soll das ein Scherz sein?«

Vergil schüttelte den Kopf. »Nicht auf deine Kosten, alter Freund.«


Noch am selben Nachmittag traf Edward die nötigen Vorbereitungen, füllte selbst die Vordrucke aus. Er kannte sich im Papierkrieg des Krankenhauses aus und wußte, daß die meisten Untersuchungen ohne offizielle Notiz stattfinden konnten, solange alles ordnungsgemäß aufgeschrieben und berechnet wurde. Seine Dienste berechnete er nicht. Schließlich hatte Vergil seinen Urin blau gefärbt. Sie waren Freunde.

Edward machte Überstunden. Er erklärte Gail in groben Umrissen, was er zu tun hatte; sie seufzte das Seufzen einer Arztfrau und sagte ihm, sie würde ihm einen Imbiß auf den Tisch stellen, wenn er spät heimkäme.

Um zehn Uhr abends kam Vergil ins Krankenhaus und traf Edward am verabredeten Seiteneingang des Flügels, den die Schwestern den Frankenstein-Flügel nannten. Edward saß auf einem orangefarbenen Plastikstuhl und las in einer Zeitschrift, als Vergil mit besorgter und ratloser Miene den kleinen Vorraum betrat. Die Fluoreszenzlampen verfärbten seine Haut olivgelb.

Edward bedeutete der Nachtschwester, daß dies sein Patient sei, und führte Vergil mit der Hand am Ellbogen zum Untersuchungsbereich. Keiner von beiden sprach viel. Vergil zog sich aus, und Edward arrangierte ihn auf dem mit Papier bedeckten gepolsterten Tisch. »Deine Knöchel sind geschwollen«, sagte er und befühlte sie. Sie waren fest, nicht schwammig. Gesund, aber sonderbar. »Hm«, machte Edward und schaute Vergil an. Der hob die Brauen und erwiderte den Blick mit einem Ausdruck, der »Du hast noch nichts gesehen« besagte.

»Gut, ich werde mehrere Untersuchungen vornehmen und die Ergebnisse in einer Computersimulation kombinieren. Ultraschall zuerst.« Edward führte paddelähnliche Impulsgeber über Vergils ruhende Gestalt, um die Teile zu erreichen, die für das größere Gerät schwierig aufzuzeichnen waren. Dann schwang er den Tisch herum und schob ihn in die emaillierte Öffnung der Ultraschalldiagnostik-Einheit — das ›Summloch‹, wie die Schwestern es nannten. Nach zwölf separaten Durchgängen von Kopf bis Fuß zog er den Tisch wieder heraus. Vergil hatte die Augen geschlossen und schwitzte leicht.

»Klaustrophobische Empfindungen?« fragte Edward.

»Nicht sehr.«

»Radiochromatographie ist ein wenig unangenehmer.«

»Nur voran, MacDuff!«

Die Radiochromatographie-Einheit war ein imponierender Kasten aus Chrom und himmelblauen Kunststoffoberflächen, der einen kleinen Raum einnahm. Es gab kaum genug Platz, den Tisch hineinzufahren. »Ich bin kein Fachmann mit diesem Gerät, also kann es eine Weile dauern«, sagte Edward, als er Vergil in die Höhlung half.

»Erklärt die Kostenexplosion im Gesundheitswesen«, murmelte Vergil und schloß die Augen, als Edward die Glasluke schloß. Der massive Magnet, der die Höhlung umgab, summte leise. Edward gab die Anweisung ein, alle Daten an das zentrale Bildschirmgerät im Nebenraum weiterzuleiten, und half Vergil wieder heraus.

»War es auszuhalten?« fragte Edward.

»Courage«, sagte Vergil in französischer Aussprache.

Im Nebenraum programmierte Edward die Integration und Darstellung der Daten auf einem großen Bildschirmgerät. Im Halbdunkeln dauerte es ein paar Sekunden, bis erkennbare Umrisse entstanden.

»Zuerst dein Skelett«, sagte Edward. Seine Augen weiteten sich, als die Wiedergabe erschien. Von dort ausgehend, zeigte der Bildschirm sodann Vergils innere Organe, die Muskulatur und zuletzt Blutgefäße und Haut.

»Wie lang ist der Unfall her?« fragte Edward und trat näher zum Bildschirm. Es gelang ihm nicht, das Beben seiner Stimme ganz zu unterdrücken.

»Ich war nie in einen Unfall verwickelt«, sagte Vergil.

»Mein Gott, sie haben dich geschlagen, um Geheimnisse zu bewahren?«

»Du verstehst mich nicht, Edward. Sieh dir die Darstellungen genauer an! Das sind keine traumatischen Verletzungen.«

»Sieh mal, da ist eine Verdickung.« Er zeigte zu den Knöcheln. »Und deine Rippen — diese verrückten Zickzackverschränkungen. Offensichtlich irgendwo gebrochen und…«

»Sehen wir uns mein Rückgrat an«, schlug Vergil vor. Edward ließ die Abbildung auf dem Schirm langsam rotieren.

Sofort kamen ihnen die aus Tetraedern und Oktaedern zusammengesetzten Konstruktionen des Architekten Buckminster Fuller in den Sinn. Es war phantastisch. Vergils Rückgrat war ein Gebilde aus dreieckigen Knochenstrukturen, die sich in einer Art und Weise verbanden, die Edward nicht einmal genau erfassen, geschweige denn verstehen konnte. »Darf ich mal fühlen?«

Vergil nickte, und Edward befühlte ihm den Rücken mit den Fingerspitzen. Vergil hob die Arme und blickte zur Decke auf.

»Ich kann es nicht ertasten«, sagte Edward. »Es ist glatt. Es besteht eine gewisse Flexibilität; je fester ich drücke, desto zäher wird es.« Er ging um Vergil herum, die Hand um das Kinn gelegt. »Du hast keine Brustwarzen«, sagte er. Es gab winzige Pigmentflecken, aber sonst nichts.

»Siehst du?« sagte Vergil. »Ich werde von innen nach außen umgebaut.«

»Dummes Zeug«, erwiderte Edward.

Vergil blickte überrascht. »Du kannst nicht leugnen, was deine Augen dir zeigen«, sagte er. »Ich bin nicht derselbe, der ich vor vier Monaten war.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Edward spielte mit den Bildern herum, ließ sie rotieren, nahm sich die verschiedenen inneren Organe vor und spielte den Film der Computersimulation vorwärts und rückwärts.

»Hast du jemals etwas wie mich gesehen? Ich meine, die neue Konstruktion.«

»Nein.« Edward ging zur Tür und blieb dort stehen, die Hände in den Taschen des weißen Kittels. »Was, zum Teufel, hast du getan?«

Vergil erzählte es ihm. Die Geschichte kam in sich erweiternden Spiralen von Tatsachen und Ereignissen aus ihm heraus, und Edward mußte sich durch die Abschweifungen den Weg suchen, so gut er konnte.

»Wie«, fragte er, »setzt du DNS in Lesen-Schreiben- Gedächtnis um?«

»Zuerst mußt du eine Länge viraler DNS finden, die für Topoisomerasen und Gyrasen codiert ist. Du hängst diesen Abschnitt an deine Ziel-DNS an und erleichterst die Senkung der Bindungszahl, um dein Zielmolekül negativ zu überspulen. In früheren Experimenten verwendete ich Äthidium, aber…«

»Einfacher bitte, ich habe seit Jahren nichts mit Molekularbiologie zu tun gehabt.«

»Du hast das Ziel, ohne allzu große Schwierigkeiten Längen von Eingabe-DNS hinzuzufügen und abzuziehen, und das bewirkt die Anordnung der Enzym-Rückkoppelung. Ist sie vorhanden, öffnet sich das Molekül viel leichter und rascher für eine Transkription. Dein Programm wird auf zwei RNS- Ketten übertragen. Eine geht zum Leser — einem Ribosom —, um in ein Protein umgesetzt zu werden. Die erste RNS trägt gewöhnlich einen einfachen Startercode…«

Edward stand bei der Tür und hörte eine halbe Stunde lang zu. Als Vergil nach Ablauf dieser Zeit durch nichts zu erkennen gab, daß er zum Ende käme oder gar aufhören wollte, hob er die Hand. »Und wie führt dies alles zu Intelligenz?«

Vergil zog die Stirn in Falten. »Ich weiß es noch nicht genau. Es fing damit an, daß ich die Replikation von ›Logik- Schaltungen‹ immer einfacher fand. Die Genomen schienen sich dem Prozeß bereitwillig zu öffnen. Es gab sogar Teile, von denen ich schwören möchte, daß sie bereits für spezifische logische Aufgaben verschlüsselt waren — aber zu der Zeit dachte ich, sie wären einfach normale Intronen, Sequenzen, die nicht für Proteine verschlüsselt sind, Überbleibsel von alten fehlerhaften Transkriptionen, von der Evolution noch nicht eliminiert. Ich spreche jetzt von den Eukarioten. Prokartionen haben keine Intronen. Aber in den letzten Monaten habe ich nachgedacht. Hatte reichlich Zeit zum Nachdenken, ohne Arbeit.«

Er brach ab und schüttelte den Kopf, steckte die Finger ineinander und drehte sie hin und her.

»Und?«

»Es ist sehr seltsam, Edward. Schon in den Anfangssemestern haben wir von den ›egoistischen Genen‹ gelernt, und daß Individuen und Populationen keine andere Funktion haben als die Erzeugung weiterer Gene ihrer Art. Aus Eiern werden Hühner, um mehr Eier zu machen. Und man schien zu denken, daß die Intronen bloß Gene seien, die keinen anderen Zweck hätten, als sich selbst innerhalb der Zelle zu reproduzieren. Alle Welt war sich darin einig, daß sie überflüssig wären, nutzlos. Ich hatte keinerlei Bedenken, mit Intronen zu arbeiten. Sie waren Ersatzteile, genetisch unfruchtbar. Ich konnte bauen, was ich wollte.« Wieder brach er ab, aber Edward blieb still. Vergil blickte mit feuchten Augen zu ihm auf. »Ich war nicht verantwortlich, ich wurde verführt.«

»Ich verstehe dich nicht, Vergil.« Edwards Stimme klang spröde, am Rand des Zorns. Er war müde, und alte Erinnerungen an Vergils Achtlosigkeit gegen andere stellten sich wieder ein; er war erschöpft, und Vergil leierte noch immer weiter, sagte nichts, was wirklich Sinn ergab.

Schließlich schlug Vergil mit der Faust auf die Tischkante. »Sie zwangen mich, es zu tun! Die gottverdammten Gene!«

»Warum, Vergil?«

»Damit sie sich nicht mehr auf uns verlassen müssen. Das höchste egoistische Gen. Die ganze Zeit überlege ich, daß die DNS bloß zu dem hinführte, was ich tat. Verstehst du? Jemand dazu verleiten, daß er ihr gibt, was sie wollte.«

»Das ist verrückt, Vergil.«

»Du hast nicht daran gearbeitet, du spürtest nicht, was ich spürte. Um zu tun, was ich tat, hätte es einer ganzen Forschungsgruppe bedurft, vielleicht sogar eines neuen Manhattan-Projekts. Ich bin intelligent, aber nicht so intelligent. Die Dinge regelten sich wie von selbst, alles fand seinen Platz. Es war zu einfach.«

Edward rieb sich die Augen. »Ich werde jetzt noch eine Blutprobe nehmen, und ich möchte Urin und eine Stuhlprobe.«

»Warum?«

»Damit ich feststellen kann, was mit dir vorgeht.«

»Das habe ich dir gerade gesagt.«

»Es ist hirnverbrannt.«

»Edward, du kannst den Bildschirm sehen. Ich trage keine Brille mehr, mein Rücken schmerzt nicht mehr, ich habe seit vier Monaten keine Allergie gehabt, und ich bin nicht krank gewesen. Früher hatte ich wegen der Allergien ständig Infektionen in den Nasenhöhlen. Keine Erkältungen, keine Infektionen, nichts. Ich habe mich niemals besser gefühlt.«

»Also sind in dir veränderte kluge Lymphozyten am Werk, finden Fehler und reparieren sie.«

Vergil nickte. »Und inzwischen ist jede Anhäufung von Zellen so klug wie du oder ich.«

»Du erwähntest vorher keine Anhäufungen.«

»Sie pflegten sich im Medium zusammenzuschließen. Vielleicht hundert oder zweihundert Zellen. Der Grund wurde mir nie klar. Jetzt scheint es offenkundig. Sie arbeiten zusammen.«

Edward starrte ihn an. »Ich bin sehr müde.«

»Ich sehe es so, daß ich abnahm, weil sie meinen Stoffwechsel verbesserten. Meine Knochen sind kräftiger, mein Rückgrat wurde umgebaut…«

»Dein Herz sieht anders aus.«

»Davon wußte ich nichts.« Er untersuchte das Bild aus der Nähe. »Mein Gott, ich meine, ich habe nicht alles verfolgen können, seit ich von Genetron wegging; ich habe vermutet und mich gesorgt. Du weißt nicht, welch eine Erleichterung es ist, mit jemandem, der es verstehen kann, darüber zu sprechen.«

»Ich verstehe es nicht.«

»Edward, die Beweise sind überwältigend. Ich dachte an das Fett. Sie können meine braunen Zellen vermehrt und meinen Stoffwechsel in Ordnung gebracht haben. Meine Eßgewohnheiten haben sich geändert. Aber sie sind noch nicht zu meinem Gehirn vorgedrungen.« Er tippte sich an den Kopf. »Sie verstehen alle Drüsenfunktionen und so weiter, aber sie haben nicht das große Gesamtbild, wenn du verstehst, was ich meine.«

Edward fühlte ihm den Puls und überprüfte seine Reflexe. »Ich glaube, wir sollten jetzt die Proben nehmen und es für heute genug sein lassen.«

»Und ich wollte nicht, daß sie in meine Haut kämen. Das machte mir wirklich Angst. Vor ein paar Nächten fing meine Haut an zu jucken und zu prickeln, und ich beschloß, etwas dagegen zu tun. Ich kaufte eine Quarzlampe. Ich wollte sie unter Kontrolle halten, für alle Fälle. Verstehst du? Angenommen, sie überwinden die Blut-Gehirn-Barriere und entdeckten, was es mit mir auf sich hat, mit der eigentlichen Funktion des Gehirns, der Persönlichkeit. Ich dachte mir, der Grund, daß sie in meine Haut wollten, sei die Einfachheit, Kommunikationsbahnen über die Oberfläche zu leiten. Viel einfacher als der Versuch, Kommunikationsbahnen durch Muskeln und Organe und das Gefäßsystem zu erhalten, viel direkter. Ich wechsle jetzt zwischen Höhensonnen- und Quarzlampenbestrahlungen. Das hält sie aus meiner Haut heraus, soweit ich es beurteilen kann. Und nun weißt du, warum ich hübsch braun bin.«

»Damit wirst du dir noch einen Hautkrebs einhandeln«, sagte Edward.

»Ich bin unbesorgt. Sie werden sich darum kümmern. Wie Polizei.«

»Gut.« Edward hob beide Hände in einer Geste der Resignation. »Ich habe dich untersucht. Du hast mir eine Geschichte erzählt, die ich nicht akzeptieren kann. Was, möchtest du, soll ich tun?«

»Ich bin nicht so unbekümmert, wie es scheint. Ich mache mir Sorgen, Edward. Ich würde gern eine bessere Methode finden, sie unter Kontrolle zu halten, bevor sie mein Gehirn entdecken. Ich meine — überleg einmal! Ihre Zahl muß mittlerweile Milliarden betragen, noch mehr, wenn sie andere Arten von Zellen umwandeln. Vielleicht Trillionen. Jede Zellanhäufung Intelligenz. Ich bin wahrscheinlich das intelligenteste Wesen auf der Erde, und sie haben noch nicht einmal angefangen, gemeinsam zu handeln. Ich möchte nicht, daß sie die Herrschaft übernehmen.« Er lachte unangenehm. »Daß sie mir die Seele stehlen, weißt du? Also denk dir eine Behandlung aus, die sie blockiert. Vielleicht können wir die kleinen Teufel aushungern. Denk einmal darüber nach! Und sag mir Bescheid!«

Er griff in die Hosentasche und gab Edward einen Zettel mit seiner Anschrift und Telefonnummer. Dann ging er an den Datenanschluß und löschte die Darstellung auf dem Bildschirm, löschte die gespeicherten Informationen der Untersuchung. »Nur du. Einstweilen kein anderer. Und bitte… beeil dich!«

Es war ein Uhr früh, als Vergil den Untersuchungsbereich verließ. Die Proben waren genommen. In der Eingangshalle verabschiedete sich Vergil mit einem Händedruck von Edward. Vergils Hand war feucht, nervös. »Sei vorsichtig mit den Proben«, sagte er. »Gib acht, daß du nichts davon einnimmst!«

Edward sah Vergil den Parkplatz überqueren und in seinen Volvo steigen. Dann wandte er sich langsam um und ging zurück zum Frankenstein-Flügel. Er goß einen Kubikzentimeter von Vergils Blut in eine Ampulle und mehrere Kubikzentimeter Urin in eine andere und tat beide in das Analysegerät für Gewebeproben und Serum. Am Morgen würde er die Resultate am Datenanschluß seines Büros abfragen können. Die Stuhlprobe erforderte manuelle Arbeit, aber das konnte warten; im Augenblick fühlte er sich mehr tot als lebendig. Es war zwei Uhr früh.

Er zog ein Feldbett heraus, löschte das Licht und legte sich in seinen Kleidern nieder. Er verabscheute es, im Krankenhaus zu schlafen. Wenn Gail am Morgen erwachte, würde sie im Telefon eine gespeicherte Nachricht vorfinden — eine Nachricht, aber keine Erklärung. Er fragte sich, was er ihr sagen sollte.

»Ich werde bloß sagen, daß es der gute alte Vergil war«, murmelte er.

10

Edward rasierte sich mit einem alten geraden Rasiermesser, das er für solche Notfälle in seiner Schreibtischschublade verwahrte, betrachtete sich im Spiegel des Umkleidezimmers für Ärzte und rieb sich kritisch die Wange. Er hatte das Rasiermesser während seiner Studentenzeit regelmäßig benutzt: eine Affektiertheit. Seit damals hatte sich selten eine Gelegenheit ergeben, und sein Gesicht zeigte es: drei Schritte, die er mit blutstillendem Stift und Zellstoff behandelt hatte. Er blickte auf die Armbanduhr. Die Batterie war im Begriff, sich zu verausgaben, und die Ziffern waren matt. Er schüttelte sie ärgerlich, und die Darstellung wurde klarer: 6.30 Uhr. Gail würde schon auf sein und die Vorbereitungen für die Schule treffen.

Er steckte zwei Vierteldollarstücke in den Münzautomaten des Aufenthaltsraums für Ärzte und fummelte mit den Bleistiften und Kugelschreibern in der Brusttasche, während er wartete.

»Hallo?«

»Gail, Edward. Ich liebe dich, und es tut mir leid.«

»Am Telefon erwartete mich eine entkörperlichte Stimme. Sie könnte meinem Mann gehört haben.« Sie hatte eine angenehme Telefonstimme, die er immer bewundert hatte. Nachdem er ihre Stimme am Telefon einer gemeinsamen Freundin gehört hatte, war er, ohne sie je gesehen zu haben, so entzückt gewesen, daß er sie um eine Verabredung gebeten hatte.

»Ja, nun…«

»Übrigens rief Vergil Ulam vor ein paar Minuten an. Er hörte sich besorgt an. Ich habe seit Jahren nicht mit ihm gesprochen.«

»Sagtest du ihm…«

»Daß du noch im Krankenhaus seist? Natürlich. Dein Dienst beginnt heute um acht?«

»Wie gestern. Zwei Stunden mit vorklinischen Semestern im Labor und sechs in Bereitschaft.«

»Auch Mrs. Burdett hat angerufen. Sie schwört, der kleine Tony oder die kleine Antoinette pfeife. Sie könne ihn/sie hören.«

»Und deine Diagnose?« fragte Edward lächelnd.

»Blähungen.«

»Hochdruck, würde ich sagen«, fügte er hinzu.

»Muß Dampf sein«, sagte Gail. Sie lachten, und Edward fühlte, wie der Morgen Realität gewann. Die schädlichen Nebel der nächtlichen Phantasie hoben sich, und er war am Telefon und sprach mit seiner Frau, scherzte über musikalische Embryonen. Das war normal. Das war Leben.

»Heute abend gehe ich mit dir aus«, sagte er. »Ein Heisenberg-Abendessen.«

»Was ist das?«

»Ungewißheit«, antwortete er munter. »Wir wissen, wohin wir gehen, aber nicht, was wir essen werden. Oder umgekehrt.«

»Hört sich wundervoll an. Welcher Wagen?«

»Der Quantum, natürlich.«

»Ach du lieber Gott. Wir haben gerade den Tachometer richten lassen.«

»Und die Lenkung ist ausgeschlagen?«

»Pst! Sie funktioniert noch.«

»Bist du böse auf mich?«

»Hm. Wenn Vergil heute wieder etwas von dir will, soll er gefälligst während der Bürostunden kommen. Warum ist er überhaupt gekommen? Geschlechtsveränderung?« Der Gedanke brachte sie zum Lachen, und sie fing an zu husten. Er stellte sich vor, wie sie den Hörer vor sich hielt. »Tschuldige! Wirklich, Edward. Warum?«

»Ärztliche Schweigepflicht, mein Liebes. Ich bin übrigens selbst nicht ganz sicher, ob ich es weiß. Vielleicht später.«

»Muß jetzt gehen. Sechs Uhr?«

»Vielleicht halb sechs.«

»Da werde ich noch Hefte korrigieren.«

»Ich werde dich fortreißen.«

»Köstlicher Edward!«

Er machte einen unfeinen Schmatz in den Hörer, bevor er auflegte. Dann zupfte er den Zellstoff von seiner Wange, schritt zum Aufzug und ließ sich zum Frankenstein-Flügel hinauftragen.

Das Analysegerät war in Betrieb und ließ Hunderte von Proben Glas für Glas durch die Tests gehen. Edward setzte sich ans Ausgabegerät und rief Yergils Resultate ab. Zahlenkolonnen erschienen auf dem Bildschirm. Die Diagnose war ungewöhnlich vage. Anomalien erschienen in hellroter Schrift.


24 ccm Serum Zählung 10000 Lymphozyten/mm3

25 ccm Serum Zählung 14000 Lymphozyten/mm3

26 ccm Überprüfung 15000 Lymphozyten/mm3 DIAG(?) Von welcher Art sind begleitende kör perliche Anzeichen? Wenn Milz und Lymphdrüsen Vergrößerung zeigen, dann:

ReDIAG: Patient (Name? Akte?) im Spätstadium ernster Infektion.

Bekräftigung: Histaminzählung, Blutproteinspiegel, Phagozytenzählung.

DIAG(?) Blutprobe nicht überzeugend: Wenn Anämie, Gelenkschmerzen, Blutungen, Fieber:

ReDIAG: Beginnende lymphozytische Leukämie.

Einwand: Paßt nicht zum Gesamtbild, keine Unterstützung, außer durch Lymphozytenzählung.


Edward verlangte eine Papierkopie der Analyse, und die Ausdruckstation lieferte ein mit Zahlen bedecktes Blatt. Er überflog es stirnrunzelnd, faltete es zusammen und steckte es in die Tasche seines Kittels. Die Untersuchung der Urinprobe zeigte relativ normale Werte; das Blut war anders als jede Probe, die er je hatte analysieren lassen. Er brauchte keine Stuhluntersuchung, um sich für eine Handlungsweise zu entscheiden: Der Mann mußte ins Krankenhaus und unter Beobachtung bleiben.

Wieder in seinem Arbeitszimmer, wählte er Vergils Nummer.

Beim zweiten Läuten meldete sich eine neutrale weibliche Stimme. »Bei Ulam.«

»Könnte ich bitte Vergil sprechen?«

»Wen darf ich melden?« Ihr Tonfall war fast übertrieben förmlich.

»Edward. Er kennt mich.«

»Natürlich. Sie sind der Arzt.« Eine Hand dämpfte das Mundstück, und er hörte sie etwas rauh rufen: »Vergil!«

Gleich darauf kam Vergil mit einem atemlosen »Edward! Was gibt es?« an den Apparat.

»Hallo, Vergil. Ich habe ein paar Ergebnisse. Nicht sehr schlüssig. Aber ich möchte hier im Krankenhaus mit dir sprechen.«

»Was sagen die Ergebnisse?«

»Daß du ein sehr kranker Mann bist.«

»Unsinn!«

»Ich sage dir bloß, was die Analyse aussagt. Hohe Lymphozytenzählung…«

»Selbstverständlich, das paßt genau…«

»Und eine ziemlich unheimliche Vielfalt von Proteinen und anderen Abfallstoffen, die in deinem Blut treiben. Histamine. Die Diagnose lautet, daß du wie einer aussiehst, der im Begriff ist, an einer ernsten Infektion zu sterben.«

Eine kleine Weile blieb es am anderen Ende still, dann sagte Vergil: »Ich sterbe nicht.«

»Ich meine, du solltest herkommen und dich von anderen untersuchen lassen. Und wer war das am Telefon — Candice? Sie…«

»Nein, Edward, ich ging zu dir, um Hilfe zu bekommen. Du weißt, was ich von Krankenhäusern halte.«

Edward lachte grimmig. »Vergil, ich bin nicht kompetent, um dieses Problem zu lösen.«

»Ich sagte dir, was es ist. Nun mußt du mir helfen, es unter Kontrolle zu bringen.«

»Das ist verrückt, das ist dummes Zeug, Vergil!« Edward ließ seine Hand auf den Oberschenkel fallen und kniff sich kräftig. »Entschuldige, ich nehme dies nicht gut auf. Ich hoffe, du verstehst, warum.«

»Ich hoffe, du verstehst, wie mir zumute ist. Ich bin wie in einem Rauschzustand, Edward. Und mehr als ein bißchen ängstlich. Und stolz. Ergibt das einen Sinn?«

»Vergil, ich…«

»Komm zu mir in die Wohnung! Laß uns reden und überlegen, was als nächstes zu tun ist!«

»Ich bin im Dienst, Vergil.«

»Wann kannst du herauskommen?«

»Die nächsten fünf Tage habe ich Dienst. Heute abend, vielleicht. Nach dem Abendessen.«

»Nur du, niemand sonst«, sagte Vergil.

»In Ordnung.« Er notierte die Strecke. Um nach La Jolla zu kommen, mußte er mit siebzig Minuten Fahrzeit rechnen; er sagte Vergil, daß er um neun dort sein würde.

Gail war schon zu Hause, als er kam und sich erbot, ein schnelles Abendessen zu bereiten. »Können wir die Einladung verschieben?«

Sie nahm die Nachricht von seiner Reise verdrießlich auf und sagte nicht viel, als sie ihm half, Kartoffeln für einen Kartoffelsalat zu Scheibchen zu schneiden. »Ich hätte gern, daß du einen Blick auf einige der Videos wirfst«, sagte sie mit einem Seitenblick, als sie beim Essen saßen. Ihre Klasse war seit einer Woche mit einem Projekt beschäftigt, das sie ›Videokunst‹ nannte; sie war stolz auf die Ergebnisse.

»Ist genug Zeit?« fragte er diplomatisch. Sie hatten vor ihrer Ehe einige harte Sträuße ausgefochten und waren nahe daran gewesen, sich zu trennen. Wenn neue Schwierigkeiten entstanden, neigten sie jetzt beide zu übermäßiger Vorsicht und scheuten offene Zusammenstöße.

»Wahrscheinlich nicht«, räumte sie ein. Sie spießte ein Stück rohe Zucchini auf. »Was ist diesmal mit Vergil?«

»Diesmal?«

»Ja, er hat es schon einmal gemacht. Als er für Westinghouse arbeitete und in diese Urheberrechtsgeschichte verwickelt war.«

»Er war freier Mitarbeiter für sie.«

»Ja. Was darfst du diesmal für ihn tun?«

»Ich bin nicht einmal sicher, worin das Problem besteht«, sagte Edward. Er war ausweichender als er wollte.

»Geheim?«

»Nein. Vielleicht. Aber unheimlich.«

»Ist er krank?«

Edward legte den Kopf schief und hob eine Hand: »Wer weiß?«

»Du willst es mir nicht sagen?«

»Nicht jetzt.« Edwards Lächeln, beschwichtigend gemeint, irritierte sie offensichtlich mehr, noch mehr. »Er bat mich darum, niemandem etwas zu sagen.«

»Könnte er dich in Schwierigkeiten bringen?«

Daran hatte er noch gar nicht gedacht. »Glaube ich nicht«, sagte er.

»Und um welche Zeit wirst du heute nacht zurückkommen?«

»So bald ich kann«, sagte er. Er streichelte ihr das Gesicht mit den Fingerspitzen. »Sei nicht böse«, bat er leise.

»O nein«, sagte sie mit Nachdruck. »Niemals das.«

Edward begann die Fahrt nach La Jolla in zwiespältiger Stimmung; wann immer er an Vergils Zustand dachte, hatte er das Gefühl, in ein anderes Universum einzutreten. Die Rollen waren vertauscht, und Edward hatte keine Ahnung, welchen Ausgang die Sache nehmen würde.

Er erreichte die Ausfahrt La Jolla und fuhr durch die Torrey Pines Road in die Stadt. Bescheidene und sehr kostspielige Einfamilienhäuser entlang den kurvenreichen und ansteigenden Straßen wetteiferten mit Reihenhäusern und mehrstöckigen Wohngebäuden um den verfügbaren Raum. Radfahrer und die allgegenwärtigen Jogger trugen bunte Trainingsanzüge, um die kühle Nachtluft abzuwehren. La Jolla war belebt von Spaziergängern und Sporttreibenden.

Ohne große Schwierigkeit fand er eine Parklücke und lenkte den Volkswagen hinein. Als er ausstieg und die Tür absperrte, roch er die Seeluft und überlegte, ob er und Gail sich einen Umzug leisten könnten. Die Miete würde sehr hoch sein, die Entfernung, die sie als Pendler täglich zu bewältigen hätten, weit. Er fand, daß ihm nicht soviel am Status lag. Immerhin, es war eine hübsche Gegend, und Vergils Adresse in der Pearl Street, obschon nicht die beste, welche die Stadt zu bieten hatte, war feiner als er sich leisten konnte, zumindest jetzt. Es war einfach Vergils Art, ohne viel eigenes Zutun an solche Gelegenheiten heranzukommen. Andererseits, dachte Edward, als er läutete, würde er gern auf Vergils Glück verzichten, wenn es bedeutete daß er alles andere würde mit in Kauf nehmen müssen.

Der Aufzug spielte einschmeichelnde Musik und zeigte kleine Hologrammclips, in denen Eigentumswohnungen zum Kauf angeboten, für verschiedene Produkte geworben und auf gesellschaftliche Ereignisse der nächsten Woche hingewiesen wurde. Im dritten Stock ging Edward durch einen Flur mit Barockmöbeln und Marmorkonsolen mit Spiegeln in vergoldeten Rahmen.

Vergil öffnete die Tür nach dem ersten Läuten und bat ihn herein. Er trug einen karierten Bademantel und Pantoffeln. Seine Finger spielten mit einer unangezündeten Pfeife, als er seinen Besucher ins Wohnzimmer führte und sich wortlos setzte.

»Du hast eine Infektion«, sagte Edward und zeigte ihm den Ausdruck.

»So?« Vergil überflog das Papier, dann legte er es auf die Glasplatte des Kaffeetisches.

»Das sagt die Maschine.«

»Ja, nun ist sie natürlich nicht für solch seltsame Fälle programmiert.«

»Vielleicht nicht, aber ich würde dir raten…«

»Ich weiß. Es tut mir leid, unhöflich zu sein, Edward, aber was kann ein Krankenhaus für mich tun? Eher würde ich einen Computer in einen Stall voller Höhlenmenschen tragen und verlangen, daß sie ihn richten. Diese Zahlen… sie zeigen zweifellos etwas, aber sind nicht imstande zu befinden, was es ist.«

Edward zog seinen Mantel aus. »Hör zu, du machst mir Sorgen.« Virgils Miene wandelte sich langsam zu einem Ausdruck seliger Inbrunst. Er blickte zur Decke auf und spitzte die Lippen.

»Wo ist Candice?«

»Ausgegangen. Wir kommen zur Zeit nicht allzu gut miteinander aus.«

»Sie weiß Bescheid?«

Vergil lächelte. »Wie könnte sie nicht Bescheid wissen? Sie sieht mich jeden Abend nackt.« Er wandte sich von Edward ab, als er das sagte. Edward hatte den bestimmten Eindruck, daß er log.

»Stehst du unter Drogen?«

Er schüttelte den Kopf, dann nickte er einmal, sehr langsam. »Ich lausche«, sagte er.

»Wem?«

»Ich weiß nicht. Geräuschen. Nein, nicht Geräuschen. Wie Musik. Das Herz, alle Adern, die Reibung des durch die Arterien fließenden Blutes. Aktivität. Musik im Blut.« Er betrachtete Edward mit kläglichem Ausdruck. »Welchen Vorwand hast du Gail eigentlich genannt?«

»Keinen. Ich sagte bloß, daß du in Schwierigkeiten seist und ich zu dir müsse.«

»Kannst du bleiben?«

»Nein.« Edward sah sich argwöhnisch um, hielt Ausschau nach Aschenbechern, nach Packen Papier.

»Ich habe keine Drogen genommen, Edward«, sagte Vergil. »Ich mag mich täuschen, aber ich glaube, etwas Großes geschieht. Ich glaube, sie entdecken, wer ich bin.«

Edward setzte sich Vergil gegenüber und faßte ihn aufmerksam ins Auge. Vergil schien es nicht zu bemerken. Irgendein innerer Vorgang nahm ihn gefangen.

»Hast du Kaffee?« fragte Edward. Vergil wies zur Küche. Edward ging hinaus, füllte einen Topf mit Wasser, stellte ihn auf den Herd und fand ein Glas Pulverkaffee im vierten Schrankfach, das er durchsuchte. Die Tasse in der Hand, kehrte er zu seinem Platz zurück. Vergil reckte und drehte den Kopf vor und zurück. Seine Augen waren weit geöffnet.

»Du wußtest immer, was du sein wolltest?« fragte er Edward.

»Mehr oder weniger.«

»Kluge Schritte. Ein Gynäkologe. Niemals falsche Entscheidungen. Ich war anders. Ich hatte Ziele, aber keine Richtung. Wie eine Landkarte ohne Straßen, nur Orte, dort zu sein. Ich gab keinen Furz für irgendwas oder irgendwen. Nicht einmal für die Wissenschaft. Bloß als Mittel zum Zweck. Ich bin überrascht, daß ich soweit gekommen bin.« Er umfaßte die Armlehnen. »Was Mutter betrifft…« Die Spannung in seinen Händen war eindeutig. »Hexe! Eine Hexe und ein Gespenst als Eltern! Das Kind als Wechselbalg. Wo kleine Dinge große Veränderungen bewirken.«

»Stimmt was nicht?«

»Sie sprechen zu mir, Edward.« Er schloß die Augen.

»Großer Gott!« Er wußte nicht, was er sonst denken oder sagen sollte. Er dachte verzweifelt an einen Jux, und daß er zum Narren gehalten wurde, und daß Vergil in der Vergangenheit unzuverlässig und zu Streichen aufgelegt war, aber er konnte sich den harten Tatsachen, die das Diagnosegerät ihm gezeigt hatte, nicht verschließen.

Eine Viertelstunde lang schien Vergil zu schlafen. Edward fühlte ihm den Puls, der kräftig und gleichmäßig war, legte ihm die Hand an die Stirn, die sich etwas kühl anfühlte, und bereitete sich mehr Kaffee. Er war im Begriff, den Telefonhörer abzunehmen, unschlüssig, ob er ein Krankenhaus oder Gail anrufen solle, als Vergils Augenlider sich blinzelnd öffneten und er Edward ins Auge blickte.

»Schwierig zu begreifen, was der Zeitbegriff für sie ist«, sagte er. »Sie haben vielleicht drei, vier Tage benötigt, um der Sprache und anderen menschlichen Schlüsselbegriffen auf den Grund zu gehen. Kannst du dir das vorstellen, Edward? Sie wußten nichts davon, sie dachten, ich sei das Universum. Aber jetzt sind sie darauf gekommen. Auf mich. Gerade jetzt.« Er stand auf und ging über den beigefarbenen Teppich zum Fenster, wo er ungeschickt hinter den zugezogenen Vorhängen nach der Kordel tastete, sie schließlich fand und zog. Ein paar Lichter anderer Häuser und Wohnungen blinzelten aus dem Abgrund der Nacht herein. »Sie müssen Tausende von Forschern haben, die sich an meine Neuronen angeschlossen haben. Sie sind verdammt tüchtig, kann ich dir sagen, sonst hätten sie mir den Verstand verwirrt. So feinfühlig machen sie ihre Veränderungen.«

»Das Krankenhaus«, sagte Edward heiser. Er räusperte sich. »Bitte, Vergil. Jetzt.«

»Was, zum Teufel, kann ein Krankenhaus tun? Hast du dir eine Methode ausgedacht, die Zellen unter Kontrolle zu bringen? Schließlich sind es meine eigenen. Schadest du ihnen, so schadest du mir.«

»Ich habe nachgedacht.« Tatsächlich war ihm die Idee gerade erst in den Sinn gekommen — ein sicheres Zeichen, daß er anfing, Vergil zu glauben. »Aktinomycin kann sich an DNS binden und die Transkription unterbrechen. Auf diese Weise könnten wir sie verlangsamen — und sicherlich würde es diese Biologik durcheinanderbringen, die du beschrieben hast.«

»Ich bin allergisch gegen Aktinomycin. Es würde mich umbringen.«

Edward blickte auf seine Hände. Das war seine beste Lösung gewesen, kein Zweifel. »Wir könnten Experimente durchführen und sehen, wie ihr Stoffwechsel ist und worin er sich von dem anderer Zellen unterscheidet. Wenn wir eine Nährlösung isolieren können, von der sie abhängig sind, könnten wir sie aushungern. Vielleicht würden sogar Strahlungsbehandlungen…«

»Schadest du ihnen«, sagte Vergil und wandte sich wieder zu Edward, »so schadest du mir.«

Er stand in der Mitte des Wohnzimmers und hob die Arme seitlich hoch. Der Bademantel öffnete sich und zeigte Vergils Beine und Rumpf. Schatten verdunkelte jedes sichtbare Detail. »Ich bin nicht sicher, ob ich sie loswerden möchte. Sie tun mir nichts zuleide.«

Edward schluckte seine Enttäuschung hinunter und versuchte, aufkommende Verärgerung zu unterdrücken, was es nur noch schlimmer machte. »Woher willst du das wissen?«

Vergil schüttelte den Kopf und hob einen Finger. »Sie versuchen zu verstehen, was Raum ist. Das fällt ihnen schwer. Sie unterteilen Entfernungen in Konzentrationen von Chemikalien. Für sie ist Raum ein Spektrum von Geschmacksintensitäten.«

»Vergil…«

»Hör zu, denk nach, Edward!« Er sprach in Erregung, aber ruhig. »Etwas geschieht in mir. Sie sprechen zueinander mit Proteinen und Nukleinsäuren durch die Flüssigkeiten, durch Membranen. Sie schneidern etwas — Viren, vielleicht —, um lange Botschaften oder Persönlichkeitsmerkmale oder Biologik zu übermitteln. Plasmidähnliche Strukturen. Das leuchtet ein. Das sind Arbeitsweisen, für die ich sie programmierte. Vielleicht ist es das, was dein Diagnosegerät Infektion nennt — all die neuen Informationen in meinem Blut. Geplauder. Geschmack von anderen Individuen. Gleichen. Übergeordneten. Untergebenen.«

»Vergil, ich höre zu, aber ich…«

»Dies ist meine Show, Edward. Ich bin ihr Universum. Sie sind verblüfft von dem neuen Maßstab.« Er setzte sich und blieb wieder eine Weile still. Edward hockte neben Vergils Sessel, schob den Ärmel des Bademantels hoch und betrachtete Vergils Unterarm: Er war kreuz und quer mit weißlichen Streifen überzogen.

»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte Edward und griff zum Tischtelefon.

Vergil fuhr auf. »Nein! Ich sagte dir, ich bin nicht krank, dies ist meine Show. Was könnte man für mich tun? Es würde ein Farce sein.«

»Was, zum Kuckuck, habe ich dann hier zu suchen?« fragte Edward, dessen Verärgerung die Oberhand gewann. »Ich kann nichts tun, ich bin einer der Höhlenmenschen und du kamst zu mir…«

»Du bist ein Freund«, sagte Vergil und richtete seinen Blick auf ihn. Edward hatte den entnervenden Verdacht, daß er nicht nur von Vergil beobachtet wurde. »Ich wollte dich hier haben, daß du mir Gesellschaft leistest.« Er lachte. »Aber man kann eigentlich nicht sagen, daß ich allein bin, nicht wahr?«

»Ich muß Gail anrufen«, sagte Edward und wählte die Nummer.

»Gail, ja. Aber verrate ihr nichts.«

»O nein. Sei unbesorgt.«

11

Als es Tag wurde, ging Vergil in der Wohnung herum, befingerte Gegenstände, schaute zu den Fenstern hinaus, und bereitete sich langsam und methodisch eine Mahlzeit. »Weißt du, ich kann ihre Gedanken tatsächlich fühlen«, sagte er. Edward verfolgte das Geschehen aus einem Lehnstuhl im Wohnzimmer, erschöpft und krank von innerer Anspannung. »Will sagen, ihr Cytoplasma scheint einen eigenen Willen zu haben. Eine Art unterbewußtes Leben, gegenläufig zu der Rationalität, die sie vor so kurzer Zeit erworben haben. Sie hören das chemische ›Geräusch‹ von Molekülen, die sich im Innern zusammenfügen und voneinander lösen.«

In der Mitte des Wohnzimmers blieb er stehen und schloß die Augen, wie um sich besser auf seine inneren Vorgänge konzentrieren zu können. Sein Bademantel hing offen. Oder er schlief immer wieder für Minuten, sei es im Stehen, sei es im Sitzen. Es war auch möglich, dachte Edward, daß er kleine Anfälle hatte, kurze Anwandlungen von Übelkeit und Desorientierung. Wer konnte voraussagen, welches Unheil die Lymphozyten in seinem Gehirn anrichteten?

Vom Küchenanschluß rief Edward wieder Gail an. Sie bereitete sich auf ihren Arbeitstag vor. Er bat sie, das Krankenhaus anzurufen und ihnen zu sagen, er sei zu krank, um zur Arbeit zu kommen.

»Ich soll für dich schwindeln? Das muß was Ernstes sein. Was ist mit Vergil? Kann er sich selbst nicht trockenlegen?«

Edward sagte nichts.

»Alles in Ordnung?« fragte sie nach einer langen Pause.

War es das? Ganz entschieden nicht. »Mir geht es gut«, sagte er.

»Kultur!« sagte Vergil mit erhobener Stimme und steckte den Kopf in die Küche. Edward verabschiedete sich und legte schnell auf. »Sie schwimmen ständig in einem Bad von Informationen. Tragen selbst dazu bei. Es ist eine Art Gestaltphänomen. Die Hierarchie ist absolut. Sie schicken maßgeschneiderte Phagen aus, die Jagd auf unvollkommene Zellen machen, welche nicht richtig zusammenwirken. Viren sind spezifisch für Individuen oder Gruppen. Es gibt kein Entkommen. Man wird von einem Virus durchbohrt, die Zelle wird wie aufgepumpt, platzt und löst sich auf. Aber es ist nicht bloß eine Diktatur. Ich glaube, sie haben im Grunde mehr Freiheit als wir. Sie variieren so sehr — das heißt, von Individuum zu Individuum, wenn es Individuen gibt. Sie variieren in anderer Weise als wir. Ergibt das einen Sinn?«

»Nein«, sagte Edward leise und rieb sich die Schläfen. »Vergil, du treibst mich zum Äußersten. Ich halte dies nicht mehr lange aus. Ich verstehe nicht, und ich bin nicht sicher, daß ich glaube, was du…«

»Nicht einmal jetzt?«

»Gut, sagen wir, du gibst mir die richtige Interpretation. Gibst sie mir nach bestem Wissen, und die ganze Geschichte ist wahr. Hast du dir die Mühe gemacht, über die Konsequenzen nachzudenken?«

Vergil musterte ihn argwöhnisch. »Meine Mutter«, sagte er.

»Was ist mit ihr?«

»Jeder, der eine Toilette saubermachen kann.«

»Bitte drück dich verständlich aus!« Überdruß und Erschöpfung ließen Edwards Stimme fast zu einem Winseln werden.

»Darin bin ich nie sehr gut gewesen«, murmelte Vergil. »Auszudenken, wohin etwas führen kann.«

»Fürchtest du dich nicht?«

»Und ob ich mich fürchte«, sagte Vergil. Sein Grinsen nahm einen Ausdruck von Besessenheit an. »Und erheitert bin ich. Begeistert!« Er kniete neben Edwards Sessel nieder. »Zuerst wollte ich sie beherrschen, aber sie sind fähiger als ich. Wer bin ich, ein tolpatschiger Dummkopf, daß ich versuchen sollte, sie zu enttäuschen? Sie haben etwas sehr Wichtiges vor.«

»Und wenn sie dich töten?«

Vergil streckte sich auf den Boden und breitete Arme und Beine aus. »Toter Hund«, sagte er. Edward hätte ihn am liebsten getreten. »Sieh mal, ich möchte nicht, daß du denkst, ich hinterginge dich, aber gestern besuchte ich Michael Bernard. Er nahm mich mit in seine Privatklinik, nahm ein ganzes Spektrum von Proben. Biopsien. Du kannst nicht sehen, wo er Hautproben, Proben von Muskelgewebe oder sonst etwas entnahm. Es ist alles verheilt. Er sagte, es bestätige meine Theorie. Und er ersuchte mich, niemandem etwas zu sagen.« Sein Gesichtsausdruck wurde wieder verträumt. »Städte von Zellen«, sagte er. »Edward, sie treiben fadenartige Röhren durch das Gewebe, breiten sich und ihre Informationen aus, wandeln andere Arten von Zellen um…«

»Hör auf!« rief Edward mit überschnappender Stimme. »Was bestätigen die Proben und Namen?«

»Wie Bernard es ausdrückt, habe ich ›ernstlich vergrößerte‹ Lymphozyten. Das übrige Datenmaterial liegt noch nicht vor. Ich meine, es war erst gestern. Also handelt es sich nicht bloß um unsere gemeinsame Selbsttäuschung.«

»Was hat er vor?«

»Er will Genetron davon überzeugen, daß sie mich wieder einstellen sollen. Daß mein Labor wieder geöffnet wird.«

»Ist es das, was du willst?«

»Es ist nicht bloß die Wiedereröffnung des Labors. Laß dir zeigen. Seit ich die Bestrahlungen eingestellt habe, hat meine Haut sich wieder verändert.« Ohne vom Boden aufzustehen, schlug er den Bademantel auseinander.

Am ganzen Körper war die Haut kreuz und quer von weißen Streifen überzogen. Er wälzte sich herum, zog einen Arm aus dem Ärmel. Auf seinem Rücken begannen die Streifen schwielige Verdickungen zu bilden.

»Mein Gott«, sagte Edward.


»Ich werde außerhalb des Labors zu nicht viel taugen«, sagte Vergil. »Ich werde mich in der Öffentlichkeit nicht blicken lassen können.«

»Du… du kannst mit ihnen reden, ihnen sagen, daß sie langsamer machen sollen.« Die Worte waren ihm kaum über die Lippen gegangen, da war ihm bereits bewußt, wie lächerlich das klang.

»Ja, das kann ich wirklich, aber es bedeutet nicht, daß sie auf mich hören.«

»Ich dachte, du seist ihr Gott.«

»Diejenigen, die sich an meine Neuronen angeschlossen haben, sind nicht die großen Tiere. Sie sind Forscher, oder dienen dieser Funktion. Sie wissen, daß ich hier bin, was ich bin, aber das heißt nicht, daß sie die höheren Ebenen der Hierarchie überzeugt haben.«

»Sie diskutieren und streiten?«

»So ähnlich.« Er zog den Bademantel wieder an, stand auf und spähte durch die Gardinen aus dem Fenster, als erwarte er jemand. »Ich habe nur noch sie. Sie haben keine Angst. Edward, ich habe mich noch nie jemandem oder etwas so nahe gefühlt.« Wieder das selige Lächeln. »Ich bin verantwortlich für sie. Mutter für sie alle. Weißt du, bis vor ein paar Tagen hatte ich nicht mal einen Namen für sie. Eine Mutter sollte ihre Sprößlinge beim Namen nennen können, nicht wahr?«

Edward antwortete nicht.

»Ich habe überall nachgeschlagen, in Wörterbüchern, wissenschaftlichen Werken, überall. Dann kam es mir plötzlich in den Sinn. ›Noozyten‹. Von dem griechischen Wort für Geist, ›noos‹. Noozyten. Klingt irgendwie unheilverkündend, nicht wahr? Ich sagte es Bernard, und er schien den Namen gut zu finden…«

Edward hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Du hast keine Ahnung, was sie tun werden! Du sagst, sie seien wie eine Zivilisation…«

»Wie tausend Zivilisationen.«

»Ja, und man weiß, was Zivilisationen angerichtet haben. Kriegführung, die Umwelt…« Er hielt sich an Strohhalmen fest, versuchte die Panik zu unterdrücken, die seit seiner Ankunft in ihm gewachsen war. Er besaß nicht die Kompetenz, mit der Ungeheuerlichkeit dessen, was hier geschah, fertig zu werden. Und Vergil auch nicht. Vergil war der letzte, den Edward im Hinblick auf Fragen von großer Tragweite einsichtsvoll und weise genannt hätte.

»Aber ich bin der einzige, der hier Gefahr läuft«, sagte Vergil.

»Das weißt du nicht. Gott, Vergil, sieh bloß, was sie mit dir machen!«

»Ich akzeptiere es«, sagte er stoisch.

Edward schüttelte resignierend den Kopf. »Schön. Bernard bewegt Genetron, das Labor wieder zu öffnen, du ziehst ein, wirst ein Versuchskaninchen. Was dann?«

»Sie behandeln mich richtig. Ich bin schon jetzt mehr als der gute alte Vergil Ulam. Ich bin eine verdammte Über-Mutter.«

»Über-Wirt, willst du sagen.«

Vergil räumte es mit einem Achselzucken ein.

Edward fühlte eine Beengung seiner Kehle. »Ich kann dir nicht helfen. Ich kann nicht mit dir sprechen, dich überzeugen, kann nichts für dich tun. Du bist so dickköpfig wie eh und je.« Das klang beinahe wohlwollend; wie konnte »dickköpfig« eine Haltung wie Vergils beschreiben? Er versuchte, deutlich zu machen, was er meinte, konnte aber nur stammeln. »Ich muß gehen«, brachte er schließlich hervor. »Ich kann dir hier nicht helfen.«

Vergil nickte. »Das glaube ich auch nicht. Es kann nicht einfach sein.«

»Nein«, sagte Edward und schluckte. Vergil trat auf ihn zu und schien im Begriff, Edward beide Hände auf die Schultern zu legen. Edward wich instinktiv zurück.

»Wenigstens hätte ich gern dein Verständnis«, sagte Vergil und ließ die Arme sinken. »Dies ist die großartigste Sache, die ich je vollbracht habe.« Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Ich weiß nicht recht, wie lange ich es noch ertragen kann. Ich weiß nicht, ob sie mich umbringen werden, oder nicht. Ich glaube, sie werden es nicht tun. Aber die Anspannung, Edward…«

Edward erreichte rückwärtsgehend die Tür und legte die Hand auf die Klinke. Vergils Gesicht, vorübergehend zerquält von Sorge, kehrte zurück zu träumerischer Glückseligkeit. »He«, sagte er. »Hör nur! Sie…«

Edward öffnete die Tür, trat hinaus und schloß sie fest hinter sich. Rasch ging er zum Aufzug und drückte den Knopf für das Erdgeschoß.

Ein paar Minuten verweilte er in der leeren Eingangshalle, bemüht, sein stoßweises Atmen zur Ruhe zu bringen. Er blickte auf die Armbanduhr: neun Uhr früh.

Auf wen würde Vergil hören?

Vergil war zu Bernard gegangen; vielleicht war dieser jetzt der Angelpunkt, um den sich die ganze Situation drehte. Vergil erweckte den Anschein, als sei Bernard nicht nur überzeugt, sondern stark interessiert. Leute von Bernards Rang und Namen drängten die Vergil Ulams der Welt nicht zu Taten, wenn sie nicht spürten, daß es ihnen selbst zum Vorteil gereichte. Als Edward die gläserne Flügeltür aufstieß, beschloß er einer Vermutung zu folgen.


Vergil lag mitten im Wohnzimmer, die Arme und Beine ausgestreckt, und lachte. Dann ernüchterte und fragte er sich, welchen Eindruck er auf Edward gemacht habe, oder auf Bernard, was das anging. Nicht wichtig, befand er. Wichtig war nur, was innen vorging, im inneren Universum.

»Ich bin immer eine große Nummer gewesen«, murmelte er.

Alles

— Ja, ich bin jetzt alles.

Erkläre

— Was? Ich meine, was erklären?

Klarheiten

— Ja, ich kann mir vorstellen, daß es hart ist, aufzuwachen. Nun, ihr habt die Schwierigkeiten verdient. Die verdammte alte DNS ist endlich aufgewacht.

GESPROCHEN mit andern.

— Was?

WORTE kommunizieren mit »teilen äußere Körperstruktur« ist dies wie »Ganzheit INNEN«?

»Totalität« ist auch ÄUSSERLICH.

— Ich verstehe nicht; ihr seid nicht klar.

Stille im Innern, für wie lange? Es war schwierig, den Ablauf der Zeit zu schätzen; Stunden und Tage in Minuten und Sekunden. Die Noozyten hatten seine innere Uhr durcheinandergebracht. Und was sonst noch?

DU »Grenzfläche«

»stehst zwischen« ÄUSSERLICH und INNERLICH. Sind sie gleich?

— Innen und außen? O nein.

Sind AUSSEN »Körperstruktur« gleich?

»Ihr meint Edward, nicht? Ja, in der Tat… Wir teilen gleiche Körperstrukturen.«

EDWARD und andere Struktur INNERLICH ähnlich/gleich?

— O ja, er ist ganz das gleiche, bloß ohne euch. Nur — ja, und geht es ihr jetzt besser? Gestern abend fühlte sie sich nicht gut.

Keine Antwort auf diese Frage.

Frage

— Er hat euch nicht. Niemand sonst. Ist sie wohlauf? Wir sind die einzigen. Ich machte euch. Niemand außer uns hat euch.

Tiefes Schweigen.


Edward fuhr zum Museum für Moderne Kunst in La Jolla und ging über die Betonfläche zu einem Münzfernsprecher bei einem bronzenen Trinkbrunnen. Vom Ozean trieb Nebel herein, verhüllte die gelbbraun verputzten spanischen Umrisse der Kirche St. James und schlug sich in feinen Tautropfen auf die Blätter der Bäume nieder. Er steckte seine Kreditkarte in den Fernsprecher und verlangte die Nummer von Genetron. Die mechanische Stimme ließ ihn nicht lange warten, und er wählte durch.

»Bitte verbinden Sie mich mit Dr. Michael Bernard«, sagte er.

»Wer ist am Apparat, bitte?«

»Dies ist sein Anrufbeantwortungsdienst. Wir haben einen Notruf und sein Signalgerät scheint nicht zu arbeiten.«

Ein paar in Sorge verbrachte Minuten später meldete sich Bernard. »Wer, zum Teufel, ist am Apparat?« fragte er mit gedämpfter Stimme. »Ich habe keinen Anrufbeantwortungsdienst.«

»Mein Name ist Edward Milligan. Ich bin ein Freund von Vergil Ulam. Ich glaube, wir haben ein Problem zu besprechen.«

Am anderen Ende blieb es lange still. »Sie sind am Mount Freedom-Krankenhaus, Dr. Milligan?«

»Ja.«

»Sind Sie jetzt dort?«

»Nein.«

»Ich kann mich heute nicht mit Ihnen treffen. Würde Ihnen morgen früh passen?«

Edward dachte an die weite Fahrt, an verlorene Zeit und an Gail, die sich Sorgen machte. Das alles schien jetzt trivial. Er bejahte.

»Gut. Also neun Uhr, bei Genetron. 60895 Torrey Pines Road.«

»Gut.«

Edward ging durch den grauen Nebelmorgen zurück zu seinem Wagen. Als er die Tür öffnete und sich in den Sitz fallen ließ, kam ihm ein Gedanke. Candice war letzte Nacht nicht nach Haus gekommen.

Sie war am Morgen in der Wohnung gewesen. Vergil hatte ihn über ihren Aufenthalt belogen, soviel war ihm jetzt klar. Was für eine Rolle spielte sie? Und wo war sie?

12

Gail fand Edward in unruhigem Schlaf auf der Couch. Draußen pfiff ein winterlich kalter Wind. Sie setzte sich zu ihm und streichelte ihm den Arm, bis er die Augen aufschlug.

»Hallo«, sagte sie.

»Selber hallo.« Er zwinkerte und blickte umher. »Wie spät ist es?«

»Ich bin gerade heimgekommen.«

»Halb fünf. Gott. Habe ich geschlafen?«

»Ich war nicht hier«, sagte Gail. »Hast du?«

»Ich bin immer noch müde.«

»Also, was hat Vergil diesmal angestellt?«

Edwards Gesicht wurde zu einer gleichmütigen Maske. Er faßte ihr mit dem Zeigefinger unters Kinn und streichelte es — »Kinnkratzen« nannte sie es und fand es ein wenig anstößig, als ob sie eine Katze wäre.

»Etwas ist faul«, sagte sie. »Willst du es mir sagen, oder einfach so tun, als ob alles normal und in Ordnung wäre?«

»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll«, erwiderte Edward.

»Ach du lieber Gott«, seufzte Gail und stand auf. »Du wirst dich wegen dieser Baker-Frau von mir scheiden lassen.« Mrs. Baker wog dreihundert Pfund und hatte bis zu ihrem fünften Monat nicht gewußt, daß sie schwanger war.

»Nein«, sagte Edward lustlos.

»Große Erleichterung.« Sie berührte leicht seine Stirn. »Du weißt, daß diese Art von Insichgekehrtheit mich verrückt macht.«

»Nun, ich kann nicht darüber sprechen, also…« Er nahm ihre Hand in die seine und tätschelte sie.

»Das ist abscheulich herablassend«, sagte sie. »Ich werde Tee kochen. Willst du welchen?« Er nickte, und sie ging in die Küche.

Warum nicht einfach alles sagen? fragte er sich. Ein alter Freund verwandelte sich in eine Galaxis.

Statt dessen räumte er den Tisch ab.

Am Abend, unfähig zu schlafen, saß Edward aufrecht im Bett, das Kissen im Rücken, blickte auf Gail hinab und versuchte zu bestimmen, was zur Realität gehörte, und was nicht.

Ich bin Arzt, sagte er sich. Ein technischer, wissenschaftlicher Beruf. Sollte gegen Phänomene wie Zukunftsschock immun sein.

Vergil Ulam verwandelte sich in eine Galaxis.

Wie fühlte es sich an, mit einer Billion Chinesen vollgestopft zu sein? Er lächelte im Dunkeln, und hätte gleichzeitig weinen mögen. Was Vergil in sich hatte, war unvorstellbar fremdartiger als Chinesen. Fremdartiger als alles, was Edward oder Vergil selbst ohne weiteres verstehen konnten.

Welche Psychologie oder Persönlichkeit würde eine Zelle entwickeln — oder eine Ansammlung von Zellen? Er versuchte sich seiner Grundkenntnisse über Zellumgebungen im menschlichen Körper zu erinnern. Blut, Gewebe, Körperflüssigkeit, cerebrospinale Flüssigkeit… Ein Organismus von menschlicher Komplexität müßte in solch einer Umgebung vor Langeweile verrückt werden. Die Umgebung war einfach, die Anforderungen relativ einfach, und die Verhaltensebenen waren Zellen angemessen, nicht Menschen. Auf der anderen Seite mochte Streß der Hauptfaktor sein — die Umgebung war körpereigenen Zellen wohltätig, aber fremden Zellen feindlich.

Wenn er auch nicht wußte, was notwendigerweise real war, so wußte er doch, worauf es ankam: auf das Schlafzimmer, den Schein der Straßenbeleuchtung und die Schatten der Bäume auf den Vorhängen, die schlafende Gail.

Das war sehr wichtig. Gail in ruhigem Schlaf.

Er dachte an Vergil, wie er die Petrischalen mit veränderten E. coli sterilisierte. Die Flasche mit veränderten Lymphozyten. Tragisches Geschick, Milliarden von potentiellen Genies, vernichtet in einem alles umfassenden Untergang. Mord? Völkermord?

Es gab keine Schranken zwischen Schlafen und Wachen. Er betrachtete das Fenster, und die Lichter der Stadt funkelten durch, als die Vorhänge sich öffneten. Sie hätten geradesogut in New York wohnen können (in Erwine waren die Nächte niemals so hell illuminiert), oder in Chikago; er hatte zwei Jahre in Chikago gelebt und das Fenster zerbrach geräuschlos, das Glas schälte sich zurück und fiel auseinander. Die Stadt kroch zum Fenster herein, ein riesiger, stachliger, beleuchteter Einbrecher, der in einer Sprache knurrte, die er nicht verstehen konnte, gemacht aus Autohupen, den Lärm von Menschenmengen und Baumaschinen. Er versuchte ihn abzuwehren, aber er erreichte Gail und verwandelte sich in einen Schauer von Lichtfunken, der über das Bett niederging, über das ganze Zimmer.

Er schrak auf, als die Fenster unter einem Windstoß klapperten. Es war besser, dachte er bei sich, nicht zu schlafen, und blieb wach, bis es Zeit war, aufzustehen und sich mit Gail anzuziehen. Als sie zur Schule ging, küßte er sie mit Inbrunst, genoß die Wirklichkeit ihrer menschlichen, unverletzten Lippen.

Dann machte er die lange Fahrt zur Torrey Pines Road, vorbei am Salk Institute mit seiner sparsamen Betonarchitektur, vorüber an Dutzenden neuer und wiederauferstandener Forschungszentren, die Enzyme Valley ausmachten, umgeben von Eukalyptusbäumen und den neuen, raschwüchsigen Koniferenhybriden, deren Vorfahren der Straße ihren Namen gegeben hatten.

Die schwarze Tafel mit der roten Antiquaschrift erhob sich auf ihrem mit koreanischem Gras bewachsenen Hügel. Die Gebäude dahinter folgten der Mode kastenförmiger einfacher Betonoberflächen; selbst der ominöse schwarze Würfel, wo militärische Forschung betrieben wurde, machte nur in Farbe und Material eine Ausnahme.

Am Eingang trat ein dünner, drahtiger Mann in dunkelblauer Uniform aus seinem Wachhaus und beugte sich zum Fenster des Volkswagens. Er musterte Edward mit einem hochmütigen Blick. »In welcher Angelegenheit, Sir?«

»Ich bin mit Dr. Bernard verabredet.«

Der Wachmann verlangte seinen Ausweis. Edward zog die Brieftasche und gab ihm seinen Paß. Der Wachmann ging damit in sein Häuschen und verbrachte einige Zeit am Telefon, während er den Paß durchblätterte. Er brachte ihn zurück und sagte, immer noch in seiner hochmütigen Art: »Es gibt keinen Besucherparkplatz. Stellen Sie Ihren Wagen auf Platz einunddreißig, das ist hinter dieser Kurve und auf der anderen Seite des Bürotraktes, Westflügel. Benutzen Sie nur den Haupteingang zum Bürotrakt.«

»Schon recht«, sagte Edward gereizt. »Um diese Kurve.« Er zeigte, und der Wachmann nickte knapp und ging zurück in sein Häuschen.

Edward parkte den Volkswagen und ging den plattenbelegten Weg zum Haupteingang hinüber. Neben betonierten Teichen, in denen Goldfische und Karpfen schwammen, wuchsen Papyrusstauden. Die Glastüren öffneten sich bei seiner Annährung, und er trat ein. Das runde Foyer enthielt eine einzige Couch und einen Tisch mit technischen Fachzeitschriften und Zeitungen.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Empfangsdame. Sie war schlank und attraktiv und hatte das Haar nach der gegenwärtigen Mode, die Gail so inbrünstig verabscheute, sorgsam zu künstlicher Unordnung arrangiert.

»Dr. Bernard, bitte.«

»Dr. Bernard?« Sie sah ihn verwundert an. »Wir haben keinen…«

»Dr. Milligan?«

Edward wandte sich und sah Bernard zur automatischen Tür hereinkommen. »Danke, Janet«, sagte er zu der Empfangsdame, die sich wieder ihrer Telefonvermittlung zuwandte. »Bitte kommen Sie mit mir, Dr. Milligan. Wir haben einen Konferenzraum ganz für uns.« Er führte Edward durch die rückwärtige Tür und den betonierten Weg entlang, der das Erdgeschoß des Westflügels flankierte.

Bernard trug einen eleganten grauen Anzug, der zu seinem ergrauenden Haar paßte; er hatte ein scharf geschnittenes und ansehnliches Profil, und eine Ähnlichkeit mit Leonard Bernstein war unverkennbar; es war leicht zu sehen, warum die Medien ihm soviel Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Er war ein Pionier, eine Galionsfigur der Wissenschaft — und fotogen. »Wir haben hier sehr strenge Sicherheitsvorschriften, erzwungen durch die Rechtsprechung der letzten zehn Jahre. Leider hat die allgemeine Hysterie auch vor der Justiz nicht haltgemacht. Patentrechte werden für nichtig erklärt, nur weil im Rahmen einer wissenschaftlichen Konferenz über Arbeitsprozesse gesprochen wird. Derlei Dinge. Was können wir auch erwarten, wenn die Gerichte in allem, was wirklich geschieht, so unwissend sind?« Die Frage schien rein rhetorisch. Edward nickte höflich und folgte Bernards einladender Handbewegung zu einer Eisentreppe, die zum zweiten Obergeschoß hinaufführte.

»Sie haben Vergil in letzter Zeit gesehen?« fragte Bernard als er Zimmer 245 aufsperrte.

»Gestern.«

Bernard trat vor ihm ein und betätigte den Lichtschalter. Der Raum war kaum acht Quadratmeter groß, eingerichtet mit einem runden Tisch, vier Stühlen und einer schwarzen Anzeigetafel an einer Wand. Bernard schloß die Tür. »Bitte setzen Sie sich.« Edward zog einen Stuhl heraus, und Bernard setzte sich ihm gegenüber und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Ulam ist ein kluger Kopf und mutig, ich zögere nicht, das zu sagen.«

»Er ist mein Freund. Ich mache mir große Sorgen um ihn.«

Bernard hielt einen mahnenden Finger in die Höhe. »Mutig — und ein einfältiger Mensch. Was mit ihm geschehen ist, hätte verhindert werden müssen. Er mag es unter Druck getan haben, doch ist das keine Entschuldigung. Nun, was geschehen ist, ist geschehen. Sie wissen alles, nehme ich an.«

»Ich kenne die Geschichte in ihren Grundzügen«, sagte Edward, »aber ich bin mir noch nicht im klaren darüber, wie er es getan hat.«

»Wir wissen es auch nicht, Dr. Milligan. Das ist einer der Gründe, warum wir ihm wieder ein Labor angeboten haben. Und eine Wohnung, während wir die Weiterungen prüfen, die sich daraus ergeben.«

»Er sollte nicht mit der Öffentlichkeit in Berührung kommen«, sagte Edward.

»Ganz meiner Meinung. Wir sind dabei, ein isoliertes Labor einzurichten. Aber wir sind ein Privatunternehmen, und unsere Mittel sind beschränkt.«

»Dieses Vorkommnis sollte dem Gesundheitsamt und der Zulassungsbehörde für Arznei- und Lebensmittel gemeldet werden.«

Bernard seufzte. »Ja. Nun, wir würden Gefahr laufen, alles zu verlieren, wenn zu diesem Zeitpunkt Informationen an die Öffentlichkeit gelangten. Ich spreche nicht von geschäftlichen Entscheidungen — wir würden Gefahr laufen, die gesamte Biochips-Industrie zu verlieren. Der öffentliche Aufschrei könnte unberechenbare Auswirkungen haben.«

»Vergil ist sehr krank. Körperlich, geistig. Er könnte sterben.«

»Irgendwie glaube ich nicht, daß er sterben wird«, sagte Bernard. »Aber wir entfernen uns vom Brennpunkt.«

»Was ist der Brennpunkt?« fragte Edward ärgerlich. »Ich gehe davon aus, daß Sie eng mit Genetron zusammenarbeiten — jedenfalls entnahm ich das Ihren Worten. Was kann Genetron dabei gewinnen?«

Bernard lehnte sich zurück. »Ich kann mir eine große Zahl von Verwendungsmöglichkeiten für kleine, extrem kompakte Computerelemente auf biologischer Basis vorstellen. Sie nicht? Genetron hat bereits entscheidende Fortschritte gemacht, aber Vergils Arbeit ist wieder etwas anderes.«

»Was sehen Sie voraus?«

Bernards Lächeln war sonnig und augenscheinlich falsch. »Ich habe wirklich nicht die Freiheit, mich darüber zu verbreiten. Es handelt sich um einen revolutionären Durchbruch. Wir werden ihn unter Laborbedingungen untersuchen müssen. Tierversuche müssen durchgeführt werden. Es wird natürlich erforderlich sein, das ganze Verfahren von neuem aufzubauen. Vergils… ah… Kolonien sind nicht übertragbar. Sie basieren auf seinen eigenen Zellen. Wir müssen Organismen entwickeln, die in anderen Tieren keine Immunreaktionen auslösen werden.«

»Wie eine Infektion?« fragte Edward.

»Ich nehme an, es gibt da Ähnlichkeiten. Aber Vergil ist nicht infiziert oder krank im Sinne des normalen Sprachgebrauchs.«

»Meine Untersuchungen deuten darauf hin, daß er es ist«, sagte Edward.

»Ich bin der Meinung, die üblichen diagnostischen Methoden sind hier nicht angemessen, was meinen Sie?«

»Ich weiß es nicht.«

Bernard beugte sich vor. »Passen Sie auf. Ich möchte, daß Sie kommen und mit uns arbeiten, sobald Vergil sich eingewöhnt hat. Ihre Kenntnisse könnten uns von Nutzen sein.«

Edward schrak vor der Offenheit des Angebotes beinahe zurück. »Was versprechen Sie sich von alledem?« fragte er. »Ich meine Sie persönlich.«

»Dr. Milligan, ich habe immer in der vordersten Reihe meines Berufes gestanden. Ich sehe keinen Grund, daß ich hier nicht helfen sollte. Mit meinen Kenntnissen der Gehirn- und Nervenfunktionen und der Forschung, die ich auf den Gebieten künstlicher Intelligenz und Neurophysiologie geleistet habe…«

»Könnten Sie Genetron helfen, eine Untersuchung durch eine Regierungskommission zu verhindern«, sagte Edward.

»Das ist sehr unverblümt ausgedrückt. Allzu vereinfachend, und unfair.« Für die Dauer eines Augenblicks spürte Edward Unsicherheit und sogar einen Anflug von Besorgnis in Bernard.

»Vielleicht ist es so«, sagte Edward. »Und vielleicht ist das nicht das Schlimmste, was geschehen kann.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Bernard.

»Schlechte Träume, Dr. Bernard.«

Bernards Augen verengten sich, und er zog die Brauen zusammen. Das ergab einen uncharakteristischen Ausdruck, nicht geeignet für Titelbilder in Time und wissenschaftlichen Fachzeitschriften, eine verwirrte und zornige Verfinsterung der Miene. »Unsere Zeit ist zu kostbar, um vergeudet zu werden. Ich habe das Angebot in gutem Glauben gemacht.«

»Selbstverständlich«, sagte Edward. »Und selbstverständlich würde ich auch ganz gern das Labor aufsuchen, sobald Vergil sich eingerichtet hat. Wenn ich dann noch willkommen bin, mit Unverblümtheit und allem.«

»Natürlich«, antwortete Bernard, aber seine Gedanken waren offensichtlich: Edward würde niemals in seiner Mannschaft spielen. Sie standen gemeinsam auf, und Bernard streckte ihm die Hand hin. Sie war feucht; er war so nervös wie Edward.

»Ich nehme an, Sie wünschen, daß dies alles strikt vertraulich behandelt werde«, sagte Edward.

»Ich weiß nicht, ob wir das von Ihnen verlangen können. Sie stehen nicht unter Vertrag.«

»Nein«, sagte Edward.

Bernard maß ihn mit einem langen Blick, dann nickte er. »Ich werde Sie hinausbegleiten.«

»Da gibt es noch etwas«, sagte Edward. »Wissen Sie etwas über eine Frau namens Candice?«

»Vergil erwähnte, daß er eine Freundin dieses Namens habe.«

»Hatte, oder habe?«

»Ja, ich sehe, worauf Sie hinauswollen«, sagte Bernard. »Sie könnte ein Sicherheitsproblem sein.«

»Nein, das ist nicht, was ich meine«, erwiderte Edward mit Nachdruck. »Ganz und gar nicht, was ich meine.«

13

Bernard ging die gehefteten Papiere sorgfältig durch, den Kopf in die Hand gestützt. Während er die im Behördenformat gehaltenen Blätter wendete, vertiefte sich sein Stirnrunzeln.

Was in dem schwarzen Würfel vorging, reichte hin, ihm die Haare zu Berge stehen zu lassen. Die Information war keineswegs vollständig, aber seine Freunde in Washington hatten bemerkenswerte Arbeit geleistet. Das Paket war just eine halbe Stunde, nachdem Edward Milligan gegangen war, durch Sonderkurier eingetroffen.

Das Gespräch hatte eine abwehrende, beißende Scham in ihm zurückgelassen. Er sah in dem jungen Arzt eine weit entfernte Version seiner selbst, und der Vergleich schmerzte. War der berühmte Michael Bernard die letzten Monate in einem Nebel kapitalistischer Verführung umhergetappt?

Zuerst hatte Genetrons Angebot sauber und vorteilhaft ausgesehen — minimale Partizipation in den ersten Monaten, dann Status als Vaterfigur und Pionier, um das Ansehen der Firma zu fördern.

Er hatte entschieden zu lange gebraucht, um zu erkennen, wie nahe er dem Auslöser der Falle war.

Er blickte zum Fenster auf und erhob sich, die Jalousie hochzuziehen. Nun hatte er einen klaren Blick auf den Hügel, den schwarzen Würfel, die windgefegten Wolken jenseits.

Er witterte Unheil. Die Ironie wollte es, daß diejenigen, die im schwarzen Würfel arbeiteten, nicht hineingezogen würden; aber wenn Vergil Ulam die Entwicklung nicht ausgelöst hätte, dann wäre es früher oder später durch die andere Seite von Genetron geschehen.

Ulam hatte so abgeschlossen und so überstürzt gehandelt, daß eine gänzlich neue Situation entstanden war. Ohne es zu wissen, war er der militärischen Forschungsabteilung hart auf den Fersen gewesen und hatte sie schließlich überholt. Er hatte Erfolg gehabt, wo sie unter häufigen Rückschlägen und Fehlern zu leiden hatte. Und obwohl sie seine Aufzeichnungen seit Monaten studiert hatten (Kopien waren in mehrfacher Ausfertigung angefertigt worden), konnten sie seine Ergebnisse nicht wiederholen.

Tags zuvor erst hatte Harrison gemurmelt, daß Ulams Entdeckungen größtenteils zufällig gewesen sein müßten. Es war offensichtlich, warum er dies jetzt sagte.

Ulam war drauf und dran gewesen, seinen Erfolg anderswohin zu tragen, und die Regierung in eine prekäre Lage zu bringen. Die großen Tiere konnten das nicht zulassen, und konnten Ulam nicht trauen.

Er war der Inbegriff des verschrobenen Wissenschaftlers. Unberechenbar. Er hätte niemals eine Sicherheitsprüfung als unbedenklich bestehen können.

Als Genetron ihn hinausgeworfen hatte, war das Ausmaß seiner Entdeckung noch nicht bekannt gewesen, aber dann hatte er sie in ihren Träumen verfolgt. Sie konnten ihn jetzt nicht mehr ablehnen.

Bernard las die Papiere noch einmal durch, und fragte sich, wie er sich mit einem Minimum an Schaden aus der Affäre ziehen könne.

Sollte er? Wenn sie solche Dummköpfe waren, würde sein Können nicht von Nutzen sein — oder zumindest sein klares Denken? Er zweifelte nicht daran, daß er klarer denken konnte als Harrison und Yng.

Aber Genetrons Interesse an ihm beschränkte sich weitgehend auf seine Funktion als Galionsfigur. Wieviel Einfluß würde er haben, selbst nach dieser Wendung?

Er ließ die Jalousie wieder herunter. Dann nahm er den Hörer ab und wählte Harrisons Nummer.

»Ja?«

»Bernard.«

»O ja, Michael.«

»Ich werde jetzt Ulam rufen. Wir werden ihn heute hereinbringen. Halten Sie Ihre Leute bereit, auch die in der militärischen Abteilung.«

»Michael, das ist…«

»Wir können ihn nicht einfach da draußen lassen.«

Harrison überlegte. »Ja, ich stimme Ihnen zu.«

»Dann machen Sie sich daran!«

14

Edward aß in einem Schnellimbiß, und nachdem er fertig war, blieb er noch eine Weile sitzen, einen Arm auf dem Fensterbrett, und starrte hinaus zum vorbeifließenden Verkehr. Etwas war bei Genetron nicht in Ordnung. Er konnte sich auf seine Vermutungen stets verlassen; ein Teil seines Gehirns war reserviert für genaue Beobachtung und Aufzeichnung winziger Details. Da konnte es bisweilen vorkommen, daß er zwei und zwei zusammenzählte und eine beunruhigende Fünf erhielt, und eine Zwei konnte in Wirklichkeit eine Drei sein; er hatte es vorher bloß nicht bemerkt.

Bernard und Harrison verbargen eine sehr bedeutsame Tatsache. Genetron half nicht bloß einem Exangestellten in einem arbeitsbezogenen Problemfall, sondern man bereitete sich darauf vor, die Vorteile eines wissenschaftlichen Durchbruchs einzuheimsen. Aber sie konnten nicht allzu rasch handeln; das würde Argwohn erregen. Und vielleicht waren sie nicht sicher, daß sie die nötigen Geldmittel für eine Umsetzung großen Stils würden aufbringen können.

Er furchte die Stirn und versuchte die Kette seiner Überlegungen Glied für Glied noch einmal zu überprüfen. Sicherheit. Bernard hatte in Verbindung mit Candice die Frage der Sicherheit aufgeworfen. Vielleicht sorgten sie sich um Sicherheitsfragen, teilten die Furcht vor Industriespionage, die jedes private Forschungsunternehmen an der Torrey Pines Road längst zu Bollwerken aus Beton und elektrisch geladenem Stacheldraht gemacht hatte, dem kritischen Blick der Öffentlichkeit entzogen. Aber das konnte nicht alles sein.

Sie konnten nicht so einfältig und kurzsichtig sein wie Vergil; sie mußten wissen, daß viel zu wichtig war, was mit Vergil geschah, um es unter dem Topfdeckel ihres Unternehmens zu halten.

Darum hatten sie sich an die Regierung gewandt. War das eine zu rechtfertigende Annahme? (Vielleicht war es etwas, das er tun sollte, ob Genetron es getan hatte, oder nicht.) Und die Regierung handelte so rasch wie möglich — das heißt, in einem Zeitraum von Tagen oder Wochen —, um ihre Entscheidungen zu treffen, Pläne vorzubereiten und zu handeln. In der Zwischenzeit war Vergil unbeaufsichtigt. Genetron wagte gegen seinen Willen nichts zu unternehmen; Firmen, die sich mit Genforschung befaßten, wurden von der Öffentlichkeit bereits argwöhnisch genug beobachtet, und ein Skandal konnte weit mehr Schaden anrichten als die Pläne, Aktien auszugeben, zunichte zu machen.

Vergil war auf sich selbst zurückgeworfen, zumindest einstweilen. Und Vergil war kein verantwortungsbewußter Mensch. Er lebte derzeit jedoch unter selbstauferlegter Isolation, blieb in der Wohnung (oder etwa nicht?), erlitt seine geistige Transformation, war gefangen in seiner psychosenerzeugenden Ekstase, erfüllt von den Hirngespinsten seiner Entdeckung.

Mit einem Schreck wurde Edward klar, daß er der einzige war, der etwas tun konnte.

Er war unter allen Eingeweihten der am wenigsten Verantwortliche.

Es war an der Zeit, zu Vergils Wohnung zurückzukehren und zumindest die Ereignisse zu beobachten, bis die großen Tiere auf dem Schauplatz des Geschehens erschienen.

Unterwegs dachte Edward über Veränderung nach. Es gab nur ein gewisses Maß von Veränderung, das ein einzelnes Individuum ertragen konnte. Neuerung, sogar radikale Neuschöpfung, war eine Notwendigkeit, aber die Ergebnisse mußten umsichtig angewendet werden, und nur nach sorgfältiger Überlegung aller relevanten Gesichtspunkte. Nichts durfte erzwungen oder auferlegt werden. Das war das Ideal. Alle sollten das Recht haben, den bestehenden Zustand beizubehalten, bis sie anders entschieden.

Das war verdammt naiv.

Was Vergil getan hatte, war in der Wissenschaft das größte Ding seit…

Seit wann? Es gab keine Vergleiche. Vergil Ulam war ein Gott geworden. In seinem Körper trug er Hunderte von Milliarden von intelligenten Wesen.

Die Vorstellung war ihm unerträglich. »Reaktionärer Maschinenstürmer«, murmelte er anklagend zu sich selbst.

Vergils Stimme meldete sich schon nach dem ersten Läuten. »Ja?« sagte er in einem sehr frischen, munteren Ton.

»Edward.«

»He, Edward! Komm nur herein! Ich nehme gerade ein Bad. Die Tür ist aufgesperrt.«

Edward betrat Vergils Wohnung und ging durch den Korridor zum Badezimmer. Vergil war in der Wanne, lag bis zum Hals in rosa gefärbtem Wasser. Er lächelte unbestimmt zu Edward und platschte mit den Händen. »Sieht aus, als hätte ich mir die Pulsadern aufgeschnitten, wie?« sagte er. Seine Stimme war ein glückliches Flüstern. »Sei unbesorgt. Alles ist jetzt gut. Genetron kommt herüber, um mich wieder einzustellen. Bernard und Harrison und die Laborleute, alle in einem Kleinbus.« Blasse Schwielen durchzogen kreuz und quer sein Gesicht, und seine Hände waren bedeckt mit weißen Beulen.

»Ich sprach erst heute vormittag mit Bernard«, sagte Edward. Er war perplex.

»He, sie riefen gerade an«, sagte Vergil und zeigte zu seinem Badezimmer-Telefonanschluß. »Ich bin seit einer Stunde hier drin, seit anderthalb Stunden. Einweichen erleichtert das Nachdenken.«

Edward setzte sich auf die Toilette. Die Quarzlampe stand auf dem Wäscheschrank.

»Bist du sicher, daß du zu Genetron zurück willst?« fragte Edward. Er ließ die Schultern hängen.

»Ja. Ich bin sicher«, sagte Vergil. »Wiedervereinigung. Die Heimkehr des verlorenen Sohnes, der nicht so verloren war. Aber der Vergleich hinkt. Schließlich kehre ich nicht reumütig zurück, sondern ich werde es stilvoll tun. Von nun an soll alles stilvoll sein.«

Das rosafarbene Wasser sah nicht wie Seife aus. »Ist das ein Schaumbad, ein Badezusatz?« fragte Edward. Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke und hinterließ ein flaues Gefühl im Magen.

»Nein«, sagte Vergil. »Es kommt von meiner Haut. Sie sagen mir nicht alles, aber ich bin der Meinung, daß sie Kundschafter aussenden. He! Astronauten! Ja. Sie verlassen die Heimatgalaxis.« Er blickte mit einem Ausdruck zu Edward auf, der nicht ganz in Besorgnis überging; eher wie Neugierde, was Edward dazu sagen würde.

Edwards Magen zog sich zusammen, als warte er auf einen zweiten Schlag. Er hatte die Möglichkeit bisher niemals ernsthaft in Betracht gezogen, jedenfalls nicht bewußt. Vielleicht weil er sich allzu sehr auf die Frage der Akzeptanz und mehr unmittelbare Probleme konzentriert hatte. »Ist dies das erste Mal?«

Vergil bejahte lachend. »Ich habe gute Lust, die kleinen Teufel durch den Abfluß zu lassen. Sollen sie nur herausfinden, wie die Welt wirklich beschaffen ist.«

»Sie würden sich überall ausbreiten«, sagte Edward.

»Sicherlich.«

Edward nickte. Sicherlich. »Du hast mich nie mit Candice bekannt gemacht«, sagte er.

Vergil schüttelte den Kopf. »Ja, das stimmt.« Mehr nicht.

»Wie… wie fühlst du dich?«

»Gerade jetzt fühle ich mich ziemlich gut. Müssen Milliarden von ihnen im Badewasser sein.« Wieder platschte er mit den Händen. »Was meinst du? Sollte ich die kleinen Schwerenöter hinauslassen?«

»Ich brauche was zu trinken«, sagte Edward.

»Candice hat etwas Whiskey im Küchenschrank.«

Edward kniete neben der Badewanne nieder. Vergil betrachtete ihn neugierig. »Was sollen wir tun?« fragte Edward.

Vergils Gesichtsausdruck wechselte mit erschreckender Plötzlichkeit von wachem Interesse zu einer Trauermaske. »Mein Gott, Edward, meine Mutter — weißt du, sie kommen, mich zurückzuholen, aber sie sagte… ich sollte sie anrufen. Mit ihr reden.« Tränen kullerten über die Schwielen und Beulen, die seine Wangen deformierten. »Sie sagte mir, ich solle zu ihr zurückkommen, wenn… wenn es Zeit sei. Ist es Zeit, Edward?«

»Ja«, sagte Edward. Er fühlte sich wie aufgehängt in einer von Funken durchschossenen Wolke. »Ich glaube, es muß sein.« Seine Finger schlossen sich um das Kabel der Quarzlampe und folgten seiner Länge bis zum Stecker.

Vergil hatte Türklinken elektrisiert, seiner Kommilitonen Urin blau gefärbt, tausend handfeste Streiche verübt und war dabei nie erwachsen geworden, nie ausreichend gereift, um zu verstehen, wie brillant er war, was er bewirken konnte und welche Verantwortlichkeit ihm damit zufiel.

Vergil streckte die Hand zur Kette des Badewannenstöpsels aus. »Weißt du, Edward, ich…«

Weiter kam er nicht. Edward hatte den Stecker in den Wandanschluß gesteckt. Nun nahm er die Lampe, schaltete sie ein und warf sie ins Badewasser. Er sprang vor dem Blitz, dem Dampf und dem Funkenregen zurück. Die Deckenbeleuchtung erlosch. Vergil schrie und schlug um sich und zuckte, und dann war alles still, bis auf das leise gleichmäßige Zischen und den Rauch, der von seinem Haar aufstieg. Licht von der kleinen Entlüftungsöffnung durchschnitt in mattem Strahl den übelriechenden Dunst.

Edward hob den Toilettendeckel und übergab sich. Dann hielt er sich die Nase zu und stolperte hinaus ins Wohnzimmer. Seine Beine gaben nach, und er fiel auf die Couch.

Aber er hatte keine Zeit. Schwankend stand er auf, überwältigt von erneuerter Übelkeit, und tappte in die Küche. Er fand die Flasche Jack Daniels und kehrte zurück zum Badezimmer. Er schraubte die Kappe ab und schüttete den Inhalt der Flasche ins Badewasser, bemüht, Vergil nicht direkt anzusehen. Aber das war nicht genug. Zu einer wirksamen Desinfektion würde er Bleichmittel und Ammoniak benötigen, und dann würde er gehen müssen.

Er war nahe daran, Vergil zu fragen, wo der Chlorkalk und das Ammoniak seien, besann sich aber noch rechtzeitig. Vergil war tot. Edwards Magen begann wieder zu rebellieren, und er lehnte sich im Korridor an die Wand, die Wange an den Wandanstrich gedrückt. Wann hatte der Realitätsverlust eingesetzt?

Als Vergil ins Medizinische Zentrum Mount Vernon gekommen war. Das war wieder einer von Vergils Scherzen. Ha. Färbe dein ganzes Leben mitternachtsblau, Edward; vergiß niemals einen Freund!

Er schaute in den Wäscheschrank, sah aber nur Handtücher und Laken. Auch im Kleiderschrank fand er nicht das Gesuchte. Zum Schlafzimmer gehörte ein zweites Bad, und von der Stelle am Fuß des ungemachten Bettes, wo er stand, konnte er dort einen niedrigen weißen Schrank sehen. Edward ging hinüber. An einem Ende, dem Schrank gegenüber, war eine Duschkabine. Unter ihrer Tür kam ein dünnes Rinnsal hervor. Er betätigte den Lichtschalter, aber dieser ganze Teil der Wohnung war ohne Strom; das einzige Licht kam vom Schlafzimmerfenster. In dem Schrank fand er sowohl Chlorkalk zum Bleichen als auch einen großen Zweiliterkanister Ammoniak.

Er trug beides durch den Korridor und schüttete den Inhalt in die Wanne, ohne Vergils blicklose blasse Augen anzusehen. Dämpfe zischten auf, und hustend schloß er die Tür hinter sich.

Jemand rief leise Vergils Namen. Edward trug die leeren Kanister in das Schlafzimmer, wo die Stimme lauter zu hören war. Er blieb stehen und neigte lauschend den Kopf.

»He, Vergil, bist du’s?« fragte die Stimme. Sie kam aus der Duschkabine. Edward tat einen Schritt vorwärts. Hielt inne. Genug, dachte er. Die Realität war abschreckend genug, und er wollte wirklich nicht mehr davon. Dennoch tat er einen weiteren Schritt, dann noch einen und erreichte die Tür der Duschkabine.

Die Stimme klang wie die einer Frau, rauh und fremd, aber nicht wie die Stimme eines Menschen in Not.

Er faßte den Türgriff mit einer Hand und zog. Mit einem hohlen Klicken schwang die Tür auf. Er spähte in die Dunkelheit der Duschkabine, bis seine Augen sich angepaßt hatten.

»Mein Gott, Vergil, du hast mich vernachlässigt. Wir müssen endlich raus aus diesem Hotel. Es ist dunkel und klein, und ich fühle mich nicht wohl.«

Er erkannte die Stimme vom Telefon, obwohl er sie nach der äußeren Erscheinung nicht hätte wiedererkennen können, selbst wenn er eine Fotografie gesehen hätte.

»Candice?« fragte er.

»Vergil? Laß uns gehen!«

Er floh.

15

Als Edward nach Hause kam, läutete das Telefon. Er meldete sich nicht. Es konnte das Krankenhaus gewesen sein, oder Bernard — oder die Polizei. Er malte sich aus, wie er alles der Polizei würde erklären müssen. Genetron würde mauern; Bernard würde unerreichbar sein.

Edward war erschöpft, all seine Muskeln waren angespannt und verkrampft, und seine Gefühle… Wie fühlt man sich, nachdem man — Völkermord begangen hat?

Das schien wirklich nicht realistisch. Er konnte nicht glauben, daß er gerade eine Billion intelligenter Wesen ermordet hatte. »Noozyten.« Eine Galaxie ausgelöscht. Das war lachhaft. Aber er lachte nicht.

Noch immer hatte er das Bild vor Augen, das er in der Duschkabine gesehen hatte.

An ihr war die Arbeit der Umwandlung sehr viel rascher vor sich gegangen. Ihre Beine waren verschwunden, ihr Rumpf zu impressionistischer Magerkeit reduziert. Sie hatte das Gesicht zu ihm gehoben, bedeckt mit Schwielen, als ob es aus Taurollen gemacht wäre.

Er hatte das Gebäude gerade zur rechten Zeit verlassen, um zu sehen, wie ein weißer Kleinbus um die Ecke gekommen war und vor dem Haus gehalten hatte, gefolgt von Bernards Limousine. Er hatte in seinem Wagen gesessen und beobachtet, wie Männer in weißen Schutzanzügen aus dem Kleinbus gestiegen waren, der keine Aufschrift und keine Kennzeichen trug.

Dann hatte er den Motor gestartet, den Gang eingelegt und war weggefahren. Einfach so. Zurück nach Irvine. Die ganze schreckliche Geschichte zu ignorieren, so lange er konnte, sonst würde er sehr bald so verrückt sein wie Candice.

Candice, die über dem offenen Abfluß in eine Duschkabine umgewandelt wurde. Die kleinen Schwerenöter hinauslassen, hatte Vergil gesagt. Ihnen zeigen, was es mit der Welt auf sich hatte.

Es fiel ihm nicht allzu schwer, zu glauben, daß er gerade ein menschliches Wesen getötet hatte, einen Freund. Der Rauch, der geschmolzene Lampenschirm, das qualmende Kabel.

Vergil.

Er hatte die eingeschaltete Lampe zu Vergil in die Badewanne geworfen.

War er gründlich genug gewesen? Hatte er alle, die in der Wanne gewesen waren, abgetötet? Vielleicht würden Bernard und seine Gruppe zu Ende bringen, was er begonnen hatte.

Er zweifelte jedoch daran. Wer konnte es alles erfassen? Er konnte es ganz gewiß nicht; er hatte Schreckliches erfahren und gesehen, und glaubte nicht, daß er sich zutrauen konnte, vorauszusagen, was als nächstes geschehen würde. Verstand er doch kaum, was jetzt geschah.

Die Träume. Städte, die über Gail herfielen, sie vergewaltigten. Myriaden winziger, unsichtbarer Intelligenzen, die sich alle überstäubten, unterwanderten, durchdrangen. Welcher Schmerz… und doch auch, welch potentielle Schönheit! Eine neue Art von Leben, Symbiose und Verwandlung.

Nein, das war kein guter Gedanke. Veränderung — zuviel Veränderung —, dort begannen seine Einwände gegen eine neue Ordnung, eine neue Art, weil er recht gut wußte, daß es nicht mehr einzudämmen war, daß es mehr von ihnen geben mußte. Vergil hatte mehr gemacht, in seiner unbeholfenen, kurzsichtigen Art hatte er das nächste Stadium eingeleitet.

Nein. Das Leben geht weiter. Kein Ende, keine Verwandlung, keine erschreckenden Erlebnisse wie Candice in der Duschkabine oder Vergil tot in der Badewanne; Leben ist das Recht des Individuums auf Normalität und normales Altern, wer würde dieses Recht in Frage stellen oder wegnehmen, welcher vernünftige Mensch würde das akzeptieren, und wieso glaubte er akzeptieren zu müssen, was — wie er meinte — geschehen würde?

Er legte sich auf die Couch und beschirmte die Augen mit dem Unterarm. In seinem ganzen Leben war er nicht so erschöpft gewesen — bis zur Unfähigkeit zu rationalem Denken körperlich und emotional entleert. Dennoch scheute er den Schlaf, weil er spürte, daß die Alpträume sich auftürmten wie Gewitterwolken und nur darauf warteten, ihn mit Echos und Brechungen dessen, was er gesehen hatte, durchzuschütteln.

Er nahm den Unterarm vom Gesicht und starrte zur Decke auf. Es war vielleicht gerade noch möglich, daß aufgehalten werden konnte, was in Gang gesetzt worden war. Vielleicht war er der einzige, der als Auslöser der dazu erforderlichen Aktionen wirken konnte. Er könnte das Amt für Seuchenbekämpfung alarmieren (ja, aber waren das die Leute, mit denen er sprechen wollte?), oder vielleicht das Verteidigungsministerium? Zuerst das Gesundheitsamt, wo er Bekannte hatte? Oder vielleicht sogar die Scripps-Klinik in La Jolla…

Wieder bedeckte er die Augen mit dem Unterarm. Es gab keine klare Vorgangsweise.

Die Ereignisse überstiegen einfach sein Vermögen. Er konnte sich vorstellen, daß es im Laufe der Menschheitsgeschichte oft Ähnliches gegeben hatte: Flutwellen von Ereignissen, die entscheidende Einzelpersonen zusammen mit allen anderen überwältigten und fortrissen. Wer hatte in solchen Lebenslagen nicht den Wunsch nach einem ruhigen Ort, vielleicht einem kleinen mexikanischen Dorf, wo nie etwas passierte und wohin man sich zurückziehen und schlafen konnte, bloß schlafen…

»Edward?« Gail beugte sich über ihn und berührte seine Stirn mit kühlen Fingern. »Jedesmal, wenn ich heimkomme, liegst du hier und schläfst wie ein Sack. Du siehst nicht gut aus. Wie fühlst du dich?«

»Ganz gut.« Er setzte sich auf den Rand der Couch. Er fühlte sich erhitzt, und Benommenheit bedrohte sein Gleichgewicht. »Hast du etwas für das Abendessen geplant?« Sein Mund arbeitete nicht richtig; die Worte klangen undeutlich, nuschelnd. »Ich dachte, wir könnten ausgehen.«

»Du hast Fieber«, sagte Gail. »Sehr hohes Fieber. Warte hier, ich hole das Thermometer.«

»Nein«, rief er ihr schwächlich nach. Dann stand er auf und tappte ins Badezimmer, um in den Spiegel zu schauen. Sie traf ihn dort und steckte ihm das Thermometer unter die Zunge. Wie immer dachte er daran, es wie Harpo Marx zu zerbeißen und wie eine Zuckerstange zu essen. Sie blickte ihm über die Schulter in den Spiegel.

»Was ist es?« fragte sie.

Unter seinem Kragen waren Streifen um den Hals. Weiße Streifen, wie Straßen.

»Feuchte Hände«, murmelte er. »Vergil hatte feuchte Hände.« Sie waren bereits seit Tagen in ihm. »So offensichtlich.«

»Edward, bitte, was ist?«

»Ich muß einen Anruf machen«, sagte er. Gail folgte ihm ins Schlafzimmer und blieb bei ihm stehen, als er sich auf die Bettkante setzte und die Nummer von Genetron wählte. »Dr. Michael Bernard, bitte«, sagte er. Die Empfangsdame sagte ihm — viel zu schnell —, daß es bei Genetron keine Person dieses Namens gäbe. »Es ist zu wichtig, um damit Geheimniskrämerei zu treiben«, sagte er kalt. »Sagen Sie Dr. Bernard, daß Edward Milligan am Apparat ist, und es ist dringend!«

Die Empfangsdame ließ ihn warten. Vielleicht war Bernard noch in Vergils Wohnung und versuchte das Rätsel zu lösen; vielleicht würden sie einfach die Polizei verständigen und ihn verhaften lassen. So oder so, es kam wirklich nicht mehr darauf an.

»Bernard hier.« Die Stimme klang entschieden und ziemlich so, dachte Edward, wie er selbst sich anhören mußte.

»Es ist zu spät, Doktor. Wir haben Vergils Hand geschüttelt. Verschwitzte Handflächen, erinnern Sie sich? Und fragen Sie sich, wen wir seitdem berührt haben. Wir sind jetzt die Angriffspunkte.«

»Ich war heute in der Wohnung, Milligan«, sagte Bernard. »Haben Sie Ulam getötet?«

»Er wollte seine… Mikroben freisetzen. Noozyten. Was immer sie jetzt sind.«

»Haben Sie seine Freundin gefunden?«

»Ja.«

»Was haben Sie mit ihr getan?«

»Mit ihr getan? Nichts. Sie war in der Duschkabine. Aber hören Sie…«

»Sie war verschwunden, als wir kamen, wir fanden nichts als ihre Kleider. Haben Sie sie auch getötet?«

»Hören Sie, Doktor! Ich habe Vergils Mikroben in mir.

Und Sie auch.« Am anderen Ende blieb es eine Weile still, dann ein tiefes Seufzen. »Ja?«

»Haben Sie irgendeine Methode ausgearbeitet, sie unter Kontrolle zu bringen, das heißt, in unseren Körpern?«

»Ja.« Dann, leiser: »Nein. Noch nicht. Antimetaboliten, kontrollierte Strahlentherapie, Aktinomycin. Wir haben nicht alles erprobt, aber… nein.«

»Das wär’s dann, Dr. Bernard.«

Eine weitere längere Pause. »Hm.«

»Ich werde jetzt zu meiner Frau zurückgehen, um mit ihr zu verbringen, was uns an Zeit noch geblieben ist.«

»Ja«, sagte Bernard. »Danke für Ihren Anruf.«

»Ich werde jetzt auflegen.«

»Selbstverständlich. Leben Sie wohl.«

Edward legte auf und schloß seine Arme um Gail.

»Es ist eine Krankheit, nicht wahr?« sagte sie.

Edward nickte. »Das ist es, was Vergil gemacht hat. Eine Krankheit, die denkt. Ich glaube kaum, daß es Möglichkeiten gibt, eine intelligente Seuche zu bekämpfen.«

16

Harrison durchblätterte das Verfahrenshandbuch und machte sich methodisch Notizen. Yng saß in einem Ledersessel in der Ecke, die Fingerspitzen vor dem Gesicht zu einer Pyramide aneinandergelegt. Sein langes, glattes schwarzes Haar fiel ihm über die Brillengläser. Bernard stand vor dem schwarzen Resopaltisch, beeindruckt von der Qualität des Stillschweigens. Endlich lehnte Harrison sich vom Schreibtisch zurück und hielt seinen Notizblock in die Höhe.

»Erstens, wir sind nicht verantwortlich. So lese ich es. Ulam führte seine Forschungen heimlich ohne unsere Genehmigung durch.«

»Aber wir feuerten ihn nicht, als wir davon erfuhren«, konterte Yng. »Das wird man uns vor Gericht ankreiden.«

»Wir werden uns später um alles das sorgen«, sagte Harrison. »Allerdings sind wir dafür verantwortlich, daß die Behörden verständigt werden. Es ist zwar kein Behälterleck oder sonst ein technischer Defekt, aber…«

»Keiner von uns, nicht einer von uns dachte, daß Ulams Zellen außerhalb des Körpers lebensfähig sein könnten«, sagte Yng und steckte die Finger beider Hände ineinander.

»Es ist durchaus möglich, daß sie es anfangs nicht waren«, sagte Bernard, gegen seinen Willen in die Diskussion gezogen. »Es ist offensichtlich, daß eine beachtliche Entwicklung stattgefunden hat, seit Ulam sich seine veränderten Lymphozyten injizierte. Selbstgeleitete Entwicklung.«

»Ich weigere mich noch immer zu glauben, daß Ulam intelligente Zellen schuf«, sagte Harrison. »Unsere eigene Forschung im militärischen Bereich hat gezeigt, wie schwierig das sein würde. Wie bestimmte er ihre Intelligenz? Wie bildete er sie aus? Nein — etwas…«

Yng lachte. »Ulams Körper wurde umgewandelt, neu entworfen… Wie können wir daran zweifeln, daß hinter der Transformation eine Intelligenz wirkte?«

»Meine Herren«, sagte Bernard, »das ist alles akademisch. Werden wir die Behörden verständigen oder nicht?«

»Was, zum Kuckuck, sollen wir ihnen sagen?«

»Daß wir uns alle im Frühstadium einer sehr gefährlichen Infektion befinden«, sagte Bernard, »die in unseren Laboratorien von einem Forscher, der inzwischen daran gestorben ist, erzeugt wurde.«

»Der ermordet wurde«, sagte Yng.

»Und daß die Infektion sich mit alarmierender Schnelligkeit ausbreitet.«

»Ja«, sagte Yng, »aber was können die Gesundheitsbehörden tun? Die Seuche, wenn man es so nennen kann, hat sich inzwischen über den ganzen Kontinent ausgebreitet.«

»Nein«, widersprach Harrison, »nicht ganz so weit. Vergil war ein Eigenbrötler, hatte nicht viele Kontakte. Sie könnte noch auf Südkalifornien begrenzt sein.«

»Er hatte Kontakt mit uns«, meinte Yng. »Sind Sie der Meinung, daß wir angesteckt sind?«

Bernard bejahte.

»Gibt es etwas, was wir persönlich tun können?«

Er tat so, als überlege er, dann schüttelte er den Kopf. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen, es gibt Arbeit zu tun, bevor wir die Behörden verständigen.« Er verließ den Konferenzraum und ging den äußeren Korridor entlang zur Treppe. Im Eingang zum Westflügel war ein Münzfernsprecher. Bernard zog seine Kreditkarte aus der Brieftasche, steckte sie in den Schlitz und wählte die Nummer seines Büros in Los Angeles.

»Bernard hier«, sagte er. »Ich werde in Kürze zum Flughafen San Diego fahren. Ist George erreichbar?« Mehrere Anrufe wurden gemacht, dann kam George Dilman, sein Flugmechaniker und Gelegenheitspilot, an die Leitung. »George, es tut mir leid, daß ich so kurzfristig disponieren muß, aber es handelt sich um eine Art Notfall. Die Maschine sollte in anderthalb Stunden voll aufgetankt bereitstehen.«

»Wohin diesmal?« fragte Dilman, der lange Flüge ohne Vorankündigung gewohnt war.

»Europa. In ungefähr einer halben Stunde werde ich genaueres durchgeben, damit Sie einen Flugplan machen können.«

»In Ordnung, Doktor.«

»Anderthalb Stunden, George.«

»Wir werden bereit sein.«

»Ich fliege allein.«

»Doktor, ich würde lieber…«

»Allein, George.«

George seufzte. »In Ordnung.«

Er behielt den Hörer in der Hand und drückte eine siebenundzwanzigstellige Zahl, beginnend mit seinem Satellitenschlüssel und endend mit einer Zerhacker-Kennzahl. Eine Frau meldete sich auf deutsch.

»Dr. Heinz Paulsen-Fuchs, bitte.«

Sie stellte keine Fragen. Wer auf dieser Leitung durchkam, war wichtig genug, daß der Doktor mit ihm sprach. Einige Sekunden später meldete sich Paulsen-Fuchs. Bernard blickte unbehaglich in die Runde, um zu sehen, ob er beobachtet wurde.

»Heinz, hier ist Michael Bernard. Ich muß Sie um einen ziemlich extremen Gefallen bitten.«

»Herr Dr. Bernard, immer willkommen, immer willkommen! Was kann ich für Sie tun?«

»Haben Sie auf Ihrem Werksgelände in Wiesbaden ein Labor mit Totalisolation, das Sie innerhalb eines Tages freimachen können?«

»Zu welchem Zweck? Entschuldigen Sie, Michael, ist es kein günstiger Zeitpunkt, danach zu fragen?«

»Nein, ich fürchte nicht.«

»Wenn es ein ernster Notfall ist, nun ja, ich denke, es läßt sich machen.«

»Gut. Ich werde dieses Labor benötigen, und ich werde Ihren firmeneigenen Landeplatz benutzen müssen. Sobald ich meine Maschine verlasse, muß ich sofort in einen Isolationsanzug und in einen versiegelten Transportwagen für biologische Stoffe gesteckt werden. Dann wird meine Maschine auf der Rollbahn angezündet und der gesamte Umkreis mit desinfizierendem Schaum besprüht werden müssen. Ich werde Ihr Gast sein, wenn Sie es so nennen können, und zwar auf vorerst unbestimmte Zeit. Das Labor sollte so eingerichtet sein, daß ich dort leben und meine Arbeit tun kann. Dazu werde ich einen Datenanschluß mit allen Möglichkeiten benötigen.«

»Sie sind mir nicht als ein Trunkenbold bekannt, Michael. Und Sie sind niemals labil gewesen, nicht in der Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Das hört sich sehr ernst an. Sprechen wir über eine Infektion, Michael? Ein Behälterleck, vielleicht?«

Bernard fragte sich, wie Paulsen-Fuchs erfahren haben konnte, daß er mit Gentechnik befaßt war. Oder vermutete er es nur? »Es handelt sich um einen extremen Notfall, Heinz. Können Sie mir helfen?«

»Wird alles erklärt werden?«

»Ja. Und es wird Ihnen und Ihrem Land zum Vorteil gereichen, frühzeitig informiert zu sein.«

»Das hört sich nicht nach einer Trivialität an, Michael.«

Bernard unterdrückte eine irrationale Aufwallung von Ungeduld. »Verglichen damit, ist alles andere trivial, Heinz.«

»Dann wird es geschehen. Wir können Sie wann erwarten?«

»Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden, Danke, Heinz.«

Er hängt ein und blickte auf die Armbanduhr. Er bezweifelte, daß bei Genetron jemand die Größenordnung des Geschehens begriff. Selbst ihm fiel es schwer, sich eine zutreffende Vorstellung zu machen. Aber eins war klar: Sobald Harrison die Gesundheitsbehörden informierte, würde der nordamerikanische Kontinent innerhalb achtundvierzig Stunden unter Quarantäne gestellt — ob man in Regierungskreisen glaubte, was gesagt wurde, oder nicht. Die Schlüsselworte würden »Seuche« und »gentechnische Manipulation« sein. Alle in diesem Zusammenhang ergriffenen Maßnahmen würden vollkommen gerechtfertigt sein, doch bezweifelte er, daß sie ausreichend sein würden. Dann wäre mit dem Einsatz drastischerer Mittel zu rechnen.

Er wollte nicht im Lande sein, wenn es geschah, andererseits wollte er nicht für die Weiterverbreitung der Gefahr verantwortlich sein. Also bot er sich dem modernsten pharmazeutischen Forschungsunternehmen Europas als Versuchsperson und Musterexemplar an.

Bernards Verstand arbeitete so, daß er niemals von schweren Zweifeln oder nachträglichen Sinnesänderungen geplagt war — jedenfalls nicht in seiner Arbeit. Befand er sich in einer Notlage oder schwierigen Situation, fiel ihm immer rechtzeitig eine Lösung ein, gewöhnlich die richtige. Die Reservelösungen warteten im Hintergrund seiner Gedanken, unbewußt und unaufdringlich, während er handelte. So war es immer im Operationssaal gewesen, und so war es jetzt. Er betrachtete diese Fähigkeit nicht ohne einigen Verdruß, ließ sie ihn doch bisweilen als eine Art Roboter erscheinen, selbstsicher und zuversichtlich jenseits aller Vernunft. Aber sie war für seinen Erfolg verantwortlich gewesen, hatte ihm zu seinem Ruf in der neurophysiologischen Forschung und der Achtung verholfen, die ihm von Professorenkollegen und Öffentlichkeit entgegengebracht wurde.

Er kehrte zurück in den Konferenzraum und nahm seine Aktentasche mit sich. Sein Wagen wartete auf dem Firmenparkplatz, wo der Chauffeur las oder mit einem Taschencomputer Schach spielte. »Wenn Sie mich brauchen, können Sie mich in meinem Büro erreichen«, sagte Bernard zu Harrison. Yng stand vor der leeren Wandtafel, die Hände auf dem Rücken.

»Ich habe eben die Gesundheitsbehörde angerufen«, sagte Harrison. »Man wird uns Instruktionen geben.«

Bald würde jedes Krankenhaus in der Gegend unterrichtet sein. Wie lange würde es dauern, bis sie die Schließung der Flughäfen anordneten? Wie effizient waren sie? »Lassen Sie mich dann wissen, was angeordnet wird«, sagte Bernard. Er ging hinaus und überlegte flüchtig, ob er noch etwas mitnehmen mußte. Vermutlich nicht. Er hatte Kopien von Ulams Floppy Discettes in seiner Aktentasche. Und er hatte Ulams Organismen in seinem Blut.

Das würde sicherlich ausreichen, ihn einstweilen zu beschäftigen.

Leute? Gab es welche, die er warnen sollte?

Eine seiner drei Exfrauen? Er wußte nicht einmal, wo sie jetzt lebten. Seine Buchhalterin schickte ihnen die Alimentenschecks. Es gab keine praktische Möglichkeit…

Einen Menschen, an dem ihm wirklich lag? Dem auch er etwas bedeutete?

Er hatte Paulette zuletzt im März gesehen. Der Abschied war freundschaftlich gewesen. Alles war freundschaftlich gewesen. Sie waren umeinander gekreist wie Mond und Erde, ohne sich wirklich nahezukommen. Paulette hatte Einwände dagegen erhoben, der Mond zu sein, und völlig zu Recht. Sie hatte es in ihrer eigenen Karriere weit gebracht und war Leiterin der Abteilung Zytotechnologie in der Cetus Corporation in Palo Alto.

Nun, da er darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß es wahrscheinlich diejenige gewesen war, die Harrison von der Genetron seinen Namen empfohlen hatte. Nach ihrer Trennung. Ohne Zweifel hatte sie gedacht, sie sei sehr großzügig, und objektiv, indem sie allen Beteiligten half.

Er konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Aber es gab nichts in ihm, was ihn drängte, sie anzurufen, zu warnen.

Es war einfach nicht praktisch.

Von seinem Sohn hatte er seit fünf Jahren nichts gehört. Er war mit einem Forschungsauftrag irgendwo in China.

Er schlug sich den Gedanken aus dem Kopf.

Vielleicht brauche ich nicht einmal eine Isolationskammer, dachte er bei sich. Ich bin bereits stärker isoliert als mir bewußt war.

17

Sie waren dem Tode nahe. Innerhalb von Minuten war Edward zu schwach, sich zu bewegen. Er hörte, wie Gail seine Eltern anrief, verschiedene Krankenhäuser, ihre Schule. Sie war außer sich vor Angst, daß sie womöglich ihre Schüler infiziert hatte. Er stellte sich vor, wie die Nachricht sich in Windeseile ausbreitete. Die Panik. Aber Gail wurde bald langsamer, klagte über Schwindelgefühl und legte sich neben ihn aufs Bett.

Sie versuchte sich aufzurappeln, wie ein Pferd, das gestürzt ist und sich ein Bein gebrochen hat, wieder hochzukommen sucht, aber die Anstrengung war nutzlos.

Mit ihrer letzten Kraft kam sie zu ihm, und sie hielten einander in den Armen, schweißgebadet. Gails Augen waren geschlossen, ihr Gesicht hatte die Farbe von Talkum. Sie glich einem Leichnam in der Aussegnungskapelle. Eine Weile dachte Edward, sie sei tot, und krank wie er war, wütete er gegen sich selbst, haßte sich selbst, niedergedrückt von Schuldgefühlen wegen seiner Schwäche, seiner Langsamkeit, die Möglichkeiten zu verstehen. Dann kümmerte es ihn nicht länger. Er war zu schwach, mit den Augen zu zwinkern, also schloß er sie und wartete.

Ein Rhythmus war in seinen Armen, seinen Beinen. Mit jedem Pulsschlag durchwogte ihn eine Art Klang, als ob ein Orchester von Tausenden Musikern spielte, aber nicht im Gleichklang; als ob sie verschiedene Symphonien oder Sätze daraus gleichzeitig spielten. Musik im Blut. Die Empfindung wurde koordinierter; die Klangfolgen verloren sich schließlich in Stille, lösten sich auf in harmonische Pulsschläge.

Das Pochen seines eigenen Herzens.

Keiner von ihnen hatte ein Gefühl für den Ablauf der Zeit. Tage konnten vergangen sein, bevor er genug Kraft aufbrachte, zum Wasserhahn ins Badezimmer zu wanken. Er trank, bis sein Magen nicht mehr fassen konnte, und kehrte mit einem Glas Wasser zurück. Er hob ihren Kopf mit dem Arm, berührte Gails Lippen mit dem Rand des Glases. Sie nippte am Wasser. Ihre Lippen waren aufgesprungen, die Augen blutunterlaufen und die Pupillen umrandet mit gelblichen, körnigen Strukturen, aber ihre Haut hatte wieder etwas Farbe. »Wann werden wir sterben?« fragte sie, ihre Stimme ein mattes Krächzen. »Ich möchte dich festhalten, wenn wir sterben.«

Wenig später war er stark genug, ihr in die Küche zu helfen. Er schälte eine Orange und teilte sie mir ihr, er schmeckte den Zucker und den Saft und die Säure in der Kehle. »Wo sind alle?« fragte sie. »Ich rief Krankenhäuser und Freunde an. Wo sind sie?«

Die harmonische, orchestrale Empfindung kehrte wieder, die Herzschläge koordinierten sich zu rhythmischen Fragmenten, diese verschmolzen, gewannen eine Bedeutung, und auf einmal —

Tritt UNWOHLSEIN auf?

— Ja.

Er antwortete automatisch und gleichfalls in Gedanken, als hätte er den Austausch erwartet und sei bereit für ein langes Gespräch.

GEDULD. Es gibt Schwierigkeiten.

— Was? Ich verstehe nicht.

»Immunreaktion«. »Konflikt«. Schwierigkeiten.

— Dann verlaßt uns! Geht fort!

Nicht möglich. Zu sehr INTEGRIERT.

Sie erholten sich nicht, nicht in dem Maße, daß sie von der Infektion frei gewesen wären. Jedes Gefühl wiederkehrender Freiheit war illusorisch. Sehr knapp und darauf beschränkt, was seine Kräfte zuließen, versuchte er Gail zu erklären, was sie seiner Meinung nach erlebten.

Sie stützte sich auf die Stuhllehne, stand auf und ging langsam und unsicher zum Fenster, wo sie auf wankenden Beinen stand und auf die Grünanlage und andere Reihen von Wohnhäusern hinausblickte. »Was ist mit den anderen Leuten?« fragte sie. »Haben die es auch? Sind sie deshalb nicht gekommen?«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich bald.«

»Sind sie… die Krankheit? Spricht sie zu dir?«

Er nickte.

»Dann bin ich nicht verrückt.« Langsam tappte sie durch das Wohnzimmer. »Ich werde mich nicht mehr lange bewegen können«, sagte sie. »Wie ist es mit dir? Vielleicht sollten wir versuchen zu fliehen.«

Er nahm ihre Hand und schüttelte den Kopf. »Sie sind innen, inzwischen Teil von uns. Sie sind wir. Wohin könnten wir fliehen?«

»Dann möchte ich mit dir im Bett sein, wenn wir uns nicht mehr bewegen können. Und ich möchte, daß du die Arme um mich legst.«

Sie legten sich wieder aufs Bett und hielten einander in den Armen.

»Eddie…«

Es war das letzte Geräusch, das er hörte. Er versuchte zu widerstehen, aber Wellen des Friedens überrollten ihn, und er konnte nur erfahren. Er trieb auf einer weiten, blauvioletten See. Über der See wurde sein Körper auf eine scheinbar grenzenlose Fläche gezeichnet. Die Bemühungen der Noozyten wurden dort in einer Art Diagramm erfaßt, und er hatte keine Schwierigkeiten, ihren Fortschritt zu verstehen. Es war offensichtlich, daß sein Körper jetzt mehr Noozyt als Milligan war.

Was wird mit uns geschehen?

Nicht mehr BEWEGUNG.

— Sterben wir?

Veränderung.

— Und wenn wir uns nicht verändern wollen?

Kein SCHMERZ.

— Und Furcht? Ihr werdet uns nicht einmal erlauben, daß wir uns fürchten?

Die blauviolette See und das Diagramm lösten sich in warme Dunkelheit auf.

Er hatte viel Zeit, die Dinge zu durchdenken, aber nicht annähernd genug Information. War es dies, was Vergil erfahren hatte? Kein Wunder, daß er den Eindruck gemacht hatte, verrückt zu werden. Begraben in einer inneren Perspektive, weder an einem Ort noch an einem anderen. Er spürte eine Zunahme der Wärme, eine Nähe und zwingende Gegenwart.

— Edward…

— Gail? Ich kann dich hören — nein, nicht hören —

— Edward, ich sollte entsetzt sein. Ich möchte zornig sein, aber ich kann nicht.

Nicht notwendig.

— Geht fort! Edward, ich möchte mich wehren —

— Verlaßt uns, bitte, verlaßt uns!

GEDULD. Schwierigkeiten.

Sie verstummten und begnügten sich mit der Freude ihrer beiderseitigen Nähe und Gesellschaft. Was Edward nahebei spürte, war nicht Gails körperliche Gegenwart; nicht einmal sein eigenes Vorstellungsbild von ihrer Persönlichkeit, sondern etwas Überzeugenderes, mit allen Unvollkommenheiten und Details der Realität, aber nicht so, wie er sie bis dahin je erfahren hatte.

— Wieviel Zeit ist vergangen?

— Ich weiß es nicht. Frag sie! Keine Antwort.

— Haben sie es dir gesagt?

— Nein, ich glaube nicht, daß sie tatsächlich verstehen, zu uns zu sprechen… noch nicht. Vielleicht ist dies alles Halluzination. Vergil halluzinierte, und viel leicht imitiere ich bloß seine Fieberträume…

— Sag mir, wer wen halluziniert? Warte. Etwas kommt. Kannst du es sehen?

— Ich kann nichts sehen… aber ich fühle es.

— Beschreibe es mir!

— Ich kann nicht.

— Sieh mal, es tut etwas.

— Es ist schön.

— Es ist sehr… ich finde nicht, daß es beängstigend ist. Es ist jetzt näher.

Kein SCHMERZ. Kein SCHADEN. »Lernen« hier, »anpassen«.

Es war keine Halluzination, doch ließ es sich mit Worten nicht beschreiben. Edward wehrte sich nicht, als es über ihn kam.

— Was ist es?

— Es ist, wo wir einige Zeit sein werden, glaube ich.

— Bleib bei mir!

— Natürlich…

Auf einmal gab es eine Menge zu tun und vorzubereiten.

Edward und Gail wuchsen auf dem Bett zusammen, Substanz durchdrang ihre Kleider, die Haut verschmolz, wo sie einander umarmten, die Lippen, wo sie sich berührten.

18

Bernard war sehr stolz auf seine Falcon 10. Er hatte sie in Paris vom Präsidenten eines Computerherstellers erworben, der bankrott gegangen war. Er hatte die schnittige Düsenmaschine drei Jahre benutzt, hatte fliegen gelernt und innerhalb von drei Monaten nach einem »sitzenden Start«, wie sein Fluglehrer es ausgedrückt hatte, die Pilotenlizenz erworben. Liebevoll berührte er den Rand des schwarzen Armaturenbretts mit einem Finger, dann strich er mit dem Daumen über die eingelegte Holzverblendung. Sonderbar, daß von so vielen Dingen, die zurückblieben — und so viel Verlust — eine tote Maschine derartige Bedeutung gewinnen konnte. Freiheit, Prestige… In den nächsten Wochen, wenn er noch so viel Zeit hatte, würde es offensichtlich viele Veränderungen geben, auch jenseits des Physischen. Er würde sich mit seiner Schwäche, seiner Vergänglichkeit abfinden müssen.

Die Maschine war auf dem New Yorker La Guardia- Flughafen aufgetankt worden, ohne daß er das Cockpit verlassen hatte. Er hatte die Anweisungen über Funk durchgegeben, war zur Auftankanlage für Privatmaschinen gerollt und hatte die Triebwerke ausgeschaltet. Das Flughafenpersonal hatte seine Arbeit rasch und routiniert verrichtet, und er hatte mit der Flugkontrolle den Weiterflug verabredet. Nicht ein einziges Mal hatte er menschliche Haut berühren oder auch nur dieselbe Luft atmen müssen wie das Bodenpersonal.

In Reykjavik mußte er die Maschine verlassen und dem Auftanken selbst beiwohnen. Aber er trug einen Schal fest um Mund und Nase gewickelt und vergewisserte sich, daß er mit den bloßen Händen nichts berührte.

Auf dem Flug nach Deutschland schien sein Sinn sich aufzuklären — und wurde in seiner Selbstanalyse unbequem akut. Keine der Schlußfolgerungen, zu denen er gelangte, wollte ihm gefallen. Er versuchte, sie zu verdrängen, doch gab es im Cockpit wenig, was seine Aufmerksamkeit vollständig fesseln konnte, und die Bemerkungen und Selbstanklagen kehrten alle paar Minuten wieder, bis er den Autopiloten einschaltete und sie gewähren ließ.

Sehr bald würde er tot sein. Es war sicherlich eine edle Art der Selbstaufopferung, daß er sich Pharmek zur Verfügung stellte, und damit der Welt, die möglicherweise noch nicht kontaminiert war. Aber es konnte bei weitem nicht gutmachen, was er hatte geschehen lassen.

Wie hätte er es wissen können?

»Milligan wußte es«, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Hol sie alle der Teufel!« Vor allem Vergil Ulam; aber war er Vergil nicht ähnlich? Nein, er weigerte sich, das zuzugeben. Vergil war ein kluger Kopf gewesen (er sah den geröteten, blasigen Körper in der Badewanne schwimmen, war gewesen war gewesen), aber unverantwortlich, blind für die Sicherheitsvorkehrungen, die er als Wissenschaftler schon beinahe instinktiv hätte ergreifen müssen. Wenn Ulam andererseits diese Sicherheitsvorkehrungen getroffen hätte, wäre er niemals in der Lage gewesen, seine Arbeit zu vollenden.

Niemand hätte es erlaubt.

Und Michael Bernard kannte nur zu gut die Enttäuschung und Frustration, im Verfolg einer aussichtsreichen Forschungsarbeit behindert oder blockiert zu werden. Er hätte Tausende, die an der Parkinsonschen Krankheit litten, heilen können — wenn ihm nur erlaubt worden wäre, Gehirngewebe von abgetriebenen Embryonen zu sammeln. Statt dessen hatten die Leute mit und ohne Gesichter in ihrem moralischen Eifer nicht nur erreicht, daß er seine Versuche aufgeben mußte, sondern auch zugelassen, daß Tausende von Kranken weiterhin leiden mußten. Wie oft hatte er gewünscht, daß die junge Mary Shelley niemals ihr Buch geschrieben hätte, oder daß sie wenigstens darauf verzichtet hätte, einen deutschen Namen für ihren Wissenschaftler zu wählen. All die Verkettungen des frühen neunzehnten mit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, die in den Gehirnen der Menschen zusammenliefen…

Ja, ja, und hatte er nicht soeben Ulam wegen seiner Brillanz verflucht, und war ihm nicht derselbe Vergleich in den Sinn gekommen?

Frankensteins Ungeheuer. Unvermeidlich. Langweilig offensichtlich.

Die Menschen fürchteten sich so sehr vor dem Neuen, vor Veränderung.

Und nun fürchtete auch er sich, obgleich er zugab, daß seine Furcht begründet war. Am besten gab er sich rational, stellte sich zum Studium zur Verfügung, ein unbeabsichtigtes Menschenopfer wie Dr. Louis Slotin 1946 in Los Alamos. Slotin und sieben andere, die an der Entwicklung der amerikanischen Atomrüstung mitgearbeitet hatten, waren durch einen Betriebsunfall einem jähen Ausbruch ionisierter Strahlung ausgesetzt worden. Slotin hatte die sieben anderen angewiesen, sich nicht zu bewegen. Dann hatte er Kreise um seine und ihre Füße gezogen, um anderen Wissenschaftlern brauchbare Daten über Entfernung von der Quelle und Strahlungsintensität zu geben, auf denen sie ihre Untersuchungen aufbauen konnten. Slotin war neun Tage später gestorben. Ein zweiter Beteiligter starb nach zwanzig Jahren an Komplikationen, die der Strahlung zugeschrieben wurden. Zwei weitere starben an akuter Leukämie.

Menschliche Versuchstiere. Selbstbeherrschter Slotin.

Hatten sie in jenen schrecklichen Augenblicken gewünscht, daß niemand jemals das Atom gespalten hätte?

Pharmek verfügte über eine eigene Landepiste zwei Kilometer entfernt von ihrem Forschungszentrum außerhalb Wiesbadens, um Geschäftsleute und Wissenschaftler aus aller Herren Länder zu empfangen und den Erhalt und die Verarbeitung von Pflanzen- und Bodenproben, die von Forschungsgruppen überall in der Welt eingesandt wurden, zu beschleunigen. Bernard kreiste in dreitausend Metern Höhe über dem Streifenmuster der Felder, Wiesen und Wälder, während das Morgengrauen den Osthimmel bleichte.

Er schaltete die Funkpeilung auf das automatische Landesystem und aktivierte zweimal das Mikrofon, um die Platzbeleuchtung einzuschalten. Der Landestreifen mit seinen Lichtern erschien unter ihm im trüben Grau des frühen Morgens. Ein Pfeil von Lichtern auf einer Seite zeigte die Windrichtung an.

Bernard folgte den Lichtern und Anweisungen des Landessystems, fühlte das Aufsetzen und Quietschen der Räder auf dem Beton der Landepiste, gefolgt von dumpf rumpelndem Ausrollen. Eine perfekte Landung, die letzte, die das schnittige Düsenflugzeug jemals machen würde.

Zur Linken konnte er einen großen weißen Lastwagen und Personal in Schutzanzügen sehen, die darauf warteten, daß er von der Piste auf einen Standplatz manövrierte. Sie ließen die Maschine nicht aus dem Lichtkegel eines Scheinwerfers. Er winkte aus dem Fenster und bedeutete ihnen zu bleiben, wo sie waren. Über den Bordfunk sagte er: »Ich brauche einen Schutzanzug ungefähr hundert Meter von der Maschine entfernt. Und der Wagen wird weitere hundert Meter jenseits stehen müssen.« Ein Mann, der auf dem Trittbrett des Fahrerhauses stand, hörte den Empfang mit und signalisierte ihn mit erhobenem Daumen. Ein Schutzanzug wurde am Rand der Landepiste niedergelegt, und der Lastwagen und das Personal vergrößerten ihre Distanz.

Bernard ließ die Triebwerke auslaufen, schaltete die Zündung aus und ließ nur die Innenbeleuchtung und das Treibstoff- Notabwurfsystem aktiviert. Darauf klemmte er seinen Aktenkoffer unter den Arm, trat in die Passagierkabine und nahm aus dem Gepäckabteil einen Aluminiumkanister mit Desinfektionsmittel. Mit einem tiefen Atemzug zog er sich eine Filtermaske aus Gummi über den Kopf und las die Instruktionen an der Seite des Kanisters. Der schwarze, zulaufende Stutzen war mit einem flexiblen Plastikschlauch und einer Messingarmatur versehen. Diese paßte genau auf das Ventil im Kanister und ließ sich festziehen. Den Schlauch in einer Hand und den Kanister in der anderen, kehrte er ins Cockpit zurück und besprühte Instrumente, Sitz, Boden und Decke, bis alles von der milchig grünen, giftigen Flüssigkeit troff. Dann ging er wieder in die Passagierkabine und besprühte alles, was er angefaßt hatte, und noch mehr. Als der Kanister leer war, schraubte er das Druckventil auf und legte den Kanister auf einen der ledergepolsterten Sitze. Auf einen Hebeldruck öffnete sich zischend die Luke und fuhr die Ausstiegstreppe aus.

Er befühlte die Hosentasche, um sich zu vergewissern, daß er die Leuchtpistole bei sich hatte, fühlte nach den sechs zusätzlichen Leuchtpatronen und stieg die Treppe hinunter auf den Beton der Piste. Ungefähr zehn Meter vor der hellrot lackierten Nase der Maschine stellte er den Aktenkoffer ab.

Schritt für Schritt machte er sodann die Maschine unbrauchbar. Zuerst öffnete und entleerte er die hydraulischen Systeme, dann schnitt er die Reifen auf und ließ die Luft heraus. Mit einer Axt schlug er das Fenster auf der Steuerbordseite ein, dann die drei Fenster der Passagierkabine backbords. Um sie zu erreichen, mußte er auf die Tragfläche klettern.

Dann ging er wieder an Bord und ins Cockpit, beugte sich über den vom Desinfektionsmittel durchnäßten Pilotensitz und zog die Schutzkappe vom Treibstoff-Notabwurfschalter. Mit einem scharfen Knacken gab der Schalter unter seinem Finger nach, und die Ventile öffneten sich. Eilig verließ er die Maschine, nahm den Aktenkoffer auf und rannte zu der Stelle, wo der graue und orangefarbene Schutzanzug auf dem Beton lag.

Die Techniker hatten keinen Versuch gemacht, sich einzumischen. Bernard zog die Leuchtpistole und ihre Patronen aus der Tasche, legte seine Kleider ab und zog den Schutzanzug über. Er knüllte die Kleidung zusammen, trug sie zu der sich ausbreitenden Kerosinpfütze unter der Maschine und warf sie hinein. Er kehrte zurück und öffnete den Aktenkoffer, nahm seinen Paß heraus und steckte ihn in einen Plastikbeutel. Dann hob er die Leuchtpistole.

Er zielte sorgfältig, hoffte, daß die Flugbahn nicht allzu stark gekrümmt sein würde, und feuerte eine Leuchtkugel auf den Gegenstand seiner Freude und seines Stolzes.

Das Kerosin geriet in Brand, und innerhalb von Sekunden war die Maschine in ein Inferno orangegelber Flammen und brodelnden schwarzen Qualms gehüllt. Bernard nahm seinen Aktenkoffer und ging auf den Lastwagen zu.

Ein Zollbeamter befand sich wahrscheinlich nicht unter den Anwesenden, aber um sich keiner Verletzung geltenden Rechts schuldig zu machen, hielt er den in Plastik gehüllten Paß in die Höhe und zeigte darauf. Ein Mann in einem ähnlichen Schutzanzug nahm ihn aus seiner Hand.

»Nichts zu verzollen«, sagte Bernard. Der Mann hob zum Zeichen, daß er verstanden hatte, die Hand an den Helm und trat zurück. »Sprühen Sie mich bitte ein!«

Er drehte sich im Schauer des Desinfektionsmittels, hob die Arme und abwechselnd die Beine. Als er die Stufen in den Isoliertank des Lastwagens erstieg, hörte er das leise Summen der Luftzirkulation und sah den violetten Schein ultravioletter Lampen. Die Tür schloß sich hinter ihm, hielt inne und sank dann mit einem leisen Seufzer in ihre luftdichte Versiegelung.

Während der Lastwagen auf einer schmalen Straße durch Wiesenland fuhr, spähte Bernard durch das dicke Glas eines seitlichen Fensters zurück zur Landepiste. Der Rumpf der Düsenmaschine war zu einem geschwärzten, verbogenen Skelett zusammengesunken. Noch immer loderten Flammen hoch in den Sommermorgen. Der Brand schien alles zu verzehren.

19

Heinz Paulsen-Fuchs beobachtete die auf dem Bildschirm seines Speichergerätes verzeichneten Anrufe. Es ging schon los. Nachfragen mehrerer Behörden lagen vor, darunter vom Bundesumweltamt, dem Bundesgesundheitsministerium und dem Hessischen Umweltministerium.

Alle Flüge nach und von den Vereinigten Staaten waren storniert. Er mußte damit rechnen, daß innerhalb der nächsten Stunden Beamte der zuständigen Behörden bei ihm erscheinen würden. Ehe sie eintrafen, mußte er Bernards Erklärung hören.

Nicht zum erstenmal in seinem Leben bedauerte er, einem Freund Hilfe geleistet zu haben. Es war nicht der geringste seiner Fehler. Einer der wichtigsten Industriellen im Nachkriegsdeutschland, und immer noch ein weichherziger Gefühlsmensch, der nicht nein sagen konnte.

Er zog einen transparenten Regenmantel über seinen gutsitzenden grauen Wollanzug und drückte eine Baskenmütze auf sein lockiges weißes Haar. Dann wartete er beim Eingang auf den regenbeperlten Citroen.

»Morgen, Uwe«, begrüßte er den Chauffeur, der ihm den Schlag öffnete. »Für Richard, wie versprochen.« Er beugte sich über den Sitz und gab Uwe drei Taschenbücher. Richard war der zwölfjährige Sohn des Chauffeurs und wie Paulsen- Fuchs ein Liebhaber von Kriminalromanen. »Fahren Sie noch schneller als sonst!«

»Sie werden mir vergeben, daß ich Sie nicht am Flugfeld abgeholt habe«, sagte Paulsen-Fuchs. »Ich war hier und bereitete mich auf Ihre Ankunft vor, und dann wurde ich abgerufen.

Es liegen bereits Nachfragen von Regierungsbehörden vor. Offensichtlich ist eine sehr ernste Entwicklung eingetreten. Sie sind darüber im Bilde?«

Bernard trat an die dicke Panzerglasscheibe des Fensters, das seinen isolierten Laboratoriumsbereich vom benachbarten Besuchszimmer trennte. Er hob die Hand, die von weißlichen Schwielen überzogen war und sagte: »Ich bin infiziert.«

Paulsen-Fuchs betrachtete Bernards Hand mit zusammengekniffenen Augen, dann sagte er: »Sie sind allem Anschein nach nicht der einzige, Michael. Was geschieht in Amerika?«

»Ich habe seit meinem Abflug nichts gehört.«

»Ihre Behörde für Seuchenkontrolle in Atlanta hat Seuchenalarm gegeben und verbreitet Verhaltensmaßnahmen für den Katastrophenfall. Alle nationalen und internationalen Flüge sind storniert. Gerüchte besagen, daß einige Städte von der Kommunikation mit der Außenwelt abgeschnitten seien. Es scheint ein rasch um sich greifendes Chaos zu herrschen. Nun, Sie kommen zu uns, verbrennen Ihre Maschine auf unserer Landepiste und vergewissern sich sehr gründlich, daß Sie das einzige von Ihrem Land sind, das in unserem überlebt — alles andere ist sterilisiert. Was für einen Reim sollen wir uns auf dies alles machen, Michael?«

»Heinz, es gibt mehrere Maßnahmen, die alle Länder augenblicklich ergreifen müssen. Sie müssen alle Reisenden, die in letzter Zeit aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko eingereist sind, unter Quarantäne stellen. Ich habe keine Ahnung, wie weit die Ansteckung sich ausbreiten wird, aber sie scheint sehr schnell voranzukommen.«

»Ja, unsere Regierung ist dabei, diese Maßnahmen zu ergreifen. Aber Sie kennen die Bürokratie…«

»Umgehen Sie die Bürokratie. Brechen Sie alle physikalischen Kontakte mit Nordamerika ab!«

»Ich kann das nicht einfach bewirken, indem ich Behauptungen aufstelle.«

»Heinz«, sagte Bernard, und wieder hob er die Hand vor die Scheibe, »ich habe vielleicht noch eine Woche, weniger, wenn das, was Sie sagen, zutrifft. Erklären Sie Ihrer Regierung, das dies mehr ist als bloß eine Panne in einem Labor. Ich habe alle wichtigen Aufzeichnungen in meinem Aktenkoffer. Sobald ich ein paar Stunden geschlafen habe, muß ich mit Ihren führenden Biologen sprechen. Bevor sie mit mir sprechen, möchte ich, daß Sie die Unterlagen sehen, die ich mitgebracht habe. Ich werde die Disketten hier in den Datenanschluß stecken. Viel mehr kann ich jetzt nicht sagen; wenn ich nicht bald schlafen kann, falle ich um.«

»In Ordnung, Michael.« Paulsen-Fuchs schaute ihn traurig an, das Gesicht von tiefen Sorgenfalten gefurcht. »Ist es etwas, womit wir als Möglichkeit rechnen konnten?«

Bernard überlegte einen Augenblick lang. »Nein, das glaube ich nicht.«

»Um so schlimmer«, sagte Paulsen-Fuchs. »Ich werde die notwendigen Vorbereitungen treffen. Geben Sie Ihr Datenmaterial durch! Und schlafen Sie!« Paulsen-Fuchs ging, und das Licht im Besucherraum wurde ausgeschaltet.

Bernard schritt die drei mal drei Meter seines neuen Heimes ab. Das Labor war Anfang der achtziger Jahre für genetische Experimente eingerichtet worden, die damals als potentiell gefährlich angesehen wurden. Die gesamte innere Kammer war aufgehängt in einem Hochdrucktank; Brüche, Leckagen und Risse in der inneren Kammer führten dazu, daß Luft eindrang, nicht entwich. Der Drucktank konnte mit mehreren Desinfektionsmitteln besprüht werden und steckte in einer weiteren Stahlumhüllung, in der ein annäherndes Vakuum herrschte. Alle elektrischen Leitungen und mechanischen Systeme, die durch die Tanks verlaufen mußten, waren ummantelt und steckten in Desinfektionslösungen. Luft und Abfallmaterialien, die den Laborbereich verließen, wurden durch Hitze sterilisiert und verbrannt; alle dem Labor entnommenen Proben wurden in einem benachbarten Raum unter den gleichen Sicherheitsvorkehrungen verarbeitet oder weiterbehandelt. Bis das Problem gelöst oder er tot wäre, würde er von nun an nichts von Bernards Körper mit einem anderen Lebewesen außerhalb der Kammer in Berührung kommen.

Die Wände waren von einem neutralen Hellgrau; in Decke und Seitenwände eingelassene und verkleidete Leuchtstoffröhren verbreiteten Licht. Es konnte sowohl von innen wie auch von außen ein- und ausgeschaltet werden. Der Boden war schwarz gefliest. In der Mitte des Raums — deutlich sichtbar vom benachbarten Besucherraum — stand ein gewöhnlicher Schreibtisch mit einem Sessel, und auf dem Schreibtisch ein Datenanschluß mit Videoeinrichtung. Ein einfaches, aber bequem aussehendes Feldbett ohne Laken erwartete ihn in einer Ecke. Neben einer Klappe aus rostfreiem Stahl stand eine Stahlkommode. Ein großes, rechteckiges Feld in einer Wand markierte eine Luke für größere Gegenstände. Die Einrichtung wurde vervollständigt von einem Sessel und einer Duschkabine mit Plastikvorhang, die aussah, als sei sie in einem Stück aus einem Flugzeug oder einem Campingwagen ausgebaut worden.

Er nahm Hemd und Hose, die auf dem Feldbett für ihn bereitlagen, und befühlte das Material mit Daumen und Zeigefinger. Von nun an würde es keine Zurückgezogenheit geben. Er war keine Privatperson mehr. Bald würde man ihn untersuchen, Proben entnehmen, Hirnströme messen und ihn ganz allgemein wie ein Versuchskaninchen behandeln.

Gut so, dachte er, als er sich auf dem Feldbett ausstreckte. Ich verdiene es. Was immer jetzt geschieht, es geschieht mir recht. Mea culpa.

Bernard entspannte sich und schloß die Augen.

Sein Pulsschlag sang ihm in den Ohren.

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