ANAPHASE Juni-September

1

La Jolla, Kalifornien

Das rechteckige, schiefergraue Schild erhob sich auf einem niedrigen Hügel lindgrünen und büscheligen koreanischen Grases, umgeben von Schwertlilien und auf einer Seite flankiert von einem dunklen, zementierten Teich, auf dem Seerosen blühten. In die Straßenseite der Tafel war der Name GENETRON in roter Antiquaschrift graviert, und unter dem Namen stand das Motto: Wo kleine Dinge große Veränderungen bewirken.

Die Laboratorien und Büros der Genetron waren in einem u- förmigen kahlen Betongebäude im Bauhausstil untergebracht, dessen Flügel einen rechteckigen Gartenhof umgaben. Der Hauptkomplex hatte zwei Ebenen mit außenliegenden Korridoren. Jenseits des Hofes und hinter einem künstlichen Hügel, dessen neue Bepflanzung noch nicht vollständig war, stand ein vierstöckiges, würfelförmiges Bauwerk mit schwarzen Glasfassaden hinter einem elektrifizierten Stacheldrahtzaun.

Dies waren die zwei Seiten der Genetron: die offenen Laboratorien, wo die Biochip-Forschung betrieben wurde, und das Gebäude, wo im Auftrag des Verteidigungsministeriums militärische Anwendungen erforscht wurden.

Selbst für die offenen Laboratorien galten strenge Sicherheitsbestimmungen. Alle Beschäftigten trugen laserbedruckte Plaketten, und der Zutritt Nichtbeschäftigter zu den Laboratorien wurde sorgfältig überwacht. Die Firmenleitung der Genetron — fünf Absolventen der Stanford- Universität, die drei Jahre nach beendetem Studium die Gesellschaft gegründet hatte — war sich darüber im klaren, daß Industriespionage bei weitem wahrscheinlicher war als ein geheimdienstlicher Einbruch in den schwarzen Würfel. Doch war die Atmosphäre nach außen hin gelockert und heiter, und man gab sich große Mühe, die Sicherheitsmaßnahmen unauffällig durchzuführen.

Ein lang aufgeschossener Mann mit gebeugten Schultern und widerspenstigem schwarzen Haar befreite sich aus dem Innern eines roten Volvo-Sportwagens und nieste zweimal, bevor er den Angestelltenparkplatz überquerte. Die Gräser begannen ihre frühsommerliche Blüte, und ihr Pollen bewirkte eine wahre Orgie von Schleimhautreizungen. Beiläufig grüßte er Walter, den nicht mehr jungen, aber drahtigen Wachmann. Walter überprüfte ebenso beiläufig seine Plakette, indem er sie durch das Laser-Ablesegerät laufen ließ. »Nicht viel Schlaf gehabt, Mr. Ulam?« sagte er.

Vergil schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Parties, Walter.« Seine Augen waren gerötet, die Nase vom ständigen Reiben mit dem Taschentuch, das nun feucht und ergeben in seiner Tasche ruhte, angeschwollen.

»Wieso arbeitende Menschen wie Sie mitten in der Woche zu Parties gehen können, verstehe ich nicht.«

»Die Damen verlangen es, Walter«, sagte Vergil im Weitergehen. Walter grinste und nickte, obwohl er seine Zweifel daran hatte, daß Vergil viel von Damen beansprucht wurde, sei es mit oder ohne Parties. Wenn seit Walters Tagen kein ernstlicher Verfall der gesellschaftlichen Normen stattgefunden hatte, konnte niemand mit einem wochenalten Stoppelbart auf große Erfolge hoffen.

Ulam war bei Genetron nicht die einnehmendste Gestalt. Seine Einsneunzig wurden von sehr großen Plattfüßen getragen. Er hatte fünfundzwanzig Pfund Übergewicht und litt mit zweiunddreißig Jahren unter Rückenschmerzen und zu hohem Blutdruck. Es war ihm unmöglich, sich so sauber zu rasieren, daß kein Bartschatten sichtbar war.

Seine Stimme war nicht geeignet, Freunde zu gewinnen — rauh, etwas schnarrend und zur Lautheit neigend.

Zwei Jahrzehnte in Kalifornien hatten seinen texanischen Akzent geglättet, doch wenn er sich aufregte oder zornig wurde, setzte sich das alte Idiom mit beinahe schmerzhafter Deutlichkeit durch.

Seine einzige Auszeichnung waren ein Paar von üppigen langen Wimpern verteidigte, wunderbar smaragdgrüne Augen, groß und ausdrucksvoll. Sie waren jedoch mehr dekorativ als funktional, denn sie blickten durch eine große Brille mit schwarzem Gestell. Vergil war kurzsichtig.

Zwei und drei Stufen auf einmal nehmend, erstieg er die Treppe. Im zweiten Stock ging er den offenen Korridor entlang zum gemeinsamen Geräteraum der Biochip-Abteilung, bekannt unter dem Namen Gemeinschaftslabor. Üblicherweise begann sein Arbeitstag mit der Überprüfung von Proben in einer der fünf Ultrazentrifugen. Seine letzte Partie rotierte seit sechzig Stunden mit mehr als dreitausend Umdrehungen pro Minute und war jetzt bereit für die Analyse.

Für einen Mann seiner Größe hatte Vergil überraschend feine und empfindsame Hände. Er hob einen kostspieligen schwarzen Titanrotor aus der Ultrazentrifuge und schloß die stählerne Vakuumverriegelung. Er legte den Rotor auf einen Arbeitstisch und entfernte nacheinander die fünf gedrungenen Glasröhren, die in Schlingen unter der pilzähnlichen Kappe aufgehängt waren. In jeder Röhre hatten sich mehrere klar abgegrenzte weißliche bis beigefarbene Schichten gebildet.

Hinter dem dicken Brillenrand hoben sich die buschigen schwarzen Brauen und zogen sich zusammen. Er lächelte und zeigte Zähne, die vom Trinken fluorisierten Wassers seit seiner Kindheit bräunlich gefleckt waren.

Er war im Begriff, die Pufferlösung und die unerwünschten Schichten abzusaugen, als das Labortelefon piepte. Er stellte das Glas in einen Ständer und nahm den Hörer ab. »Gemeinschaftslabor, Ulam.«

»Vergil, Rita hier. Ich sah Sie hereinkommen, aber Sie waren nicht in Ihrem Labor…«

»Weil ich hier bin. Was gibt es, Rita?«

»Sie baten mich… ah… sagten mir, ich solle Ihnen Bescheid geben, wenn ein gewisser Herr kommt. Ich glaube, er ist hier.«

»Michael Bernard?« fragte Vergil mit erhobener Stimme.

»Ich glaube, er ist es. Aber…«

»Ich komme sofort.«

»Vergil…«

Er legte auf und stand noch einen kurzen Moment unschlüssig über den Gläsern, dann ließ er sie, wo sie waren.

Genetrons Foyer war ein kreisförmiger Auswuchs im Erdgeschoß der Ostecke, umgeben von Panoramafenstern und großzügig ausgestattet mit Zimmerpflanzen in verchromten Übertöpfen. Die Morgensonne schien weiß und blendend herein und brachte den himmelblauen Teppichboden zum Leuchten, als Vergil von der Laborseite hereinkam. Rita stand hinter ihrem Schreibtisch auf, als er vorbeiging.

»Vergil…«

»Danke«, sagte er. Sein Blick war unverwandt auf den distinguiert aussehenden grauhaarigen Mann gerichtet, der bei dem einzigen Sofa stand. Es gab keinen Zweifel, der Mann war Michael Bernard. Vergil erkannte ihn von Abbildungen und dem Titelfoto, das die Zeitschrift Time von ihm gebracht hatte. Vergil streckte die Hand aus und setzte ein breites Lächeln auf. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Bernard.«

Bernard schüttelte ihm die Hand, schien aber verwirrt.

Gerald T. Harrison stand in der breiten Doppeltür des eleganten Vorzeigebüros der Genetron, einen Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Bernard blickte hilfesuchend zu Harrison.

»Ich bin sehr froh, daß Sie meine Nachricht erhalten haben«, fuhr Vergil fort, bevor er auf Harrisons Anwesenheit aufmerksam wurde.

Harrison beendete sofort sein Gespräch und warf den Hörer auf die Gabel. »Rang hat seine Vorrechte, Vergil«, sagte er mit einem heuchlerischen Lächeln und nahm neben Bernard Aufstellung.

»Entschuldigen Sie, was für eine Nachricht?« fragte Bernard.

»Dies ist Vergil Ulam, einer unserer besten Forscher«, sagte Harrison. »Wir alle sind sehr erfreut über Ihren Besuch, Mr. Bernard. Vergil, ich werde später auf diese Angelegenheit zurückkommen, die Sie besprechen wollten.«

Er hatte Harrison nicht um eine Besprechung gebeten. »Gewiß«, sagte Vergil. In ihm nagte das alte und nur zu vertraute Gefühl, übergangen und beiseite gestoßen zu werden.

Bernard hatte keine Ahnung, wer er war.

»Später, Vergil«, sagte Harrison mit Betonung.

»Gewiß, selbstverständlich.« Er wich zurück, blickte bittend zu Bernard, dann machte er kehrt und ging schwerfällig durch die rückwärtige Tür hinaus.

»Wer war das?« fragte Bernard.

»Ein sehr ehrgeiziger Bursche«, antwortete Harrison, dessen Miene sich verdüstert hatte. »Aber wir haben ihn unter Kontrolle.«


Harrison hatte sein Arbeitsbüro am Westende des Laboratoriumsgebäudes im Erdgeschoß. Der Raum war umgeben von Bücherregalen. Das in Augenhöhe befindliche Regal hinter dem Schreibtisch enthielt Loseblattsammlungen in schwarzen Plastikmappen. Darunter war eine Reihe von Telefonbüchern — Harrison sammelte alte Telefonbücher —, und mehrere Regale waren vollgestopft mit Bänden über elektronische Datenverarbeitung. Auf der schwarzen Schreibtischplatte lag eine Schreibunterlage mit Lederrand mit einer Schreibgarnitur. Daneben stand ein Datenanschluß.

Von den Gründern der Genetron waren nur Harrison und William Yng lange genug geblieben, daß sie die Aufnahme des Laborbetriebs miterlebt hatten. Beide waren mehr zum Kaufmännischen als zur Forschung orientiert, obwohl ihre Promotionsurkunden eingerahmt an der holzgetäfelten Wand hingen.

Harrison lehnte sich im Sessel zurück, die Arme oben und die Hände im Nacken verschränkt. Vergil bemerkte eine Andeutung von Schweißflecken in den Achselhöhlen.

»Vergil, das war sehr peinlich«, sagte er. Sein weißblondes Haar war kunstvoll angeordnet, um den vorzeitig gelichteten Scheitel zu bedecken.

»Er tut mir leid«, sagte Vergil.

»Mir auch. Sie baten also Dr. Bernard, unsere Labors zu besuchen.«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich dachte, er würde sich für die Arbeit interessieren.«

»Das dachten wir auch. Deshalb luden wir ihn ein. Ich glaube nicht, daß er von Ihrer Einladung überhaupt wußte, Vergil.«

»Anscheinend nicht.«

»Sie handelten hinter unserem Rücken.«

Vergil stand vor dem Schreibtisch und schaute trübe auf die Rückseite des Bildschirmgerätes.

»Sie haben viel nützliche Arbeit für uns getan. Rothwild sagt, Sie seien brillant, vielleicht sogar unersetzlich.« Rothwild war der Biochips-Projektleiter. »Aber andere sagen, man könne sich nicht auf Sie verlassen. Und nun dies.«

»Bernard…«

»Nicht Mr. Bernard, Vergil. Dies!« Er drehte das Bildschirmgerät herum und drückte einen Knopf der Tastatur. Auf dem Bildschirm erschien Vergils geheime Computerakte. Seine Augen weiteten sich, und die Kehle wurde ihm plötzlich eng, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich habe noch nicht alles gelesen, aber es scheint, daß Sie sich mit Einigen sehr verdächtigen Dingen beschäftigen. Möglicherweise unethisch. Hier bei Genetron halten wir uns an die Richtlinien, besonders im Hinblick auf unsere zukünftige Marktstellung. Aber nicht allein aus diesem Grund. Ich möchte gern glauben, daß wir hier eine ethisch einwandfreie Arbeit leisten.«

»Ich tue nichts Unethisches, Gerald.«

»So?« Harrison stoppte den Ablauf der Zeilen. »Sie entwickeln neue DNS-Ergänzungen für verschiedene NIH- gesteuerte Mikroorganismen. Und Sie haben mit Säugetierzellen gearbeitet. Wir arbeiten hier nicht an Säugetierzellen. Wir sind für die biologischen Risiken nicht ausgerüstet — nicht in den Hauptlabors. Aber ich nehme an, Sie könnten mir die Sicherheit und die unschädliche Natur Ihrer Forschung demonstrieren. Sie haben doch nicht vor, eine neue Seuche zu schaffen, um sie an die Revolutionäre in der Dritten Welt zu verkaufen, nicht wahr?«

»Nein.«

»Gut. Einiges von diesem Material entzieht sich meinem Verständnis. Man gewinnt den Eindruck, daß Sie gern unser MAB-Projekt erweitern möchten. Das könnte wertvoll sein.« Er hielt inne. »Was in Gottes Namen tun Sie eigentlich, Vergil?«

Vergil nahm die Brille ab und wischte die Gläser mit einem Zipfel seines Arbeitskittels. Plötzlich mußte er niesen — laut und naß. Er schnüffelte.

Harrison machte ein etwas angewidertes Gesicht. »Wir haben den Code erst gestern geknackt. Beinahe durch Zufall. Warum haben Sie diese Arbeit versteckt? Handelt es sich um etwas, wovon wir nichts wissen sollen?«

Ohne seine Brille sah Vergil hilflos aus. Er begann eine Antwort zu stammeln, dann brach er ab und schob das Kinn vor. Seine schwarzen Brauen zogen sich in schmerzlicher Verwirrung zusammen.

»Mir scheint, Sie haben mit unserer Genmaschine gearbeitet. Unerlaubt, versteht sich, aber Sie haben von jeher ein gebrochenes Verhältnis zur Autorität, nicht wahr?«

Vergils Gesicht überzog sich mit tiefer Röte.

»Fehlt Ihnen was?« fragte Harrison. Es bereitete ihm ein perverses Vergnügen, Vergil in Verlegenheit zu bringen. Ein Lächeln drohte Harrisons forschenden Ausdruck zu durchbrechen.

»Mir fehlt nichts«, sagte Vergil. »Ich hatte… arbeite an Biologik.«

»Biologik? Der Begriff ist mir nicht vertraut.«

»Ein Ableger der Biochips. Autonome organische Computer.« Der Gedanke, darüber hinaus etwas zu sagen, war qualvoll. Er hatte Bernard geschrieben — ohne Ergebnis, wie es schien — und ihn eingeladen, die Arbeit zu besichtigen. Er wollte nicht alles Genetron überlassen, solange in seinem Vertrag stand, daß sämtliche Ergebnisse seiner Arbeit als Angestellter der Firma zufielen. Es war eine so einfache Idee, auch wenn die Arbeit an ihrer Verwirklichung zwei Jahre erfordert hatte — zwei arbeitsreiche und geheimniskrämerische Jahre.

»Was ich gelesen habe, macht mich neugierig.« Harrison drehte das Bildschirmgerät wieder herum und ließ den Text weiterlaufen. »Wir sprechen offenbar nicht bloß über Proteine und Aminosäuren. Sie pfuschen hier mit Chromosomen herum. Mit Kombinationen und Rekombinationen von Säugetiergenen; und wie ich sehe, vermischen Sie sie mit Genen von Bakterien und Viren.« Der Glanz verlor sich aus seinen Augen. Sie wurden hart und felsgrau. »Mit diesen Dingen, Vergil, könnten Sie erreichen, daß Genetron auf der Stelle dichtmachen muß, ist Ihnen das klar? Wir haben für derlei Dinge keine Sicherheitsvorkehrungen. Und Sie arbeiten nicht einmal unter vorschriftsmäßigen Bedingungen.«

»Ich arbeite nicht mit reproduktiven Genen.«

»Gibt es andere?« Harrison richtete sich plötzlich auf, zornig, daß Vergil offenbar glaubte, ihm etwas vormachen zu können.

»Intronen. Ketten, die sich nicht nach der Proteinstruktur verschlüsseln.«

»Was soll damit sein?«

»Ich arbeite nur auf diesem Gebiet. Und mit der Hinzufügung weiteren nichtreproduktiven genetischen Materials.«

»Das hört sich sehr widersprüchlich an, Vergil. Es gibt keinerlei Beweise, daß Intronen sich nicht genetisch für etwas verschlüsseln lassen.«

»Ja, aber…«

»Aber…« Harrison hob abwehrend die Hand. »Das alles ist ganz irrelevant. Was immer Sie noch vorhaben, die Tatsache bleibt, daß Sie bereit waren, gegen Ihre Vertragsbedingungen zu verstoßen, uns zu hintergehen, indem Sie sich direkt an Bernard wandten, und versuchten, sich für Ihre persönlichen Ziele seiner Unterstützung zu versichern. Richtig?«

Vergil sagte nichts.

»Ich halte Sie nicht für einen weltklugen Mann, Vergil. Nicht in den Dingen der Geschäftswelt. Vielleicht haben Sie die Implikationen nicht erkannt.«

Vergil schluckte mühsam. Sein Gesicht war noch immer feuerrot. Er fühlte das Blut in den Schläfen pochen, benommen vom streßerzeugten Schwindelgefühl. Er nieste zweimal.

»Nun, ich werde Ihnen die Implikationen erklären. Sie sind nahe daran, eingemacht und als Hundefutter verkauft zu werden.«

Vergil hob nachdenklich die Brauen.

»Sie sind wichtig für das MAB-Projekt. Wäre dies nicht der Fall, würden Sie im Nu auf der Straße sitzen, und ich würde persönlich dafür sorgen, daß Sie nie wieder in einem Labor der Privatindustrie arbeiten. Aber Thornton und Rothwild und die anderen glauben, wir könnten Sie zurückgewinnen und vor sich selbst retten. Ich habe mit Yng noch nicht darüber gesprochen. Aber die Sache wird keine Weiterungen haben — wenn Sie sich korrekt verhalten.«

Er durchbohrte Vergil mit einem Blick, der unter gesenkten Brauen hervorschoß. »Sie stellen Ihre außerplanmäßigen Aktivitäten ein. Wir werden Ihre Aufzeichnungen dabehalten, aber ich wünsche, daß alle nicht mit dem MAB-Projekt verbundenen Experimente sofort beendet und alle Organismen, die in irgendeiner Weise verändert worden sind, zerstört werden. Ich werde Ihr Labor in zwei Stunden persönlich inspizieren. Wenn bis dahin nicht geschehen ist, was ich von Ihnen verlange, sind Sie fristlos entlassen. Zwei Stunden, Vergil! Keine Ausnahmen, keine Auslegungen!«

»Ja, Sir.«

»Das ist alles.«

2

Vergils Entlassung hätte seine Arbeitskollegen nicht allzusehr bekümmert. In den drei Jahren, die er bei Genetron arbeitete, hatte er sich ungezählter Verstöße gegen die Laboratoriumsordnung schuldig gemacht. Reagenzgläser und Schalen wusch er nur selten, und zweimal hatte man ihn dabei ertappt, daß er verschüttetes Äthidiumbromid, ein starkes Mutagen, nicht vom Arbeitstisch aufgewischt hatte. Auch im Umgang mit Radionukleiden zeigte er sich ziemlich unbekümmert. Die meisten Leute, mit denen er arbeitete, waren nicht eben Muster von Bescheidenheit. Schließlich waren sie junge Wissenschaftler, hervorragende Forschungskräfte auf einem vielversprechenden Gebiet — viele rechneten fest damit, daß sie in ein paar Jahren reich und im Besitz ihrer eigenen Firmen sein würden. Vergil paßte nicht in ihre Verhaltensmuster. Er arbeitete tagsüber still und intensiv und abends machte er Überstunden. Er war ungesellig, wenn man ihm auch nicht nachsagen konnte, daß er unfreundlich war; die meisten Leute ignorierte er einfach.

Er teilte ein Labor mit Hazel Overton, einer gewissenhaften und vorbildlichen Wissenschaftlerin, wie man sich keine bessere wünschen konnte. Hazel würde ihn am allerwenigsten vermissen. Vielleicht war sie es gewesen, die seine Unterlagen ausgeforscht hatte — sie war keine Anfängerin im Umgang mit dem Computer, und es war ihr zuzutrauen, daß sie nach etwas Ausschau hielt, was geeignet wäre, ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Aber er hatte keine Anhaltspunkte für solch eine Vermutung, und es hatte keinen Sinn, paranoid zu sein.

Im Labor war es dunkel, als Vergil die Tür öffnete. Hazel saß an einer kleinen UV-Lampe und führte eine Fluoreszenzuntersuchung an einer mit Elektrophorese behandelten Matrize mit Eiweißkörpern durch. Vergil schaltete das Licht ein. Sie blickte auf und nahm die Schutzbrille ab, bereit zu einer gereizten Bemerkung.

»Sie sind spät dran«, sagte sie statt dessen. »Und Ihr Labor sieht aus wie ein ungemachtes Bett. Vergil, es ist…«

»Kaputt«, beendete er den Satz für sie und warf seinen Kittel über seinen Hocker.

»Sie ließen eine Anzahl Reagenzgläser auf dem Tisch im Gemeinschaftslabor liegen. Ich fürchte, sie sind ruiniert.«

»Scheiß drauf!«

Hazel sah ihn groß an. »Meine Güte, in was für einer Stimmung Sie sind!«

»Ich bin abgemahnt worden. Ich muß meine außerplanmäßige Arbeit aufgeben und alles ausräumen, oder Harrison gibt mir den Laufpaß.«

»Das ist nicht mehr als recht und billig«, sagte Hazel und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Harrison hatte im Vormonat eine ihrer außerplanmäßigen Projekte stillgelegt. »Was haben Sie gesagt?«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber allein sein.« Vergil musterte sie finster über den Tisch hinweg. »Sie können das im Gemeinschaftslabor beenden.«

»Ich könnte, aber…«

»Wenn Sie es nicht tun«, sagte Vergil drohend, »werde ich Ihre kleinen Kulturen mit meinen Flügelspitzen auf den Boden schmieren.«

Hazel sah ihn eine kleine Weile aus schmalen Augen an und kam zu dem Schluß, daß er dazu imstande wäre. Sie schaltete die Elektroden ab, nahm ihre Sachen und ging zur Tür. »Mein Beileid«, sagte sie.

»Klar.«

Er mußte sich etwas ausdenken. Während er sich das stopplige Kinn kratzte, versuchte er einen Weg zu finden, der seine Verluste verringern würde. Er könnte die Teile des Experiments opfern, die entbehrlich waren — die E. coli- Kulturen zum Beispiel. Er war längst darüber hinaus, hatte sie gleichsam als Erinnerung an seine Fortschritte aufbewahrt, und als eine Art Reserve für den Fall, daß die nächsten Arbeitsstadien mit Fehlschlägen endeten. Es war jedoch alles gut gegangen. Zwar hatte er noch keinen Abschluß erreicht, war ihm aber so nahe, daß er den Erfolg wie einen kühlen, aromatischen Schluck Wein schmecken konnte.

Hazels Hälfte des Laboratoriums war aufgeräumt, sauber und ordentlich. Seine Hälfte war ein Chaos von Ausrüstungen und Chemikalienbehältern. Eines seiner wenigen Zugeständnisse an die Sicherheitsvorschriften, eine weiße Saugmatte zum Auffangen von verschütteten Flüssigkeiten, hing halb vom Arbeitstisch und wäre zu Boden gefallen, hätte nicht der Kanister mit Reinigungsmittel auf einem Zipfel gestanden.

Vergil stand vor der weißen Notiztafel, rieb sich den Stoppelbart und starrte auf die geheimnisvollen Botschaften, die er am Tag zuvor hingekritzelt hatte.


Kleine Ingenieure. Machen die winzigsten Maschinen der Welt. Besser als MABs! Kleine Chirurgen. Führen Krieg gegen Tumore. Computer mit Riesenkapazität. (Computer = Mustertumor, Ha!) Größe von Volvo.


Offensichtlich das Gefasel eines Verrückten. Hazel konnte ihm kaum Beachtung geschenkt haben. Oder vielleicht doch? Es war allgemein geübte Praxis, jede zufällige Idee oder Inspiration oder auch einen Scherz an die Tafel zu schreiben, wo sie vom nächsten eiligen Genius ausgelöscht wurden. Dennoch…

Die Bemerkungen könnten die Neugierde einer so klugen Frau wie Hazel erregt haben. Um so mehr als seine Arbeit an den MABs ins Hintertreffen geraten war.

Er war nicht sehr umsichtig vorgegangen.

MABs — Medizinisch anwendbare Biochips — sollten das erste praktische Erzeugnis der Biochip-Revolution sein, die Verbindung von Schaltkreisen aus Proteinmolekülen mit Silikonelektronik. Biochips waren in der Fachliteratur seit Jahren Gegenstand von Spekulationen, aber Genetron hoffte, der Bundesaufsichtsbehörde für Lebensmittel und Arzneien innerhalb der nächsten drei Monate erste einsatzfähige Muster zur Prüfung und Genehmigung einreichen zu können.

Sie sahen sich scharfem Wettbewerb ausgesetzt. In dieser Gegend, die bald unter dem Namen Enzyme Valley bekannt werden sollte — dem Biochip-Äquivalent von Silicon Valley —, hatten sich mindestens sechs Firmen niedergelassen, die meisten von ihnen in und um La Jolla. Einige hatten als Pharmazeutische Betriebe angefangen, in der Hoffung, mit den Erzeugnissen der Biochip-Forschung Geld zu verdienen. Genetron war das erste Unternehmen, das speziell zur Entwicklung und Herstellung von Biochips gegründet worden war.

Vergil nahm einen Löscher und radierte die Notizen methodisch aus. Seit er denken konnte, hatten die Umstände seines Lebens sich gegen ihn verschworen. Oft zog er das Unheil selbst auf sich — er war aufrichtig genug, das zuzugeben. Aber nicht ein einziges Mal war es ihm je gelungen, etwas bis zur Vollendung durchzuführen. Nicht in seiner Arbeit, nicht in seinem Privatleben.

Er war noch nie gut darin gewesen, die Konsequenzen seines Handelns zu ermessen.

Aus der Schreibtischschublade nahm er vier dicke, spiralgebundene Notizbücher und fügte sie dem wachsenden Haufen von Material hinzu, das aus dem Labor geschmuggelt werden mußte.

Er konnte nicht alles zerstören. Er mußte die Kulturen der weißen Blutkörperchen retten — seine speziellen Lymphozyten. Aber wo konnte er sie aufbewahren? Was konnte er außerhalb des Labors tun?

Nichts. Es gab keinen Ort, wohin er sich wenden konnte. Genetron hatte alle Einrichtungen, die er benötigte, und es würde Monate dauern, ein neues Laboratorium einzurichten. Während dieser Zeit aber würde seine Arbeit buchstäblich auseinanderfallen.

Vergil ging durch die rückwärtige Tür aus dem Labor in den inneren Korridor und passierte einen Duschraum für Notfälle. Die Inkubatoren befanden sich in einem eigenen Raum jenseits des Gemeinschaftslabors. Dort standen sieben grau emaillierte, kühlschrankgroße Kästen an der Wand, elektronische Monitore, die still und wirksam Temperaturen und Kohlendioxidgehalt in jeder Einheit überwachten. Im hinteren Teil des Raums stand zwischen älteren Inkubatoren aller Formen und Größen (erstanden bei Zwangsversteigerungen bankrott gegangener Entwicklungsfirmen) ein Forma- Wissenschaftsmodell aus angelaufenem Edelstahl und weißem Email. Auf einem Stück Klebeband, das an der Tür befestigt war, standen handschriftlich sein Name und das Wort »Alleingebrauch«. Er öffnete die Tür und nahm ein Gestell mit Petrischalen heraus. Die in den verschiedenen Schalen gezüchteten Bakterien hatten uncharakteristische Kolonien entwickelt — orangegelbe und grüne Zusammenballungen, die an Luftaufnahmen von Paris oder Washington erinnerten. Von den einzelnen Klümpchen strahlten Linien aus und unterteilten die Kolonien in Abschnitte, von denen ein jeder seine eigene, besondere Struktur und — so vermutete Vergil — Funktion hatte. Da jede Bakterie in den Kulturen das intellektuelle Potential einer Maus besaß, war es durchaus möglich, daß die Kulturen sich zu einfachen Gesellschaften entwickelt hatten, die ihrerseits funktionale Aufteilungen eingeführt hatten. Konzentriert auf seine Arbeit mit veränderten B-Zellen- Lymphozyten, hatte er die Entwicklung in letzter Zeit nur oberflächlich verfolgt.

Sie waren wie seine Kinder, alle miteinander. Und sie hatten sich als einzigartig erwiesen.

Von Schuldgefühlen und leichter Übelkeit gepeinigt, zündete er einen Gasbrenner an und hielt die Petrischalen mit veränderten E. coli eine nach der anderen mit einer Zange über die Flamme.

Dies getan, kehrte er zu seinem Labor zurück und legte die Schalen mit den ausgebrannten Kulturen in ein sterilisierendes Bad. Das war die Grenze. Er konnte nicht noch mehr zerstören. Sein Haß auf Harrison war stärker als jede Gefühlsregung, die er zu irgendeiner Zeit anderen Menschen gegenüber verspürt hatte. Tränen der Wut und Frustration trübten seine Sicht.

Er öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine Spinnerflasche und ein weißes Kunststoffkissen, in dem zweiundzwanzig Reagenzgläser steckten. Die Spinnerflasche war gefüllt mit einer strohfarbenen Flüssigkeit, Lymphozyten in einem Serum. Um dieses Medium wirkungsvoller und mit geringeren Zellschäden umzurühren, hatte er einen Rührstab mit mehreren halbschraubenförmigen Teflonsegeln konstruiert.

Die Reagenzgläser enthielten Salzlösungen und spezielle Konzentrationen von Serum-Nährstoffen zur Erhaltung der Zellen, während sie unter einem Mikroskop untersucht wurden.

Er zog mit einer Pipette Flüssigkeit aus der Spinnerflasche und fügte sorgsam mehrere Tropfen aus vier von den Reagenzgläsern hinzu. Dann stellte er die Flasche wieder zurück und schaltete das Rührwerk ein.

Nach ihrer Erwärmung auf Zimmertemperatur — ein Prozeß, den er mit einem kleinen Fächer zu fördern pflegte, der die Zufuhr erwärmter Luft verstärkte — erwachten die Lymphozyten aus ihrer Kühlschrank-Erstarrung und setzten ihre Entwicklung fort.

Sie lernten weiter, fügten den abgeänderten Teilen ihrer DNS neue Abschnitte hinzu. Und wenn die neue DNS im normalen Ablauf des Zellwachstums in RNS umgesetzt wurden, die als eine Art Schablone zur Erzeugung von Aminosäuren diente, und die Aminosäuren in Proteine umgewandelt wurden…

… dann würden die Proteine mehr sein als bloß Einheiten der Zellstruktur; andere Zellen würden imstande sein, sie zu lesen. Oder die RNS selbst würde verdrängt, von anderen Zellen absorbiert und gelesen. Oder — und diese dritte Option hatte sich gestellt, nachdem Vergil Bestandteile bakterieller DNS in die Chromosomen von Säugetieren eingeführt hatte — Segmente der DNS selbst konnten entfernt und weitergegeben werden.

Jedesmal, wenn er darüber nachdachte, schwirrte ihm der Kopf von Möglichkeiten, Tausenden von Wegen, auf denen die Zellen miteinander kommunizieren und ihren Intellekt entwickeln konnten.

Die Vorstellung von einer intellektuellen Zelle war ihm noch immer wundervoll fremd. Sie ließ ihn innehalten und sinnend die Wand anstarren, bis er wieder zu sich kam und seine Arbeit fortsetzte. Er steckte eine Pipette in eines der Reagenzgläser. Das kalibrierte Instrument nahm die eingestellte Flüssigkeitsmenge auf, die er in die kreisförmige Vertiefung eines Glasstreifens tropfen ließ.

Von Anfang an hatte Vergil die Überzeugung gehegt, daß seine Ideen weder abwegig noch nutzlos waren. In seinen ersten drei Monaten bei Genetron, wo er mitgeholfen hatte, die Silikon-Protein-Zwischenschicht für die Biochips zu entwickeln, hatten ihn davon überzeugt, daß die Erfinder des Projekts etwas ganz Offensichtliches und äußerst Interessantes übersehen hatten.

Warum sich auf Silikone und Proteine und Biochips von der Breite eines Hundertstelmillimeters beschränken, wenn in beinahe jeder lebenden Zelle bereits ein funktionierender Computer von enormer Speicherfähigkeit vorhanden war? Eine Säugetierzelle besaß einen DNS-Satz von mehreren Milliarden Basispaaren, von denen jedes als ein Stück Information wirkte. Was war Vererbung schließlich anderes als ein computerisierter biologischer Prozeß von enormer Komplexität und Zuverlässigkeit?

Genetron hatte den Zusammenhang noch nicht gesehen, und Vergil war seit langem entschlossen, seine Idee für sich zu behalten. Er würde seine Arbeit tun und nebenbei die Richtigkeit seiner Vorstellungen beweisen, indem er Milliarden von zellularen Computern schuf; dann wollte er Genetron verlassen und sein eigenes Laboratorium, seine eigene Firma gründen.

Nach anderthalbjähriger Vorbereitungs- und Studienphase hatte er angefangen, nach Feierabend an der Genmaschine zu arbeiten. Mit Hilfe eines Datenanschlusses konstruierte er Ketten von Basen zu Codonen, von denen jedes zur Grundlage einer einfachen DNS-RNS-Protein-Logik wurde.

Die frühesten biologischen Ketten waren als kreisförmige Plasmide in E. coli-Bakterien eingesetzt worden. Diese hatten die Plasmide absorbiert und in ihr ursprüngliches DNS eingegliedert. Bei der Zellteilung hatten die Bakterien dann auch die Plasmide dupliziert und weitergegeben. In der entscheidendsten Phase seiner Arbeit hatte Vergil virale Umkehr-Transkriptase verwendet, um die Rückkopplungsschleife zwischen RNS und DNS zu fixieren. Selbst die frühesten und primitivsten Bakterien hatten Ribosomen als Verschlüsselungs- und Leseelemente verwendet, und RNS als »Band«. Durch die Rückkopplungsschleife konnten die Zellen ihr eigenes Gedächtnis und die Fähigkeit zur Verarbeitung von und Reaktion auf äußere Einflüsse und Informationen entwickeln.

Die eigentliche Überraschung war gekommen, als er seine veränderten Mikroben überprüft hatte. Die Rechenkapazität selbst der bakteriellen DNS war enorm, verglichen mit von Menschen entwickelter Elektronik. Vergil brauchte nur zu nutzen, was bereits vorhanden war, den entscheidenden Anstoß zu geben.

Mehr als einmal hatte er das unheimliche Gefühl, daß seine Arbeit zu leicht voranging, daß er weniger ein Schöpfer sei als viel mehr ein Diener… Wie anders war zu erklären, daß die Moleküle wie von selbst in ihren zugewiesenen Platz zu fallen schienen, oder in solch einer Weise versagten, daß er seine Irrtümer klar erkannte und sogleich wußte, wie er sie zu berichtigen hatte?

Der unheimlichste Augenblick aber kam, als er begriff, daß er mehr tat als winzige Computer zu schaffen. Sobald er den Prozeß in Gang gesetzt und die genetischen Sequenzen eingeschaltet hatte, welche die biologischen DNS-Abschnitte zusammensetzten und duplizieren konnten, begannen die Zellen als autonome Einheiten zu funktionieren. Sie begannen für sich selbst zu »denken« und komplexere »Gehirne« zu entwickeln.

Seine ersten E. coli-Mutationen hatten die Lernfähigkeit von Plattwürmern gehabt; er hatte sie durch einfache Labyrinthe laufen lassen und Zuckerbelohnungen gegeben. Bald hatten sie die Plattwürmer übertroffen. Die Bakterien — niedere Prokaryoten — machten ihre Sache besser als vielzellige Eukaryoten! Und innerhalb von Monaten hatte er sie dazu gebracht, daß sie — Anpassungen des Maßstabs vorausgesetzt — Leistungen erbrachten, die diejenigen von Mäusen vergleichbar waren.

Nachdem er die besten biologischen Sequenzen der veränderten E. coli isoliert hatte, war er daran gegangen, sie in B-Lymphozyten einzuschleusen, weiße Blutkörperchen aus seinem eigenen Blut. Er hatte viele Intronketten — selbstduplizierende Sequenzen von Basenpaaren, die anscheinend nicht für Proteine zu verschlüsseln waren und einen überraschenden Prozentsatz von eukaryotischer Zell- DNS enthielten — durch seine eigenen entsprechenden Ketten ersetzt. Indem er künstliche Proteine und Hormone als Kommunikationsmittel einsetzte, »erzog« Vergil die Lymphozyten im Laufe der Zeit dazu, daß sie miteinander und mit ihrer Umgebung soviel wie möglich in Wechselwirkung traten, was auf ein sehr viel komplexeres Miniaturlabyrinth hinauslief. Die Ergebnisse waren weit besser als er erwartet hatte.

Die Lymphozyten hatten gelernt, die Schwierigkeiten des Labyrinths mit unglaublicher Geschwindigkeit zu meistern und ihre nahrhaften Belohnungen zu gewinnen.

Er wartete, bis die Probe hinreichend angewärmt war, um aktiv zu sein, dann schob er den Glasstreifen in den Objektträger eines Mikroskops, setzte den Video- Aufnahmekopf auf das Okular und übertrug das Bild auf den ersten von vier Bildschirmen, die in einer Reihe über dem Arbeitstisch angebracht waren. Dort waren ganz deutlich die ungefähr kreisförmigen Lymphozyten zu sehen, in die er zwei Jahre seines Lebens investiert hatte.

Geschäftig übertrugen sie genetisches Material aufeinander, wobei sie sich langer, röhrenförmiger Auswüchse bedienten. Einige der charakteristischen Eigenschaften, die sie während der E. coli-Experimente angenommen hatten, waren auf die Lymphozyten übertragen worden, auf welchem Wege, das wußte er noch nicht genau. Die reifen Lymphozyten reproduzierten sich nicht von selbst, doch frönten sie mit scheinbar unermüdlicher Energie dem Austausch genetischen Materials.

Jedes weiße Blutkörperchen in der Probe, die er beobachtete, hatte das intellektuelle Potential eines Rhesusaffen. Aus der Einfachheit ihrer Aktivität war dies zwar nicht ersichtlich; aber schließlich hatten sie es in ihrem bisherigen Leben ziemlich leicht gehabt.

Er hatte auf der Ebene chemischer Erziehung zu ihnen gesprochen und sie soweit aufgebaut, wie er es für zweckmäßig hielt. Nun war ihr kurzes Leben zu Ende — er hatte Anweisung, sie zu töten. Nichts leichter als das: er brauchte bloß Detergentien in die Behälter zu träufeln, und ihre Zellmembranen würden sich auflösen. Sie würden der Vorsicht und Kurzsichtigkeit einer Gruppe kaufmännisch denkender Plattwurmtypen geopfert.

Er begann vor Aufregung zu schnaufen, als er die geschäftige Tätigkeit der Lymphozyten beobachtete. Sie waren schön. Sie waren seine Kinder, seinem eigenen Blut entnommen, sorgfältig ernährt und operiert; er selbst hatte das biologische Material in mindestens tausend von ihnen injiziert. Und nun waren sie mit Eifer dabei, all ihre Gefährten umzuwandeln, und so weiter, und so weiter…

Wie Washoe, die Schimpansin, die ihr Kind lehrte, in der Taubstummensprache zu sprechen, gaben sie die Fackel potentieller Intelligenz weiter. Wie würde er je wissen, ob sie ihr gesamtes Potential nutzbar machen konnten?

Pasteur.

»Pasteur«, sagte er laut. »Jenner.«

Sorgsam bereitete er eine Injektion vor. Die Brauen zusammengezogen, stieß er die Kanüle durch den Wattestöpsel des ersten Reagenzglases und tauchte sie in die Lösung. Er zog die Spritze auf. Die pastellfarbene Flüssigkeit füllte den zylindrischen Raum; fünf, zehn, fünfzehn Kubikzentimeter.

Minutenlang hielt er die Spritze in Augenhöhe und war sich dabei bewußt, daß er im Begriff war, überstürzt zu handeln. Bis jetzt, dachte er zu seinen Schöpfungen, habt ihr es leicht gehabt. Sitzt in eurem Serum und furzt herum und absorbiert alle Hormone, die ihr braucht. Müßt nicht mal für euren Lebensunterhalt arbeiten. Keine strengen Tests, kein Streß. Keine Notwendigkeit, von dem Gebrauch zu machen, was ich euch mitgab.

Was also sollte er tun? Sie in ihrer natürlichen Umgebung arbeiten lassen? Indem er sie sich selbst injizierte, könnte er sie hinausschmuggeln und später genug von ihnen wiedergewinnen, um das Experiment neu zu beginnen.

»He, Vergil!« Ernesto Villar klopfte an den Türrahmen und steckte den Kopf herein. »Wir haben den Film von der Rattenarterie. Wir kommen in Zimmer 233 zusammen.« Er trommelte mit den Fingern an den Türrahmen und lächelte strahlend. »Sie sind eingeladen. Wir brauchen unseren hauseigenen Schlaumeier.«

Vergil ließ die Spritze sinken und blickte ins Leere.

»Vergil?«

»Ich werde kommen«, sagte er mit tonloser Stimme.

»Lassen Sie sich nicht zu lange Zeit«, sagte Villar. »Wir werden mit der Premiere nicht lange warten.« Er verschwand aus der Türöffnung. Vergil lauschte den sich entfernenden Schritten.

Wirklich, es war übereilt. Er steckte die Kanüle wieder durch den Wattestöpsel, spritzte das Serum zurück ins Reagenzglas und legte die Spritze in ein Alkoholbad.

Darauf steckte er das Reagenzglas wieder in das Kunststoffkissen und tat es in den Kühlschrank. Bisher waren die Spinnerflasche und das Kissen mit Reagenzgläsern lediglich mit seinem Namen gekennzeichnet gewesen. Nun zog er das Namensetikett ab und ersetzte es durch ein anderes mit der Aufschrift: BIOCHIP-PROTEINMUSTER; LABORVERSAGER 21-32. Die Flasche beklebte er mit Einem anderen Etikett: RATTEN-ANTIGEN, LABORVERSAGER 13-14. Niemand würde sich an anonymen und nicht analysierten Laborversagern vergreifen. Versager waren, sofern sie nicht gleich der Vernichtung anheimfielen, bis zu ihrer Analyse unantastbar.

Er brauchte Zeit zum Nachdenken.

Rothwild und zehn am MAB-Projekt beteiligte Wissenschaftler hatten sich in Zimmer 233, einem leeren Laborraum, der gegenwärtig für Zusammenkünfte genutzt wurde, vor einem Großbildempfänger versammelt. Rothwild war ein adretter, gewandter Bursche, der als Kontrolleur und Mittler zwischen Geschäftsleitung und den Forschungsabteilungen diente. Er stand neben dem Bildschirm, elegant in beigefarbenem Jackett und schokoladenbrauner Hose. Villar bot Vergil einen avocadogrünen Plastikstuhl an, und er setzte sich in die hintere Reihe, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

Rothwild sprach die einleitenden Worte. »Dies ist der Zusammenschnitt unseres Gemeinschaftsprodukts E-64. Sie alle haben daran mitgearbeitet…« Er warf Vergil einen ungewissen Blick zu. »Und nun können Sie alle an dem… ah, dem Triumph teilnehmen. Ich glaube, wir können es getrost so nennen.

E-64 ist der Prototyp eines für Forschungszwecke entwickelten Biochips, mit einem Durchmesser von dreihundert Mikrometern, Protein auf einem Silikonsubstrat, empfindlich für siebenundvierzig verschiedene Varianten der Blutzusammensetzung.« Er räusperte sich. Sie alle wußten das, aber dies war eine Gelegenheit, wo die entscheidenden Daten ins Gedächtnis zurückgerufen werden mußten. »Am 10. Mai setzten wir E-64 in eine Rattenarterie ein, verschlossen den sehr kleinen Einschnitt und ließen es durch die Arterie passieren, soweit es gehen würde. Die Reise dauerte fünf Sekunden. Dann wurde die Ratte geopfert und der Biochip geborgen. Seither haben Terence und seine Gruppe die Informationen des Biochips entschlüsselt und die Ergebnisse ausgewertet. Indem wir sie durch ein spezielles Simulationsprogramm sichtbar machten, konnten wir einen kleinen Film von der Reise produzieren.«

Er winkte Ernesto zu, der einen Knopf am Videorekorder bediente. Computergrafik flimmerte über den Bildschirm: Genetrons beliebtes Firmenzeichen, stilisierte Signaturen der am Simulationsprogramm Beteiligten, dann folgte Dunkelheit. Ernesto schaltete die Raumbeleuchtung aus.

Ein rosa Kreis erschien auf dem Bildschirm, expandierte und verformte sich zu einem unregelmäßigen Oval. Weitere Kreise erschienen in dem ersten. »Wir haben die Reise um das Sechsfache verlangsamt«, erläuterte Rothwild. »Und um die Dinge zu vereinfachen, haben wir die Ablesungen der chemischen Konzentrationen im Blut der Ratte eliminiert.«

Vergil beugte sich auf seinem Stuhl vorwärts; seine Sorgen waren momentan vergessen. Wie von einem Wind bewegte Streifen erschienen und schossen durch den pulsierenden Tunnel konzentrischer Ringe.

»Blutfluß durch die Arterie«, erläuterte Ernesto.

Die Reise durch die Rattenarterie dauert dreißig Sekunden. Vergils Armhaare prickelten. Wenn seine Lymphozyten sehen könnten, würden sie dies erleben, wenn sie durch eine Arterie strömten… Ein langer, unregelmäßiger Tunnel, durch den in glattem Fluß das Blut strömte, an Unebenheiten und hinter Verengungen kleine Wirbel bildete, bis die Arterie sich zu kleineren und immer kleineren Ringen verengte, Stöße und Verzögerungen, als der Biochip gegen die Wände stieß und hängenblieb, und schließlich das Ende der Reise, als er sich in einer Verästelung verkeilte.

Die Bildfolge endete mit einem weißen Blitz.

Beifallsrufe füllten den Raum.

»Nun«, sagte Rothwild, lächelte und hob die Hand, um sich Gehör zu verschaffen. »Hat jemand eine Anmerkung zu machen, bevor wir den Film Harrison und Yng zeigen?«

Nach einem Glas Champagner zog Vergil sich von der Feier zurück und ging wieder in sein Laboratorium, deprimiert wie noch nie. Wo war sein Gemeinschaftsgeist? Glaubte er wirklich, er könne ganz allein eine so ehrgeizige Aufgabe wie das Projekt seiner intelligenten Lymphozyten lösen? Bisher war es halbwegs geglückt, aber was nützte das, wenn er nun gezwungen wurde, das Experiment abzubrechen und die Ergebnisse zu zerstören?

Er steckte die Aufzeichnungen in einen Karton und versiegelte ihn mit Klebeband. Auf Hazels Seite des Labors fand er ein Klebeetikett an einem Dewargefäß — OVERTON, NICHT ENTFERNEN — und zog es ab. Dann klebte er es auf seine Schachtel und stellte diese in neutralem Territorium neben der Spüle ab. Dann machte er sich daran, die Glasbehälter zu waschen und seine Seite des Labors aufzuräumen.

Wenn die Inspektion erfolgte, würde er der demütige Bittsteller sein; er würde Harrison die Befriedigung des Sieges lassen.

Und dann konnte er die Materialien, die er benötigte, im Laufe der nächsten Wochen heimlich hinausschmuggeln. Die Lymphozyten kämen zuletzt an die Reihe; sie ließen sich einige Zeit im Kühlschrank seiner Wohnung aufbewahren. Er war entschlossen, alle nötigen Dinge zu stehlen, um ihnen das Überleben zu sichern, aber es würde nicht möglich sein, weiter an ihnen zu arbeiten.

Wie er sein Experiment am besten fortführen könnte, blieb späteren Überlegungen vorbehalten.

Harrison stand in der Türöffnung.

»Alles klar«, sagte Vergil mit böser Miene.

3

Während der nächsten Woche beobachteten sie ihn mit mißtrauischer Aufmerksamkeit; dann, in Anspruch genommen von den letzten Versuchsstadien des MAB-Prototyps, zogen sie ihre Wachhunde von ihm ab. Sein Verhalten war untadelig.

Nun konnte er die letzten Schritte zu seiner freiwilligen Trennung von Genetron einleiten.

Vergil war nicht der einzige gewesen, der die Grenzen von Genetrons ideologischer Großzügigkeit überschritten hatte. Erst im letzten Moment war die Geschäftsleitung, wieder in Gestalt Gerald T. Harrisons, Hazel Overton aufs Dach gestiegen. Hazel hatte sich mit ihren E. coli-Kulturen auf Abwege begeben. Bemüht, den Beweis zu führen, daß die geschlechtliche Fortpflanzung als das Ergebnis des Eindringens einer autonomen DNS-Sequenz — eines chemischen Parasiten, den sie den F-Faktor nannte — in frühe prokariotische Lebensformen entstanden sei. Sie hatte postuliert, daß geschlechtliche Fortpflanzung nicht im evolutionären Sinne nützlich sei — jedenfalls nicht für Frauen, die sich zumindest in der Theorie parthenogenetisch fortpflanzen konnten —, und daß Männer letzten Endes überflüssig seien.

Sie hatte genug Beweismaterial zusammengetragen, daß Vergil, der heimlich in ihre Notizbücher guckte, ihren Schlußfolgerungen zustimmen konnte. Aber Hazels Arbeit paßte nicht in den von Genetron abgesteckten Rahmen. Sie war revolutionär, gesellschaftlich umstritten. Harrison hatte ein Machtwort gesprochen, und sie hatte das Forschungsprojekt abgebrochen.

Genetron wünschte weder Publizität noch öffentlich ausgetragene Kontroversen. Die Firma benötigte einen makellosen Ruf, wenn sie die Ergebnisse ihrer Forschung veröffentlichte und verkündete, daß sie funktionstüchtige MABs herstellte.

Hazels Unterlagen hatten sie jedoch nicht interessiert; sie hatten sie ihr gelassen. Daß Harrison seine Unterlagen eingezogen hatte, beunruhigte Vergil.

Sobald er Gewißheit hatte, daß ihre Wachsamkeit nachließ, wurde er aktiv. Er beantragte Zugang zum Computer (er hatte unbefristetes Nutzungsverbot und durfte nur nach vorheriger Genehmigung daran arbeiten); den Tatsachen entsprechend sagte er, daß er seine Zahlen über Strukturen aus denaturierten Proteinen überprüfen müsse, und die Genehmigung wurde erteilt. Eines Abends nach acht setzte er sich an den Datenanschluß im Gemeinschaftslabor.

Er war etwas zu früh aufgewachsen, um schon in seiner Jugend Erfahrungen als Hacker zu sammeln, aber im Laufe der letzten sieben Jahre hatte er seine gespeicherten Personalakten bei drei größeren Firmen geschönt und Eintragungen in die Immatrikulationsregister einer berühmten Universität gemacht. Diese Eintragungen hatten den Ausschlag gegeben, daß er bei Genetron eingestellt worden war. Die Manipulationen waren ihm nie Anlaß zu Schuldgefühlen gewesen.

Sein Ruf als Wissenschaftler sollte besser sein als seine Examensnoten und Arbeitszeugnisse. Es hatte keinen Sinn, ein Leben lang für Jugendtorheiten und vergangene Indiskretionen zu büßen, und er wußte, daß er für die Arbeit bei Genetron vollauf qualifiziert war — sein gefälschter Universitätsabschluß und seine geschönten Arbeitszeugnisse waren bloß eine Show für Personalchefs, die Lichter und Musik brauchten. Außerdem hatte Vergil bis vor ein paar Wochen geglaubt, daß die Welt sein persönliches Puzzle sei, und daß alle Rätsellösungen und Entwirrungen, die er bewerkstelligen konnte, einschließlich seiner Fertigkeiten als Hacker im Irrgarten der Computertechnik einfach Teil seiner Natur seien.

Er fand es lächerlich einfach, den Renaldicode zu knacken, der Genetrons vertrauliche Akten sicherte. Für ihn bargen die Gödelzahlen und Reihen scheinbar willkürlicher Ziffernkombinationen, die auf dem Bildschirm erschienen, keine Geheimnisse. Er schlüpfte in die Zahlen und Informationen wie ein Seehund ins Wasser.

Er fand seine Personalakte und schaltete eine Schlüsselgleichung für den Code dieses Abschnitts. Dann beschloß er sicherzugehen — es bestand immer die Möglichkeit, so gering sie auch war, daß jemand genauso neugierig und einfallsreich war wie er. Er löschte die Akte vollständig.

Nächster Punkt auf der Tagesordnung waren die Beiträge für die Betriebskrankenkasse. Er änderte seine Versicherungsbedingungen und machte die Änderung unkenntlich. Nachforschungen von außen würden ergeben, daß er selbst nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses voll weiterversichert war, und daß er keine Beiträge zahlte, würde niemals Gegenstand von Fragen sein.

Er sorgte sich um solche Dinge, denn sein Gesundheitszustand war nie ganz zufriedenstellend.

Eine Weile beschäftigte ihn die Überlegung, welche anderen Streiche er der Firma spielen könnte, doch entschied er sich dagegen. Er war nicht rachsüchtig. So schaltete er den Datenanschluß ab und zog den Stecker.

Überraschend wenig Zeit — zwei Tage — verging, bis die Löschung bemerkt wurde. Als er eines Morgens zur Arbeit kam, fing Rothwild ihn schon im Foyer ab und erteilte ihm Hausverbot. Vergil protestierte halbherzig und sagte, er habe eine Schachtel mit persönlichen Habseligkeiten, die er mitnehmen wolle.

»Meinetwegen, aber das ist alles. Keine Arbeitsmaterialien. Ich werde alles kontrollieren.«

Vergil erhob keine Einwände. »Was ist jetzt los?« fragte er.

»Offen gesagt, ich weiß es nicht«, erwiderte Rothwild. »Und ich will es auch nicht wissen. Ich habe mich für Sie eingesetzt. Ebenso wie Thornton. Sie sind eine große Enttäuschung für uns alle.«

Vergil überlegte fieberhaft. Er hatte die Lymphozyten nicht entfernt, da er sie unter dem tarnenden Etikett im Laborkühlschrank hinreichend sicher gewähnt hatte. Daß man ihn so schnell vor die Tür setzen würde, hatte er nicht erwartet. »Ich bin draußen?«

»Sie sind draußen, und ich fürchte, Sie werden es schwierig finden, in einem anderen Laboratorium der Privatindustrie Beschäftigung zu finden. Harrison ist wütend.«

Hazel Overton war bereits an der Arbeit, als sie das Labor betraten. Vergil nahm die Schachtel an sich, die er in der neutralen Zone bei der Spüle deponiert hatte, und verdeckte das Etikett mit der Hand. Während er sie hielt, zog er unauffällig das Klebeband ab, knüllte es zusammen und ließ es in den Abfalleimer fallen. »Noch etwas«, sagte er. »Ich habe ein paar mit markierten Verbindungen versetzte Laborversager, die ordnungsgemäß beseitigt werden sollten. Radioisotope.«

»Ach du liebe Zeit«, sagte Hazel. »Wo?«

»Im Kühlschrank. Keine Sorge — bloß Karbon-14. Darf ich?« Er schaute zu Rothwild. Er bedeutete ihm, die Schachtel auf den Tisch zu legen, daß er sie untersuchen könne. »Darf ich?« wiederholte Vergil. »Ich möchte nichts dalassen, was schädlich sein könnte.«

Rothwild nickte widerwillig. Vergil ging zum Kühlschrank und warf seinen Laborkittel auf den Arbeitstisch. Dann ließ er die Hand über eine offene Schachtel mit Injektionsspritzen streifen und nahm unauffällig eine heraus.

Das Kissen mit den Lymphozyten in ihren Reagenzgläsern war im untersten Regal. Vergil kniete nieder und zog ein Glas heraus. Rasch stieß er die Spritze durch den Wattestöpsel und zog zwanzig Kubikzentimeter vom Serum auf. Die Spritze war nie zuvor benutzt worden, also schien die Annahme gerechtfertigt, daß die Kanüle einigermaßen steril sein würde; er hatte keine Zeit, sie mit Alkohol zu sterilisieren, mußte das Risiko auf sich nehmen.

Bevor er sich die Nadel in die Armvene stieß, überlegte er flüchtig, was er zu tun im Begriff sei, und was er damit zu gewinnen hoffte. Die Aussichten, daß die Lymphozyten überleben würden, waren sehr gering. Es war möglich, daß seine Veränderungen sie hinreichend umgewandelt hatten und sie in seinem Blut entweder absterben würden, unfähig, sich anzupassen, oder als Fremdkörper von seinem eigenen Immunsystem zerstört würden.

So oder so betrug die Lebensspanne einer aktiven Lymphozyte im menschlichen Körper bestenfalls einige Wochen. Das Leben war hart für die Polizisten des Körpers.

Die Nadel drang ein. Er fühlte den Stich, ein kurzes Brennen, dann das Einströmen der kalten Flüssigkeit, die sich mit seinem Blut vermischte. Als die Spritze leer war, zog er sie heraus und legte sie unten in den Kühlschrank. Das Kissen mit Reagenzgläsern und die Spinnerflasche in der Hand, stand er auf und schloß die Tür. Rothwild beobachtete ihn in nervöser Ungeduld, als Vergil Gummihandschuhe überzog und den Inhalt der Gläser in ein zur Hälfte mit Äthanol gefülltes Becherglas goß. Dann fügte er die Flüssigkeit aus der Flasche hinzu, verschloß das Becherglas und schüttelte es lächelnd, um den Inhalt zu vermischen. Schließlich legte er es in einen geschützten Abfallkasten. Diesen schob er mit dem Fuß zu Rothwild. »Da haben Sie«, sagte er.

Rothwild hatte die Aufzeichnungen durchgeblättert. »Ich bin fast der Meinung, daß diese Hefte in unserem Besitz bleiben sollten«, sagte er. »Für die Arbeit daran haben Sie viel von unserer Zeit aufgewendet.«

Vergils einfältiges Lächeln veränderte sich nicht. »Dann werde ich Genetron auf Herausgabe verklagen und in jeder Zeitschrift, die ich kenne, Schmutz ausbreiten. Nicht gut für Ihre Marktposition, nicht wahr?«

Rothwild musterte ihn unter halbgeschlossenen Lidern, während sein Hals und seine Wangen sich rosa verfärbten. »Machen Sie, daß Sie fortkommen!« sagte er. »Wir werden Ihnen den Rest Ihrer Sachen später nachsenden.«

Vergil nahm die Schachtel an sich. Das kalte Gefühl in seinem Unterarm war jetzt vergangen. Rothwild eskortierte ihn die Treppe hinab und den Fußweg entlang zum Tor. Walter ließ sich die Plakette aushändigen, mit unbewegter Miene, und Rothwild folgte Vergil zum Parkplatz.

»Denken Sie an die Bedingungen Ihres Vertrages«, sagte Rothwild. »Vergessen Sie nicht, was Sie sagen und was Sie nicht sagen können.«

»Eins kann ich sicherlich sagen, glaube ich«, sagte Vergil, bemüht, die Worte klar auszusprechen, obwohl der Zorn ihm die Kehle zuschnürte.

»Und was ist das?«

»Leckt mich am Arsch! Alle miteinander!«

Vergil fuhr am Genetron-Firmenschild vorbei und dachte an alles, was hinter jenen nüchternen Wänden geschehen war. Er blickte zu dem schwarzen Würfelgebäude jenseits, kaum sichtbar hinter einer Pflanzung von Eukalyptusbäumen.

Fast alles sprach dafür, daß das Experiment beendet war. Innere Anspannung, Zorn und Enttäuschung verursachten ihm Übelkeit. Und dann dachte er an die Milliarden von Lymphozyten, die er soeben zerstört hatte, und seine Übelkeit verstärkte sich so, daß er schlucken mußte, um den sauer aufsteigenden Geschmack in seiner Kehle zurückzudrängen.

»Leckt mich am Arsch!« murmelte er, »denn alles, was ich anfasse, ist beschissen.«

4

Die Menschen, dachte Vergil bei sich, als er auf einem Barhocker saß und das Geschiebe auf der Tanzfläche beobachtete, waren eine geile Bande. Schmalzige Sphärenklänge und rotierende bernsteinfarbene Lichteffekte hielten die dicht gedrängten männlichen und weiblichen Körper in träge wogender Bewegung. Über der Theke summte und gurgelte eine erstaunliche Anordnung polierter Messingrohre mit Hähnen zur Getränkeabfüllung: meistens offene Weine, die glasweise verkauft wurden; und siebenundvierzig verschiedene Kaffeesorten. Kaffee wurde viel verlangt; der Abend war in den frühen Morgen übergegangen, und bald würde das Lokal schließen.

Letzte Annäherungsversuche geschahen unverhüllter und angestrengter, mit mehr Verzweiflung und weniger Finesse; neben Vergil gelobte ein kleinwüchsiger Bursche in zerknittertem blauen Anzug einem geschmeidigen schwarzhaarigen Mädchen mit asiatischen Zügen seine Treue für eine Nacht. Vergil fühlte sich abgelöst von alledem, distanziert. Er hatte den ganzen Abend hindurch keine Frau angesprochen, und er war seit sieben im Lokal. Und keine Frau hatte ihn angesprochen.

Er war nicht der begehrenswerte Typ. Wenn er ging, schwankte er ein wenig — nicht, daß er den Barhocker zu irgendeinem anderen Zweck als dem verlassen hätte, die überfüllte Herrentoilette aufzusuchen. In den vergangenen Jahren hatte er soviel Zeit in Laboratorien verbracht, daß seine Haut die unpopuläre Farbe von unsauberem Schnee hatte. Er sah nicht begeisterungsfähig aus und war nicht bereit, viel Geld auszugeben oder irgendwelchen Unfug zu machen, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Glücklicherweise war die Klimaanlage so gut, daß sein Heuschnupfen sich nicht bemerkbar machte. Er hatte den Abend hauptsächlich damit verbracht, die unglaubliche Vielfalt — und unterliegende Gleichförmigkeit — der Taktiken zu beobachten, deren sich das männliche Tier bediente, um das weibliche für sich zu gewinnen. Er fühlte sich unbeteiligt, in einer objektiven und etwas einsamen Sphäre, die zu verlassen er nicht geneigt war. Warum also, fragte er sich, war er überhaupt hierher gekommen? Warum suchte er Lokale dieser Art auf? Er hatte noch nie im Leben eine Frau in diesem oder einem der anderen Singles-Tanzlokale kennengelernt.

»Hallo!«

Vergil schrak zusammen und wandte sich um, machte große Augen.

»Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Er schüttelte den Kopf. Sie war vielleicht achtundzwanzig, goldblond, schlank bis zur Magerkeit, mit einem recht hübschen, aber nicht überwältigenden Gesicht. Ihre Augen, groß und klar und braun, waren ihr bestes Merkmal — abgesehen vielleicht von den Beinen, räumte er nach einem instinktiv abschätzenden Blick ein.

»Sie kommen nicht oft hierher«, sagte sie. Dann blickte sie über die Schulter und fügte hinzu: »Oder doch? Ich meine, ich bin hier auch nicht Stammgast. Vielleicht habe ich Sie nur noch nicht gesehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht oft. Kein Bedürfnis. Meine Erfolgsquote ist nicht gerade aufsehenerregend.«

Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ich weiß mehr über Sie, als Sie denken«, sagte sie. »Ich brauche Ihnen nicht mal die Hand zu lesen. Zunächst einmal sind Sie klug.«

»Ja?« Er kam sich unbeholfen vor.

»Sie sind gut mit den Händen.« Sie berührte seinen Daumen, der auf seinem Knie ruhte. »Sie haben sehr hübsche Hände. Mit solchen Händen können Sie viel tun. Aber sie sind nicht fettig, also sind Sie kein Mechaniker. Und Sie versuchen, sich gut zu kleiden, aber…« Sie kicherte ein wenig angeheitert, wie nach dem dritten Glas, und bedeckte den Mund mit der Hand. »Entschuldigen Sie. Sie geben sich wirklich Mühe.«

Er schaute an sich hinab, auf das schwarz-grün karierte Baumwollhemd und die schwarze Hose. Die Sachen waren neu. Was konnte sie daran aussetzen? Vielleicht gefielen ihr die Schuhe nicht, die er trug. Sie waren ein wenig abgenutzt.

»Sie arbeiten… lassen Sie mich überlegen.« Sie hielt inne und strich sich über die Wange. Ihre Fingernägel waren Meisterwerke der Maniküre, dick und lang und bronzefarben glänzend. »Sie sind ein Techie.«

»Wie bitte?«

»Sie arbeiten in einem der Laboratorien hier in der Gegend. Für die Marine ist Ihr Haar zu lang, und von denen kommen sowieso nicht viele hierher. Nicht, daß ich es so genau wüßte. Sie arbeiten in einem Labor, und Sie… Sie sind nicht glücklich. Warum nicht?«

»Weil…« — er brach ab. Zu bekennen, daß er arbeitslos war, mochte schlechte Strategie sein. Er hatte noch sechs Monate Arbeitslosenunterstützung vor sich; diese und seine Ersparnisse könnten für eine Weile über den Mangel an bezahlter Arbeit hinwegtäuschen. »Woher wissen Sie, daß ich ein ›Techie‹ bin?«

»Ich sehe das. Ihre Brusttasche…« — sie steckte den Finger hinein und zog ein wenig. »Sieht so aus, als steckte sonst eine Reihe Bleistifte darin. Die man dreht, bis die Mine herauskommt.« Sie lächelte köstlich und steckte die rosa Zungenspitze heraus, um es zu demonstrieren.

»Ja?«

»Ja. Und Sie tragen Socken im Schottenmuster. Das tun heutzutage nur Techies.«

»Mir gefällt es so«, sagte Vergil abwehrend.

»Oh — mir auch. Was ich sagen wollte, ich habe nie einen Techie kennengelernt. Ich meine… näher.«

Großer Gott, dachte Vergil. »Was treiben Sie?« fragte er und wünschte sogleich, er könnte die Worte wieder verschlucken.

»Und ich würde gern einen kennenlernen, wenn Sie das nicht allzu herausfordernd finden«, sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. »Sehen Sie, die Bar schließt in ein paar Minuten. Ich brauche nichts mehr zu trinken, und die Musik gefällt mir nicht sonderlich. Ihnen?«


Sie hieß Candice Rhine. Sie arbeitete in der Anzeigenabteilung der Lokalzeitung. Sein Volvo-Sportwagen fand ihre Billigung, desgleichen seine Wohnung, eine Dreizimmerwohnung im zweiten Stock, vier Blocks vom Strand in La Jolla entfernt. Er hatte sie vor sechs Jahren kurz nach dem Medizinstudium zu einem sehr günstigen Preis von einem Professor gekauft, der nach Ecuador ziehen wollte, um eine Studie über südamerikanische Indianer abzuschließen.

Candice betrat die Wohnung, als habe sie seit Jahren dort gewohnt. Sie warf ihre Wildlederjacke auf die Couch und ihre Bluse auf den Eßtisch. Den Büstenhalter hängte sie kichernd an die Lampe darüber. Ihre Brüste waren klein, vergrößert durch einen sehr schmalen Brustkorb.

Vergil sah alles das und wußte nicht, ob er träumte oder wachte.

»Komm schon, Techie!« sagte Candice, nackt in der Türöffnung zum Schlafzimmer. »Ich mag die Felle.« Er hatte eine Tagesdecke aus Alpakafellen über sein Französisches Bett gebreitet. Sie posierte in der Türöffnung, die Fingerspitzen in Kopfhöhe gegen den Rahmen gestützt, das Spielbein leicht abgeknickt. Dann machte sie auf der Ferse kehrt und schlenderte in die Dunkelheit.

Vergil blieb, wo er war, bis sie die Schlafzimmerlampe einschaltete. »Ich wußte es!« quiekte sie. »Sieh dir bloß all die Bücher an!«


In der Dunkelheit wurde Vergil nur zu deutlich bewußt, welche Gefahren der Verkehr mit einer Unbekannten in sich barg. Candice schlief neben ihm, den gesunden Schlaf von drei Gläsern Alkohol und den Anstrengungen der Liebe.

Viermal.

So gut hatte er sich noch nie gehalten. Vor dem Einschlafen hatte sie gemurmelt, daß Chemiker es mit ihren Pulvern täten, und Ärzte mit Geduld, aber nur ein Techie in geometrischer Progression.

Was die Gefahren anbelangte, so hatte er während seines Studiums oft genug — und nicht nur in Lehrbüchern — die Resultate der Promiskuität in einer reisefreudigen und zunehmend amoralischen Welt gesehen. Wenn Candice zur Promiskuität neigte (und Vergil konnte nicht umhin zu glauben, daß nur ein sehr triebhaftes und unterschiedslos mit Männern verkehrendes Mädchen so unverblümt die Initiative ergreifen konnte), dann war kaum abzuschätzen, welche Mikroorganismen sich jetzt an und in ihm ausbreiteten.

Trotzdem mußte er lächeln.

Viermal.

Candice stöhnte im Schlaf, und Vergil schrak zusammen. Er würde nicht gut schlafen, soviel war ihm klar. Er war nicht gewohnt, jemand in seinem Bett zu haben.

Vier…

Seine braungefleckten Zähne glänzten im Dunkeln.

Am Morgen war Candice um einiges zurückhaltender. Sie bestand darauf, das Frühstück vorzubereiten. Er hatte Eier und dünn geschnittenes Rindfleisch in seinem alten Kühlschrank mit den abgerundeten Ecken, und Candice verstand etwas daraus zu machen, als wäre sie einmal Köchin in einem Schnellimbiß gewesen — oder war das einfach die Art, wie Frauen an solche Dinge herangingen? Er hatte nie die richtige Art und Weise, Spiegeleier zu braten, herausgebracht. Entweder lief der Dotter aus, oder die Ränder wurden braun und verbrannt.

Sie saßen einander am Tisch gegenüber, und Candice betrachtete ihn mit ihren großen braunen Augen. Er war hungrig und aß schnell. Mit Tischsitten und feinen Manieren konnte er nicht aufwarten, dachte er bei sich, aber warum auch? Was konnte sie mehr von ihm erwarten? Oder er von ihr?

»Gewöhnlich bleibe ich nicht die ganze Nacht, weißt du«, vertraute sie ihm an. »Meistens bestelle ich um vier Uhr früh, wenn der Kerl schläft, ein Taxi. Aber du hieltest mich bis fünf in Atem, und ich… wollte einfach nicht. Du machtest mich müde.«

Er nickte und wischte den Rest Dotter mit dem letzten Bissen Toast auf. Er war nicht sonderlich interessiert, zu erfahren, mit wie vielen Männern sie geschlafen hatte. Wenige waren es jedenfalls nicht, wie es sich anhörte.

Vergil hatte in seinem ganzen bisherigen Leben drei Eroberungen gemacht, und davon war nur eine halbwegs zufriedenstellend gewesen. Die erste mit siebzehn — ein unglaublicher Glücksfall — und die dritte vor einem Jahr. Die dritte war zufriedenstellend gewesen und hatte ihn verletzt. Es war der Anlaß gewesen, der ihn gezwungen hatte, sich damit abzufinden, daß er zwar ein heller Kopf war, mit seiner Erscheinung aber nicht viel Staat machen konnte.

»Das hört sich furchtbar an, nicht wahr?« sagte sie. »Ich meine, das mit den Taxis und allem.« Sie schaute ihn unverwandt an. »Ich bin sechsmal gekommen«, sagte sie.

»Nicht schlecht.«

»Wie alt bist du?«

»Zweiunddreißig«, sagte er.

»Du wirkst wie ein Halbwüchsiger — im Bett, meine ich. Ausdauer.«

Mit siebzehn war er nicht annähernd so tüchtig gewesen.

»Hat es dir Spaß gemacht?«

Er legte die Gabel aus der Hand und blickte nachdenklich auf. Es hatte ihm Spaß gemacht, zuviel. Wann würde sich die nächste Gelegenheit bieten? »Doch, gewiß.«

»Weißt du, warum ich dich aussuchte?« Sie hatte ihr einzelnes Spiegelei kaum berührt und kaute noch immer an ihrem einzigen Streifen Roastbeef. Ihre Fingernägel hatten die Nacht makellos überstanden. Wenigstens hatte sie ihn nicht gekratzt. Oder hätte es ihm gar gefallen?

Er verneinte.

»Weil ich wußte, daß du ein Techie bist. Ich hatte noch nie mit einem Techie geschlafen. Vergil, so heißt du doch, nicht wahr? Vergil Ian Ulam. Ich hätte eher angefangen, wenn ich es gewußt hätte.« Sie lächelte. Ihre Zähne waren weiß und gleichmäßig, wenn auch etwas groß. Ihre Unvollkommenheiten ließen sie ihm noch liebenswerter erscheinen.

»Danke. Ich kann nicht für uns alle sprechen. Die anderen Techies, meine ich. Wer immer sie sind.«

»Nun, ich finde dich süß«, sagte sie. Das Lächeln verflog, verdrängt von ernsthafter Überlegung. »Mehr als süß. Wirklich, Vergil, du bist die beste Nummer, die ich je hatte. Mußt du heute zur Arbeit?«

»Nein«, sagte er. »Ich kann mir meine Arbeitszeit aussuchen.«

»Gut. Bist du fertig mit dem Frühstück?«

Noch dreimal schafften sie es bis zum Mittag. Er konnte es nicht richtig glauben. In seinem ganzen Leben hatte er noch nicht so viel gevögelt wie in den letzten zwölf Stunden.

Candice war wund, als sie ging. »Mir ist, als hätte ich ein Jahr für den Fünfkampf trainiert«, sagte sie, als sie in der Tür stand, den Mantel in der Hand. »Möchtest du, daß ich heute abend wiederkomme? Ich meine, zu Besuch?« Sie schien besorgt. »Ich kann es nicht schon wieder machen. Ich glaube, du hast meine Periode vorzeitig ausgelöst.«

»Bitte«, sagte er und ergriff ihre Hand. »Das wäre fein.« Sie schüttelten einander ziemlich förmlich die Hand, und Candice ging hinaus in den Frühlingssonnenschein. Vergil verweilte noch kurze Zeit an der Tür, wo er abwechselnd lächelte und ungläubig den Kopf schüttelte.

5

Eine Woche nachdem er Candice kennengelernt hatte, begann Vergils Geschmack sich zu ändern. Bis dahin hatte er hartnäckig an Süßspeisen und Stärke festgehalten, an fettem Fleisch und Brot und Butter. Seine Lieblingsspeise war eine Pizza Vierjahreszeiten, mit Schinken und Paprika, Anchovis und Oliven.

Candice regte an, daß er weniger Fett essen solle — sie nannte es »diesen öligen Scheiß« — und statt dessen mehr Gemüse und Getreide. Seinem Körper schien es recht zu sein.

Auch die Menge der Nahrung, die er zu sich nahm, ging zurück. Er erreichte rascher den Sättigungspunkt. Sein Bauchumfang verringerte sich merklich. Und wenn er allein in der Wohnung war, verspürte er eine neue und unerklärliche Rastlosigkeit.

Mit seinen veränderten Eßgewohnheiten ging ein Wandel in seiner Einstellung zur Liebe einher. Das kam nicht unerwartet; Vergil verstand genug von Psychologie, um zu erkennen, daß er bloß eine zufriedenstellende Beziehung brauchte, um von seiner nervösen Abneigung gegen Frauen geheilt zu werden. Candice schenkte ihm diese erfüllende Beziehung.

Manche Abende verbrachte er mit Übungen. Seine Füße schmerzten nicht mehr so sehr. Alles schien sich zum Besseren zu wenden. Die Welt wurde ein angenehmerer Ort. Seine Rückenschmerzen ließen allmählich nach. Verblaßten aus dem Gedächtnis. Sie wurden nicht vermißt.

Vieles davon schrieb er Candice zu, geradeso wie unter den Halbwüchsigen Gerüchte kursierten, die den Verlust der Jungfräulichkeit mit dem Abklingen von Akne in Verbindung brachten.

Bisweilen wurde die Beziehung stürmisch. Candice fand ihn unerträglich, wenn er versuchte, seine Arbeit zu erklären. Er behandelte das Thema mit kaum verhohlenem Zorn und gab sich selten die Mühe, komplizierte technische Zusammenhänge vereinfachend darzustellen. Mehr als einmal war er nahe daran, ihr zu gestehen, daß er sich die Lymphozyten injiziert hatte, ließ es aber sein, als ihm klar wurde, daß sie sich bereits gründlich langweilte. »Sag mir Bescheid, wenn du ein billiges Heilmittel für Herpes findest«, sagte sie. »Dann lassen wir uns von den streng moralischen christlichen Vereinen dafür bezahlen, daß wir es nicht auf den Markt bringen.«

Während er sich nicht länger um Geschlechtskrankheiten sorgte — Candice hatte sich in der Sache aufgeschlossen gezeigt und ihn überzeugt, daß sie sauber war —, bekam er eines Abends plötzlich einen Hautausschlag, eine eigentümliche, juckende Fläche weißlicher Knoten auf Brust und Bauch. Am Morgen war sie vergangen und kehrte nicht wieder.

Vergil lag im Bett, neben sich die leise atmende, halb vom Laken verhüllte Gestalt, deren Hüften einem schneebedeckten Hügel glichen und deren Rücken freilag, als trüge sie ein verführerisch ausgeschnittenes Abendkleid. Sie waren vor drei Stunden ins Bett gegangen, und er lag noch immer wach und überlegte, daß er in den vergangenen zwei Wochen öfter mit Candice geschlafen hatte als vordem mit allen anderen Frauen in seinem Leben.

Dies beschäftigte seine Phantasie. Er hatte sich immer für Statistiken interessiert. In einem Experiment kündeten Zahlen von Erfolg oder Mißerfolg, ebenso wie im Geschäftsleben. Er begann jetzt zu fühlen, daß seine »Affäre« (wie seltsam dieses Wort sich in seinem Denken ausnahm!) mit Candice auf dem besten Wege zum Erfolg war. Wiederholbarkeit war das Kennzeichen eines guten Experiments, und dieses Experiment hatte…

… Und so weiter, endlose nächtliche Grübeleien, die um einiges weniger produktiv waren als traumloser Schlaf.

Candice verblüffte ihn. Frauen hatten Vergil, der so wenig Gelegenheit gehabt hatte, sie kennenzulernen, immer verblüfft; aber er vermutete, daß Candice verblüffender sei als die Norm. Er konnte sie nicht ergründen. Wenn sie jetzt miteinander schliefen, ging die Initiative selten von ihr aus, aber sie nahm mit hinreichendem Enthusiasmus daran teil. Er sah sie als eine Katze, die nach einem neuen Nest suchte und sich, sobald sie es gefunden hatte, schnurrend darin niederließ, ohne daran zu denken, was der nächste Tag bringen mochte.

Weder Vergils Leidenschaft noch seine Lebensweise ließen diese Art von gesättigter Gleichgültigkeit zu.

Es fiel ihm schwer, Candice als intellektuell tieferstehend zu sehen. Bisweilen zeigte sie sich annehmbar geistreich und aufmerksam, und dann war es lustig, mit ihr beisammen zu sein. Aber sie beschäftigte sich nicht mit denselben Dingen wie er. Candice glaubte an die Oberflächenwerte des Lebens — Äußerlichkeiten, Rituale, was andere Leute dachten und taten. Vergil hingegen kümmerte es wenig, was andere Leute dachten, solange sie nicht aktiv in seine Pläne eingriffen.

Candice akzeptierte und erfuhr. Vergil zündete und beobachtete.

Er beneidete sie. Wie sehr wünschte er sich eine Linderung der ständig mahlenden Gedanken und Pläne und Sorgen, der Verarbeitung von Information, um neue Einsichten zu gewinnen. Wie Candice zu sein, wäre eine Erholung.

Candice wiederum sah in ihm unzweifelhaft einen Anreger und Beweger. Sie führte ihr eigenes Leben, mit wenigen Plänen, ohne viel Nachdenken und ohne irgendwelche Skrupel… Gewissensbisse waren ihr so fremd wie selbstkritische Betrachtungen. Als es klargeworden war, daß dieser Anreger und Beweger arbeitslos war und wenig Hoffnung hatte, bald wieder eine Anstellung zu finden, war ihre Zuversicht davon seltsam unberührt geblieben. Vielleicht hatte sie, wie eine Katze, wenig Verständnis von diesen Dingen.

So schlief sie, wohlig erschöpft von ihren geschlechtlichen Aktivitäten, und er grübelte und durchlebte immer wieder die Geschehnisse bei Genetron, sorgte sich um die Implikationen, das zugegebenermaßen übereilte und unbedachte Injizieren seiner veränderten Lymphozyten in seinen Blutkreislauf, seine Unfähigkeit, sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren.

Er starrte zur dunklen Decke auf, dann kniff er die Augen zu, um die Phosphenmuster zu beobachten. Um den Effekt zu verstärken, führte er die Hände zu den Augen und drückte mit den Zeigefingern von außen gegen die Lider. Heute nacht konnte er sich jedoch nicht mit psychedelischen Augenlider- Filmen unterhalten. Nichts als warme Dunkelheit kam, untermalt von kurzen Lichterscheinungen, die so fern und unbestimmt waren wie Mündungsfeuer von einem anderen Kontinent.

Jenseits des Grübelns, doch hellwach, überließ er sich ziellos schweifenden Gedanken und einer Aufmerksamkeit, die kein besonderes Ziel hatte…

… bemüht, auf den Morgen zu warten…

Gedanken an alle verlorenen Dinge zu meiden und an alle kürzlich gewonnen, die verloren gehen könnten er ist nicht bereit und dennoch bewegt er und erschüttert noch als Verlierer. Am Sonntagmorgen der dritten Woche:

Candice reichte ihm eine Tasse heißen Kaffees. Sekundenlang starrte er darauf. Etwas stimmte nicht mit der Tasse und ihrer Hand. Er tastete nach der Brille, sie aufzusetzen, aber mit den Gläsern sah er auch nicht deutlicher, und seine Augen schmerzten. »Danke«, murmelte er, nahm ihr die Tasse ab und rückte im Bett aufwärts, bis er das Kopfkissen im Rücken hatte. Dabei verschüttete er ein wenig vom Kaffee auf die Laken.

»Was hast du heute vor?« fragte sie. (Die Zeitung nach Stellenangeboten durchforschen? Die Frage schien dahinterzustehen, aber Candice legte nie besonderen Wert auf Verantwortung und stellte keine Fragen nach seinen Geldmitteln.)

»Sehen, ob es Arbeit gibt, denke ich«, sagte er. Wieder blinzelte er durch die Brille und hielt sie dabei mit einer Hand an der Schläfe.

»Ich«, sagte sie, »werde eine Anzeige zum Büro bringen und an dem kleinen Gemüsestand unten an der Straße einkaufen. Dann werde ich mir eine Mahlzeit zubereiten und sie allein essen.«

Er schaute sie verdutzt an.

»Was hast du«, fragte sie.

Er nahm die Brille ab. »Warum allein?«

»Weil ich finde, daß du anfängst, mich für selbstverständlich zu halten. Das gefällt mir nicht. Ich spüre, daß du mich akzeptierst.«

»Was ist daran auszusetzen?«

»Nichts«, sagte sie in geduldigem Ton. Sie hatte sich zum Ausgehen angezogen und das Haar gekämmt, das ihr nun lang und schimmernd auf die Schultern hing. »Ich möchte einfach nicht das Gewürz verlieren.«

»Gewürz?«

»Sieh mal, jede Beziehung hat dann und wann nötig, daß das Kätzchen die Krallen zeigt. Ich fange an, dich als einen jederzeit verfügbaren jungen Hund zu sehen, und das ist nicht gut.«

»Nein«, sagte Vergil. Er schien zerstreut.

»Hast du letzte Nacht nicht geschlafen?« fragte sie.

»Nein«, sagte Vergil. »Nicht viel.« Er schaute verwirrt drein.

»Was gibt es sonst noch?«

»Ich sehe dich ganz deutlich«, sagte er.

»Siehst du? Du nimmst mich als gegeben hin.«

»Nein, ich meine… ohne Brille. Ich kann dich ohne Brille ganz deutlich sehen.«

»Na, wie schön für dich!« sagte Candice mit katzenhafter Sorglosigkeit. »Ich werde dich morgen anrufen. Sorge dich nicht.«

»O nein«, sagte Vergil und drückte sich die Fingerspitzen gegen die Schläfen.

Leise schloß sie die Tür hinter sich.

Er blickte im Zimmer umher.

Alles war wunderbar scharf. Er hatte seine Umgebung nicht mehr so klar gesehen, seit die Masern ihm in seinem siebten Jahr das Augenlicht geschädigt hatten.

Das war die erste Verbesserung, von der er überzeugt war, daß er sie nicht Candice zuschreiben konnte.

»Gewürz«, sagte er und zwinkerte zu den Gardinen.

6

Vergil hatte, so schien es ihm, Wochen in Büros wie diesem verbracht: beigefarbene Wände, graues Stahlmobiliar mit säuberlich geordneten Stößen von Papieren, Eingang-Ausgang- Körben und einem Mann oder einer Frau, die in höflichem Ton psychologisch effektvolle Fragen stellten. Diesmal war es eine Frau, üppig und gut gekleidet, mit einem freundlichen, geduldigen Gesicht. Vor ihr lag seine Bewerbung auf dem Tisch, und das Ergebnis eines psychologischen Tests. Er hatte längst gelernt, wie man derartige Tests bestand: Wollen sie eine Skizze haben, darfst du keine Augen oder scharfe, keilförmige Gegenstände zeichnen, sondern vielmehr Lebensmittel oder hübsche Frauen; deine Ziele mußt du immer in klaren, praktischen Begriffen darstellen, dir dabei aber eine Spur zuviel zumuten; zeige Einbildungskraft, aber keine überschäumende Phantasie.

Sie deutete mit einem Kopfnicken zu seinen Papieren und faßte ihn ins Auge. »Ihre Unterlagen sind bemerkenswert, Mr. Ulam. Zwar läßt Ihr akademischer Hintergrund ein wenig zu wünschen übrig, aber Ihre praktische Erfahrung könnte dies mehr als ausgleichen. Ich nehme an, Sie wissen schon, welche Fragen wir als nächstes stellen werden.«

Er machte große Augen, ganz Unschuld.

»In Ihrem Bewerbungsschreiben drücken Sie sich ein wenig vage darüber aus, was Sie für uns tun könnten, Mr. Ulam. Ich würde gern mehr darüber hören, wie Sie sich Ihre Mitarbeit in der Codonforschung vorstellen.«

Er blickte verstohlen auf seine Armbanduhr, nicht um sich der Stunde zu vergewissern, sondern des Datums. In einer Woche würde es nur noch wenig oder gar keine Hoffnung mehr geben, seine veränderten Lymphozyten zu bergen. Dies war seine letzte Chance.

»Ich bin qualifiziert für alle Arten von Laborarbeit, sei es in der Forschung oder zu kommerziellen Zwecken.

Codonforschung ist eng mit der Pharmazeutik verwandt, und das interessiert mich, aber ich glaube eher, daß ich Ihnen mit Biochip-Programmen helfen könnte, die Sie entwickeln.«

Die Augen der Personalchefin wurden um ein geringes schmaler. Dummes Zeug, dachte er. Die Codonforschung wird zwangsläufig in Biochips einsteigen.

»Wir arbeiten nicht an Biochips, Mr. Ulam. Immerhin, Ihre praktische Erfahrung auf Gebieten, die mit der Pharmazeutik verwandt sind, ist eindrucksvoll. Sie haben sehr viel mit Kulturen gearbeitet; mir scheint, Sie würden für eine Brauerei beinahe so wertvoll sein wie für uns.« Das war die verwässerte Version eines alten Scherzes unter den Züchtern von Bottichkulturen. Vergil lächelte.

»Es gibt jedoch ein Problem«, fuhr sie fort. »Ihre Sicherheitsbewertung von einer Quelle ist sehr hoch, aber Ihre Einstufung durch Genetron, wo Sie zuletzt beschäftigt waren, ist abgrundtief.«

»Ich habe erklärt, daß es da zu persönlichen Unzuträglichkeiten gekommen ist…«

»Ja, und normalerweise gehen wir diesen Dingen nicht nach. Unsere Firma unterscheidet sich von anderen aufgrund ihres Programms, und wenn die Arbeitsunterlagen und Zeugnisse eines Bewerbers sonst gut sind, wie es in Ihrem Fall zu sein scheint, lassen wir solche Streitfälle außer acht. Aber ich muß manchmal meinem Instinkt folgen, Mr. Ulam. Und etwas ist hier nicht ganz in Ordnung. Sie arbeiteten an Genetrons Biochip-Programm mit.«

»In der Zusatzforschung.«

»Ja. Bieten Sie uns die speziellen Techniken und Kenntnisse an, die Sie sich bei Genetron angeeignet haben?«

Das war die verschlüsselte Frage, ob er die Betriebsgeheimnisse seines früheren Arbeitgebers verraten wollte. »Ja und nein«, sagte er. »Zunächst arbeitete ich nicht im zentralen Bereich des Biochip-Programms. Ich war in die wichtigen Geheimnisse nicht eingeweiht. Ich kann Ihnen jedoch die Ergebnisse meiner eigenen Forschung anbieten. Also lautet die Antwort, technisch gesehen, ja, da Genetron in den Vertragsklauseln nur die Weitergabe firmeneigener Verfahrenstechniken untersagte. Ich werde einige Geheimnisse preisgeben, wenn Sie mich einstellen. Aber sie werden Teil der Arbeit sein, die ich verrichtete.« Er hoffte, daß dieser Schuß irgendwo im Mittelfeld landete. Es war keine ausgesprochene Lüge, obwohl er so gut wie alles wußte, was es über Genetrons Biochips zu wissen gab, aber es war zugleich wahr, weil er der Meinung war, daß das gesamte Konzept der Biochips obsolet war, eine Totgeburt.

»Mm hmm.« Sie blätterte wieder in seinen Papieren. »Ich will offen mit Ihnen sprechen, Mr. Ulam. Vielleicht offener, als Sie mit mir gewesen sind. Sie sind ein für unsere Verhältnisse erstklassiger Mann, und wenn Sie auch ein Einzelgänger sind, würden wir die Chance, Sie einzustellen, mit Freuden nutzen… wäre da nicht ein Punkt. Ich bin mit Mr. Rothwild von Genetron befreundet. Er ist ein sehr guter Freund von mir und hat mir einige Informationen gegeben, die andernfalls als vertraulich klassifiziert werden müßten. Er nannte keine Namen, und er kann nicht gewußt haben, daß Sie mir an diesem Schreibtisch gegenübersitzen würden. Aber er sagte mir, jemand bei Genetron habe sich über die behördlichen und betrieblichen Richtlinien hinweggesetzt und auf eigene Faust gentechnische Experimente mit rekombinierter Säugetier-DNS durchgeführt. Ich habe den starken Verdacht, daß Sie diese Person sind.« Sie lächelte freundlich. »Habe ich recht?«

Bei Genetron war seit mehr als einem Jahr niemand entlassen worden oder von sich aus gegangen. Er nickte.

»Er war ziemlich aufgeregt. Er sagte, Sie seien brillant, würden aber jede Firma, die Sie einstellt, in Schwierigkeiten bringen. Und er sagte, er habe Ihnen gedroht, Sie auf die schwarze Liste zu setzen. Nun weiß ich so gut wie er, daß solch eine Drohung unter der heutigen Arbeitsgesetzgebung und den potentiellen Aussichten eines Rechtsstreites wirklich nicht viel bedeuten kann. Aber diesmal wissen wir durch Zufall mehr über Sie, als wir wissen sollten. Ich bin ganz offen mit Ihnen, denn es sollte hier kein Mißverständnis geben. Unter Druck werde ich leugnen, etwas davon gesagt zu haben. Mein eigentlicher Grund, daß ich Ihre Einstellung nicht befürworten kann, ist Ihr psychologisches Profil. Die einzelnen Elemente Ihrer Zeichnungen sind zu weit voneinander getrennt und lassen auf eine ungesunde Vorliebe für Selbstisolation schließen.« Sie gab ihm seine Bewerbungsunterlagen zurück. »Können Sie das verstehen?«

Vergil nickte. Er nahm seine Mappe und stand auf. »Sie kennen Rothwild nicht einmal«, sagte er. »Dies ist mir schon sechsmal passiert.«

»Nun ja, Mr. Ulam, unsere Industrie steckt noch in den Kinderschuhen, existiert erst seit knapp fünfzehn Jahren. Wenn es um gewisse Dinge geht, verlassen die Firmen sich noch immer aufeinander. Vorn auf der Bühne die schlimme Konkurrenz, die man der Halsabschneiderei bezichtigt, aber hinter den Kulissen hilft man sich gegenseitig aus. Es war interessant, mit Ihnen zu sprechen, Mr. Ulam. Guten Tag.«

Draußen vor der weißgetünchten Betonfassade blinzelte Vergil in den Sonnenschein.

Soviel zur Wiedergewinnung der Lymphozyten, dachte er. Das ganze Experiment würde bald zu nichts verblassen. Vielleicht war es ganz gut so.

7

Er fuhr nordwärts durch weißgoldenes, mit krummen Eichen gesprenkeltes Hügelland, vorbei an himmelblauen Seen, die von den Regenfällen des vergangenen Winters tief und klar lagen. Der Sommer war bisher mild gewesen, und selbst im Inland war die Temperatur nicht über dreißig Grad gestiegen.

Der Volvo schnurrte die endlose Strecke der Bundesstraße 5 entlang, durch Baumwollfelder, dann durch grüne Nußbaumpflanzungen. In den Vororten von Tracy bog Vergil in die Staatsstraße 580 ein. Sein Sinn war beinahe frei von Gedanken, das Autofahren ein Linderungsmittel für seine Sorgen. Wälder von Propellern auf Masten drehten sich zu beiden Seiten der Straße im Gleichmaß; jeder der riesigen schwingenden Flügel war annähernd zwanzig Meter lang.

Er hatte sich im Leben nicht besser gefühlt, und er machte sich Sorgen. Seit zwei Wochen hatte er nicht geniest, und das mitten in der Heuschnupfenzeit. Als er das letzte Mal Candice gesehen hatte, um ihr zu sagen, daß er nach Livermore fahren und seine Mutter besuchen wolle, hatte sie seine Hautfarbe erwähnt, die sich von fahler Blässe zu einem frischen Pfirsichrosa verändert hatte, und sein Befreitsein vom Schnupfen.

»Jedesmal, wenn ich dich sehe, Vergil, siehst du besser aus«, hatte sie lächelnd gesagt und ihn geküßt. »Komm bald wieder! Ich werde dich vermissen. Und vielleicht werden wir mehr Gewürz finden.«

Er sah besser aus, fühlte sich besser — und hatte keine Erklärung dafür. Er war nicht sentimental genug zu glauben, daß Liebe alles bewirkte, selbst wenn er seine Empfindungen für Candice Liebe nannte. War es Liebe?

Etwas anderes.

Er mochte nicht darüber nachdenken, also fuhr er. Nach zehn Stunden verspürte er eine unbestimmte Enttäuschung, als er in die South Vasco Road einbog und südwärts ins Stadtzentrum von Livermore fuhr, einer kalifornischen Kleinstadt mit alten Backsteingebäuden, hölzernen Farmhäusern, die nun von Vororten umringt waren, Einkaufszentren, die denen in jeder anderen kalifornischen Stadt glichen… und am Stadtrand das Lawrence Livermore National Laboratory, wo neben vielen anderen Forschungsprojekten Atomwaffen entwickelt wurden.

Er hielt vor Guineveres Pizzabäckerei und zwang sich, eine mittelgroße Pizza, Salat und eine Cola zu bestellen. Während er in der pseudomittelalterlich eingerichteten Gaststube saß und wartete, überlegte er müßig, ob es in Livermore Laboreinrichtungen geben mochte, die er verwenden könnte. Wer glich mehr dem Dr. Strangelove — die Waffenentwickler oder der gute alte Vergil I. Ulam?

Die Pizza wurde serviert, und er blickte auf den zerlaufenen Käse, die fettige Salami, die anderen Zutaten. »Sonst hast du dieses Zeug immer gemocht«, sagte er sich mit halblauter Stimme. Er stocherte und schnippelte an der Pizza herum und aß den Salat auf. Das schien zu genügen. Er ließ den größten Teil seiner Mahlzeit auf dem Tisch zurück, wischte sich den Mund, lächelte dem jungen Mädchen hinter der Registrierkasse zu und ging wieder hinaus zu seinem Wagen.

Vergil freute sich nicht auf Besuche bei seiner Mutter. Er brauchte sie, in einer ungewissen und ärgerlichen Art und Weise, aber er hatte keine Freude daran.

April Ulam lebte in einem gut unterhaltenen, hundert Jahre alten zweistöckigen Haus, unweit der First Street. Das Haus war waldgrün gestrichen und hatte ein Mansardendach. Zwei kleine Gärten, mit schmiedeeisernen Gittern eingezäunt, flankierten die steilen Eingangsstufen — ein Garten war für Blumen und Kräuter, der andere für Gemüse. Die überdachte Veranda war verkleidet und hatte eine mit Fliegengaze bespannte Lattentür, deren Scharniere quietschten und die von einer protestierenden Stahlfeder selbsttätig geschlossen wurde; der Zutritt zum eigentlichen Haus erfolgte durch eine schwere dunkle Eichentür mit einem facettierten Glasfenster und einem löwengesichtigen Türklopfer aus Messing.

Keine dieser Annehmlichkeiten war unerwartet, wenn sie zu einem alten Haus in einer Kleinstadt gehörten. Aber dann erschien seine Mutter, schlank und graziös in fließender lavendelfarbener Seide und golden schimmernden hochhackigen Schuhen. Ihr rabenschwarzes Haar war an den Schläfen kaum angegraut, und als sie herauskam, die Lattentür öffnete und in den Sonnenschein hinaustrat, begrüßte sie Vergil mit einer reservierten Umarmung und führte ihn dann hinein durch die Diele, seine Hand im leichten Griff ihrer dünnen kühlen Finger.

Im Wohnzimmer setzte sie sich auf eine mit grauem Samt bezogene Chaiselongue. Ihr Seidengewand umgab sie wie mit welken Blütenblättern. Das Wohnzimmer paßte insofern zum Haus, als es mit Gegenständen möbliert war, die eine ältere Frau (nicht seine Mutter) im Laufe eines langen und mäßig interessanten Lebens um sich gesammelt haben mochte. Außer der Chaiselongue gab es eine prall gestopfte Couch mit blauem Blumendekor, einen in Messing gefaßten runden Tisch mit arabischen Sprichwörtern, die in konzentrischen Kreisen um abstrakt geometrische Ornamente angeordnet waren, Nachahmungen von Tiffany-Lampen in drei Winkeln, und in der vierten eine verwitterte chinesische Kwan-Yin-Statue, aus einem zwei Meter langen Teakholzstamm geschnitzt. Sein Vater — in allen Gesprächen einfach »Frank« genannt — hatte die Statue von einer Seereise mit der Handelsmarine aus Taiwan mitgebracht; sie hatte den dreijährigen Vergil halb zu Tode geängstigt.

Frank hatte sie beide in Texas verlassen, als Vergil zehn Jahre alt gewesen war. Sie waren dann nach Kalifornien gezogen. Seine Mutter hatte nicht wieder geheiratet und dies damit begründet, daß es ihre Optionen einschränken würde. Vergil war nicht einmal sicher, ob seine Eltern geschieden waren. Er erinnerte sich an seinen Vater als einen dunkelhaarigen Mann mit scharf geschnittenem Gesicht, scharfer Stimme, nicht tolerant und nicht intelligent, mit einem dröhnenden Lachen, das vornehmlich in Augenblicken der Verlegenheit und Unsicherheit hinausgeschmettert wurde. Noch jetzt konnte er sich nicht vorstellen, daß seine Eltern zusammen ins Bett gegangen sein, geschweige denn elf Jahre zusammengelebt haben konnten. Er hatte Frank nicht vermißt, außer in einer theoretischen Art und Weise, wie ein Junge einen Vater vermißt, der sich seiner Sorgen annehmen, ihm bei den Hausaufgaben helfen und eine Zuflucht sein konnte, wenn er Schwierigkeiten hatte, ein Kind zu sein. Diese Art von Vater hatte er immer vermißt.

»Also arbeitest du nicht«, sagte April und musterte ihren Sohn mit einem Ausdruck, der als gelinde besorgt ausgelegt werden konnte.

Vergil hatte seiner Mutter nichts von seiner Entlassung gesagt und stellte sich nicht einmal die Frage, wie sie davon wissen konnte. Sie war ihrem Mann intellektuell überlegen gewesen und konnte es an Schlagfertigkeit noch immer leicht mit ihrem Sohn aufnehmen, dem sie in praktischen und weltlichen Angelegenheiten ohnedies voraus war.

Er nickte. »Seit fünf Wochen.«

»Irgendwelche Aussichten?«

»Nicht besonders gute.«

»Man ließ dich zum eigenen Schaden gehen«, sagte sie.

»Zum eigenen großen Schaden, könnte man sagen.«

Sie lächelte; jetzt konnte das verbale Florettfechten beginnen. Ihr Sohn war sehr klug und konnte ungeachtet seiner anderen Fehler recht amüsant sein. Sie war nicht bekümmert, daß er keinen Arbeitsplatz hatte; das war einfach der Stand der Dinge, und er würde entweder untergehen oder schwimmen. In der Vergangenheit war ihr Sohn trotz seiner Schwierigkeiten immer an der Oberfläche geblieben, zwar mit viel Platschen und in schlechter Form, aber immerhin an der Oberfläche.

Seit er vor zehn Jahren ausgezogen war, hatte er sie nie um Geld gebeten.

»Und nun kommst du, zu sehen, was deine alte Mutter macht.«

»Was macht meine alte Mutter?«

»Sie steckt bis zum Hals drin, wie gewöhnlich«, sagte sie. »Sechs Freier im letzten Monat. Es ist eine Qual, alt zu sein und nicht danach auszusehen, Vergil.«

Er schmunzelte und schüttelte den Kopf, was sie, wie er wußte, erwartete. »Irgendwelche Aussichten?«

Sie winkte spöttisch ab. »Nie wieder. Kein Mann könnte Frank ersetzen, Gott sei Dank.«

»Sie warfen mich hinaus, weil ich auf eigene Faust Experimente machte«, sagte er. Sie nickte und fragte, ob er Tee oder Wein oder ein Bier wolle. »Ein Bier«, sagte er.

Sie wies mit einem Kopfnicken zur Küche. »Der Kühlschrank ist nicht zugesperrt.«

Er nahm ein Bier heraus und wischte das Kondenswasser mit dem Ärmel ab, als er es ins Wohnzimmer trug. Er setzte sich in einen breiten Lehnstuhl und tat einen langen Zug.

»Sie wußten deine Brillanz nicht zu schätzen?«

Er schüttelte den Kopf. »Niemand versteht mich, Mutter.«

Sie blickte über seine Schulter ins Leere und seufzte. »Ich jedenfalls nie. Rechnest du in nächster Zeit mit einer neuen Anstellung?«

»Das fragtest du bereits.«

»Ich dachte, eine Umformulierung würde vielleicht eine bessere Antwort erbringen.«

»Die Antwort ist die gleiche, und wenn du in Suaheli fragst. Ich habe es satt, für andere zu arbeiten.«

»Mein unglücklicher, ungeratener Sohn.«

»Mutter«, sagte Vergil, ein wenig gereizt.

»Was hast du getan?«

Er gab ihr einen kurzen Überblick, von dem sie außer den wichtigsten Punkten wenig verstand. »Also wolltest du hinter ihrem Rücken ein Geschäft machen.«

Er nickte. »Wenn ich nur einen Monat mehr gehabt hätte, und wenn Bernard es gesehen hätte… Dann wäre jetzt alles in Butter.« Bei seiner Mutter war er selten ausweichend. Es war praktisch unmöglich, sie zu schockieren; mit ihr Schritt zu halten, war schwierig genug, und sie zu täuschen, noch schwieriger.

»Und du wärst jetzt nicht hier und würdest deine gebrechliche alte Mutter besuchen.«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Vergil achselzuckend. »Außerdem gibt es ein Mädchen. Ich meine, eine Frau.«

»Wenn sie zuläßt, daß du sie ein Mädchen nennst, ist sie keine Frau.«

»Sie ist ziemlich unabhängig.« Er sprach eine Weile über Candice, über ihre dreisten Avancen am Anfang und ihre allmähliche Domestikation. »Ich gewöhne mich daran, sie um mich zu haben. Ich meine, wir leben nicht zusammen. Zur Zeit sind wir auf einer Art Wochenendbasis, um zu sehen, wie die Dinge sich entwickeln. In häuslichen Angelegenheiten bin ich kein Gewinn.« April nickte und bat ihn, ihr ein Bier zu holen. Er brachte eine ungeöffnete Flasche.

»So zäh sind meine Fingernägel nicht«, sagte sie.

»Oh.« Er ging zurück in die Küche und öffnete sie.

»Nun, wieso erwartetest du, daß ein großer Gehirnchirurg wie Bernard etwas für dich tun könne?«

»Er ist nicht bloß ein Neurochirurg. Er interessiert sich seit Jahre für AI.«

»AI?«

»Artifizielle Intelligenz.«

»Ah.« Sie lächelte verstehend. »Du bist arbeitslos«, sagte sie, »vielleicht verliebt, ohne Aussichten. Erfreue dein Mutterherz noch mehr. Was geht sonst noch vor?«

»Ich experimentiere an mir selbst, glaube ich«, sagte er.

Sie schaute ihn groß an. »Wie?«

»Na, diese Zellen, die ich veränderte. Ich mußte sie hinausschmuggeln, indem ich sie mir injizierte. Und seither habe ich keinen Zugang zu einem Labor oder einer Arztpraxis gehabt. Inzwischen werde ich sie nicht wiedergewinnen können.«

»Wiedergewinnen?«

»Sie von den anderen absondern. Es gibt Milliarden von weißen Blutkörperchen, Mutter.«

»Warum solltest du dich sorgen, wenn sie deine eigenen sind?«

»Merkst du eine Veränderung?«

Sie musterte ihn. »Du bist nicht so blaß, und du trägst Kontaktlinsen.«

»Ich trage keine Kontaktlinsen.«

»Dann hast du vielleicht deine Gewohnheiten geändert und liest nicht mehr im Dunkeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dein Interesse an all diesem Unsinn nie verstanden.«

Vergil starrte sie verblüfft an. »Es ist faszinierend«, sagte er. »Und wenn du nicht sehen kannst, wie wichtig es ist, dann…«

»Werde nicht schnippisch über meine speziellen Blindheiten. Ich gestehe sie ein, aber ich denke nicht daran, mir irgend etwas anzutun, um sie zu ändern. Nicht, wenn ich die Welt in dem Zustand sehe, in dem sie heutzutage ist, weil Leute mit deinen intellektuellen Neigungen sie dahin gebracht haben. Wahrhaftig, jeden Tag erfinden die da drüben in den Laboratorien neue Weltuntergangswaffen!«

»Du darfst die meisten Wissenschaftler nicht nach mir beurteilen, Mutter. Ich bin nicht typisch. Ich bin ein wenig…« Er konnte das Wort nicht finden und grinste. Sie beantwortete das Grinsen mit dem knappen Lächeln, das er nie hatte deuten können.

»Verrückter«, sagte sie.

»Unorthodoxer«, verbesserte er sie.

»Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst, Vergil. Was für Zellen sind das? Bloß Teile deines Blutes, an denen du gearbeitet hast?«

»Sie können denken, Mutter.«

Wieder reagierte seine durch nichts zu erschütternde Mutter in keiner vorhersehbaren Weise. »Gemeinsam — ich meine, alle miteinander, oder jede für sich?«

»Jede für sich. Aber in den letzten Experimenten neigten sie zu Zusammenschlüssen.«

»Sind sie freundlich?«

Vergil verdrehte die Augen zur Decke. »Es sind Lymphozyten, Mutter. Sie leben nicht einmal in derselben Welt wie wir. Sie können nicht freundlich oder unfreundlich in der Weise sein, wie wir die Begriffe verstehen. Für sie besteht die Welt aus Chemikalien.«

»Wenn sie denken können, können sie etwas fühlen, wenn meine Lebenserfahrung etwas taugt. Es sei denn, sie wären wie Frank. Natürlich dachte er nicht viel, also hinkt der Vergleich.«

»Ich hatte nicht die Zeit, herauszufinden, wie sie sind, oder ob sie so viel Denkfähigkeit entwickeln wie… wie ihr Potential es erlaubt.«

»Was ist ihr Potential?«

»Bist du sicher, daß du das verstehst?«

»Hört es sich so an, als ob ich es verstünde?«

»Ja. Darum zweifle ich. Ich weiß nicht, was ihr Potential ist, aber es ist sehr groß.«

»Vergil, dein Wahnsinn hat immer Methode gehabt. Was hofftest du mit alledem zu gewinnen?«

Das stoppte ihn. Er sah keine Hoffnung, sich auf dieser Ebene — der Ebene von Errungenschaften und Zielen — mit seiner Mutter zu verständigen. Sie hatte sein Bedürfnis, etwas zu leisten, nie verstanden. Für sie erschöpften sich Ziele darin, daß man sich bemühte, mit den Nachbarn in Frieden zu leben. »Ich weiß nicht. Vielleicht nichts. Vergiß es!«

»Es ist vergessen. Wo wollen wir heute abend essen?«

»Laß uns marokkanisch essen«, sagte Vergil. »Also auf zum Bauchtanz!«


Von alledem, was er an seiner Mutter nicht verstand, war sein früheres Kinderzimmer der Gipfel. Spielzeug, Bett und Möbel, Poster an den Wänden — sein Zimmer war nicht in dem Zustand geblieben, in dem es sich befunden hatte, als er ausgezogen war, sondern in den Zustand zurückversetzt worden, in welchem es ihn als Zwölfjährigen beherbergt hatte. Die Bücher, die er damals gelesen hatte, waren aus den Kartons auf dem Speicher genommen worden und standen aufgereiht in Regalen des schmalen Bücherschranks, der einst ausgereicht hatte, seine Bibliothek aufzunehmen. Taschenbücher und Buchklubausgaben konkurrierten mit Comicheften und ein paar Büchern über Wissenschaften und Elektronik, die ihm damals viel bedeutet hatten.

Filmplakate — inzwischen unzweifelhaft sehr wertvoll — zeigten die jugendlichen Gesichter inzwischen angejahrter oder gar verblichener Schauspieler. Er hatte diese Plakate mit Neunzehn abgenommen, zusammengelegt und in einer Schublade verstaut. April hatte sie wieder an den Wänden befestigt, nachdem er sein Studium begonnen hatte.

Sie hatte sogar sein kariertes Bettzeug wiederbelebt. Das Bett selbst war abgenutzt und vertraut, lockte ihn in eine Kindheit, von der er nicht einmal sicher war, ob er sie je gehabt, geschweige denn, zurückgelassen hatte.

Er erinnerte sich seiner vorpubertären Jahre als einer Zeit beträchtlicher Ängste und Sorgen. Ängsten, daß er für den Weggang seines Vaters verantwortlich sei, daß er in der Schule nicht mitkommen würde, Sorge, daß seine Schulkameraden ihn nicht akzeptieren würden. Und gleichzeitig Begeisterung. Die schwindelnde, übergroße Freude, die er empfunden hatte, als er einen Streifen Papier halb gedreht, die Enden zusammengeklebt und sein erstes Möbiussches Band hergestellt hatte; seine Ameisenfarm und seine Chemiekästen; seine Entdeckung von zehn Jahrgängen des Scientific American in einer Abfalltonne in der Zufahrt hinter dem Haus.

Im Dunkeln, gerade als er am Rand des Schlafes war, begann ihn der Rücken zu jucken. Er kratzte sich mechanisch, dann setzte er sich mit einem gemurmelten Fluch im Bett auf, drehte den Saum der Schlafanzugjacke zu einer Rolle zusammen und zog diese mit beiden Händen kreuz und quer über den Rücken, um das Jucken zu lindern.

Als er die Hand zum Gesicht führte, fühlte es sich völlig unvertraut an, wie das Gesicht eines anderen — Höcker und Rücken, die Nase verlängert, wulstige Lippen. Doch als er mit der anderen Hand tastete, fühlte es sich normal an. Er rieb die Finger beider Hände aneinander. Das Tastempfinden war nicht richtig. Eine Hand war weitaus sensitiver als gewöhnlich, die andere beinahe taub.

Schweratmend stolperte er die Treppe hinauf zum Badezimmer und schaltete das Licht ein. Seine Brust juckte scheußlich. Zwischen seinen Zehen schien es von unsichtbaren Ameisen zu wimmeln. Seit er mit elf die Windpocken gehabt hatte, hatte er sich nicht mehr so elend gefühlt. In der gedankenleeren Konzentration auf seine Not streifte er den Schlafanzug ab und stellte sich unter die Dusche, um unter kaltem Wasser Erleichterung zu finden.

Das Wasser spritzte in einem schwachen Strahl aus den alten Leitungen und rieselte ihm über Kopf und Nacken, Schultern und Rücken. Dünne Rinnsale schlängelten sich über Brust und Beine abwärts. Beide Hände waren jetzt äußerst feinfühlig, und das Wasser schien in Nadeln zu kommen, erwärmend und dann abkühlend, brennend und dann erfrierend. Er streckte die Arme aus und hatte das Empfinden, die Luft selbst fühle sich klumpig an.

Er blieb fünfzehn Minuten lang unter der Dusche stehen, seufzte vor Erleichterung, als die Reizerscheinungen nachließen, rieb sich die juckenden Hautpartien mit den Handgelenken und Handrücken, bis sie gerötet waren. Seine Finger und Handflächen prickelten, und allmählich ließ das Prickeln nach und machte einem langsamen, pulsierenden Pochen wiederkehrender Normalität Platz.

Er trat aus der Dusche und trocknete sich ab, dann stand er nackt am Badezimmerfenster, fühlte die kühle Brise auf der Haut und lauschte den Grillen. »Gottverdammich«, sagte er langsam und ausdrucksvoll. Er wandte sich um und musterte sein Ebenbild im Badezimmerspiegel. Seine Brust war vom Kratzen und Reiben fleckig und gerötet. Er drehte sich um und versuchte, über die Schulter hinweg seinen Rücken zu sehen.

Von den Schultern bis zum Gesäß überzogen undeutliche blasse Streifen unter der Hautoberfläche wie eine verrückte und unwillkommene Straßenkarte seinen Rücken. Während er sie beobachtete, verblichen die Streifen allmählich, bis er sich fragte, ob sie überhaupt dagewesen waren.

Mit heftig pochendem Herzen setzte er sich auf den Deckel der Toilette, stützte das Kinn in beide Hände und starrte auf seine Füße. Allmählich bekam er es mit der Angst.

Er lachte kehlig glucksend.

»Haben sich die kleinen Teufelsdinger doch ans Werk gemacht, hm?« murmelte er zu sich selbst.

»Vergil, fehlt dir was?« fragte seine Mutter von der anderen Seite der Badezimmertür.

»Nein, ich fühle mich gut«, sagte er. Besser und besser, mit jedem Tag.

»Solange ich lebe und atme, werde ich die Männer nie verstehen«, sagte seine Mutter und goß sich eine weitere Tasse vom starken schwarzen Kaffee ein. »Immer herumbasteln, immer in Schwierigkeiten.«

»Ich bin nicht in Schwierigkeiten, Mutter.« Es hörte sich nicht überzeugend an, nicht einmal in seinen eigenen Ohren.

»Nein?«

Er hob die Schultern. »Ich bin gesund, ich kann noch ein paar Monate ohne Arbeit durchkommen — und etwas muß sich schließlich finden.«

»Du suchst nicht einmal intensiv.«

Das traf zu. »Ich bin dabei, eine Depression zu überwinden.« Und das war eine unverfrorene Lüge.

»Dummes Zeug«, sagte seine Mutter. »Du hast in deinem Leben noch nie unter Depressionen gelitten. Du weißt nicht mal, was es bedeutet. Du solltest für ein paar Jahre eine Frau sein und selbst sehen, wie es ist.«

Die Morgensonne schien durch die Gardinen am Küchenfenster und füllte die Küche mit gedämpfter, freundlicher Wärme. »Manchmal benimmst du dich, als ob ich eine Ziegelmauer wäre«, sagte Vergil.

»Manchmal bist du so. Lieber Himmel, Vergil, du bist mein Sohn. Ich gab dir das Leben — ich glaube, wir können Franks Beitrag außer acht lassen —, und ich sehe dich seit zweiunddreißig Jahren älter werden. Du bist nie erwachsen geworden, und an Feingefühl hat es dir schon immer gefehlt. Du bist ein kluger Junge, aber du bist einfach nicht vollständig.«

»Und du«, sagte er mit einer Grimasse, »bist ein tiefer Quell von Hilfe und Verständnis.«

»Ärgere die alte Frau nicht, Vergil. Ich verstehe und sympathisiere, soviel du verdienst. Du sitzt tief in der Tinte, nicht wahr. Dieses Experiment.«

»Ich wünschte, du würdest nicht darauf herumreiten. Ich bin der Wissenschaftler, und ich bin der einzige Betroffene, und bisher…« Er klappte den Mund hörbar zu und verschränkte die Arme. Es war alles verrückt. Die Lymphozyten, die er sich injiziert hatte, waren jenseits allen Zweifels inzwischen abgestorben oder altersschwach. Sie waren unter Laborbedingungen verändert und in Reagenzgläsern gehalten worden, hatten wahrscheinlich einen ganz neuen Satz histokompatibler Antigene entwickelt und waren mit großer Wahrscheinlichkeit schon vor Wochen von ihren unveränderten Artgenossen angegriffen und verschlungen worden. Jede andere Annahme entbehrte der Vernunft. Was er letzte Nacht erlebt hatte, war einfach eine komplexe allergische Reaktion gewesen. Warum ausgerechnet er und seine Mutter die Möglichkeit diskutieren sollten…

»Vergil?«

»Es war schön bei dir, Mutter, aber ich glaube, es ist Zeit, daß ich gehe.«

»Wie lang hast du noch?«

Er stand auf und starrte sie erschrocken an. »Ich bin nicht am Sterben, Mutter.«

»Sein ganzes Leben lang hat mein Sohn für diesen höchsten Augenblick gearbeitet. Mir scheint, daß er gekommen ist, Vergil.«

»Das ist völlig verrückt.«

»Ich gebe zurück, was du mir gesagt hast, Junge. Ich bin kein Genie, aber ich bin auch keine Ziegelmauer. Du erzählst mir, du habest intelligente Keime gezüchtet, und ich sage dir, auch wenn du es nicht hören willst: Wer einmal eine Toilette gesäubert oder einen Abfalleimer mit Windeln gereinigt hat, würde vor der Idee, daß es Keime gibt, die denken können, zurückschrecken. Was geschieht, wenn sie aufsässig werden, Vergil? Sag das deiner alten Mutter.«

Es gab keine Antwort. Er war nicht einmal sicher, daß ihre Diskussion einen vernünftigen Gegenstand hatte; nichts ergab einen Sinn. Aber er spürte, wie sein Magen sich zusammenzog.

Er hatte dieses Ritual früher schon zelebriert, war in Schwierigkeiten geraten und dann zu seiner Mutter gekommen, unbehaglich und unsicher, ohne recht zu wissen, von welcher Art seine Schwierigkeiten waren. Mit unheimlicher Regelmäßigkeit schien sie jedesmal auf eine höhere Argumentationsebene zu springen und seine Probleme zu identifizieren und vor ihm auszubreiten, daß sie unausweichlich wurden. Dies war nicht ein Dienst, der seiner Liebe zu ihr förderlich war, aber er machte sie für ihn wertvoll.

Er beugte sich vor und tätschelte ihr die Hand. Sie drehte die Hand herum und ergriff die seine. »Du gehst jetzt«, sagte sie.

»Ja.«

»Wie lang haben wir noch, Vergil?«

»Was?« Er konnte es nicht verstehen, aber auf einmal füllten sich seine Augen mit Tränen, und er begann zu zittern.

»Komm zurück zu mir, wenn du kannst!« sagte sie.

Entsetzt ergriff er seinen Koffer — am Vorabend gepackt — und rannte die Stufen runter zum Volvo, riß den Kofferraum auf und warf ihn hinein. Er lief um den Wagen und stieß sich das Knie an der hinteren Stoßstange. Schmerz fuhr stechend durch das Bein, ließ dann rasch nach. Er stieg ein und startete den Motor.

Seine Mutter stand auf der überdachten Veranda. Ihr seidenes Gewand wehte in der leichten Morgenbrise, und Vergil winkte ihr zu, als er anfuhr. Normalität. Wink deiner Mutter zu! Fahre davon!

Fahre davon, mit dem Wissen, daß dein Vater niemals existierte und daß deine Mutter eine Hexe war, und was das aus dir machte.

Er schüttelte den Kopf, bis ihm die Ohren dröhnten, und brachte es irgendwie fertig, den Wagen auf geradem Kurs zu halten.

Ein weißer Striemen zog sich über den linken Handrücken, wie ein mit Pflanzenschleim auf die Haut geklebter Faden.

8

Ein seltenes Sommerunwetter hatte den Himmel voller Wolkenfetzen, die Luft kühl und Regentropfen an den Fenstern der Wohnung zurückgelassen. Aus vier Blocks Entfernung war die Brandung zu hören, ein dumpfes, von Zischen überlagertes Grollen. Vergil saß vor seinem Computer, einen Handballen am Rand der Tastatur, den Finger in der Schwebe. Auf den Videoschirm war ein sich windendes, in Entwicklung befindliches DNS-Molekül zu sehen, umgeben von einem Proteinschleier. Flackernde Abtrennungen von den Phosphat- Zucker-Gerüsten der Doppelspirale ließen auf ein schnelles Eindringen von Enzymen schließen, die chemische Umsetzungen katalytisch steuerten. Zahlenkolonnen zogen am unteren Rand über den Bildschirm. Er beobachtete sie mit geteilter Aufmerksamkeit.

Er mußte bald mit jemandem sprechen — jemand anderem als seiner Mutter oder gar Candice. Die letztere war eine Woche nach seiner Rückkehr vom Besuch bei seiner Mutter bei ihm eingezogen, allem Anschein nach eifrig um Häuslichkeit bemüht, denn sie säuberte die Wohnung, räumte auf und bereitete seine Mahlzeiten.

Manchmal kauften sie zusammen ein, und das war erfreulich. Candice machte es Spaß, Vergil bei der Auswahl besserer Kleidungsstücke zu helfen, und er ging auf ihre Vorstellungen ein, obwohl die Erwerbungen sein bereits zusammengeschmolzenes Bankkonto weiter auszehrten.

Wenn sie ihn nach Dingen fragte, die sie beunruhigten, antwortete er mit Stillschweigen. Und sie wunderte sich, weshalb er darauf bestand, daß sie im Dunkeln miteinander schliefen.

Sie schlug vor, daß sie zum Strand gingen, aber Vergil erhob Einwände.

Sie beunruhigte sich, daß er viel Zeit unter den neuen Bestrahlungslampen verbrachte, die er gekauft hatte.

»Vergil?« Candice stand in der Schlafzimmertür, eingehüllt in einen Frotteebademantel mit Rosenmuster. »Wir wollten zum Tierpark hinauffahren, erinnerst du dich?«

Er hob einen Finger zum Mund und kaute am Nagel, er schien sie nicht zu hören.

»Vergil?«

»Ich fühle mich nicht allzu gut.«

»Weil du nie hinausgehst, deshalb.«

»Tatsächlich fühle ich mich ganz gut«, sagte er und wandte sich auf dem Stuhl um. Er schaute sie an, gab aber keine weitere Erklärung.

»Ich verstehe nicht.«

Er zeigte zum Bildschirm. »Du hast es dir nie erklären lassen.«

»Du wirst ganz verrückt, und ich verstehe dich nicht«, sagte Candice mit bebenden Lippen.

»Es ist mehr, als ich je für möglich gehalten hätte.«

»Was, Vergil?«

»Die Verkettungen. Die Kombinationen. Die Macht.«

»Bitte, kannst du dich verständlich ausdrücken?«

»Ich bin gefangen. Verführt, aber schwerlich verlassen.«

»Ich habe dich nicht bloß verführt…«

»Nicht du, Süßes«, sagte er abwesend. »Nicht du.«

Candice näherte sich zögernd dem Schreibtisch, als ob der Bildschirm beißen könnte. Ihre Augen waren umflort, und sie nagte an der Unterlippe. »Schatz.«

Er notierte Zahlen vom unteren Rand des Bildschirms.

»Vergil.«

»Hmm?«

»Hast du in der Arbeit etwas getan, ich meine, bevor du dort aufhörtest, bevor wir uns kennenlernten?«

Er wandte den Kopf und blickte sie verständnislos an.

»Vielleicht mit den Computern? Warst du wütend und brachtest ihre Computerprogramme durcheinander?«

»Nein«, sagte er und grinste. »Ich brachte sie nicht durcheinander. Vielleicht drehte ich ein bißchen daran, aber sie werden es nicht merken.«

»Weil ich mal einen kannte, der etwas gegen das Gesetz tat und anfing, sich komisch zu benehmen. Er wollte nicht ausgehen, er mochte nicht viel reden, genau wie du.«

»Was hatte er getan?« fragte Vergil, immer noch Zahlen notierend.

»Er beraubte eine Bank.«

Der Bleistift hielt inne. Ihre Blicke trafen sich. Candice weinte.

»Ich liebte ihn und mußte ihn verlassen, als ich es erfuhr«, sagte sie. »Ich kann mit solch schlechten Dingen einfach nicht leben.«

»Keine Sorge!«

»Ich war vor ein paar Wochen schon drauf und dran, dich zu verlassen«, sagte sie. »Ich dachte, vielleicht hätten wir alles getan, was wir zusammen tun konnten. Aber es ist irgendwie verrückt. Ich habe nie jemanden wie dich gekannt. Du bist verrückt. Verrückt klug, nicht verrückt von irgendwelchen blödsinnigen Ideen, wie andere Kerle. Ich habe mir gedacht, daß es wirklich wundervoll sein würde, wenn wir einfach aufgelockerter miteinander sein könnten. Ich würde dir zuhören, wenn du etwas erklärst, vielleicht könntest du mir etwas von dieser Biologie und Elektronik beibringen.« Sie zeigte zum Bildschirm. »Ich würde mir Mühe geben zu verstehen, wirklich!«

Vergils Mund hing offen. Er klappte ihn zu und schaute zum Bildschirm, zögerte wie in momentaner Verwirrung.

»Ich habe mich in dich verliebt. Als du fort warst, deine Mutter zu besuchen. Ist das nicht unheimlich?«

»Candice…«

»Und wenn du etwas wirklich Schlimmes getan hast, dann verletzt es nicht bloß dich, sondern auch mich.« Sie trat einen Schritt zurück, die Faust unter dem Kinn, als wollte sie sich selbst schlagen.

»Ich möchte niemand verletzen«, sagte Vergil.

»Ich weiß. Du bist nicht böse.«

»Ich würde dir alles erklären, wenn ich selbst wüßte, was geschieht. Aber ich weiß es nicht. Ich habe nichts getan, wofür man mich ins Gefängnis stecken könnte. Nichts Illegales.« Abgesehen von der Manipulation seiner Personalakte.

»Du kannst mir nicht erzählen, daß alles in Ordnung sei. Etwas bedrückt dich, plagt dich. Warum können wir nicht einfach darüber reden?« Sie zog einen Faltstuhl aus dem Schrank und klappte ihn ein paar Schritte vom Schreibtisch entfernt auf und ließ sich darauf nieder, die Knie zusammengepreßt, die Füße auseinander.

»Ich sagte gerade, ich weiß nicht, was es ist.«

»Hast du… dir selbst etwas getan? Ich meine, hast du dir im Labor eine Krankheit geholt, oder was? Ich hörte, das sei möglich. Ärzte und Wissenschaftler arbeiten mit Krankheiten und stecken sich manchmal an.«

»Du und meine Mutter«, sagte er kopfschüttelnd.

»Wir machen uns Sorgen. Werde ich deine Mutter einmal kennenlernen?«

»In nächster Zeit wahrscheinlich nicht.«

»Es tut mir leid…« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich wollte bloß offen mit dir reden.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er.

»Ja?«

»Liebst du mich?«

»Ja«, sagte er und überraschte sich selbst damit, daß es sein Ernst war, wenn er den Blick auch nicht vom Bildschirm wandte.

»Warum?«

»Weil wir einander so ähnlich sind«, sagte er. Er war sich keineswegs darüber im klaren, wie er das meinte; vielleicht war ihnen beiden bestimmt, Versager zu sein, oder es jedenfalls nicht zu weit zu bringen — für Vergil war es das gleiche wie Versagen.

»Komm schon!«

»Wirklich. Vielleicht siehst du es bloß nicht.«

»Ich bin nicht so klug wie du, das ist sicher.«

»Manchmal ist es eine Qual, klug zu sein«, sagte er. Und er fragte sich, ob seine kleinen Lymphozyten vielleicht gerade dabei waren, dies herauszufinden: die Qual, klug zu sein, zu überleben…

»Können wir heute ein bißchen hinausfahren, irgendwohin, und ein Picknick machen? Von gestern abend ist noch kaltes Huhn da.«

Er notierte eine letzte Zahlenkolonne und begriff, daß er jetzt wußte, was er hatte wissen wollen. Die Lymphozyten konnten ihre Biologik an andere Zelltypen weitergeben. Also waren sie für die physiologischen Veränderungen verantwortlich, die er festgestellt hatte.

»Ja«, sagte er. »Ein Picknick wäre großartig.«

»Und dann, wenn wir zurückkommen… mit Beleuchtung?«

»Warum nicht?« Früher oder später würde sie es erfahren. Und er konnte sich zur Erklärung der Streifenmuster etwas ausdenken. Die Schwielen waren zurückgegangen, seit er mit der Lampenbestrahlung begonnen hatte. Er dankte Gott für kleine Vergünstigungen.

»Ich liebe dich«, sagte sie, noch immer auf dem Faltstuhl sitzend und ihn anblickend.

Er sammelte die Berechnungen und Niederschriften und schaltete den Computer aus. »Danke«, sagte er leise.

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