Zweites Buch Muad'dib

1

Als mein Vater, der Padischah-Imperator, vom Tode Herzog Letos — und von der Art, auf die er umkam — unterrichtet wurde, bekam er einen Wutanfall, wie wir ihn bis dahin nie gekannt hatten. Er beschuldigte meine Mutter und die Organisation, der sie angehörte, ihm eingeredet zu haben, er müsse eine Bene Gesserit auf den Thron setzen. Er verwünschte die Gilde ebenso wie den tückischen alten Baron. Er verfluchte jeden, der sich in seiner unmittelbaren Nähe aufhielt und nahm nicht einmal mich davon aus und sagte, ich sei eine Hexe wie alle anderen. Als ich versuchte, ihn mit den Worten zu beruhigen, daß dies auf der Basis eines alten Gesetzes der Selbstverteidigung geschehen sei, dem auch die meisten früheren Herrscher ihre Zustimmung nicht versagt hätten, knurrte er mich an und fragte, ob ich ihn für einen Schwächling hielte. Ich verstand schließlich, daß sein Zorn nicht der Tatsache galt, daß Herzog Leto aus dem Leben geschieden war, sondern was dies für den Adel an sich — und seinem Ansehen — bedeutete. Aus heutiger Sicht glaube ich zu erkennen, daß er bereits damals schon von Vorahnungen über sein eigenes Schicksal gequält wurde, was darauf zurückzuführen ist, daß er und Muad'dib der gleichen Linie entstammten.

›Im Hause meines Vaters‹, von Prinzessin Irulan.


»Jetzt töten die Harkonnens sich gegenseitig«, flüsterte Paul. Kurz vor Einbruch der Nacht war er erwacht. Jetzt saß er hochaufgerichtet in dem versiegelten und dunklen Destillzelt. Während er sprach, vernahm er die vagen Geräusche seiner Mutter, die ihm gegenüber lag.

Er warf einen Blick auf den am Boden liegenden Entfernungsmesser und studierte die in der Finsternis wie Phosphor aufleuchtende Skala.

»Es wird bald Nacht sein«, sagte seine Mutter. »Sollten wir nicht eine der Zeltklappen öffnen?«

Es war Paul schon vorher aufgefallen, daß ihr Atmen einem veränderten Rhythmus folgte, daß sie die ganze Zeit über ruhig dagelegen hatte, bis sie ganz sicher war, daß er nicht mehr schlief.

»Das würde uns auch nicht weiterhelfen«, antwortete er. »Es hat inzwischen einen Sturm gegeben. Das Zelt ist jetzt ganz mit Sand bedeckt. Ich werde es ausgraben müssen.«

»Immer noch kein Zeichen von Duncan?«

»Nichts.«

Paul strich mit dem Daumen geistesabwesend über den herzoglichen Siegelring. Eine plötzliche, irrationale Wut auf den Planeten, der am Tode seines Vaters mitschuldig war, ergriff ihn und ließ ihn erzittern.

»Ich habe gehört, wie der Sturm anfing zu heulen«, sagte Jessica.

Die Inhaltslosigkeit ihres unverlangten Kommentars trug dazu bei, ihn zu ernüchtern. Er konzentrierte sich auf den Sturm — wie er ihn zu Anfang noch durch den transparenten Teil des Zeltes hatte toben sehen. Die Sandkörner waren um sie herumgeweht, hatten auf dem Boden getanzt und waren schließlich emporgehoben worden. Der Himmel verschwand beinahe unter dem Ansturm des Wirbels und nahm die Farbe an, die sonst nur die Oberfläche des Planeten Arrakis bedeckte. Schließlich waren sogar die Lichter der Sterne erloschen. Das Zelt war völlig unter dem Sand begraben.

Mehrere Male hatten die Zeltstangen geknirscht. Aber sie hielten das Gewicht aus.

»Versuch noch einmal den Empfänger«, schlug Jessica vor.

»Nutzlos«, erwiderte Paul.

Er tastete nach der Wasserleitung, die zu seinem Destillanzug gehörte und nahm einen warm schmeckenden Schluck. Ihm wurde klar, daß er bereits mehr und mehr dazu überging, die Sitten und Gebräuche des Planeten zu akzeptieren, daß er nichts Abstoßendes dabei empfand, sich von dem zu ernähren, was der eigene Atem und der eigene Körper produzierte. Der Geschmack des Wassers war nicht der Rede wert, aber es befeuchtete seine Kehle.

Jessica, die Paul trinken hörte, spürte plötzlich wieder die enge Umhüllung des Destillanzugs. Sie ignorierte den Durst, der sie plagte. Irgendwie war sie davon überzeugt, daß noch mehr auf sie einstürmen würde, wenn sie ihm nachgab. Allein der Gedanke, wie sorgsam sie nun mit dem umgehen mußten, was sie auf diesem Planeten hatten, erfüllte sie mit Sorge.

Es war einfacher, sich zurücksinken zu lassen und weiterzuschlafen.

Aber sie hatte während des Tagesschlafs einen Traum gehabt, der sie mit leisem Zittern erfüllte, wenn sie darüber nachdachte. Sie hatte im Traum ihre Hände gesehen, wie sie mit dem Sand gespielt hatten und einen Namen schrieben: Leto Atreides. Der Sand hatte die Buchstaben wieder zugeweht, und jedesmal, wenn sie den Versuch unternahm, sie neu zu schreiben, war sie zum gleichen Ergebnis gekommen. Stets, bevor der letzte Buchstabe stand, war der erste schon wieder verschwunden.

Der Sand war unbeständig.

Der Traum wurde zu einem Klagen, wurde lauter und lauter, und irgend etwas erinnerte sie an ihre eigene Stimme, an das Weinen eines kleinen Mädchens, das sie einst selbst gewesen war.

Meine unbekannte Mutter, dachte Jessica. Da war eine Bene Gesserit, die mir das Leben schenkte und mich den Schwestern übergab, weil man es ihr aufgetragen hatte. Ob sie glücklich dabei war, daß es ein Kind der Harkonnens werden würde?

»Die einzige Möglichkeit, sie zu schlagen, liegt in dem Gewürz«, sagte Paul.

Wie kann er in einem solchen Augenblick an einen Angriff denken? dachte Jessica.

»Ein ganzer Planet voller Gewürze«, erwiderte sie. »Und wie willst du sie damit schlagen?«

Sie hörte, wie er die Position wechselte.

»Auf Caladan«, entgegnete Paul, »bestand unsere Macht aus den See- und Luftstreitkräften.« Er machte eine Pause. »Hier, auf Arrakis, sind wir auf die Macht der Wüste angewiesen. Und die Fremen sind der Schlüssel dazu.«

Seine Stimme kam jetzt vom anderen Ende des Zelts, aber die Bitterkeit, die auf sie einströmte, war unverkennbar.

Das ganze Leben lang hat man ihn darauf trainiert, die Harkonnens zu hassen, dachte sie. Und jetzt findet er heraus, daß er einer der ihren ist … durch mich. Wie wenig er mich kennt! Ich war die einzige Frau meines Herzogs. Und ich habe sein Leben und sein Schicksal ebenso akzeptiert, wie die Anweisungen, die ich als Bene Gesserit erfüllen muß.

Die zum Zelt gehörende Glühbeleuchtung wurde unter Pauls Händen heller und erfüllte alles mit grünem Licht. Paul kroch auf die Verschlußluke zu. Er hatte den Destillanzug jetzt vorschriftsmäßig angelegt. Seine Stirn war bedeckt, die Mundfilter an ihrem Ort, die Nasenstopfen justiert. Momentan waren nur noch seine dunklen Augen sichtbar: ein schmaler Ausschnitt seines Gesichts, das sich ihr noch einmal zuwandte.

»Bereite dich darauf vor, daß ich öffne«, sagte er mit einer Stimme, die das Filter beinahe unkenntlich machte.

Jessica zog das Filter vor den Mund und begann, den Anzug zu verschließen, während sie beobachten konnte, was Paul tat.

Paul öffnete das Zeltsiegel, Sand begann zu rieseln, als die Öffnung rasch größer wurde. Ehe er sich versah, oder etwas dagegen unternehmen konnte. Innerhalb der sandigen Wand bildete sich ein Loch. Paul schlüpfte hindurch. Jessica achtete auf die Geräusche, die er erzeugte, während er an die Oberfläche tauchte.

Was wird dort draußen auf uns warten? durchzuckte es sie. Die Harkonnen-Soldaten und Sardaukar sind Gefahren, mit denen wir rechnen müssen — Aber … wird es nicht auch Dinge geben, von denen wir keine Ahnung haben?

Sie dachte an die seltsamen Überlebenswerkzeuge, die sich in dem Bündel befunden hatten. Jedes einzelne schien ihr auf eine fremde Gefahr hinzudeuten, gegen die man sie einsetzen mußte.

Ein Schwall noch heißen Oberflächensandes traf plötzlich ihr Gesicht, das glücklicherweise durch den Filter geschützt war.

»Reich mir das Bündel herauf«, sagte Paul von oben.

Sie beeilte sich, seinem Wunsch nachzukommen und hörte, wie die Literjons gurgelten und gluckerten, als sie das Bündel über den Zeltboden zog. Als sie nach oben sah, erkannte sie Paul. Hinter ihm leuchteten die Sterne.

»Hierher«, flüsterte er, griff nach der Ausrüstung und zog sie zu sich hinauf.

Jetzt füllten mehr Sterne ihr Blickfeld. Sie erschienen ihr wie die glänzenden Mündungen unheildrohender Waffen, die genau auf sie gerichtet waren. In diesem Moment tauchte ein Meteoritenschauer in die Atmosphäre des Planeten ein und verglühte. Das Aufleuchten verdampfenden Gesteins erschien Jessica wie eine Warnung, wie Streifen auf dem Rücken einer Wildkatze, wie glitzernde Krallen, die nach einem Gegner hieben.

»Schnell«, sagte Paul. »Ich will das Zelt abreißen.«

Eine Sandfontäne regnete auf sie herab, als ihre linke Hand die Oberfläche erreichte. Wieviel Sandkörner kann eine Hand umfassen?

»Soll ich dir helfen?« fragte Paul.

»Nein, es geht schon.«

Jessica schluckte, trotz ihrer ausgetrockneten Kehle, glitt in das Loch hinein und fühlte, wie der lose Sand unter ihren Händen nachgab. Paul langte zu ihr hinab, packte ihren Arm. Dann stand sie auch schon neben ihm auf der sternenbeschienenen Oberfläche einer Wüstenlandschaft und blickte sich um. Wo man auch hinsah: der Sand beherrschte alles. Er breitete sich vor ihnen aus, in jeder Richtung. Lediglich die wenigen Felsen, hinter denen sie Schutz gefunden hatten, veränderten diesen Eindruck. Jessicas überwache Sinne tasteten die nähere Umgebung ab.

Die Geräusche kleiner Tiere.

Vögel.

Irgendwo, weiter entfernt, wühlte irgendein Tier im Sand.

Paul brach das Zelt ab und zog es aus dem Loch heraus. Das Licht der Sterne war so kläglich, daß man in jedem Schatten einen Gegner zu sehen vermeinte. Jessica fröstelte. Gebannt faßte sie die Umgebung ins Auge.

Die Schwärze ist eine schlechte Erinnerung, dachte sie. Man rechnet ständig damit, aus ihr das hervortreten zu sehen, was man fürchtet — was man immer schon gefürchtet hat. Man hört in ihr sogar die Schreie derjenigen, vor denen einst die Vorfahren die Flucht ergriffen. In der Dunkelheit erinnern sich sogar die Zellen des Körpers längst vergessener Gefahren.

Plötzlich stand Paul neben ihr und sagte: »Duncan hat mir gesagt, daß er, wenn man ihn finge, bis zu diesem Zeitpunkt aushalten könne. Wir müssen jetzt von hier verschwinden.« Er schulterte das Bündel, durchquerte die kleine Felsenlichtung und erklomm eine kleine Anhöhe, um einen Blick in die offene Wüste zu werfen.

Jessica folgte ihm wie eine Marionette. Ihr wurde bewußt, wie stark sie bereits von ihrem Sohn abhängig war. Bis jetzt wog mein Kummer schwerer als all der Sand in diesem Ozean, dachte sie, aber nun hat diese Welt mir ein neues Ziel gegeben: Das Morgen ist wichtig für mich. Ich werde jetzt nur noch für meinen jungen Herzog leben und die Tochter Letos, die einst unter uns sein wird.

Sie spürte, wie der Sand an ihren Füßen zog, als sie sich neben Paul stellte.

Er schaute nach Norden, über die Felsen hinweg zu einem Abhang hinüber. Die weit entfernte Felsenlinie erinnerte an ein antikes Schlachtschiff, das im Sternenlicht auf Grund gelaufen war. Orangerotes Licht brach sich dahinter und wurde zu purpurnem Feuer.

Noch ein Strahl!

Und noch einer!

Es war wie eine frühzeitliche Seeschlacht, bei der Leuchtraketen abgefeuert wurden. Der Anblick schlug sie in seinen Bann.

»Feuersäulen«, flüsterte Paul.

Ein Ring roter Punkte erhob sich über den entfernt liegenden Felsformationen. Purpurstrahlen zerrissen die Nacht.

»Raketenstrahlen und Lasguns«, sagte Jessica.

Zu ihrer Linken erschien jetzt der staubigrote erste Mond Arrakis', und sie sahen in seinem Licht etwas, das sich über der Wüste bewegte.

»Das müssen die Harkonnen-Thopter sein, die nach uns suchen«, sagte Paul. »Die Art, in der sie die Wüste durchpflügen … das sieht mir ganz danach aus, als wüßten sie, daß sich etwas hier befindet … Sie gehen vor, als wollten sie alles vernichten … wie man einen Ameisenhaufen zertrampelt.«

»Oder ein Atreides-Nest«, sagte Jessica.

»Wir müssen uns ein Versteck suchen«, sagte Paul. »Wir gehen nach Süden und bleiben in den Felsen. Wenn sie uns in der offenen Wüste schnappen …« Er drehte sich um und überprüfte den Sitz seiner Traglast. »Sie werden alles umbringen, was sich dort bewegt.«

Er machte einen Schritt nach vorn, und im gleichen Moment hörte er auch schon das leise Zischen einer Flugmaschine, die über ihnen daherschoß, sah die schattenhaften Umrisse der Ornithopter, die sich rasch näherten.

2

Mein Vater sagte mir einst, daß der Respekt vor der Wahrheit der Basis aller Moralität ziemlich nahe kommt. »Aus dem Nichts kann sich nichts entwickeln«, sagte er. Mir scheint das ein tiefgründiger Gedanke zu sein, wenn man sich darüber im klaren ist, welche Unstabilität ›die Wahrheit‹ beinhaltet.

Aus ›Gespräche mit Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


»Ich bin immer stolz darauf gewesen, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind«, bemerkte Thufir Hawat. »Und das macht natürlich einen Mentaten aus. Man kann einfach nicht damit aufhören, ständig alle Daten wieder in Frage zu stellen.«

Sein lederartiges, altes Gesicht schien in der Beleuchtung der frühen Morgenstunde aus Millionen kleiner Stücke zusammengesetzt zu sein. Die saphogefärbten Lippen bildeten eine harte Linie in seinem Gesicht.

Der mit einer Robe bekleidete Mann, der neben ihm wortlos im Sand hockte, schien ziemlich unbeeindruckt zu sein.

Sie befanden sich unter einem felsigen Überhang, der ihnen einen recht guten Ausblick auf die weite Senke erlaubte, die sich vor ihnen ausbreitete. Über den Felsenklippen, die sie umgaben, dämmerte der Morgen und tauchte alles in eine hellrote Farbe. Es war kalt unter dem Überhang und trocken, trotz des Frostes, der von der Nacht her noch übriggeblieben war. Kurz vor Morgengrauen hatte es einen warmen Wind gegeben, aber jetzt herrschte wieder die Kälte. Hawat hörte, wie die Zähne des Mannes klapperten — ebenso wie die der letzten paar Männer, die von seiner Truppe übriggeblieben waren.

Der Mann, der ihm gegenübersaß, war ein Fremen. Er war, kaum daß die ersten Sonnenstrahlen sich hatten blicken lassen, aus der Wüste gekommen, über die Dünen hinweg. Und er hatte jede seiner Bewegungen unter vollster Kontrolle gehabt.

Der Fremen bohrte einen Finger in den Sand und zeichnete eine Figur, die aussah wie eine Schüssel, aus der ein Pfeil herausragte. »Dort sind viele Harkonnen-Kommandos«, erklärte er, hob die Hand und deutete über die Felsen hinweg, unter denen Hawat und seine Männer Zuflucht gefunden hatten.

Hawat nickte.

Viele Kommandos. Sicher.

Aber er wußte noch immer nicht, was der Fremen von ihm wollte. Und das störte ihn, denn das Training, dem er als Mentat unterworfen gewesen war, sollte ihn eigentlich in die Lage versetzen, das herauszufinden.

Hawat hatte die schlimmste Nacht seines Lebens hinter sich. Er war in Tsimpo gewesen, einer kleinen Garnisonsstadt, die in der Nähe der ehemaligen Hauptstadt Carthag lag, als die ersten Angriffsberichte eingetroffen waren. Zuerst hatte er gedacht: Es ist nur ein Scheinüberfall. Die Harkonnens starten lediglich einen Versuch.

Aber dann war der eine Bericht dem anderen gefolgt — und sie kamen immer schneller.

Zwei Legionen waren in Carthag gelandet.

Fünf Legionen — Fünfzig Brigaden! — griffen die Hauptbasis des Herzogs in Arrakeen an.

Eine Legion marschierte gegen Arsunt.

Zwei Kampfgruppen trafen auf die Ortschaft mit dem Namen Splitterfelsen.

Dann waren die Berichte detaillierter geworden. Unter den Angreifern befanden sich die Sardaukar des Imperators, möglicherweise zwei Legionen. Und mit der Zeit wurde ihnen immer klarer, daß die Invasoren genau wußten, wie sie ihre Streitkräfte aufzuteilen hatten. Sie wußten das genau! Und das erforderte eine hundertprozentig wirksame Spionagetätigkeit.

Hawats Wut hatte sich dermaßen gesteigert, daß er zu der Befürchtung gelangte, dies beeinträchtige seine Mentatfähigkeiten. Die Größenordnung des Angriffs hatte sein Bewußtsein wie eine Serie psychischer Kinnhaken getroffen.

Und nun saß er hier zwischen den Felsen, versteckte sich und zog den Umhang seiner zerfetzten Tunika enger um die Schultern, als könne er damit die kalten Schatten von sich fernhalten.

Die Größenordnung des Angriffs.

Er hatte vermutet, daß der Gegner sich einen der üblichen Leichter von der Gilde mieten würde, um einen Testüberfall zu veranstalten, denn dies war eine der bekannten Verhaltensweise in einem Haus-zu-Haus-Kampf. Regelmäßig starteten und landeten Leichter von Arrakis, um die Gewürzladungen von hier fortzubringen. Und deswegen hatte Hawat alle Vorsichsmaßnahmen für einen solchen Fall treffen lassen. Sie hatten nicht mehr als höchstens zehn Brigaden bei einem regulären Angriff erwartet.

Aber wenn die letzten Zählungen stimmten, waren auf Arrakis mehr als zweitausend Schiffe niedergegangen — und das waren keinesfalls nur Leichter gewesen, sondern auch Fregatten, Spioneinheiten, Aufklärer, Frachter, Truppentransporter und andere …

Mehr als hundert Brigaden — zehn Legionen!

Nicht einmal die Gesamtausbeute an Gewürz von fünfzig Jahren konnte diese Kosten decken.

Aber es wird sich dennoch auszahlen.

Ich habe einfach unterschätzt, was der Baron für einen solchen Angriff auszugeben bereit wäre, dachte Hawat. Das hat meinen Herzog das Leben gekostet.

Und dann war da noch die Sache mit dem Verräter.

Ich werde noch so lange leben, dachte Hawat, um sie hängen zu sehen. Ich hätte diese Bene-Gesserit-Hexe umbringen sollen, als sich mir die Chance bot. Er zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß er wußte, wer diesen Verrat begangen hatte: Lady Jessica. Nur sie konnte die Gegenseite mit den Informationen versorgt haben.

»Ihr Mann Gurney Halleck und ein Teil seiner Streitkräfte sind bei unseren Schmugglerfreunden untergekommen«, sagte der Fremen.

»Gut.«

Gurney will also auch diesen Höllenplaneten verlassen. Aber noch sind wir nicht alle gegangen.

Hawat warf einen Blick auf die Männer, die ihm noch verblieben waren. Am Abend vorher war er mit dreihundert von ihnen aufgebrochen. Jetzt waren sie nur noch zwanzig, die Hälfte davon verwundet. Einige schliefen, andere standen herum, hatten sich gegen den Fels gelehnt oder hockten im Sand. Ihr letzter Thopter, mit dem sie die Verwundeten ausgeflogen hatten, war ebenfalls nicht mehr. Kurz vor dem Morgengrauen hatte er seinen Geist aufgegeben. Sie hatten ihn, um keine verräterischen Spuren zu hinterlassen, mit den Lasguns zerschnitten und eingegraben. Erst dann hatten sie sich zu diesem Versteck am Rande der Ebene aufgemacht.

Hawat konnte nur grob abschätzen, wo sie sich derzeit befanden, irgendwo zweihundert Kilometer südöstlich von Arrakeen. Die Hauptwege zwischen dem Schildwall und den dort ansässigen Sietchgemeinschaften mußten irgendwo südlich von ihnen liegen.

Als der Fremen seine Kapuze etwas nach hinten schob, sah Hawat das sandfarbene Haupt- und Kinnhaar des Mannes. Er trug es glatt nach hinten gekämmt und besaß eine hohe Stirn. Seine Augen zeigten das undeutbare Blau eines Menschen, der an das Gewürz gewohnt ist. Der Fremen fingerte an den Filterstopfen herum und überprüfte ihren Sitz. Neben der Nase leuchtete eine Narbe.

»Wenn ihr die Ebene hier in der Nacht durchqueren wollt«, begann er erneut, »dürft ihr keine Schilde benutzen. Es gibt in dem Wall eine Lücke …«, er drehte sich auf den Fersen um und deutete nach Süden, »… und dort ist eine offene Fläche, die in das Erg hinausführt. Die Schilde ziehen die Aufmerksamkeit eines …«, er zögerte, »… eines Wurms auf sich. Sie kommen an sich nicht oft in diese Gegend, aber wenn ihr Schilde einsetzt, könnt ihr sicher sein, daß sie das spüren.«

Er hat ›Wurm‹ gesagt, dachte Hawat, und dabei wollte er zuerst etwas ganz anderes sagen. Aber was? Und — was will er wirklich von uns?

Hawat seufzte.

Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben so müde gewesen zu sein. Ihn plagte eine Muskelschlaffheit, gegen die sogar Energiepillen machtlos waren.

Diese verdammten Sardaukar!

Es war deprimierend, nur an diese Soldaten-Fanatiker und den kaiserlichen Verrat, den sie repräsentierten, zu denken. Und am schlimmsten war, daß er durch seine Mentatfähigkeiten genau darüber im Bilde war, daß es keine Chance gab, dies je vor einem Konzil des Landsraad zur Sprache zu bringen.

»Ihr wollt auch zu den Schmugglern gehen?« fragte der Fremen jetzt.

»Ist das denn möglich?«

»Der Weg ist weit.«

Fremen mögen es nicht, nein zu sagen, hatte ihm Idaho einmal erzählt.

Hawat erwiderte: »Du hast mir immer noch nicht gesagt, ob es euren Leuten möglich ist, meinen Verwundeten zu helfen.«

»Sie sind verwundet.«

Jedesmal die gleiche verdammte Antwort!

»Wir wissen, daß sie verwundet sind«, sagte Hawat gereizt. »Das ist überhaupt nicht die …«

»Friede, Freund«, unterbrach ihn der Fremen sanft. »Was sagen eure Verwundeten dazu? Sind welche unter ihnen, die einsehen, daß euer Stamm Wasser benötigt?«

»Wir haben nicht über Wasser gesprochen«, sagte Hawat, »sondern …«

»Ich kann euren Widerwillen verstehen«, unterbrach ihn der Fremen erneut. »Sie sind eure Freunde und gehören dem gleichen Stamm an. Aber — habt ihr Wasser?«

»Nicht viel.«

Der Fremen deutete auf Hawats Tunika und die Haut, die sich darunter abzeichnete. »In einem Sietch werdet ihr ein Blickfang sein, ohne eure Anzüge. Ihr müßt eine Entscheidung treffen, mein Freund.«

»Wir können mit eurer Hilfe rechnen?«

Der Fremen zuckte die Achseln.

»Ihr habt kein Wasser.« Er warf einen Blick auf die hinter Hawats Rücken liegende Gruppe. »Wie viele von euren Verwundeten würdet ihr hergeben?«

Hawat schwieg und starrte den Mann an. Als Mentat war es eine Kleinigkeit, zu erkennen, daß sie beide aneinander vorbeiredeten. Die Klänge der Worte wurden auf diesem Planeten in einer ganz anderen Art aufgefaßt.

»Ich bin Thufir Hawat«, sagte er dann, »und ich habe das Recht, für meinen Herzog zu sprechen. Ich will ein Abkommen mit euch treffen, daß darauf hinausläuft, daß ihr meine Truppe solange unterstützt, bis sie ihre letzte Aufgabe erledigt hat. Sie besteht daraus, daß wir einen Verräter fangen und hinrichten müssen.«

»Du verlangst, daß wir euch in einer Vendetta beistehen?«

»Die Vendetta werde ich selbst ausführen. Ich möchte von der Verpflichtung befreit werden, für meine Verwundeten zu sorgen.«

Der Fremen sah ihn ungläubig an. »Wie kannst du deinen Verwundeten gegenüber verpflichtet sein? Sie sind nur sich selbst verpflichtet. Das Wasser ist das Problem, Thufir Hawat. Und du verlangst von mir, daß ich dir diese Entscheidung abnehmen soll?«

Der Mann legte eine Hand auf die unter seiner Robe versteckte Waffe.

Hawat dachte erschreckt: Könnte das eine Falle sein?

»Was ist es, wovor du dich fürchtest?« fragte der Fremen.

Diese Leute mit ihrer schrecklichen Direktheit! Hawat sagte vorsichtig: »Auf meinem Kopf steht ein Preis.«

»Ah!« Der Fremen zog die Hand zurück. »Du dachtest, bei uns gäbe es so etwas wie Korruption? Du kennst uns wirklich nicht. Die Harkonnens haben nicht einmal genügend Wasser, um damit eines unserer kleinen Kinder zu kaufen.«

Aber sie hatten das Geld für einen Transport von mindestens zweitausend Kampfschiffen, dachte Hawat. Und diese Tatsache erschreckte ihn.

»Wir kämpfen beiden gegen die Harkonnens«, sagte er. »Sollten wir deswegen nicht auch die Probleme teilen, die uns gemeinsam bedrücken?«

»Das tun wir«, erwiderte der Fremen. »Ich habe gesehen, wie ihr die Harkonnens bekämpft habt. Ihr wart gut. Ich habe mir mehr als einmal gewünscht, euch an meiner Seite zu sehen.«

»Sag mir, was ich für euch tun kann«, gab Hawat zurück.

»Wer kann das sagen?« fragte der Fremen. »Die Streitkräfte der Harkonnens sind überall. Aber ihr habt noch immer keine Wasserentscheidung getroffen.«

Ich muß jetzt vorsichtig sein, sagte sich Hawat. Wir reden hier über eine Sache, die mir unklar ist.

Laut sagte er: »Bist du bereit, mir die Lage zu erklären?«

Der Fremen murmelte etwas Unverständliches und deutete dann mit ausgestrecktem Arm auf die nordwestlichen Felsklippen. »In der letzten Nacht haben wir euch über den Sand kommen sehen.« Sein Arm sank zurück. »Ihr seid zwischen den Dünen gelaufen. Ihr habt weder Destillanzüge noch Wasser. Ihr werdet es nicht lange machen.«

»Auf Arrakis muß man sich erst einstellen«, erwiderte Hawat.

»Stimmt. Aber wir haben Harkonnen-Soldaten getötet.«

»Was macht ihr mit euren eigenen Verletzten?« fragte Hawat.

»Kann ein Mann nicht allein entscheiden, wann es für ihn noch eine Überlebenschance gibt?« stellte der Fremen die Gegenfrage. »Auch eure Verletzten wissen, daß ihr kein Wasser habt.« Er schüttelte den Kopf und schaute Hawat an. »Dies ist die Zeit, an der über das Wasser eine Entscheidung getroffen werden muß. Nicht nur die Unverletzten, auch die Verwundeten müssen sich Gedanken über die Zukunft des eigenen Stammes machen.«

Die Zukunft des Stammes, dachte Hawat. Der Stamm der Atreides'. Irgendwie steckt Wahrheit darin. Er zwang sich zu der Frage, die ihn am meisten bewegte.

»Habt ihr eine Nachricht von meinem Herzog oder seinem Sohn?«

Der Fremen schaute mit einem undeutbaren Blick seiner blauen Augen zu Hawat auf. »Nachricht?«

»Über ihr Schicksal!« sagte Hawat ungeduldig.

»Das Schicksal trifft jeden«, erwiderte der Fremen. »Euer Herzog, so heißt es, ist seinem Schicksal begegnet. Das Schicksal des Lisan al-Gaib, der sein Sohn ist, liegt in Liets Hand.«

Um diese Antwort zu bekommen, hätte ich überhaupt keine Frage zu stellen brauchen, dachte Hawat.

Er schaute zu seinen Männern hinüber. Sie waren jetzt alle wach und hatten ihrem Gespräch zugehört. Schweigend starrten sie in die Sandwüste hinaus, begreifend, daß sie sich an diesen Anblick würden gewöhnen müssen: eine Rückkehr nach Caladan war ihnen verwehrt. Und Arrakis hatten sie verloren.

Zu dem Fremen gewandt sagte Hawat: »Habt ihr etwas von Duncan Idaho gehört?«

»Er befand sich im Innern des Hohen Hauses, als der Schild zusammenbrach«, erklärte der Fremen. »Dies habe ich gehört … mehr nicht.«

Sie hat den Schildgenerator abgeschaltet und die Harkonnens hereingelassen, dachte Hawat. Und ich war derjenige, der mit dem Rücken zur Tür saß. Wie konnte sie das nur tun, wenn sie wußte, daß sie sich damit gegen den eigenen Sohn stellt? Aber … wer weiß schon, wie eine Bene-Gesserit-Hexe denkt … falls man das, was sie tun, überhaupt denken nennen kann.

Er versuchte zu schlucken, obwohl seine Kehle wie ausgedörrt war. »Wann könnt ihr etwas über den Jungen erfahren?«

»Wir wissen nur wenig von dem, was in Arrakeen passiert«, sagte der Fremen achselzuckend. »Wer weiß?«

»Habt ihr einige Möglichkeit, das herauszufinden?«

»Vielleicht.« Der Fremen tastete mit dem Finger über die Narbe neben seiner Nase. »Sag mir, Thufir Hawat, wißt ihr etwas über die schweren Waffen, die die Harkonnens einsetzten?«

Die Artillerie, dachte Hawat bitter. Wer hätte damit rechnen können im Zeitalter der Schilde?

»Du meinst die Artillerie, die sie benutzten, um unsere Leute in den Höhlen zusammenzuschießen«, nickte er. »Ich habe einiges theoretisches Wissen, was diese Explosivwaffen angeht.«

»Jeder Mann, der sich in eine Höhle begibt, von der er weiß, daß sie nur einen Ausgang besitzt, muß damit rechnen zu sterben«, sagte der Fremen.

»Weshalb fragst du?«

»Liet wünscht es so.«

Ist es das, was er von uns will? fragte sich Hawat. Dann fragte er: »Bist du gekommen, um etwas über diese Geschütze zu erfahren?«

»Liet wünschte, eine dieser Waffen zu sehen.«

»Dann solltet ihr eine besorgen«, schnaufte Hawat.

»Ja«, gab der Fremen zurück. »Das haben wir getan. Wir haben das Geschütz dort versteckt, wo Stilgar es untersuchen und Liet es sehen kann, wann immer er es wünscht. Aber ich zweifle daran, daß er es sich ansieht. Die Waffe ist keine besonders gute. Ihre Konstruktion taugt nichts für Arrakis.«

»Ihr … habt eine?« fragte Hawat erstaunt.

»Es war ein guter Kampf«, erwiderte der Fremen. »Wir haben nur zwei Männer verloren und erbeuteten das Wasser von mehr als hundert der anderen.«

Die Geschütze wurden von Sardaukar bedient, durchzuckte es Hawat. Und dieser verrückte Wüstenmensch redet davon, daß er gegen sie nur zwei Männer verloren hat?

»Wenn diese anderen Männer, die mit den Harkonnens zusammen kämpften, nicht gewesen wären«, sagte der Fremen, »hätten wir überhaupt keine Verluste gehabt. Manche von denen waren ziemlich gute Kämpfer.«

Einer von Hawats Männern kam humpelnd näher und starrte den immer noch auf den Fersen im Sand hockenden Fremen an. »Spricht er von den Sardaukar?«

»Ja«, sagte Hawat, »das tut er.«

»Sardaukar!« rief der Fremen aus, und ein Glanz trat in seine Augen. »Ah, das waren sie also! Es war wirklich eine gute Nacht. Sardaukar. Welcher Legion gehörten sie an? Wißt ihr das noch?«

»Wir … haben keine Ahnung«, gab Hawat zu.

»Sardaukar«, wiederholte der Fremen. »Aber sie trugen die Uniformen der Harkonnens. Ist das nicht seltsam?«

»Der Imperator wünscht nicht, daß ruchbar wird, er zöge gegen eines der Hohen Häuser zu Felde«, erklärte Hawat.

»Aber ihr wißt, daß hier Sardaukar sind.«

»Wer sind wir schon?« fragte Hawat verbittert.

»Du bist Thufir Hawat«, erwiderte der Fremen sachlich. »Nun, wir hätten es auch so irgendwann erfahren. Wir haben drei von ihnen gefangen und Liets Männern geschickt, damit sie verhört werden.«

Hawats Stellvertreter flüsterte mit ungläubigem Gesicht: »Ihr … habt Sardaukar gefangengenommen?«

»Nur drei«, erwiderte der Fremen. »Sie haben sich ziemlich heftig gewehrt.«

Hätten wir nur die nötige Zeit gehabt, mehr von diesen Fremen zu lernen! dachte Hawat. Wenn wir sie doch nur trainiert und bewaffnet hätten! Große Mutter, welch ein Kampfpotential hätten wir besessen!

»Vielleicht zögert ihr, weil ihr euch Sorgen wegen des Lisan al-Gaib macht«, fuhr der Fremen fort. »Wenn er wirklich der Lisan al-Gaib ist, kann ihm nichts passieren. Ihr solltet keine Gedanken an Dinge verschwenden, die außerhalb eures Einflusses liegen.«

»Ich bin ein Diener des … Lisan al-Gaib«, sagte Hawat. »Sein Wohlergehen ist meine Verpflichtung. Ich habe ihm mein Leben verpfändet.«

»Auch dein Wasser?«

Hawat warf seinem Stellvertreter einen raschen Blick zu.

»Auch mein Wasser, ja.«

»Und du wünschst nach Arrakeen, dem Platz seines Wassers zurückzukehren?«

»Zum … ja, zum Platz seines Wassers.«

»Warum hast du nicht gleich gesagt, daß es sich hier um eine Wasserschuld handelt?« Der Fremen stand auf.

Hawat gab seinem Stellvertreter mit einem Nicken zu verstehen, daß er zu den anderen zurückkehren solle. Mit einem müden Achselzucken gehorchte der Mann. Die anderen begannen mit leiser Stimme hinter seinem Rücken miteinander zu reden.

Der Fremen sagte: »Es gibt immer einen Weg zum Wasser.«

Hinter Hawat zuckte einer der Soldaten zusammen. Der Stellvertreter rief: »Thufir! Arkie ist gestorben!«

Der Fremen legte eine Faust gegen sein Ohr. »Der Wasserbund! Das ist ein Zeichen!« Er starrte Hawat an. »Wir haben in der Nähe eine Möglichkeit, das Wasser zu entnehmen. Soll ich meine Männer rufen?«

Hawats Stellvertreter kam plötzlich zurück und sagte: »Thufir, ein paar von den Männern haben ihre Frauen in Arrakeen zurückgelassen. Sie sind … nun, du wirst selbst wissen, wie sie sich in einer Lage wie dieser fühlen.«

Immer noch lag die Faust des Fremen an seinem Ohr. »Ist das der Wasserbund, Thufir Hawat?«

Hawats Sinne rasten. Er wußte jetzt genau, was die Worte des Wüstenbewohners bedeuteten, aber er fürchtete eine falsche Reaktion der hinter ihm liegenden, übermüdeten Männer. Wenn sie es erst verstanden …

»Der Wasserbund«, nickte Hawat.

»Unsere Stämme sollen einander treffen«, erwiderte der Fremen und lockerte seine Faust.

Als sei dies ein Signal gewesen, erschienen über ihnen in den Felsen vier Männer, die rutschend an den glatten Wänden herabglitten. Sie sprangen von dem Felsüberhang herunter, rollten den Gestorbenen in eine Robe, hoben ihn an und rannten mit ihm an der Felswand entlang, die zu ihrer Rechten lag. Ihre Füße erzeugten während des raschen Laufs kleine, staubige Sandwolken.

Die ganze Aktion ging so schnell vor sich, daß Hawats Männer sie überhaupt nicht richtig mitbekamen. Erst als die Gruppe zwischen den Klippen verschwunden war, kam Leben in die erschöpften Soldaten.

Einer von ihnen schrie: »Was haben sie mit Arkie vor? Er war …«

»Sie bringen ihn weg, weil sie ihn … begraben wollen«, erklärte Hawat mit lauter Stimme.

»Die Fremen begraben ihre Toten nicht!« rief der Mann. »Versuche uns nicht hereinzulegen, Thufir! Wir wissen genau, was sie tun. Arkie war einer von …«

»Das Paradies ist jedem Mann sicher, der in den Reihen des Lisan al-Gaib kämpft«, sagte der Fremen. »Und wenn ihr wirklich dem Lisan al-Gaib dient, wie ihr behauptet habt, was soll dann das Klagegeschrei? Das Andenken an einen Mann, der unter diesen Umständen sein Leben ließ, wird so lange bestehen bleiben wie die Menschheit existiert.«

Aber Hawats Männer erhoben sich. Ihre Gesichter zeigten deutlich, daß sie mit dieser Erklärung nicht einverstanden waren. Einer ergriff seine Lasgun.

»Bleibt stehen, wo ihr seid!« brüllte Hawat und vergaß in diesem Moment sogar die Schlaffheit seiner Muskeln. »Diese Leute respektieren unseren Toten. Die Sitten unterscheiden sich von den unserigen auf Arrakis, aber ihre Bedeutung ist die gleiche!«

»Sie werden Arkies Körper von jeglicher Flüssigkeit befreien«, knirschte der Mann mit der Lasgun.

»Wollen die Männer der Zeremonie beiwohnen?« fragte der Fremen.

Er sieht das Problem nicht einmal, wurde Hawat klar. Die Naivität der Fremen war erschreckend.

»Sie machen sich Sorgen um einen beliebten Kameraden«, erklärte er heiser.

»Wir werden euren Kameraden mit dem gleichen Respekt behandeln wie jeden der unseren«, entgegnete der Fremen, hob die Hand und ballte sie zur Faust. »Dies ist der Bund des Wassers. Wir kennen die Riten. Das Fleisch eines Mannes ist sein Eigentum sein Wasser gehört dem Stamm.«

Als der Mann mit der Lasgun einen weiteren Schritt nach vorn machte, sagte Hawat schnell: »Ihr werdet unseren Verwundeten helfen?«

»Man stellt den Bund nicht in Frage«, erwiderte der Fremen. »Wir werden für euch tun, was ein Stamm für sich selbst tun kann. Zuerst müssen wir euch mit Anzügen versorgen, dann sehen wir weiter.«

Der Bewaffnete zögerte.

Hawats Stellvertreter sagte: »Helfen Sie uns wegen … Arkies Wasser?«

»Nein«, erwiderte Hawat rauh. »Sie helfen uns, weil wir jetzt zu ihnen gehören.«

»Andere Sitten«, murmelte einer der Männer.

Hawat begann sich zu entspannen.

»Und sie werden uns helfen, nach Arrakeen zu gelangen?«

»Wir werden Harkonnens töten«, erklärte der Fremen grinsend. »Und Sardaukar.« Er machte ein paar Schritte zurück, legte die Hände schalenförmig hinter die Ohren und warf lauschend den Kopf zurück. Dann sagte er: »Ein Flugzeug nähert sich. Versteckt euch zwischen den Felsen und bewegt euch nicht.«

Auf einen Wink von Hawat gehorchten die Männer sofort.

Der Fremen packte Hawat am Arm und schob ihn in die Richtung der anderen. »Wir werden kämpfen, wenn die Zeit dazu gekommen ist«, murmelte der Mann, langte unter seine Robe und beförderte einen winzigen Käfig zutage, in der eine kleine Kreatur hockte.

Hawat erkannte eine Fledermaus, die ihm den Kopf zuwandte und ihn aus völlig blauen Augen ansah.

Der Fremen zog die Fledermaus aus dem Käfig heraus, streichelte sie und preßte sie zärtlich gegen seine Brust. Dann beugte er sich über den Kopf des Geschöpfs und ließ einen Tropfen Speichel in den aufgerissenen Rachen fallen. Die Fledermaus breitete ihre Schwingen aus, blieb jedoch auf der Handfläche ihres Herrn sitzen. Der Fremen hatte plötzlich eine dünne Röhre in der anderen Hand und richtete sie, unverständliche Geräusche von sich gebend, gegen den Schädel des Tieres. Dann hob er die Hand und warf die Fledermaus in die Luft.

Sofort schoß sie zwischen den Felsenklippen dahin und verschwand.

Der Fremen faltete den Käfig zusammen und ließ ihn wieder unter der Robe verschwinden. Erneut legte er den Kopf auf die Seite und horchte. »Sie durchsuchen das Hochland«, sagte er. »Die Frage ist nur, wen sie da suchen.«

»Es ist ihnen sicher nicht unbekannt geblieben, in welche Richtung wir geflohen sind«, meinte Hawat.

»Man soll niemals davon ausgehen, daß man selbst das einzige Ziel einer Jagd ist«, erwiderte der Fremen. »Paßt auf die andere Seite der Ebene auf. Gleich werdet ihr etwas erleben.«

Die Zeit verging.

Einer von Hawats Männern begann sich zu bewegen und flüsterte.

»Bleibt still«, zischte der Fremen, »und verhaltet euch wie Tiere auf der Jagd.«

Hawat erkannte auf den gegenüberliegenden Klippen eine Bewegung.

»Mein kleiner Freund hat die Botschaft überbracht«, erklärte der Fremen. »Er ist ein ausgezeichneter Kurier, egal ob am Tage oder in der Nacht. Es wäre schade, wenn ich ihn je verlöre.«

Die Bewegungen am anderen Ende der Ebene hörten auf. Jetzt war zwischen den Felsenhöhen nichts anderes mehr auszumachen als eine vier oder fünf Kilometer durchmessende Sandfläche, glitzernd unter heißen Sonnenstrahlen. Die Luft begann vor Hitze zu flimmern.

»Jetzt völlig still sein«, flüsterte der Fremen.

Eine Anzahl verschwommener Figuren erschien aus einer Spalte der gegenüberliegenden Wand. Sie bewegten sich direkt auf die Ebene zu. Hawat erschienen sie wie Fremen. Er zählte sechs Männer, die sich schwer dabei taten, die Dünen zu überqueren.

Hinter Hawats Gruppe erklang plötzlich das schlagende Geräusch schwerer Ornithopter-Rotoren. Die Maschine tauchte unerwartet auf dem über ihnen liegenden Bergrücken auf. Es war eine Maschine der Atreides', die man lediglich mit den Tarnfarben der Harkonnens versehen hatte, und sie flog genau auf die Männer zu, die gerade in der Ebene sichtbar wurden.

Die Gruppe blieb am Rand einer Düne stehen und winkte.

Der Thopter zog eine enge Schleife und kam schließlich in einer Staubwolke vor den Fremen zur Landung. Fünf Männer sprangen aus der Maschine. Hawat sah das verräterische Glitzern ihrer Körperschilde. Ihre harten, zielbewußten Bewegungen sagten ihm, daß es sich um Sardaukar handelte.

»Aiiih!« sagte der Fremen neben ihm laut. »Sie benutzen diese idiotischen Schilde!« Er zischte verächtlich.

»Es sind Sardaukar«, flüsterte Hawat.

»Schön.«

Die Sardaukar schlossen die wartenden Fremen in einem Halbkreis ein. Die Sonne reflektierte die gezückten Klingen. Die Fremen standen auf einem Haufen, ohne eine bestimmte Formation einzunehmen.

Plötzlich spuckte der beide Gruppen umgebende Sand ein Heer von Fremen aus. Sie waren sofort in der Nähe des Ornithopters, und dann in seinem Inneren. An der Stelle, wo die beiden Gruppen aufeinandergetroffen waren, verhinderte eine mächtige Staubwolke jegliche Sicht.

Als der Staub sich senkte, waren die einzigen noch stehenden Personen Fremen.

»Ein Glück, daß sie nur drei Mann in der Maschine zurückließen«, ließ sich der neben Hawat hockende Fremen vernehmen. »Ich glaube nicht, daß wir den Thopter sonst in einem Stück erwischt hätten.«

Einer von Hawats Männern keuchte: »Aber das waren Sardaukar!«

»Habt ihr gesehen, wie gut sie kämpften?« fragte der Fremen. Hawat schnappte nach Luft. Er schmeckte den Geruch versengten Sandes, fühlte Hitze und Trockenheit auf der Zunge. Er fühlte sich erleichtert, als er sagte: »Sie haben wirklich gut gekämpft.«

Der erbeutete Thopter startete jetzt mit zunächst zögerndem, dann immer schneller werdendem Flügelschlag. Er flog nach Süden und stieg immer höher.

Sie wissen also auch mit Thoptern umzugehen, dachte Hawat.

Aus der Ferne winkte einer der Fremen mit einem grünen Stofffetzen: einmal … zweimal.

»Es kommen noch mehr!« sagte der Fremen, der neben Hawat stand. »Macht euch fertig! Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, daß es solche Schwierigkeiten gibt, hier wieder herauszukommen.«

Schwierigkeiten! dachte Hawat.

Zwei weitere Thopter erschienen jetzt, aus westlicher Richtung kommend, über dem Gebiet, in dem sich die Fremen aufhielten. Plötzlich waren die Gestalten verschwunden. Nur die Körper der Sardaukar in den Harkonnen-Uniformen blieben zurück und zeigten an, was sich hier abgespielt hatte.

Ein dritter Thopter erschien über dem Bergrücken, an dem Hawat und seine Männer lagen. Zischend sog er den Atem ein, als er das wahre Format der Maschine sah: es war ein Truppentransporter, und er flog mit der schweren Bedächtigkeit einer Einheit, die vollbeladen war — wie ein Riesenvogel, der sein Nest ansteuert.

In der Ferne zuckte der Purpurfinger einer Lasgun über die sandige Oberfläche. Die zur Landung ansetzenden Maschinen schossen nun aus allen Rohren und wirbelten den Sand auf.

»Diese Feiglinge!« knirschte der Fremen neben Hawat.

Der Truppentransporter ging in der Nähe der acht blauuniformierten Sardaukar nieder. Die Schwingen arbeiteten unter größter Leistungsfähigkeit, dann kamen sie zu einem plötzlichen Halt.

Irgend etwas, das die Sonnenstrahlen reflektierte, erschien aus südlicher Richtung und bewegte sich auf den Truppentransporter zu. Es war ebenfalls ein Thopter, der sich silbern vom Himmel abhob. Er zischte wie ein Adler auf die gewaltige, am Boden stehende Maschine zu, die jetzt, wegen der verstärkten Beschußaktivitäten, ohne den Schutz eines Schildes war. Dann stürzte der Thopter hinab.

Ein Aufbrüllen ließ die Ebene erzittern. Überall von den Hügeln lösten sich kleinere Felsen und rollten zu Tal. Eine rote Feuersäule jagte zum Himmel empor und wirbelte den Sand an der Stelle auf, wo sich soeben noch der Transporter und die beiden ihn begleitenden Flugmaschinen befunden hatten.

Es war einer der Fremen, der mit dem erbeuteten Thopter startete, dachte Hawat. Und er ist auch damit zurückgekehrt. Der Mann hat sich geopfert, um den Truppentransporter auszuschalten. Große Mutter! Mit welchen Leuten haben wir es hier zu tun?

»Eine vernünftige Aktion«, sagte der Fremen. »Es müssen wenigstens hundert Mann in dem Transporter gewesen sein. Wir müssen uns jetzt um ihr Wasser kümmern. Und dann einen Plan machen, wie wir an eine andere Maschine herankommen.« Er stand auf und begann den Abstieg.

Ein Schwarm blauuniformierter Männer tauchte plötzlich aus der Wand vor ihnen auf. In dem kurzen Moment, der Hawat noch blieb, um sie sich anzusehen, erkannte er, daß es sich um Sardaukar handelte. Ihre Gesichter spiegelten eine ungeheure Härte wider. Sie trugen keine Schilde, und ihre Bewaffnung bestand aus Messern und Lähmern.

Eine Klinge durchbohrte den Hals des Fremen, warf ihn nach hinten, ließ ihn zu Boden fallen. Hawat hatte gerade noch die Zeit, sein eigenes Messer zu ziehen, dann schleuderte ihn der Bolzen eines Lähmers in die Dunkelheit.

3

Obwohl Muad'dib in die Zukunft schauen konnte, waren auch seiner Kraft Grenzen gesetzt. Man konnte seine übersinnlichen Kräfte in etwa mit denen des Sehens vergleichen. Ein Mensch kann nichts sehen ohne Licht, und wenn er sich in einer engen Schlucht befindet, so ist es für ihn unmöglich wahrzunehmen, was jenseits der ihn umgebenden Felswände liegt. Ähnlich waren die Probleme Muad'dibs, wenn er versuchte, das zukünftige Terrain zu überblicken. Er sagte uns, daß bereits eine einzige obskure Entscheidung oder die Bevorzugung eines Wortes anstelle eines anderen in der Lage sei, die gesamte Zukunft zu ändern. »Der Strom der Zeit ist breit, aber wenn man sich einmal in ihm befindet, wird er zu einem engen Korridor.« Er versuchte immer, der Versuchung zu widerstehen, und bevorzugte einen sicheren Kurs, »der nicht Gefahr läuft, in die Stagnation zu führen«.

Aus ›Arrakis erwacht‹, von Prinzessin Irulan.


Als die Ornithopter über ihnen durch die Nacht glitten, ergriff Paul den Arm seiner Mutter und zischte: »Keine Bewegung!«

Im Sternenlicht konnte er erkennen, wie die erste Maschine die Schwingen einzog und Anstalten machte, zu landen.

»Es ist Idaho«, keuchte er.

Die Maschinen setzten in der Ebene auf, wie ein Vogelschwarm auf dem Rand eines Nestes. Idaho sprang zu Boden und rannte auf sie zu, noch ehe sich der aufgewirbelte Staub wieder senken konnte. Zwei Gestalten, die die charakteristische Kleidung der Fremen trugen, folgten ihm. Einer davon war Paul bekannt: der hochgewachsene, bärtige Kynes.

»Hierher!« rief Kynes und schwenkte nach links ab.

Eine Reihe anderer Fremen tauchte auf und fing an, die Maschinen mit einer Tarnung zu versehen. Sie warfen sandfarbene Decken über die Thopter, die rasch das Aussehen kleinerer Dünen annahmen.

Einige Schritte vor Paul blieb Idaho stehen und salutierte. »Mylord, die Fremen verfügen ganz in der Nähe über ein Versteck, in dem wir …«

»Was ist das da hinten?« fragte Paul und deutete auf die fernen Klippen, über denen sich der helle Lichtschein der Lasguns bewegte, die die Wüste bestrichen.

Ein kurzes Lächeln glitt über Idahos rundes Gesicht. »Mylord … Sir, ich habe ihnen eine kleine Überrasch…«

Leuchtendes, weißes Licht erfüllte plötzlich die Wüste. Es war so hell wie die Sonne und warf Schatten, die bis in die Felsen hinein reichten. Mit einer raschen Bewegung ergriff Idaho Paul am Arm und seine Mutter an der Schulter. Ehe sie sich versahen, warf der Mann sie zu Boden. Hoch über ihnen erklang das Donnergrollen einer Explosion, deren Druckwelle Sand und kleinere Steine vor sich her trieb.

Sofort saß Idaho wieder aufrecht und schüttelte den Sand von seinem Körper.

»Das waren doch nicht die Atomwaffen?« fragte Jessica. »Ich dachte …«

»Ihr habt da hinten einen Schild aufgestellt«, sagte Paul.

»Einen ziemlich großen. Und wir haben ihn unter volle Kraft gesetzt«, gab Idaho zu. »Ein Lasgunstrahl hat ihn getroffen und …« Er zuckte die Achseln.

»Subatomare Fusion«, sagte Jessica. »Das ist eine gefährliche Waffe.«

»Keine Waffe, Mylady, sondern Verteidigung. Diese Bande wird von nun an zweimal darüber nachdenken, ob sie eine Lasgun einsetzt oder nicht.«

Die Fremen näherten sich ihnen von den Ornithoptern her. Einer von ihnen sagte mit leiser Stimme: »Wir sollten uns einen Unterstand suchen, Freunde.«

Paul stand auf, während Idaho Jessica die Hand reichte.

»Diese Explosion wird einige Aufmerksamkeit erregen, Sire«, erklärte Idaho.

Sire, dachte Paul.

Es klang komisch, wenn er darüber nachdachte, daß diese Anrede jetzt ihm galt. Bisher war nur sein Vater damit angesprochen worden.

Er fühlte sich plötzlich von der Kraft seiner Vorsehung berührt, sah sich selbst infiziert von dem unkontrollierten Trieb, der das menschliche Universum dem Chaos entgegenjagte. Die Vision ließ ihn erzittern und er bat Idaho, ihn zu dem Felsvorsprung zu führen. Die Fremen waren bereits damit beschäftigt, mit ihren Spezialwerkzeugen einen Weg in den Sand hinein zu schaffen.

»Soll ich Ihr Gepäck nehmen, Sire?« fragte Idaho.

»Es ist nicht schwer, Duncan«, erwiderte Paul.

»Sie verfügen über keinen Körperschild«, gab Idaho zu bedenken. »Wollen Sie meinen haben?« Er warf einen Blick auf die fernen Felsenklippen. »Ich glaube kaum, daß sie es jetzt noch wagen, hier in der Gegend Lasguns einzusetzen.«

»Behalten Sie Ihren Schild, Duncan«, sagte Paul. »Dein rechter Arm bietet mir genügend Schutz.«

Jessica beobachtete, daß Idaho unwillkürlich näher neben ihrem Sohn ging und sagte: Er weiß, wie man Männer für sich gewinnt.

Die Fremen rollten nun einen Felsen zur Seite, hinter dem ein dunkler Gang schräg nach unten führte. Man hielt eine Abdeckung bereit, für alle Fälle.

»Hierher«, sagte einer der Fremen und führte sie über in den Felsen gehauene Treppenstufen in die Finsternis.

Hinter ihnen verschluckte die Abdeckung das Licht des Mondes und der Sterne. Irgendwo vor ihnen leuchtete sanftes, grünes Licht. Sie wandten sich nach links. Überall um sie herum waren nun mit Roben bekleidete Fremen, die sich wie ein Strom nach unten wälzten. Sie umrundeten eine Ecke und stießen auf eine weitere, sich steil neigende Passage. Sie erreichten eine große unterirdische Höhle.

Vor ihnen stand Kynes. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen und der sichtbare Stoff seines Destillanzugs glänzte in dem grünen Licht. Haar und Bart wirkten zerzaust, die völlig blauen Augen erschienen wie dunkle Höhlen unter schweren Brauen.

Im gleichen Moment, als sie die Höhle betraten, fragte Kynes sich: Warum helfe ich diesen Leuten? Ich habe mich auf das gefährlichste Unternehmen meines Lebens eingelassen. Es kann mir selbst das Genick brechen.

Dann maß er Paul mit einem geraden Blick. Der Junge hatte den schützenden Mantel der Kindheit abgestreift, man sah in seinem Verhalten weder Angst noch die Auswirkungen von Depression. Offenbar hatte er erkannt, daß für ihn im Moment nichts anderes von Wichtigkeit war als die Position, die er jetzt einnehmen mußte: die eines Herzogs. Kynes wurde bewußt, daß das Herzogtum auf Arrakis noch immer existierte, und möglicherweise gerade deshalb, weil Paul noch so jung war. Er durfte diese Sache nicht zu leicht nehmen.

Jessica sah sich in der unterirdischen Kammer um und stellte fest, daß es sich um ein Laboratorium handeln mußte. Die ausgebildeten Sinne einer Bene Gesserit ließen einfach keinen anderen Schluß zu.

»Wir sind hier in einer der ökologischen Teststationen des Imperators, die mein Vater als vorgeschobene Stützpunkte ausbauen wollte«, stellte Paul fest.

… die sein Vater wollte! dachte Kynes.

Und er wunderte sich über sich selbst. Bin ich verrückt, diesen Flüchtlingen zu helfen? Warum tue ich das? Es wäre leicht, sie jetzt festzunehmen und mir damit das Vertrauen der Harkonnens zu erkaufen.

Paul folgte dem Beispiel seiner Mutter und begann, sich den Raum näher anzusehen. An der Wand entlang waren Arbeitsplätze. Überall standen Instrumente herum. Er sah Drahtgebilde und Röhren. Über allem lag ein ozonreicher Duft.

Einige der Fremen begannen nun, sich in einem bestimmten Winkel aufzustellen, während die Luft von Geräuschen erfüllt wurde: Maschinen liefen knirschend an, die Unterwelt erwachte zu einer neuen Art von Leben.

Am Ende der Höhle entdeckte Paul eine Reihe von Käfigen, die an der Felswand befestigt waren und in denen sich kleinere Tiere befanden.

»Sie haben richtig erkannt, wo wir uns befinden«, sagte Kynes. »Für welchen Zweck würden Sie einen solchen Ort benutzen, Paul Atreides?«

»Um diesen Planeten für Menschen bewohnbar zu machen«, erwiderte Paul.

Vielleicht helfe ich ihm aus diesem Grund, dachte Kynes.

Das Geräusch der Maschinen verstummte abrupt und machte einer Stille Platz. Aus den Käfigen kamen quäkende Laute. Aber auch sie verstummten, als hätte sie jemand abgeschaltet.

Paul richtete seine Aufmerksamkeit auf die Tiere. Es handelte sich um braunhäutige Fledermäuse, die von einer automatischen Fütterungsanlage, die sich quer über die Felswände bewegte, ernährt wurden.

Ein Fremen erschien aus einem im Dunkeln liegenden Teil der Höhle und sagte zu Kynes: »Liet, der Feldgenerator arbeitet nicht mehr. Das bedeutet, daß wir uns im Moment nicht vor Detektorstrahlen schützen können.«

»Läßt sich der Schaden beheben?« fragte Kynes.

»Es wird eine Weile dauern.« Der Mann zuckte die Achseln.

»Hmm«, brummte Kynes. »Dann müssen wir eben ohne die Maschine auskommen. Stellt eine Handpumpe auf, damit wir Luft von draußen bekommen.«

»Wird gemacht.« Der Mann verschwand.

Kynes wandte sich wieder Paul zu. »Sie haben eine gute Antwort gegeben.«

Jessica fiel ein gewisser Ton in Kynes' Stimme auf. Er war es gewohnt, Befehle zu erteilen und hatte wie ein Adeliger gesprochen. Und außerdem war ihr nicht entgangen, daß der Fremen ihn mit dem Namen Liet angesprochen hatte. Liet war also Kynes' Alter Ego, wenn er sich unter dem Fremen aufhielt. Der Planetologe hatte also noch ein zweites Gesicht.

»Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar, Dr. Kynes«, sagte sie.

»Mmmm«, machte Kynes. »Wir werden sehen.« Er nickte einem seiner Leute zu und sagte: »Gewürzkaffee, Shamir. In mein Arbeitszimmer.«

»Sofort, Liet«, erwiderte der Angesprochene.

Kynes wies auf eine in den Felsen gehauene Tür in der Seitenwand.

»Darf ich bitten?«

Jessica nickte und sah, daß Paul Idaho mit der Hand ein Zeichen gab, das bedeutete, er solle hier Wache halten.

Der Gang, der nicht länger als zwei Schritte lang war, führte durch eine schwere Tür in ein quadratisches Büro, das von goldenen Glanzgloben erhellt wurde. Als sie die Schwelle überschritt, ließ Jessica eine Hand über die Türfüllung gleiten. Überrascht stellte sie fest, daß sie aus Plastahl bestand.

Nach drei Schritten blieb Paul in der Mitte des Zimmers stehen und legte sein Bündel auf dem Boden ab. Er sah sich forschend um. Hinter ihm schloß sich die Tür. Der Raum war etwa acht mal acht Meter groß, seine Wände bestanden aus natürlichem Fels von senfbrauner Farbe, von denen eine mit metallenen Regalen bedeckt war. Ein niedriger Tisch mit einer Milchglasplatte beherrschte den Mittelpunkt des Raums. Vier Suspensorstühle standen um ihn herum gruppiert.

Kynes umrundete Paul und rückte für Jessica einen Stuhl zurecht. Sie nahm Platz und beobachtete, wie ihr Sohn der neuen Umgebung seine Aufmerksamkeit schenkte.

Paul blieb noch stehen. Seine Sinne verrieten ihm, daß der leise Luftzug, den er verspürte, aus der Richtung der Regale kam. Offenbar war irgendwo dahinter ein geheimer Fluchtweg verborgen.

»Wollen Sie sich nicht setzen, Paul Atreides?« fragte Kynes.

Wie sorgfältig er es vermeidet, mich mit meinem Titel anzureden, dachte Paul. Er nahm den Stuhl und setzte sich schweigend. Auch Kynes nahm nun Platz.

»Sie spüren also auch, daß man aus Arrakis ein Paradies machen könnte«, begann er. »Aber andererseits sehen Sie selbst, daß der Imperator keine anderen Interessen verfolgt, als seine Schergen herzuschicken, damit sie diese Welt ihres Gewürzes berauben.«

Paul streckte die Hand aus, an deren Daumen der herzogliche Siegelring steckte. »Sehen Sie diesen Ring?«

»Natürlich.«

»Und Sie kennen seine Bedeutung?«

Jessica drehte sich nach ihrem Sohn um.

»Ihr Vater liegt tot in den Ruinen von Arrakeen«, entgegnete Kynes. »Technisch gesehen sind Sie sein Nachfolger.«

»Ich bin ein Soldat des Imperiums«, sagte Paul. »Das heißt, ich bin technisch gesehen ebenfalls ein Scherge.«

Kynes Gesicht verdüsterte sich. »Obwohl die Sardaukar des Imperators noch über dem Leichnam Ihres Vaters stehen?«

»Die Sardaukar haben nichts mit dem legalen Ursprung meiner Autorität zu tun«, erwiderte Paul.

»Arrakis hat seine eigene Art, zu bestimmen, wem hier die Herrscherkrone gebührt«, versetzte Kynes.

Jessica, die sich dem Planetologen zuwandte, dachte: Dieser Mann besteht aus Stahl … aus dem Stahl, das wir unbedingt brauchen. Paul begibt sich in Gefahr, wenn …

Paul sagte: »Die Sardaukar, die sich jetzt auf Arrakis aufhalten, beweisen, wie sehr der Imperator meinen Vater gefürchtet hat. Und jetzt werde ich dem Padischah-Imperator zeigen, daß er wirklich einen Grund hat, die …«

»Junge«, fiel ihm Kynes ins Wort, »es gibt Dinge, die du nicht …«

»Sie werden mich in Zukunft mit ›Sire‹ oder ›Mylord‹ ansprechen«, sagte Paul.

Vorsichtig, dachte Jessica.

Kynes starrte Paul an. Es blieb Jessica nicht verborgen, daß sein Blick eine Mischung aus Verehrung und Amüsiertheit gleichzeitig beinhaltete.

»Sire«, murmelte Kynes.

»In den Augen des Imperators«, fuhr Paul fort, »stelle ich einen Störfaktor dar. Ich störe alle, die beabsichtigen, diesen Planeten unter sich aufzuteilen. Und so wahr ich hier sitze: Ich habe die Absicht, auch weiterhin der Kloß in ihrer Kehle zu sein; der Kloß, an dem sie eines Tages ersticken!«

»Gerede«, sagte Kynes.

Paul starrte ihn an.

Plötzlich sagte er: »Es gibt hier auf Arrakis eine Legende. Nach ihr wird eines Tages der Lisan al-Gaib kommen, die Stimme aus der Außenwelt, und sie wird die Fremen in das Paradies führen. Ihre Leute haben …«

»Aberglauben!« entgegnete Kynes.

»Vielleicht«, gab Paul ihm recht. »Vielleicht aber auch nicht. Manchmal haben Aberglauben seltsame Wurzeln.«

»Sie haben einen Plan«, erwiderte Kynes. »Das merkt man … Sire.«

»Könnten die Fremen mir einen hundertprozentigen Beweis dafür liefern, daß sich hier tatsächlich Sardaukar in den Uniformen der Harkonnens herumtreiben?«

»Kleinigkeit.«

»Der Kaiser wird wieder einen Harkonnen auf Arrakis an die Schaltstellen der Macht bringen«, fuhr Paul fort. »Vielleicht sogar das Ungeheuer Rabban. Soll er. Sobald er sich dadurch selbst ans Messer geliefert hat, soll er mit der Möglichkeit rechnen, sich vor dem Landsraad zu rechtfertigen. Und dort soll er zu erklären versuchen, wie …«

»Paul!« sagte Jessica.

»Vorausgesetzt«, warf Kynes ein, »daß der Landsraad Ihre Beschwerde akzeptiert! Und auch dann kann die Sache nur einen Ausgang haben: einen allgemeinen Krieg zwischen dem Imperator und den Hohen Häusern.«

»Chaos«, bekräftigte Jessica.

»Ich wäre bereit«, sagte Paul, »mich mit dem Imperator in Verbindung zu setzen und ihm zu diesem Chaos eine Alternative aufzuzeigen.«

Jessica sagte trocken: »Du willst ihn erpressen?«

»Das ist eines der Werkzeuge der großen Politik«, gab Paul zurück. Seine Stimme klang bitter. »Er hat keinen Sohn, nur Töchter.«

»Du würdest nach dem Thron streben?« fragte Jessica.

»Der Imperator hätte keine andere Wahl, wenn er verhindern will, das sein Reich in Schutt und Asche gelegt wird«, meinte Paul. »Er wird ein solches Risiko nicht eingehen.«

»Ein verzweifeltes Spiel, das Sie da projizieren«, sagte Kynes.

»Was fürchten die Hohen Häuser des Landsraad am meisten?« fragte Paul. »Sie fürchten genau das, was jetzt auf Arrakis geschehen ist: daß die Sardaukar über sie hereinstürmen und einen nach dem anderen erledigen. Das ist überhaupt der Grund, warum der Landsraad existiert. Nur das hält die Große Konvention zusammen. Nur in ihrer Gesamtheit haben sie die Chance, sich dem Imperator gegenüber zu behaupten.«

»Aber sie sind …«

»Genau davor haben sie Angst«, beharrte Paul. »Das Wort Arrakis könnte für sie zu einem Schlachtruf werden. Sie alle würden sich in meinem Vater wiedererkennen — den sie von der Herde trennten und ermordeten.«

Kynes sagte zu Jessica: »Geben Sie diesem Plan eine Chance?«

»Ich bin kein Mentat«, erwiderte sie.

»Aber Sie sind eine Bene Gesserit.«

Sie warf Kynes einen fragenden Blick zu und meinte schließlich: »Sein Plan hat einige gute und einige schlechte Punkte … wie sie jeder Plan in diesem ersten Entwicklungsstadium aufweisen würde. Ein Plan hängt immer von seinem Konzept und seiner Durchführung ab.«

»Das Gesetz«, rezitierte Paul, »ist die ultimate Wissenschaft. So steht es über der Tür des Imperators zu lesen. Und ich werde ihm zeigen, wie man Gesetze befolgt.«

»Und ich bin nicht sicher«, sagte Kynes, »daß wir der Person, die diesen Plan entwickelt hat, trauen können. Arrakis benötigt einen anderen Plan; einen, der uns …«

»Vom Thron aus«, sagte Paul, »wäre ich in der Lage, Arrakis mit einer einzigen Geste in ein Paradies zu verwandeln. Das wäre der Preis für Ihre Unterstützung.«

Kynes versteifte sich. »Meine Loyalität ist nicht zu verkaufen, Sire.«

Paul warf ihm über den Tisch hinweg einen nachdenklichen Blick zu und studierte das alte, bärtige Gesicht mit den blauen Augen, in dem plötzlicher Zorn aufgeflammt war. Ein rauhes Lächeln zog sich um seine Mundwinkel, als er sagte: »Was Sie gesagt haben, gefällt mir. Ich möchte mich entschuldigen.«

Kynes wich Pauls Blick nicht aus, sondern sagte plötzlich: »Ein Harkonnen würde niemals einen Fehler zugeben. Vielleicht sind Sie wirklich anders, Atreides.«

»Es könnte ein Fehler in ihrer Erziehung sein«, meinte Paul. »Sie sagen, Sie seien nicht käuflich, aber ich glaube dennoch, daß ich im Besitz des Preises bin, den Sie akzeptieren können. Für Ihre Loyalität biete ich Ihnen die meinige … voll und ganz.«

Mein Sohn, dachte Jessica, besitzt die Aufrichtigkeit der Atreides. Er hat diese großartige, beinahe naive Ehrenhaftigkeit, die ihnen allen zu eigen war. Welch kraftvolle Waffe sie damit doch besitzen …

Es war unübersehbar, daß Pauls Worte Kynes bewegt hatten.

»Sie reden Unsinn«, sagte er trotzdem. »Sie sind doch nur ein Junge, der …«

»Ich bin der Herzog«, erwiderte Paul. »Ich bin ein Atreides. Kein Atreides hat jemals ein solches Versprechen gebrochen.«

Kynes schluckte.

»Wenn ich sage, daß meine Loyalität Ihnen voll und ganz gehört, dann meine ich das auch«, fuhr Paul fort. »Ich meine das ohne Einschränkung. Ich würde mein Leben für Sie hergeben.«

»Sire!« stieß Kynes hervor, und der Tonfall, in dem er dieses eine Wort hervorbrachte, zeigte Jessica, daß er ihren Sohn nicht mehr als fünfzehnjährigen Jungen, sondern als das betrachtete, was er war: ein Mann, ein Vorgesetzter. Alle Amüsiertheit war aus seiner Stimme gewichen.

In diesem Augenblick würde er ebenfalls sein Leben für Paul hingeben, dachte sie. Wie gelingt es den Atreides' nur, die Menschen so leicht und schnell für sich einzunehmen?

»Ich weiß, daß das Ihr Ernst ist«, sagte Kynes jetzt. »Aber die Harkonn…«

Die Tür hinter Pauls Rücken flog auf. Er warf sich herum, sah Waffen blitzen, hörte aufgeregtes Geschrei und sah verzerrte Gesichter hinter der Schwelle.

Mit seiner Mutter neben sich eilte Paul zu der Tür, wo Idahos Körper als letztes Bollwerk den Zugang zu Kynes' Büro versperrte. Er hatte den Schildgürtel aktiviert und klammerte sich mit letzter Kraft an der Türfüllung fest, während klauenartige Hände dem Schild mit schweren Axthieben zusetzten. Der Strahl eines Lähmers leuchtete auf.

Dann war Kynes auch schon neben ihm, und mit einem letzten Blick auf Idahos blutiges Gesicht warfen sie sich gemeinsam mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür. Draußen wimmelte es von Männern in den Uniformen der Harkonnens. Dann war die Tür zu. Kynes verriegelte sie rasch.

»Ich glaube, ich habe mich entschieden«, sagte er.

»Irgend jemand hat Ihre Maschinen geortet, bevor sie abgestellt wurden«, sagte Paul und zog seine Mutter von der Tür fort. Er sah die Verzweiflung in ihren Augen.

»Ich hätte mißtrauisch werden müssen, weil der Kaffee nicht kam«, meinte Kynes.

»Der Raum hat einen weiteren Ausgang«, stellte Paul fest. »Ist er benutzbar?«

»Die Eingangstüre«, schnaufte Kynes, »wird mindestens zwanzig Minuten halten. Es sei denn, sie setzen eine Lasgun ein.«

»Sie werden sie solange nicht einsetzen, wie sie nicht wissen, ob wir hier drinnen einen Schild aufgestellt haben«, meinte Paul.

»Es waren Sardaukar in Harkonnen-Uniformen«, flüsterte Jessica.

Schwere Schläge donnerten von außen gegen die Tür. Sie kamen in rhythmischen Abständen.

Kynes deutete auf die Regale an der rechten Wand und sagte: »Hierher.« Er schob etwas beiseite, langte mit der Hand hinein und betätigte eine Schaltung. Das ganze Regal schwang plötzlich zur Seite und gab den Blick auf einen dunklen Tunnel frei, dessen Eingangstür ebenfalls aus Plastahl bestand.

»Sie waren gut vorbereitet«, meinte Jessica.

»Wir haben achtzig Jahre unter den Harkonnens gelebt«, erklärte Kynes. Er führte sie in die Dunkelheit hinein und schloß die Tür hinter sich.

In der Finsternis erkannte Jessica einen auf dem Boden liegenden, leuchtenden Pfeil.

Hinter ihr sagte Kynes: »Wir werden uns hier trennen. Diese Tür ist massiver, sie wird mindestens eine Stunde lang die Leute aufhalten. Folgen Sie den Pfeilen, die Sie auf dem Boden sehen. Sobald Sie sie passiert haben, werden sie wieder verlöschen. Sie werden durch ein Labyrinth zu einem anderen Ausgang geführt, wo ein Thopter steht. Heute nacht ist mit einem Sturm über der Wüste zu rechnen. Sie können nur darauf hoffen, ihn zu durchdringen und sich in ihm verborgen zu halten. Meine Leute haben das oft getan, wenn sie in gestohlenen Maschinen unterwegs waren. Wenn Sie es schaffen, in den obersten Luftschichten des Sturms zu bleiben, kann Ihnen nichts passieren.«

»Und was ist mit Ihnen?« fragte Paul.

»Ich versuche, auf einem anderen Weg zu entwischen. Wenn sie mich dennoch schnappen … nun, immerhin bin ich der Planetologe des Imperators. Ich kann immer noch behaupten, Ihr Gefangener gewesen zu sein.«

Wir rennen wie Feiglinge, dachte Paul. Aber wie anders kann ich überleben, um meinen Vater zu rächen?

Er wandte sich um, warf einen Blick auf die Tür.

Jessica, die seine Bewegung gesehen hatte, sagte: »Duncan ist tot, Paul. Du hast seine Wunden selbst gesehen. Wir können jetzt nichts mehr für ihn tun.«

»Dafür werden sie eines Tages bezahlen«, erwiderte Paul.

»Nicht, wenn Sie sich jetzt nicht beeilen«, drängte Kynes.

Paul fühlte seine Hand auf der Schulter.

»Wo werden wir uns wiedersehen, Kynes?« fragte er.

»Ich werde dafür sorgen, daß die Fremen Sie suchen. Die Richtung, in der sich der Sturm bewegt, ist bekannt. Beeilen Sie sich jetzt. Möge die Große Mutter sie mit Schnelligkeit und Glück ausstatten.«

Sie hörten, wie er verschwand, als leises Rascheln in der Finsternis.

Jessica tastete nach Pauls Hand und zog ihn sanft zurück. »Wir dürfen uns nicht verlieren«, meinte sie.

»Ja.«

Paul folgte ihr über den ersten Pfeil hinaus und sah, wie er, kaum daß sie ihn passiert hatten, seine Leuchtkraft verlor. Vor ihnen tauchte der nächste auf.

Auch er erlosch, kaum daß sie daran vorbei waren.

Der nächste.

Sie rannten jetzt.

Pläne innerhalb von Plänen innerhalb von Plänen innerhalb von Plänen, dachte Jessica. Sind auch wir jetzt ein Teil eines Planes geworden, den irgend jemand gemacht hat?

Die Pfeile führten sie um eine Reihe von Biegungen, vorbei an abzweigenden Gängen, die im matten Licht ihrer Leuchtkraft nur schattenhaft wahrgenommen werden konnten. Dann ging der Weg in die Tiefe, wurde nach einiger Zeit wieder eben, führte dann hinauf. Schließlich trafen sie auf Stufen, umrundeten eine Ecke und stießen auf eine leuchtende Wand, in deren Mittelpunkt sich ein Verschlußmechanismus befand.

Paul bediente ihn.

Die Wand glitt zur Seite. Licht flackerte auf, und sie erblickten eine felsenumsäumte Kaverne, in der ein Thopter stand. Hinter der Maschine befand sich eine weitere Wand, die offenbar beweglich war, wie das auf ihr angebrachte Zeichen andeutete.

»Wohin ist Kynes gegangen?« fragte Jessica.

»Er hat nur das getan, was jeder Führer einer Guerilla-Einheit tun würde«, erklärte Paul. »Er teilte uns in zwei Gruppen und sorgte dafür, daß wir keine Kenntnis davon erhielten, wohin er flüchtete. Ebenso weiß er nicht, wohin wir gehen. Das ist für den Fall wichtig, daß man ihn festnimmt. Er könnte nichts ausplaudern.«

Paul zog Jessica in den Raum hinein. Ihre Füße wirbelten Staub auf.

»Hier ist lange Zeit niemand mehr gewesen«, meinte er.

»Er schien ziemlich sicher zu sein, daß die Fremen uns finden werden«, sagte Jessica.

»Ich teile seine Sicherheit.«

Paul ließ ihre Hand los, umkreiste den Ornithopter, berührte dann die Luke der Maschine und öffnete sie. Er deponierte sein Bündel im hinteren Teil. »Sie haben die Maschine wirklich gut versteckt«, meinte er. »Von der Armaturenbank aus kann man die Tür fernbedienen, ebenso das Licht. Achtzig Jahre unter der Herrschaft der Harkonnens haben schon zu einigem Bemerkenswertem geführt«, fügte er sarkastisch hinzu.

Jessica lehnte sich gegen die Maschine und rang nach Atem. »Die Harkonnens werden das ganze Gebiet abgeriegelt haben«, erwiderte sie. »Schließlich sind sie nicht dumm.« Sie konzentrierte ihre Sinne und deutete nach rechts. »Der Sturm liegt in dieser Richtung.«

Paul nickte. Er mußte sich zu jeder weiteren Bewegung regelrecht zwingen. Und ihm war auch klar, woran das lag. Irgendwann in dieser Nacht waren ihm die Zusammenhänge klargeworden, die die Zukunft bestimmten. Aber das Hier und Jetzt erschien ihm wie ein nebelhafter, mysteriöser Ort. Es war, als hätte er sich selbst gesehen, aus großer Entfernung, wie er in ein Tal hinuntergestiegen und aus seinem eigenen Blickfeld entschwunden war. Von den zahllosen Pfaden, die wieder aus diesem Tal herausführten, war einer derjenige, der Paul Atreides wieder ins Licht brachte — aber die anderen nicht.

»Wenn wir noch länger warten, werden sie besser vorbereitet sein«, gab Jessica zu bedenken.

»Steig ein und schnall dich an«, sagte Paul.

Er setzte sich neben sie, immer noch mit dem Gedanken beschäftigt, daß er sich in genau dem nicht einsehbaren Gebiet befand, das er nicht hatte durchdringen können. Ihm wurde mit einem plötzlichen Schock klar, daß er sich zuviel mit diesen Dingen auseinandersetzte, daß diese Tatsache die Schuld an seinem Schwächegefühl trug.

»Wenn du nur deinen Augen vertraust, führt das dazu, daß die anderen Sinne verkümmern.« Ein Bene-Gesserit-Axiom. Paul akzeptierte es für sich und nahm sich vor, nie wieder in eine Falle dieser Art zu tappen … falls er noch lange genug leben würde.

Er überprüfte die Sicherheitssysteme. Die Schwingen des Thopters standen in der vor dem Start üblichen Ruhestellung. Paul ließ sie noch enger an die Seitenwände ziehen und traf alle Vorbereitungen für einen jener Blitzstarts, die Gurney Halleck ihm beigebracht hatte. Der Startschalter bewegte sich leicht. Die Skalen der Frontarmatur erwachten zum Leben, als die Düsen sich mit Energie vollsogen. Turbinen begannen leise zu zischen.

»Fertig?« fragte er.

»Ja.«

Er schaltete die Fernsteuerung für das Licht aus.

Um sie herum wurde es dunkel.

Pauls Hand glitt wie ein Schatten unter der grünen Bordbeleuchtung über die Fernbedienung der Außentür. Knirschend schob sich die Wand zur Seite. Eine Sandfontäne wurde in die Kaverne gewirbelt, dann schloß sich die Tür wieder. Es war, als fiele ein starker Druck von seinen Schultern.

Ein breiter Streifen des Sternenhimmels tauchte vor ihnen auf. Paul aktivierte einen anderen Schalter. Die Schwingen begannen auf und nieder zu gleiten und hoben den Thopter wie einen Vogel aus seinem Nest. Volle Energie erweckte die Düsen nun vollends zum Leben. Die Maschine vibrierte.

Jessicas Hände glitten leicht über die Kontrollen. Sie konnte die Sicherheit, die die Bewegungen ihres Sohnes ausstrahlte, beinahe fühlen. Und dennoch fürchtete sie sich. Pauls Ausbildung ist jetzt unsere einzige Hoffnung, dachte sie. Seine Jugend und seine Gewitztheit.

Paul führte den Düsen mehr Energie zu. Der Thopter bockte, und der plötzliche Andruck preßte sie tiefer in die Sitze. Dann erschien vor ihren Augen die breite Wand der Sterne. Noch mehr Energie in die Schwingen, die jetzt in vollem Einsatz arbeiteten und die Maschine in die Luft hoben. Ehe sie sich versahen, glitten sie über einem Felsenmeer dahin, über zackige Klippen im Schein nächtlicher Sterne. Der von einer fernen Staubwand in seiner Leuchtkraft behinderte rote Mond erschien am Horizont zu ihrer Rechten. Und dann sahen sie die Sturmwolke.

Pauls Hände glitten über die Kontrollen. Die Schwingen legten sich wie die Flügel eines Käfers an den Leib der Maschine. Mit aller Kraft zerrte die Beschleunigung an ihren Körpern, als der Thopter steil anstieg.

»Düsenstrahlen hinter uns«, meldete Jessica.

»Ich habe sie gesehen.«

Paul ging auf volle Geschwindigkeit.

Der Thopter winselte wie eine gequälte Kreatur, wendete nach Südwesten und hielt genau auf den Sturm zu, der sich über der Wüste abzeichnete. In unmittelbarer Nähe konnte Paul anhand der vibrierenden Schatten erkennen, wo die Felsenlandschaft endete, wo das Land der Dünen begann.

Und über dem Horizont erhob sich die Sturmwand wie eine Mauer, die nach den Sternen griff.

Irgend etwas ließ den Thopter erzittern.

»Geschützfeuer!« keuchte Jessica. »Sie benutzen irgendeine Art von Projektilwaffen!«

Paul grinste animalisch. »Offenbar scheuen sie sich, Lasguns einzusetzen«, meinte er.

»Aber wir haben doch gar keinen Schild!«

»Woher sollen sie das wissen?«

Erneut erzitterte die Maschine.

Paul sah nach hinten. »Sie scheinen nur eine Maschine zu haben, die bei unserer Geschwindigkeit mithalten kann.«

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Kurs. Die Sturmwand vor ihnen wuchs immer höher. Sie begann vor ihren Augen zu verschwimmen.

»Granaten, Raketen — all diese altertümlichen Waffen werden wir den Fremen geben«, flüsterte Paul.

»Der Sturm«, sagte Jessica. »Sollten wir nicht besser umkehren?«

»Und das Schiff hinter uns?«

»Es holt auf.«

»Jetzt!«

Paul fuhr die Schwingen aus, bis sie die Größe von Stummelflügeln erreicht hatten und ließ die Maschine nach links abtrudeln, wo die Sturmwand noch nachgiebig war. Der Beschleunigungsdruck zog an seinem Körper.

Sie schienen in eine Wolke hineinzugleiten, die sie aufnahm und dann dichter und dichter wurde, bis sie schließlich den Mond und die darunterliegende Wüste völlig verblassen ließ. Die Maschine wurde eins mit dem Sturm, war nur noch ein dahinschwebender winziger Raum in der Dunkelheit, dessen Inneres lediglich vom matten Glühen der Kontrollen erhellt wurde.

Alles, was sie über Stürme dieser Art je gehört hatte, raste in diesem Moment durch Jessicas Geist: daß sie Metall wie Butter zu zerschneiden in der Lage waren, Maschinen zur Unkenntlichkeit zerfrästen, daß sie einem Menschen das Fleisch von den Knochen bliesen und selbst diese Überreste seines Körpers noch zu feinem Staub zerrieben. Sie fühlte das Prasseln des Sandes auf der Außenhaut des Thopters und schaute zu, wie Paul die Kontrollen bediente. Er nahm die Energie zurück und das Schiff bockte. Das sie umgebende Metall knirschte und vibrierte.

»Der Sand!« rief Jessica.

Paul schüttelte den Kopf. »In dieser Höhe gibt es nicht viel davon.«

Aber sie fühlte deutlich, wie sie noch tiefer in den Mahlstrom hinabglitten.

Paul fuhr die Schwingen wieder zu voller Größe aus und hörte, wie sie gegen die Behinderung ankämpften. Die Instrumente im Auge behaltend ließ er den Thopter rein gefühlsmäßig dahinschweben.

Das Kratzen nahm ab.

Der Thopter bewegte sich nach links. Paul überprüfte im Schein der Kontrollbeleuchtung die Instrumente. Er schien befriedigt zu sein.

Jessica hatte das unwirkliche Gefühl, daß sie jetzt stillstanden, daß sich alle Bewegung als Illusion erwies. Erst als eine Sandbö krachend gegen die Außenscheibe prallte, wurde ihr klar, daß sie immer noch in großer Gefahr schwebten.

Der Wind legt sieben- bis achthundert Kilometer in der Stunde zurück, wurde ihr bewußt. Und sie sagte sich: Ich darf keine Angst haben. Die Angst tötet das Bewußtsein. Es war eine alte Weisheit der Bene Gesserit.

Langsam gewann die langjährige Ausbildung wieder die Oberhand.

Sie beruhigte sich.

»Wir haben jetzt den Tiger beim Schwanz gepackt«, ließ sich Paul vernehmen. »Wir können weder runter, noch können wir landen. Und ich glaube auch nicht, daß ich uns hier wieder herauskriegen kann. Wir werden warten müssen, bis der Sturm sich legt.«

Einen Moment lang war Jessica nahe daran, die Beherrschung wieder zu verlieren. Sie merkte, daß ihre Zähne zu klappern begannen, und preßte sie hart aufeinander. Dann hörte sie wieder Pauls Stimme, wie sie in aller Ruhe den alten Text rezitierte: »Die Angst tötet das Bewußtsein. Sie führt zu völliger Zerstörung. Ich werde ihr ins Gesicht sehen. Sie soll mich völlig durchdringen. Und wenn sie von mir gegangen ist, wird nichts zurückbleiben. Nichts außer mir.«

4

An dem, was du verabscheust, wird man dich erkennen.

Aus ›Leitfäden des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


»Sie sind tot, Baron«, sagte Iakin Nefud, der Hauptmann der Leibwache. »Die Frau und der Junge sind bestimmt tot.«

Baron Wladimir Harkonnen richtete sich langsam aus den Schlafsuspensoren seines Privatquartiers auf. Er befand sich in dem gewaltigen Schiff, mit dem er auf Arrakis gelandet war. Und dennoch würde man das, beträte man nur seine Räumlichkeiten und nicht die anderen Abteilungen der Raumfregatte, niemals vermutet haben: es herrschte der gleiche Luxus wie in seinem heimatlichen Palast.

»Es ist sicher«, wiederholte der Hauptmann der Leibwache: »Sie sind tot.«

Der Baron hob seinen feisten Körper etwas an und warf einen Blick in die Nische, in der die feingemeißelte Statue eines Jungen zu sehen war. Das machte ihn munter. Er langte nach den hinter seinem Nacken verborgenen Suspensoren und schaute über den einzigen eingeschalteten Glanzglobus seines Schlafraums zu der Prudenztür hinüber, hinter der Hauptmann Nefud stand.

»Sie sind sicher tot, Baron«, wiederholte der Mann.

Baron Harkonnen sah in Nefuds Augen, daß er unter Semutaeinwirkung stand. Es war offensichtlich, daß er sich in einem starken Rausch befunden und sich lediglich ein Gegenmittel gespritzt hatte, um dem Baron seine Meldung weiterzugeben.

»Ich habe gerade einen Bericht erhalten«, sagte Nefud.

Laß ihn ruhig noch eine Weile schwitzen, sagte sich der Baron. Man muß die Werkzeuge der Politik ständig scharf und bereit halten. Macht und Furcht — scharf und bereit.

»Haben Sie ihre Leichen gesehen?« knurrte er.

Nefud zögerte.

»Nun?«

»Mylord … man hat gesehen, wie sie genau in einen Sandsturm hineinflogen … Windgeschwindigkeiten bis zu achthundert Kilometer. Niemand kann einem solchen Sturm entgehen, Mylord. Nichts! Bei der Verfolgung ging eine unserer eigenen Maschinen ebenfalls verloren.«

Der Baron starrte Nefud an. Er registrierte, daß die Gesichtsmuskeln des Mannes nervös zuckten und wie er aufgeregt schluckte.

»Haben Sie die Leichen gesehen?« wiederholte er.

»Mylord …«

»Warum kommen Sie denn überhaupt zu mir und rasseln mit dem Säbel?« brüllte der Baron. »Um mir eine Geschichte zu erzählen, an der vorne und hinten nichts stimmt? Bilden Sie sich jetzt etwa noch ein, ich würde Sie für einen solchen Schwachsinn noch loben oder Sie befördern?«

Nefud wurde totenbleich.

Man schaue sich diese Flasche an, dachte der Baron. Bin ich denn wirklich nur von lauter Trotteln umgeben? Dieser Narr würde, wenn ich ihm sagen würde, er sei ein Huhn, und der Sand vor seiner Nase Hühnerfutter, glatt anfangen, ihn aufzupicken.

»Es war also dieser Idaho, der uns auf ihre Spur brachte?« fragte er.

»Jawohl, Mylord!«

Schau nur, wie ihm der Kamm schwillt, dachte der Baron. Er fragte: »Sie waren also im Begriff, zu den Fremen zu fliehen, was?«

»Jawohl, Mylord.«

»Haben Sie mir noch mehr zu … berichten?«

»Der Planetologe des Imperators, Kynes, ist in diesen Fall verwickelt, Mylord. Idaho traf diesen Kynes unter mysteriösen Umständen. Man könnte beinahe sagen — verdächtigen Umständen.«

»Und?«

»Sie … äh … flogen zusammen zu einem Ort in der Wüste, wo sich auch der Junge und seine Mutter aufgehalten haben müssen. In der Überraschung des Angriffs wurden mehrere unserer Kampfgruppen in eine Schildexplosion einbezogen.«

»Wie viele Männer haben wir verloren?«

»Darüber … äh … habe ich noch keine verläßlichen Informationen, Mylord.«

Er lügt, dachte der Baron. Es müssen eine ganze Menge gewesen sein.

»Dieser kaiserliche Lakai, dieser Kynes«, begann der Baron. »Er hat ein doppeltes Spiel gespielt, wie?«

»Darauf würde ich sogar meinen guten Ruf verwetten, Mylord.«

Seinen guten Ruf! Du meine Güte!

»Lassen Sie ihn umbringen«, befahl der Baron.

»Mylord! Kynes ist der Planetologe des Imperators! Ein Bediensteter Seiner Majestät!«

»Dann sorgen Sie eben dafür, daß es wie ein Unfall aussieht, verdammt noch mal!«

»Wir konnten das Versteck dieser Leute nur mit der Hilfe der Sardaukar ausheben. Kynes befindet sich derzeit in ihrem Gewahrsam.«

»Dann seht zu, daß ihr ihn in die Finger bekommt. Sagt, daß ich ihn verhören will.«

»Und wenn sie sich weigern?«

»Das werden sie nicht tun, wenn Sie mein Verlangen in einer korrekten Form vorbringen.«

Nefud schluckte. »Jawohl, Mylord.«

»Der Kerl muß sterben«, knurrte der Baron. »Er hat versucht, meinen Gegnern zu helfen.«

Nefud trat von einem Fuß auf den anderen.

»Ist noch was?« fragte der Baron.

»Mylord, die Sardaukar haben … haben zwei Leute festgenommen, die für Sie vielleicht von Interesse sind. Sie haben den Führer der Herzoglichen Assassinen in ihrer Gewalt.«

»Hawat? Thufir Hawat?«

»Ich habe den Gefangenen mit eigenen Augen gesehen, Mylord. Es ist Hawat.«

»Das hätte ich niemals für möglich gehalten!«

»Es heißt, jemand hätte ihn mit einem Stunner gelähmt, Mylord. Draußen, in der Wüste, wo er seinen Schild nicht einsetzen konnte. Er ist dennoch unverletzt. Wenn wir den Mann in die Hände bekommen könnten …«

»Er ist ein Mentat«, erwiderte der Baron. »Und solche Leute vergeudet man nicht. Hat er etwas gesagt? Was sagt er dazu, daß wir ihn geschlagen haben? Weiß er etwas von der Existenz eines … ach, nein.«

»Er hat nur das Nötigste gesagt, Mylord, aber genug, um zu wissen, daß er Lady Jessica für die Verräterin hält.«

»Ach was!«

Der Baron ließ sich zurücksinken und dachte nach. Dann sagte er: »Sind Sie sicher? Ist es wirklich Lady Jessica, gegen die sich seine Wut richtet?«

»Er hat das in meiner Gegenwart verlauten lassen, Mylord.«

»Dann lagt ihn in dem Glauben, daß sie noch lebt.«

»Aber, Mylord …«

»Schweigen Sie. Ich wünsche, daß man Hawat gut behandelt. Er darf keinesfalls etwas vom Schicksal Dr. Yuehs, des wirklichen Verräters, erfahren. Lassen Sie ihm die Nachricht zukommen, daß Yueh starb, als er seinen Herzog verteidigte. In gewissem Sinn ist das ebenso wahr. Wir werden sein Mißtrauen gegen Lady Jessica wachhalten.«

»Mylord, ich verstehe nicht …«

»Die Kunst, einen Mentaten zu kontrollieren, Nefud, besteht darin, ihn zu informieren. Falsche Informationen führen zu falschen Lösungen.«

»Sicher, Mylord, aber …«

»Hat er Hunger? Durst?«

»Mylord — Hawat ist immer noch in den Händen der Sardaukar!«

»Ach ja, tatsächlich. Aber die Sardaukar werden ebenso scharf darauf sein, von ihm Informationen zu erhalten wie ich. Ich habe etwas über unsere Verbündeten herausgefunden, Nefud. Sie sind — politisch gesehen — nicht gerade die hellsten Köpfe. Und ich weiß, daß dahinter eine bestimmte Absicht steckt. Der Imperator kann denkende Soldaten einfach nicht gebrauchen. Ja, genauso ist es. Es wird Ihre Aufgabe sein, dem Legionskommandeur der Sardaukar die Information zu hinterbringen, daß ich mich besonders darauf verstehe, verstockte Schweiger zum Sprechen zu bringen.«

Nefud sah unglücklich aus. »Jawohl, Mylord.«

»Sie werden dem Kommandeur sagen, daß ich Hawat und Kynes zur gleichen Zeit verhören möchte, weil ich angeblich einen gegen den anderen ausspielen will. Soviel wird er gerade noch verstehen, nehme ich an.«

»Jawohl, Mylord.«

»Und wenn wir sie erst einmal in den Händen haben …« Der Baron nickte befriedigt.

»Mylord, der Kommandeur der Sardaukar wird darauf bestehen, daß einer seiner Leute an dem … Verhör teilnimmt.«

»Ich bin sicher, daß Sie ein Ablenkungsmanöver bei der Hand haben, um jeden etwaigen Beobachter auszuschalten, Nefud.«

»Ich verstehe, Mylord. Dann kann Kynes seinen Unfall … äh … erleben.«

»Kynes und Hawat werden zur gleichen Zeit einen Unfall haben, Nefud. Allerdings wird nur Kynes ihm zum Opfer fallen. Ich will nur Hawat haben. Ja?! Ah, ja!« Der Baron grinste.

Nefud klapperte mit den Lidern und schluckte. Er machte den Eindruck, als wolle er noch eine Frage stellen. Aber er behielt sie für sich.

»Hawat wird bestens versorgt werden«, sagte der Baron. »Und er wird freundlichst behandelt werden. In das Wasser, das er bekommt, geben wir etwas von dem Residualgift, das der verstorbene Piter de Vries entwickelte. Außerdem sorgen wir dafür, daß seine Mahlzeiten regelmäßig das dazugehörige Gegengift enthalten; solange, bis ich anderslautende Anweisungen erteile.«

»Das Gegengift, sicher.« Nefud schüttelte den Kopf. »Aber …«

»Seien Sie nicht so begriffsstutzig, Nefud. Der Herzog hätte mich beinahe mit diesem Gift aus seinem hohlen Zahn getötet. Das Gas, das er ausatmete, hat mich meines besten Mentaten beraubt. Ich brauche einen Ersatz.«

»Hawat?«

»Hawat!«

»Aber …«

»Sie wollen sagen, daß Hawat den Atreides ganz und gar ergeben ist? Das stimmt, aber die Atreides sind tot. Wir werden Hawat ein wenig Honig ums Maul schmieren, Nefud. Er muß zu der Schlußfolgerung gelangen, daß ihn keinerlei Schuld am Tod seines Herzogs trifft, daß alles nur der Verschlagenheit dieser Bene-Gesserit-Hexe zuzuschreiben war. Wir werden ihn zu der Überzeugung gelangen lassen, daß er keiner von denen ist, die sich von Emotionen leiten lassen. Mentaten sind stolz darauf, gefühllose Schlüsse zu ziehen, Nefud. Deshalb werden wir diesem famosen Thufir Hawat schmeicheln.«

»Ihm schmeicheln. Jawohl, Mylord.«

»Der Mentat, der Hawat ausgebildet hat, war ein Mann, der zu sehr von seinen Emotionen abhängig war. Hawat weiß das, und deswegen wird ihn nichts mehr freuen, als wenn wir ihm bestätigen, daß dieser Effekt nicht auch auf ihn übergegriffen hat.« Der Baron starrte Nefud an. »Wir wollen uns nicht selbst täuschen, Nefud. Die Wahrheit ist eine mächtige Waffe. Wir wissen, daß wir es nur unserem Wohlstand zu verdanken haben, daß wir die Atreides besiegten. Hawat weiß das auch. Wir können ihn mit mehr Informationen versorgen, als es sich sein Herzog je hätte leisten können, weil wir die besser bezahlten Spione haben.«

»Jawohl, Mylord.«

»Wir werden ihn umschmeicheln«, wiederholte der Baron. »Und vor den Sardaukar verstecken. Und in der Hinterhand verbergen wir das Gegengift. Es gibt keine Möglichkeit, das Residualgift aus seinem Körper zu entfernen, und Hawat braucht auch nicht zu erfahren, in welcher Gefahr er schwebt. Das Gegengift ist nicht einmal von einem Giftschnüffler aufzuspüren. Hawat kann seine Nahrung überprüfen, wie er will. Er wird trotzdem nichts darin finden.«

Nefuds Augen öffneten sich in plötzlichem Verstehen.

»Das Nichtvorhandensein einer Sache«, fuhr der Baron fort, »kann ebenso gefährlich sein wie das Vorhandensein. Wie etwa das Nichtvorhandensein von Luft, klar? Oder von Wasser. Ja! Ebenso wie das Nichtvorhandensein von allem, von dem wir abhängig sind.« Er nickte. »Verstehen wir uns, Nefud?«

Nefud schluckte. »Jawohl, Mylord.«

»Dann machen Sie sich an die Arbeit. Stöbern Sie den Kommandeur der Sardaukar auf und sehen Sie zu, daß die Dinge in Bewegung kommen.«

»Sofort, Mylord.« Nefud verbeugte sich und verschwand.

Hawat auf meiner Seite! dachte der Baron. Die Sardaukar werden ihn mir überlassen. Selbst wenn sie mißtrauisch werden, können sie nur annehmen, ich wollte ihn beseitigen lassen. Und diesen Verdacht werde ich fördern. Diese Narren! Einer der berühmtesten Mentaten aller Zeiten, und sie überlassen ihn mir wie ein zerbrochenes Spielzeug. Ich werde ihnen zeigen, was man aus einem solchen Spielzeug noch herausholen kann!

Der Baron streckte die Hand aus und tastete nach einem verborgenen Knopf hinter dem Suspensorbett. Er drückte ihn und rief damit nach seinem älteren Neffen. Rabban. Dann lehnte er sich zurück und lächelte.

Und alle Atreides sind tot!

Er sah den Weg, der sich vor ihm auftat. Eines Tages würde ein Harkonnen Imperator werden. Nicht er selbst natürlich, aber ein Harkonnen. Und auch nicht Rabban, das war klar. Aber Rabbans jüngerer Bruder, der junge Feyd-Rautha. Etwas an dem Jungen gefiel ihm außerordentlich … seine Grausamkeit.

Ein herrlicher Junge, dachte der Baron. In einem Jahr oder zwei, ungefähr dann, wenn er siebzehn ist. Ich weiß genau, daß die Harkonnens über kein besseres Werkzeug verfügen, das uns den Weg zum Thron ebnet.

»Mylord?«

Der Mann, der vor der Prudenztür auf dem Gang stand, war von gedrungener Statur, hatte ein dickliches Gesicht und einen fetten Körper. Seine tief in den Fleischwülsten verborgenen Augen und die breiten Schultern kennzeichneten ihn als typischen Harkonnen. Die Schwerfälligkeit, mit der er sich bewegte, deutete schon jetzt an, daß auch er eines Tages würde Suspensoren tragen müssen, um seines Gewichts Herr zu werden.

Ein Muskelpaket ohne Gehirn, dachte der Baron. Er ist nicht gerade der Mann des Geistes, dieser Neffe. Kein Piter de Vries, wahrlich nicht, aber vielleicht genau das, was wir jetzt hier brauchen können. Wenn ich ihm freie Hand gebe, walzt er alles nieder, was sich in seinen Weg stellt. Oh, er wird dafür sorgen, daß wir wie niemand anderes auf Arrakis gehaßt werden!

»Mein lieber Neffe«, begrüßte ihn der Baron. Er ließ den Pentaschild zusammenbrechen, der die Tür verschloß und schaltete gleichzeitig den Schildgürtel auf höchste Intensität. Er wußte, daß der ihn umgebende Schimmer im Licht des über dem Bett angebrachten Glanzglobus' jetzt deutlich zu sehen war.

»Du hast mich gerufen?« fragte Rabban. Er schritt in den Raum hinein, schaute kurz auf den leuchtenden Schild und suchte erfolglos nach einer Sitzgelegenheit.

»Komm näher, damit ich dich besser sehen kann«, forderte der Baron ihn auf.

Rabban kam näher. Innerlich verfluchte er die Gemeinheit dieses alten Mannes, der alle Sitzgelegenheiten hatte entfernen lassen, bloß um in den Genuß zu gelangen, alle Besucher vor sich stehen zu sehen.

»Die Atreides sind tot«, eröffnete ihm der Baron. »Es gibt nun keinen mehr. Deswegen habe ich dich nach Arrakis gerufen. Der Planet gehört jetzt wieder dir.«

Rabban blinzelte. »Aber ich dachte, du hättest Piter de Vries dazu ausersehen, deine Geschäfte …«

»Piter ist ebenfalls tot.«

»Piter?«

»Piter.«

Der Baron reaktivierte den Pentaschild in der Tür und versiegelte es gegen jeglichen Versuch, ihn mit Energie zu durchdringen.

»Du bist seiner schließlich doch müde geworden, wie?« fragte Rabban. Seine Stimme klang in dem völlig abgeschirmten Raum flach und leblos.

»Ich will dir mal etwas sagen«, erwiderte der Baron mit tiefer Stimme. »Du spielst darauf an, daß ich ihn mir vom Halse geschafft haben könnte, wie man sich etwas Unnützes vom Halse schafft.« Er schnippte mit den Fingern. »Ganz einfach so, nicht? Ich bin kein Idiot, Neffe. Und ich werde es dir sehr übel nehmen wenn du so etwas noch einmal unterschwellig behauptest.«

Rabbans Blick wurde ängstlich. Er wußte, wieweit der alte Baron sogar innerhalb seiner Familie zu gehen bereit war. Das führte zwar selten zum Tode eines Mitglieds — außer daraus ließ sich ein ansehnlicher Profit erwirtschaften -, aber er hatte eine Reihe anderer Möglichkeiten, jeden kleinzukriegen.

»Verzeihung, Mylord«, sagte Rabban. Er senkte den Blick; weniger um seine Wut zu verbergen, als Untertänigkeit zu demonstrieren.

»Mich legst du nicht herein, Rabban«, sagte der Baron.

Die Augen niedergeschlagen, schluckte Rabban.

»Ich werde dir eine Maxime setzen«, sagte der Baron. »Serviere niemals einen Mann ohne Vorbedacht ab, außer vielleicht ein profitables Lehen macht das erforderlich. Wenn du so etwas tust, dann für ein handfestes Ziel — und dein Ziel kennst du ja wohl.«

Ärgerlich sagte Rabban: »Das sagst du, wo du diesen Verräter Yueh umbringen ließest? Als ich letzte Nacht ankam, sah ich, wie man seine Leiche von Bord schaffte.«

Rabban starrte seinen Onkel an, als sei er selbst über den Klang seiner Worte entsetzt.

Der Baron lächelte. »Mit gefährlichen Waffen pflege ich in der Regel vorsichtig umzugehen«, erwiderte er. »Dr. Yueh war ein Verräter. Wir verdankten es ihm, daß wir den Herzog in die Finger bekamen.« Seine Stimme troff vor Zynismus. »Ich habe einen Mediziner der Suk-Schule dazu angestiftet! Verstehst du das, mein Junge? Daß ich mir den vom Halse geschafft habe, war wirklich kein Zufall!«

»Weiß der Imperator davon, daß du Yueh dazu gekriegt hast, seinen Eid zu vergessen?«

Das ist eine Frage, die ich von ihm gar nicht erwartet hätte, dachte der Baron überrascht. Habe ich diesen Neffen etwa unterschätzt?

»Er weiß noch nichts davon«, gab er zurück. »Aber die Sardaukar werden es ihm mit ziemlicher Sicherheit berichten. Bevor das geschieht, wird er jedoch einen von mir aufgesetzten Report in den Händen halten, den ich ihm durch die Kanäle der MAFEA-Gesellschaft zuspiele. Ich werde ihm mitteilen, daß ich glücklicherweise einen Arzt fand, dessen Konditionierung zerbrechlich war. Ein falscher Arzt, verstehst du? Da jedermann weiß, daß die Konditionierung der Suk-Schule nicht durchbrechbar ist, wird man diese Erklärung schon akzeptieren müssen.«

»Ah, ich verstehe«, murmelte Rabban.

Der Baron dachte: Ich hoffe für dich, daß du das verstehst. Und ich hoffe, daß du einsiehst, wie wichtig es ist, daß diese Geschichte nicht an die Öffentlichkeit dringt. Plötzlich wunderte er sich über sich selbst. Warum habe ich das getan? Warum lasse ich mich dazu hinreißen, vor diesem Narren von einem Neffen zu prahlen? Wut stieg in ihm auf. Er wurde den Verdacht nicht los, damit einen Fehler gemacht zu haben.

»Das muß natürlich geheim bleiben«, sagte Rabban. »Ganz klare Sache.«

Der Baron seufzte. »Ich möchte dir noch eine Anweisung für Arrakis geben, Neffe. Während der letzten Zeit, die du auf dieser Welt verbrachtest, habe ich dich ziemlich in den Zügeln gehalten. Diesmal sieht die Sache anders aus. Du wirst nur für eine Sache sorgen.«

»Mylord?«

»Einkünfte.«

»Einkünfte?«

»Kannst du dir vorstellen, Rabban, wie teuer es gewesen ist, all die Schiffe und Leute hierherzubringen, um die Atreides zu verjagen? Hast du auch nur die kleinsten Informationen darüber, wieviel die Gilde für einen Transport wie diesen verlangt?«

»Ziemlich viel, wie?«

»Ziemlich viel!« Der Baron streckte einen seiner fetten Arme nach Rabban aus. »Wenn du Arrakis so ausquetschst, daß der Planet uns jeden Pfennig gibt, den er in sechzig Jahren erwirtschaftet, haben wir gerade unsere Schulden bezahlt und noch nicht das geringste verdient!«

Rabbans Mund öffnete sich, aber er sagte keinen Ton.

»Es war kostspielig«, schnaufte der Baron. »Dieses verdammte Gildemonopol auf die Raumfahrt hätte uns ruiniert, wenn ich für einen solchen Fall nicht langjährige Vorsorgemaßnahmen ergriffen hätte. Du solltest wissen, Rabban, daß wir Schwierigkeiten zu überwinden hatten, die unvorstellbar für jeden anderen gewesen wären. Wir mußten sogar den Transport der Sardaukar bezahlen.«

Nicht zum erstenmal in seinem Leben fragte sich der Baron, ob eines Tages ein Zeitpunkt kommen würde, an dem jemand die Gilde hereinlegte. Das ganze Unternehmen war betrügerisch durch und durch. Hatten sie einen Kunden einmal in der Hand, preßten sie ihn aus wie eine Zitrone und ließen ihm gerade noch soviel, wie er brauchte, um mit seinem restlichen Geld ausstehende Gelder einzutreiben.

Und was militärische Aktionen anbetraf, so kosteten diese die Höchstbeträge. »Gefahrenzulage«, hatte der ölige Gildenvertreter erklärt. Und für jeden Agent, den man in die Gildenbank einschleuste, schickte die Gilde sofort zwei ihrer Leute in das Unternehmen ihres Kunden.

Unerträglich!

»Also Einkünfte«, nickte Rabban.

Der Baron ließ seinen Arm wieder sinken und ballte die Hand zur Faust. »Du mußt diesen Planeten auswringen!«

»Und ich kann vorgehen, wie ich will?«

»Du hast völlig freie Hand.«

»Die Geschütze, die du mitgebracht hast«, sagte Rabban. »Kann ich die …«

»Ich nehme sie wieder mit«, entgegnete der Baron.

»Aber du …«

»Du wirst Spielzeuge dieser Art nicht brauchen. Sie wurden speziell angefertigt und sind jetzt nutzlos. Wir brauchen das Metall. Du kannst sie nicht gegen einen Schild einsetzen, Rabban. Wir haben sie nur mitgebracht, weil wir sicher waren, daß niemand mit solchen Waffen rechnete. Es war vorhersehbar, daß die Männer des Herzogs sich in den Felsen verbarrikadieren würden. Also haben wir die Chance genutzt und sie dort einschließen lassen.«

»Aber die Fremen benutzen doch gar keine Schilde.«

»Von mir aus kannst du ein paar Lasguns haben, wenn du willst.«

»Jawohl, Mylord. Und ansonsten habe ich freie Hand.«

»Solange du sie dazu benutzt, diesen Planeten auszupressen, ja.«

Rabban lächelte erfreut. »Ich verstehe vollkommen, Mylord.«

»Du verstehst überhaupt nichts«, knurrte der Baron. »Laß uns darüber ganz im klaren sein. Was du wirklich verstehst, ist, wie du meine Befehle auszuführen hast. Ist dir überhaupt schon einmal zu Bewußtsein gekommen, Neffe, daß auf diesem Planeten fünf Millionen Menschen leben?«

»Haben Mylord vergessen«, erwiderte Rabban, »daß ich sein Regenten-Siridar auf diesem Planeten war? Mylord möge mir vergeben, aber ich behaupte, daß seine Schätzung zu niedrig liegt. Wie will man auch die Bevölkerung einer Welt schätzen, wenn man nur einen kleinen Teil von ihr kennt? Wenn man allein die Fremen aus dem …«

»Die Fremen sind nicht wert, daß man sie einbezieht!«

»Verzeihung, Mylord, aber die Sardaukar haben da inzwischen eine andere Ansicht.«

Der Baron zögerte und starrte seinen Neffen an. »Du weißt etwas?«

»Mylord hatten sich bereits zurückgezogen, als ich in der vergangenen Nacht hier ankam. Ich … äh … nahm mir die Freiheit, Kontakt mit zwei Leutnants aufzunehmen, die früher hier unter meinem Kommando standen und den Sardaukar jetzt als Führer dienen. Sie behaupteten, daß eine Bande von Fremen südöstlich von hier auf eine Einheit der Sardaukar stieß und sie völlig vernichtete.«

»Sie haben eine Sardaukar-Einheit vernichtet?«

»Ja, Mylord!«

»Das ist unmöglich!« Rabban zuckte die Achseln.

»Fremen schlugen Sardaukar?« Der Baron schnaufte.

»Ich wiederhole nur, was man mir gesagt hat«, erwiderte Rabban. »Und man behauptet ebenfalls, daß diese Fremen-Bande vor diesem Zwischenfall bereits Thufir Hawat und seine Leute in ihrer Gewalt hatte.«

»Ah!«

Der Baron nickte lächelnd.

»Ich glaube diesem Bericht«, fuhr Rabban fort. »Du machst dir keine Vorstellung davon, wie gefährlich die Fremen wirklich sind, Onkel.«

»Vielleicht. Aber die Leute, die diese Leutnants sahen, können keine Fremen gewesen sein. Es waren Atreides, die Hawat ausgebildet und als Fremen verkleidet hat. Das ist die einzige mögliche Antwort.«

Erneut zuckte Rabban die Achseln. »Nun, die Sardaukar nehmen jedenfalls an, daß es sich um Fremen handelte. Sie beabsichtigen, ein Pogrom zu veranstalten und alle Fremen auszurotten.«

»Gut!«

»Aber …«

»Das wird sie für eine Weile beschäftigt halten. Und bald haben wir Hawat. Ich weiß es! Ich kann es fühlen! Ah, das ist wirklich ein Tag gewesen! Die Sardaukar jagen ein paar nutzlosen Wüstenbanditen nach, während uns der Preis auf einem Silberteller serviert wird!«

»Mylord …«, sagte Rabban unentschlossen. Sein Blick war finster. »Ich habe immer schon das Gefühl gehabt, daß wir die Fremen unterschätzen. Das betrifft sowohl ihre Zahl als auch …«

»Vergiß sie, Junge! Sie sind Pöbel! Uns interessieren nur die bevölkerungsdichten Dörfer, Städte und Niederlassungen. Nur sie gehen uns etwas an. Dort leben eine Menge Leute, nicht wahr?«

»Sehr viele, Mylord.«

»Das besorgt mich, Rabban.«

»Das besorgt dich?«

»Oh … neunzig Prozent dieser Leute sind natürlich völlig unwichtig. Aber es gibt immer noch ein paar … Kleinere Häuser und so weiter, ambitionierte Leute, die vielleicht versuchen werden das eine oder andere gefährliche Spiel zu starten. Wenn nun der eine oder andere Arrakis verläßt und draußen Geschichten über das verbreitet, was hier geschehen ist, würde mich das schon sehr ärgerlich machen. Kannst du dir vorstellen, wie ärgerlich ich werden kann, Rabban?«

Rabban schluckte.

»Du solltest sofort die notwendigen Schritte einleiten, und anordnen, daß jedes Kleine Haus einen Vertreter herschickt, dem wir klarmachen, daß dies ein gewöhnlicher Kampf zwischen zwei Häusern war«, fuhr der Baron fort. »Jeder auf Arrakis muß erfahren, daß keine Sardaukar im Spiel waren, verstehst du? Weiterhin muß verbreitet werden, daß man dem Herzog die übliche Chance, ins Exil zu gehen, gegeben hat, daß er jedoch leider einem Unfall zum Opfer fiel, bevor er dieses Angebot annehmen konnte. Natürlich sei er bereit gewesen, das Angebot zu akzeptieren. So wird die Geschichte lauten. Und falls Gerüchte auftauchen, die von einer Beteiligung der Sardaukar sprechen, soll darüber gelacht werden.«

»Wie der Imperator es wünscht«, sagte Rabban.

»Wie der Imperator es wünscht.«

»Und was ist mit den Schmugglern?«

»Niemand wird denen Glauben schenken, Rabban. Die Schmuggler werden zwar toleriert, aber glauben tut ihnen niemand. Zur Sicherheit solltest du einige Bestechungsgelder verteilen. Und wenn das nichts nützt, kannst du Maßnahmen ergreifen, die ich dir selbst überlasse.«

»Jawohl, Mylord.«

»Zwei Dinge hast du auf Arrakis zu tun, Rabban: für Einkünfte sorgen und gnadenlos die Faust zu schwingen. Du darfst nicht die geringste Gnade zeigen. Vergiß nicht, mit welcher Sorte von Mensch du es hier zu tun hast mit Sklaven, die ihre Herren hassen und jede Gelegenheit nutzen werden, gegen sie zu rebellieren. Du darfst ihnen nicht den kleinsten Finger reichen.«

»Kann man denn einen ganzen Planeten ausrotten?« fragte Rabban.

»Ausrotten?« Der Baron hob überrascht die Augen. »Wer hat denn von Ausrottung gesprochen?«

»Nun, ich nehme an, du hast vor, eine ganz neue Mannschaft zur Arbeit einzu…«

»Ich sprach von auspressen, Neffe, nicht von ausrotten. Du darfst die Bevölkerung natürlich nicht sinnlos verschwenden, sondern sollst sie zur höchstmöglichen Produktion antreiben. Du sollst wie ein Bluthund hinter ihnen stehen, Junge.« Der Baron lächelte. Er sah wie ein zufriedenes, gesättigtes Baby aus. »Ein Bluthund gibt niemals auf. Sei gnadenlos. Bleibe am Ball. Gnade ist nichts als eine Chimäre. Man kann einen Bluthund nur damit abwehren, indem man ihm zu fressen und zu saufen gibt. Sorge dafür, daß du ewig hungrig und durstig bleibst.« Er deutete auf die Ausbuchtungen, die den Standort seiner Suspensoren andeuteten. »Wie ich.«

»Ich verstehe, Mylord.«

Rabbans Blick schweifte von rechts nach links.

»Dann ist alles klar, Neffe?«

»Ausgenommen eines, Onkel: der Planetologe Kynes.«

»Ach ja, Kynes.«

»Er ist ein Mann des Imperators, Mylord. Er kann kommen und gehen, wann er will. Und er steht den Fremen sehr nahe. Er hat eine ihrer Frauen geheiratet.«

»Kynes wird die morgige Nacht nicht mehr erleben.«

»Es ist nicht ungefährlich, einen Bediensteten des Imperators zu töten, Onkel.«

»Was glaubst du eigentlich, auf welche Art ich so schnell so weit gekommen bin?« fragte der Baron. Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Und außerdem hättest du dir wegen Kynes keine Sorgen zu machen brauchen. Er kann Arrakis gar nicht verlassen weil er von dem Gewürz abhängig ist.«

»Tatsächlich!«

»Diejenigen, die etwas sagen könnten, werden sich hüten, es zu tun«, meinte der Baron. »Auch ein Mann wie Kynes.«

»Du hast recht«, gab Rabban zu.

Schweigend sahen sie einander an. Plötzlich sagte der Baron:

»Nebenbei bemerkt, besteht deine Hauptaufgabe natürlich darin, für die Vermehrung meines persönlichen Besitzes zu sorgen. Ich besitze noch einige Gewürzlager, auch wenn dieser selbstmörderische Überfall der Leute des Herzogs das meiste von dem, was wir zum Verkauf vorgesehen hatten, vernichtete.«

Rabban nickte. »Jawohl, Mylord.«

Der Baron strahlte. »Morgen wirst du das, was von der örtlichen Organisation übriggeblieben ist, um dich versammeln und sagen: ›Unser verehrter Padischah-Imperator hat mich dazu auserkoren, von diesem Planeten Besitz zu ergreifen und alle Fehden zu beenden.‹«

»Ich verstehe, Mylord.«

»Diesmal glaube ich es selbst. Was die Details angeht, so können wir die morgen noch diskutieren. Du kannst jetzt gehen. Ich brauche noch etwas Schlaf.«

Er wartete, bis sein Neffe gegangen war, und aktivierte wieder den Pentaschild.

Ein Muskelpaket ohne Gehirn, dachte er. Sie werden angekrochen kommen, wenn er mit ihnen fertig ist. Und wenn ich dann Feyd-Rautha schicke, um ihn abzulösen, werden sie ihn wie einen Retter willkommen heißen. Geliebter Feyd-Rautha. Unser gnädiger Feyd-Rautha! Der Mann, der uns von einem Ungeheuer befreite! Der Mann, dem wir so dankbar sind, daß wir unser Leben für ihn hergeben. Und bis dahin wird der Junge gelernt haben, wie man das Volk unter die Knute zwingt, ohne daß man sich dabei verhaßt macht. Ich bin sicher, daß er derjenige ist, den wir brauchen. Er wird lernen. Und er ist wirklich ein Junge mit einem hübschen Körper. Wirklich, ein herrlicher Junge.

5

Im Alter von fünfzehn Jahren hatte er bereits gelernt zu schweigen.

Aus ›Die Kindheitsgeschichte des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


Während Paul die Kontrollen des Thopters bediente, wurde er sich bewußt, daß er mit einer Ruhe vorging, die selbst ein ausgebildeter Mentat nicht in einer solchen Situation zuwege bringen würde. Er registrierte kühl die Staubfronten und Abwinde, die Luftwirbel und Böen.

Die Inneneinrichtung der Kabine schien für ihn nur noch aus der Instrumentenbank zu bestehen, die in einem unwirklichen grünen Licht aufleuchtete. Obwohl die außerhalb seiner Reichweite liegende Wand formlos war, begann er mit der Kraft seines Bewußtseins allmählich durch den Vorhang hindurchzusehen.

Ich muß den richtigen Wirbel finden, dachte er.

Die Kraft des Sturms schien etwas nachgelassen zu haben, aber immer noch wurde die Maschine hin und her gewirbelt. Paul wartete eine günstige Gelegenheit ab. Immer noch waren starke Turbulenzen meßbar.

Der nächste Luftwirbel brachte den Thopter zum Erzittern, aber Paul machte keine Anstalten, ihm dadurch zu entgehen, daß er die Maschine nach links abgleiten ließ.

Jessica beobachtete das Manöver auf dem Höhenmesser.

»Paul!« schrie sie.

Der Luftwirbel wirbelte sie herum, warf sie von einer Seite auf die andere, hob den Thopter hoch, wie ein Blatt und spuckte ihn wieder aus, wie einen Spatz, der vom Wind erfaßt worden ist und dessen die Naturgewalten überdrüssig geworden sind. Staub war um sie herum, irgendwo leuchtete der zweite Mond.

Paul schaute nach unten, sah die staubige Sandwolke in sich zusammenfallen und registrierte, daß der Sturm am Absterben war. Er ergoß sich wie ein Sturzbach in die Wüste hinein und seine Kraft nahm von Sekunde zu Sekunde ab, als würden die Dünen seine Macht in sich aufsaugen.

»Wir sind draußen«, flüsterte Jessica.

Paul änderte den Kurs und suchte den nächtlichen Himmel ab.

»Wir haben sie abgehängt«, meinte er einfach.

Jessica fühlte das Klopfen ihres Herzens und zwang sich, ruhiger zu werden. Der Sturm, der unter ihnen weiterhin abnahm, entglitt ihren Gedanken, und ihr Zeitgefühl sagte ihr, daß sie sich wenigstens vier Stunden in seinem Bereich aufgehalten haben mußten. Ihr waren diese Stunden wie ein ganzes Leben erschienen, und sie fühlte sich wie neugeboren.

Es war wirklich so wie in der Litanei, dachte sie. Wir sahen der Furcht ins Gesicht ohne uns zu widersetzen. Der Sturm war in uns und um uns. Jetzt ist er fort, und nur wir bleiben zurück.

»Das Geräusch der Schwingen gefällt mir nicht«, sagte Paul plötzlich. »Möglicherweise hat sie irgend etwas beschädigt.«

Er fühlte durch seine Hände, daß die Schwingen auf seine Anweisungen irgendwie anders reagierten Sie hatten jetzt zwar die Gefahr des Sturmes hinter sich, aber sie befanden sich noch nicht dort, wo sie sich laut seiner vorhergegangenen Vision hätten befinden müssen. Aber immerhin waren sie entkommen. Paul atmete erleichtert auf.

Ihn schauderte.

Die Tatsache war magnetisierend und erschreckend, und er fragte sich, woran das lag. Ein Teil seines Schreckens, fand er, war sicherlich darauf zurückzuführen, daß er längere Zeit keine Nahrung mehr zu sich genommen hatte, die Gewürz enthielt. Andererseits … auch die Worte der Litanei hatten ihre Auswirkung auf ihn gehabt. Sie waren eine Kraft in sich selbst.

»Ich werde keine Furcht …«

Ursache und Wirkung: Er lebte trotz der bösartigen Kräfte, die nach seinem Leben trachteten und hatte es nur der Tatsache zu verdanken, daß er sich im Moment eines drohenden Gleichgewichtsverlusts auf Worte gestützt hatte, die seine Ängste erst hervorgerufen hatten.

Ein Zitat aus der Orange-Katholischen-Bibel fiel ihm ein: »Welcher Sinne entbehren wir, daß wir die Welt um uns herum nicht sehen können?«

»Um uns herum sind überall Felsen«, meldete Jessica.

Paul blickte auf die Nase des Thopters hinaus und schüttelte den Kopf, um seinen Gedanken zu entgehen. Er schaute in die angegebene Richtung und erkannte die zackigen Felsen, die aus dem Sand aufragten. Ein leichter Luftzug streifte ihn, und er bemerkte, daß sich eine leichte Staubschicht im Inneren der Maschine breitgemacht hatte. Offenbar hatte der Sturm ihnen ein Leck beigebracht.

»Am besten landen wir auf dem Sand«, schlug Jessica vor. »Dann haben die Schwingen am wenigsten auszuhalten.«

Paul nickte in Richtung einiger sandbedeckter Felsen, die im Mondlicht unter ihnen sichtbar wurden. »Ich werde in der Nähe dieser Felsen landen. Du mußt unsere Gurte überprüfen.«

Jessica gehorchte und dachte: Wir haben Wasser und Destillanzüge. Wenn wir Nahrung finden, können wir über längere Zeit in dieser Wüste überleben. Auch die Fremen leben hier. Und was sie ertragen, halten auch wir aus.

»Sobald wir gelandet sind«, wies Paul sie an, »läufst du zu den Felsen hinüber. Ich nehme das Gepäck.«

»Zu den Felsen …« Jessica verstummte und nickte. »Würmer.«

»Die Würmer sind unsere Freunde«, korrigierte Paul sie. »Sie werden diesen Thopter vernichten und niemand wird je erfahren, wo wir gelandet sind.«

Er denkt an alles, dachte sie.

Sie glitten tiefer … und tiefer.

»Festhalten!« rief Paul warnend.

Er ließ die Schwingen zuerst sanft, dann immer schneller ausschlagen. Er fühlte, wie sie in die Luft griffen, wie der Wind sie packte und schüttelte.

Plötzlich, ohne das geringste Anzeichen der Warnung, brach die linke Tragfläche, die bereits vom Sturm angeknackst war, ab und knallte gegen die Seitenwand. Der Thopter fiel zur Seite, jagte über die Spitze einer Düne dahin und rutschte in die dahinterliegende Senke, um dort in einer Kaskade von Staub zum Stehen zu kommen. Sie lagen auf der linken Seite. Die rechte Tragfläche deutete auf den sternenübersäten Himmel.

Paul löste die ihn haltenden Gurte, richtete sich auf und half seiner Mutter. Dann öffnete er die Luke. Sand wirbelte in die Kabine herein. Es roch nach versengtem Gestein. Er langte nach dem Gepäckbündel, sah, daß seine Mutter sich mittlerweile befreit hatte, und folgte ihr mit einem Sprung aus der Maschine in die Dunkelheit hinaus.

»Lauf!« befahl Paul.

Er deutete auf die vor ihnen liegende Düne und die sich dahinter abzeichnende Felsformation.

Jessica ließ den Thopter hinter sich zurück und rannte. Keuchend taumelte sie die Düne hinauf, während sie hinter sich Pauls keuchenden Atem hörte. Schließlich standen sie auf einem Sandrücken, der genau in die Richtung der Felsen führte.

»Wir folgen diesem Weg«, sagte Paul, »das bringt uns schneller vorwärts.«

Sie stapften durch den sie bei jedem Schritt behindernden Sand.

Plötzlich erklang ein neues Geräusch: ein seltsames Zischen, ein dumpfes Dröhnen, ein gleitendes Rascheln.

»Ein Wurm«, sagte Paul.

Das Geräusch wurde lauter.

»Schneller!« keuchte Paul.

Die ersten Felsenausläufer, die sich wie Festland aus einem Ozean erhoben, lagen nicht weiter als zehn Meter von ihnen entfernt, als hinter ihnen das gräßliche Geräusch knirschenden Metalls ertönte.

Paul wechselte das Gepäck vom linken zum rechten Arm und krallte seine Hand um die darumgewickelten Gurte. Es klatschte gegen seine Hüfte, während er rannte, aber dennoch packte er mit der freien Hand den Arm seiner Mutter. Durch einen schmalen Spalt kletterten sie aufwärts, wobei sie den Wind, der an ihnen zerrte, ignorierten. Kiesel fielen unter ihren Füßen, der Atem kam trocken und röchelnd aus ihren Kehlen.

»Ich kann nicht mehr«, sagte Jessica stöhnend.

Paul blieb stehen, drückte sie in eine Nische, wandte sich um und sah auf die Wüste hinaus. Ein kleiner Sandhügel bewegte sich parallel zwischen den Dünenkämmen und ihrem Standort auf der Felseninsel zu. Im Mondlicht sah er die Sandwellen in einem Kilometer Entfernung. Es war die Spur, die der Wurm in diesem erstarrten Sandmeer hinterließ, als er sich anschickte, die Felseninsel in einem weilen Bogen zu umrunden. Dort, wo sie den Ornithopter zurückgelassen hatten, befand sich nichts mehr.

Der Sandhügel steuerte nun wieder in die Wüste hinaus, kreuzte seinen eigenen Weg. Der Wurm schien immer noch nach etwas zu suchen. »Er ist größer als ein Gildenschiff«, flüsterte Paul. »Ich habe gehört, daß die Würmer in der offenen Wüste ziemlich lang werden sollen, aber ich habe nicht gewußt … daß sie auch so dick sind.«

»Ich auch nicht«, keuchte Jessica.

Der Wurm bewegte sich noch einmal auf die Felsen zu und drehte dann wieder ab. Sein Kurs richtete sich auf den Horizont. Paul und Jessica lauschten seinen Bewegungen, bis sie von den Umweltgeräuschen verschluckt wurden.



Paul atmete auf, sah zu den mondbeschienenen Felsen hinüber und zitierte aus dem Kitab al-Ibar: »Reise in der Nacht und raste in den Schatten des Tages.« Er sah seine Mutter an: »Die Nacht hat noch ein paar Stunden. Kannst du jetzt weitergehen?«

»Einen Moment noch.«

Paul schulterte sein Gepäck und blickte auf den Parakompaß. »Ruhe dich ruhig noch etwas aus«, meinte er.

Jessica drückte sich von den Felsen ab und fühlte, wie ihre Kräfte zurückkehrten. »In welcher Richtung gehen wir?«

»In diese.« Er deutete auf den Verlauf des Felsrückens, auf dem sie sich befanden.

»Also in die Wüste hinein?«

»In die Wüste der Fremen«, flüsterte Paul.

Er fühlte sich plötzlich an eine Vision erinnert, die er auf Caladan gehabt hatte. Er hatte damals diese Wüste gesehen. Aber irgend etwas war damals anders gewesen. Er hatte die Wüste mit anderen Augen gesehen, wie jemand, der sie durch ein Filter betrachtet, das die Erinnerung blockierte und es einem unmöglich machte, sich genau an sie zu erinnern. Ihm war, als hätte er sie von einem anderen Standpunkt aus gesehen, als hätte sie etwas beinhaltet, das jetzt nicht auszumachen war.

In dieser Vision war Idaho bei uns, erinnerte er sich. Aber jetzt ist er tot.

»Siehst du einen vielversprechenden Weg?« fragte Jessica, die sein Zögern mißverstand.

»Nein«, entgegnete Paul. »Aber wir gehen ihn trotzdem.«

Er richtete sich auf und sorgte dafür, daß das Gepäck in eine andere Lage kam. Dann schritt er aus. Vor ihnen war der von zahllosen Sandstürmen in den Fels gefressene Kanal, der in einen mondbeschienenen Kessel führte. Abstufungen ermöglichten es ihnen, die Felswand in südlicher Richtung zu erklettern.

Paul machte den Anfang. Jessica folgte ihm.

Ihr fiel plötzlich auf, wie sehr der Weg in ihr den Eindruck erweckte, vorbestimmt zu sein. Die Sandansammlungen zwischen den Steinen, die ihre Bewegungen verlangsamten der eiskalte Wind, der über die Höhen pfiff und sie dazu brachte sich zu überlegen, wohin sie gingen — all das führte zu der ständigen Frage: Überqueren oder einen Umweg machen? Die Landschaft entwickelte einen eigenen Rhythmus. Sie sprachen nur, wenn es notwendig war, und in diesen Fällen mit den heiseren Stimmen der Anstrengung.

»Vorsichtig — hier ist ein Sandloch.«

»Paß auf, daß du dir an dem Überhang da nicht den Kopf einrennst.«

»Bleib hier stehen. Der Mond ist jetzt genau in unserem Rücken. Wir gäben für jeden, der uns beobachtet, eine prächtige Zielscheibe ab.«

In einer Felsennische hielt Paul an und lehnte das Gepäck gegen die Wand. Jessica lehnte sich an ihn. Sie war dankbar für diese Pause. Als sie Paul am Wasserschlauch seines Destillanzuges hantieren hörte, nahm sie ebenfalls einen Schluck Wasser. Es schmeckte brackig, und sie erinnerte sich an die Wasser von Caladan — an einen riesigen Springbrunnen, der einen Strahl in den Himmel schoß, und es erschien ihr, als hätte sie einst einen Reichtum besessen, gegen den alles auf Arrakis ein Nichts war. Und die Fontäne hatte keinen anderen Zweck gehabt, als sie anzuschauen und sich an den in ihr brechenden Lichtreflexen zu erfreuen.

Anhalten, dachte sie. Ausruhen … wirklich ausruhen.

Es schien ihr, als sei in Wahrheit das Selbstmitleid der Grund für diesen Gedanken. Aber das konnten sie sich nicht leisten. Es gab nichts, was eine Rast rechtfertigte.

Paul reckte sich und machte sich auf, weiter über die rauhe Oberfläche der Felswand zu klettern. Jessica seufzte, dann folgte sie ihm.

Sie gelangten auf eine halbwegs ebene Fläche, umgingen einen hochaufragenden Felsen und befanden sich erneut in dem Bewegungsrhythmus, zu dem das zerbrochene Land zu ihren Füßen sie zwang.

Die Nacht, so erschien es Jessica, schien völlig beherrscht zu werden von den Millionen Steinen, über die sich ihre Füße tastend bewegten. Überall lagen Sandhaufen und Kiesel, Staubansammlungen oder Berge zu Staub zermahlener anderer Substanzen.

Der Staub verstopfte die Nasenfilter, so daß sie des öfteren ausgeblasen werden mußten. Und der allgegenwärtige Sand knirschte unter ihren Füßen.

Vor einer Felsansammlung blieb Paul plötzlich stehen. Er ergriff Jessicas Arm, als sie ihn erreichte und deutete nach links. Sie sah, daß sie sich auf einem Hügel befanden, unter dem sich die Wüste ausbreitete wie ein wogender Ozean. Sie befanden sich in einer Höhe von mindestens zweihundert Metern. Im silbernen Glanz des Mondes warfen die Felsen ihre Schatten weit in das Land hinaus. In der Ferne erkannten sie, wie in einem grauen, verwaschenen Nebel, die Umrisse einer weiteren Erhebung.

»Die offene Wüste«, sagte sie.

»Eine ungeheure Weite, wenn man sie durchqueren will«, erwiderte Paul, dessen Stimme durch seine Vermummung dumpf klang.

Jessica schaute nach allen Seiten. Unter ihr befand sich nichts als Sand.

Paul sah geradeaus, geradewegs auf die Dünen, über denen sich die Schatten der Felsen abzeichneten. »Sie sind vier oder fünf Kilometer von hier entfernt«, meinte er.

»Würmer«, nickte Jessica.

»Ziemlich sicher.«

Die Muskelschmerzen machten Jessica jetzt wieder zu schaffen.

»Sollen wir Rast machen und etwas essen?«

Paul legte das Bündel ab, setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Als Jessica sich auf den Boden neben ihm setzte, stützte sie sich mit einer Hand auf seiner Schulter ab. Als sie Platz genommen hatte, spürte sie, wie Paul sich umwandte und das Bündel durchsuchte.

»Hier«, sagte er.

Seine Hand fühlte sich wie ausgetrocknet an, als er ihr zwei Energiekapseln reichte.

Jessica schluckte sie unter Zuhilfenahme von einem Schluck Wasser.

»Trink all dein Wasser«, sagte Paul. »Das ist ein Grundsatz: Der beste Ort, dein Wasser zu bewahren, befindet sich in deinem Körper. Es sorgt dafür, daß du Energie sparst. Du bist stärker. Vertraue deinem Destillanzug.«

Jessica gehorchte, leerte ihre Fangtasche und fühlte, wie ihre Energie zurückkehrte. Sie dachte darüber nach, wie friedlich es in diesem Moment ihrer Müdigkeit war und erinnerte sich an einen Ausspruch Gurney Hallecks, der einmal gesagt hatte: »Besser ein trockener Bissen und Stille, als ein Haus voller Zank und Hader.«

Jessica erzählte den Ausspruch Paul.

»Das war typisch Gurney«, sagte er.

Der Tonfall, in dem er das sagte, klang, als spreche er von einem Toten. Und sie dachte: Vielleicht ist es besser für ihn, tot zu sein. Die übrigen Streitkräfte der Atreides' waren entweder tot, gefangengenommen worden oder irrten genau wie sie jetzt — durch diese wasserlose Welt.

»Gurney«, sagte Paul, »hatte immer die richtigen Sprüche bei der Hand. Ich kann ihn jetzt noch hören, wie er sagte: ›Und ich werde die Flüsse trockenlegen und das Land den Bösen verkaufen; und ich werde es verwüsten und alles, was sich darin befindet, durch die Hand von Fremden.‹«

Jessica schloß die Augen. Der Pathos in der Stimme ihres Sohnes rührte sie beinahe zu Tränen.

Plötzlich sagte Paul: »Wie … fühlst du dich?«

Jessica spürte, daß er sich um ihre Schwangerschaft sorgte und entgegnete: »Es dauert noch ein paar Monate, bis deine Schwester zur Welt kommt. Momentan fühle ich mich noch … physisch in Ordnung.«

Und sie dachte: Wie steif und formal rede ich mit meinem eigenen Sohn! Die Ausbildung der Bene Gesserit führte schließlich dazu, daß sie dieser Sache auf den Grund kam. Ich habe Angst vor meinem eigenen Kind. Ich fürchte mich vor seiner Andersartigkeit. Ich habe Angst vor dem, was er für uns in der Zukunft sieht; was er mir sagen wird.

Paul zog die Kapuze über die Augen und lauschte den Geräuschen der Nacht. Seine Nase juckte. Er kratzte an ihr, entfernte die Filter und wurde im selben Augenblick des ihn umgebenden Zimtgeruchs gewahr.

»Irgendwo in der Nähe befindet sich Melange«, stellte er fest.

Ein sanfter Wind umspielte sein Gesicht und ließ ihn schnuppern. Aber es befand sich keinerlei Bedrohung durch einen Sturm in ihm; also konnte er auch diesen Unterschied bereits erfassen.

»Es wird bald Morgen«, sagte er.

Jessica nickte.

»Es gibt einen Weg, um sicher durch den Sand zu kommen«, erklärte Paul. »Die Fremen kennen ihn.«

»Und die Würmer?«

»Wenn wir einen Plumpser aus unserem Überlebenssatz zwischen den Felsen placierten«, erwiderte Paul, »würde das einen Wurm für eine Weile ablenken.«

Jessicas Blick wanderte über die Dünen hinweg zu der anderen Erhöhung hinüber.

»Und du glaubst, das würde sie lange genug beschäftigen, um vier Kilometer zurückzulegen?«

»Vielleicht. Wenn wir uns beeilen und dennoch keine unnatürlichen Geräusche produzieren, die ihn uns nicht als Fremdkörper hörbar machen …«

Paul starrte in die Wüste hinab und rief sich ins Gedächtnis zurück, was er über die Plumpser und Bringerhaken wußte, die sich ebenfalls unter den Ausrüstungsgegenständen ihres Überlebenssatzes befanden. Es schockierte ihn, als er sich dabei ertappte, daß seine Gedanken darum kreisten, daß die Würmer ihn mit unterbewußtem Entsetzen erfüllten. Er fragte sich, wie er dazu kam, solche Gefühle zu haben, wo ihm sein logischer Verstand sagte, daß es an ihnen nichts zu fürchten gab.

Er schüttelte den Kopf.

»Wir müßten rhythmuslose Geräusche erzeugen«, meinte Jessica.

»Wie? Oh, natürlich. Wenn wir unsere Schritte unregelmäßig machten … Würmer sind nicht in der Lage, ihre Aufmerksamkeit jedem einzelnen Geräusch zuzuwenden. Dennoch — wir sollten, bevor wir einen solchen Versuch machen, vollständig ausgeruht sein.«

Er schaute zu dem anderen Felswall hinüber und schätzte an der Bewegung der vom Mondlicht erzeugten Schatten die Zeit ab.

»In einer Stunde geht die Sonne auf.«

»Wo sollen wir den Tag verbringen?« fragte Jessica.

Paul wandte sich nach links und streckte den Arm aus. »An dem Abhang dort drüben. Er scheint mir einen optimalen Windschutz zu bieten. Wir können uns dort in irgendeiner Spalte verkriechen.«

»Du hast recht.«

Paul stand auf und reichte ihr die Hand. »Fühlst du dich ausgeruht genug für den Abstieg? Ich möchte so tief wie möglich über der Wüstenoberfläche sein, bevor wir lagern.«

»In Ordnung.« Jessica nickte ihm zu und bedeutete ihm damit wieder die Führung zu übernehmen.

Paul zögerte zunächst, dann nahm er das Gepäck auf, schulterte es und tastete sich über den Grat voran.

Wenn wir nur Suspensoren hätten, dachte Jessica. Es würde dann nur noch eine Kleinigkeit sein, hier herunterzukommen. Aber vielleicht sind auch sie den Dingen zugehörig, die man in der offenen Wüste besser vermeidet. Vielleicht ziehen sie genauso wie Schilde die Würmer an.

Mehrere Male stießen sie auf stark abschüssige Geländeteile, die geradewegs in tiefe Spalten hineinführten, so daß sie gezwungen waren, sie zu umgehen.

Paul ging vorneweg. Seine Bewegungen waren vorsichtig, aber dennoch schnell. Er wußte, daß sie nicht mehr lange genügend Mondlicht haben würden, um diesen Weg relativ gefahrlos zu überstehen. Zudem führte die Tatsache, daß sie der allgemeinen Planetenoberfläche näher und näher kamen, dazu, daß auch die Sichtverhältnisse schlechter wurden. Die mächtigen Felsen um sie herum warfen lange Schatten. Vor ihnen öffnete sich eine Spalte, deren Ende von der Dunkelheit verschluckt wurde.

»Können wir hier hinunterklettern?« flüsterte Jessica.

»Ich glaube schon.«

Paul berührte den Rand mit dem Fuß.

»Wir können an der Wand hinunterrutschen«, meinte er dann. »Ich gehe zuerst. Warte solange, bis du hörst, daß ich irgendwo einen Halt gefunden habe.«

»Vorsichtig«, mahnte Jessica.

Paul machte einen Schritt nach vorn, setzte sich auf den Spaltenrand und glitt dann in die Tiefe. Plötzlich landete er im Sand. Der Ort, an dem er sich befand, lag tief inmitten felsiger Brocken. Hinter ihm ertönte das Geräusch herabrieselnden Sandes. Paul versuchte nach oben zu sehen, zum Spaltenrand hinauf, aber ein erneuter Schwall von Körnern traf ihn und ließ ihn den Kopf einziehen. Dann war Stille.

»Mutter?« fragte er.

Sie antwortete nicht.

»Mutter?«

Dann riß er sich das Bündel von den Schultern, stand auf und versuchte die Wand wieder hinaufzuklettern, wie ein Besessener. »Mutter!« keuchte er. »Mutter, wo bist du?«

Wieder rieselte eine Sandkaskade auf ihn nieder. Er war fast bis zu den Hüften versunken und kämpfte sich unter Aufbietung aller Kräfte wieder frei.

Sie ist verschüttet worden, durchzuckte es ihn. Sie ist unter dem Sand begraben. Ich muß jetzt ruhig bleiben und meine Sinne beisammenhalten. Sie wird auf keinen Fall sofort ersticken. Sie wird sich in den Zustand des Bindu versetzen und dadurch weniger Sauerstoff benötigen. Und sie weiß, daß ich sie ausgraben werde.

In der Art der Bene Gesserit, die seine Mutter ihm beigebracht hatte, reduzierte Paul den hämmernden Schlag seines Herzens. Er fühlte, wie die Ruhe in ihm wieder die Oberhand gewann, wie seine Sinne sich auf Wesentliches konzentrierten und alle Nebensächlichkeiten aus ihm verbannten.

Dort mußte sie sein.

Er wandte sich nach rechts, suchte mit den Blicken eine Wölbung im Sand und begann zu graben, wobei sich seine Hände vorsichtig bewegten, um nicht einen weiteren Sandrutsch auszulösen. Ein Stück Stoff. Er grub weiter, stieß auf einen Arm. Vorsichtig hob er ihn an, zog daran. Der Kopf seiner Mutter tauchte auf.

»Kannst du mich verstehen?« flüsterte er.

Keine Antwort.

Paul zog jetzt fester und befreite ihre Schultern. Sie schien auf den ersten Blick völlig leblos zu sein, aber er fühlte trotzdem einen langsamen Herzschlag.

Bindu-Schlaf, dachte er.

Er schaufelte den Sand bis zu ihren Hüften beiseite, legte ihre Arme um seine Schultern und begann langsam zu ziehen. Es war schwer, und Paul verdoppelte seine Anstrengungen. Er fühlte, wie der Sand nachgab, keuchte und kämpfte ums Gleichgewicht. Schließlich hatte er sie und begann zu rennen. Hinter ihm geriet die Sandwelle wieder in Bewegung, rieselte von den aufgeschütteten Hängen herab und ergoß sich in das von ihm gegrabene Loch.

Am Ende der Spalte hielt Paul an. Er konnte jetzt die blanke Oberfläche der Wüste erkennen, die von hier aus sichtbar war. Sie war kaum dreißig Meter von ihm entfernt. Langsam ließ er seine Mutter zu Boden gleiten und sagte das Wort, das sie aus ihrem Dämmerzustand erwachen ließ.

Langsam kam sie wieder zu sich. Sie atmete schwer.

»Ich wußte, daß du mich finden würdest«, flüsterte sie.

»Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn ich das nicht getan hätte«, sagte er und schaute auf die Stelle zurück, wo sie eben noch gewesen waren.

»Paul!«

»Ich habe unser Gepäck verloren«, sagte er. »Und da, wo es liegt, türmen sich nun hundert Tonnen Sand auf. Mindestens.«

»Wir haben alles verloren?«

»Die Literjons, das Destillzelt, praktisch alles, was wichtig ist.« Er klopfte auf seine Tasche. »Aber ich habe noch den Parakompaß.« Er deutete auf die Schärpe, die sich um seine Hüften schlang. »Ein Messer und die Sonnenbrillen. Immerhin haben wir eine gute Aussicht hier, wenn wir sterben.«

In diesem Moment erhob sich die Sonne über den Horizont zu ihrer Linken und tauchte über den Felsen auf. Die Wüste begann in den unterschiedlichsten Farben zu leuchten. Zwischen den Felsen erwachte das Leben. Vögel begannen zu zwitschern, aber man konnte sie nicht sehen.

Jessica beachtete nichts davon. Sie hatte nur Augen für die Verzweiflung in Pauls Augen. Sie räusperte sich und sagte: »Sind das die Ergebnisse deiner Erziehung?«

»Verstehst du denn nicht?« fragte Paul. »Wir haben alles verloren, was wir zum Überleben brauchen! Es liegt alles unter dem Sand.«

»Du hast auch mich gefunden«, gab Jessica sanft, aber bestimmt zurück.

Paul kniete sich hin. Er musterte den Abhang, den sie hinunter gekommen waren. Es war eine reine Wand aus Sand. Und sie war locker.

»Wenn wir einen kleinen Teil des Sandes dazu bringen könnten, sich nicht mehr zu bewegen und herabzustürzen, könnten wir vielleicht ein Loch graben und nach dem Bündel suchen. Das wäre möglich, wenn wir Wasser hätten und ihn befeuchteten. Aber wir haben nicht genug.«

Jessica schwieg. Es erschien ihr besser, Pauls auf allen Touren arbeitendes Gehirn um keinen Preis zu unterbrechen.

Paul warf einen Blick auf die Dünen. Er suchte genauso mit dem Geruchssinn wie mit den Augen, fand schließlich die Richtung und richtete seine Sinne auf einen dunklen Fleck unter ihnen im Sand.

»Gewürz«, sagte er triumphierend. »Seine Essenz ist hochgradig alkalihaltig. Ich habe den Parakompaß. Seine Kraftquelle basiert auf einer Säure.«

Jessicas Gestalt straffte sich. Sie lehnte sich gegen einen Felsen.

Paul ignorierte sie jetzt völlig, er lief hin und her und begann schließlich, an der Felswand, die in die Wüste hinabführte hinunterzuklettern.

Sie beobachtete den Weg, den er nahm, mit wachsamem Blick. Ein Schritt … Pause … zwei weitere … Pause. Es war kein bestimmter Rhythmus in seinen Bewegungen zu erkennen. Kein Wurm würde auf die Idee kommen, daß sich hier ein Lebewesen befand.

Paul erreichte die Gewürzstelle, schaufelte eine Handvoll in eine der Falten seiner Robe und kehrte zurück. Vor Jessicas Füßen legte er seine Beute ab, kniete sich hin und nahm den Parakompaß auseinander, indem er das Messer ansetzte. Die Hülle des Geräts löste sich. Paul nahm die Schärpe ab, legte sie vor sich auf den Boden und placierte darauf die einzelnen Teile des Kompasses. Schließlich gelangte er an die Energiequelle.

»Du wirst Wasser brauchen«, sagte Jessica.

Paul zog den Wasserschlauch an den Mund, nahm einen Schluck und spuckte ihn in die leere Hülle des Parakompasses.

Wenn es nicht klappt, dachte Jessica, ist das Wasser verschwendet. Aber das wäre dann auch nicht mehr wichtig.

Paul öffnete die Kraftquelle mit dem Messer und schüttete die Kristalle in die Flüssigkeit. Sie begannen sofort leicht zu schäumen und sich zu zersetzen.

Über ihnen registrierte Jessica eine Bewegung. Als sie aufschaute, sah sie eine Gruppe von Habichten, die in den Spalt herunterschaute. Sie zweifelte nicht daran, wonach sie suchten.

Große Mutter! Sie spüren Wasser selbst auf diese Entfernung auf!

Paul hatte die Umhüllung des Kompasses inzwischen wieder zusammengesetzt und machte sich, das Instrument in der einen, das Gewürz in der anderen Hand, an den Aufstieg. Der Wind plusterte seine Robe auf, die jetzt nicht mehr von einer Schärpe zusammengehalten wurde. Dann hielt er an, träufelte etwas von dem Gewürz durch das Loch in der Kompaßumhüllung, in dem vorher der Aktivierungsknopf gewesen war und schüttelte das Gerät.

Grüner Schaum spritzte aus dem Loch heraus. Paul legte den Kompaß auf den Spaltenrand und beobachtete, wie sich der Schaum immer weiter hügelabwärts ausbreitete.

Jessica stand auf, lief in die Richtung, in der er sich jetzt befand und rief: »Brauchst du Hilfe?«

»Beim Graben«, erwiderte Paul. »Wir müssen mindestens drei Meter Sand abtragen.« Der Kompaß hörte plötzlich auf zu schäumen.

»Schnell«, sagte Paul. »Ich habe keine Ahnung, wie lange der Schaum den Sand zusammenhalten wird.« Er streute erneut einige Gewürzkörner durch das Loch. Sofort schäumte es weiter.

Während Paul das Gerät hielt, begann Jessica zu graben. Sie schleuderte den Sand beiseite, tauchte mit den Händen in ihn hinein. »Wie tief?« fragte sie keuchend.

»Etwa drei Meter«, entgegnete Paul. »Und ich kann die genaue Position nur schätzen. Wahrscheinlich werden wir ein ziemlich breites Loch graben müssen.«

Jessica gehorchte.

Langsam wurde das Loch tiefer. Sie kam der allgemeinen Oberfläche immer näher, aber noch immer war von dem Bündel keine Spur zu erblicken.

Ob ich mich verrechnet habe? dachte Paul. Schließlich bin ich derjenige, der in Panik verfiel und die Schuld an dieser Sache zu tragen hat. Hat mich das aus der Bahn geworfen?

Er schaute auf den Parakompaß. Es waren nur etwas weniger als zwei Unzen der Säureverbindung übriggeblieben.

Jessica richtete sich jetzt in dem Loch, das sie gegraben hatte, auf und wischte sich mit einer schaumbespritzten Hand über die Wange. Ihr Blick traf Paul.

»Du müßtest jetzt gleich auf ebener Erde sein«, sagte er. »Sei vorsichtig.« Er ließ erneut etwas Gewürz in den Behälter fallen. Ein breiter Schaumteppich wälzte sich den Hügel hinab und schien beinahe Jessica unter sich zu begraben, die jetzt etwas entdeckt zu haben schien. Langsam verstrich sie den Sand, unter dem sich etwas Hartes abzeichnete. Sie hatte plötzlich ein Stück des Umhüllungsgurtes in der Hand.

»Keine Bewegung jetzt«, sagte Paul mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. »Wir haben keinen Schaum mehr.«

Jessica hielt das Gurtende in der Hand und sah zu ihm hinauf.

Paul warf den leeren Parakompaß zu ihr hinunter und sagte: »Reich mir die Hand. Und hör mir gut zu. Ich werde dich jetzt zur Seite hinüberreißen und herausziehen. Laß auf keinen Fall den Gurt los! Es wird nicht mehr viel herunterkommen, da der Schaum den Sandhügel weitgehend stabilisiert hat. Alles, was ich erwarte, ist, daß ich zumindest deinen Kopf aus dem Sand heraushalten kann. Wenn sich das Loch wieder mit Sand gefüllt hat, ist alles, was ich zu tun habe, dich wieder herauszugraben und zusammen mit dem Bündel herauszuziehen.«

»Ich verstehe«, sagte Jessica.

»Fertig?«

»Fertig.« Sie umschloß den Gurt mit festem Griff.

Mit einem Ruck riß Paul sie zur Hälfte aus dem Loch heraus. Dann gab auch schon die Sandwand nach und ergoß sich nach unten. Jessica hatte das Gefühl, bis zur Hälfte begraben zu werden. Ihre rechte Hand und die Schulter waren im Sand verschwunden, während sie ihr Gesicht in einer Falte von Pauls Robe verbarg. Das auf ihr lastende Gewicht war kaum zu ertragen.

»Ich halte den Gurt noch«, keuchte sie.

Langsam glitt Pauls Hand durch den Sand zu ihrem Arm. Er fand den Gurt und flüsterte: »Laß uns jetzt zusammen ziehen. Er darf auf keinen Fall reißen.«

Eine neue Sandwoge rutschte nach unten, als sie das Bündel nach oben zogen. Als der Gurt endlich sichtbar wurde, hörte Paul auf und begann, seine Mutter zu befreien. Zusammen gelang es ihnen schließlich, das Gepäckbündel an die Oberfläche zu ziehen.

Eine Minute lang standen sie stumm da, hielten das Paket zwischen sich.

Paul schaute seine Mutter an. Ihr Gesicht war mit Schaumflocken bedeckt, und ebenso ihre Kleidung. Dort, wo er bereits getrocknet war, hatte der Sand dunkle Flecken hinterlassen. Sie sah aus, als hätte man sie mit Bällen aus feuchtem, grünen Sand beworfen.

»Du siehst vielleicht aus«, meinte Paul.

»Du wirkst auch nicht gerade elegant«, gab Jessica zurück.

Sie mußten beide lachen.

»Das hätte nicht passieren dürfen«, sagte Paul plötzlich. Er schien ernüchtert. »Ich war unvorsichtig.«

Jessica zuckte die Achseln und fühlte, wie der getrocknete Sand von ihrer Robe fiel.

»Ich baue das Zelt auf«, entschied Paul. »Du solltest die Robe inzwischen ausschütteln.« Er wandte sich ab und nahm das Bündel an sich.

Jessica nickte. Sie war plötzlich zu müde, um darauf eine Antwort zu geben.

»Es sind Ankerlöcher in den Felsen«, meldete Paul. »Offenbar hat hier schon einmal jemand gezeltet.«

Warum auch nicht? dachte Jessica, während sie die Robe vom Sand befreite. Immerhin war dieser Platz hier einiges wert: umgeben von schützenden Felswänden und von der nächsten Insel dieses Sandmeeres nur vier Kilometer entfernt. Und sie erhob sich hoch genug, um Würmer abzuhalten, wenn auch die dazwischenliegende Ebene leichte Opfer zu versprechen schien.

Als sie sich wieder umwandte, hatte Paul das Zelt bereits aufgestellt. Er griff nach seinem Feldstecher und kam zu ihr hinüber.

Jessica beobachtete, wie er die vor ihnen liegende apokalyptische Landschaft betrachtete, wie seine Augen über Canyons und Schluchten blickten.

»Da drüben scheint etwas zu wachsen«, meinte er plötzlich.

Jessica lief zu dem Zelt hinüber und suchte nach ihrem eigenen Glas, mit dem sie zu ihrem Sohn zurückkehrte.

»Dort«, zeigte Paul, während er den Feldstecher mit der anderen Hand hielt. »Siehst du?«

Sie schaute in die angegebene Richtung.

»Saguaro«, murmelte Jessica. »Ziemlich mageres Zeug.«

»Das könnte bedeuten, daß hier irgendwo Menschen leben«, vermutete Paul.

»Es könnten genausogut die Überreste einer aufgegebenen Teststation sein«, gab Jessica zu bedenken.

»Wir scheinen hier ziemlich weit im Süden der Wüste zu sein«, meinte Paul. Er ließ das Fernglas sinken und kratzte sich die Nase. Als seine Finger die Lippen berührten, spürte, er, wie rauh und ausgetrocknet sie waren. Er war durstig. »Ich habe eher das Gefühl, daß dies ein Platz ist, wo sich Fremen aufhalten.«

»Können wir uns darauf verlassen, daß sie uns freundlich gegenübertreten?« fragte Jessica.

»Kynes hat versprochen, daß sie uns helfen.«

Aber unter den Menschen der Wüste herrscht Verzweiflung, dachte Jessica. Ich weiß es, denn ich habe sie heute selbst gespürt. Es ist nicht unmöglich, daß verzweifelte Menschen uns allein wegen unseres Wassers umbringen.

Sie schloß die Augen und rief — trotz der sie umgebenden Dürrelandschaft — ein Bild in sich hervor, das von Caladan stammte. Sie hatte einst einen Ausflug unternommen, zusammen mit Herzog Leto. Das war vor Pauls Geburt gewesen. Sie waren über die südlichen Dschungelgebiete hinweggeflogen, während unter ihnen wildschäumende Gewässer flossen. Und sie hatten in diesem grünen Pflanzengewoge eine Reihe marschierender Menschen ausgemacht, die ameisengleich durch die Wildnis zogen, ihr Gepäck zwischen sich auf Tragen, die durch angeschlossene Suspensoren beinahe gewichtslos waren. Und dann das Meer: die herrlichen Wogen, in denen sich zahlloses Leben tummelte.

Das war jetzt alles vorbei.

Jessica öffnete die Augen und schaute in die schweigende Wüste hinaus. Die Hitze des Tages begann sich bereits anzumelden.

Ruhelose Hitzeteufel würden sich bald überall ausbreiten über dem sandigen Land. Das gegenüberliegende Felsengebiet erschien ihr wie ein Gegenstand der Nutzlosigkeit.

Von oben her spritzten Sandkörner auf sie herab. Es waren die Habichte, die sich jetzt in die Lüfte erhoben. Das raschelnde Geräusch fallenden Sandes verstummte jedoch nicht, sondern wurde lauter. Es wurde zu einem Zischen, das sie beide nur allzugut kannten und nie wieder vergessen würden.

»Ein Wurm«, flüsterte Paul.

Er bewegte sich von rechts her durch die Ebene, und zwar mit einer Eleganz, die man einfach nicht ignorieren konnte. Soweit sie sehen konnten, erhob sich der sandige Boden zu einer buckligen Formation, während die Körner zu Tausenden und Millionen zur Seite wehten. Dann änderte der Wurm seinen Kurs und bewegte sich nach links.

Das Geräusch wurde schwächer und erstarb.

»Ich habe Raumfregatten gesehen, die kleiner waren«, flüsterte Paul.

Jessica nickte, löste ihren Blick jedoch nicht von der Wüste. Dort, wo der Wurm gewesen war, blieb eine klaffende Bresche zurück. Es würde eine Weile dauern, bis der Sand wieder in die vorherige Position zurückgefallen war und seine Spur beseitigte.

»Nachdem wir uns ausgeruht haben«, sagte Jessica, »könnten wir vielleicht mit unseren Lektionen fortfahren.«

Paul unterdrückte plötzlich aufkeimenden Ärger, »Mutter, glaubst du, wir könnten nicht ohne …«

»Du hast heute einmal die Nerven verloren«, erwiderte sie. »Auch wenn du vielleicht den Zustand deines Bewußtseins besser beurteilen kannst als ich, hast du dennoch einiges über die Prana-Muskulatur deines Körpers zu lernen. Manchmal tut der Körper Dinge aus sich selbst heraus, Paul, und ich kann dir einiges darüber sagen. Du mußt lernen, jeden einzelnen Muskel, jede Fiber zu kontrollieren. Du mußt dir über deine Hände bewußt werden. Wir fangen mit ihnen an: mit der Fingermuskulatur und den Sehnen der Handflächen. Und dem Tastsinn.« Sie drehte sich um. »Komm jetzt ins Zelt.«

Paul streckte die rechte Hand aus und betrachtete sie, während er die Finger spreizte. Er schaute sich das Spiel ihrer Muskeln an und sah ein, daß sie recht hatte.

Was auch immer man mir angetan hat, dachte er. Ich bin nun ein Teil davon.

Überprüfung der Hand!

Er sah sie sich noch einmal an. Wie unwichtig erschien sie doch angesichts solch gewaltiger Kreaturen wie der Würmer.

6

Wir kamen von Caladan, einem Planeten, der für unsere Lebensform ein Paradies darstellte. Auf Caladan gab es kein Bedürfnis, aus dieser Welt etwas Besseres zu machen als das, was sie schon war. Das Paradies existierte bereits um uns herum. Und der Preis, den wir dafür zahlten, war identisch mit dem, den jeder zahlen muß, der bereits zu seinen Lebzeiten die Annehmlichkeiten des Paradieses erfährt. Wir wurden weich, verloren unsere Kanten.

Aus ›Gespräche mit Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


»Sie sind also der große Gurney Halleck«, sagte der Mann.

Halleck blieb stehen und durchmaß den runden Höhlenraum, in dem der Schmuggler hinter einem metallenen Tisch saß, mit einem forschenden Blick. Der Mann trug Fremenkleidung, und die hellen Blauaugen deuteten an, daß er nicht nur die Nahrung Arrakis' zu sich nahm, sondern auch die Genüsse anderer Planeten zu schätzen wußte. Der Raum selbst, in dem er sich befand, hatte große Ähnlichkeit mit dem Kontrollraum einer Raumfregatte. Überall standen komplizierte Apparaturen und Kommunikationsgeräte herum.

»Ich bin Staban Tuek«, sagte der Schmuggler. »Esmar Tueks Sohn.«

»Dann sind Sie derjenige, dem ich für seine Hilfe zu danken habe«, erwiderte Halleck.

»Ah, Dankbarkeit«, meinte der Schmuggler. »Nehmen Sie doch Platz.«

Halleck ließ sich mit einem Seufzer auf ein Sitzkissen nieder, das aus einer Ecke neben den Kommunikationsgeräten auf Rollen in den Raum steuerte. Er fühlte seine Erschöpfung und sah in einem neben dem Schmuggler hängenden Spiegel, wie scharf sich die Linien der Erschöpfung in sein Gesicht gegraben hatten.

Dann sah er Tuek an. Die Ähnlichkeit des Mannes mit seinem Vater war unverkennbar — auch er hatte die schweren, buschigen Augenbrauen und die gleichen ausgeprägten Gesichtszüge.

»Ihre Leute haben mir berichtet«, sagte Halleck, »daß Ihr Vater tot ist; daß die Harkonnens ihn umgebracht haben.«

»Entweder von einem Harkonnen«, nickte Tuek, »oder von einem Verräter in Ihren Reihen.«

Ärgerlich beugte Halleck sich vor. Dann fragte er: »Kennen Sie den Namen dieses Verräters?«

»Wir sind uns nicht sicher.«

»Thufir Hawat mißtraute Lady Jessica.«

»Ah, die Bene-Gesserit-Hexe … vielleicht. Aber Hawat ist jetzt ein Gefangener der Harkonnens.«

»Ich hörte davon.« Halleck sog tief die Luft ein. »Es sieht so aus, als würden wir nicht daran vorbeikommen, auch weiterhin zu töten.«

»Wir werden nichts unternehmen, was die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns zieht«, erwiderte Tuek.

Halleck versteifte sich. »Aber …«

»Sie und die Leute, die zu Ihnen gehören, sind uns willkommen«, fuhr Tuek fort. »Sie sprachen soeben von Dankbarkeit. Das hört sich gut an. Vergessen Sie also das, was sie bisher über uns gedacht haben. Wir können immer gute Männer gebrauchen. Aber wenn sie auch nur den kleinsten Versuch unternehmen, den Harkonnens Ärger zu bereiten, sind Sie und Ihre Männer erledigt!«

»Aber diese Leute haben Ihren Vater umgebracht, Mann!«

»Vielleicht. Und wenn das so war, habe ich dennoch nichts anderes für Sie, als die Worte meines Vaters, der einmal über Menschen, die ohne nachzudenken handeln, folgendes sagte: ›Ein Stein ist schwer, der Sand ist leicht; doch die Wut eines Narren ist schwerer als beide zusammen.‹«

»Sie wollen also nichts gegen sie unternehmen?« schnaufte Halleck.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, daß ich bedacht sein muß, unseren Kontrakt mit der Gilde nicht zu verletzen. Die Gilde verlangt, daß wir unser Spiel den Umständen angleichen. Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, einen Gegner zu vernichten.«

»Aha.«

»Aha, in der Tat. Wenn Sie unbedingt nach der Hexe suchen wollen, kann ich Sie nicht davon abhalten. Aber ich möchte Sie nur warnen, daß sie möglicherweise zu spät kommen werden. Und außerdem bezweifeln wir, daß sie diejenige ist, auf die sich Ihre Bemühungen konzentrieren sollten.«

»Hawat arbeitete ziemlich fehlerlos.«

»Er war selbst daran schuld, daß er in die Hände der Harkonnens fiel.«

»Glauben Sie etwa, daß er der Verräter war?«

Tuek zuckte die Achseln. »Wir glauben, daß die Hexe tot ist. Zumindest glauben das die Harkonnens.«

»Sie scheinen ziemlich viel über diese Leute zu wissen.«

»Anspielungen und Gerüchte.«

»Wir sind vierundsiebzig Leute«, sagte Halleck. »Wenn Sie uns ernsthaft auffordern, für Sie zu arbeiten, müssen Sie glauben, daß der Herzog nicht mehr lebt.«

»Man hat seinen Leichnam gesehen.«

»Auch die des Jungen — des jungen Herrn Paul?«

Halleck versuchte, einen Kloß in seiner Kehle hinunterzuschlucken.

»Nach den letzten Meldungen, die uns erreichten, soll er zusammen mit seiner Mutter in einem Wüstensturm verschollen sein. Das bedeutet, daß man nicht einmal mehr ihre Knochen finden wird.«

»Die Hexe ist also auch tot … alle sind tot.«

Tuek nickte. »Und das Ungeheuer Rabban, so heißt es, wird erneut die Schalthebel der Macht auf Arrakis an sich reißen.«

»Graf Rabban von Lankiveil?«

»Ja.«

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Halleck es schaffte, den plötzlich in ihm hochrasenden Anfall von Wut zu unterdrücken. Keuchend sagte er: »Mit Rabban habe ich noch eine persönliche Sache auszufechten … ich schulde ihm noch etwas, was mit dem Schicksal meiner Familie zusammenhängt …« Er strich mit einem Finger über die Narbe an seinem Kinn. »… und dafür …«

»Man soll nicht alles auf eine Karte setzen, nur um voreilig eine Zeche zurückzuzahlen«, sagte Tuek. Er schaute einen Moment lang finster auf Halleck und studierte das Spiel seiner Gesichtsmuskeln.

»Ich weiß … ich weiß …« Halleck schnappte nach Luft.

»Sie und Ihre Leute können sich eine Passage verdienen, indem sie die Kosten abarbeiten. Es gibt eine Menge Orte, wo …«

»Ich habe meine Männer aus ihrem Eid entlassen«, sagte Halleck. »Sie können jetzt eigene Entscheidungen treffen. Jetzt, wo ich weiß, daß Rabban hier ist, bleibe ich auf Arrakis.«

»Ich bin nicht sicher, ob wir Sie, in der Stimmung, in der Sie sich jetzt befinden, überhaupt gebrauchen können.«

Halleck starrte den Schmuggler an. »Sie trauen mir nicht?«

»N-nein.«

»Sie haben mich vor den Harkonnens versteckt. Meine Loyalität gegenüber dem Herzog basierte auf ähnlichem Verhalten. Ich will auf Arrakis bleiben. Bei Ihnen — oder bei den Fremen.«

»Ob man einen Gedanken ausspricht oder nicht«, sagte Tuek, »er ist vorhanden. Sie werden noch schnell genug herausfinden, wie eng sich das Leben der Fremen zwischen Leben und Tod abspielt.«

Halleck schloß kurz die Augen. Die Müdigkeit warf ihn beinahe von seinem Sitz. »Wo ist der Herr, der uns führt durch das Land der Wüsten und Höhlen?« murmelte er schwach.

»Gehe langsam vor, und der Tag der Rache wird kommen«, rezitierte Tuek. »Schnelligkeit ist der Wahlspruch des Shaitans. Betrachte deine Sorgen mit kühlem Blick. Drei Dinge sind es, die das Herz sich behaglich fühlen lassen: Wasser, grünes Gras und die Schönheit der Frauen.«

Halleck öffnete die Augen. »Ich würde es bevorzugen, das Blut Rabban Harkonnens fließen zu sehen.« Er starrte Tuek an. »Und Sie glauben, daß dieser Tag kommen wird?«

»Ich habe wenig damit zu tun, wie Ihr Morgen aussehen wird, Gurney Halleck. Ich kann Ihnen nur helfen, den heutigen Tag zu treffen.«

»Dann werde ich bleiben und Ihnen helfen. Bis zu dem Tag, an dem Sie mir sagen, ich solle mich aufmachen und Ihren Vater und all die anderen rächen, die …«

»Hören Sie mir zu, Sie Kämpfer«, sagte Tuek. Er beugte sich über den Tisch nach vorn und zog den Kopf zwischen die Schultern. Das Gesicht des Schmugglers war plötzlich so dunkel wie ein regennasser Stein. »Das Wasser meines Vaters kaufe ich mir selbst zurück, mit meinem eigenen Messer.«

Halleck sah den Mann an und stellte fest, daß er in diesem Moment frappierend Herzog Leto glich: eine Führernatur, selbstsicher und sich dessen bewußt, was er wollte. Er war genau wie der Herzog — bevor er nach Arrakis kam.

»Wollen Sie, daß ich Ihnen dabei helfe?« fragte Halleck.

Tuek setzte sich zurück, entspannte sich und schaute ihn schweigend an.

»Sie halten mich für eine Kämpfernatur?« bohrte Halleck weiter.

»Sie sind der einzige von den Leutnants des Herzogs, dem die Flucht gelang«, meinte Tuek. »Sie kämpften gegen einen übermächtigen Gegner und sind ihm doch entkommen … Sie besiegten ihn auf die gleiche Art, wie wir Arrakis besiegen.«

»Wie?«

»Wir leben hier in einem ständigen Kampf, Gurney Halleck«, erklärte Tuek. »Und unser Gegner heißt Arrakis.«

»Sie meinen, man sollte nicht gleichzeitig gegen verschiedene Feinde kämpfen?«

»Genau.«

»Ist es das, was die Fremen ausmacht?«

»Vielleicht.«

»Sie sagten eben, ich würde das Leben unter ihnen nicht mögen. Meinen Sie das, weil sie in der offenen Wüste leben?«

»Wer kann schon sagen, wo sie wirklich leben? Für uns ist das Zentralplateau ein Niemandsland. Aber ich würde lieber über …«

»Ich habe gehört, daß die Gilde selten Gewürz-Leichter über die offene Wüste fliegen läßt«, sagte Halleck. »Aber es gibt Gerüchte, daß man, wenn man weiß, wohin man zu schauen hat, da und dort Grünflächen sehen kann.«

»Gerüchte!« schnaufte Tuek. »Würden Sie sich jetzt endlich zwischen uns und den Fremen entscheiden? Wir leben hier nach den Gesetzen einer zivilisierten Gesellschaft, auch wenn wir unser Quartier in den Felsen kratzen mußten und unsere Tätigkeit verbergen. Die Fremen sind nichts anderes als ein paar herumstreunende Banden, die wir als Gewürzjäger einsetzen.«

»Aber sie sind in der Lage, den Harkonnens zu schaden.«

»Und mit welchem Resultat? Während wir uns hier unterhalten, werden sie überall gejagt wie Tiere — mit Lasguns, weil sie über keine Schilde verfügen. Man hat sie für vogelfrei erklärt. Und warum? Weil sie Harkonnen-Soldaten töteten.«

»Waren es wirklich Harkonnens, die sie töteten?« fragte Halleck.

»Wie meinen Sie das?«

»Haben Sie nichts davon gehört, daß sich unter den Harkonnen-Truppen verkleidete Sardaukar befunden haben sollen?«

»Gerüchte!«

»Aber ein Pogrom — das deutet nicht auf die Harkonnens hin. Das wäre in ihren Augen Verschwendung.«

»Ich glaube nur das, was ich mit meinen eigenen Augen sehe«, erklärte Tuek. »Treffen Sie Ihre Wahl, Kämpfer. Entscheiden Sie sich für mich oder die Fremen. Ich kann Ihnen Sicherheit bieten — und eines Tages vielleicht auch das Blut, auf das wir beide warten. Dessen können Sie sicher sein. Bei den Fremen erwartet Sie nur das Leben eines permanent Gejagten.«

Halleck zögerte. Er spürte Weisheit und Sympathie in den Worten des Schmugglers, aber irgend etwas Unerklärliches hielt ihn zurück.

»Vertrauen Sie Ihren eigenen Fähigkeiten«, meinte Tuek. »Welche Entscheidungen führten dazu, daß Ihre Truppe den Kampf überstand? Es waren Ihre eigenen. Entscheiden Sie sich.«

»Es muß sein«, sagte Halleck. »Der Herzog und sein Sohn sind tot?«

»Die Harkonnens gehen davon aus. Und wenn es um solche Dinge geht, tendiere ich dazu, Ihnen zu glauben.« Er lachte grimmig. »Das ist das einzige Vertrauen, das ich ihnen entgegenbringe.«

»Dann muß es so sein«, sagte Halleck. Er streckte die rechte Hand aus, zeigte Tuek die innere Fläche und preßte den Daumen in der traditionellen Geste von innen dagegen. »Mein Schwert ist das Ihre.«

»Akzeptiert.«

»Wünschen Sie, daß ich mit meinen Leuten rede?«

»Würden Sie sie ihre eigenen Entscheidungen treffen lassen?«

»Sie sind mir auch bis hierher gefolgt. Viele von ihnen wurden auf Caladan geboren. Arrakis ist nicht das, was sie erwartet hatten. Sie haben auf diesem Planeten alles bis auf ihr Leben verloren. Ich würde sie selbst entscheiden lassen, nach dem, was sie durchgemacht haben.«

»Es ist jetzt nicht die Zeit, zu schwanken«, sagte Tuek. »Sie sind Ihnen auch bisher gefolgt.«

»Sie brauchen sie, ist es das?«

»Wir können immer erfahrene Kämpfer gebrauchen. In diesen Zeiten mehr als je zuvor.«

»Sie haben mein Schwert akzeptiert. Wünschen Sie, daß ich sie überrede, ebenfalls zu bleiben?«

»Ich glaube, Sie würden Ihnen folgen, Gurney Halleck.«

»Es ist anzunehmen.«

»Das ist es.«

»Ich soll also in dieser Angelegenheit meine eigene Entscheidung treffen?«

»Ja.«

Halleck erhob sich und fühlte, daß die kurze Ruhepause ihm gutgetan hatte. »Dann gehe ich jetzt in ihre Quartiere hinüber und sehe, was sich tun läßt.«

»Sprechen Sie mit meinem Quartiermeister«, sagte Tuek. »Er heißt Drisq. Sagen Sie ihm, daß es mein Wunsch sei, Ihnen jegliche Unterstützung zu gewähren. Ich werde dann später selbst herüberkommen. Zuerst muß ich noch einige Gewürzkontrollen durchführen.«

»Das Glück kann einem an jeder Stelle begegnen«, sagte Gurney Halleck.

»An jeder Stelle«, wiederholte Tuek. »Leerlauf ist nicht gut für unser Geschäft.«

Halleck nickte, hörte ein feines Zischen und fühlte den Luftzug, als die Tür hinter ihm aufsprang. Er drehte sich um und ging hinaus.

Er befand sich nun in der Versammlungshalle, durch die man ihn und seine Männer durch Tueks Stellvertreter hatte hereinführen lassen. Es war ein langer, aus dem Felsen herausgebrochener Raum, dessen Oberfläche mit irgendeinem unbekannten Material bearbeitet worden war. Die Decke war hoch und ließ ebenfalls kaum noch etwas davon ahnen, wie sie in ihrem Originalzustand ausgesehen hatte. An den Wänden befanden sich Waffenständer.

Mit einem Gefühl des Stolzes registrierte Halleck, daß jene Männer, die sich noch auf den Beinen halten konnten, keinesfalls umgefallen waren. Einige Mediziner der Schmuggler umschwärmten sie und behandelten die Verletzten. Man hatte in einer Ecke der Halle Tragbahren aufgestellt, auf denen diejenigen lagen, die bei den zurückliegenden Kämpfen etwas abbekommen hatten. Unverletzte Männer in den Uniformen der Atreides' kümmerten sich um jeden einzelnen von ihnen.

Das Atreides-Training, das unter dem Motto ›Wir sorgen für uns selbst‹ stand, bewährte sich also immer noch.

Einer der Leutnants kam auf ihn zu. Er trug den Kasten, der Hallecks Baliset enthielt, salutierte und sagte: »Sir, die Mediziner hier meinen, daß Mattai es wohl nicht überleben wird. Leider verfügen sie nicht über Knochen- und Organbänke. Sie haben nur die üblichen Medikamente. Es gibt keine Hoffnung mehr für ihn, Sir, und Mattai weiß das auch. Er hat eine Bitte an Sie.«

»Welche?«

Der Leutnant reichte ihm das Instrument. »Er möchte, daß Sie ein Lied spielen, Sir, um die Sache für ihn zu erleichtern. Er sagt, Sie wüßten sicher, welches er meint … weil er Sie oft darum gebeten hat, es zu spielen.« Der Leutnant schluckte. »Es ist das Lied ›Meine Frau‹, Sir. Falls Sie …«

»Ich weiß.« Halleck nahm das Baliset an sich, entlockte ihm einen leisen Akkord und stellte fest, daß jemand es bereits für ihn gestimmt hatte. In seinen Augen war ein Brennen, aber er verbannte es aus seinen Gedanken, griff in die Saiten und zwang sich zu einem Lächeln.

Mehrere seiner Leute und ein Mediziner der Schmuggler beugten sich über eine der Bahren. Als Halleck zu spielen begann, sang ein anderer Mann die Worte, die ihnen alle so bekannt waren.

»Meine Frau stand am Fenster,

weiche Linien hinter eckigem Glas.

Die Arme erhoben,

die Augen voll Naß.

Komm zurück zu mir …

Komm zurück zu mir …

Zurück zu mir, Chass …«

Der Sänger verstummte. Er streckte einen bandagierten Arm aus und drückte dem Mann auf der Bahre die Augen zu.

Halleck hörte auf zu spielen und dachte: Jetzt sind wir nur noch dreiundsiebzig.

7

Das familiäre Zusammenleben eines Hohen Hauses wie dem unseren ist für viele Leute ein Buch mit sieben Siegeln, aber ich will dennoch versuchen, einen kleinen Einblick zu geben. Mein Vater besaß nur einen einzigen wirklichen Freund. Das war Graf Hasimir Fenring, ein genetischer Eunuch und den gefährlichsten Kämpfern des Imperiums zugehörig. Der Graf, ein flinker und häßlicher kleiner Mann, brachte eines Tages eine neue Sklavin-Konkubine zu meinem Vater, woraufhin mich meine Mutter bat, zu überwachen, was sie mit ihr taten. Wir spionierten alle meinem Vater nach, es war für uns eine Art Selbstschutz. Natürlich war es unmöglich, daß eine Sklavin-Konkubine ein Kind zur Welt brachte, das später irgendwelche Ansprüche stellen könnte, aber die Intrigen waren konstant und beklemmend in ihrer Regelmäßigkeit. Meine Mutter, meine Schwestern und ich entwickelten, was subtile Formen von Attentaten anging, so etwas wie einen sechsten Sinn. Es mag sich schrecklich anhören, aber mir schien damals, daß mein Vater manchmal etwas leichtsinnig war, was Personen anging, die er nicht kannte. Eine kaiserliche Familie unterscheidet sich sehr stark von einer anderen. Und dann sah ich die neue Sklavin-Konkubine. Sie war rothaarig, wie mein Vater, grazil und anmutig. Sie verfügte über die Muskulatur einer Tänzerin, und sie war offensichtlich auch in der Kunst der Neuro-Verzückung unterwiesen worden. Während sie unbekleidet vor ihm posierte, schaute mein Vater sie lange Zeit an und sagte schließlich: »Sie ist einfach zu hübsch. Wir werden sie als Geschenk aufbewahren.« Man kann sich kaum vorstellen, welche Verblüffung diese Entscheidung in uns hervorrief.

›Im Hause meines Vaters‹, von Prinzessin Irulan.


Am späten Nachmittag stand Paul außerhalb des Zeltes. Der Spalt, in dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, lag in tiefem Schatten. Er starrte hinaus auf das offene Wüstenland und auf die fernen Klippen und fragte sich, ob er seine Mutter wecken sollte, die schlafend hinter ihm im Zelt lag.

Dünen über Dünen breiteten sich vor ihm aus. Die Schatten, die sie warfen, erschienen ihm so finster wie die Nacht.

Und dann diese endlose Weite.

Erfolglos suchte er nach etwas, was aus der flachen Landschaft aufragte. Außer den Dünen gab es nichts. Vor dem Horizont flimmerte die Luft vor Hitze. Nicht der kleinste Wind durchbrach die bewegungslose Landschaft.

Und was ist, dachte er, wenn sich dort drüben keine der ehemaligen Teststationen befindet? Wenn dort auch keine Fremen sind, und die Gewächse sich als reine Zufälligkeiten erweisen?

Jessica erwachte plötzlich, wälzte sich herum und warf durch das transparente Ende des Zeltes einen Blick auf Paul, der ihr in diesem Moment den Rücken zuwandte. Irgend etwas in seiner Körperhaltung erinnerte sie an seinen Vater, und das führte dazu, daß erneut die Erinnerung in ihr hochstieg. Rasch drehte sie den Kopf.

Nach einer Weile ordnete sie ihre Kleidung, erfrischte sich mit einem Schluck Wasser aus dem Vorrat des Destillanzugs und kroch hinaus. Sie reckte sich, um die Schlaffheit des Schlafes aus ihren Muskeln zu vertreiben.

Ohne sich umzuwenden sagte Paul: »Die Stille hier ist irgendwie schön.«

Wie das Bewußtsein sich der Umgebung anpaßt, dachte Jessica. Ein Axiom der Bene Gesserit fiel ihr ein: »Unter Streßeinwirkung kann das Bewußtsein sich in zwei Richtungen hin entwickeln; in eine positive oder eine negative; an- oder ausschalten. Man kann es sich als Spektrum vorstellen, dessen Extreme die Bewußtlosigkeit am negativen, und äußerste geistige Tätigkeit am positiven Ende präsentieren. Wie das Bewußtsein auf Streßsituationen anspricht, hängt von der geistigen Ausbildung des betreffenden Individuums ab.«

»Man könnte hier wirklich gut leben«, meinte Paul.

Jessica versuchte, sich die Wüste mit seinen eigenen Augen einzuprägen, sie durch seine Augen zu sehen. Sie versuchte, die Möglichkeiten zu erkennen, die sie ihnen bot und fragte sich, welche möglichen Zukünfte Paul auf ihr erblickt hatte. Man könnte hier draußen allein leben, dachte sie, ohne die Angst, ständig einen Blick hinter sich werfen zu müssen, ohne die Furcht, dort seinen Jäger zu entdecken.

Sie stellte sich neben ihren Sohn und setzte das Fernglas an die Augen. Erneut sah sie in der gegenüberliegenden Formation das in den Arroyos wachsende Pflanzenleben. Es waren magere Gewächse, gewiß, von gelbgrüner Farbe, aber immerhin.

»Ich breche das Lager ab«, meinte Paul.

Jessica nickte und ging zum Ende der Schlucht hinunter, in der sie sich befanden. Die dortige Öffnung erlaubte ihr einen guten Ausblick auf die Wüste. Sie setzte den Feldstecher an die Augen und schaute nach links. Ein salziger, leuchtender Fleck schien ihr weiß entgegen, dessen Ränder ins Braune verliefen und der ihr etwas sagte: Wasser. Irgendwann war an dieser Stelle Wasser geflossen. Jessica ließ den Feldstecher sinken und lauschte für einen Moment auf Pauls Bewegungen. Die Sonne tauchte in die Tiefe hinab. Schatten legten sich über den salzigen Fleck. Über dem Horizont bildete sich ein Wirbel sprühender Farben, vermischte sich mit den Schatten, die anfingen, die Ebene zu überfluten. Die Finsternis kam urplötzlich über die Wüste.

Sterne!

Jessica schaute zu ihnen auf und fühlte Pauls Bewegungen, als er von hinten an sie herantrat. Die Wüstennacht schien sie den Sternen entgegenzuheben. Warmer Wind berührte ihre Wangen.

»Der erste Mond wird bald aufgehen.«, hörte sie Paul sagen. »Ich habe unsere Sachen zusammengepackt und den Plumpser installiert.«

Wir könnten in dieser Alptraumlandschaft verloren gehen, dachte Jessica, und niemand würde je etwas davon erfahren.

Der Nachtwind führte Sandkörner mit sich, die gegen ihre Gesichtshaut prasselten und Zimtgeruch verbreiteten. Es war wie eine aromatische Dusche im Dunkeln.

»Riechst du das?« fragte Paul.

»Ich rieche es sogar durch den Filter«, erwiderte sie. »Es sind wahre Reichtümer. Aber kann man dafür Wasser kaufen?« Sie deutete über die Ebene hinweg. »Es gibt kein einziges künstlich erzeugtes Licht dort drüben.«

»Die Fremen würden sich, wenn sie dort lebten, in einem Sietch hinter den Felsen verbergen.«

Eine silberne Scheibe tauchte rechterhand über dem Horizont auf: der erste Mond. Er kam jetzt immer deutlicher in Sicht und das Abbild der geballten Hand auf seiner Oberfläche war einwandfrei zu erkennen. In seinem Schein leuchtete der Wüstensand an einigen Stellen weißsilbern auf.

»Ich habe den Plumpser an der tiefstmöglichen Stelle in den Boden gerammt«, erklärte Paul. »Wenn er anfängt, seine Geräusche durch den Boden zu tragen, haben wir noch dreißig Minuten.«

»Dreißig Minuten?«

»Bevor er anfängt, einen Wurm auf sich aufmerksam zu machen.«

»Oh. Ich bin bereit.«

Paul ging zurück, und sie hörte, wie er das Gepäck aufnahm.

Diese Nacht ist wie ein Tunnel, dachte Jessica. Ein Tunnel, der ins Morgen führt … falls es für uns überhaupt ein Morgen geben wird. Sie schüttelte den Kopf. Warum habe ich solche morbiden Gedanken? Sie stehen völlig im Widerspruch zu meiner Ausbildung!

Paul kehrte zu ihr zurück. Er hatte das Bündel wieder auf dem Rücken und begann als erster mit dem Abstieg. Er blieb erst wieder stehen, als er kurz vor der ersten Düne stand und wartete auf seine Mutter. Als sie ihn erreichte, sagte er: »Wir müssen uns bewegen, ohne dabei in einen bestimmten Rhythmus zu verfallen.« Er rief sich die Bewegungen der Sandgänger in die Erinnerung zurück und benutzte dabei sowohl erlerntes wie auch voraussehendes Wissen. »Paß genau auf, wie ich es mache«, fuhr er fort. »Wir müssen genauso gehen wie die Fremen, wenn sie den Sand überqueren.«

Er marschierte jetzt genau in den Windkanal hinein und folgte der Kurve, die die Düne nahm, ging mit unregelmäßigem Schritt.

Jessica schaute ihm nach, bis er zehn Schritte gemacht hatte und ging ihm dann, seine Bewegungen sorgfältig imitierend nach. Jetzt wurde ihr klar, was sie damit hervorriefen. Für einen Wurm würden die Geräusche nun nichts anderes bedeuten, als die, die der Wind hervorrief, wenn er den Sand bewegte. Auch wenn die Muskulatur des menschlichen Körpers gegen diese Art der Fortbewegung protestierte: sie hatten keine andere Wahl. Und so ging es denn weiter: Schritt … den Fuß nachziehen … Schritt … den Fuß nachziehen … Abwarten … den Fuß nachziehen … Schritt …

Die Zeit schien endlos zu werden. Die vor ihnen liegende Felsformation schien nicht das geringste Stück näher zu rücken, während diejenige, die sie gerade verlassen hatten, sich immer noch wie ein gigantischer Turm hinter ihnen in die Lüfte erhob.

Tapp! Tapp! Tapp! Tapp!

Die Geräusche, die plötzlich aus dem Hintergrund an ihre Ohren drangen, waren wie Trommelschläge.

»Der Plumpser«, zischte Paul leise.

Die plumpsenden Geräusche, die der Stab aussandte, waren so stark, daß sie sich zwingen mußten, ihren Rhythmus nicht daran anzupassen.

Tapp! Tapp! Tapp! Tapp!

Sie gerieten in eine vom Mondlicht übergossene Vertiefung, in der das pulsierende Geräusch noch deutlicher zu hören war. Aufwärts und abwärts. Dünen, Dünen, Dünen. Und immer die ungleichmäßigen Bewegungen: Schritt … den Fuß nachziehen … Schritt … Abwarten … Schritt …

Und die ganze Zeit über warteten ihre Ohren auf ein ganz bestimmtes Zischgeräusch.

Als es schließlich erklang, war es so leise, daß es von den Tönen ihrer Schritte beinahe verschluckt wurde. Aber es wuchs an … wurde lauter und lauter. Es kam von Westen her.

Tapp! Tapp! Tapp! Tapp! trommelte der Plumpser.

Dann erfüllte das Zischen die Nacht. Sie drehten die Köpfe und sahen den kleinen Sandhügel hinter sich, der den Ort markierte, an dem sich die Spitze des Wurmes befand.

»Nicht stehenbleiben«, flüsterte Paul. »Und schau nicht zurück.«

Aus dem Schattengebiet, das sie hinter sich gelassen hatten, ertönte das knirschende Geräusch eines Zusammenpralls in ohnmächtiger Wut.

»Nicht stehenbleiben«, wiederholte Paul.

Ihm war, als hätten sie nun einen Punkt erreicht, von dem aus ihr Ziel und ihr Aufbruchspunkt gleichermaßen groß erschienen.

Aber hinter ihnen schien jetzt die Hölle loszubrechen, in der der Wurm, der gegen das pulsierende Geräusch, das aus den Felsen zu ihm herüberdrang, sich austobte.

Sie gingen weiter und weiter und weiter. Die Muskeln begannen von der ungewohnten Fortbewegungsart zu schmerzen. Es machte ihnen schwer zu schaffen, aber jetzt wurden die vor ihnen liegenden Felsenhügel schnell größer.

Jessica schritt in beinahe hypnotischer Konzentration aus und wußte, daß es nur ihr trainierter Wille war, der dies bewirkte. Ihr Mund war ausgetrocknet und brannte, aber der sich hinter ihrem Rücken abspielende Kampf des Wurms gegen die Felsen ließ sie jeden Gedanken an einen schnellen Schluck aus dem Wasservorrat ihres Anzugs unterdrücken.

Tapp … Tapp …

Erneut wurden die zurückliegenden Felsenklippen von einem rasenden Anfall erschüttert. Der Plumpser hauchte sein Leben aus.

Stille!

»Schneller«, flüsterte Paul jetzt.

Jessica nickte, auch wenn sie sich darüber im klaren war, daß er ihre Bewegungen überhaupt nicht wahrnehmen konnte. Aber die Kopfbewegung hatte auch einen anderen Sinn: sie wollte sich einfach davon überzeugen, ob sie noch in der Lage war, andere Bewegungen als die, die ihrer Muskulatur seit geraumer Zeit übel mitspielten, ausführen konnte.

Die Sicherheit verheißende Felsformation vor ihnen schien nach den Sternen zu greifen, und Paul sah, daß sie einen Sandhügel würden hinauflaufen müssen, um sie zu erreichen. Als er seinen Fuß auf die Ausläufer der Sandbank setzte, atmete er auf und wandte sich um.

Ein plötzliches Donnern brachte die sandige Umgebung zum Erbeben.

Paul machte zwei Schritte nach links.

Rumms! Rumms!

»Trommelsand!« zischte Jessica.

Paul kämpfte verzweifelt ums Gleichgewicht. Der Sand geriet in Bewegung, und hinter ihnen ertönte ein Zischen, das dem des Windes nicht unähnlich war.

»Lauf!« schrie Jessica. »Paul, lauf!«

Sie rannten beide.

Der Trommelsand donnerte bei jedem Schritt unter ihren Füßen, aber sie schafften es, ihn zu überqueren, und die Änderung ihrer Fortbewegungsart führte dazu, daß ihre Muskeln sich für einen Moment entspannen konnten, auch wenn sie damit Geräusche hervorriefen, die der Wurm vernehmen und lokalisieren konnte. Der Sand zog an ihren Füßen, und das sich nähernde Zischen ihres Verfolgers wurde lauter und lauter.

Jessica stolperte und fiel auf die Knie. Alles, an was sie jetzt noch denken konnte, war der Wurm und der Schrecken, der von ihm ausging.

Paul zerrte sie hoch.

Sie rannten weiter, Hand in Hand.

Vor ihnen tauchte ein in den Sand gerammter Pfahl auf. Sie rannten an ihm vorbei, sahen einen zweiten.

Jessica hörte auf, sie zu zählen.

Dann veränderte sich etwas in ihrer Umgebung. Ein Luftzug traf ihr Gesicht. Er kam aus einem Spalt in den Felsen.

Felsen!

Dann spürte sie ihn unter den Füßen und holte noch einmal alle verbliebenen Kräfte aus sich heraus.

Ein Riß in der Wand vor ihnen signalisierte einen Durchgang. Sie rannten darauf zu, warfen sich hinein und tauchten in einem Loch unter, das nicht größer als eine Nische war.

Hinter ihnen erstarben die Fortbewegungsgeräusche des Verfolgers. Jessica und Paul wandten sich um und spähten in die offene Wüste hinaus.

Dort, wo die Dünen begannen, etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt, erhob sich ein silbergrauer Hügel aus dem Sand, der sich immer weiter in die Höhe hob und schließlich zu einem riesigen, suchenden Mund wurde, der im Mondlicht deutlich zu erkennen war, und er deutete genau in die Richtung, in der Jessica und Paul sich versteckt hatten. Durchdringender Zimtgeruch erreichte ihre Nasen und betäubte sie beinahe. Mondlicht reflektierte sich auf den kristallenen Zähnen.

Der gigantische Mund bewegte sich vor und zurück.

Paul hielt den Atem an.

Jessica duckte sich und starrte den Wurm an. Es kostete sie die allergrößte Anstrengung und Konzentration, nicht in einem hysterischen Anfall aufzuschreien.

Paul fühlte in sich einen Anflug von Überlegenheit. Erst kürzlich hatte er eine Barriere überquert, die ihn in ein völlig unbekanntes Territorium verschlagen hatte. Er konnte die Finsternis, die sich vor ihm ausbreitete, deutlich fühlen, aber sie war mit seinem inneren Auge nicht zu durchschauen. Es war, als hätte ihn irgendein vollzogener Schritt in einen Brunnen geworfen … oder auf eine Ebene, von der aus die Zukunft nicht mehr deutlich war. Die Landschaft war einer tiefgreifenden Veränderung unterworfen worden.

Aber anstelle sich zu ängstigen, spürte er, wie die Sensation dieser relativen zeitlichen Dunkelheit seine anderen Sinne zu schärfen begann. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß er alle Aspekte des Dings dort im Sand, das nach ihnen suchte, in sich aufnahm. Der Mund des Wurms hatte etwa acht Meter Durchmesser … die kristallinen Zähne, die die gebogene Form von Crysmessern besaßen, glitzerten … der nach Zimt riechende Atem des Geschöpfs …

Der Wurm schob sich vor den Mond und verdunkelte damit die Umgebung. Ein Wirbel kleiner Steine und eine Welle von Sand ergoß sich über die kleine Nische, in der sie hockten.

Paul drängte seine Mutter weiter zurück.

Zimt!

Der Geruch durchdrang ihn völlig.

Was hat der Wurm mit der Melange zu tun? fragte er sich und dachte darüber nach, daß Liet-Kynes alle Anstrengungen unternommen hatte, alle Zusammenhänge zwischen den Würmern und dem Gewürz zu bestreiten.

Barummmmmm!

Es klang wie ein ferner Donner und kam irgendwo von rechts.

Und wieder: Barummmmm!

Der Wurm glitt etwas zurück, legte sich still auf den Sand, wo seine Zähne im Mondschein glänzten.

Tapp! Tapp! Tapp!

Ein Plumpser! durchzuckte es Paul.

Das Geräusch ertönte erneut von rechts.

Ein Zittern ging durch den Wurm. Sofort begann er sich wieder in den Sand einzugraben. Er tauchte unter, und nur der aufgeworfene Krater, den er beim Auftauchen erzeugt hatte, blieb zurück.

Der Sand knirschte.

Die Kreatur der Wüste sank tiefer, drehte und wand sich. Erneut wurde sie zu einem aufgeworfenen Faden, zu einer sich bewegenden, aufgeworfenen Wölbung, die sich aufmachte, die Wüste zu durchqueren.

Paul stand auf und starrte den unterirdischen Bewegungen, die sich jetzt dem Geräusch des anderen Plumpsers zuwandten, nach.

Jessica erhob sich ebenfalls und lauschte: Tapp … Tapp … Tapp … Tapp … Tapp …

Plötzlich verstummte der Ton.

Paul tastete nach dem Wasserschlauch seines Destillanzugs und trank einen Schluck.

Jessica sah ihm zu, aber auch jetzt noch beherrschte sie der Gedanke an den Schrecken, dem sie soeben entgangen waren.

»Ist er wirklich weg?« flüsterte sie.

»Jemand hat ihn gerufen«, erwiderte Paul. »Und zwar die Fremen.«

Sie beruhigte sich wieder. »Er war so ungeheuer groß!«

»Nicht so groß wie der, der unseren Thopter vernichtete.«

»Bist du sicher, daß die Fremen hier die Hand im Spiel hatten?«

»Sie setzten einen Plumpser ein.«

»Aber warum sollten sie uns beistehen?«

»Vielleicht haben sie uns gar nicht helfen wollen. Vielleicht wollten sie nur einen Wurm herbeirufen.«

»Aber aus welchem Grund?«

Die Antwort lag ihm auf der Zunge, aber etwas hielt ihn zurück, sie auszusprechen. Er hatte eine Vorstellung, die sich mit den Stäben beschäftigte, die sie für gewöhnlich bei sich trugen, den sogenannten Bringerhaken.

»Warum sollten sie einen Wurm anlocken?« fragte Jessica erneut.

Eine vage Furcht zwang Paul dazu, sich von ihr abzuwenden und einen Blick auf die vor ihnen liegenden Klippen zu werfen. »Wir sollten uns lieber darum kümmern, einen Aufstieg zu finden, ehe der Tag anbricht.« Er streckte den Arm aus. »Diese Pfähle, an denen wir vorbeikamen — dort sind noch mehr davon.«

Sie folgte der angegebenen Richtung und sah sie nun auch: sie staken in unregelmäßigen Abständen im Boden und führten weit in die Felsen hinein.

»Sie markieren einen Weg über die Klippen«, erklärte Paul, nahm das Gepäck wieder auf die Schultern und begann mit dem Aufstieg.

Jessica wartete einen Moment. Sie brauchte noch etwas Ruhe. Schließlich folgte sie ihm. Sie gingen den Berg hinauf, immer den Pfählen nach, die sie führten, und gelangten schließlich an eine Stelle, wo die Umgebung wieder leicht abschüssig wurde und an einer Felsspalte endete, die in ungeahnte Höhen hinaufführte.

Paul warf einen Blick in den finsteren Korridor hinein. Es war dunkel in ihm, aber am Ende des langen, engen Weges leuchteten die Sterne. Er konzentrierte sich auf die Umgebung, aber seine Ohren konnten keine anderen Geräusche ausmachen, als die, die er erwartet hatte: das leise Rieseln sich bewegenden Sandes, das Brummen eines unsichtbaren Insekts, das Trippeln einer kleinen, fliehenden Kreatur. Paul steckte einen Fuß in den Felsengang hinein und tastete den Boden ab. Er war fest und felsig. Langsam bewegte er sich vorwärts und gab seiner Mutter das Signal, ihm zu folgen.

Gemeinsam starrten sie auf das sich am Ende des Korridors zeigende Sternenlicht. Jessica erschien Paul in der herrschenden Finsternis wie ein formloser, grauer Nebel. »Wenn wir nur riskieren könnten, Licht zu machen.«

»Wir haben auch noch andere Sinne, als nur den unserer Augen«, erwiderte Jessica.

Paul machte einen Schritt nach vorn und tastete dabei sorgfältig den Boden nach etwaigen Hindernissen ab. Dann ging er weiter, langsam und mit Bedacht. Sie konnten nicht riskieren, in dieser Umgebung sich ein Bein oder einen Arm zu brechen. Ein weiterer Schritt.

»Ich glaube«, sagte er, »es geht geradeaus weiter bis zur Spitze.«

Es ist glatt und fugenlos, dachte Jessica. Dies ist unzweifelhaft Menschenwerk.

Sie trafen schließlich auf Stufen und folgten ihnen, ohne daß sie auf das kleinste Hindernis stießen. Sie endeten schließlich auf einer freien, glatten Plattform, die zwanzig Meter lang war. Und diese wiederum öffnete sich in ein flaches, mondbeschienenes Tal.

Paul sagte überrascht: »Welch ein herrlicher Ort.«

Jessica, die einen Schritt hinter ihm stand, nickte in stummer Übereinkunft.

Angesichts der Schwäche, die sich in ihren Körpern ausbreitete und der Muskelschmerzen, die ihnen zu schaffen machten, erfüllte das Tal sie mit einem tiefen Gefühl der Ruhe und Rast.

»Es ist wie ein Märchenland«, flüsterte Paul.

Jessica nickte.

Direkt vor ihnen breitete sich eine große Ansammlung von Wüstengewächsen aus: Büsche, Kakteen und Gewächse, die kleine Äste in den Himmel reckten. Der Wall, der all dies umgab, war dunkel zu ihrer Linken, während seine rechte Seite vom Mondlicht überschüttet wurde.

»Es muß sich um einen Platz der Fremen handeln«, vermutete Paul.

»Es erfordert eine Menge Leute, diese Pflanzen am Leben zu erhalten«, nickte Jessica. Sie griff nach dem Wasserschlauch und gestattete sich einen tiefen Schluck. Warme Feuchtigkeit glitt ihre Kehle hinab, und sie stellte fest, daß es sie wirklich erfrischte.

Eine Bewegung zu ihrer Rechten zog Pauls Aufmerksamkeit an. Irgend etwas huschte dort über den Boden, eilte zwischen den Büschen dahin und erzeugte dabei kleine Geräusche.

»Springmäuse«, flüsterte er.

Hopp, hopp, hopp, ging es. Hin und her.

Vor ihren Augen glitt etwas Dunkles aus der Luft heran und stürzte sich nieder. Ein feines Fiepen erklang, dann war das Rascheln schlagender Schwingen zu hören. Ein geisterhaft aussehender, grauer Vogel erhob sich in die Luft und schoß über das Tal hinweg. In seinen Klauen trug er einen unkenntlichen kleinen Körper.

Gut, daß er uns daran erinnert, dachte Jessica, daß wir nicht in einem Paradies leben.

Paul, der immer noch die sie umgebende Landschaft anstarrte, nahm einen tiefen Atemzug und sagte: »Wir sollten uns einen Platz suchen, an dem wir unser Zelt aufschlagen können. Morgen können wir dann versuchen, mit den Fremen Kontakt aufzunehmen, die …«

»Die meisten Eindringlinge vermeiden es allerdings, den Fremen zu begegnen!«

Es war eine tiefe Männerstimme, die die Nacht durchdrang und diese Worte sprach. Sie kam von rechts aus den Felsen.

»Lauft bitte nicht weg, Eindringlinge«, fuhr die Stimme fort, als Paul einen Schritt rückwärts tat. »Damit vergeudet ihr nur eure Körperflüssigkeit.«

Sie wollen uns wegen des Wassers in unseren Körpern! durchfuhr es Jessica entsetzt. Ihre Muskelschwäche war sofort vergessen, als sich ihre Kräfte konzentrierten. Sie versuchte den Standort des Mannes auszumachen und dachte: Wie leise er sich genähert hat! Ich habe überhaupt nichts gehört! Und sie erkannte, daß der Fremen alle auffälligen Geräusche vermieden hatte, so daß seine Annäherung in den natürlichen der nächtlichen Umgebung untergegangen war.

Eine andere, diesmal von links kommende Stimme sagte: »Mach es schnell, Stil. Nimm ihr Wasser und dann gehen wir weiter. Bis zum Tagesanbruch haben wir nicht mehr viel Zeit.«

Paul, der weniger konditioniert war als seine Mutter, registrierte, daß er drauf und dran war zu fliehen, daß er wie gelähmt dastand und gegen eine plötzliche Panik anzukämpfen hatte. Er zwang sich dazu, die Verhaltensweisen auszuführen, die sie ihn einst gelehrt hatte: die Muskulatur zu entkrampfen, die Situation zu entwirren, in der er sich befand, und schließlich alle Kräfte auf den Gegner zu konzentrieren.

Aber immer noch war Furcht in ihm. Und er wußte auch, worauf sie zurückzuführen war. Hier war jene dunkle Stelle der Zukunft, die er noch nie gesehen hatte … und sie waren umgeben von wilden Fremen, für die nichts anderes an ihnen von Interesse war als das Wasser ihrer ungeschützten Körper.


8

Die religiöse Adaption der Fremen ist der Ursprung dessen, was wir jetzt als die ›Säulen des Universums‹ erkennen, deren Qizara Tafwid mit all ihren Zeichen, Prüfungen und Prophezeiungen unter uns sind. Und sie sind es, die uns die mystische, arrakisische Verbindung nahebringen, deren profunde Schönheit sich mit der ergreifenden Musik, die aus einer Synthese aus alten Formen und dem Neuen Erwachen besteht, ausdrückt. Wer hat des ›Alten Mannes Lied‹ noch nicht gehört, ohne davon tief bewegt zu werden?

Meine Füße bewegten den Wüstensand,

Am Horizont verheißendes Spiegeln.

Begierig nach Ruhm, der Gefahr wohl bewußt,

Durchstreifte ich das Land al-Kulab.

Behielt im Auge die unendlichen Berge,

Die suchten nach mir und hungerten.

Die Sperlinge kamen ganz plötzlich heran,

Mutiger als der heranstürmende Wolf.

Sie besetzten den Baum meiner Jugend,

Und schrien in den Zweigen.

Ihren Schnäbeln und Klauen

Konnte ich nicht entgehn.

Aus ›Arrakis erwacht‹, von Prinzessin Irulan.


Der Mann kroch über den Dünenkamm. Unter den Strahlen der Mittagssonne war er nicht mehr als ein Insekt in der zerfetzten Kleidung eines ehemaligen Djubba-Umhanges, dessen zahlreiche Löcher seinen Körper erbarmungslos der Hitze aussetzten. Der Mann besaß keine Kapuze mehr und hatte sich aus einem abgerissenen Fetzen seines Umhangs einen notdürftigen Turban um den Kopf gewunden. Die Haare waren von Sand durchsetzt und standen wirr — wie auch sein Bart und die buschigen Augenbrauen — vom Kopf ab. Unterhalb der völlig blauen Augen deuteten verwischte Spuren darauf hin, daß Tränen seine Wangen hinabgelaufen waren. Eine eingedrückte Stelle seines Schnauzbartes ließ erkennen, wo der Schlauch verlaufen war, der von der Fangtasche seines Destillanzuges bis zu seinem Nacken und von dort zu seinem Mund geführt hatte.

Der Mann taumelte über den Dünenkamm hinweg. Auf seinen Händen und Füßen war eingetrocknetes Blut, das sich mit Sand vermischt hatte. Er fiel wieder hin, stützte sich auf die Arme, rappelte sich auf und blieb unsicher stehen. Man konnte anhand seiner Bewegungen erkennen, daß er noch nicht völlig gebrochen war.

»Ich bin Liet-Kynes«, sagte er zu sich selbst und dem weit entfernten Horizont mit einer Stimme, die nur noch eine Karikatur einstiger Stärke vermittelte. »Ich bin der planetare Ökologe Seiner Majestät.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Der planetare Ökologe von Arrakis. Der Verwalter dieses Landes.«

Er strauchelte, fiel seitwärts und seine Hände krallten sich hilflos in den rieselnden Sand.

Ich bin der Verwalter dieses Landes, dachte er.

Er machte sich klar, daß er sich in einem Halbdelirium befand. Es würde das beste sein, wenn er sich in den Sand eingrub und sich in der relativen Kühle verbarg. Aber er konnte immer noch den vagen, halbsüßen Geruch einer Vorgewürzmasse unter dem Sand riechen. Er hatte in dieser Beziehung sogar eine bessere Nase als die Fremen. Wenn er die Vorgewürzmasse roch, bedeutete das, daß die Gase unter der sandigen Oberfläche beinahe unter einem gerade explosiven Druck standen. Er mußte weg von hier.

Erneut machten seine Hände schwache Bewegungen. Ihm fiel etwas ein, und der Gedanke war klar und deutlich: Der wirkliche Reichtum eines Planeten liegt in seiner Landschaft verborgen, und in der Art, in der wir die Basis jeder Zivilisation — die Agrikultur — einsetzen.

Und er dachte, wie einfach das doch war, und fragte sich, warum das niemand begreifen wollte. Die Soldaten der Harkonnens hatten ihn hier ohne Wasser und ohne Destillanzug zurückgelassen. Sie rechneten damit, daß er einem Wurm zum Opfer fiel, wenn ihn schon nicht die Wüste fertigmachte. Möglicherweise hatten sie sich darüber lustig gemacht, daß er, eng an den Planeten gepreßt, aus dem er etwas hatte machen wollen, sterben würde.

Es war für die Harkonnens schon immer schwer, einen Fremen zu töten, dachte er. Wir sind nicht leicht umzubringen. Ich sollte eigentlich schon tot sein. Aber auch wenn ich bald sterben werde — ich kann nicht aufhören, als Ökologe zu denken.

»Die höchste Funktion der Ökologie ist es, die Konsequenzen zu verstehen.«

Die Stimme, die er jetzt hörte, schockierte ihn deswegen, weil er wußte, daß ihr Besitzer nicht mehr lebte. Es war die Stimme seines Vaters, jenes Mannes, der vor ihm der planetare Ökologe auf Arrakis gewesen war.

»Du hättest dir bewußt machen sollen, mein Sohn«, fuhr die Stimme fort, »was es für Konsequenzen nach sich zieht, dem Sohn des Herzogs zu helfen.«

Ich befinde mich im Delirium, dachte Kynes.

»Je mehr Leben es innerhalb eines Systems gibt«, fuhr die Stimme seines Vaters fort, »desto mehr Nischen existieren auch für das Leben.« Die Stimme kam jetzt von links, aber so sehr Kynes sich auch bemühte: er sah nichts als den großen hellen Ball der Sonne.

Warum wechselt er jedesmal die Position? dachte er. Will er nicht, daß ich ihn sehe?

»Das Leben veredelt die Kapazität der Umgebung, um es auch weiterhin zu erhalten«, sagte sein Vater. »Es ruft immer weitere Nährstoffe hervor und führt dem System dadurch immer weitere chemische Stoffe zu.«

Warum beißt er sich an diesem Thema fest? fragte Kynes sich. All das habe ich schon gewußt, bevor ich zehn Jahre alt war.

Wüstenfalken, die, wie die meisten Geschöpfe des Planeten, Aasfresser waren, begannen über ihm ihre Kreise zu ziehen. Kynes sah, wie ein Schatten über seine Hand fiel und versuchte den Kopf zu heben.

Die Vögel waren wie dunkle Flecken vor einem blausilbernen Himmel; kleine Punkte, die über ihm schwebten.

»Wir sind Generalisten«, fuhr die Stimme seines Vaters fort. »Du kannst nicht an Symptomen kurieren.«

Was versucht er mir beizubringen? fragte sich Kynes. Habe ich irgendeine Konsequenz übersehen?

Sein Kopf fiel in den Sand zurück, und er schmeckte unter der Vorgewürzmasse das Aroma heißen Gesteins. In irgendeiner Ecke seines Gehirns formte sich der Gedanke: Es sind Aasfresser, die über mir dahinfliegen. Vielleicht ziehen sie die Aufmerksamkeit meiner Fremen auf sich.

»Die wichtigsten Werkzeuge eines Planetologen«, sagte die Stimme jetzt, »sind menschliche Wesen. Es ist wichtig, daß du den jungen Menschen beibringst, was Kultivierung bedeutet. Nur aus diesem Grunde habe ich diese völlig neue Form einer ökologischen Methode entwickelt.«

Er wiederholt nur Dinge, die ich schon seit meiner Kindheit weiß, dachte Kynes.

Ihm wurde plötzlich kalt, aber der Rest von Logik, der in seinem Innern zurückgeblieben war, sagte: Die Sonne steht genau über dir. Du hast keinen Destillanzug, also ist dir heiß. Die Sonne zehrt an deiner Körperflüssigkeit.

Kynes' Finger griffen in den Sand.

Sie haben mir nicht einmal einen Destillanzug gelassen!

»Die Luftfeuchtigkeit verhindert das allzu schnelle Austrocknen lebender Organismen«, sagte sein Vater.

Warum wiederholt er das Offensichtliche? fragte sich Kynes.

Er versuchte sich die Luftfeuchtigkeit vorzustellen … und Gras, das die Düne überwucherte … offenes Wasser irgendwo unter ihm … und einen langen Qanat, der durch die Wüste zog, mit Wasser gefüllt, während Bäume zu seinen Seiten standen. Er hatte in seinem Leben noch niemals offenes Wasser zu Gesicht bekommen, ausgenommen auf Bildern. Offenes, sich bewegendes Wasser … man benötigte fünftausend Kubikmeter Wasser für einen Hektar Land, allein um eine Jahreszeit zu überstehen, erinnerte er sich.

»Unser erstes Ziel auf Arrakis«, fuhr die Stimme fort, »sind Graslandgebiete. Wir werden mit mutierten Steppengräsern beginnen. Wenn wir in diesen Gebieten Luftfeuchtigkeit eingefangen haben, werden wir mit dem Anbau von Waldgebieten fortfahren. Schließlich beginnen wir mit kleinen Gewässern …«

Was soll dieser Vortrag? dachte Kynes. Warum hört er nicht damit auf? Sieht er denn nicht, daß ich im Sterben liege?

»Und wenn du nicht bald von dieser Blase verschwindest«, sagte sein Vater, »bedeutet das deinen sicheren Tod. Du weißt genau, daß sie sich unter dir befindet, weil du die Vorgewürzgase riechen kannst. Und du weißt ebenfalls, daß die kleinen Bringer jetzt dabei sind, etwas von ihrem Wasser in die Masse einzubringen.«

Der Gedanke, daß sich Wasser unter ihm befand, war beinahe wahnsinnerzeugend. Kynes konnte sich jetzt recht deutlich vorstellen: die Entwicklungsform des arrakisischen Sandwurms in seiner allerersten Stufe, wo er noch eine halbpflanzliche/halbtierische Erscheinungsform darstellte. Ihre Exkremente und das Wasser, daß …

Eine Vorgewürzmasse!

Kynes inhalierte, schmeckte die vage Süße. Das Aroma wurde jetzt immer stärker.

Er zwang sich, eine kniende Stellung einzunehmen, hörte einen der Vögel kreischen und das Geräusch klatschender Schwingen.

Ich bin hier in einem Gewürzgebiet, dachte er. Es müssen Fremen in der Nähe sein, auch wenn es Tag ist. Sicher können sie die Vögel sehen und werden sich fragen, was hier los ist.

»Bewegungen in der Wüste sind für tierisches Leben eine Notwendigkeit«, fuhr die Stimme fort. »Und die Nomaden folgen den gleichen Prinzipien. Aber Bewegungen ziehen auch einen Verschleiß der Wasser-, Nahrungs- und Energievorräte nach sich. Deshalb ist es unerläßlich, die Bewegungen einer strikten Kontrolle zu unterwerfen und sie für konkrete Ziele aufzusparen.«

»Halt den Mund, Alter«, sagte Kynes.

»Wir werden auf Arrakis etwas tun, was bisher auf keinem anderen Planeten getan wurde. Statt des Weges der Terraformung benutzen wir den Menschen als konstruktive, ökologische Kraft auf dieser Welt. Hier eine Pflanze, dort ein Tier — und dort einen Menschen. Das führt zu einem Wasserzyklus, der die ganze Landschaft verändern wird.«

»Halts Maul!« krächzte Kynes.

»Bewegungen waren auch die Grundlage dafür, daß wir die Zusammenhänge zwischen dem Gewürz und den Würmern erkannten.«

Ein Wurm, dachte Kynes mit einem Anflug von Hoffnung. Wenn die Blase platzt, kommt bestimmt einer hierher. Aber ich habe keine Haken. Wie kann ich einen Großen Bringer ohne Haken erklettern?

Kaum hatte er eine Idee entwickelt, folgte ihr die Frustration.

Das Wasser war so nah, höchstens hundert Meter unter ihm; sicher würde ein Wurm kommen, aber er hatte keine Chance, ihn an die Oberfläche zu locken und zu benutzen.

Kynes ließ den Kopf wieder auf den Sand fallen. Seine linke Wange war heiß, aber er spürte es kaum.

»Arrakis ist in der Lage, die Grundvoraussetzungen für eine glückliche Evolution selbst zu schaffen«, sagte die Stimme. »Es ist an sich kaum zu glauben, weshalb sich bisher so wenig Leute Gedanken darüber gemacht haben, wieso der Planet trotz seiner nahezu idealen Stickstoff-Sauerstoff-Atmosphäre so wenig pflanzliches Leben entwickelt hat. Und das, obwohl die energetische Sphäre des Planeten deutlich einem unerbittlichen Prozeß unterworfen ist. Gibt es also eine Bresche, in die man schlagen kann? Wenn ja, wird sie von irgend jemand besetzt gehalten. Die Wissenschaft ist aus so vielen kleinen Dingen zusammengesetzt, aber dennoch wird sie, wenn man sie erklärt, jedem völlig offensichtlich erscheinen. Ich wußte, daß die Kleinen Bringer hier lebten, bevor ich den ersten von ihnen sah.«

»Hör bitte auf, mich zu schulmeistern, Vater«, flüsterte Kynes schwach.

In der Nähe seiner auf dem Sand ausgestreckt liegenden Hand landete ein Falke. Kynes schaute zu, wie der Vogel die Schwingen an den Körper legte und ihn anstarrte. Er biß die Zähne zusammen und kroch auf ihn zu. Der Vogel hüpfte zwei Schritte zurück, floh aber nicht. Er blieb stehen und ließ sein potentielles Opfer nicht aus den Augen.

»Bis jetzt haben die Menschen, wenn sie die Oberfläche ihrer Planeten veränderten, diesen Welten nichts als Krankheiten zugefügt«, fuhr sein Vater fort. »Glücklicherweise tendiert die Natur dazu, den ihr zugefügten Schaden zu absorbieren oder sie dem eigenen System geschickt anzupassen.«

Der Falke senkte den Kopf, streckte die Schwingen aus und zog sie wieder ein. Er richtete seine Aufmerksamkeit jetzt auf Kynes Hand.

Kynes fühlte sich zu geschwächt, um noch weiter auf den Vogel zuzukriechen.

»Das auf gegenseitiger Übereinkunft basierende System der Ausbeutung und Erpressung findet hier auf Arrakis sein Ende«, fuhr die Stimme fort. »Man kann nicht bis in die Ewigkeit hinein stehlen, ohne an die zu denken, die später einmal hier leben müssen. Die physikalischen Qualitäten eines Planeten haben mit seiner ökonomischen und politischen Lage zu tun. Die Lage offenbart sich uns nun, und der Weg, den wir zu gehen haben, ist offensichtlich.«

Er hat nie damit aufhören können, mich zu schulmeistern, dachte Kynes. Nie. Nie. Nie.

Der Falke hüpfte einen Schritt näher auf ihn zu, sah ihn an und richtete seinen Kopf dann Kynes' ausgestreckt auf dem Sand liegender Hand zu.

»Arrakis ist ein Ernteplanet«, sagte die Stimme jetzt. »Er dient einer herrschenden Klasse und ihren Bedürfnissen, die auf ihm lebt, wie herrschende Klassen immer gelebt haben, während sie eine große Masse von Halbsklaven unterdrückt. Und wir müssen unser Hauptaugenmerk auf die Massen richten. Sie sind für uns wichtiger, als wir je angenommen haben.«

»Ich höre einfach nicht mehr zu, Vater«, flüsterte Kynes. »Geh weg!«

Und er dachte: Sicher sind einige Fremen in der Nähe. Sie werden die Vögel sehen und nachforschen, ob es hier Wasser zu holen gibt.

»Die Massen, die auf Arrakis leben, werden erfahren, daß es unser Ziel ist, das Land zu bewässern«, sagte sein Vater. »Auch wenn die meisten von ihnen unsere Absichten nur für eine halbmystische Aufgabe halten. Viele werden auch annehmen, daß wir die Flüssigkeit von einem wasserreichen Planeten einführen wollen. Laß sie denken, was sie wollen. Die Hauptsache ist, daß sie uns Glauben schenken.«

Noch eine Minute, dachte Kynes. Dann werde ich aufstehen und ihm sagen, was ich von ihm halte. Wie kann er nur da rumstehen und mich schulmeistern, anstatt mir zu helfen.

Der Vogel machte einen weiteren Hüpfer auf seine ausgestreckte Hand zu. Hinter ihm tauchten zwei weitere Falken auf und ließen sich auf dem Sand nieder.

»Religion und Gesetz sollten für die Massen miteinander verschmolzen werden«, sagte sein Vater. »Ein Akt des Ungehorsams sollte als Sünde deklariert werden und eine religiöse Buße nach sich ziehen. Dies wird nicht nur zu größerem Gehorsam, sondern auch zu gesteigerter Tapferkeit führen. Wir dürfen zudem nicht zu großen Wert auf die Tapferkeit des einzelnen legen. Was uns interessiert, ist die Tapferkeit der Masse, verstehst du?«

Wo sind meine Leute, jetzt, wo ich sie brauche? dachte Kynes. Er konzentrierte sich auf die ausgestreckte Hand und bewegte einen Finger. Der ihm am nächsten stehende Vogel machte sofort einen Satz rückwärts und flatterte mit den Schwingen, als sei er bereit, sofort die Flucht zu ergreifen.

»Unser Zeitplan wird zu einem Naturphänomen heranwachsen«, sagte sein Vater. »Das Leben eines Planeten besteht aus einer Unzahl kleiner, miteinander verwobener Faktoren. Aufgrund von Manipulationen an pflanzlichem und tierischem Leben werden sich die ersten Veränderungen ergeben. Sobald sie sich der Natur angepaßt haben, wird es unsere Aufgabe sein, die von ihnen hervorgerufenen Einflüsse auf die Umwelt zu kontrollieren. Wir werden damit fertigwerden. Und vergiß niemals, daß wir lediglich drei Prozent der Oberflächenenergie — nur drei Prozent! unter Kontrolle zu haben brauchen, um die gesamte Struktur einer Welt dahingehend zu beeinflussen, daß sie aus eigenen Kräften ein System schafft, das sich selbst weiterentwickelt.«

Warum hilfst du mir nicht? fragte sich Kynes. Es ist immer dasselbe: Wenn ich dich am meisten brauche, verläßt du mich. Er wollte den Kopf drehen, wollte in die Richtung sehen, aus der die Stimme zuletzt gekommen war, aber die Muskeln gehorchten seinen Anweisungen nicht mehr.

Kynes sah, wie sich der erste Falke bewegte. Er ging auf die Hand zu, während die anderen beiden in sicherer Entfernung zurückblieben. Einen Schritt davor blieb der Vogel stehen.

Eine plötzliche Klarheit machte sich in Kynes' Kopf breit. Er sah zum erstenmal ein Potential für Arrakis, das seinem Vater entgangen war. Die Wahrscheinlichkeiten, die sich längs dieses Pfades ergaben, durchfluteten ihn.

»Es könnte deinem Volk nichts Schlimmeres geschehen, als in die Hände eines Helden zu fallen«, sagte sein Vater.

Meine Gedanken lesen! durchzuckte es Kynes. Nun … laß ihn. Die Botschaften sind bereits zu meinen Sietch-Dörfern unterwegs, dachte er. Nichts kann sie jetzt mehr aufhalten. Wenn der Sohn des Herzogs noch am Leben ist, werden sie ihn finden und beschützen, so, wie ich es ihnen aufgetragen habe. Sie werden vielleicht nichts für seine Mutter tun, aber alles für den Jungen.

Mit einem letzten Hüpfer erreichte der Vogel Kynes' ausgestreckten Arm und streckte den Kopf vor, um das Fleisch zu untersuchen. Plötzlich streckte sich seine gefiederte Gestalt, riß den kleinen Schädel hoch und warf sich mit einem warnenden, schrillen Schrei in die Lüfte. Mit einem erschreckten Flattern folgten ihm die anderen.

Sie sind da! dachte Kynes. Meine Fremen haben mich gefunden! Dann hörte er das Geräusch, das jeder Fremen kannte, und das sich von den Geräuschen, die ein sich nähernder Wurm oder jegliches anderes Wüstenleben erzeugte, unterschied. Irgendwo unter ihm hatte die Vorgewürzmasse genügend Wasser in sich aufgenommen. Sie hatte das kritische Stadium wilden Wachsens erreicht. Eine gigantische Blase aus Kohlendioxid formte sich unter dem Sand und zielte nach oben. Das, was sich tief unter Kynes im Sand entwickelt hatte, würde nach oben kommen, die Oberfläche aufwirbeln und ihn in die Tiefe ziehen.

Über seinem Kopf zogen die Falken schreiend ihre Kreise. Sie wußten, was jetzt geschehen würde, und die empörten Ausrufe auf ihren Kehlen spiegelten überdeutlich ihre Frustration über die entgangene Beute wider. Sie wußten genau Bescheid, wie jede andere Kreatur der Wüste ebenfalls.

Ich bin ein Geschöpf der Wüste, dachte Kynes. Hörst du mich, Vater? Ich bin ein Geschöpf der Wüste.

Er fühlte, wie die Blase platzte, wie sie nach oben griff, ihn umfaßte und in die kühle Dunkelheit hinabzog. Einen Moment lang empfand er die Kühle und Feuchtigkeit als Segen. Dann, als der Wüstenplanet ihn tötete, erschien es Kynes, daß sein Vater und all die anderen Wissenschaftler im Unrecht gewesen waren, daß die Grundprinzipien des Universums auf Zufällen und Irrtümern beruhten.

Selbst die Falken konnten sich dieser Tatsache nicht verschließen.

9

Prophezeiung und Vorhersehung — wie kann man sie angesichts unbeantworteter Fragen deuten? Zu wieviel Teilen bestehen sie aus Vorherbestimmung, und zu wieviel Teilen ist der Prophet selbst an der Formung der Zukunft beteiligt? Welche Harmonien müssen im Einklang mit der Vorhersage stehen? Sieht der Prophet die Zukunft klar vor sich, oder vielmehr eine Reihe sich schwach abzeichnender Linien, die er mit Worten verbindet?

›Private Reflexion über Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


»Nimm ihr Wasser«, hatte der Mann aus der Dunkelheit der Nacht gerufen. Paul kämpfte seine Angst nieder, sah zu seiner Mutter hinüber und stellte fest, daß sie ebenfalls kampfbereit dastand.

»Es wäre bedauerlich, müßten wir euch gleich auf der Stelle umbringen«, sagte die Stimme über ihnen.

Das ist der Mann, der zuerst zu uns sprach, dachte Jessica. Sie sind also mindestens zu zweit — einer rechts und einer links von uns.

»Cignoro hrobosa sukares hin mange la pchagavas doi me kamavas na beslas lele pal hrobas!«

Der Mann zu ihrer Rechten rief etwas über das Tal hinweg. Während Paul nichts davon verstand, waren die Worte für Jessica klar. Die Sprache war Chakobsa, eine der frühen Jagdsprachen, und der Mann über ihnen hatte damit ausgedrückt, daß sie wahrscheinlich die beiden Personen seien, die sie suchten.

In der plötzlichen Stille, die diesem Ausruf folgte, glitt der zweite Mond, matt leuchtend in seiner blauen Farbe über die Felsen. Das Tal wurde in einen hellen Schein getaucht, und aus allen Ecken erklangen leise, raschelnde Geräusche, wie von Männern, die aus der Finsternis der Felsschründe heraus offenes Gelände betraten. Paul sah eine Reihe von Schatten und dachte: Ein ganzer Trupp!

Ein hochgewachsener Mann, der in einen Burnus gekleidet war, kam auf sie zu und blieb vor Jessica stehen. Er hatte das Tuch, das sein Gesicht vor dem Sand schützte, zur Seite geschoben, so daß sein dichter, schwarzer Bart zu sehen war. Augen und Nase blieben weiterhin unter dem Schatten der Kapuze verborgen.

»Was haben wir hier?« fragte er. »Djinn oder Mensch?«

Als Jessica die Beruhigung ausstrahlende Stimme des Fremden hörte, schöpfte sie wieder schwache Hoffnung. Aber sie klang auch befehlsgewohnt. Dies war der Mann, der sie als erster aus dem Dunkel heraus angerufen hatte.

»Mensch, nehme ich an«, beantwortete der Mann seine eigene Frage.

Jessica fühlte das unter seiner Robe verborgene Messer mehr, als daß sie es sah. Es war ein bitteres Gefühl für sie, zu wissen, daß weder Paul noch sie über Körperschilde verfügten.

»Könnt ihr auch sprechen?« fragte der Mann.

Jessica konzentrierte alle verfügbare Arroganz in Stimme und Gebahren. Obwohl sie der Meinung war, daß es die Lage dringend erforderte, eine Antwort zu geben, war sie sich noch nicht klar darüber, wie sie den Mann zu packen hatte und wo seine Schwächen lagen.

»Wer macht sich hier wie eine Bande von Kriminellen in der Nacht an uns heran?« verlangte sie zu wissen.

Der von seiner Kapuze verborgene Kopf ihres Gegenübers zuckte zurück, fing sich aber rasch wieder. Der Mann hatte sich gut unter Kontrolle.

Um ein schwierigeres Ziel zu bieten, entfernte sich Paul unauffällig etwas von seiner Mutter, wissend, daß es ihnen, falls es zu einem Kampf kommen sollte, bessere Chancen einräumen würde.

Der Kopf des Mannes drehte sich und wandte sich Paul zu. Das Mondlicht zeigte jetzt ein Teil des Gesichts. Jessica sah eine scharfgeschnittene Nase und ein glitzerndes Auge — Es ist dunkel, völlig dunkel und ohne das geringste Weiß — schwere Augenbrauen und einen gesträubten Schnauzbart.

»Anfänger«, sagte der Mann Paul zugewandt, und dann: »Wenn ihr vor den Harkonnens geflüchtet seid, seid ihr uns vielleicht willkommen. Wie sieht es aus, Junge?«

Mehrere Möglichkeiten zuckten durch Pauls Gehirn: Ist es nur ein Trick? Oder spricht er die Wahrheit? Auf jeden Fall mußten sie zu einer schnellen Entscheidung gelangen.

»Aus welchem Grund sollten euch Flüchtlinge willkommen sein?« fragte er.

»Ein Kind, das wie ein Mann denkt und redet«, erwiderte der Hochgewachsene. »Nun, um diese Frage zu beantworten, mein junger Wali, brauche ich nicht weit auszuholen. Ich bin einer von denen, die sich weigern, den Harkonnens den Fai — den Wassertribut — zu zahlen. Aus diesem Grund heiße ich Leute, die vor ihnen flüchten, willkommen.«

Er weiß, wer wir sind, dachte Paul, auch wenn er sich bemüht, uns das nicht merken zu lassen.

»Ich bin Stilgar, der Fremen«, sagte der große Mann jetzt. »Löst das vielleicht deine Zunge, junger Mann?«

Es ist die gleiche Stimme, dachte Paul. Und er erinnerte sich an das Zusammentreffen im Kontrollraum von Arrakeen; der Mann war dort aufgetaucht und hatte sich nach der Leiche eines von Harkonnen-Agenten erschlagenen Freundes erkundigt, der auf dem Weg gewesen war, seinem Vater eine Botschaft zu überbringen.

»Ich kenne dich, Stilgar«, erwiderte Paul. »Ich war zusammen mit meinem Vater bei einer Lagebesprechung, als du nach dem Wasser deines Freundes fragtest. Du hast einen der Männer meines Vaters mit dir genommen Duncan Idaho. Es war ein Austausch von Freunden.«

»Idaho verließ uns, um zu seinem Herzog zurückzukehren«, entgegnete Stilgar.

Der Ärger in Stilgars Stimme war unüberhörbar. Jessica bereitete sich innerlich auf einen Angriff vor.

Die Stimme aus den Felsen über ihnen sagte plötzlich: »Wir vergeuden hier nur unsere Zeit, Stil.«

»Es ist der Sohn des Herzogs!« gab Stilgar zurück. »Ich zweifle nicht daran, daß er derjenige ist, den Liet uns zu suchen auftrug!«

»Aber … ein Kind, Stil.«

»Der Herzog war ein Mann, und dieser Bursche hat es geschafft, einen Plumpser einzustellen«, erwiderte Stilgar. »Es war eine tapfere Sache, dies in der Nähe eines Shai-Hulud zu tun.«

Jessica wurde klar, daß der Mann sie aus seinen Gedanken ausschloß. Bedeutete das, daß man bereits ein Urteil über sie gefällt hatte?

»Wir haben keine Zeit für den Test«, protestierte die Stimme von oben jetzt.

»Und er könnte dennoch der Lisan al-Gaib sein«, erwiderte Stilgar.

Er wartet auf ein Omen! dachte Jessica.

»Aber die Frau …«, sagte die Stimme des unsichtbaren Mannes.

Jessica spannte alle Muskeln an. Die Stimme erklang ihr wie eine tödliche Bedrohung.

»Ja, die Frau«, nickte Stilgar. »Und ihr Wasser.«

»Du kennst das Gesetz«, sagte der Mann aus den Felsen. »Diejenigen, die nicht in der Wüste leben können …«

»Sei still«, gab Stilgar zurück. »Die Zeiten sind nicht mehr die gleichen.«

»Hat Liet das befohlen?« fragte der andere Mann.

»Du hast die Stimme des Cielago gehört, Jamis«, erwiderte Stilgar. »Aus welchem Grund drängst du mich also?«

Und Jessica dachte: Cielago! Jetzt wurde ihr so manches klar: dies war die Sprache von Ilm und Fiqh, und Cielago war das Wort für Fledermaus, ein kleines, fliegendes Säugetier. Die Stimme des Cielago. Sie hatten also eine Distrans-Botschaft erhalten, aufgrund deren sie nach Paul und ihr suchten.

»Ich wollte dich nur an deine Pflichten erinnern, Freund Stilgar«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit der Felsen.

»Meine Pflicht besteht darin, den Stamm bei Kräften zu halten«, erwiderte Stilgar. »Das ist die einzige Pflicht, der ich zu dienen habe. Und niemand braucht mich daran zu erinnern. Dieser Kindmann interessiert mich. Er ist wohlgenährt und hat bisher von vielem Wasser gelebt. Er hat weit von der Vatersonne entfernt gelebt. Und er hat nicht die Augen des Ibad. Und dennoch spricht und bewegt er sich nicht wie einer von diesen Weichlingen aus der Ebene. Auch sein Vater tat das nicht. Wie kann das sein?«

»Wir können nicht die ganze Nacht über hier verharren und uns darüber streiten«, sagte der andere Mann von den Felsen herab. »Falls eine Patrouille …«

»Ich möchte dir nicht noch einmal sagen müssen, daß du still sein sollst, Jamis«, meinte Stilgar.

Der andere Mann schwieg jetzt, aber Jessica hörte, daß er über die Steine hinweg nach unten kletterte und den Grund links von ihnen erreichte.

»Die Stimme des Cielago hat uns mitgeteilt, es sei unter Umständen wichtig, euch zu retten«, fuhr Stilgar fort. »Und ich sehe eine Möglichkeit für diesen jungen Mann: er ist jung und kann lernen. Aber wie steht es mit dir, Frau?« Er sah Jessica an.

Seine Stimme und seine Denkweise habe ich nun analysiert, dachte Jessica. Ich könnte ihn mit einem Wort unter Kontrolle bekommen — aber er ist ein starker Mann … Er ist wichtiger für uns, solange er freie Entscheidungen treffen kann. Warten wir also ab.

»Ich bin die Mutter dieses Jungen«, sagte sie laut. »Die Kraft, die du an ihm bewunderst, ist zum Teil Ergebnis meiner Ausbildung.«

»Auch die Kraft einer Frau kann unbegrenzt sein«, nickte Stilgar. »Jedenfalls dann, wenn sie eine Ehrwürdige Mutter ist. Bist du eine Ehrwürdige Mutter?«

Jessica zögerte einen Moment und dachte über die Auswirkungen ihrer Antwort nach. Schließlich sagte sie: »Nein.«

»Bist du für das Leben in der Wüste ausgebildet?«

»Nein, aber viele erachten meine Ausbildung als nicht weniger wertvoll.«

»Darüber entscheiden wir selbst«, meinte Stilgar.

»Es ist das Recht eines jeden Mannes, sich darüber sein Urteil selbst zu bilden«, versetzte Jessica.

»Es ist gut, daß du das einsiehst«, erwiderte Stilgar. »Aber wir können uns hier nicht länger aufhalten, um dich auf eine Probe zu stellen, Frau, verstehst du? Wir möchten nicht von deinem Schatten verfolgt werden. Ich werde den Kindmann, deinen Sohn, mit mir nehmen zu meinem Stamm, wo man ihm Schutz und Zuflucht gewähren wird. Aber was dich angeht, Frau … du verstehst doch, daß ich nichts persönlich gegen dich habe? Ich halte mich an das Gesetz des Allgemeinwohls. Ist das nicht genug?«

Paul machte einen halben Schritt nach vorn. »Was soll das bedeuten?«

Stilgar sah kurz zu ihm hinüber, behielt aber dann wieder seine Mutter im Auge. »Da du nicht von Kindheit an für das Leben in der Wüste ausgebildet wurdest, könntest du eine Gefahr für den ganzen Stamm bedeuten. Wir können es uns nicht leisten, nutzlose …«

Jessicas Knie gaben nach. Scheinbar besinnungslos sank sie zu Boden, als habe sie vor Schreck jegliche Körperbeherrschung verloren. Sie ließ jedoch Stilgar, der sie in diesem Moment für eine verweichlichte Außenweltlerin halten mußte und möglicherweise sein Urteil über sie bestätigt sah, keine Sekunde aus den Augen. Als sie sah, wie sich sein rechter Arm hob und in seiner Hand stoßbereit eine Klinge blitzte, riß sie sich zusammen, veränderte unmerklich ihre Position, sprang auf, riß seinen rechten Arm nach hinten und stand plötzlich mit dem Rücken gegen die Felswand, Stilgar wie einen Schild vor sich haltend.

Bereits bei der ersten Bewegung seiner Mutter war Paul zwei Schritte zurückgewichen. Als sie zum Angriff überging, tauchte er im Schatten unter. Vor ihm wuchs plötzlich ein bärtiger Mann aus dem Dunkel empor und bedrohte ihn mit einer Waffe. Paul versetzte ihm einen Faustschlag in den Magen, sprang zur Seite und verpaßte dem Fallenden einen Handkantenschlag in den Nacken. Dann nahm er ihm die Waffe ab.

Die Waffe im Gürtel kletterte er in der Finsternis über die Felsen nach oben. Anhand der ungewöhnlichen Form klassifizierte er die Waffe als Projektilgeschoß. Also verwendete man auch hier keine Schilde.

Sie werden sich auf meine Mutter und diesen Stilgar konzentrieren, wurde ihm bewußt. Sie wird schon allein mit ihm fertig. Ich muß einen sicheren Platz finden, von dem aus ich sie bedrohen und ihr eine Möglichkeit zum Entwischen verschaffen kann.

Eine Reihe scharfer, klickender Geräusche drang von unten her an seine Ohren. Geschosse prallten von den Felsen ab. Paul zwängte sich um eine Ecke, entdeckte eine Spalte und kletterte in ihr weiter hinauf — den Rücken gegen die eine, die Füße gegen die andere Wand gepreßt — so schnell und leise, wie er nur konnte.

Stilgars brüllende Stimme erklang nun in vollster Lautstärke: »Bleibt, wo ihr seid, ihr Narren! Wenn ihr auch nur einen Schritt näher kommt, wird sie mir das Genick brechen!«

Eine Stimme aus der Tiefe rief: »Der Junge ist verschwunden, Stil. Was sollen wir …«

»Natürlich ist er verschwunden, du sandhirniger … Ach! Vorsicht. Frau!«

»Sag ihnen, sie sollen meinen Sohn nicht verfolgen«, verlangte Jessica.

»Sie haben bereits damit aufgehört, Frau. Er ist entkommen, wie es deine Absicht war. Große Götter der Tiefe! Warum hast du mir nicht gesagt, daß du zaubern und kämpfen kannst?«

»Sag deinen Leuten, sie sollen sich zurückziehen«, sagte Jessica. »Sie sollen dorthin gehen, wo ich sie im Mondlicht sehen kann … Und du kannst mir glauben, daß ich genau weiß, wieviele von ihnen da draußen sind.«

Und sie dachte: Das ist der entscheidende Augenblick, aber falls Stilgar so intelligent ist, wie ich annehme, haben wir eine Chance.

Paul verfolgte seinen Weg nach oben weiter und fand einen schmalen Felsvorsprung, an dem er sich ausruhen und die Szene unter sich genauestens verfolgen konnte. Wieder drang Stilgars Stimme zu ihm herauf.

»Und wenn ich mich weigere? Wie willst du … Ah! Laß das, Frau! Wir wollen dir nichts tun. Große Götter! Wenn du das dem stärksten unserer Männer antun kannst, bist du zehnmal dein Gewicht in Wasser wert!«

Und jetzt noch die grundsätzliche Probe, dachte Jessica. Sie sagte: »Du hast nach dem Lisan al-Gaib gefragt.«

»Ihr könntet die Gestalten der Legende sein«, erwiderte Stilgar, »aber ich kann es erst glauben wenn ihr die Probe bestanden habt. Alles, was ich bisher weiß, ist, daß ihr zusammen mit diesem dummen Herzog hergekommen seid, der … Ahhhh! Du bringst mich um, Frau! Er war ein ehrenwerter und tapferer Mann, aber die Art, in der er sich den Harkonnens ausgeliefert hat, war dumm!«

Stille. Dann sagte Jessica: »Er hatte keine andere Wahl. Aber wir sollten uns darüber nicht streiten. Und du sagst jetzt dem Mann dort hinter dem Busch, daß er aufhören soll, sich an uns heranzuschleichen, um seine Waffe besser auf mich anlegen zu können. Wenn er das nicht tut, hast du das Universum zum letztenmal gesehen. Und er wird der nächste sein, der sich von ihm verabschiedet.«

»Du da!« donnerte Stilgar. »Tu, was sie sagt!«

»Aber, Stil …«

»Du sollst tun, was sie sagt, du sandhirniger, kriechender Nachkomme eines Salamanders! Wenn du nicht sofort verschwindest, werde ich ihr noch helfen, dich in Stücke zu reißen! Bist du nicht fähig, zu erkennen, zu was diese Frau in der Lage ist?«

Der hinter dem Busch versteckte Mann richtete sich auf und senkte den Lauf seiner Waffe.

»Er hat gehorcht«, meldete Stilgar.

»Und jetzt«, begann Jessica, »erzählst du deinen Leuten genau, in welcher Beziehung ich für euch von Wichtigkeit sein kann. Ich möchte verhindern, daß irgendein junger Heißsporn auf falsche Gedanken kommt, wenn er mich sieht.«

»Wenn wir in die Städte und Dörfer gehen«, sagte Stilgar, »müssen wir uns, um unerkannt zu bleiben, entweder maskieren oder uns den Bewohnern der Ebenen und Senken anpassen. Wir tragen dann keine Waffen, denn das Crysmesser ist heilig. Aber du, Frau, kämpfst auch ohne Waffen, weil du Fähigkeiten hast, die keine Waffen benötigen. Viele von uns zweifelten daran, daß diese Ausbildung einen Wert hätte, weil die meisten Menschen nur das glauben, was sie mit den eigenen Augen sehen. Und du hast einen bewaffneten Fremen bezwungen. Du verfügst über eine Waffe, die bei keiner Durchsuchung entdeckt werden kann.«

Erregtes Gemurmel breitete sich unter den Fremen aus, als sie Stilgars Worte begriffen hatten.

»Und wenn ich mich bereit erkläre, euch diese … Zauberwaffe ebenfalls zu geben?«

»Dann steht ihr beide unter meinem persönlichen Schutz.«

»Wie können wir deinen Worten trauen?«

Stilgars Stimme verlor einiges von ihrem grimmigen Unterton. Seine weiteren Worte klangen irgendwie bitter. »Leider haben wir hier draußen kein Papier, um einen Vertrag aufzusetzen, Frau. Es ist keine Sache der Fremen, am Abend Versprechungen zu machen und sie am nächsten Morgen zu brechen. Wenn ein Mann etwas verspricht, ist das ein Vertrag. Mein Stamm ist mir mit seinem Wort verpflichtet, und ich ihm mit dem meinen. Erkläre uns, wie diese Zauberkampftechnik funktioniert, und ihr werdet unseres Schutzes sicher sein. Unser Wasser wird auch euer Wasser sein.«

»Kannst du für alle Fremen sprechen?« fragte Jessica.

»Vielleicht später einmal. Nur mein Bruder Liet kann für alle Fremen sprechen. Aber vorerst brauchen die anderen nichts davon zu erfahren. Meine Männer werden schweigen, wenn sie einen anderen Sietch besuchen. Die Harkonnens sind mit einer Streitmacht nach Arrakis zurückgekehrt. Und der Herzog ist tot. Man sagt, auch ihr zwei seid in einem Muttersturm umgekommen. Der Jäger sucht nicht nach totem Wild.«

Er hat nicht unrecht, dachte Jessica. Aber diese Leute verfügen über ein ausgezeichnetes Kommunikationsnetz und könnten eine Nachricht absenden.

»Ich nehme an, man hat eine Belohnung auf unsere Köpfe ausgesetzt«, sagte sie.

Stilgar schwieg zunächst, und Jessica erschien es, als könne sie die sich drehenden Gedanken des Mannes auf seiner Stirn ablesen. Ihre Fingerspitzen fühlten die Bewegungen seiner Muskeln. Schließlich erwiderte er: »Ich sage es noch einmal. Ich habe euch das Wort meines Stammes gegeben. Meine Leute wissen jetzt, welchen Wert ihr für unseren Stamm darstellt. Was können die Harkonnens uns schon geben? Unsere Freiheit? Ha! Nein, du bist die Taqwa, die uns viel mehr wert ist als alle Gewürzvorräte der Harkonnens zusammen.«

»Dann werde ich euch meine Kampftechnik lehren«, entgegnete Jessica mit einem erkennbar rituellen Tonfall.

»Du wirst mich jetzt freilassen?«

»So sei es.« Jessica löste ihren Griff, schritt zur Seite und lieferte sich damit völlig dem Mondlicht aus. Dies ist der Test-Mashad, dachte sie. Aber selbst wenn ich jetzt sterbe, hat das einen Sinn. Paul wird zumindest etwas über die Ehrlichkeit dieser Leute erfahren.

Paul benutzte die sich jetzt ausbreitende Stille dazu, sich über den Vorsprung zu beugen, um bessere Sicht auf seine Mutter zu haben. Gleichzeitig hörte er über sich das schwere Atmen eines Menschen, das sofort verstummte. Über ihm, am Ende der Felsspalte, erkannte er die schattenhaften Umrisse einer Gestalt, die sich gegen den nächtlichen Himmel abhob.

Von unten erscholl Stilgars Stimme: »Du da oben! Du brauchst nicht mehr nach dem Jungen zu suchen. Er kommt sowieso gleich herunter.«

Die Stimme eines Jungen oder eines Mädchens erwiderte aus der Finsternis: »Aber Stil, er kann nicht weit von mir …«

»Laß ihn in Ruhe, Chani, du Echsenbrut!«

Ein geflüsterter Fluch drang an Pauls Ohren, verbunden mit dem empörten Satz »Mich als Echsenbrut zu bezeichnen!« Aber der Schatten verschwand.

Paul richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Tiefe und konzentrierte sich auf die graue Gestalt Stilgars, die neben seiner Mutter stand.

»Kommt alle her«, rief Stilgar aus. Und mit einem Blick auf Jessica: »Und jetzt möchte ich dir eine Frage stellen. Wie sollen wir sicher sein, daß du dein Versprechen hältst? Du gehörst zu jenen, deren Versprechungen ständig mit papierenen Verträgen und zahllosen Unterschriften besiegelt werden, und …«

»Wir Bene Gesserit halten genausoviel von der Einhaltung unserer Abmachungen wie ihr Fremen«, erwiderte Jessica.

Eine Weile herrschte allgemein verblüfftes Schweigen. Dann zischten mehrere Stimmen: »Eine Bene-Gesserit-Hexe!«

Paul zog die erbeutete Waffe aus der Schärpe und richtete sie auf Stilgar, aber der Mann und seine Begleiter blieben unbeweglich stehen und starrte seine Mutter an.

»Es ist eine Legende«, sagte jemand.

»Man sagt, daß die Shadout Mapes dich bereits unterrichtet hat«, fuhr Stilgar fort. »Aber eine Sache von solcher Wichtigkeit muß geprüft werden. Bist du die Bene Gesserit, deren Sohn uns den Weg zum Paradies zeigen wird, dann …« Er zuckte die Achseln.

Seufzend dachte Jessica: Also hat unsere Missionaria Protectiva sogar in dieser Sandhölle für religiöse Sicherheitsventile gesorgt. Nun … es wird uns helfen. Und mehr war auch von ihr nicht beabsichtigt.

Sie sagte: »Die Seherin, die euch diese Legende brachte, war durch die Bande von Karama und Ijaz verpflichtet — dies weiß ich sicher. Ihr wollt also ein Zeichen?«

Stilgars Nasenflügel vibrierten im Schein des Mondlichts. »Wir haben keine Zeit mehr für die Riten«, flüsterte er.

Jessica erinnerte sich an die Landkarte, die Kynes ihr gezeigt hatte, während ihrer Flucht. Wie lange das nun schon zurückzuliegen schien! Auf ihr war ein Ort eingezeichnet gewesen, der den Namen ›Sietch Tabr‹ getragen hatte. Daneben hatte nur ein Wort gestanden: ›Stilgar‹.

»Vielleicht, wenn wir im Sietch Tabr angekommen sind«, lautete ihre Antwort.

Die Worte beeindruckten Stilgar sichtlich, und Jessica dachte:

Wenn er nur wüßte, welche Tricks wir benutzen! Die Bene Gesserit, die die Missionaria Protectiva nach Arrakis schickte, muß eine ausgezeichnete Arbeit geleistet haben. Die Fremen sind sehr gut darauf vorbereitet worden, an uns zu glauben.

Stilgar bewegte sich unruhig. »Wir sollten jetzt gehen.«

Jessica nickte und gab ihm damit zu verstehen, daß sie mit ihrer Zustimmung aufbrachen.

Er hob den Kopf und schaute zu der Klippe hinauf, wo Paul auf dem Vorsprung hockte. »Du da, Junge, du kannst jetzt herunterkommen.« Zu Jessica gewandt meinte er: »Dein Sohn hat beim Klettern ungeheuren Lärm gemacht. Er wird, wenn er einer der unseren werden will, noch viel zu lernen haben. Aber er ist noch jung.«

»Zweifellos werden wir viel voneinander lernen können«, entgegnete Jessica. »Inzwischen sollte sich jemand um den Mann kümmern, den mein Sohn entwaffnete. Ich glaube, er ist nicht nur laut, sondern auch ziemlich rauh mit ihm umgegangen, als er ihn niederschlug.«

Stilgar wirbelte herum. Seine Kapuze flatterte.

»Wo?«

»Hinter diesen Büschen«, deutete Jessica an.

Stilgar stieß zwei seiner Leute an. »Schaut nach ihm.« Er warf einen raschen Blick auf die anderen und sagte dann, erkennend, wen Paul erledigt hatte: »Jamis fehlt.« Zu Jessica gewandt meinte er: »Also beherrscht auch dein Sohn diese Technik.«

»Und außerdem wirst du feststellen, daß er sich trotz deiner Anweisung bisher nicht von der Stelle gerührt hat«, stellte Jessica fest.

Die beiden von Stilgar ausgeschickten Männer kehrten nun zurück. Sie hielten einen dritten Mann zwischen sich, der keuchend atmete. Stilgar warf ihm einen finsteren Blick zu und sagte dann zu Jessica: »Er befolgt also nur deine Befehle, wie? Das ist nicht schlecht. Immerhin zeugt das von Disziplin.«

»Du kannst jetzt runterkommen, Paul«, rief Jessica.

Paul stand auf, schob die erbeutete Waffe wieder hinter die Schärpe und trat ins Mondlicht hinaus. Im gleichen Moment tauchte vor ihm eine weitere Gestalt auf.

Im Schein des Satelliten musterte Paul die kleine Figur in Fremenkleidung. Ein im Schatten der Kapuze liegendes Gesicht sah ihn an, aber er konnte es nicht erkennen. Deutlicher war da schon die Projektilpistole, die auf seinen Körper zeigte.

»Ich bin Chani, Liets Tochter.«

Die Stimme klang spöttisch und ähnelte einem Lachen.

»Ich hätte es nicht zugelassen, falls du meinen Genossen etwas angetan hättest«, sagte sie.

Paul schluckte. Das Mondlicht fiel nun auf ein elfenhaftes Antlitz mit schwarzen Augen. Der Anblick dieses Gesichts, das Paul in unzähligen Träumen auf Caladan gesehen hatte, traf ihn wie ein Schock. Er erinnerte sich, der Ehrwürdigen Mutter Gaius Helen Mohiam gesagt zu haben: »Ich werde ihr begegnen.«

Und jetzt stand sie vor ihm, obwohl er diese Art des Zusammentreffens nicht vorausgesehen hatte.

»Du hast einen Lärm gemacht, wie ihn sonst nur ein wütender Shai-Hulud erzeugen kann«, fuhr das Mädchen fort. »Und außerdem hast du dir den schwierigsten Weg nach oben ausgesucht. Wenn du hinter mir hergehst, zeige ich dir einen leichteren von unten.«

Paul kletterte aus dem Spalt heraus und folgte ihrer wehenden Robe über die Oberfläche des schroffen Felsstocks. Das Mädchen bewegte sich mit der Anmut einer Gazelle. Jeder ihrer Schritte war wie ein Tanz. Paul spürte plötzlich, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß und war der Dunkelheit dankbar, daß sie seinen Zustand verbarg.

Dieses Mädchen! Ihm war, als hätte das Schicksal ihn jetzt berührt. Er fühlte sich von einer Welle emporgehoben, im Einklang mit dem Universum, in einem Zustand höchster geistiger Aktitivät.

Dann standen sie auch schon zwischen den Fremen.

Jessica warf Paul ein müdes Lächeln zu und sagte dann zu Stilgar: »Ich verspreche mir einiges vom Austausch unserer Kenntnisse und hoffe, daß du und deine Leute mir nicht böse seid, daß ich sie zuerst gegen euch anwenden mußte. Wir hatten wirklich keine andere Wahl, denn ihr wart im Begriff, einen Fehler zu machen.«

»Man kann dem, der einem vor einem Fehler bewahrt, immer nur dankbar sein«, erwiderte Stilgar. Er berührte mit der linken Hand seine Lippen und zog mit der rechten Paul die erbeutete Waffe aus der Schärpe, die er einem seiner Leute zuwarf. »Du wirst deine eigene Maula-Pistole bekommen, Junge, wenn du sie dir verdient hast.«

Paul wollte etwas sagen, zögerte und ließ es dann doch bleiben. Jede Art von Anfang, hatte seine Mutter ihn gelehrt, ist schwer.

»Die Waffen, die mein Sohn benötigt, besitzt er bereits«, erklärte Jessica und gab Stilgar mit einem Blick zu verstehen, sich daran zu erinnern, wie Paul an die Pistole gelangt war.

Der Fremen schaute zu dem Mann hinüber, der Paul unterlegen gewesen war — Jamis. Er stand etwas abseits, hielt den Kopf gesenkt und atmete immer noch schwer. »Du bist eine schwierige Frau«, entgegnete er dann, streckte einem seiner Männer den Arm entgegen und schnippte mit den Fingern. »Kushti Bakka te.«

Chakobsa, registrierte Jessica.

Der andere Fremen legte zwei Rechtecke aus Gaze in Stilgars Hand, der eines davon an Jessicas Kapuze befestigte und mit dem anderen Paul kennzeichnete.

»Ihr tragt jetzt das Tuch der Bakka«, erläuterte er. »Falls wir getrennt werden sollten, kennzeichnet euch das als Mitglieder von Stilgars Sietch. Was die Bewaffnung angeht, so werden wir darüber ein andermal reden.«

Er durchquerte die Reihen seiner Leute, zählte sie ab und gab einem seiner Männer Pauls Bündel zu tragen.

Bakka, dachte Jessica und erinnerte sich der Bedeutung dieses religiösen Wortes: Bakka — die Klagenden. Sie fühlte, daß der Symbolismus dieser Bezeichnung eine enge Verbindung zwischen den Angehörigen dieses Volkes darstellte. Aber wieso fahlen sie sich durch Tränen miteinander verbunden?

Stilgar erreichte das Mädchen, das mit Paul zusammen aus den Felsen gekommen war und sagte: »Chani, du nimmst den Kindmann unter deine Fittiche. Und sorg dafür, daß ihm nichts passiert.«

Chani berührte Pauls Arm. »Komm mit, Kindmann.«

Seine Wut kaum verbergend, fuhr Paul auf: »Ich heiße Paul. Und du stündest besser da, wenn …«

»Wir werden dir einen Namen geben, Männlein«, sagte Stilgar gelassen, »wenn die Zeit der Mihna gekommen ist und du der Probe des Aql unterworfen wirst.«

Die Probe der Vernunft, übersetzte Jessica. Das konnte eine Gefahr für Paul bedeuten, der er sich nicht aussetzen durfte. Mit lauter Stimme sagte sie: »Mein Sohn ist bereits durch das Gom Jabbar geprüft worden!«

Die nun folgende Stille machte ihr klar, daß sie mit dieser Bemerkung voll ins Schwarze getroffen hatte.

»Es gibt sehr viele Dinge, die wir voneinander noch nicht wissen«, ließ sich Stilgar schließlich vernehmen. »Aber wir müssen jetzt wirklich gehen. Es ist besser, wenn wir nicht in der offenen Wüste von der Sonne überrascht werden.« Er ging zu dem Mann hinüber, den Paul niedergeschlagen hatte und fragte: »Jamis, kannst du weitere Strecken gehen?«

Grunzend erwiderte der Angesprochene: »Er hat mich völlig überrascht. Ein Zufall. Sicher, ich kann gehen.«

»Es war kein Zufall«, entgegnete Stilgar besonnen. »Ich mache dich zusammen mit Chani für die Sicherheit dieses Jungen verantwortlich, Jamis. Diese Leute stehen unter meinem persönlichen Schutz.«

Beim Klang von Jamis' Stimme horchte Jessica auf. Es gab keinen Zweifel: dies war der Mann gewesen, der von den Felsen herunter mit Stilgar gestritten hatte. Es war seine Stimme gewesen, die sie als tödliche Bedrohung empfunden hatte. Stilgar hatte es sogar für nötig halten müssen, einen Befehl gegenüber diesem Mann zu unterstreichen.

Stilgar wandte sich um und winkte zwei Männer seiner Gruppe zu sich heran. »Larus und Farrukh, ihr beide werdet unsere Spuren verwischen. Paßt auf, daß nichts hier zurückbleibt. Seid besonders vorsichtig, denn unter uns sind zwei Leute, die keinerlei Ausbildung haben.« Er wandte sich um, hob den Arm und sagte: »In Doppelreihen — vorwärts, marsch! Wir müssen unser Ziel noch vor Tagesanbruch erreichen!«

Jessica, die neben Stilgar ging, zählte jetzt die Köpfe des Trupps: es waren vierzig, zusammen mit Paul und ihr zweiundvierzig. Und sie dachte: Sie bewegen sich vorwärts wie eine militärische Einheit — sogar das Mädchen Chani.

Paul marschierte eine Reihe hinter Chani. Er hatte das frustrierende Gefühl, von ihr hereingelegt worden zu sein, bereits überwunden. Statt dessen dachte er über das nach, was seine Mutter gesagt hatte: »Mein Sohn ist bereits durch das Gom Jabbar geprüft worden!« Seltsamerweise begann seine Hand bei der Erinnerung an diese Prozedur erneut zu schmerzen.

»Paß auf, wo du hingehst«, zischte Chani ihm zu. »Wenn du so deutliche Spuren hinterläßt, sieht jeder, welchen Weg du genommen hast.«

Paul schluckte. Dann nickte er.

Jessica lauschte den Geräuschen der Truppe, hörte ihre eigenen Schritte wie die Pauls und bewunderte die Art, in der sich die Fremen vorwärts bewegten. Es waren vierzig Mann, und keines der von ihnen erzeugten Geräusche unterschied sich von den sonst üblichen der Nacht. Sie waren wie eine geisterhafte Armee, die mit flatternden Roben eine Ebene durchquerte. Und ihr Ziel war der Sietch Tabr — Stilgars Sietch.

Dann dachte sie über das Wort Sietch nach. Es stammte aus der Chakobsasprache und hatte sich seit Jahrhunderten nicht verändert. Ein Sietch war ein Zufluchtsort in Zeiten der Gefahr. Die tiefere Bedeutung dieses Wortes begann ihr erst jetzt einigermaßen klar zu werden.

»Wir kommen gut voran«, ließ sich Stilgar vernehmen. »Mit der Unterstützung Shai-Huluds werden wir unser Ziel noch vor dem Morgengrauen erreichen.«

Jessica nickte. Jetzt fühlte sie wieder, wie die Müdigkeit in ihr emporkroch. Alle Kräfte konzentrieren und ausschreiten. Sie überlegte, was sie beim Anblick des Trupps empfand und zog daraus ihre Schlüsse über die Kultur der Fremen.

Ein jeder von ihnen, dachte sie, ist nach militärischen Grundsätzen ausgebildet worden. Welch eine unbezahlbare Kraft für einen verfehmten Herzog!

10

In ihrer Beharrlichkeit, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, konnte niemand die Fremen übertreffen.

Aus ›Weisheit des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


Gegen Morgengrauen erreichten sie die Grathöhlen. Um sie zu betreten, mußte man durch einen sich zwischen aufragenden Felswänden ziehenden Spalt zwängen. Jessica stellte fest, daß Stilgar einige seiner Leute als Wachen einteilte, die rasch an den Felsen emporkletterten.

Paul schaute während des Gehens nach oben, beobachtete den Himmel, der sich graublau von dem ihn umgebenden Gestein abhob. Plötzlich zerrte Chani an seiner Robe. »Beeil dich. Es ist beinahe schon Tag.«

»Die Männer, die da oben herumklettern«, fragte Paul, »wo gehen sie hin?«

»Sie übernehmen die erste Tageswache«, erwiderte sie. »Nun komm schon!«

Sie lassen eine Wache draußen, dachte Paul. Das zeugt von Weisheit. Aber es wäre noch besser gewesen, unseren Trupp vor der Ankunft in mehrere kleine Gruppen aufzuteilen. Damit würde sich die Möglichkeit, bei einem Überraschungsangriff alle Männer zu verlieren, verringern. Überrascht stellte er fest, daß er wie ein Guerillakämpfer dachte. Sein Vater hatte immer befürchtet, daß sich das Haus Atreides einst in diese Richtung entwickeln würde.

»Schneller«, wisperte Chani.

Paul beschleunigte seine Schritte, hörte hinter sich das leise Geraschel der Roben. Er dachte an die Worte der O.-K.-Bibel, die Yueh ihm geschenkt hatte: »Das Paradies zu meiner Rechten, die Hölle zu meiner Linken — und die Todesengel hinter mir.« Der Satz ließ ihn nicht los.

Sie bogen um eine Ecke, wo der Gang breiter wurde. Stilgar wartete an einer Stelle auf sie, wo eine niedrige Öffnung rechtwinklig in den Fels hineinführte.

»Schneller«, zischte er. »Wenn uns hier eine Patrouille auflauert, sitzen wir wie die Ratten in der Falle!«

Paul beugte den Rücken und folgte Chani in den Gang. Vor ihnen leuchtete irgendwo eine graue Schatten werfende Lampe.

»Du kannst hier aufrecht gehen«, flüsterte Chani.

Paul streckte sich und schaute sich um. Vor ihnen lag ein riesiger Raum mit gewölbter Decke. Die Männer verteilten sich wie huschende Schatten. Seine Mutter tauchte neben ihm aus einer Gruppe von Fremen auf. Obwohl sich ihre Kleidung kaum von der ihrer Begleiter unterschied, konnte man sie an ihrer trotz aller Erschöpfung stolzen und beinahe unnahbaren Haltung deutlich erkennen.

»Such dir einen Platz zum Ausruhen, und sieh zu, daß du niemandem im Weg stehst, Kindmann«, sagte Chani zu Paul. »Hier hast du etwas zu essen.« Sie drückte ihm zwei mit Blättern umwickelte Bissen in die Hand, die nach Gewürz dufteten.

Hinter Jessica tauchte Stilgar auf und erteilte einer Gruppe zu seiner Linken einige Befehle. »Bringt das Türsiegel an und seht zu, daß die Feuchtigkeit erhalten bleibt.« Er wandte sich an einen anderen Fremen. »Lemil, sorge für Beleuchtung.« Er nahm Jessicas Arm. »Ich möchte dir etwas zeigen, Zauberfrau.« Zusammen bogen sie um eine Ecke, auf die Lichtquelle zu.

Wenig später stand Jessica an einer zweiten Öffnung in der felsigen Wand und schaute auf ein Becken hinab, das zwölf bis vierzehn Kilometer breit zu sein schien. Es wurde ringsum von hohen Felswänden abgeschirmt. Auf dem Boden erstreckte sich karger Pflanzenbewuchs.

Dann tauchte über den Felswänden die Sonne auf und beleuchtete die noch im Morgennebel liegende Landschaft aus Gras und Sand.

Stilgar griff nach ihrem Arm und deutete in das Tal hinab. »Da! Dort drüben siehst du echte Drusen.«

Sie folgte der angegebenen Richtung. Bewegungen waren zu erkennen: Menschen, die vor den Strahlen der Sonne in die gegenüberliegenden Felswände flüchteten. Angesichts der Entfernung waren sie in der klaren Luft dennoch gut auszumachen. Jessica nahm ihren Feldstecher und richtete ihn auf die kleinen Punkte, nachdem sie die Öllinsen justiert hatte. Die Kleidung der Leute flatterte wie ein Schwarm bunter Schmetterlinge.

»Dort ist unser Zuhause«, sagte Stilgar. »Dorthin müssen wir diese Nacht.« Er schaute über das Land und strich dabei über seinen Schnauzbart. »Meine Leute dort draußen haben länger gearbeitet als üblich. Das bedeutet, daß keine Patrouillen in der Nähe sind. Ich werde ihnen später das Zeichen geben, daß wir auf dem Weg zu ihnen sind.«

»Deine Leute zeigen eine sehr gute Disziplin«, lobte Jessica, senkte das Fernglas und bemerkte, daß Stilgar es ansah.

»Sie gehorchen den Gesetzen des Stammes«, sagte der Fremen einfach. »Auf diese Art wählen wir auch unsere Führer. Der Führer ist der Stärkste, derjenige, der am ehesten für Wasser und Sicherheit garantieren kann.« Sein Blick löste sich von dem Fernglas und suchte Jessicas Augen.

Sie erwiderte seinen Blick, musterte die weißelosen Augen, seinen staubigen Bart und die Linie des Schlauches, der von seinem Nasenflügel hinab in der Robe verschwand.

»Habe ich deine Stellung als Führer in Zweifel gezogen, als ich dich besiegte, Stilgar?« fragte sie.

»Du hast mich nicht zu einem Kampf herausgefordert«, erwiderte er.

»Es ist sehr wichtig, daß ein Führer den Respekt seiner Leute genießt«, meinte Jessica.

»Es gibt keinen unter diesen Sandläusen, den ich nicht mit einer Hand zu Boden werfen kann«, schnaubte Stilgar. »Indem du mich besiegtest, besiegtest du uns alle. Sie hoffen jetzt, von dir etwas lernen zu können … diese Zaubertricks … Einige werden sich bestimmt auch fragen, ob du mich eines Tages herausfordern wirst.«

Jessica überdachte die damit verbundenen Implikationen. »Du meinst, ich soll dich auch in einem Zweikampf besiegen, auf den du vorbereitet bist?«

Er nickte. »Ich würde dir allerdings davon abraten, weil die Leute dir dennoch nicht folgen würden. Du bist keine Frau der Wüste. Das haben sie während unseres nächtlichen Marsches erkannt.«

»Praktische Leute«, murmelte Jessica.

»Selbstverständlich.« Stilgar warf einen Blick auf das Tal hinab. »Wir kennen unsere Bedürfnisse. Aber in der Nähe der Heimat haben die meisten jetzt sicher andere Gedanken. Wir sind lange unterwegs gewesen, um den Freihändlern eine Gewürzladung für die verfluchte Gilde zu bringen. Mögen ihre Gesichter für immer schwarz werden!«

Jessica, die eben im Begriff war, sich von Stilgar abzuwenden, zuckte zusammen und hielt mitten in der Bewegung inne. »Die Gilde? Was hat die Gilde mit unserem Gewürz zu tun?«

»Liet hat es so angeordnet«, entgegnete der Fremen. »Wir kennen den Grund, aber das Wissen sorgt auch nicht dafür, daß wir dabei ein besseres Gefühl haben. Wir bestechen die Gilde mit einem Wucherpreis dafür, daß sie davon absieht, den Himmel von Arrakis mit einem Netz von Satelliten zu überziehen, die in der Lage wären, hier herumzuspionieren.«

Nachdenklich blieb sie stehen. Ihr fiel ein, daß Paul diese Vermutung ebenfalls geäußert hatte: es gab keinen anderen Grund für die Tatsache, daß Arrakis satellitenfrei war, als den, den Stilgar soeben ausgeplaudert hatte. »Und was gibt es auf Arrakis so besonderes, daß ihr verhindern wollt, es anderen zu zeigen?«

»Wir verändern die planetare Oberfläche — langsam, aber sicher, um sie für menschliches Leben nutzbar zu machen. Auch wenn unsere Generation das nicht mehr erleben wird. Auch unsere Ur-Ur-Urenkel werden davon nichts haben … aber eines Tages wird es soweit sein.« Er starrte mit glänzenden Augen auf das Becken hinaus. »Offenes Wasser werden wir haben. Und große, grüne Pflanzen. Und die Menschen werden sich ohne Destillanzüge in ihren Schatten bewegen.«

Also das ist Liet-Kynes Traum, dachte sie und sagte: »Bestechungsgelder stellen eine große Gefahr dar. Sie haben die Angewohnheit, immer höher und höher zu werden.«

»Sie werden höher«, stimmte Stilgar ihr zu. »Aber im Moment ist der langsamste Weg immer noch der sicherste.«

Jessica schaute hinaus und versuchte sich vorzustellen, was Stilgar soeben mit seinen Worten ausgedrückt hatte. Aber sie sah nur Sand und Felsen und eine plötzliche Bewegung am Himmel über den Klippen.

»Ah«, sagte Stilgar.

Im ersten Moment nahm Jessica an, die Erscheinung sei ein Patrouillenfahrzeug, doch dann wurde ihr bewußt, daß sie Zeugin eines Naturschauspiels wurde: die Landschaft war von plötzlichem, grünem Pflanzenwuchs bedeckt, während im Vordergrund der Luftspiegelung ein Sandwurm über den Boden kroch, auf dessen Rücken mehrere mit Roben bekleidete Fremen balancierten.

Die Szene löste sich auf.

»Wenn wir reiten würden, kämen wir schneller voran«, erklärte Stilgar. »Aber wir können es nicht erlauben, einen Bringer in das Becken zu lassen. Deshalb müssen wir in der Nacht wieder marschieren.«

Bringer — das Fremen-Wort für den Wurm, dachte sie und überlegte, was Stilgar damit ausgesagt hatte. Sie durften keinen Wurm in das Becken hinein lassen. Gleichzeitig wurde ihr bewußt, was sie gesehen hatte: Die Fremen waren auf dem Rücken des Wurms geritten. Sie mußte sich beherrschen, um ihrem Gegenüber nicht anmerken zu lassen, wie stark sie diese Erkenntnis erschreckte.

»Wir sollten zu den anderen zurückkehren«, schlug Stilgar vor. »Ehe die Leute anfangen zu glauben, ich hätte mich hier in ein Abenteuer gestürzt. Einige scheinen mir bereits jetzt schon eifersüchtig zu sein, weil meine Hände deiner Lieblichkeit bereits im Tuono-Becken ziemlich nahe waren.«

»Genug davon!« sagte Jessica schroff.

»Keine Sorge«, erwiderte Stilgar beruhigend. »Es ist bei uns nicht üblich, Frauen gegen ihren Willen zu nehmen. Und was dich angeht …«, er zuckte die Achseln, »… so wirst du dir den gebührenden Respekt schon verschaffen.«

»Ich hoffe, du vergißt nicht, daß ich die Lady eines Herzogs war«, erwiderte Jessica gelassen.

»Wie du wünschst«, nickte Stilgar. »Aber es ist jetzt an der Zeit, diese Öffnung zu verschließen, damit meine Männer die Destillanzüge ablegen können. Sie müssen sich während des Tages ausruhen, und wenn sie es dabei etwas bequemer haben, bedeutet das viel für sie. Wenn sie erst mal bei ihren Familien sind, werden sie kaum zum Ruhen kommen.«

Sie schwiegen beide.

Jessica sah in den Sonnenschein hinaus. Es war ihr nicht entgangen, was Stilgar mit seinen Worten unterschwellig hatte ausdrücken wollen. Er hatte ihr das Angebot gemacht, mehr als nur ein Beschützer zu sein. Brauchte er eine Frau? Es war ihr klar, daß sie einen Platz an seiner Seite einnehmen konnte. Damit wäre auch jeder eventuelle Streit um den Führungsanspruch innerhalb seines Stammes von vornherein beigelegt. Mit ihren vereinten Kräften brauchten sie keine Herausforderung zu fürchten.

Aber was würde dann aus Paul werden? Wer konnte schon absehen, welche Rechte bei den Fremen die Eltern über die Kinder hatten? Und was wurde aus der noch ungeborenen Tochter, die sie seit einigen Wochen in sich trug? Was wurde aus der Tochter des toten Herzogs? Sie machte sich die Bedeutung klar, die dazu geführt hatte, diesem Kind das Leben zu schenken. Sie wußte, welchen Grund die Empfängnis gehabt hatte. Er unterschied sich nicht von dem, den alle Kreaturen, die dem Tod ins Angesicht schauen mußten, besaßen. Der Nachwuchs verschaffte einem in gewisser Beziehung die Unsterblichkeit. Wenn sie starb, lebte etwas von ihr weiter.

Jessica sah Stilgar an und merkte, daß er die Linien ihres Gesichts studierte. Eine Tochter, die von einer Frau geboren wird, deren Mann ein Fremen ist — welches wird ihr Schicksal sein? fragte sie sich. Würde er die Notwendigkeiten überhaupt anerkennen, die das Leben einer Bene Gesserit ausmachten?

Stilgar räusperte sich und bewies damit, daß er Verständnis für die Lage aufbrachte, in der Jessica sich befand. »Wichtig für einen Führer sind die Eigenschaften, die ihn zu einem Führer machen«, sagte er. »Er muß die Bedürfnisse seines Volkes kennen. Wenn du mir deine Kräfte zeigst, kommt eines Tages vielleicht der Tag, an dem wir sie messen werden müssen. Ich persönlich würde eine Alternative vorziehen.«

»Gibt es denn Alternativen?« fragte Jessica.

»Die Sayyadina«, erwiderte Stilgar. »Unsere Ehrwürdige Mutter. Sie ist schon alt.«

Ihre Ehrwürdige Mutter!

Bevor sie näher darauf eingehen konnte, fuhr Stilgar fort: »Ich habe keinesfalls die Absicht, mich als dein Partner aufzudrängen. Das ist keineswegs abwertend gemeint, denn du bist eine sehr schöne und begehrenswerte Frau. Aber wenn du einen Platz unter meinen Frauen einnähmest, kämen vielleicht einige junge Männer auf den Gedanken, die Gelüste des Fleisches seien mir plötzlich wichtiger geworden als die Bedürfnisse meines Stammes. Ich bin mir sicher, daß sie sogar in diesem Moment versuchen, uns zu beobachten und aufzuschnappen, über welche Dinge wir gerade reden.«

Ein Mann, der sorgfältige Entscheidungen trifft und deren Konsequenzen im voraus berechnet, dachte Jessica.

»Unter unseren jungen Leuten gibt es einige, die sich gerade in den wilden Jahren befinden«, fuhr Stilgar fort. »Sie durchqueren eine Lebensphase, in der sie sorgsamer Anleitung bedürfen. Ich darf ihnen deswegen keine Motive liefern, die sie dazu verleiten könnten, mich herauszufordern. Die Wildheit der Jugend ist ähnlich wie die Blindheit. Ich könnte jeden in diesem Zustand lebenden jungen Mann töten, aber das will ich nicht. Es wäre ein Weg, den ein guter Führer vermeiden sollte. Ich habe eine ausgleichende Funktion wahrzunehmen und muß gleichzeitig darauf achten, daß die individuelle Entwicklung des einzelnen einen positiven Verlauf nimmt. Wenn ein Volk nicht aus individuellen Charakteren besteht, ist es kein Volk, sondern ein Mob.«

Die Behutsamkeit seiner Ausdrucksweise und die Tatsache, daß er seine Gedanken vor den Ohren derjenigen, die ihm jetzt vielleicht aus dem Verborgenen zuhörten, aussprach, brachten Jessica dazu, den Mann mit ganz anderen Augen zu sehen.

Er hat Charakter, dachte sie. Woher hat er dieses starke innere Gleichgewicht?

»Die Gesetze, nach denen wir unseren Führer wählen, sind gerecht«, sagte Stilgar. »Aber daraus folgt nicht, daß Gerechtigkeit das einzige ist, was ein Volk braucht. Was wir im Moment wirklich benötigen, ist Zeit, damit wir uns über Arrakis ausbreiten können.«

Wer waren seine Vorfahren? dachte sie. Wie gelangen Einstellungen wie diese in seinen Kopf? Sie sagte: »Stilgar, ich habe dich unterschätzt.«

»Das habe ich vermutet.«

»Wir haben uns gegenseitig unterschätzt«, meinte Jessica.

»Ich möchte diesen Zustand der gegenseitigen Unterschätzung beenden«, nickte Stilgar. »Ich möchte deine Freundschaft erringen … und dein Vertrauen. Ich möchte, daß in uns gegenseitiger Respekt heranwächst.«

»Ich verstehe«, sagte Jessica.

»Vertraust du mir?«

»Ich weiß, daß du es ehrlich meinst.«

»Die Sayyadina unseres Stammes«, sagte Stilgar, »hat, auch wenn sie keinen Einfluß auf die Geschicke des Volkes nimmt, eine ehrenhafte Aufgabe: Sie übt die Funktion einer Lehrerin aus. Sie sorgt dafür, daß die Anwesenheit Gottes uns ständig bewußt bleibt.« Er legte eine Handfläche auf die Brust.

Ich muß etwas über diese mysteriöse Ehrwürdige Mutter herausbekommen, dachte Jessica. Sie sagte: »Du hast von eurer Ehrwürdigen Mutter gesprochen. Ich habe von Legenden und Prophezeiungen gehört.«

»Es heißt, daß eine Bene Gesserit und ihr Kind für uns den Schlüssel zum Paradies bereithalten«, stellte Stilgar fest.

»Und ihr glaubt, daß ich eine Bene Gesserit bin?«

Sie sah ihn an und dachte: Das junge Schilf bricht leicht im Wind. Die Anfänge sind die Zeiten gefährlicher Proben.

»Wir wissen es nicht«, gab Stilgar zu.

Jessica nickte. Er ist ein ehrenwerter Mann. Er wartet auf ein Zeichen von mir, aber er hütet sich, das Schicksal zu beeinflussen, indem er preisgibt, welches.

Jessica drehte den Kopf und warf einen Blick in das Becken hinab. Sie sah goldene und purpurne Schatten, fühlte die Vibration des Staubes, der die Luft durchzog. Plötzlich erschien sie sich wie ein Wesen von katzenartiger Vorsicht. Sie kannte die Scheinheiligkeit der Missionaria Protectiva, wußte, in welcher Art und Weise man Legenden verbreitete, die nur das Ziel hatten, die Ängste und Hoffnungen der Menschen auf ein bestimmtes Ziel zu richten. Dennoch hatte sich auf Arrakis irgend etwas verändert … als hätte sich jemand unter den Fremen nach besten Kräften bemüht, den Plänen der Missionaria Protectiva ein anderes Ziel zu geben.

Stilgar räusperte sich erneut.

Sie spürte seine Ungeduld und wußte, daß der Tag draußen an ihnen vorbeischritt und die Männer darauf warteten, daß man die Öffnung verschloß, um endlich die Destillanzüge ablegen zu können. Sie konnte jetzt nicht anders vorgehen als mit Dreistigkeit, auch wenn ihr klar war, was sie jetzt am dringendsten brauchte: etwas Dar al-Hikman, etwas Ausbildung von einer Übersetzerschule, die sie in die Lage versetzen konnte …

»Adab«, flüsterte sie.

Sie hatte den Eindruck, als rolle dieses Wort mit voller Kraft durch ihr Bewußtsein. Innerhalb eines Pulsschlags erkannte sie die Wichtigkeit dieses Schlüsselwortes, das Erinnerungen weckte, die tief in ihrem Unterbewußtsein vergraben waren. Sofort begann das Wissen über ihre Lippen zu fließen.

»Ibn qirtaiba«, sagte sie. »Von hier bis an die Stelle, wo der Sand endet.« Sie streckte einen Arm aus und sah, wie Stilgar die Augen aufriß. »Ich sehe einen … Fremen. Er hat das Buch der Beispiele. Er liest daraus für al-Lat, die Sonne, die er besiegt und sich untertan gemacht hat. Er liest für den Sadus der Versuchten — und dies ist, was er liest:

Meine Gegner sind wie abgeriss'ne Halme,

Die im Weg des Unwetters standen.

Sahst du nicht, was der Herr vollbracht?

Er hat die Pest auf sie hinabgeschickt,

So daß alle Hinterlist in Nichts zerfiel.

Sie sind wie Vögel, die den Jäger fliehen.

Und ihre Anschläge wie bittere Pillen,

Die jeder Mund ausspuckt.«

Ein Zittern ging durch ihren Körper, als sie den Arm sinken ließ. Aus dem Hintergrund kam die geflüsterte Antwort vieler Stimmen: »Und ihre Taten sind zu Nichts geworden.«

»Die Feuer Gottes mögen dein Herz erleuchten«, erwiderte Jessica. Und sie dachte: Jetzt geht alles seinen richtigen Weg.

»Die Feuer Gottes mögen leuchten«, kam die Antwort.

Sie nickte. »Und möge es deine Feinde zerschmettern.«

»Bi-lal kaifa«, antworteten die Männer.

In der plötzlich auftretenden Stille verbeugte Stilgar sich vor ihr. »Sayyadina«, sagte er. »Falls der Shai-Hulud nichts dagegen einwendet, könntest du eine Ehrwürdige Mutter werden.«

Es hat geklappt, dachte sie, auch wenn mir der Weg nicht gefällt, den ich gehen mußte. Aber er hat seinen Zweck erfüllt. Sie fühlte eine zynische Bitterkeit in sich, als sie darüber nachdachte, was sie getan hatte. Unsere Missionaria Protectiva versagt selten.

Auch hier hat sie hervorragende Vorbereitungsarbeit geleistet. Inmitten dieser Wildnis existiert ein Zufluchtsort für uns. Jetzt … muß ich hier die Rolle der Auliya spielen, der Vertrauten Gottes. Die Sayyadina der Wüstenbewohner, die von den Prophezeiungen der Bene Gesserit so sehr beeinflußt sind, daß sie ihre Hohepriesterin ›Ehrwürdige Mutter‹ nennen.

Paul stand neben Chani in den Schatten der inneren Höhle. Er hatte immer noch den Geschmack der Nahrung auf der Zunge, die sie ihm gegeben hatte. Vogelfleisch mit Gewürzhonig. Während des Essens war ihm aufgefallen, daß er noch nie zuvor eine solch starke Konzentration von Melange auf einmal im Mund gehabt hatte. Beinahe hatte er so etwas wie leise Furcht verspürt, denn er wußte, was das Gewürz mit ihm anstellen konnte, wenn er nicht aufpaßte. Allzu starker Genuß der Droge konnte dazu führen, daß sich sein Bewußtsein primär auf die vor ihm liegenden Kreuzwege der Zeit konzentrierte.

»Bi-lal kaifa«, flüsterte Chani.

Paul schaute sie an und registrierte die Aufmerksamkeit, mit der die Fremen den Worten seiner Mutter lauschten. Nur der Mann mit dem Namen Jamis hatte sich etwas abgesondert. Er schien von Jessica nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und lächelte spöttisch.

»Duy yakha hin mange«, flüsterte Chani. »Duy punra hin mange. Ich habe zwei Augen. Ich habe zwei Füße.«

Sie starrte Paul an wie ein Weltwunder.

Paul tat einen tiefen Atemzug und versuchte den in ihm brodelnden Vulkan unter Kontrolle zu halten. Die Worte seiner Mutter hatten dazu geführt, daß die Essenz der Melange in ihm nicht zum Wirken kam, und er hatte gefühlt, wie ihre Stimme auf und nieder gegangen war, wie die Schatten über einem offenen Feuer. Dennoch hatte er deutlich den Zynismus gespürt, der in ihrer Stimme gelegen hatte — wie gut er sie doch kannte! -, aber er war nicht in der Lage gewesen, den in seinem Innern aufwallenden Ärger, der mit zwei Bissen Fleisch seinen Anfang genommen hatte, an seinem Ansteigen zu hindern.

Das schreckliche Ziel!

Er fühlte deutlich, daß er seinem weiterarbeitenden Bewußtsein nicht entfliehen konnte. In seinem Geist herrschte ungeheure Klarheit, Daten flossen auf ihn ein, mit eiskalter Präzision. Er rutschte an der Höhlenwand herab, lehnte sich sitzend mit dem Rücken gegen den Fels und ließ sich einfach treiben. Wachsam folgte er den unterschiedlichen Zeitströmen, spähte in kleine Seitenpfade und witterte die Winde der Zukunft … und auch die der Vergangenheit. Es war, als sähe er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit nur einem einzigen Auge, als sei alles miteinander verbunden, als hänge das eine vom anderen ab.

Es existierte eine Gefahr, das spürte er mit aller Deutlichkeit. Und sie ging von der Gegenwart aus. Während er nach ihr tastete, fühlte er zum erstenmal die massive Beständigkeit des Zeitflusses, wie er drängte und zerrte, wie er sich wellenförmig dahinbewegte und mit Seiten- und Gegenströmungen rang. Wie Brecher aus einem wildbewegten Ozean, der gegen eine Felsenküste brandete und sich in den Klippen verlor. Er verstand jetzt einiges mehr von seiner Fähigkeit und sah jetzt auch den Ursprung undurchdringlicher Zeitphasen, die Fehlerquellen, die sich in ihnen verbargen, und das erfüllte ihn mit Angst.

Das Hellsehen, stellte er fest, war eine Erleuchtung, die die Grenzen ihrer Enthüllungen selbst setzte. Sie war gleichzeitig eine Quelle der Genauigkeit und verständlicher Fehler. Und dazwischen eine Art Heisenbergscher Unbestimmtheit: der Energieverbrauch, den er aufwandte, um etwas zu sehen, veränderte das Gesehene.

Und was er sah, war der Zeitzusammenhang innerhalb dieser Grotte, eine Reihe von Möglichkeiten, die bereits von einem Augenzwinkern oder einem von einem Fuß achtlos beiseite geschobenen Sandkorn verändert werden konnte. Er sah Gewalt in so vielen Varianten, daß die kleinste Bewegung bereits genügte, um ihre Muster auszuweiten und ins Unendliche abgleiten zu lassen.

Die Vision führte dazu, daß er sich wünschte, völlig bewegungslos zu bleiben, aber auch das würde Konsequenzen haben.

Zahllose Konsequenzen — sie wehten aus dieser Grotte hinaus wie flatternde Bänder, und auf den meisten von ihnen sah er seinen eigenen gemordeten Körper. Er war voller Blut, das aus einer klaffenden Wunde floß.

11

In dem Jahr, in dem mein Vater, der Padischah-Imperator, Arrakis den Harkonnens zurückgab, war er zweiundsiebzig Jahre alt und sah doch keinen Tag älter aus als fünfunddreißig. Er erschien selten in der Öffentlichkeit, ohne die Uniform eines Sardaukar mit dem schwarzen Helm und dem goldenen Löwen eines Burseg zu tragen. Diese Uniform sollte jeden daran erinnern, worauf sich seine Macht begründete. Dennoch war er kein Säbelrassler. Wenn er es darauf anlegte, strahlte er Charme und Freundlichkeit aus, obwohl ich mich bereits in diesen Tagen fragte, ob es überhaupt etwas an ihm gab, was echt war. Heute glaube ich, daß er ein Mann war, der einen konstanten Kampf gegen die Gitterstäbe eines unsichtbaren Käfigs focht. Dazu muß man sich vergegenwärtigen, daß er ein Imperator war, das Familienoberhaupt einer Dynastie, deren Spuren man bis in die weiteste Vergangenheit zurückverfolgen kann. Und wir verweigerten ihm einen legalen Sohn. War dies nicht die schwerste Erniedrigung, die ein Herrscher hinnehmen mußte? Meine Mutter hatte, im Gegensatz zu Lady Jessica, ihren Schwestern gehorcht. Welche dieser beiden Frauen erwies sich trotzdem schließlich als die Stärkere? Aber diese Frage hat bereits die Geschichte beantwortet.

›Im Hause meines Vaters‹, von Prinzessin Irulan.


Jessica erwachte in der Finsternis der Grotte, hörte die leisen Bewegungen der sie umgebenden Fremen und roch die Ausdünstungen ihrer von Destillanzügen umgebenen Körper. Ihr inneres Zeitgefühl sagte, daß es beinahe Nacht sein mußte, aber im sicheren Schutz der sie umgebenden Felsen blieb es auch tagsüber dunkel, dafür sorgten schon die Plastikverschlüsse, die hauptsächlich dazu dienten, den Insassen die Körperflüssigkeit zu erhalten.

Sie stellte fest, daß sie tief und traumlos geschlafen hatte, und diese Tatsache machte deutlich, daß sie sich unterbewußt bei Stilgar und seinen Leuten sicher fühlte. Sie bewegte sich in der Hängematte, die aus ihrem Umhang bestand, glitt auf den felsigen Boden und schlüpfte in die Wüstenstiefel.

Ich darf nicht vergessen, die Stiefel richtig zu verschließen, damit sie den Wasseraustausch meines Destillanzuges nicht behindern, dachte sie. Es gibt hier so viele Dinge, an die man selbst denken muß.

Immer noch hatte sie den Geschmack des Frühstücks auf der Zunge: Vogelfleisch mit Gewürzhonig, und es schien ihr, als ob alles, was die Zeit anging, hier umgekehrt verliefe. Die Nacht war der Aktivität des Tages gewidmet, während der Tag die Periode absoluter Ruhe war.

Die Nacht verbirgt uns; sie ist sicher.

Sie hakte ihre Robe von der Wand los, suchte in der Dunkelheit nach der Öffnung, bis sie sie gefunden hatte und schlüpfte hinein.

Sie fragte sich, auf welche Art es möglich war, den Bene Gesserit eine Nachricht zukommen zu lassen. Sicher hatten sie in der Zwischenzeit schon erfahren, was auf Arrakis vorgefallen war.

Im Hintergrund der Höhle glühten jetzt verschiedene Leuchtgloben auf. Menschen bewegten sich hin und her, und auch Paul befand sich unter ihnen, fertig angezogen und die Kapuze zurückgeschlagen, so daß man das unverkennbare Profil der Atreides erkennen konnte.

Er hatte sich seltsam benommen, bevor sie sich alle zur Ruhe begeben hatten, rief sich Jessica ins Gedächtnis. Rückzug. Jetzt wirkte er wie jemand, der von den Toten auferstanden ist und es selbst noch nicht recht zur Kenntnis genommen hatte. Seine Augen waren halb geschlossen und glasig, als würden sie nach innen sehen. Jessica dachte darüber nach, was er ihr über das Gewürz erzählt hatte. Es war suchterzeugend.

Ob es noch Nebenwirkungen gibt? fragte sie sich. Er sagte, es hätte etwas mit seinen Fähigkeiten zu tun, auch wenn er sich beharrlich über das, was er sieht, ausschweigt.

Stilgar tauchte aus der Richtung der Leuchtgloben zu ihrer Rechten auf. Jessica stellte fest, daß er nachdenklich an seinem Barthaar zupfte und die ihn umgebenden Männer nicht aus den Augen ließ.

Sie bekam plötzlich Angst, als ihr auffiel, daß zwischen den Paul umgebenden Männern irgendeine Art von Spannung aufgekommen war. Die Bewegungen der Fremen wirkten steif, beinahe rituell.

»Sie stehen unter meinem Schutz!« hörte sie Stilgar poltern.

Erst jetzt erkannte sie, wen der Führer der Gruppe angesprochen hatte: Jamis. Und gleichzeitig sah sie, daß Jamis wütend war. Angriffslustig hob er die Schultern.

Jamis, der Mann, der von Paul besiegt wurde! dachte sie.

»Du kennst das Gesetz, Stilgar«, sagte Jamis.

»Und ob ich es kenne«, erwiderte Stilgar mit einer Stimme, der man anhören konnte, daß er trotz allem bereit war, eine offene Konfrontation zu vermeiden.

»Ich habe den Kampf gewählt«, knurrte Jamis.

Jessica machte einige hastige Schritte nach vorn und ergriff Stilgars Arm. »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie.

»Es geht um die Amtal-Regel«, erklärte Stilgar. »Jamis fordert das Recht, deine Rolle in der Legende auf die Probe zu stellen.«

»Ich verlange, daß jemand für sie kämpft«, forderte Jamis. »Wenn ihr Kämpfer siegt, so ist das Recht auf ihrer Seite. Aber es heißt …«, er warf einen Blick auf die anderen Männer, »… daß sie keinen Kämpfer aus den Reihen der Fremen braucht. Und das kann nur bedeuten, daß sie ihren Kämpfer selbst mitbringt.«

Er spricht von einem Zweikampf mit Paul! wurde Jessica in diesem Augenblick klar.

Sie ließ Stilgars Arm fahren und ging einen halben Schritt vor. »Ich bin immer mein eigener Kämpfer gewesen«, stieß sie hervor. »Und deshalb werde ich, der Legende gemäß …«

»Du brauchst uns nicht unsere eigenen Legenden auszulegen«, unterbrach Jamis sie barsch. »Ich glaube jetzt gar nichts mehr. Ich will Beweise sehen. Wer sagt mir, ob Stilgar dir nicht erzählt hat, was du sagen sollst? Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, dich mit allem vollzustopfen, was du benötigst, um uns hinters Licht zu führen.«

Ich bin ihm gewachsen, dachte Jessica, aber das könnte ihrer Auslegung der Legende widersprechen. Erneut fragte sie sich, wie die Missionaria Protectiva auf diesem Planeten vorgegangen war.

Stilgar schaute Jessica an und sagte dann mit leiser Stimme: »Jamis ist einer von denen, die manchen Leuten immer etwas nachtragen müssen, Sayyadina. Da dein Sohn ihn besiegt hat …«

»Das war ein Zufall!« protestierte Jamis lauthals. »Er hat mich im Tuono-Becken nur mit einem Zaubertrick außer Gefecht gesetzt! Aber jetzt werde ich es ihm zeigen!«

»… auch ich habe ihn besiegt«, fuhr Stilgar fort. »Er hat nichts anderes vor, als durch diese Tahaddi-Herausforderung auch mich zu treffen. Jamis ist einfach viel zu gewalttätig, um jemals einen guten Führer abzugeben. Immer unterliegt er der Ghafla, der Ablenkung. Obwohl er ständig das Gerede von Regeln und Gesetzen im Munde führt, gehört sein Herz doch nur dem Sarfa, der Abwendung von ihnen. Nein, aus ihm kann niemals ein guter Führer werden. Ich habe ihn bisher nur deswegen am Leben gelassen, weil er ein guter Kämpfer ist, wenn wir einer Gefahr ins Auge sehen. Wenn er seinem Zorn erliegt, bildet er auch für uns, seine eigenen Leute, eine Gefahr.«

»Stilgarrrrr!« fauchte Jamis.

Und Jessica wurde klar, daß Stilgar sich bemühte, Jamis gegen sich selbst aufzubringen, damit er nicht Paul, sondern ihn herausforderte. Er sah Jamis an und dann hörte Jessica, wie er in einem beschwichtigenden Tonfall sagte: »Jamis, es handelt sich hier nur um einen Jungen. Er ist …«

»Du hast ihn einen Mann genannt«, erwiderte Jamis. »Und seine Mutter behauptete, er habe die Prüfung durch das Gom Jabbar bestanden. Er ist kräftig gebaut und besitzt eine Menge überschüssigen Wassers. Diejenigen, die sein Gepäck getragen haben, sagten, es befänden sich Literjons voll Wasser darin. Literjons! Und wir saugen an unseren Wasserbehältern, sobald sich auch nur ein feuchter Niederschlag gebildet hat.«

Stilgar sah Jessica an. »Ist das wahr? Ihr habt Wasser in eurem Gepäck?«

»Ja.«

»Literjons voll?«

»Zwei Literjons.«

»Was habt ihr mit diesem Reichtum anfangen wollen?«

Reichtum? dachte Jessica. Sie schüttelte den Kopf, als sie der Kälte in Stilgars Stimme gewahr wurde.

»Dort, wo ich geboren wurde«, erklärte sie, »fällt das Wasser vom Himmel und strömt in breiten Flüssen über das Land. Es gibt dort Ozeane, die so groß sind, daß man ihr Ende nicht erkennen kann. Ich bin nicht — wie ihr — an eine Art von Wasserdisziplin gewöhnt. Ich habe es bisher nicht einmal nötig gehabt, darüber nachzudenken.«

Ein Seufzen ging durch die Reihen der Fremen: »Wasser, das vom Himmel fällt … es strömt in breiten Flüssen über das Land.«

»Wußtest du, daß einige von uns durch einen Unfall Wasser aus ihren Fangtaschen verloren, so daß sie große Schwierigkeiten haben werden, Tabr in dieser Nacht zu erreichen?«

»Woher sollte ich das wissen?« fragte Jessica kopfschüttelnd. »Wenn sie Wasser benötigen, sollen sie es sich aus unserem Gepäck nehmen.«

»Hattest du das mit deinem Reichtum vor?« fragte Stilgar.

»Ich hatte vor, damit Leben zu retten«, erwiderte Jessica.

»Dann nehmen wir deinen Segen dankend an, Sayyadina.«

»Wir lassen uns mit diesem Wasser nicht kaufen«, knurrte Jamis. »Und ich werde mich auch nicht gegen dich aufbringen lassen, Stilgar. Ich weiß sehr gut, daß du beabsichtigst, meinen Zorn auf dich zu lenken, bevor ich meine Worte bewiesen habe.«

Stilgar warf ihm einen Blick zu und meinte: »Du zögerst also nicht, einen Kampf gegen ein Kind zu führen, Jamis?«

»Jemand muß für sie kämpfen.«

»Auch da sie unter meinem Schutz steht?«

»Ich bestehe auf der Amtal-Regel«, erwiderte Jamis. »Und ich verlange mein Recht.«

Stilgar nickte. »Gut. Falls der Junge es nicht schaffen sollte, dich zu besiegen, wirst du anschließend im Angesicht meines Messers deine Antworten geben müssen. Und diesmal werde ich nicht wie beim erstenmal zögern, dich zu töten.«

»Du kannst das nicht zulassen«, protestierte Jessica. »Paul ist doch erst …«

»Mische dich nicht ein, Sayyadina«, gab Stilgar zurück. »Ich weiß, daß du mich bezwingen kannst — und deswegen jeden aus unseren Reihen. Aber du kannst nicht gegen alle von uns auf einmal kämpfen. Dies hier muß sein; es ist die Amtal-Regel.«

Jessica schwieg und starrte ihm im Schein der grünen Leuchtgloben an. Ein dämonischer Zug hatte sich auf Stilgars Gesicht gelegt, während Jamis die Mundwinkel mürrisch verzog.

Ich hätte das voraussehen sollen, dachte sie. Er brütet vor sich hin. Er zählt zu jenen Leuten, deren innere Spannung sich in Gewalttätigkeiten äußert. Ich hätte darauf vorbereitet sein sollen.

»Wenn du meinen Sohn verletzt«, sagte sie zu Jamis, »bekommst du es mit mir zu tun. Dann fordere ich dich heraus. Und dann werde ich dir zeigen, wie …«

»Mutter!« Paul kam auf sie zu und berührte ihren Arm. »Vielleicht sollte ich Jamis erklären, wie …«

»Erklären«, schnaubte Jamis verächtlich.

Paul verfiel in Schweigen und sah sich den Mann genauer an. Er hatte keinerlei Angst vor ihm. Der Mann hatte sich so tolpatschig bewegt und war beinahe von allein umgefallen, als sie sich in der Nacht zwischen den Felsen begegnet waren. Und trotzdem … Ihm fiel die Vision wieder ein, die ihm seinen eigenen Körper gezeigt hatte: getötet von den Stichen eines Messers. Und es gab nicht viele Wege, der Realität dieser Vision zu entgehen …

Stilgar sagte: »Sayyadina, du solltest dich besser hier heraushalten …«

»Hör endlich auf, sie ständig Sayyadina zu nennen«, fauchte Jamis. »Das muß sie erst beweisen. Auch wenn sie unsere Gebete kennt: das besagt noch gar nichts. Gebete kennen sogar unsere Kinder!«

Er hat jetzt genug geredet, dachte Jessica. Ich könnte ihn jetzt mit einem Wort lähmen. Sie zögerte. Aber ich kann sie nicht alle festnageln.

»Du wirst also gegen mich bestehen müssen«, sagte sie in einem seltsamen Tonfall, der den Mann verunsichern mußte.

Jamis starrte sie an. Die plötzliche Furcht in seinem Gesicht war unübersehbar.

»Ich werde dir Schmerz zufügen«, fuhr Jessica fort, »gegen den das Gom Jabbar ein Kinderspielzeug ist, verstehst du? Ich werde dafür sorgen, daß dein ganzer Körper sich anfühlt, als seien tausend glühende Nadeln am Werk, ihn …«

»Sie versucht mich mit einem Bann zu belegen«, keuchte Jamis und preßte die rechte Hand gegen sein Ohr. »Ich verlange, daß sie auf der Stelle schweigt!«

»So sei es«, fiel Stilgar ein. Er warf Jessica einen warnenden Blick zu. »Wenn du noch einmal sprichst, Sayyadina, werden wir alle wissen, daß du eine Zauberkraft benutzt, um Jamis kampfunfähig zu machen.« Er nickte ihr zu und gab ihr damit das Zeichen, zurückzutreten.

Jessica spürte, daß mehrere Hände sie zurückzogen und spürte, daß diese Geste keinesfalls unfreundlich gemeint war. Paul wurde von der Gruppe abgetrennt und Chani flüsterte, während sie in die Richtung Jamis' nickte, ihm etwas ins Ohr.

Die Fremen traten zurück, bis ein großer Kreis entstand. Einige rasch herangebrachte Leuchtgloben beleuchteten die Szenerie. Jamis trat in den Ring, stieg aus seiner Robe und warf sie einem anderen Fremen zu. Einige Sekunden lang stand er in seiner grauen Montur da, dann beugte er den Kopf und trank einen Schluck Wasser aus dem Schlauch, der zu einer der Fangtaschen des Destillanzuges führte. Schließlich straffte sich seine schlanke Gestalt, und er zog den Anzug ebenfalls aus. Sorgfältig legte er ihn zusammen und warf ihn einem anderen Mann in der Menge zu. Er trug jetzt nur noch eine Art Lendenschurz und hielt sein Crysmesser in der rechten Hand.

Jessica beobachtete, wie das Kindmädchen Chani Paul behilflich war. Sie drückte ihm ein Crysmesser in die Hand. Paul umklammerte es und wog die Waffe sorgfältig in der Hand. Jessica wurde in diesem Moment klar, daß ihr Sohn in Prana und Bindu ausgebildet worden war, daß er seine Nerven und Fibern unter Kontrolle hatte. Er war durch eine tödliche Schule gegangen, indem er Kämpfern wie Duncan Idaho und Gurney Halleck begegnet war; Männer, die bereits während ihrer Lebzeiten zu Legenden herangewachsen waren. Zudem kannte der Junge die Tricks der Bene Gesserit, auch wenn er jetzt einen unbekümmerten und zuversichtlichen Eindruck hinterließ.

Aber er ist erst fünfzehn, dachte sie. Und er trägt keinen Schild. Ich muß diesen Kampf verhindern. Es muß doch irgendeine Möglichkeit geben, um … Sie schaute auf und bemerkte, daß Stilgar sie beobachtete.

»Du kannst nichts dagegen machen«, sagte er. »Und du darfst auch jetzt nichts sagen.«

Jessica legte eine Hand über ihre Lippen und dachte: Immerhin habe ich Jamis mit Furcht erfüllt … Vielleicht verlangsamt das schon seine Reaktionen. Wenn ich nur einige Dinge wüßte, die sie nicht anzweifeln können …

Paul stieg, nachdem er sich seines Anzugs entledigt hatte, ebenfalls in den Ring. Er hielt das Crysmesser in der Rechten, während seine nackten Füße den sandigen Felsen abtasteten. Idaho hatte ihn immer wieder ermahnt: »Auf unsicherem Boden kämpft man am besten mit nackten Füßen.« Und Chani hatte ihm zugeflüstert: »Jamis dreht sich nach jeder Abwehrbewegung nach rechts ab. Das ist eine Angewohnheit von ihm, und ich habe sie bisher jedesmal an ihm beobachtet. Und er wird versuchen, an deinen Augen abzulesen, welche Bewegung du planst. Er ist in der Lage, die Waffe mit beiden Händen zu führen. Achte also darauf, wenn er sie wechselt.«

Hauptsächlich vertraute Paul der Tatsache, eine hervorragende Ausbildung genossen zu haben. Die instinktiven Reaktionen, die seine Trainer ihm in monatelanger Arbeit eingehämmert hatten, als sie noch auf Caladan lebten, würde sich auszahlen.

Er erinnerte sich an Gurney Hallecks Worte: »Ein guter Messerkämpfer denkt an Spitze, Schneide und Handschutz seiner Waffe gleichzeitig. Mit der Spitze kann man auch schneiden, mit der Schneide kann man stechen; der Handschutz ist auch dazu geeignet, die Klinge des Gegners festzuhalten.«

Paul sah auf das Crysmesser. Es hatte keinen Handschutz, sondern nur einen schmalen Ring um den Griff, der kaum die Finger bedeckte. Des weiteren fiel ihm ein, daß er nicht die geringste Ahnung hatte, wo der Bruchpunkt des Messers lag. Er wußte nicht einmal, ob das Crysmesser überhaupt zerbrechlich war.

Jamis tänzelte nach rechts und näherte sich ihm.

Paul kauerte sich zusammen und erinnerte sich, daß er keinen Schild besaß. Und der Hauptteil seiner Ausbildung hatte sich auf Kämpfe bezogen, bei denen sowohl er als auch seine Trainer einen solchen getragen hatten. Seine größte Stärke war es, auf Angriffe einer bestimmten Geschwindigkeit zu reagieren und zu kontern. Obwohl seine Ausbilder ständig darauf hingewiesen hatten, daß er sich nicht auf die Schutzwirkung seines Schildes verlassen dürfe, wußte er genau, daß es für ihn nicht leicht sein würde, diesen im Unterbewußtsein wirksamen Faktor zu vergessen.

Jamis rief die rituelle Herausforderung: »Möge deine Klinge zersplittern und brechen!«

Das Messer ist also zerbrechlich, registrierte Paul.

Er machte sich klar, daß Jamis ebenfalls keinen Schild trug, aber der Mann war daran gewöhnt und wurde dadurch nicht in seinen Reaktionen behindert.

Paul starrte seinen Gegner an. Der Wüstenbewohner ähnelte einem dürren, nur mit Hautfetzen bewachsenen Skelett. Die Klinge seines Crysmessers glitzerte gelblich im Schein der Leuchtgloben.

Furcht machte sich plötzlich in Paul breit. Er fühlte sich plötzlich nackt und allein, umgeben von einem Ring von Leuten, die er nicht kannte. Die Vorhersehung hatte sein Bewußtsein an Orte geführt, die er mit eigenen Augen noch nicht gesehen hatte. Er wußte viel von dem, was auf ihn zukam, aber das, was er jetzt erlebte, war das reale Jetzt. Sein Tod hing von Millionen Möglichkeiten ab, die er im Moment nicht zu übersehen vermochte.

Was nun geschieht, machte er sich klar, kann die Zukunft verändern. Es brauchte nur einer der Zuschauer seine Reaktion damit zu beeinflussen, indem er hustete. Jemand konnte einen unbedachten Schritt nach vorne machen, die Balance verlieren. Es brauchte sich nur die Intensität des Lichts zu verändern.

Ich habe Angst, dachte Paul.

Er umkreiste vorsichtig den gleitenden Jamis und dachte an die Litanei gegen die Furcht. »Die Furcht tötet das Bewußtsein …« Es war wie eine kalte, erfrischende Dusche, als die Worte durch sein Gedächtnis zogen. Er spürte, wie seine Muskeln sich entkrampften, wie sie sich spannten und sich bereit machten zum Zuschlagen.

»Ich werde mein Messer in deinem Blut baden«, knurrte Jamis. In der Mitte des letzten Wortes griff er an.

Jessica, die seine Bewegung vorhersah, unterdrückte einen Aufschrei.

Dort, wo der Mann hingesprungen war, befand sich lediglich Luft, während Paul plötzlich hinter ihm auftauchte. Er brauchte Jamis die Klinge nur noch in den ungeschützten Rücken zu bohren.

Jetzt, Paul! Jetzt! schrie es in ihrem Geist.

Pauls Bewegungen waren gut aufeinander abgestimmt. Er stieß mit einer geschmeidigen Bewegung zu, aber so langsam, daß es für Jamis ein leichtes war, zur Seite zu springen und ihm auszuweichen.

Paul zog sich ebenfalls zurück. »Zuerst mußt du mein Blut finden«, sagte er.

Jessica erkannte deutlich, daß Pauls Bewegungen auf einen Menschen abgestimmt waren, der normalerweise einen Schild trug. Ihr wurde klar, daß das für ihn ein zweischneidiges Schwert war. Sein Vorgehen beruhte darauf, daß Schilde rasche Stöße abwiesen und langsam geführte Angriffe die Barriere durchdrangen. Auch wenn er in Höchstform war, würde sich dies für Paul zu einem Nachteil erweisen.

Hat Paul das auch erkannt? fragte sie sich. Er muß es einfach einsehen!

Erneut griff Jamis an. Seine Augen blitzten und seine Gestalt wirkte wie eine im Schein der Leuchtgloben hin und her zuckende Flamme.

Wieder entwischte Paul ihm und griff zu langsam an.

Und wieder.

Und wieder.

Jedesmal kam sein Konterschlag einen Augenblick zu spät.



Dann sah Jessica etwas, und sie hoffte inständig, daß es Jamis nicht auffiel: Paul parierte zwar jeden Angriff blitzschnell, aber sein Messer befand sich immer an genau der Stelle, die die richtige gewesen wäre, hätte ein Schild den Angriff abgelenkt.

»Spielt dein Sohn mit diesem Narren?« fragte Stilgar leise. Bevor sie ihm eine Antwort geben konnte, gab er ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dies nicht zu tun. »Tür mit leid, aber du mußt noch immer schweigen.«

Paul und Jamis begannen einander nun zu umkreisen. Jamis hielt das Messer ausgestreckt von sich, während Paul gebeugt dahinschlich, die Waffe gesenkt.

Jamis griff wieder an, und diesmal warf er sich nach rechts; in die Richtung, in die Paul beim letztenmal ausgewichen war.

Anstatt auszuweichen und sich zurückzuziehen, stieß Paul zu und traf die Hand des Angreifers mit der Spitze seiner Klinge. Dann war er plötzlich verschwunden und bewegte sich, der Warnung Chanis gemäß, nach links.

Jamis sprang in die Mitte des Ringes zurück und rieb seine Hand. Blut tropfte aus seiner Wunde. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Paul an. Er war unverkennbar wütend.

»Ah, das hat er gemerkt«, murmelte Stilgar.

Paul bewegte sich wie jemand, der einen Angriff plant und rief seinem Kontrahenten, so wie man es ihm beigebracht hatte, zu: »Gibst du auf?«

»Hah!« schrie Jamis.

Die Männer begannen erregt zu murmeln.

»Ruhe!« schrie Stilgar. »Der Junge kennt nicht die Gesetze unseres Volkes.« Zu Paul gewandt sagte er: »In einer Tahaddi-Herausforderung kann sich niemand ergeben. Dieser Kampf endet mit dem Tod eines Beteiligten.«

Jessica fiel auf, daß Paul schluckte. Und sie dachte: Er hat noch nie einen Menschen in einem Zweikampf getötet. Ist er überhaupt dazu in der Lage?

Paul wich langsam nach rechts aus, während Jamis ihm folgte. Erneut drangen die ihn umgebenden Wahrscheinlichkeitsfaktoren auf ihn ein. Sein neues Bewußtsein sagte ihm klar, daß er zu vielen Faktoren ausgesetzt war, um irgendeiner vorausberechneten Linie zu folgen.

Die Varianten waren unendlich — deswegen erschien ihm diese Grotte wie ein tiefschwarzes Loch auf dem Pfad, den er zu gehen hatte. Er fühlte sich wie ein Fels in einem reißenden Strom, und je mehr er sich bewegte, desto stärker und zahlreicher wurden die Strudel, denen er ausweichen mußte.

»Mach ein Ende, Junge«, murmelte Stilgar. »Spiel nicht mit ihm.«

Paul drang tiefer in den Ring vor.

Jamis griff nun langsamer an. Offenbar war er sich der Tatsache bewußt geworden, daß dieser Außenweltler nicht das leichte Opfer war, das er sich vorgestellt hatte.

Jessica sah den Schatten der Ernüchterung auf dem Gesicht des Wüstenbewohners. Jetzt ist er am gefährlichsten, dachte sie. Er ist verzweifelt und zu allem fähig. Er hat herausgefunden, daß Paul nichts mit den Kindern seines eigenen Volkes gemein hat, sondern daß er eine Kampfmaschine ist, die von klein auf hart trainiert wurde. Die Angst, die ich in sein Herz gepflanzt habe, wird nun Früchte tragen.

Sie stellte fest, daß sie für Jamis so etwas wie Mitleid empfand. Das Gefühl war beinahe so stark, wie die Angst um den eigenen Sohn.

Jamis ist zu allem fähig … und deswegen kann man sein Handeln so schwer berechnen. Sie fragte sich, ob Paul auch diese Begegnung in seinen Visionen vorausgesehen hatte und über ihren Ausgang informiert war. Aber als sie sah, wie sich ihr Sohn bewegte, wie er sich anstrengte, nicht der Unterlegene zu sein, wurde ihr klar, wie begrenzt seine Gabe sein mußte.

Paul verschärfte den Kampf nun, ohne jedoch ernsthaft anzugreifen. Er umkreiste Jamis schnell und sah die Furcht im Gesicht des anderen. Er erinnerte sich plötzlich an etwas, das Duncan Idaho einst zu ihm gesagt hatte: »Sobald du feststellst, daß dein Gegner Angst vor dir hat, gib ihm die Möglichkeit, mit dieser Angst eine Weile allein zu sein. Laß aus der einfachen Angst pures Entsetzen werden. Ein entsetzter Mensch hat seinen größten Gegner in sich selbst. Möglicherweise wird er dazu übergehen, aus reiner Verzweiflung anzugreifen. Das ist für ihn der gefährlichste Augenblick, denn ein Verzweifelter begeht in einem solchen Moment einen nicht zu unterschätzenden Fehler. Deine Ausbildung wird dir dabei helfen, diesen Fehler früh genug zu erkennen und für dich zu nutzen.«

Die Fremen begannen zu murren.

Sie glauben, daß Paul tatsächlich mit Jamis spielt, dachte Jessica. Sie halten ihn für unnötig grausam.

Aber sie spürte ebenfalls, daß die sie umringenden Männer aufgeregt waren und das Schauspiel sichtlich genossen. Auch sah sie, daß der Druck, unter dem Jamis stand, sich von Minute zu Minute vergrößerte. Der Moment, an dem er explodieren würde, war bereits abzusehen. Auch Jamis mußte das wissen … oder Paul. Jamis sprang vor und stieß mit der rechten Hand zu. Aber sie war leer. Er hatte blitzschnell die Kampfhand gewechselt und Paul auf diese Art zu täuschen versucht.

Jessica stöhnte auf.

Aber Paul war von Chani gewarnt worden: »Jamis kann mit beiden Händen kämpfen.« Und er hatte es seiner Ausbildung zu verdanken, daß er diesen Trick sofort durchschaute. »Behalte das Messer im Auge — und nicht die Hand, die es führt«, hatte Gurney Halleck ihm einst erzählt. »Das Messer ist gefährlicher als die Hand, und es kann in jeder Hand auftauchen.«

Und Paul hatte Jamis' Fehler erkannt: die schlechte Fußstellung, die der Mann zu korrigieren hatte, um den falschen Stoß zu vertuschen und zu einem richtigen Angriff anzusetzen, hatte eine zusätzliche Sekunde gekostet.

Trotz des gelblichen Lichts und der leuchtenden Augen der erregten Zuschauer hatte Paul plötzlich wieder das Gefühl, sich im Trainingsraum zu befinden. Schilde nützten nichts in einer Umgebung, wo man die Bewegungen des gegnerischen Körpers ausnutzen konnte. Paul hob das Messer, warf sich zur Seite und zog die Klinge wieder hoch, die genau in die Brust des Mannes traf. Dann trat er zurück und sah Jamis fallen.

Der Fremen fiel auf das Gesicht, krümmte sich noch einmal zusammen, stieß einen dumpfen Seufzer aus und hob ein letztesmal den Kopf, um Paul anzusehen. Dann blieb er liegen. Seine toten Augen sahen aus wie Glasperlen.

»Jemanden mit der Spitze zu töten«, hatte Idaho Paul einst gesagt, »ist keine große Kunst. Aber das soll dich nicht davon abhalten, den Augenblick zu nutzen, wenn er sich dir präsentiert.«

Die Gruppe der Fremen löste sich auf, füllte die Stelle, an der soeben noch der Ring gewesen war und drückte Paul zur Seite. Rasch hoben die Männer Jamis auf. Eine Gruppe verschwand mit seinem Leichnam in den Tiefen der Grotte, nachdem sie den Körper in eine Robe gewickelt hatten.

Jamis war nicht mehr zu sehen.

Jessica drängte sich nach vorn zu ihrem Sohn. Ihr schien, als schwämme sie in einem Meer aus schwitzenden Körpern, die keinen Laut von sich gaben.

Jetzt ist der schreckliche Augenblick gekommen, dachte sie. Er hat in klarem Bewußtsein seiner eigenen Kraft einen Menschen getötet. Es darf auf keinen Fall soweit kommen, daß er einen solchen Sieg wie einen Triumph genießt.

Sie zwängte sich durch die Umstehenden bis in die schmale Nische, wo gerade zwei Fremen dabei waren, Paul in seinen Destillanzug zu helfen.

Jessica starrte ihn an. Pauls Augen glänzten. Er atmete schwer und machte keine Anstalten, den beiden Männern, die ihn unterstützten, durch einige leichte Bewegungen zu helfen.

»Jamis hat ihm nicht einmal einen Kratzer beigebracht«, murmelte einer der Fremen. Chani erschien. Auch sie sah Paul an. Es erschien Jessica, als läge in ihrem Blick mehr als nur Überraschung. Ihre Züge zeigten offene Verehrung.

Es muß schnell und sofort geschehen, dachte Jessica. Sie legte allen Zynismus zu dem sie fähig war in ihre Stimme und sagte mit sichtlicher Verachtung: »Nun, mein Junge — wie fühlt man sich als Killer?«

Paul zuckte zusammen, als hätte man ihm in den Leib getreten. Sein Blick traf auf die kalten Augen seiner Mutter und im gleichen Augenblick wurde er rot. Unwillkürlich schaute er zu der Stelle hinüber, an der eben noch Jamis gelegen hatte.

Stilgar quetschte sich durch die Umstehenden an Jessicas Seite. Er kam aus der Richtung, in die man Jamis' Leiche gebracht hatte und sagte, Paul zugewandt, in einem bitteren, wenngleich kontrollierten Tonfall:

»Wenn eines Tages die Zeit kommen sollte, an der du mich zum Kampf um meine Burda herausforderst — glaube nicht, daß du mit mir so spielen kannst wie mit Jamis.«

Es blieb Jessica nicht verborgen, wie ihre und Stilgars Worte auf Paul einwirkten. Man irrte sich in Paul, wenn man ihn für einen Sadisten hielt — aber dieser Irrtum erfüllte einen guten Zweck. Sie blickte auf die sie umgebenden Gesichter und sah in ihren das gleiche wie Paul: Verehrung, aber auch Furcht. Vielleicht sogar auch Haß. Sie musterte Stilgar und erkannte an seinem Fatalismus, wie der Kampf auf ihn gewirkt haben mußte.

Paul sah seine Mutter an. »Du weißt, was es war«, sagte er.

Er kam also wieder auf den Boden zurück. Jessica warf einen Blick auf die Umstehenden und sagte dann: »Paul hat niemals zuvor einen Menschen mit einem Messer getötet.«

Stilgar starrte sie ungläubig an.

»Ich habe nicht mit ihm gespielt«, fügte Paul jetzt hinzu. Er drängte sich zu seiner Mutter durch, glättete seine Robe und warf einen Blick auf den Blutfleck, der auf dem felsigen Boden zurückgeblieben war. »Ich wollte ihn auch gar nicht umbringen.«

Stilgar schien ihm allmählich zu glauben. Der Führer der Fremen spielte unentschlossen mit seinem Bart. Die anderen murmelten überrascht.

»Deswegen hast du ihn also aufgefordert, sich zu ergeben«, meinte Stilgar. »Ich verstehe jetzt. Wir gehen nach anderen Regeln vor, aber du wirst auch darin bald einen Sinn erkennen. Ich hatte an sich schon angenommen, wir hätten einen Skorpion in unserem Stamm aufgenommen.« Er zögerte und meinte schließlich: »Ich sollte dich von nun an nicht mehr einen Jungen nennen.«

Eine Stimme aus dem Hintergrund rief: »Er braucht jetzt einen Namen, Stil.«

An seinen Barthaaren zerrend, nickte Stilgar. »Ich sehe Stärke in dir … ähnlich der Stärke einer Säule.« Er machte eine Pause und fuhr fort: »Wir wollen dich auf den Namen Usul taufen, nach der Basis, ohne die keine Säule bestehen kann. Usul wird dein geheimer Name sein, der, unter dem du in der Truppe bekannt sein wirst. Die Leute unseres Sietch Tabr dürfen ihn benutzen, niemand anders … Usul.«

Ein Murmeln ging durch die Truppe. »Ein guter Name … voller Kraft … er wird uns Glück bringen!« Und Jessica spürte, daß man damit nicht nur Paul akzeptierte, sondern auch sie. Erst jetzt galt sie wirklich als Sayyadina.

»Und welchen Mannesnamen, mit dem du in der Öffentlichkeit angesprochen werden willst, wählst du?« fragte Stilgar.

Paul sah seine Mutter an und schaute dann wieder auf Stilgar. Sein anderes Bewußtsein begann plötzlich wieder zu arbeiten und wies ihn auf etwas Bestimmtes hin. Es war wie ein Druck; ein Druck, der auf ihm lastete und ihn zwar, eine Tür in die Gegenwart aufzustoßen.

»Wie nennt ihr die kleine Maus, die hüpft?« fragte er und erinnerte sich gleichzeitig an das hopp-hopp, das ihn im Tuono-Becken so fasziniert hatte. Er verdeutlichte mit einer Hand, was er meinte.

Ein Grinsen ging durch die Reihen der Männer.

»Wir nennen sie Muad'dib«, sagte Stilgar.

Jessica schnappte nach Luft. Es war genau der Name, von dem Paul ihr erzählt hatte; von dem er behauptet hatte, daß die Fremen ihn unter diesem Namen anerkennen und bei sich aufnehmen würden. Sie hatte plötzlich Angst um und vor ihrem Sohn.

Paul schluckte. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß er hier eine Rolle spielte, die er in seinem Bewußtsein bereits zahllose Male gespielt hatte … und doch … es gab einige Unterschiede. Er fühlte sich wie ein Mann auf einem hohen Berggipfel, der von finsteren, nebelverhangenen Abgründen umgeben ist.

Und erneut erinnerte er sich an die Vision fanatischer Legionen, die dem grünen Banner der Atreides' folgten, die mordend und brennend durch das Universum rasten. Im Namen ihres Propheten Muad'dib.

Dies darf auf keinen Fall geschehen, sagte er sich.

»Ist das der Name, den du zu tragen wünschst — Muad'dib?« fragte Stilgar.

»Ich bin ein Atreides«, flüsterte Paul. Und dann, lauter: »Es ist nicht recht, daß ich völlig den Namen aufgebe, den mein Vater mir gab. Wäre es möglich, daß ich unter euch den Namen Paul-Muad'dib trage?«

»Du bist Paul-Muad'dib«, erwiderte Stilgar.

Und Paul dachte: Dies hat es in keiner meiner Visionen gegeben. Ich habe etwas verändert.

Aber er hatte weiterhin das Gefühl, daß er von Abgründen umgeben war.

Erneut begannen die Fremen zu murmeln: »Weisheit, gepaart mit Stärke … Mehr kann man nicht verlangen … Genau wie es in der Legende heißt … Lisan al-Gaib … Lisan al-Gaib …«

»Ich werde dir etwas über deinen neuen Namen sagen«, erklärte Stilgar. »Die Wahl, die du getroffen hast, ehrt uns, denn Muad'dib beherrscht die Kunst, in der Wüste zu existieren. Muad'dib erzeugt sein eigenes Wasser. Muad'dib versteckt sich vor der Sonne und bewegt sich in der kühlen Nacht. Muad'dib ist fruchtbar und bevölkert das Land. Wir nennen Muad'dib den Lehrer der Jungen. Du hast eine gute Grundlage für das Leben in unserer Mitte geschaffen, Paul-Muad'dib, der in unseren eigenen Reihen als Usul bekannt werden wird. Wir heißen dich willkommen.«

Stilgar berührte Pauls Stirn mit der Handfläche, zog sie zurück, umarmte ihn und sagte: »Usul.«

Kaum hatte Stilgar ihn aus seiner Umarmung entlassen, als der nächste Mann bereits heran war und dasselbe mit ihm tat. Auch er wiederholte Pauls neuen Truppennamen. Umarmung auf Umarmung folgte, und jeder der Fremen murmelte: »Usul … Usul … Usul.« Einige der Wüstenmänner kannte er bereits beim Namen. Und dann kam auch Chani, preßte sich an ihn und drückte ihre Wange gegen die seine.

Schließlich stand Paul wieder vor Stilgar, der sagte: »Du bist nun einer der Ichwanbeduinen — unser Bruder.« Seine Züge verhärteten sich plötzlich, und er fuhr fort, in einem Tonfall, der einem knappen Kommando glich: »Und jetzt, Paul-Muad'dib, schließt du auf der Stelle deinen Destillanzug!« Er schaute zu Chani hinüber. »Chani! Paul-Muad'dibs Nasenfilter sitzen so erbärmlich schlecht, wie ich es noch bei keinem Mann bisher gesehen habe! Sagte ich dir nicht, du solltest auf ihn achtgeben?«

»Ich hatte keine Möglichkeit, ihm bessere zu geben, Stil«, verteidigte sich das Mädchen. »Aber wir haben noch die von Jamis, aber …«

»Genug davon!«

»Dann gebe ich ihm eine von meinen«, erwiderte Chani. »Ich kann mit einem Filter auskommen, bis wir …«

»Das wirst du nicht«, sagte Stilgar. »Ich weiß doch, daß wir ein paar Ersatzfilter bei uns haben. Wo stecken sie? Her damit. Sind wir eine Truppe oder ein lausiger Räuberhaufen?«

Sofort streckten die Männer die Hände aus und reichten ihm das Gewünschte. Stilgar wählte vier Filter aus und gab sie Chani.

»Die sind für Usul und die Sayyadina.«

Einer der Männer fragte: »Was ist mit dem Wasser, Stil? Ich meine die Literjons in ihrem Gepäck?«

»Ich weiß, daß du etwas brauchst, Farok«, erwiderte Stilgar. Er warf Jessica einen Blick zu. Sie nickte zurück.

»Breche einen davon an, für diejenigen, die Wasser brauchen«, entschied Stilgar. »Wassermeister … haben wir einen Wassermeister? Ah, Shimoom, sorg du dafür, daß die Leute das Nötigste erhalten. Verschwende keinen Tropfen. Dieses Wasser ist die Mitgift der Sayyadina und wird ihr nach Abzug der Tragekosten im Sietch zurückerstattet.«

»Nach welchem Prinzip?« fragte Jessica.

»Zehn zu eins«, erwiderte Stilgar.

»Aber …«

»Es ist ein weises Gesetz, und du wirst seinen Nutzen noch erkennen«, meinte Stilgar.

Ein leises Robenrascheln deutete an, daß die Männer sich aufmachten, Wasser zu speichern.

Stilgar hob eine Hand und sofort herrschte Ruhe. »Was Jamis anbetrifft«, sagte er, »so befehle ich, daß er mit allen Ehren verabschiedet wird. Jamis war unser Genosse und ein Bruder der Ichwanbeduinen. Niemand darf vergessen, daß erst seine Tahaddi-Herausforderung zu unserem Glück geführt hat. Der Ritus findet bei Sonnenuntergang statt, wenn die Dunkelheit ihn verhüllt.«

Paul, der diese Worte in sich aufnahm, stellte fest, daß er sich einmal mehr am Rande eines Abgrunds befand … Vor ihm lag eine blinde Zeit, die sein inneres Auge bisher nicht zu durchdringen vermocht hatte … ausgenommen … ausgenommen … er hatte immer noch das grüne Banner des Atreides vor sich … irgendwo in der Zukunft … blutige Schwerter … fanatische Legionen, die in Djihad voranstürmten …

Es wird nicht so kommen, sagte er sich. Ich kann das nicht zulassen.

12

Gott schuf Arrakis, um die Gläubigen zu prüfen.

Aus ›Die Weisheit des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


In der absoluten Stille, die innerhalb der Grotte herrschte, konnte Jessica deutlich die leisen Schritte auf dem Sand hören, über den sich die Fremen lautlos bewegten. Von draußen drangen entfernte Vogelschreie zu ihr herein, die die Wächter ausstießen, um sich miteinander zu verständigen.

Man hatte die großen Plastikhauben, die die Höhleneingänge verschlossen, weggeräumt. Die Dämmerung breitete sich rasch über das Becken aus, und Jessica fühlte, wie das Tageslicht abnahm. Die Schatten wurden länger, und die Hitze ließ nach. Sie wußte, daß auch ihre Ausbildung sie bald zu dem befähigen würde, was den Fremen jetzt schon zu eigen war: die Fähigkeit, kleinste Veränderungen bereits am Wechsel der Luftfeuchtigkeit zu erkennen.

Wie sie sich beeilt hatten, die Destillanzüge zu schließen, als die Verschlüsse geöffnet wurden!

Tief im Inneren der Grotte begann jemand zu rezitieren:

»Ima trava okolo!

I korenja okolo!«

Schweigend übersetzte Jessica: »Dies ist die Asche! Und dies sind die Wurzeln!«

Die Zeremonie für Jamis nahm ihren Anfang.

Jessica sah in den arrakisischen Sonnenuntergang hinaus und stellte fest, daß der Himmel in allen möglichen Farben leuchtete. Die Nacht begann, lange Schatten über Felsen und Dünen zu werfen.

Dennoch blieb die Hitze.

Sie führte dazu, daß Jessica über Wasser nachzudenken begann. Sie fragte sich, wie es möglich war, ein ganzes Volk so zu erziehen, daß es nur zu festgelegten Zeiten Durst empfand.

Durst.

Sie erinnerte sich, wie der Mondschein auf Caladan das felsige Land mit weißem Licht überworfen hatte. Der Wind war voller feuchtem Dunst. Jetzt hatte sie nichts anderes als ihren Atem, der Feuchtigkeit erzeugte auf Wangen und Stirn. Die neuen Nasenfilter irritierten sie, und sie stellte fest, daß sie sich die ganze Zeit über des kleinen Schlauches gewärtig war, der von ihrem Hals in die Tiefen des Anzugs hinabführte, wo er die Flüssigkeit ihres Atems hinleitete und speicherte.

Und der Destillanzug selbst erschien ihr wie ein Schwitzkasten.

»Sobald du deinen Körper auf einen niedrigen Wassergehalt umgestellt hast«, hatte Stilgar ihr erklärt, »sitzt der Anzug wesentlich besser.«

Es war ihr klar, daß er damit recht hatte, aber dieses Wissen nützte ihr im Moment nicht viel. Die unbewußte Auseinandersetzung mit dem Gedanken an Wasser überschattete ihr ganzes Denken. Nein, korrigierte sie sich selbst, es ist die ständige Beschäftigung mit jeder Art von Flüssigkeit.

Und das umfaßte sehr viel mehr als nur Wasser.

Jessica hörte sich nähernde Schritte, wandte den Kopf und sah Paul, der aus den Tiefen der Grotte kam. Neben ihm ging die elfenhafte Chani.

Da ist noch etwas anderes, dachte Jessica. Ich muß Paul vor ihren Frauen warnen. Keine dieser Wüstenfrauen würde sich als Frau eines Herzogs eignen. Als Konkubine — ja; aber nicht als Ehefrau.

Sie wunderte sich plötzlich über sich selbst und überlegte: Bin ich schon so von seinen Plänen infiziert? Ihr wurde klar, wie gut man sie konditioniert hatte. Ich bin in der Lage, die geistige Einstellung des Adels zu übernehmen, obwohl ich selbst eine Konkubine war. Aber … ich war mehr als das.

»Mutter.«

Paul blieb vor Jessica stehen. Auch Chani.

»Mutter, weißt du, was die Männer dort hinten machen?«

Jessica warf einen kurzen Blick auf Pauls Augen, die im Schatten der Kapuze kaum zu erkennen waren.

»Ich glaube schon.«

»Chani hat es mir gezeigt … weil ich darauf vorbereitet sein muß, einmal selbst in die Lage zu geraten, wo ich den anderen mein Wasser geben muß.«

Jessica sah Chani an.

»Sie nehmen Jamis' Wasser«, erklärte Chani. Ihre Stimme klang sonderbar dünn durch die Nasenfilter. »Es ist Gesetz. Das Fleisch gehört ihm selbst — sein Wasser jedoch dem Stamm … außer bei einem Zweikampf.«

»Sie sagen, Jamis' Wasser gehört jetzt mir«, sagte Paul.

Jessica fragte sich, wieso sie diese Eröffnung plötzlich vorsichtig machte.

»Das Wasser des Besiegten im Zweikampf gehört dem Gewinner«, führte Chani aus. »Und das ist deswegen so, weil man bei einem Zweikampf ohne Destillanzug kämpft. Auf diese Weise erhält der Sieger das Wasser zurück, das er während des Kampfes verliert.«

»Ich will sein Wasser nicht«, murmelte Paul. Er fühlte sich in diesem Moment wie der Teil eines Körpers, der sich auflöste und in viele Richtungen auseinanderstrebte. Er hatte keine Ahnung, welche Verwicklungen er mit seinem Verhalten heraufbeschwören mochte — aber er war sich darüber im klaren, daß er das Wasser Jamis' nicht wollte.

»Es ist nur … Wasser«, meinte Chani.

Jessica bewunderte die Art, in der sie das Wort aussprach. Wasser. Soviel Bedeutung in einem einzigen Wort. Ein Lehrsatz der Bene Gesserit fiel ihr ein: »Überleben ist die Fähigkeit, in unbekannten Gewässern nicht zu ertrinken.« Und sie dachte: Paul und ich haben die Aufgabe, alle Ströme und Wirbel in diesen unbekannten Gewässern zu erforschen … wenn wir überleben wollen.

»Du wirst das Wasser annehmen«, sagte sie.

Sie erkannte den Tonfall ihrer Worte wieder. In gleicher Weise hatte sie einst zu Leto gesprochen, als sie ihm erklärte, daß er eine hohe Summe für ein zweifelhaftes Unternehmen akzeptieren solle — weil Geld die Basis der Macht der Atreides' darstellte.

Auf Arrakis symbolisierte Wasser das Geld. Das war klar.

Paul schwieg; er wußte plötzlich, daß er tun würde, was sie angeordnet hatte. Nicht, weil sie es so wollte, sondern weil der Tonfall ihrer Stimme ihn dazu drängte. Wenn er das Wasser ablehnte, würde er ein Gesetz der Fremen brechen.

Er erinnerte sich plötzlich an die Worte der 467. Kalima aus Yuehs O.-K.-Bibel und sagte: »Aus dem Wasser kommt alles Leben.«

Jessica starrte ihn an und fragte sich: Woher kennt er dieses Zitat? Er hat die Mysterien doch noch gar nicht studiert.

»So ist es gesagt«, bestätigte Chani. »Giudichar Mantene: Es steht geschrieben in der Schah-Nama, daß das Wasser zuerst erschaffen wurde.«

Ohne jeden Grund (und dies verwirrte sie mehr als die Tatsache an sich), begann Jessica plötzlich zu zittern. Um ihre Konfusion zu verbergen, wandte sie sich ab und sah, daß die Sonne eben im Begriff war, hinter dem Horizont zu verschwinden. Eine gewaltige Farborgie überschüttete die Felsen.

»Es ist Zeit!«

Die Stimme, die sie wieder zu sich brachte, kam aus der Tiefe der Höhle und gehörte Stilgar. »Jamis' Waffe ist umgekommen. Der Shai-Hulud hat Jamis zu sich gerufen, so wie er die Mondphasen bestimmt und Zweige verdorren und brechen läßt.« Seine Stimme wurde leiser. »Genauso ist es auch mit Jamis.«

Die Stille senkte sich wie ein weißes Tuch über die Höhle.

Jessica sah die an einen grauen Schatten erinnernde Gestalt des Führers der Wüstensöhne im Innern der Höhle. Er wirkte wie ein Geist. Aus dem Becken kam eine erfrischende Kühle.

»Jamis Freunde sollen nun erscheinen«, verlangte Stilgar.

Hinter Jessica bewegten sich einige Männer und bedeckten den Ausgang mit einem Vorhang. Nur noch ein einziger Leuchtglobus beleuchtete die Szene aus der Ferne. In seinem gelben Schein versammelten sich die Fremen. Das leise Rascheln ihrer Roben war nicht zu überhören.

Als werde sie durch das Licht angezogen, machte Chani einen Schritt nach vorn.

Jessica beugte sich vor und flüsterte Paul im Familienkode zu: »Vertraue dich ihrer Führung an und tu dasselbe, was sie auch tun. Es ist nur ein einfacher Ritus, der Jamis' Schatten befrieden soll.«

Es wird mehr sein als das, dachte Paul. Er fühlte sich angespannt wie jemand, der nach einem sich bewegenden Ding greift, ohne sich dabei selbst bewegen zu dürfen.

Chani glitt zurück, tauchte neben Jessica auf und ergriff ihre Hand: »Komm, Sayyadina. Wir müssen jetzt woanders hingehen.«

Paul sah, wie sie in der schattigen Finsternis untertauchten und fühlte sich allein.

Die beiden Männer, die den Vorhang angebracht hatten, kehrten zurück und sagten: »Komm jetzt, Usul.«

Paul ließ sich zu den anderen führen und ließ sich in dem Stilgar umgebenden Kreis einen Platz zuweisen. Er setzte sich und beobachtete Stilgar, der unter dem einzelnen Leuchtglobus stand. Das Licht ließ seine Augen wie kleine Höhlen erscheinen und veränderte die Farbe seiner Robe. Zu Stilgars Füßen lag etwas, das von einer Robe bedeckt blieb. Dennoch erkannte Paul an einem Griff, daß er ein Baliset vor sich hatte.

»Der Geist verläßt die Wasser des Körpers, sobald der erste Mond sich erhebt«, intonierte Stilgar. »So wird es gesagt. Und wenn wir den ersten Mond sich erheben sehen in dieser Nacht, wen ruft er dann zu sich?«

»Jamis«, antworteten die Männer im Chor.

Stilgar drehte sich auf einem Bein und sah die Männer der Reihe nach an. »Ich war einer von Jamis' Freunden«, sagte er. »Als das Habicht-Flugzeug bei Loch-im-Felsen auf uns herabstieß, war es Jamis, der mich rechtzeitig in Deckung riß.«

Er beugte sich über das links neben ihm liegende Bündel und zerrte die Robe beiseite. »Ich nehme seine Robe an mich, weil ich sein Freund war — mit dem Recht des Führers.« Er warf sie sich mit einem Ruck über die Schulter und reckte sich.

Erst jetzt sah Paul, was vor Stilgar aufgestapelt lag: ein mattgrauer Destillanzug, ein eingebeulter Literjon, ein Tuch, in das ein kleines Buch gewickelt war, der klingenlose Griff eines Crysmessers, eine leere Messerscheide, ein gefalteter Beutel, ein Parakompaß, ein Distrans, ein Plumpser, ein Häufchen faustgroßer metallener Haken, eine Ansammlung von Kieselsteinen in einem Tuch, ein Federbündel … und das Baliset, das daneben lag.

Jamis konnte also auch Baliset spielen, dachte Paul. Das Instrument erinnerte ihn plötzlich an Gurney Halleck und alles, was ihm verlorengegangen war. Sein Bewußtsein sagte ihm, daß es einige Chancen gab, den Mann eines Tages wiederzutreffen, obwohl die Zeitlinien in dieser Beziehung unscharf und überschattet waren. Sie verwirrten ihn. Der Unsicherheitsfaktor, daß sie sich irgendwann wieder vereinigen würden, erfüllte ihn mit einer beinahe ängstlichen Vorausahnung. Bedeutet das, daß ich eines Tages etwas gegen Gurney tun werde? Daß ich ihn … zerstören könnte … oder zum Leben erwecke … oder …

Paul schluckte und schüttelte den Kopf.

Erneut beugte sich Stilgar über Jamis' Habseligkeiten.

»Für Jamis' Frau und die Wachen«, sagte er. Das Buch und die Steine verschwanden in den Falten seiner Robe.

»Mit dem Recht des Führers«, intonierten die Männer.

»Das Kennzeichen für Jamis' Kaffeegeschirr«, sagte Stilgar nun und hob eine kleine grüne Metallscheibe hoch. »Es wird Usul mit entsprechendem Zeremoniell übergeben werden, wenn wir in unseren Sietch zurückgekehrt sind.«

»Mit dem Recht des Führers«, wiederholten die Fremen.

Schließlich nahm er den Griff des Crysmessers auf und hielt ihn fest. »Für das Begräbnis.«

»Für das Begräbnis«, erwiderten die Fremen.

Jessica, die die Zeremonie aus einiger Entfernung beobachtete, nickte und fragte sich in dem Moment, indem sie den Ursprung dieses antiken Ritus erkannte: Das Treffen zwischen Ignoranz und Wissen, zwischen Brutalität und Kultur — es beginnt mit der Würde, mit der wir unserem Tod begegnen. Sie sah Paul an und fragte sich: Wird er es verstehen? Wird er wissen, was er zu tun hat?

»Wir sind Jamis' Freunde«, sagte Stilgar. »Aber wir werden nicht wie eine Bande Garvags zu Wehklagen anfangen.«

Neben Paul erhob sich ein graubärtiger Mann. »Ich war ein Freund von Jamis«, sprach er. Er trat in den Kreis und nahm das Distrans an sich. »Als unser Wasser unter das Minimum ging als wir damals in der Gegend von Zwei Vögel waren, teilte er mit mir.« Der Mann nahm seinen Platz wieder ein.

Fordern sie mich etwa auf, zu sagen, Jamis sei auch ein Freund von mir gewesen? fragte sich Paul. Erwarten sie, daß ich mir etwas von seinen Habseligkeiten nehme? Er sah, daß viele Blicke auf ihm lasteten und schaute weg. Sie warten wirklich darauf!

Jetzt erhob sich ein Mann, der Paul genau gegenüber saß. Er ging auf das Bündel zu und nahm sich den Parakompaß. »Ich war ein Freund von Jamis«, sagte er dabei. »Als uns eine Patrouille im Klippengebiet überraschte, verwundeten sie mich und Jamis lenkte sie ab, bis man mich retten konnte.« Auch er setzte sich wieder.

Erneut wandten sich die Gesichter der Fremen Paul zu. Er sah ihre erwartungsvollen Blicke und konnte doch nichts anderes tun, als den Kopf senken. Plötzlich spürte er die Berührung durch einen Ellbogen und den leise geflüsterten Satz: »Willst du uns der Vernichtung preisgeben?«

Wie kann ich nur Jamis als meinen Freund bezeichnen? raste es durch Pauls Bewußtsein.

Eine weitere Gestalt erhob sich plötzlich aus Pauls Gegenrichtung, und als das kapuzenbedeckte Gesicht vom Lichtschein getroffen wurde, erkannte Paul seine Mutter. Sie nahm das Tuch an sich und sagte: »Ich war ein Freund von Jamis. Als der Geist der Geister in ihm erkannte, was die Wahrheit war, zog er sich zurück und rettete meinen Sohn.«

Sie kehrte zu ihrem Platz zurück.

Und Paul erinnerte sich an den Zynismus, der in ihrer Stimme gelegen hatte, nachdem der Kampf beendet war. »Wie fühlt man sich als Killer?«

Wieder sah er, wie sich die Gesichter der Fremen ihm zuwandten. Daß die Männer furchtsam und ärgerlich waren, konnte er beinahe riechen. Irgendeine Passage, die seine Mutter für ihn einst aus einem Filmbuch kopiert hatte, fiel ihm ein und er wußte plötzlich, was er zu tun hatte.

Langsam stand er auf.

Ein Seufzer der Erleichterung ging durch den Kreis.

Er fühlte sich plötzlich viel jünger, als er auf das Zentrum des Kreises zuging, als sei er auf der Suche eines verlorenen Fragmentes seiner selbst, das er hier zu finden hoffte. Er beugte sich über die Reste von Jamis' Eigentum und griff nach dem Baliset. Eine Saite schepperte leise, als er sie mit den Fingern berührte.

»Ich war ein Freund von Jamis«, erklärte er flüsternd.

Er fühlte heiße Tränen in seinen Augen und zwang sich zum Weitersprechen. »Jamis … brachte mir bei … daß, wenn man einen Menschen tötet … man dafür bezahlen muß. Ich wünschte, ich hätte ihn besser gekannt.«

Tränenblind stolperte er zu seinem Platz zurück und sank auf den Felsen.

Eine Stimme zischte: »Er vergießt Tränen!«

Sofort wisperten die anderen: »Usul gibt den Toten Wasser!«

Paul fühlte tastende Hände auf seinen Wangen und hörte erschrecktes Geflüster.

Jessica, die die Stimmen ebenfalls hörte, spürte die tiefe Erschütterung der Fremen und wurde sich erst jetzt darüber klar, welche tiefe Bedeutung sie demjenigen zumaßen, der für einen anderen Tränen vergoß. Welche Bedeutung diese Verschwendung von Flüssigkeit unter ihnen hatte. Jemand hatte gesagt: »Usul gibt den Toten Wasser.« Es war ein Geschenk an die Schattenwelt: Tränen. Es bedeutete, daß er den Toten segnete.

Nichts auf diesem Planeten hätte ihr die Wichtigkeit des Wassers besser einhämmern können. Weder die Wasserverkäufer noch die ausgetrocknet wirkenden Körper der Eingeborenen, weder die Destillanzüge noch die Gesetze der Wasserdisziplin: das Vergießen von Tränen war das Vergießen von Leben selbst.

Wasser.

»Ich habe seine Wange berührt«, flüsterte jemand. »Ich habe das Geschenk gespürt.«

Zuerst hatten die tastenden Finger Paul einen Schrecken eingejagt und seine Hände hielten den Hals des Balisets so fest umklammert, daß die Saiten in seine Finger bissen. Dann sah er die Augen der Männer, die die Arme nach ihm ausstreckten. Sie waren weitgeöffnet und blickten erstaunt.

Dann zogen sich die Hände wieder zurück. Die Zeremonie nahm ihren weiteren Verlauf, aber Paul saß nun von den anderen, die ihm dadurch respektvoll ihre Ehre erwiesen, etwas getrennt. Der Ritus endete mit einem leisen Gesang.

»Der Vollmond ruft dich

Du wirst den Shai-Hulud schauen;

Rote Nacht, staubiger Himmel,

Einen blutigen Tod starbst du.

Wir beten zu einem Mond

Das Glück wird mit uns sein,

Wonach wir suchen, wird gefunden

Im Land mit festem Boden.«

Nachdem Jamis' Eigentum verteilt worden war, blieb vor Stilgars Füßen nur noch ein bauchiger Sack zurück. Stilgar kniete sich hin und tastete ihn mit den Handflächen ab. Neben ihm tauchte eine weitere Gestalt auf, die ihn mit dem Ellbogen berührte. Unter der Kapuze erkannte Paul die Gesichtszüge Chanis.

»Jamis hat dreiunddreißig Liter vom Wasser unseres Stammes getragen«, sagte sie. »Ich segne es in der Gegenwart einer Sayyadina. Ekkeri-akkairi, dies ist das Wasser, fillissin-follasy, des Paul-Muad'dib! Kivi a-kavi, nakalas! Nakelas! Es sei gesegnet und gemessen, ukair-an, an den Herzschlägen, jan-jan-jan, unseres Freundes … Jamis.«

In einer abrupten und völligen Stille wandte sich Chani um und sah Paul an. Dann sagte sie: »Wo ich die Flamme bin, sollst du die Kohle sein. Wo ich der Tau bin, sollst du das Wasser sein.«

»Bi-lal kaifa«, murmelten die Fremen.

»Dieses Wasser geht an Paul-Muad'dib«, fuhr Chani fort. »Möge er es bewachen für den Stamm und es beschützen gegen die Unvorsichtigkeit. Möge er freigebig damit in Zeiten der Not umgehen. Möge er es zum Nutzen des Stammes bewahren.«

»Bi-lal kaifa«, wiederholten die Umstehenden.

Ich muß das Wasser annehmen, dachte Paul. Langsam stand er auf und bahnte sich einen Weg an Chanis Seite. Stilgar wich zurück, um ihm Platz zu machen und nahm ihm sanft das Baliset aus der Hand.

»Knie dich hin«, verlangte Chani.

Paul tat es.

Sie führte seine Hände über den Wassersack und hielt sie dort fest. »Der Stamm vertraut dir dieses Wasser an«, sagte sie. »Jamis benötigt es nicht mehr. Nimm es in Frieden.« Sie richtete sich wieder auf und zog Paul gleich mit sich.

Stilgar gab ihm das Baliset zurück und zeigte dabei eine Reihe metallener Ringe in der Handfläche. Paul schaute sie sich an. Sie hatten verschiedene Größen und im Licht des Leuchtglobus' glitzerten sie auf.

Chani nahm den größten der Ringe und zog ihn sich über einen Finger.

»Dreißig Liter«, sagte sie. Sie nahm die übrigen einen nach dem anderen, zeigte sie Paul und zählte sie dabei. »Zwei Liter; ein Liter; fünf Zehntelliter — insgesamt bedeuten diese Ringe dreiunddreißigsechzehntel Liter.«

Sie hielt die Hand hoch, damit er sie sehen konnte.

»Du nimmt sie an?« fragte Stilgar.

Paul schluckte. Schließlich nickte er. »Ja.«

»Später«, sagte Chani, »werde ich dir zeigen, wie man es in ein Tuch wickelt, ohne daß es klimpern kann und dich verraten, wenn du in einer Situation bist, in der es still sein muß.« Sie schloß die Hand wieder.

»Willst du es … solange für mich tragen?« fragte Paul.

Chani sah kurz Stilgar an.

Stilgar lächelte und sagte zu Chani: »Paul-Muad'dib, der Usul ist, kennt unsere Regeln noch nicht so genau. So trage denn seine Wasserringe ohne weitere Verpflichtung, bis es Zeit ist, ihm die richtige Tragweite zu erklären.«

Chani nickte, nahm einen Tuchstreifen aus ihrer Robe, zog die Metallringe wie Perlen darüber, zögerte und ließ sie schließlich wieder verschwinden.

Ich habe irgend etwas verpaßt, dachte Paul. Er spürte die leichte Amüsiertheit der ihn umgebenden Menschen, sah in ihrem Lächeln eine Art gutmütigen Spott und wußte plötzlich, was er getan hatte: Wasserringe an eine Frau abgeben — das konnte nur eine Art Liebeswerbung darstellen.

»Wassermeister«, sagte Stilgar.

Der Trupp erhob sich mit raschelnden Roben. Zwei Männer kamen aus der Menge zum Vorschein und hoben den Wassersack. Stilgar nahm den Leuchtglobus und führte sie aus der Höhle hinaus.

Paul, der hinter Chani ging, sah, wie das Licht über gezackte Felsvorsprünge fiel, sah das Tanzen der Schatten und fühlte, daß die Truppe in beinahe euphorischer Stimmung marschierte. Jessica, eingekeilt zwischen einer Reihe von Männern, wurde beinahe von Panik ergriffen. Sie hatte eine Anzahl von Fragmenten des Ritus erkannt und eine Reihe von Bedeutungen der Chakobsa und Bhotani-Jib aus den Worten herausgelesen, und ihr wurde plötzlich bewußt, welche Gewalt daraus erwachsen konnte.

Jan-jan-jan, dachte sie. Vorwärts, vorwärts, vorwärts!

Es war wie ein Kinderspiel, das in den Händen Erwachsener seine ursprüngliche Bedeutung verloren hatte.

An einer gelben Felswand hielt Stilgar an, drückte auf einen Vorsprung. Die Wand glitt lautlos zurück und öffnete sich zu einer gewöhnlichen Spalte. Er führte sie an einem Gestell entlang, das wabenförmig war und aus dem ein kühler Luftzug blies.

Paul warf Chani einen fragenden Blick zu und berührte ihren Arm. »Die Luft schien mir feucht zu sein«, meinte er.

»Pscht«, flüsterte Chani.

Hinter ihnen sagte ein Mann: »Ganz schön viel Feuchtigkeit heute abend in der Falle. Jamis zeigt uns damit an, daß er mit uns zufrieden ist.«

Als Jessica die geheime Tür passierte, hörte sie, wie sie sich hinter ihr schloß. Die Fremen verlangsamten ihren Schritt, als sie in die Nähe des Gestells kamen, unweigerlich konnte auch sie sich der Kühle nicht entziehen.

Eine Windfalle, dachte sie. Irgendwo an der Oberfläche haben sie eine Windfalle versteckt aufgebaut und leiten die Luft in kühlere Bereiche hinunter, wo sie ihr die Feuchtigkeit entnehmen.

Erneut passierten sie einen Eingang, der sich hinter ihnen schloß. Der Luftzug, der ihnen zuteil wurde, war herrlich. An der Spitze des Zuges begann Stilgar, der den Leuchtglobus noch immer trug, bergab zu gehen. Paul spürte plötzlich Stufen unter den Füßen, die sich nach links unten wandten. Das Licht beschien jetzt die Kapuzen zahlreicher Menschen, die über eine spiralförmige Treppe nach unten kletterten.

Jessica spürte die anwachsende Spannung der Fremen in ihrer Nähe. Die beinahe bedrückende Stille zerrte an ihren Nerven.

Die Stufen endeten, und der Trupp passierte eine weitere Tür. Der große Raum, in den sie jetzt kamen, verschluckte das Licht in Stilgars Hand fast völlig. Hoch über ihnen wölbte sich ein stark gekrümmter Felsendom.

Paul fühlte Chanis Hand auf seinem Arm, hörte ein mattes Tröpfeln in der kühlen Luft und nahm das ehrfürchtige Schweigen der Männer wahr, die sich in einer Kathedrale befanden, in der es Wasser gab.

Ich habe diesen Ort in einem Traum gesehen, dachte er.

Der Gedanke war erhebend und frustrierend zugleich. Irgendwo, irgendwann in der Zukunft, würden sich fanatische Kämpferhorden ihren Weg durch das Universum brennen — in seinem Namen. Das grüne Banner der Atreides würde zu einem Symbol des Terrors werden. Wilde Legionen würden in Schlachten ziehen und dabei würde ihr Kriegsruf sein: »Muad'dib!«

Das darf nicht sein, dachte Paul. Ich werde das verhindern müssen.

Aber dennoch konnte er fühlen, wie es in ihm zog und zerrte, daß etwas ihn einem schrecklichen Ziel entgegensteuerte und gleichzeitig sah er mit aller Schärfe, daß nichts in der Lage war, sich diesem Moloch zu widersetzen. Wucht und Triebkraft. Selbst wenn er in diesem Moment starb, war damit das Schicksal seiner Mutter und seiner ungeborenen Schwester nicht besiegelt. Wenn er etwas aufhalten wollte, erforderte es nicht weniger als den Tod aller, die jetzt um ihn herum versammelt waren, ihn, seine Mutter und deren ungeborene Tochter eingeschlossen.

Paul sah sich um und registrierte, daß die Fremen nach rechts und links weitergingen, bis sie in einer Linie vor einer Felsbarriere standen. Paul beugte sich vor. Im Schein von Stilgars Lampe erkannte er eine dunkle Wasserfläche, die sich so weit in die Schatten hinein erstreckte, daß ihr anderes Ende mindestens einhundert Meter entfernt war.

Jessica fühlte angesichts dieser Wassermenge ein trockenes Ziehen auf ihren Wangen und der Stirn. Der Wasserspiegel lag tief unter ihr, und obwohl sie die Tiefe spüren konnte, mußte sie sich zurückhalten, um nicht die Hand auszustrecken.

Links von ihr plätscherte etwas. Als sie an der schattenhaften Linie der Fremen entlangsah, erkannte sie Stilgar und Paul, die neben den Wassermeistern standen, die gerade den Inhalt des Wassersacks durch einen Trichter schütteten. Bevor das Wasser ins Becken lief, betätigte es den Zeiger eines Meßgerätes, der genau bei der vorher angegebenen Menge stehenblieb.

Was Wasser angeht, dachte Jessica, so messen sie es genau. Ihr fiel auf, daß auf der Innenseite des Trichters nicht der geringste Tropfen zurückblieb. Die Flüssigkeit lief an der glatten Fläche hinab, ohne den kleinsten Widerstand zu treffen. Nun wurde ihr bewußt, auf welcher Prämisse die Technologie der Fremen basierte: sie waren ganz einfach Perfektionisten.

Sie bahnte sich einen Weg zu Stilgar. Die Männer machten ihr ehrerbietig Platz. Pauls Blick sah etwas gedankenverloren aus aber das Geheimnis dieser Wasseransammlung beschäftigte sie in diesem Augenblick weitaus mehr.

Stilgar maß sie mit einem Blick. »Es waren einige unter uns, die dringend Wasser brauchten«, erklärte er. »Aber dennoch wären sie nicht hierhergekommen, um welches aus diesem Becken zu schöpfen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Ich glaube es«, erwiderte sie.

Stilgar schaute auf das Becken. »Wir haben hier mehr als achtunddreißig Millionen Dekaliter«, fuhr er fort. »Es ist hier vor den kleinen Bringern geschützt. Es ist versteckt und bewacht.«

»Eine Schatzkammer«, nickte Jessica.

Stilgar hob die Lampe, um ihr besser in die Augen blicken zu können. »Es ist weit mehr als ein Schatz. Wir besitzen Tausende solcher Höhlen, aber nur ein paar von uns kennen alle.« Er deutete mit dem Kopf zur Seite, und das Licht warf einen leuchtend roten Schatten über sein bärtiges Gesicht. »Hörst du das?«

Sie lauschten.

Wasser tröpfelte aus der Windfalle und plätscherte in das Bassin. Das Geräusch schien den ganzen Raum auszufüllen. Es fiel Jessica auf, daß der ganze Trupp diesem Geräusch zuhörte. Nur Paul schien noch immer völlig versunken zu sein.

Für ihn hörte sich das Tröpfeln an wie das Ticken einer Uhr, die anzeigte, wie die Zeit verstrich. Er fühlte, wie die Zeit ihn durchfloß, wie die Momente vergingen ohne jemals wieder zurückzukehren. Es drängte ihn danach, etwas zu tun, aber er war zu keiner Bewegung fähig.

»Wir haben alles genauestens ausgerechnet«, erklärte Stilgar mit lauter werdender Stimme. »Wir wissen bis auf eine Million Dekaliter genau, wieviel wir brauchen werden. Und wenn wir es haben, wird es das Angesicht des Planeten verändern.«

Die Fremen flüsterten zustimmend: »Bi-lal kaifa.«

»Wir werden die Dünen bepflanzen, damit sie nicht mehr fortlaufen können«, fuhr Stilgar fort. »Und wir bewahren das Wasser mit Hilfe von Bäumen und Büschen im Boden.«

»Bi-lal kaifa«, erwiderten die Fremen.

»Von Jahr zu Jahr zieht sich das Polareis zurück«, sagte Stilgar.

»Bi-lal kaifa«, sangen die Männer.

»Wir werden eine Heimat aus Arrakis machen, mit Schmelzlinsen an den Polen, mit Seen in den gemäßigten Zonen. Die Wüsten werden nur noch weit draußen existieren, für den Bringer und das Gewürz.«

»Bi-lal kaifa.«

»Und kein Mensch wird jemals wieder nach Wasser dürsten. Jeder soll das aus Brunnen, Teichen, Seen oder Kanälen schöpfen können, was er will. Das Wasser wird durch die Qanats fließen und unsere Pflanzen bewässern. Es wird da sein, für jeden, der es braucht. Und es wird ihm gehören, wenn er nur die Hand ausstreckt.«

»Bi-lal kaifa.«

Jessica spürte das religiöse Ritual in seinen Worten und stellte fest, daß sie, gleich den anderen, jedesmal mit den gleichen Worten der Bestätigung geantwortet hatte. Sie haben mit der Zukunft einen Pakt geschlossen, dachte sie. Sie haben sich einen Berg dahingestellt, den sie zu erklimmen bereit sind. Dies ist der Wunschtraum eines jeden Wissenschaftlers … und diese einfachen Leute, dieses Wüstenvolk ist davon erfüllt.

Sie dachte an Liet-Kynes, den planetaren Ökologen des Imperators zurück, dem Mann, der sich den Eingeborenen angepaßt hatte. Und sie wunderte sich über ihn. Dies alles war ein Traum, der die Seelen der Menschen für sich gefangennahm, und sie glaubte, die Hand des Ökologen dahinter zu verspüren. Es war ein Traum, für den Menschen gerne bereit waren zu sterben. Und das gehörte zu den wichtigsten Voraussetzungen, derer ihr Sohn dringend benötigte: ein Volk mit einem Ziel. Es würde nicht schwer sein, ein solches Volk zu begeistern und mitzureißen; sie würden sich leicht in das Schwert verwandeln lassen, das Paul benötigte, wollte er den ihm zustehenden Platz zurückerobern.

»Wir werden jetzt gehen«, sagte Stilgar, »und darauf warten, daß der erste Mond aufgeht. Wenn Jamis sicher auf seinem Weg ist, gehen auch wir nach Hause.«

Zustimmend murmelnd warfen die Männer noch einen sehnsüchtigen Blick auf das Bassin und machten sich dann wieder an den Aufstieg.

Paul, der hinter Chani ging, spürte jetzt, daß ein bestimmter Moment an ihm vorübergezogen war, ohne daß er eine grundsätzliche Entscheidung getroffen hätte. Er war ganz in seinem eigenen Mythos gefangen. Ihm war sicher, daß er diesen Ort bereits vorher gesehen und in einem Fragment eines Voraustraums auf Caladan erforscht hatte. Jetzt mußte er jedoch feststellen, daß der Platz ihm Details gezeigt hatte, die ihm unbekannt gewesen waren. Irgendwie berührten ihn die Grenzen seiner Kraft mit einem unverständlichen Schauder. Er kam sich vor, als ritte er auf einem Zeitstrom, manchmal in seiner Mitte, manchmal an seinem Rand, während links und rechts, oben und unten weitere Ströme dahinjagten, die ihm die Sicht versperrten.

Egal, wie er sich auch auf ihm bewegte: Überall vor ihm war der Djihad, die Gewalt, das Gefecht.

Durch die letzte Tür schlüpfte die Truppe wieder in die Haupthöhle hinein. Der Eingang wurde wieder versiegelt. Man löschte das Licht, entfernte die Vorhänge vom Ausgang und sah hinaus auf das Land, wo nun die Sterne sichtbar wurden.

Jessica näherte sich dem Loch und starrte hinauf zum Himmel.

Die Sterne leuchteten scharf und schienen nahe. Die Unruhe, die die Männer nun befiel, blieb ihr nicht verborgen. Irgendwo hinter ihr wurde das Baliset gestimmt, dann summte Pauls Stimme einen bestimmten Ton. In ihm lag eine Melancholie, die sie nicht gerne hörte.

Aus dem Hintergrund der Höhle sagte Chanis Stimme: »Erzähle mir von den Wassern deiner Heimatwelt, Paul-Muad'dib.«

Und Paul erwiderte: »Ein anderesmal, Chani. Das verspreche ich dir.«

Welche Trauer.

»Es ist ein gutes Instrument«, sagte Chani.

»Sehr gut«, gab Paul zu. »Glaubst du, Jamis hätte etwas dagegen, wenn ich auf ihm spielte?«

Er spricht von dem Mann, als sei er noch am Leben, dachte Jessica. Irgendwie störte sie das.

Ein anderer Mann sagte: »Er hat Musik immer gern gehört.«

»Dann sing' mir eines eurer Lieder«, bat Chani.

Soviel weibliches Verhalten in der Stimme eines Kindes, dachte Jessica. Ich muß Paul vor ihren Frauen warnen … und das bald.

»Es gibt da ein Lied, das ein Freund von mir geschrieben hat«, sagte Paul. »Ich nehme an, daß er nicht mehr lebt. Sein Name war Gurney. Und er nannte dieses Stück sein Abendlied.«

Die Fremen wurden still und hörten zu, wie Pauls Jungenstimme anhub und seine Finger über die Saiten des Instruments strichen.

»Der Augenblick, in dem die Funken stieben.

Goldglänzender Verlust der Sonne

im ersten Dämmer.

Wo helle Sinne Düfte riechen.

Ist er wert der Erinnerung?«

Jessica fühlte, wie die Worte und die Musik ihre Brust zusammenschnürten. Die Klänge brachten sie zum Zittern, und unerwartet wurde sie sich ihrer eigenen körperlichen Bedürfnisse bewußt. Schweigsam und gespannt hörte sie zu.

»Das Glitzern der Nacht

ist für uns!

Welchen Freuden sehen wir entgegen.

Der Glanz in deinen Augen …

Welch blumensüße Liebe

bewegt unsere Herzen.

Welch blumensüße Liebe

erweckt in uns die Sehnsucht.«

Als er geendet hatte, dachte Jessica: Warum singt mein Sohn ein Liebeslied für dieses Mädchenkind? Plötzliche Furcht machte sich in ihr breit. Sie hatte Angst, daß das Leben an ihr vorbeifloß, ohne daß sie etwas davon abbekam. Warum hat er sich ausgerechnet dieses Lied ausgesucht? fragte sie sich. Manchmal soll man seinen Instinkten Glauben schenken. Warum hat er das getan?

Auch Paul saß schweigend in der Dunkelheit und dachte nach. Es war nur ein einziger Gedanke, der ihn in seiner Gewalt hatte. Meine Mutter ist meine Feindin. Sie weiß nichts davon, aber sie ist es trotzdem. Sie ist diejenige, die den Djihad bringen wird. Sie hat mich geboren und ausgebildet. Sie ist meine Feindin geworden.

13

Das Konzept des Fortschritts handelt wie ein Schutzmechanismus, um uns vor den Schrecken der Zukunft zu bewahren.

Aus ›Gesammelte Weisheiten des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


An seinem siebzehnten Geburtstag tötete Feyd-Rautha Harkonnen während der Familienspiele seinen einhundertsten Sklaven-Gladiator. Zu diesem Anlaß waren einige Besucher vom Hof des Imperators zur Heimatwelt der Harkonnens nach Giedi Primus gekommen: ein Graf und eine Lady Fenring. Man lud sie ein, den Nachmittag mit der Familie in der goldenen Loge oberhalb der Arena zu verbringen.

Zu Ehren des Wiegenfestes des na-Barons und zum Zweck, die anderen Harkonnens daran zu erinnern, daß Feyd-Rautha in der Erbfolge der nächste war, hatte man außerdem einen allgemeinen Feiertag ausgerufen. Der alte Baron hatte ein Dekret erlassen, daß jedermann der Arbeit fernzubleiben hatte, und konnte auf diese Weise ein angebliches Zeugnis seiner Beliebtheit vorweisen: auf allen Straßen, Plätzen und Häusern wehten die Flaggen. Zur Feier des Tages hatte man zudem keine Ausgaben gescheut, um die Fronten der Allee, die zu seinem Palast führten, neu anzustreichen.

Dennoch blieben dem Grafen und seiner Lady abseits der Hauptstraßen nicht die elenden und windschiefen Hütten verborgen, in denen die gemeine Bevölkerung dahinvegetierte. Die Viertel der Massen waren heruntergekommen und überbevölkert.

In der blauen Kuppel herrschte eine beinahe beängstigende Perfektion, aber auch hier sah der Graf, welchen Preis der Baron dafür zahlte. Überall standen Wächter herum, deren Waffen keinesfalls den Eindruck machten, als seien sie nur für Paradezwecke entworfen worden. Es gab unzählige Hindernisse zu überwinden, bis man ihre Reihen durchquert hatte, aber auch dann noch, wenn man die hartgesichtigen Männer hinter sich hatte, war man aus ihrem Machtbereich nicht heraus. Auch die einfachen Bediensteten waren trainierte Soldaten. Ihre Bewegungen und die Art, in der sie ihre Augen wachsam in Bewegung hielten, verrieten sie.

»Es fängt erst an«, flüsterte der Graf seiner Lady in einer Kodesprache zu. »Offenbar fängt der Baron jetzt erst an zu sehen, was er sich mit Herzog Leto wirklich auf den Hals geladen hat.«

»Irgendwann«, erwiderte seine Frau, »werde ich noch einmal die Legende des Phoenix hervorholen müssen.«

Sie befanden sich jetzt in der Empfangshalle der Kuppel, die den Familienspielen diente. Die Halle war nicht groß, vielleicht vierzig Meter lang und zwanzig Meter breit, wirkte aber durch geschickt angebrachte falsche Säulen und einem Spiegeldach viel weiträumiger.

»Ah, da kommt der Baron ja«, sagte der Graf.

Mit den unverkennbaren Bewegungen, zu die ihn seine Sensoren zwangen, näherte sich der Baron seinen Gästen. Er konnte nicht verhindern, daß sich seine Schultern hoben und senkten, während die Geräte, die sein Gewicht verringerten unter seiner orangefarbenen Robe hüpften. An seinen Fingern glitzerte ein ganzes Arsenal von Ringen. Opalfeuersteine waren zusätzlich in seinen Umhang eingewoben.

Neben dem Baron tänzelte Feyd-Rautha. Man hatte sein Haar zu kurzen Löckchen frisiert, was bei seinem schmachtenden Schlafzimmerblick einen beinahe grotesken Eindruck erweckte. Er trug eine enge Robe, ebensolche Hosen mit weiten Schlägen und ein Paar Schnabelschuhe, an deren Spitzen kleine Glöckchen bimmelten.

Lady Fenring, die ihn eingehend musterte, fiel das Spiel seiner Muskeln auf und sie dachte: Das ist ein Mann, der streng darauf achtet, daß er nicht eines Tages fett wird.

Der Baron blieb vor ihnen stehen, grabschte besitzergreifend nach dem Arm seines Begleiters und stellte ihn vor: »Mein Neffe, der na-Baron; Feyd-Rautha Harkonnen.« Er wandte Feyd-Rautha sein feistes Babygesicht zu und erklärte: »Das sind Graf und Lady Fenring. Ich habe dir bereits von Ihnen erzählt.«

Mit der gebührenden Ehrerbietung senkte Feyd-Rautha den Blick. Dann starrte er Lady Fenring an, eine aschblonde gertenschlanke Dame, deren Körper ihre Kleider mit einer nahezu unglaublichen Perfektion ausfüllte. Graugrüne Augen erwiderten seinen Blick. Das sirenenhafte Äußere der Gräfin schien den jungen Mann ziemlich zu verwirren.

»Ähmmmm«, meinte der Graf und musterte Feyd-Rautha. »Dieser … hmmm, spezielle junge Mann, äh, mein … lieber …« Er warf dem Baron einen Blick zu. »Mein lieber Baron, Sie sagten, daß Sie diesem speziellen jungen Mann von uns erzählt haben? Darf man fragen, was?«

»Ich berichtete meinem Neffen, wie stark Sie in der Gunst unseres Imperators stehen, Graf Fenring«, erwiderte der Baron und dachte: Präge ihn dir gut ein, Feyd! Ein Killer mit dem Gebaren eines Kaninchens ist der gefährlichste seiner Art.

»Natürlich«, lächelte der Graf und wechselte einen Blick mit seiner Frau.

Feyd-Rautha fand die Bewegungen und die Art, in der der Graf sprach, in erster Linie beleidigend. Er hielt sich zu lange bei Dingen auf, die keines öffentlichen Interesses bedurften, und das führte dazu, daß der junge Mann sich auf ihn konzentrierte. Der Graf war ein kleiner Mann, und er machte einen schwächlichen Eindruck. Sein Gesicht erinnerte an das eines Wiesels mit übergroßen, dunklen Augen. Er hatte graue Schläfen. Und dann seine Bewegungen — er sprach mit den Händen, und es war keine Einheit in dem, wie er den Kopf beim Sprechen bewegte. Es war nicht einfach, ihm zu folgen.

»Ähmmm … diese Genauigkeit, hm, des Ausdrucks …«, meinte der Graf, »ist … hm … wirklich selten. Ich gratuliere Ihnen jedenfalls zu Ihrem … äh … glänzenden, hm, Erben.« Er schaute dem Baron dabei nicht ins Gesicht, sondern schien dessen Schulter anzusprechen. »Er … äh … steht ganz im, hm, Licht seines älteren Bruders, könnte man fast sagen.«

»Sie sind zu freundlich«, erwiderte der Baron und verbeugte sich. Feyd-Rautha sah deutlich, daß die Augen seines Onkels der Freundlichkeit seiner Worte nicht im geringsten entsprachen.

»Wenn Sie, hm, ironisch sind«, erwiderte der Graf, »kann das … äh … nur bedeuten, daß Sie von tiefgreifenden Gedanken, hm, bewegt sind.«

Da ist es schon wieder, dachte Feyd-Rautha. Es klingt wirklich als wolle er uns beleidigen. Aber man kann ihn nicht packen. Er liefert keinen Grund zu einer Herausforderung.

Wenn er diesem Mann noch weiter zuhörte, würde er möglicherweise verblöden. Ähmmmmmmmmm! Feyd-Rautha wandte sich von ihm ab und schenkte seine ganze Aufmerksamkeit Lady Fenring.

»Wir … äh … nehmen zuviel Zeit dieses jungen Mannes in Anspruch«, sagte sie jetzt. »Ich habe vollstes Verständnis dafür, daß er heute noch in der Arena auftreten muß.«

Bei allen Huren des Kaiserlichen Harems, sie ist lieblich! dachte Feyd-Rautha. Er sagte: »Heute werde ich für Sie töten, Mylady. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich diese Widmung von der Arena aus bekanntgeben.«

Lady Fenring erwiderte seinen Blick, aber ihre Stimme klang spröde, als sie entgegnete: »Meine Erlaubnis haben Sie nicht.«

»Feyd!« sagte der Baron und dachte: Diese Mißgeburt! Will er etwa darauf hinaus, daß der Graf ihn fordert?

Aber Fenring lächelte nur und sagte: »Hmmm. Hmmm.«

»Du mußt dich jetzt aber wirklich für die Arena vorbereiten, Feyd«, fuhr der Baron fort. »Du mußt ausgeruht sein, damit du keine sinnlosen Risiken eingehst.«

Feyd-Rautha verbeugte sich. Er war blaß vor Wut. »Ich zweifle nicht daran, daß alles so abläuft, wie du es dir wünschst, Onkel.« Er nickte Graf Fenring zu. »Sir.« Und zu seiner Gemahlin: »Mylady.« Er wandte sich ab und durchquerte die Halle, wobei er den Kleinen Familien, die in der Nähe des Eingangs saßen, keinen Blick zuwarf.

»Er ist noch so jung«, seufzte der Baron.

»Ähmmm, in der Tat, hmmm«, meinte der Graf.

Und Lady Fenring dachte: Kann das der junge Mann sein, den die Ehrwürdige Mutter meinte? Ist das die Blutlinie, die wir erhalten sollen?

»Uns bleibt noch mehr als eine Stunde, bevor wir uns in die Arena begeben können«, erklärte der Baron. »Vielleicht sollten wir die Gelegenheit nutzen und unser kleines Gespräch jetzt führen, Graf Fenring.« Er deutete mit seinem fetten Schädel nach rechts. »Es gibt eine Menge Dinge, die wir zu diskutieren hätten.«

Und er dachte: Ich bin gespannt, welche Nachrichten mir dieser kaiserliche Laufbursche bringt, und vor allem interessiert mich, in welchem Tonfall er versuchen wird, mit mir zu reden.

Seiner Frau zugewandt meinte Fenring: »Du … äh … entschuldigst uns solange, meine Liebe?«

»Jeder Tag, manchmal sogar jede Stunde, bringt einen Wechsel«, entgegnete sie. »Hmmm.«

Sie lächelte dem Baron zu, bevor sie ging. Ihre langen Kleider raschelten, als sie sich in Richtung auf die Doppeltür am Ende der Halle in Bewegung setzte.

Der Baron registrierte, wie die Gespräche der Gäste aus den Kleinen Häusern verstummten und wie die Menschen ihr mit den Blicken folgten. Eine Bene Gesserit! dachte er. Das Universum sollte sich dieser ganzen Inzucht am besten entledigen.

»Zwischen den beiden Säulen da hinten befindet sich ein Gesprächsfeld«, sagte er zu Graf Fenring. »Dort können wir uns ohne Gefahr unterhalten.«

Er ging in seinem unnachahmlichen Watschelgang voraus. Mit jedem Schritt, dem sie dem Feld näherkamen, wurden die Geräusche innerhalb der Kuppel leiser.

Der Graf nahm neben dem Baron Aufstellung. Beide drehten sich mit dem Gesicht zur Wand, damit niemand von ihren Lippen ablesen konnte.

»Wir sind überhaupt nicht zufrieden mit der Art, in der sie den Sardaukar befohlen haben, Arrakis zu verlassen«, begann der Graf.

Er nimmt kein Blatt vor den Mund! dachte der Baron.

»Ich konnte sie einfach nicht länger auf Arrakis lassen, wenn ich verhindern wollte, daß andere herausfinden, inwiefern der Imperator mir beigestanden hat«, erwiderte er.

»Aber Ihr Neffe Rabban scheint uns nicht der rechte Mann zu sein, um mit dem Problem der Fremen fertig zu werden.«

»Was wünscht der Imperator?« fragte der Baron. »Die Fremen sind nicht mehr als eine Handvoll Leute. Die südliche Wüste ist völlig unbewohnbar und die nördliche wird regelmäßig von unseren Patrouillen durchkämmt.«

»Wer sagt, daß die südliche Wüste unbewohnbar ist?«

»Ihr eigener Planetologe sagt das, mein lieber Graf.«



»Aber Dr. Kynes ist tot.«

»Ah, ja … das stimmt leider.«

»Wir haben von jemandem, der die südlichen Bezirke überflogen hat, die Nachricht erhalten, daß es dort eine Menge pflanzliches Leben geben soll«, sagte der Graf.

»Hat die Gilde endlich eingewilligt, den Planeten vom Weltraum aus zu beobachten?«

»Sie sollten besser informiert sein, Baron. Auf legale Weise ist es dem Imperator unmöglich, einen Posten auf Arrakis zu stationieren, um den Planeten zu beobachten.«

»Und ich kann es mir nicht leisten«, meinte der Baron. »Wer hat diesen Flug unternommen?«

»Ein … Schmuggler.«

»Irgend jemand hat Sie angelogen, Graf«, entgegnete der Baron. »Auch die Schmuggler können über den südlichen Gebieten nicht besser navigieren als Rabbans Leute. Statische Stürme und ähnliche Dinge hindern sie daran. Navigationsgeräte fallen in diesen Zonen schneller aus, als man sie ersetzen kann.«

»Lassen Sie uns die Phänomene der Statik ein anderesmal diskutieren«, meinte der Graf.

Ahhh, dachte der Baron. »Haben Sie irgendwelche Fehler in meinen Abrechnungen gefunden?«

»Wenn Sie an Fehler denken, kann es keine Selbstverteidigung geben«, gab der Graf zurück.

Er legt es darauf an, meinen Ärger herauszufordern, wurde dem Baron klar. Er atmete zweimal tief durch, um die Ruhe zu bewahren. Er konnte plötzlich seinen eigenen Schweiß riechen, und die Suspensoren unter seiner Robe klebten an ihm wie Steine.

»Der Imperator dürfte an sich nicht unglücklich über den Tod des Jungen und Letos Konkubine gewesen sein«, begann er. »Sie flohen in die Wüste. Genau in einen Sturm hinein.«

»Es hat wirklich eine Reihe seltsamer Unfälle gegeben«, gab der Graf zu.

»Ihr Tonfall gefällt mir nicht, Graf«, knirschte der Baron.

»Zorn ist eine Sache — und Gewalt eine andere«, erwiderte der Graf. »Ich warne Sie: Sollte mir zufälligerweise ein Unfall zustoßen, solange ich mich auf Giedi Primus aufhalte, wird alle Welt erfahren, was sich auf Arrakis abgespielt hat. Es interessiert die Leute schon lange, auf welche Art Sie Ihre Geschäfte abwickeln.«

»Das letzte Geschäft an das ich mich erinnern kann«, sagte der Baron, »war der Transport einer Reihe von Sardaukar-Legionen nach Arrakis.«

»Und Sie glauben, damit könnten Sie dem Imperator drohen?«

»Ich würde nicht einmal im Traum daran denken!«

Der Graf lächelte. »Es wäre kein Problem, einige Kommandeure der Sardaukar ausfindig zu machen, die beeiden, ohne Befehl gehandelt zu haben, ganz einfach, weil sie darauf brannten, eine Schlacht gegen die Fremen zu schlagen.«

»Einige werden das anzweifeln«, erwiderte der Baron, aber die Antwort Fenrings hatte ihn dennoch gehörig verunsichert. Ob die Sardaukar wirklich einer solchen Disziplin unterworfen sind? fragte er sich.

»Der Imperator wünscht, daß Ihre Bücher überprüft werden«, erklärte der Graf.

»Jederzeit.«

»Sie … äh … haben keine Einwände?«

»Keine. Meine Stellung als Mitglied des Direktoriums der MAFEA verlangt von mir, selbst die akribischsten Nachforschungen zu erdulden.«

Und er dachte: Ich werde schon dafür sorgen, daß man ihm Material unterschiebt, das für eine Anklage reicht und das ich dennoch leicht entkräften kann. Und dann werde ich mich wie Prometheus hinstellen und sagen: »Schaut mich an; man hat mir ein Unrecht getan.« Danach kann er aufs Tapet bringen, was er will. Und auch wenn es stimmt — welches der Hohen Häuser wird einem Ankläger Glauben schenken, der bereits beim ersten Anklagepunkt versagte?

»Fraglos werden Ihre Bücher dann allen Überprüfungen standhalten«, murmelte Fenring.

»Welches Interesse hat der Imperator an der Vernichtung der Fremen?« fragte der Baron plötzlich.

»Sie möchten gerne das Thema wechseln, wie?« gab der Graf zurück. Er zuckte die Achseln. »Es sind die Sardaukar, die daran interessiert sind, nicht der Imperator. Sie benötigen eine gewisse Tötungspraxis. Und sie hassen es, eine Chance ungenutzt verstreichen zu lassen.«

Glaubt er, mich damit erschrecken zu können, indem er mich daran erinnert, daß diese blutdürstigen Killer ihn unterstützen? fragte sich der Baron.

»Natürlich kann es ganz gut sein, wenn die Sardaukar eine Trainingsmöglichkeit wahrnehmen«, sagte er, »aber irgendwo muß man schließlich eine Grenze ziehen. Irgend jemand muß schließlich die Gewürzarbeit tun.«

Der Graf lachte kurz und bellend. »Sie glauben in der Lage zu sein, die Fremen zu bändigen?«

»Sie waren niemals genug, um ein solches Vorhaben zu rechtfertigen«, gab der Baron zurück. »Aber die Kämpfe haben dazu geführt, daß sich der Rest der Bevölkerung auf Arrakis sehr unsicher fühlt. Es ist jetzt soweit, daß ich versuchen muß, das Arrakis-Problem auf andere Weise zu lösen, mein lieber Fenring. Und ich kann Ihnen sagen, daß ich diese Inspiration unserem geliebten Imperator verdanke.«

»Bitte?«

»Es war Salusa Secundus, der kaiserliche Gefängnisplanet, der mich dazu inspirierte, Graf.«

Fenring starrte ihn mit glitzernden Augen an. »Würden Sie mir bitte verraten, wo Sie einen Zusammenhang zwischen Salusa Secundus und Arrakis sehen?«

Der Baron spürte die Alarmiertheit in Fenrings Augen und erwiderte: »Bis jetzt gibt es noch keinen.«

»Bis jetzt?«

»Stellen Sie sich nur einmal vor, man würde auf Arrakis spezielle Arbeitsbedingungen schaffen — indem man den Planeten als Gefängniswelt benutzt.«

»Sie erwarten einen Anstieg an Häftlingen?«

»Es hat Unruhen gegeben«, erklärte der Baron. »Ich habe die Leute hier ganz schön ausquetschen müssen, Fenring. Und außerdem wissen Sie, was ich der verdammten Gilde für den Transport unserer gemeinsamen Streitkräfte nach Arrakis zahlen mußte. Irgendwoher muß ich das Geld ja nehmen.«

»Ich nehme an, daß Sie nicht beabsichtigen, Arrakis ohne die Genehmigung des Imperators als Gefängnisplanet zu benutzen, Baron.«

»Natürlich nicht«, gab der Baron zurück. Die plötzliche Kälte in Fenrings Stimme entging ihm nicht.

»Kommen wir zu einer anderen Sache«, fuhr Fenring fort. »Wir haben herausgefunden, daß der Mentat von Herzog Leto, Thufir Hawat, nicht tot ist, sondern sich in Ihrem Gewahrsam befindet.«

»Ich brachte es einfach nicht über mich, einen Mann wie ihn zu verschwenden«, sagte der Baron.

»Sie haben, indem Sie behaupteten, Hawat sei tot, einen Kommandeur der Sardaukar angelogen.«

»Eine Notlüge, Graf. Ich hatte einfach nicht das Durchhaltevermögen, mich länger mit diesem Mann auseinanderzusetzen.«

»War Hawat der wirkliche Verräter?«

»Oh, um Himmels willen, nein! Es war dieser falsche Arzt.« Der Schweiß lief dem Baron jetzt in den Nacken, seine Haut juckte. »Sie müssen wissen, Fenring, daß ich ohne Mentat war. Aber das wissen Sie ja. Ich bin niemals ohne Mentat. Und damals war ich stark im Druck.«

»Wie haben Sie es geschafft, Hawat zur Zusammenarbeit zu bewegen?«

»Sein Herzog lebte nicht mehr.« Der Baron formte ein Lächeln. »Es gibt keinen Grund mehr, sich vor Hawat zu fürchten, mein Bester. Man hat seinen Körper mit einem latenten Gift durchsetzt. Seine Mahlzeiten enthalten regelmäßig ein Gegenmittel. Wenn er das nicht mehr erhält, ist er erledigt. Er würde in ein paar Tagen sterben.«

»Entziehen Sie ihm das Gegengift«, sagte der Graf.

»Aber der Mann ist nützlich!«

»Aber er weiß zu viele Dinge, die ein lebender Mann nicht wissen dürfte.«

»Sie haben selbst gesagt, daß der Imperator keinerlei Bloßstellungen zu fürchten braucht.«

»Halten Sie mich nicht für einen Narren, Baron!«

»Ich werde einem solchen Befehl erst dann gehorchen, wenn ich ihn schriftlich erhalte«, erwiderte der Baron störrisch. »Und zwar mit dem kaiserlichen Siegel. Aber ich bin nicht gewillt, Ihren Launen zu gehorchen.«

»Sie halten das für eine Laune?«

»Was sollte es sonst sein? Der Imperator, mein guter Fenring, hat auch mir gegenüber Verpflichtungen. Immerhin habe ich ihm diesen rebellischen Herzog vom Halse geschafft.«

»Mit Unterstützung einiger Sardaukar.«

»Wo hätte der Imperator ein Haus gefunden, das bereit gewesen wäre, seine Männer in andere Uniformen zu kleiden, damit es im dunkeln bleibt, wie weit seine Hand in dieser Sache steckt?«

»Er hat sich diese Frage schon selbst gestellt, Baron. Allerdings von einem anderen Standpunkt aus.«

Der Baron musterte Fenring eingehend. Ihm fiel auf, daß die Gesichtsmuskeln seines Gesprächspartners sich versteift hatten. Der Graf hielt sich unter vorsichtiger Kontrolle. »Ah«, knurrte der Baron. »Ich nehme an, daß der Imperator genau weiß, daß er gegen mich nicht so vorgehen kann wie gegen Leto.«

»Er hofft, daß es niemals dazu kommen muß.«

»Der Imperator kann doch nicht im Ernst glauben, daß ich ihn hintergehe!« Die Wut, die der Baron in seine Stimme legte, war nur gespielt, und innerlich dachte er: Das soll er mir nur in die Schuhe schieben! Ich wäre sogar in der Lage, mich auf den Thron zu werfen, mir auf die Brust zu trommeln und ihnen zu sagen, daß sie mich verkennen.

Die Stimme des Grafen klang trocken und beherrscht, als er sagte: »Der Imperator glaubt dem, was seine Sinne ihm sagen.«

»Und er würde es wagen, mich vor dem Konzil des Landsraad des Verrats zu bezichtigen?« Der Baron hielt den Atem an.

»Er wird es nicht nötig haben, irgend etwas zu wagen.«

Der Baron wirbelte im Schwerefeld seiner Suspensoren zur Seite, um seine Überraschung zu verbergen. Es könnte noch zu meinen Lebzeiten geschehen! dachte er. Imperator! Soll er es doch nur wagen! Mir könnte gar nichts Besseres passieren! Sie würden mir das Haus einrennen, denn nichts fürchten die anderen Familien mehr, als wenn der Imperator dazu übergeht, mit seinen Sardaukar gegen ein einzelnes Haus vorzugehen!

»Der Imperator hegt die Hoffnung, daß er niemals so weit zu gehen braucht«, sagte der Graf.

Es war einigermaßen schwierig, aus diesen Worten Ironie herauszulesen. Fenrings Worte klangen eher schmerzlich. Aber irgendwie konnte er es schon hinkriegen. »Ich bin immer einer seiner loyalsten Untertanen gewesen«, sagte der Baron. »Ihre Worte schmerzen mich mehr, als ich in einfachen Worten ausdrücken kann.«

»Hmmmm«, machte der Graf. »Hmmm.«

Der Baron drehte Fenring auch weiterhin den Rücken zu und nickte. Plötzlich sagte er: »Es ist Zeit, in die Arena hinüber zu gehen.«

»Tatsächlich«, erwiderte Fenring.

Sie verließen den abgeschirmten Bezirk der Halle und gingen nebeneinander auf die Gruppe der Angehörigen der Kleinen Häuser zu, die sich am Ende des Raumes versammelt hatte. Irgendwo im Innern der Kuppel wurde eine Glocke angeschlagen. Noch zwanzig Minuten bis zum Beginn.

»Die Kleinen Häuser erwarten, daß Sie sie anführen«, sagte Fenring und nickte den Leuten zu.

Wie doppelsinnig, dachte der Baron. Wie verflucht doppelsinnig.

Er schaute auf die neuen Talismane, die den Hallenausgang flankierten: der Stierschädel und das Ölgemälde des alten Herzog Atreides; Letos Vater. Sie erfüllten ihn mit einer dunklen Ahnung, und er fragte sich, welches Motiv Herzog Leto dazu inspiriert hatte, diese Dinge zuerst in seiner Halle auf Caladan und später auf Arrakis aufzuhängen: ein Gemälde seines Vaters und den Kopf des Stiers, der ihn getötet hatte.

»Die Menschheit verfügt, hm, nur über eine … äh … Wissenschaft«, sagte der Graf, nachdem die Gäste sich ihnen angeschlossen hatten und sie gemeinsam vor der Halle in den Warteraum gingen. Es war enger hier, die Fenster waren hoch und der Boden bestand aus gemusterten Platten von weißer und purpurner Farbe.

»Und welche Wissenschaft ist das?« fragte der Baron.

»Es ist die … äh … Wissenschaft der, hm, Unzufriedenheit«, erwiderte Fenring.

Die schafsnasigen Angehörigen der Kleinen Häuser hinter ihnen stießen ein erheitertes Gelächter aus, das gerade noch an der Grenze dessen lag, was der Baron tolerieren mußte. Glücklicherweise öffneten in diesem Moment die Pagen die Tür. Das Gelächter ging unter im Lärm anspringender Motoren. Die Wagen standen bereit. Bunte Wimpel flatterten im Wind.

Um die plötzliche Stille zu überbrücken, hob der Baron die Stimme und sagte: »Ich hoffe, daß Sie nicht mit der Vorstellung unzufrieden sind, die mein Neffe Ihnen heute bietet, Graf Fenring.«

»Ich bin, hm, lediglich von einer … äh … gewissen Vorahnung erfüllt«, gab der Graf zurück. »Wie bei einer, hm, Proces Verbal, bei der man noch nicht weiß, gegen wen sie, hm, gerichtet ist.«

Es war nur den vor ihnen liegenden Treppenstufen, die der Baron mit festen Schritten nahm, zu verdanken, daß niemand etwas von seiner völligen Verblüffung wahrnahm. Eine Proces Verbal! dachte er. Das ist ein Bericht über ein Verbrechen gegen das Imperium!

Der Graf grinste in einer Form, als habe er einen guten Witz gemacht und klopfte dem Baron beruhigend auf den Arm.

Während der Fahrt zur Arena saß der Baron die ganze Zeit über zwischen seinen bewaffneten Wagenbegleitern, warf mißtrauische Blicke auf Graf Fenring und fragte sich, was dieser Laufbursche des Imperators sich dabei gedacht haben mochte, einen solchen Witz ausgerechnet in Anwesenheit Angehöriger Kleiner Häuser zu machen. Hinter seinen Worten mußte etwas anderes stecken, denn Fenring war dafür bekannt, daß er niemals etwas tat, für das er kein Motiv besaß. Er benutzte nicht einmal zwei Worte, wo eines ausreichte.

Gemeinsam nahmen sie in der goldenen Loge über der Arena Platz. Fanfaren schmetterten. Die Ränge neben und unter ihnen waren mit Menschen gefüllt, die Fähnchen schwenkten. Und schließlich glaubte der Baron, die Antwort auf seine Frage gefunden zu haben.

»Mein lieber Baron«, sagte Fenring und näherte sich mit den Lippen dem Ohr des Barons, »Sie sind sich doch darüber im klaren, daß der Imperator die Wahl Ihres Erben noch nicht sanktioniert hat, nicht wahr?«

Am meisten überrascht war der Baron über die Tatsache, daß ihm Fenrings Worte auf der Stelle die Sprache verschlugen. Er starrte den Mann an und sah dabei aus den Augenwinkeln, wie sich Lady Fenring durch die Wachen zu ihrer Loge zwängte.

»Das ist der Hauptgrund, der mich hierhergeführt hat«, fuhr der Graf fort. »Der Imperator hat mich gebeten, ihm einen Bericht darüber zu geben, ob Sie sich für einen würdigen Nachfolger entschieden haben. Und bekanntlicherweise sagt ja nichts mehr über die Würdigkeit eines Mannes aus, als sein Verhalten in der Arena, wie?«

»Der Imperator hat mir zugesichert, daß ich meinen Erben selbst bestimmen kann!« knirschte der Baron.

»Wir werden sehen«, meinte Fenring und wandte sich ab, um seine Frau zu begrüßen. Sie nahm Platz, lächelte dem Baron zu und richtete ihre Aufmerksamkeit dann auf die mit Sand bestreute Arena, in der jetzt Feyd-Rautha erschien. Er trug einen enganliegenden Anzug und verschiedenfarbige Handschuhe: rechts einen schwarzen, in dem ein langes Messer blitzte: links einen weißen, in dem er eine kurze Klinge trug.

»Weiß symbolisiert das Gift und Schwarz die Unschuld«, sagte Lady Fenring. »Ein seltsamer Brauch, meinst du nicht auch, mein Lieber?«

»Hmm, hmm«, machte der Graf.

Von der Familiengalerie her erwies man Feyd-Rautha die Ehre mit lautem Jubel. Er blieb stehen und hob dann den Kopf, um zu sehen, wer dort alles saß. Er erkannte Vettern und Basen, Demibrüder und Konkubinen, sowie eine Reihe von Out-Freyn-Personen; Leute, die ihm auf den ersten Blick nicht bekannt erschienen. Die Fanfarenbläser gaben sich alle Mühe, seinem Einzug mit dem gebührenden Klang Unterstützung zu verleihen, während die übrigen Gäste, in bunte Farben gekleidet, unzählbare Fähnchen schwenkten.

Es wurde Feyd-Rautha in diesem Augenblick klar, daß all die Leute da oben viel lieber sein Blut als das des Sklaven-Gladiators auf diesem Grund würden fließen sehen. Natürlich gab es für ihn nicht den geringsten Zweifel am Ausgang des Kampfes. Aber dennoch …

Er hob die beiden Klingen der Sonne entgegen und salutierte dann — ganz wie es die alten Bestimmungen verlangten — einmal in jede der drei Ecken der Arena. Dann schob er das vergiftete Messer in die Scheide zurück. Prüfend wog er die andere Klinge in der Hand. Sie war seine Geheimwaffe und würde dafür sorgen, daß aus diesem Sieg ein ganz besonderer werden würde: auch an ihr klebte Gift.

Einen Augenblick später war sein Schild justiert, und er verhielt sich still, bis er sicher war, daß alles stimmte.

Obwohl dieser Moment seine eigene Spannung besaß, entledigte sich Feyd-Rautha ihr mit einer lässigen Handbewegung. Er nickte seinen Helfern und Ablenkern zu und überprüfte ihre Ausrüstung mit einem abschätzenden Blick. Die Fesseln mit den glänzenden, scharfen Metallspitzen waren an ihrem Platz und ebenso die Widerhaken.

Feyd-Rautha gab den Musikern ein Signal.

Ein langsamer Marsch begann, wohlklingend in altertümlichem Glanz, und Feyd-Rautha führte sein Gefolge quer durch die Arena auf die Loge seines Onkels zu, an deren Fuß er anhielt, um ihm seine Ehrerbietung zu erweisen. Dann fing er den zeremoniellen Schlüssel auf.

Die Musik verstummte.

In der plötzlichen Stille machte Feyd-Rautha zwei Schritte zurück, hob den Schlüssel hoch und rief: »Ich widme diese Wahrheit …« In einer kurzen Pause wurde ihm gewahr, daß sein Onkel jetzt sicher dachte: Der junge Narr wird eine Widmung für Lady Fenring aussprechen und damit einen Skandal heraufbeschwören!

»… meinem Onkel und Lehrmeister: Baron Wladimir Harkonnen!«

Und er war erfreut, seinen Onkel schluchzen zu sehen.

Die Musik setzte wieder ein. Sie spielte jetzt schneller, und Feyd-Rautha führte seine Männer zurück bis an die Prudenztür, die niemand durchqueren konnte, der nicht im Besitz des Identifikationsbandes war. Er war stolz darauf, die Tür noch nie benutzt zu haben. Ebensowenig setzte er äußerst selten Ablenker ein. Aber es war gut zu wissen, daß sie an einem Tag wie diesem für ihn bereitstanden. Manchmal erwuchsen aus speziellen Plänen spezielle Gefahren.

In der Arena wurde es jetzt wieder still.

Feyd-Rautha wandte sich um und musterte die große rote Tür ihm gegenüber. Aus ihr würde der Gladiator kommen.

Der Spezial-Gladiator.

Der Plan, den Thufir Hawat vorgeschlagen hatte, war simpel und direkt, erinnerte er sich. Der Sklave würde nicht unter Drogen stehen — und das war die Gefahr. Statt dessen hatte man ein Schlüsselwort in das Unterbewußtsein des Mannes hineingehämmert, das dazu führen würde, seine Muskeln zu einem gewissen Zeitpunkt zu lähmen. »Abschaum«, sagten die Lippen Feyd-Rauthas ohne den geringsten Ton von sich zu geben. Für das Publikum würde alles so aussehen, als hätte man einen Sklaven deswegen nicht mit Drogen vollgepumpt, weil er den na-Baron töten sollte. Und die ganze vorsichtig arrangierte Offensichtlichkeit würde auf den Sklavenmeister zurückfallen.

Ein leises Summen zeigte an, daß die Servomotoren, die die rote Tür bewegten, angelaufen waren.

Feyd-Rauthas Aufmerksamkeit war voll auf die Tür gerichtet. Der erste Moment würde der kritischste sein. Sobald der Gladiator erschien, war ein trainiertes Auge in der Lage, seine Chancen abzuschätzen. Da alle Gladiatoren durch die Einnahme der Elacca-Droge aufgeputscht und bereit zum Töten waren, war es wichtig, herauszufinden, in welcher Weise sie das Messer hielten oder sich in eine Verteidigungsstellung zurückzogen oder ob sie sich durch die Anwesenheit des Publikums auf den Rängen ablenken ließen. Schon allein die Art, in der ein Sklave den Kopf drehte, konnte aufschlußreich sein.

Die rote Tür flog auf.

Auf der Schwelle erschien ein hochgewachsener, muskulöser Mann mit kahlrasiertem Schädel und dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen. Seine Haut hatte — wie es die Elacca-Droge hervorrufen würde — eine rötliche Färbung angenommen. Allerdings wußte Feyd-Rautha, daß dies auf Farbe zurückzuführen war. Der Sklave trug grüne Hosen und den roten Gürtel eines Semischilds. Der auf seinem Gurt befestigte Zeiger deutete an, daß der Mann nur auf der linken Seite geschützt war. Das Messer hielt er wie ein Schwert, während seine Beine leicht gespreizt waren, wie bei einem erfahrenen Kämpfer. Langsam betrat er die Arena. Er wandte die schildgeschützte Seite Feyd-Rautha und den Leuten an der Prudenztür zu.

»Der Blick dieses Kerls gefällt mir nicht«, sagte einer von Feyd-Rauthas Helfern. »Sind Sie sicher, daß er unter Drogen steht, Mylord?«

»Das sieht man an der Färbung«, erwiderte Feyd-Rautha.

»Aber er steht da wie ein Kämpfer«, gab ein anderer der Männer zu bedenken.

Feyd-Rautha machte zwei Schritte nach vorn und sah sich den Sklaven näher an.

»Was ist mit seinem Arm passiert?« fragte einer der Ablenker.

Feyd-Rautha folgte dem Blick des Mannes und erkannte einen langen, verkrusteten Kratzer auf dem Unterarm des Gladiators. Er führte bis zum Handgelenk hinab und endete in einem eingeritzten Symbol, das er nur zu gut kannte.

Ein Habicht!

Feyd-Rautha schaute auf. Die Blicke der beiden Männer trafen sich. Der Sklave war aufs höchste gefaßt.

Er ist einer der Kämpfer des Herzogs. Einer der Männer, die wir auf Arrakis gefangennahmen, dachte Feyd-Rautha. Kein einfacher Gladiator! Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und er fragte sich, ob Hawat seinen Plan im allerletzten Moment geändert hatte. Eine Finte in einer Finte in einer Finte. Und nur der Sklavenmeister war präpariert worden, die Schuld dafür auf sich zu nehmen.

Feyd-Rauthas Erster Helfer flüsterte: »Der Blick, den dieser Mann hat, gefällt mir nicht, Mylord. Lassen Sie mich ihn wenigstens eine Hand fesseln.«

»Ich werde meine eigenen Fesseln nehmen«, erwiderte Feyd-Rautha. Er nahm von einem der Helfer ein paar lange, mit Haken versehene Pfeile, hob sie hoch und prüfte ihre Balance. Auch sie waren in der Regel mit einer Droge versehen. Diesmal jedoch nicht, und möglicherweise bedeutete das den Tod seines Ersten Gehilfen, der dafür verantwortlich war. Aber all dies war ein Teil des Plans.

»Sie werden die Arena als Held verlassen«, hatte Hawat ihm erklärt. »Und zwar deswegen, weil Sie ungeachtet dieses Verrats — Ihren Gegner dennoch töteten. Man wird den Sklavenmeister exekutieren — und Ihr Mann kann dann seine Stelle einnehmen.«

Feyd-Rautha riskierte weitere fünf Schritte auf den Mittelpunkt der Arena zu und tat dabei so, als sähe er sich seinen Gegner immer noch mit Interesse an. Bereits jetzt, nahm er an, mußten die Experten auf den Rängen zu der Ansicht gelangt sein, daß hier etwas nicht stimmte. Zwar besaß der Gladiator die richtige Farbe für einen Mann, der unter Drogen stand — aber sein Schritt war fest. Und er zitterte nicht. Die Liebhaber von Kämpfen würden bereits jetzt flüstern: »Seht euch nur an wie er dasteht. Man sollte ihn aufhetzen, damit er angreift oder sich zurückzieht. Schaut doch nur, wie er seine Kräfte bewahrt, wie er wartet. Er sollte das nicht tun.«

Feyd-Rautha spürte, wie ihn die eigene Überraschung nur noch mehr aufwiegelte. Von mir aus soll Hawat möglicherweise einen Verrat versuchen, dachte er hämisch. Diesen Sklaven werde ich fertigmachen; allein schon deswegen, weil er nicht damit rechnet, daß das lange Messer vergiftet ist. Und das wußte nicht einmal Hawat selbst.

»Hai, Harkonnen!« rief der Sklave. »Bist du darauf vorbereitet, zu sterben?«

Tödliche Stille senkte sich über die Arena herab. Es war unmöglich, daß ein Sklave eine derartige Herausforderung aussprach!

Jetzt hatte Feyd-Rautha zum erstenmal Gelegenheit, seinem Gegner tiefer in die Augen zu blicken. Er sah kalte Grausamkeit. Der Mann fürchtete sich nicht. Und er bemerkte an der Art, wie der Mann dastand, daß er darauf vorbereitet war, den Sieg davonzutragen. Sicher hatte ihm die Flüsterpropaganda zugetragen, daß er eine reelle Chance hätte, den na-Baron zu töten. Nun gut, er würde damit fertigwerden müssen.

Ein leichtes Lächeln legte sich über Feyd-Rauthas Züge. Er hob die Pfeile. So wie der Sklave stand, konnte nichts schiefgehen.

»Hai! Hai!« forderte ihn der andere heraus und kam lauernd zwei Schritte näher.

Niemand auf der Galerie kann dies jetzt noch mißverstehen, dachte Feyd-Rautha.

Der Sklave hätte durch die Drogen teilweise kampfunfähig gemacht werden müssen, und jede seiner Bewegungen hätte ihm klarmachen sollen, daß es keine Hoffnung mehr für ihn gab, daß er nicht gewinnen konnte. Er hätte all die Geschichten kennen müssen, die besagten, daß der na-Baron bekannt für seinen Sadismus war, und die Spitze des kleinen Messers zu vergiften pflegte. Der Mann hätte all dies wissen sollen, und das hätte ihn unsicher und ängstlich gemacht, aber er wußte offenbar nichts davon. Keine seiner Bewegungen deutete darauf hin, daß er sich wie ein chancenloses Opfer fühlte.

Feyd-Rautha hob die Pfeile und nickte.

Der Gladiator stürzte vor.

Seine Finten und Abwehrbewegungen waren so gut, wie Feyd-Rautha das noch nie gesehen hatte. Nur eine rasche Bewegung des Angegriffenen verhinderte, daß sich das Messer des Gladiators in sein Bein bohrte.

Feyd-Rautha tänzelte zur Seite, warf einen der Pfeile in den rechten Unterarm des Sklaven. Die Widerhaken würden dafür sorgen, daß er ihn nicht entfernen konnte, ohne wichtige Muskeln zu zerfetzen.

Ein einstimmiger Aufschrei brandete von den Rängen auf die Kämpfer nieder.

Der Klang versetzte Feyd-Rautha in gehobene Stimmung.

Er wußte jetzt genau, was sein Onkel, der da oben in seiner Loge zusammen mit den Fenrings, den Beobachtern des Kaiserlichen Hofes, saß, erlitt. Jetzt konnte der Kampf nicht mehr unterbrochen werden. Während der Anwesenheit von Zeugen mußten die Formen gewahrt werden. Und der Baron würde die Geschehnisse in der Arena nur als eine Verschwörung gegen sich selbst interpretieren.

Der Sklave zog sich zurück, klemmte das Messer zwischen die Zähne, berührte das Pfeilende mit dem Zeigefinger und bog ihn zurück, um ihn sofort wieder vorschnellen zu lassen. »Ich spüre deine Nadel nicht einmal!« rief er, drang erneut vor und schwang stoßbereit das Messer, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß niemand der ungeschützten Körperseite zu nahe kam.

Natürlich entging diese Bewegung den Zuschauern nicht. Von den Rängen kamen besorgte Schreie. Feyd-Rauthas Helfer erkundigten sich nervös, ob er sie benötige.

Er gab ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie sich in Richtung auf die Prudenztür zurückziehen sollten.

Ich werde ihnen eine Show liefern, dachte Feyd-Rautha, an die sie ihr Leben lang denken werden. Ich habe nicht vor, einen jener zahmen Kämpfe zu absolvieren, bei dem sie sich zurücklehnen und von Stil faseln können. Ich werde dafür sorgen, daß sie das Zittern lernen. Wenn ich erst der neue Baron bin, werden sie sich an diesen Tag erinnern. Und dann wird ihnen klar werden, wie zwecklos es ist, den Versuch zu wagen, mir zu entgehen.

Vorsichtig gab er ein wenig Boden preis. Wie eine Krabbe kam der Sklave auf ihn zu. Der Sand der Arena knirschte unter ihren Füßen. Feyd-Rautha hörte seinen Gegner keuchen. Schweißgeruch drang zu ihm herüber. Er witterte den schweren Geruch von Blut in der Luft.

Kampfbereit bog sich der na-Baron zurück, drehte den Körper nach rechts und bereitete seinen zweiten Pfeil vor. Der Sklave tänzelte zur Seite. Feyd-Rautha schien plötzlich zu stolpern und die Zuschauer brüllten entsetzt auf.

Erneut sprang der Sklave vor.

Jetzt bejubeln sie mich, dachte Feyd-Rautha. Genau wie Hawat es gesagt hatte. Sie feierten ihn wie noch keinen Familienkämpfer zuvor. Und mit grimmiger Gewißheit erinnerte er sich an den Satz, den Hawat gesagt hatte: »Vor einem Mann, dem man zum Gegner hat, kann man leichter Entsetzen empfinden, wenn man seine Stärke kennt.«

Rasch zog sich Feyd-Rautha in das Zentrum der Arena zurück. Er legte Wert darauf, daß man ihn von allen Seiten gut sehen konnte. Dann zog er das lange Messer aus der Scheide, duckte sich und wartete auf den Angriff.

Der Sklave ließ sich Zeit und spielte mit dem zweiten in seinem Arm steckenden Pfeil. Dann kam er näher.

Die Familie, dachte Feyd-Rautha, muß alles sehen können, was ich hier tue. Sie soll wissen, daß ich ihr Gegner bin. Und sie muß in Zukunft darauf gefaßt sein, daß ich mit ihr nicht anders umspringen werde, als mit diesem Sklaven.

Er zog das kurze Messer.

»Ich fürchte dich nicht, Harkonnenschwein«, sagte der Gladiator. »Eure Folter kann einen toten Mann nicht schrecken. Bevor auch nur der erste deiner Helfer die Hand an mich legt, kann ich schon von eigener Hand gefallen sein. Aber bevor es soweit kommt, wirst du bereits tot zu meinen Füßen liegen.«

Feyd-Rautha grinste und zeigte dem Mann die lange, vergiftete Klinge.

»Dann versuche es«, erwiderte er und machte mit dem kurzen Messer eine schnelle Finte.

Der Sklave hob seine Waffenhand, wehrte gleichzeitig Finte und Angriff ab, ohne sich sonderlich anzustrengen. Seine freie Hand flog auf das Messer zu, das nach alter Tradition allein vergiftet zu sein hatte.

»Du wirst sterben, Harkonnen«, keuchte der Gladiator.

Beide Männer bewegten sich während des Kampfes nach links über den Sand. Dort, wo Feyd-Rauthas Schild den Semischild des Sklaven berührte, stoben knisternd blaue Funken auf. Die Luft füllte sich um sie herum mit dem von beiden Schilden erzeugten Ozongeruch.

»Stirb an deinem eigenen Gift!« knurrte der Sklave.

Er drückte die weißbehandschuhte Hand Feyd-Rauthas nach innen und versuchte ihn so mit der eigenen Waffe zu treffen.

Das sollen sie sich einprägen, dachte Feyd-Rautha. Er ließ die lange Klinge durch die Luft zischen. Es klirrte, als sie von den im Arm seines Gegners steckenden Metallpfeilen abprallte.

Feyd-Rautha fühlte sich einen Moment lang verunsichert. Die Tatsache, daß die beiden Pfeile dem Mann eine zusätzliche Art Deckung verschafften, kam ihm erst jetzt in den Sinn. Und dann noch die unerwartete Stärke. Das Messer kam seinem Körper jetzt immer näher. Der Gedanke, daß ein Mann auch von einer unvergifteten Klinge getötet werden konnte, trug nicht zur Hebung von Feyd-Rauthas Stimmung bei.

»Abschaum!« röchelte er in Panik.

Er hatte das Schlüsselwort kaum ausgesprochen, als sich die Muskeln des Angreifers prompt versteiften. Es war genug für Feyd-Rautha. Er sprang zurück, gerade soweit, wie es nötig war, um genügend Spielraum für das lange Messer zu erhalten, und stieß zu. Die vergiftete Spitze ratschte über die Brust des Mannes und brachte ihm eine blutige Wunde bei. Das Gift mußte sofort wirken. Der Sklave verlor die Kontrolle über seinen Körper und taumelte zurück.

Und jetzt, dachte Feyd-Rautha, soll meine geliebte Familie zusehen. Sie soll darüber nachdenken, wieso der Sklave überhaupt die Möglichkeit hatte, meine eigene Waffe gegen mich zu wenden. Sie soll sich fragen, unter welchen Umständen es möglich war, daß ein Sklave in die Arena kam, ohne von vornherein dem Tod ausgeliefert zu sein. Und außerdem sollen sie sich bewußt werden, daß es unmöglich ist, vorauszusagen, in welcher Hand ich jeweils das Gift bereithalte.

Schweigend blieb Feyd-Rautha stehen. Aufmerksam beobachtete er die schwachen Bewegungen des Sklaven. Der Mann bewegte sich mit einer Mischung aus Verzögerung und Vorsicht. Und dennoch stand in seinem Gesicht ein Satz geschrieben, den jedermann verstehen mußte.

Er war dem Tod ausgeliefert. Der Sklave wußte das auch, und offensichtlich war er sich auch darüber im klaren, wie es geschehen war, und daß er seine Aufmerksamkeit der falschen Klinge geschenkt hatte.

»Du feiges Schwein!« stöhnte der Sterbende.

Feyd-Rautha trat zurück, um seinem Todeskampf mehr Raum zu lassen. Die lähmende Droge hätte eigentlich schon zur vollen Entfaltung kommen müssen, und die Bewegungen seines Gegners sagten ihm, daß es gleich soweit sein mußte.

Der Sklave taumelte nach vorn, als ziehe man ihn mit einem Seil voran. Jeder Schritt eine Ziehbewegung. Und jeder Schritt war ein Schritt bei der Durchquerung seines eigenen Universums. Der Mann hielt immer noch sein Messer umklammert, aber dessen Spitze zuckte haltlos hin und her.

»Eines Tages … wird einer von uns … dich zu fassen kriegen«, keuchte er. Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine Züge, dann sank er zu Boden, blieb einen Moment auf den Knien liegen, starrte Feyd-Rautha an und fiel vornüber, mit dem Gesicht in den Sand.

Feyd-Rautha verharrte eine Weile in der stillen Arena. Dann schob er einen Fuß unter den Körper des Gefallenen und drehte ihn mit einer schwungvollen Bewegung auf den Rücken, so daß die Zuschauer auf den Rängen das Gesicht sehen konnten. Das Gift fing nun an, die Muskeln des Sklaven zum letzten Zucken zu bringen.

Frustriert nahm Feyd-Rautha zur Kenntnis, daß sein Gegner sich beim Sturz unbemerkt das eigene Messer in die Brust gestoßen hatte. Gleichzeitig empfand er so etwas wie Bewunderung für einen Menschen, der in voller Erkenntnis der Sachlage seinem eigenen Leben ein Ende setzte. Und Feyd-Rautha kam zu der Erkenntnis, daß es wirklich eine Sache gab, die man fürchten mußte.

Der Gedanke an das, was aus einem Menschen einen Übermenschen macht, war erschreckend.

Noch während er diesem Gedanken folgte, wurde er der begeisterten Rufe der Zuschauer gewahr. Der Jubel war grenzenlos.

Feyd-Rautha wandte sich um und sah die Leute an.

Alle — außer dem Baron, der mit gesenktem Kopf in seinem Sessel saß — applaudierten heftig. Auch der Graf und seine Lady zeigten keinerlei Begeisterung. Beide starrten ihn an und produzierten ein unechtes Lächeln.

Graf Fenring wandte sich plötzlich seiner Frau zu und sagte: »Äh … ein findiger junger Mann, äh, nicht wahr, meine Liebe?«

»Seine … äh, geschickten Attacken suchen ihresgleichen«, gab Lady Fenring zurück.

Der Baron schaute sie an, dann den Grafen. Schließlich fiel sein Blick auf die Arena und er dachte: Wie konnte jemand nur so nahe an einen der meinigen herankommen? Die Wut überstieg nun sogar seine Furcht. Der Sklavenmeister wird noch heute abend auf einer kleinen Flamme geröstet … und falls dieser Graf und seine Dame ihre Hand in diesem Spiel hatten …

Die Konversation, die in der Loge des Barons geführt wurde, ging für Feyd-Rautha nun in einem anschwellenden Stimmenchor von den Rängen unter. Die Gäste wiederholten immer und immer wieder ein Wort, und stampften zur Bekräftigung im Takt mit den Füßen.

»Kopf! Kopf! Kopf! Kopf!«

Mit einem finsteren Blick stellte der Baron fest, daß Feyd-Rautha sich ihm erneut zuwandte. Mit einer schwachen Bewegung, die seine Wut nur mäßig bedeckte, hob der Baron die Hand und winkte dem jungen Mann in der Arena zu.

Der Junge soll seinen Kopf haben. Und er wird ihn bekommen. Den des Sklavenmeisters.

Feyd-Rautha, der das Signal des Einverständnisses sah, dachte: Sie glauben, mich zu ehren. Aber ich werde ihnen zeigen, was ich davon halte.

Als seine Helfer mit dem Sägemesser herbeieilten, um ihm ihre Ehren zu erweisen, winkte er sie zurück. Die Männer zögerten und Feyd-Rautha wiederholte seine Geste, diesmal heftiger. Sie glauben, sie würden mich mit einem einzigen Kopf ehren können, dachte er, beugte sich über den Körper des toten Sklaven und schloß dessen Hände um das Kampfmesser.

Er brauchte nur einen Augenblick, um das zu tun. Anschließend erhob er sich wieder, winkte seine Helfer näher und sagte:

»Begrabt diesen Sklaven in einem Stück und mit seiner Waffe in den Händen. Er hat es verdient.«

In der goldenen Loge beugte sich Graf Fenring zu dem Baron hinüber und sagte: »Eine wirklich noble Geste. Ihr Neffe verfügt über genauso viel Stil wie Courage.«

»Aber er beleidigt die Zuschauer, indem er den Kopf verschmäht«, murmelte der Baron.

»Das ist nicht wahr«, warf Lady Fenring ein, die sich umwandte und auf die Zuschauer wies.

Der Baron musterte ihre Nackenlinie und stellte fest, daß das Spiel ihrer Muskeln ihn an den Körper eines Jungen erinnerten.

»Sie scheinen mit dem, was Ihr Neffe tat, durchaus einverstanden zu sein«, fügte sie hinzu.

Tatsächlich schien man nun auch auf den hinteren Reihen verstanden zu haben, was Feyd-Rautha getan hatte. Als die Zuschauer erkannten, daß die Helfer den Getöteten in einem Stück wegtransportierten, begannen sie zu klatschen und zu jubeln. Die Begeisterung wuchs von Sekunde zu Sekunde an. Die Menschen stampften mit den Füßen und klopften einander auf die Schultern.

Müde sagte der Baron: »Ich werde eine Fete anberaumen. Man kann die Leute nicht so wegschicken, wenn sie noch voller Energien stecken. Sie sollen sehen daß ich die Ehre, die sie uns schenken, voll annehme.« Er gab einem seiner Wächter mit der Hand ein Zeichen, und sofort stürzte einer der Bediensteten heran und schwenkte die orangefarbene Flagge der Harkonnens über der Loge. Dreimal. Die Ankündigung einer Fete.

Feyd-Rautha durchquerte die Arena und blieb, beide Waffen in den Scheiden, an ihrem Fuße stehen. Er hielt beide Arme gesenkt und fragte, das begeisterte Geschrei der Zuschauer durchdringend: »Eine Fete, Onkel?«

Der Lärm wurde geringer, sobald die Leute sahen, daß Feyd-Rautha mit dem Baron sprach.

»Zu deinen Ehren, Feyd!« rief der Baron zu ihm hinunter und gab dem Diener erneut ein Handzeichen.

Auf der anderen Seite der Arena wurden nun die Prudenzbarrieren geöffnet. Junge Männer rannten auf den Platz und strömten auf Feyd-Rautha zu.

»Haben Sie den Befehl dazu gegeben, daß man die Prudenztüren öffnet, Baron?« fragte Graf Fenring.

»Niemand wird dem Jungen etwas tun«, erwiderte der Angesprochene. »Immerhin ist er ein Held.«

Der erste der heranstürmenden Menge hatte Feyd-Rautha nun erreicht. Dann der zweite. Gemeinsam nahmen die Männer den na-Baron auf die Schultern und führten ihn an der Spitze eines Triumphzuges durch die Arena.

»Er könnte in dieser Nacht ohne weiteres waffen- und schildlos durch die ärmsten Viertel von Harko spazieren«, fügte der Baron sarkastisch hinzu. »Man würde ihm sogar den letzten Bissen geben, nur um seine Gesellschaft zu genießen.«

Der Baron zog sich hoch und wartete, bis die Suspensoren sein Gewicht ausbalanciert hatten.

»Bitte entschuldigen Sie mich«, meinte er. »Aber es gibt noch einige Dinge zu erledigen, die meine persönliche Anwesenheit erforderlich machen. Die Wache wird Sie in der Kuppel nicht aus den Augen lassen.«

Graf Fenring erhob sich und deutete eine Verbeugung an. »Sicher Baron. Warten wir also auf die Fete. Ich habe … äh … noch nie an einer Harkonnen-Festivität … hm … teilgenommen.«

»Ja«, erwiderte der Baron. »Die Fete.« Er hatte sich kaum dem Ausgang der Loge zugewandt, als ihn auch schon seine Leibwächter umringten.

Ein Gardehauptmann verbeugte sich vor Fenring. »Ihre Befehle, Mylord?«

»Wir werden … äh … warten, bis sich die Menge verlaufen hat«, erwiderte Fenring.

»Jawohl, Mylord.« Der Mann verbeugte sich noch einmal und trat drei Schritte zurück.

Graf Fenring sah seine Frau an und sagte in ihrem privaten Geheimkode: »Du hast es natürlich auch bemerkt?«

In der gleichen Sprache erwiderte sie: »Der Bursche hat gewußt, daß der Sklave nicht unter Drogen stehen würde. Er hat sich zwar einen Augenblick gefürchtet, aber er war keinesfalls überrascht.«

»Es war alles geplant«, sagte der Graf. »Die ganze Vorstellung.«

»Ohne Zweifel.«

»Das riecht nach Hawat.«

»In der Tat«, gab Lady Fenring zurück.

»Ich habe vorher bereits gefordert, daß der Baron Hawat erledigen soll.«

»Das war ein Fehler, mein Lieber.«

»Das sehe ich jetzt auch ein.«

»Die Harkonnens könnten sehr bald einen neuen Baron haben.«

»Falls das Hawats Plan ist.«

»Was untersucht werden muß, sicher.«

»Der Junge sollte besser zu kontrollieren sein.«

»Für uns … nach dieser Nacht«, erwiderte Lady Fenring.

»Und du erwartest keinerlei Schwierigkeiten, bei dem Versuch ihn zu verführen, meine kleine Brüterin?«

»Nein, mein Schatz. Du hast doch selbst gesehen, wie er mich angestarrt hat.«

»Ja, und ich sehe jetzt auch, weshalb wir diese Blutlinie haben müssen.«

»Genau. Und es ist offensichtlich, daß wir uns seiner versichern müssen. Ich werde die besten Prana-Bindu-Phrasen in sein Bewußtsein pflanzen, um ihn zu fesseln.«

»Wir werden so schnell wie möglich wieder abreisen«, entgegnete der Graf. »Das heißt, sobald du sicher bist.«

Lady Fenring fröstelte. »Wie du meinst. Ich hätte auch keine Lust, an diesem schrecklichen Ort einem Kind das Leben zu schenken.«

»Das sind Dinge, die wir im Namen der Humanität auf uns nehmen müßten.«

»Aber du spielst dabei die leichtere Rolle, mein Lieber.«

»Es gibt einige alte Vorurteile, die ich noch überwinden muß«, meinte Graf Fenring. »Aber du weißt, daß ich das schaffen werde.«

»Mein armer Liebling«, sagte sie und tätschelte seine Wange. »Du weißt doch, daß dies die einzige Möglichkeit ist, die Blutlinie zu bewahren.«

Mit trockener Stimme erwiderte Fenring: »Ich verstehe schon, was wir tun.«

»Es wird schon nicht schiefgehen«, sagte seine Frau.

»Die Vorahnung des Versagens produziert bereits die ersten Schuldgefühle«, gab er zu bedenken.

»Niemand wird sich schuldig machen. Alles, was wir zu tun haben, ist Feyd-Rautha hypnotisch zu behandeln und ihn dazu zu bekommen, mir ein Kind zu machen. Anschließend verschwinden wir von hier.«

»Dieser Onkel«, sagte Fenring. »Ist dir je eine solche Deformation eines Menschen begegnet?«

»Er ist ein ziemlich ungestümer Charakter«, meinte sie, »aber aus dem Neffen könnte man einiges machen.«

»Ich würde mich jedenfalls für einen solchen Onkel bedanken. Aus dem Jungen hätte — unter anderen Umständen und einer anderen Erziehung — wirklich etwas werden können. Ich frage mich, wie er sich unter dem Kode der Atreides' entwickelt hätte.«

»Es ist traurig«, erwiderte Lady Fenring.

»Ich wünschte, wir hätten sowohl den Atreides-Jungen retten können, als auch diesen hier«, fuhr der Graf fort. »Nach dem, was ich über Paul gehört habe, soll er ein vielversprechender Bursche gewesen sein. Das Produkt einer guten Zucht und einer hervorragenden Ausbildung.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wir sollten unsere Zeit nicht damit verschwenden, daß wir uns den Kopf über die Aristokratie des Unglücks zerbrechen.«

»Bei den Bene Gesserit gibt es ein altes Sprichwort«, sagte seine Frau.

»Gibt es eigentlich Situationen, in denen du kein Sprichwort parat hast?«

»Dieses hier wird dir gefallen«, lächelte sie. »Es heißt: Halte niemals einen Menschen für tot, ehe du nicht seine Leiche gesehen hast. Und selbst dann kannst du dich irren.«

14

In ›Zeiten der Reflexion‹ berichtet Muad'dib, daß seine wirkliche Erziehung und Bildung erst zu dem Zeitpunkt einsetzte, als er gezwungen war, sich mit den auf Arrakis herrschenden Realitäten auseinanderzusetzen. Er lernte an der Beschaffenheit des Wüstensandes das Werter zu erkennen; erfuhr, wie man aus der Schärfe wehender Sandkörner die Sprache des Windes herausliest, und wie man es vermeidet, die Sandkrätze in der Nase zu bekommen. Er fand heraus, wie man die Flüssigkeiten beieinanderhielt, die den eigenen Körper schützen und bewahren. Als seine Augen die Bläue des Ibad annahmen, erfuhr er die Wege der Chakobsa.

Stilgars Vorwort zu ›Muad'dib, der Mensch‹, von Prinzessin Irulan.


Stilgars Trupp kehrte, als sich der erste Mond leuchtend über die Felsen erhob, mit den beiden Flüchtlingen aus der Wüste in den Sietch zurück. Die in wallende Roben gekleideten Männer wurden schneller, je näher sie der Heimat kamen, so, als könnten sie die zurückgelassene Gemeinschaft förmlich riechen. Hinter ihnen färbte sich der Himmel grau. Bald würde die Sonne aufgehen und das Land überstrahlen. Man konnte am Glanz des Lichtes erkennen, daß der Herbst die erste Hälfte überschritten hatte.

Vor den steilen Felswänden, die das Talbecken abschirmten, lagen verdorrte Blätter, die die Sietch-Kinder gesammelt und deponiert hatten, aber der Trupp stieg darüber hinweg — wenn man von einigen Fehltritten Pauls und Jessicas absah — ohne andere Geräusche, als die in einer solchen Nacht üblichen, hervorzurufen.

Paul wischte sich den von seinem Schweiß festgetrockneten Sand von der Stirn, fühlte, daß jemand seinen Arm berührte und hörte Chanis Stimme flüstern: »Mache es so, wie ich dir gesagt habe. Zieh die Kapuze bis über die Stirn! Du darfst nur die Augen freilassen, sonst verschwendest du zuviel Flüssigkeit.«

Ein geflüsterter Befehl von hinten verlangte nach Ruhe: »Die Wüste hört euch!«

Aus den Felsen über ihnen ertönte Vogelgezwitscher.



Der Trupp verharrte. Paul konnte die Spannung förmlich fühlen.

Aus den Felsen kam ein leises Klopfen, das nicht lauter war als das Geräusch, das eine springende Maus erzeugte.

Erneut zwitscherte der Vogel.

Eine Bewegung ging durch die Reihen. Und wieder schien die Springmaus über den Sand zu hüpfen.

Der Vogel zwitscherte nun zum drittenmal.

Die Fremen kletterten weiter durch einen Felsspalt, aber ihr Schweigen schien Paul jetzt noch bedrückender als zuvor zu sein. Manche Männer warfen Chani einen Blick zu, woraufhin sie den Kopf senkte und in eine andere Richtung schaute.

Sie hatten jetzt wieder Felsen unter den Füßen. Die Roben, die ihn umgaben, raschelten. Paul stellte fest, daß die Disziplin ein wenig nachzulassen schien, wenngleich immer noch niemand den geringsten Ton von sich gab. Er folgte den schattenhaften Umrissen des Mannes vor ihm — einige Stufen hinauf, eine Biegung, wieder Stufen. Dann ein Tunnel. Sie gingen an zwei versiegelten Türen vorbei, bogen in einen Weg ein, der von Leuchtgloben beschienen wurde. Die Felswände waren ebenso wie die Decke in diesem Licht von gelber Farbe.

Paul sah, daß die Fremen um ihn herum die Kapuzen zurückzogen, die Nasenfilter entfernten und tief einatmeten. Jemand seufzte. Paul suchte Chani und fand sie links von sich. Er fühlte sich eingeengt von robenbekleideten Körpern, wurde angerempelt und hörte, wie jemand sagte: »Tut mir leid, Usul. Dieses Gedränge! Aber so ist es immer.«

Zu seiner Linken tauchte jetzt der Mann mit dem Namen Farok auf. Die geschwärzten Augenhöhlen und die tiefblauen Augen wirkten im Schein dieses Lichts noch unergründlicher. »Nimm die Kapuze ab, Usul«, sagte Farok. »Du bist jetzt zu Hause.« Er half Paul, indem er dafür sorgte, daß die anderen ein wenig Platz machten.

Paul schob den Gesichtsschleier beiseite und entfernte die Filterstopfen aus der Nase. Der Gestank, der hier herrschte, warf ihn beinahe um: ungewaschene Körper, wiederverwertete Fäkalien und Urin; überall herrschte der Geruch konzentrierter menschlicher Ausdünstung vor, und der charakteristische Duft, der auf dem Verzehr von Gewürz und gewürzähnlichen Substanzen basierte.

»Worauf warten wir, Farok?« fragte Paul.

»Auf die Ehrwürdige Mutter, glaube ich. Du hast die Nachricht gehört. Arme Chani.«

Arme Chani? fragte Paul sich. Er schaute sich um und suchte sie mit seinen Blicken. Aber nicht nur Chani, sondern auch seine Mutter war nirgendwo in diesem Gedränge zu erkennen.

Farok atmete tief ein. »Hier riecht es endlich wieder nach Zuhause«, sagte er.

Paul registrierte, daß in den Worten des Mannes nicht die kleinste Ironie mitschwang. Er meinte es ehrlich. Dann hörte er seine Mutter husten und sagen: »Wie reich die Düfte eures Sietchs sind, Stilgar. Ich stelle fest, daß ihr sehr viel mit Gewürz arbeitet … ihr stellt Papier her … Plastikerzeugnisse … und sind das nicht auch chemische Sprengstoffe?«

»Erkennst du das alles anhand der Gerüche?« fragte einer der Männer erstaunt.

Und Paul verstand, daß sie nur deshalb so laut sprach, damit er sich so rasch wie möglich an diesen Gestank gewöhnte.

Die Fremen an der Spitze der Truppe begannen sich nervös zu bewegen. Paul hörte, wie die Männer aufgeregt die Luft ausstießen. Flüsternde Stimmen sorgten dafür, daß sich eine bestimmte Meldung rasch weiterverbreitete: »Es ist also wahr — Liet ist tot.«

Liet, dachte Paul. Und dann: Chani, die Tochter Liets. Er konnte jetzt zwei und zwei zusammenzählen. Liet war der fremenitische Name des Planetologen gewesen.

Er schaute Farok an und fragte: »Ist es der Liet, der auch als Kynes bekannt war?«

»Es gibt nur einen Liet«, erwiderte Farok.

Paul drehte sich um und starrte die Rücken der Fremen an, die vor ihm standen. Dann ist Liet-Kynes tot, dachte er.

»Es geschah durch einen Verrat der Harkonnens«, zischte eine Stimme. »Sie haben so getan, als sei er bei einem Unfall umgekommen … verlorengegangen in der Wüste … bei einem Thopter-Absturz …«

Paul spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Der Mann, der ihm in Freundschaft zugetan gewesen war, der geholfen hatte, sie vor den Schergen der Harkonnens zu bewahren, der seine Leute ausgeschickt hatte, um nach zwei einsamen Flüchtlingen in der Wüste Ausschau zu halten. Nun war auch er zu einem Harkonnen-Opfer geworden.

»Dürstet Usul nach Rache?« fragte Farok.

Bevor Paul ihm eine Antwort geben konnte, ertönte ein leiser Ruf, und die Truppe bewegte sich voran in eine größere Kammer und zog ihn mit sich. Er sah sich plötzlich Stilgar gegenüber, neben dem eine fremde Frau stand. Sie war mit einem bunten Wickelkleid bekleidet, und ihre Arme waren unbedeckt. Sie trug keinen Destillanzug. Die Hautfarbe der Frau erinnerte an Oliven. Dunkles Haar fiel ihr in die Stirn. Sie hatte hervorstehende Backenknochen und tiefblaue Augen.

Die Frau drehte sich herum. Goldene Ohrringe, an denen Wasserringe baumelten, bewegten sich. Sie schaute Paul an und sagte:

»Der da soll meinen Jamis bezwungen haben?«

»Schweig still, Harah«, gab Stilgar zurück. »Es war Jamis' eigene Schuld. Er hat die Tahaddi-al-Burhan ausgesprochen.«

»Aber er ist nicht mehr als ein Junge!« erwiderte die Frau. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und brachte die Wasserringe zum Klingeln. »Soll das heißen, daß meine Kinder vaterlos wurden durch ein anderes Kind? Es kann nur ein Zufall gewesen sein!«

»Usul, wie alt bist du?« fragte Stilgar.

»Fünfzehn Standardjahre«, sagte Paul.

Stilgar ließ seinen Blick über die Männer seiner Truppe schweifen. »Ist jemand unter euch, der mich herausfordern will?«

Stille.

Jetzt sah Stilgar wieder die Frau an. »Bevor ich seine Zauberkräfte nicht ebenfalls erlernt habe, werde ich mich hüten, ihn zu fordern.«

Die Frau starrte ihn an. »Aber …«

»Hast du die fremde Frau gesehen, die zusammen mit Chani zur Ehrwürdigen Mutter gegangen ist?« fragte Stilgar sie. »Sie ist eine Out-Freyn-Sayyadina und die Mutter dieses Knaben. Beide — Mutter und Sohn — sind wahre Meister des Kampfes.«

»Lisan al-Gaib«, flüsterte die Frau plötzlich. Als sie Paul erneut musterte, war Ehrfurcht in ihrem Blick.

Wieder die Legende, dachte Paul.

»Vielleicht«, erwiderte Stilgar. »Aber es ist bis jetzt noch nicht erwiesen.« Er wandte sich Paul zu und meinte: »Usul, es ist so Sitte bei uns, daß du jetzt die Verantwortung für Jamis' Frau und ihre beiden Söhne übernehmen mußt. Sein Yali … seine Unterkunft gehört nun dir. Ebenso sein Kaffeegeschirr … und diese seine Frau.«

Paul musterte die Frau und fragte sich: Warum weint sie nicht um ihren Mann? Warum zeigt sie keinerlei Haß für mich? Er stellte plötzlich fest, daß die Fremen ihn anstarrten, als erwarteten sie etwas von ihm.

Irgend jemand flüsterte: »Es wartet Arbeit auf uns. Sag ihr jetzt, als was du sie annehmen willst.«

Stilgar warf ein: »Willst du Harah zur Frau oder als Dienerin?«

Harah hob beide Arme und drehte sich langsam auf einem Bein, damit er sie von allen Seiten sehen konnte. »Ich bin noch jung, Usul. Man sagt, ich sähe immer noch so jung aus wie damals, als ich noch bei Geoff war … bevor Jamis ihn besiegte.«

Jamis hat also einen anderen umgebracht, um sie zu gewinnen, dachte Paul.

Laut sagte er: »Wenn ich sie jetzt als Dienerin akzeptiere, habe ich dann die Möglichkeit, meine Meinung nach einer gewissen Zeit zu ändern?«

»Du hast ein Jahr, um deine Entscheidung zu überprüfen«, erklärte Stilgar. »Danach ist sie eine freie Frau und kann wählen, wie es ihr beliebt. Du kannst ihr aber auch vorher schon die freie Wahl lassen. Aber egal, wie du dich entscheidest — für ein Jahr hast du die Pflicht, für sie zu sorgen. Das gilt ebenso für Jamis' Söhne.«

»Ich akzeptiere sie als meine Dienerin«, sagte Paul.

Harah stampfte mit dem Fuß auf und zog ärgerlich die Schultern hoch. »Aber ich bin noch jung!«

Stilgar musterte Paul und sagte: »Vorsicht ist eine gute Eigenschaft für einen Mann, der später eine Führungsrolle übernehmen wird.«

»Aber ich bin noch jung!« wiederholte Harah.

»Sei still«, befahl ihr Stilgar. »Wenn eine Entscheidung gefallen ist, hat man sich daran zu halten. Nun zeige Usul sein Quartier und sorge dafür, daß er frische Kleider und einen Platz zum Ausruhen bekommt.«

»Oh-h-h!« keuchte Harah.

Paul hatte die Frau jetzt genügend studiert, um einen Versuch mit ihr zu machen. Er spürte, daß die anderen Männer ungeduldig wurden, wegen des großen Zeitverlustes. Er fragte sich, ob es richtig wäre, jetzt nach dem Verbleib von Chani und seiner Mutter zu fragen, aber ein Blick in Stilgars Gesicht machte ihm klar, daß jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für derlei Fragen war.

Er sah Harah an, gab seiner Stimme den nötigen Klang, um ihr ein wenig Furcht und Ehrerbietigkeit zu injizieren und sagte:

»Zeige mir nun mein Quartier, Harah. Was deine Jugend angeht, so werden wir darüber ein anderesmal sprechen.«

Die Frau machte zwei Schritte zur Seite und warf Stilgar einen ängstlichen Blick zu. »Er hat die Zauberstimme«, keuchte sie erschreckt.

»Chanis Vater«, sagte Paul zu Stilgar, »steht tief in meiner Schuld. Wenn ich irgend etwas …«

»Das Konzil wird darüber entscheiden«, erwiderte Stilgar. »Und du wirst dabei auch sprechen können.« Er nickte Paul noch einmal zu und zog sich dann zurück. Der Trupp folgte ihm.

Paul nahm Harahs Arm, registrierte, wie kühl ihr Fleisch war und spürte, daß sie zitterte. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Harah«, erklärte er ihr. »Zeige mir nur mein Quartier.« Er gab seiner Stimme einen beruhigend wirkenden Tonfall.

»Du wirst mich nicht verstoßen, wenn das Jahr zu Ende ist?« fragte sie. »Ich weiß natürlich, daß ich nicht mehr so jung bin, wie ich es vor einigen Jahren war.«

»Solange ich lebe, wirst du einen Platz bei mir finden«, erwiderte Paul und ließ ihren Arm los. »Komm jetzt und zeige mir, wo ich hingehen muß.«

Sie ging voraus und führte ihn einen Gang entlang, der bald darauf in einen breiten, erleuchteten Tunnel mündete. Der Boden, auf dem sie sich bewegten, war weich, sauber und mit Sand bedeckt.

Während Paul neben Harah ging, musterte er ihr Profil.

»Du haßt mich nicht, Harah?«

»Warum sollte ich dich hassen?«

Sie nickte einer Gruppe von Kindern zu, die sie aus einem Nebengang heraus anstarrten. Hinter den Kindern sah er die Umrisse von Erwachsenen, die sich hinter einem halbdurchsichtigen Vorhang bewegten.

»Ich … besiegte Jamis.«

»Stilgar hat mir gesagt, daß ihr die Zeremonie abgehalten habt und daß du ein Freund von Jamis warst.« Sie sah ihn von der Seite an. »Stilgar hat gesagt, daß du den Toten etwas von deiner Flüssigkeit gabst. Ist das wahr?«

»Ja.«

»Das ist mehr, als ich tue … als ich tun kann.«

»Du beklagst seinen Tod nicht?«

»Wenn die Zeit der Klage kommt, werde ich ihn beklagen.«

Sie gingen an einem offenen Gewölbe vorbei. Paul warf einen Blick hinein und sah, daß dort Männer und Frauen an Maschinen arbeiteten. Die Grotte war hell beleuchtet, und die Menschen machten den Eindruck hektischer Betriebsamkeit.

»Was tun die Leute da?« fragte Paul.

Harah warf, nachdem sie die Grotte hinter sich gelassen hatten, einen Blick zurück und erwiderte: »Sie beeilen sich, damit die Plastikwerkstatt ihr Soll erfüllt hat, wenn wir fliehen müssen. Wir brauchen viele Tausammler für die Niederlassung.«

»Fliehen?«

»Bis die Schlächter damit aufhören, uns zu verfolgen, oder sie aus unserem Land vertrieben sind.«

Paul erinnerte sich an eine der Visionen, die er einst gehabt hatte. Es war nur ein Fragment, eine visuelle Projektion, und er wurde nicht schlau aus ihr. Im Nachhinein schienen die Fakten nicht mehr zueinander zu passen.

»Die Sardaukar jagen uns«, sagte er.

»Bis auf einen oder zwei leere Sietchs werden sie nichts finden«, meinte Harah. »Aber viele von ihnen werden eines auf jeden Fall finden: den Tod im Sand.«

»Werden sie diesen Ort ausfindig machen?« fragte Paul.

»Wahrscheinlich.«

»Und dennoch haben wir die Zeit, um …«, er deutete mit dem Kopf auf die bereits hinter ihnen liegende Grotte, »… Tausammler herzustellen?«

Der Blick, den sie ihm zuwarf, als sie sich umdrehte, war voller Überraschung. »Hat man dir dort, wo du herkommst, denn gar nichts beigebracht?«

»Jedenfalls nichts über Tausammler.«

»Hai!« machte Harah. Aber dieses Wort sagte alles.

»Was also sind Tausammler?« fragte Paul hartnäckig.

»Wie glaubst du, sind die Büsche und Pflanzen, die wir draußen im Erg pflanzen, überlebensfähig?« fragte Harah. »Jede einzelne wird vorsichtig in eine kleine Vertiefung gesetzt, die wir vorher mit Chromoplastik ausfüllen. Das Licht färbt sie weiß. Man kann sie glitzern sehen, wenn man im Morgengrauen nach ihnen schaut und auf einem erhöhten Platz steht. Weiß reflektiert. Aber sobald der alte Vater Sonne von der Wüste weggeht, wird das Material in der Finsternis schwarz. Es kühlt sich rapide ab und seine Oberfläche beschlägt sich mit Feuchtigkeit der Luft. Und diese Feuchtigkeit tropft nach unten und hält so die Pflanzen am Leben.«

»Tausammler«, murmelte Paul. Die simple Schönheit dieses Verfahrens faszinierte ihn.

»Ich werde um Jamis weinen, wenn die Zeit der Trauer gekommen ist«, fuhr Harah fort, als bewege sie seine Frage noch immer. »Er war ein guter Mann, aber auch hitzköpfig. Jamis war ein guter Versorger und hatte ein gutes Verhältnis zu den Kindern. Er hat nie einen Unterschied zwischen Geoffs Sohn, meinem Erstgeborenen, und seinem eigenen Jungen gemacht. In seinen Augen waren beide stets gleich.« Sie sah Paul an und maß ihn mit einem fragenden Blick. »Wirst du dich ebenso verhalten, Usul?«

»Das Problem betrifft uns nicht.«

»Aber, falls …«

»Harah!«

Der harte Klang seiner Stimme ließ sie zusammenzucken.

Sie kamen an einem anderen hellerleuchteten Raum vorbei, und Paul fragte: »Was wird hier hergestellt?«

»Sie reparieren die Webstühle«, erklärte Harah. »Aber sie müssen noch heute nacht abgebaut werden.« Sie deutete auf einen zu ihrer linken auftauchenden Tunnel. »Hier werden Lebensmittel verarbeitet und Destillanzüge repariert.« Sie schaute ihn an. »Dein Anzug sieht neu aus. Falls du einmal etwas daran zu reparieren haben solltest: ich kenne mich damit aus. In der Saison arbeite ich auch in der Fabrik.«

Sie begegneten nun öfters vereinzelten Menschengruppen, die sich in den Eingängen aller möglichen Abzweigungstunnels aufhielten. Einige Leute kamen an ihnen vorbei. Sie trugen große Beutel, in denen es gluckerte. Sie strömten eine Wolke von Gewürzduft aus.

»Unser Wasser und das Gewürz darf niemandem in die Hände fallen«, sagte Harah. »Aber wir sorgen schon dafür, daß alles rechtzeitig in Sicherheit gebracht wird.«

Paul warf einen Blick in die Öffnungen der Tunnelwand und sah eine Reihe von Fremen, die auf schweren Teppichen lagen. Auch die Wände waren mit Textilien verkleidet. Die Leute wandten sich, kaum daß sie Pauls Anwesenheit bemerkten, sofort um und starrten ihn ungeniert an.

»Die Leute finden es alle unverständlich, daß du Jamis besiegt hast«, meinte Harah. »Es könnte sein, daß du, sobald wir einen anderen Sietch erreicht haben, dem einen oder anderen deine Kraft beweisen mußt.«

»Ich töte nicht gern«, erwiderte Paul.

»Das sagt auch Stilgar«, gab sie zurück. Ihre Stimme zeigte deutlichen Unglauben.

Vor ihnen erklang plötzlich ein schriller Singsang, der ständig lauter wurde. Sie kamen zu einer Felsöffnung, die größer war als alle, die Paul bisher gesehen hatte. Er verlangsamte seinen Schritt und starrte in einen Raum hinein, in dem viele Kinder mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saßen.

An der gegenüberliegenden Wand, vor einer Tafel, stand eine Frau in einer gelben Robe. Sie hielt einen Zeigestock in der Hand. Auf der Tafel waren eine Menge Abbildungen zu sehen: Kreise, Winkel, Kurven, Schlangenlinien und Vierecke; Halbkreise, die von Parallelen geschnitten wurden. Die Frau deutete nacheinander mit raschen Bewegungen auf ein Zeichen nach dem anderen, während die Kinder im Rhythmus ihrer Hand sangen.

Paul horchte. Ihm fiel auf, daß die Stimmen, mit jedem Schritt, den er mit Harah tiefer in das Höhlensystem eindrang, leiser wurden.

»Baum«, sangen sie. »Baum, Gras, Düne, Wind, Berg, Hügel, Feuer, Blitz, Fels, Felsen, Staub, Sand, Hitze, Obdach, Hitze, Winter, Kälte, Leere, Erosion, Sommer, Höhle, Tag, Spannung, Mond, Nacht, Caprock, Sandflut, Abhang, Pflanzung, Binder …«

»Ihr unterrichtet die Kinder noch in solchen Zeiten?« fragte Paul.

Harahs Gesicht war ernst, und ihre Stimme ebenfalls, als sie sagte: »Was Liet uns gelehrt hat, darf nicht einen Moment unterbrochen werden. Auch wenn er jetzt tot ist: wir werden ihn nie vergessen. So ist die Art der Chakobsa.«

Sie kreuzten einen Weg und bogen nach links ab, traten auf einen erhöhten Absatz, schoben einen orangenen Gazevorhang beiseite und blieben stehen. Harah sagte: »Dein Yali ist bereit für dich, Usul.«

Paul zögerte, bevor er ihr in den dahinterliegenden Raum folgte. Er fühlte sich plötzlich unwohl dabei, mit dieser Frau allein zu sein und ihm wurde bewußt, daß er hier eine Welt betrat, die man nur verstehen konnte, wenn man sich dazu durchrang, ökologisch zu denken. Die Welt der Fremen, empfand er, begann mit allen verfügbaren Händen nach ihm zu greifen und ihn zu vereinnahmen. Und er wußte, was diese Vereinnahme bedeutete — den wilden Djihad, den religiösen Krieg, den er, wie ihm seine Gefühle sagten, um jeden Preis zu verhindern hatte.

»Dies ist dein Yali«, hörte er Harah sagen. »Warum zögerst du?«

Paul nickte und trat ein. Er schob den linken Teil des Vorhangs zur Seite und spürte dabei, daß Metallfäden darin eingewoben waren. Er folgte Harah in einen kleinen Vorraum und dann in ein größeres, quadratisches Zimmer, das mehr als dreißig Meter im Quadrat maß. Auf dem Boden lagen dicke blaue Teppiche, während blaugrüne Wandbehänge die Felswände verbargen. Rote Gewebe hingen unter der Decke, ebenso vier Leuchtgloben.

Es kam ihm vor wie das Innere eines Zeltes.

Harah stand vor ihm, legte die Linke auf ihre Hüfte und sah ihn eindringlich an. »Die Kinder sind bei einem Freund«, erklärte sie dann. »Sie werden sich dir später vorstellen.«

Paul verbarg sein Unbehagen dadurch, indem er den Raum einer eingehenden visuellen Untersuchung unterzog. Hinter einem Vorhang zu seiner Rechten lag ein weiterer Raum, an dessen Wänden Kissen aufgestapelt lagen. Er spürte einen leichten Luftzug und sah nach oben, ohne jedoch die Öffnung, aus der sie kommen mußte, zu sehen.

»Wünschst du, daß ich dir helfe, den Destillanzug abzulegen?« fragte Harah.

»Nein … vielen Dank.«

»Möchtest du etwas essen?«

»Ja.«

»Hinter dem nächsten Raum findest du eine Rückgewinnungskammer.« Sie deutete nach rechts. »Falls du dich ohne Destillanzug entspannen möchtest.«

»Du sagtest, daß wir diesen Sietch verlassen müssen«, begann Paul. »Sollten wir nicht mit dem Packen anfangen oder so etwas?«

»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Harah. »Die Schlächter haben unsere Region bisher noch nicht durchdrungen.«

Sie zögerte noch immer und starrte ihn an.

»Was hast du?« fragte Paul.

»Du hast nicht die Augen des Ibad«, sagte Harah. »Es sieht sehr seltsam aus, dieses Weiß um deine Augen, aber nicht unattraktiv.«

»Hol' jetzt das Essen«, sagte Paul. »Ich bin hungrig.«

Harah lächelte ihn an. Es war das wissende Lächeln einer Frau aber eben deshalb wirkte es beunruhigend auf ihn. »Ich bin deine Dienerin«, murmelte Harah, lächelte, wandte sich mit einer schnellen Bewegung von ihm ab und verschwand hinter einem beiseitegeschobenen Vorhang in einem engen Tunnel.

Wütend auf sich selbst stürmte Paul durch den dünnen Vorhang in den Nebenraum zu seiner Rechten. Einen Augenblick lang blieb er dort stehen und sah unsicher zu Boden. Er fragte sich, wo Chani jetzt war … Chani, die gerade ihren Vater verloren hatte.

In dieser Beziehung haben wir das gleiche Schicksal, dachte er.

Ein klagender Schrei hallte durch die äußeren Korridore, wurde jedoch von den wallenden Vorhängen gedämpft. Er wiederholte sich in größerer Entfernung. Und noch einmal. Schließlich verstand er, daß jemand die Zeit ausrief. Ihm fiel auf, daß er bisher keinerlei Uhren zu Gesicht bekommen hatte.

Der Geruch eines brennenden Creosotebusches drang in seine Nase und überlagerte auf der Stelle alle Gerüche, die dem Sietch zu eigen waren. Aber Paul hatte sie auch vorher schon nicht mehr wahrgenommen.

Erneut fragte er sich, welche Rolle seine Mutter in seiner Zukunft spielen würde. Er nahm sie bisher nur wie einen Schemen wahr. Und seine noch ungeborene Schwester. Das, was vor ihnen lag, erschien ihm plötzlich ungewisser als jemals zuvor. Energisch schüttelte er den Kopf und konzentrierte sich auf die erstaunliche Tatsache, daß die Kultur der Fremen mehr Tiefe besaß, als man angenommen hatte. Und er war jetzt einer von ihnen.

Mit allen Gefahren, die die Vereinnahme mit sich brachte.

Und etwas, das ihm mehr Schwierigkeiten als alles andere einbringen konnte, war ihm bereits aufgefallen: es gab keinen Giftschnüffler in dieser Höhle, und auch die anderen Räume waren damit nicht ausgerüstet. Und dennoch konnte er bereits mit seiner Nase eine ganze Anzahl von gefährlichen und nicht seltenen Giften wahrnehmen, hier, inmitten des Sietchs.

Als er das leise Rascheln der Vorhänge vernahm, drehte er sich um und erwartete Harah zu sehen, die mit dem angekündigten Essen zurückkehrte. Statt dessen sah er zwei Jungen im Alter von etwa neun und zehn Jahren, die ihn mit mißtrauischen Blicken musterten. Beide trugen kleine Crysmesser und hielten die Hände an den Griffen.

Und Paul erinnerte sich an das, was man sich über die Kinder der Fremen erzählte — daß sie ebenso zu kämpfen verstanden wie die Erwachsenen.

15

Hände und Lippen

Bewegen sich —

Ideen

Gebären seine Worte,

Seine Augen

Nehmen alles Neue auf.

Er ist die Insel

Der Selbstsicherheit.

Auszug aus ›Leitfäden des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


Phosphorröhren an der weitläufigen, hohen Decke der Höhle warfen ein düsteres Licht auf die versammelte Menge und ließen erkennen, wie groß dieser von Felsen umschlossene Raum in Wahrheit sein mußte — sogar größer, wie Jessica sah, als selbst die Versammlungshalle ihrer Bene-Gesserit-Schule. Sie vermutete, daß sich im Augenblick mehr als fünftausend Menschen hier aufhielten. Und es wurden immer noch mehr.

Flüstern erfüllte die Luft.

»Man hat deinen Sohn bereits benachrichtigt, nachdem er sich ausgeruht hat, Sayyadina«, sagte Stilgar. »Du willst also deinen Entschluß mit ihm diskutieren?«

»Könnte er meine Ansicht ändern?«

»Die Luft, mit der du jetzt sprichst, kommt zwar aus deinen eigenen Lungen, aber dennoch …«

»Mein Entschluß steht fest«, sagte Jessica.

Aber das Gefühl, daß sie dabei hatte, war kein hundertprozentig gutes. Ob sie vielleicht Paul als Entschuldigung heranziehen sollte, um die Entscheidung rückgängig zu machen? Ebenso hatte sie an ihre ungeborene Tochter zu denken. Was die Mutter in Gefahr brachte, schadete auch ihr.

Männer näherten sich mit aufgerollten Teppichen und keuchten unter deren Gewicht. Staubwolken bildeten sich, als sie die schwere Last vor dem Podium fallen ließen.

Stilgar nahm Jessicas Arm und führte sie zu einem Schalltrichter, der die rückwärtige Wand der Bühne bildete, auf der sie standen. Er deutete auf eine aus dem Fels herausgehauene Sitzbank. »Hier wird die Ehrwürdige Mutter sitzen. Aber bis sie kommt, kannst du ihren Platz haben, um dich auszuruhen.«

»Ich bevorzuge es, zu stehen«, erwiderte Jessica.

Dann sah sie den Männern zu, wie sie die Teppiche aufrollten, das Podium damit bedeckten, und musterte die Menge. Es mochten nun zehntausend Menschen sein, die sich auf dem felsigen Grund versammelt hatten.

Und immer noch kamen welche.

Draußen in der Wüste, wußte sie, mußte die Sonne jetzt blutrot untergehen. Hier unten in der Grotte dagegen herrschte das dämmerige Halblicht, eine graue Leere, die sich mit Menschen füllte die gekommen waren, um mitzuerleben, wie sie ihr Leben aufs Spiel setzte.

Durch die Menschen zu ihrer Rechten bahnte sich jemand eine Gasse. Jessica blickte auf und erkannte Paul, flankiert von zwei Jungen, die sehr selbstsicher wirkten und den Leuten zu beiden Seiten der Gasse finstere Blicke zuwarfen.

»Die Söhne Jamis', die nun die Söhne Usuls sind«, sagte Stilgar. »Sie scheinen ihre Pflicht als Eskorte sehr ernst zu nehmen.« Er warf Jessica ein Lächeln zu.

Sie war ihm dankbar für den Versuch, sie etwas aufzuheitern aber nicht einmal er würde es schaffen, ihre Gedanken von der bevorstehenden Gefahr abzulenken.

Mir blieb keine andere Wahl, dachte Jessica. Wir müssen rasch handeln, wenn wir uns unseren Platz bei den Fremen sichern wollen.

Paul erklomm die Bühne und ließ die Kinder hinter sich zurück. Vor seiner Mutter blieb er stehen, sah Stilgar an und dann sie. »Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, Stilgar hätte mich zu einer Konzilsversammlung rufen lassen.«

Stilgar hob eine Hand und bat um Ruhe. Dann deutete er nach links, wo sich erneut eine Gasse bildete. Es war Chani, die nun erschien. Ihr elfenhaftes Gesicht drückte Trauer aus, und sie hatte den Destillanzug mit einem grünen Wickelkleid vertauscht, das ihre dünnen Arme frei ließ. Auf der Höhe ihrer Schulter trug ihr linker Arm ein grünes Band.

Grün, für die Farbe der Trauer, dachte Paul.

Er hatte von diesem Brauch nur indirekt von Jamis' Söhnen erfahren, als diese ihm erklärt hatten, daß sie aus dem Grund kein Grün tragen wollten, weil sie ihn als Pflegevater akzeptierten.

»Bist du der Lisan al-Gaib?« hatten sie ihn gefragt. Paul hatte deutlich den Djihad in ihren Worten gespürt und war rasch zu einer Gegenfrage übergegangen, die ihm die Information geliefert hatte, daß Kaleff, der ältere der beiden, zehn Jahre alt und der Sohn Geoffs war. Orlop, der jüngere, war acht und Jamis' Kind.

Paul hatte einen seltsamen Tag hinter sich. Die beiden Jungen hatten sich in seinem Auftrag vor den Eingang der Unterkunft postiert, um die Neugierigen fernzuhalten, während er selbst sich die Zeit gegönnt hatte, seine Gedanken zu sammeln und Pläne zu schmieden, die einen Djihad verhindern sollten.

Jetzt, wo er neben seiner Mutter auf der Höhlenbühne stand und sich die Menge ansah, fragte er sich, ob es überhaupt einen Plan geben konnte, der das Ausbrechen fanatischer Legionen zurückhalten würde.

Chani kam der Bühne jetzt immer näher. Hinter ihr tauchten vier Frauen auf, die eine fünfte in einer Sänfte trugen.

Jessica, die Chanis Erscheinen ignorierte, richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Frau in der Sänfte. Es war eine Greisin, ein hageres, vertrocknet aussehendes Wesen mit dunkler Haut und einem dunklen Umhang. Sie trug keine Kapuze, und ihr Haar war zu einem Knoten zusammengebunden.

Die vier Frauen setzten ihre Last vorsichtig am Rande der Bühne ab. Chani half der alten Frau auf die Füße.

Das ist also ihre Ehrwürdige Mutter, dachte Jessica.

Sie stützte sich schwer auf Chani, als sie auf Jessica zuhumpelte, und wirkte dabei wie ein Haufen dürrer Knochen, die man in eine Robe gewickelt hatte. Vor Jessica blieb sie stehen. Sie starrte sie an, bevor sie leise und heiser zu sprechen anfing.

»Du bist es also.« Ihr alter Kopf nickte bedenklich schwach auf ihrem dünnen Hals. »Die Shadout Mapes hatte recht gehabt, als sie dich bemitleidete.«

Rasch und ablehnend erwiderte Jessica: »Ich brauche anderer Leute Mitleid nicht.«

»Das werden wir noch sehen«, keuchte die alte Frau. Mit überraschender Behendigkeit wandte sie sich um und warf einen Blick auf die Menge. »Sag es ihnen jetzt, Stilgar.«

»Muß ich?« fragte er.

»Wir sind das Volk von Misr«, krächzte die Alte. »Seit unsere Sunni-Vorfahren von Nilotic al-Ourouba geflohen sind, kennen wir Flucht und Tod. Aber die Jungen machen weiter, damit das Volk erhalten bleibt.«

Stilgar atmete tief ein und machte zwei Schritte nach vorn.

Jessica fühlte plötzlich, wie sich die Stille über die in der riesigen Höhle versammelten Menschen herabsenkte. Zwanzigtausend Leute standen nun unbeweglich und schweigsam da. Sie fühlte sich plötzlich winzig klein und von Vorsicht erfüllt.

»In dieser Nacht werden wir den Sietch verlassen, der uns lange Zeit Obdach gewährt hat, und uns nach Süden in die Wüste hinausbegeben«, begann Stilgar. Seine Stimme wurde von dem hinter ihm liegenden Schalltrichter mehrfach verstärkt.

Immer noch schwieg die Menge.

»Die Ehrwürdige Mutter hat mir erklärt, daß sie nicht in der Lage ist, einen weiteren Hajr zu überstehen«, fuhr er fort. »Auch wenn wir schon vorher ohne eine Ehrwürdige Mutter gewesen sind … es ist nicht gut, ohne eine zu sein, wenn ein Volk sich eine neue Heimat suchen muß.«

Jetzt begann die Menge zu verstehen. Gemurmel breitete sich in der Höhle aus.

»Damit dieser Zustand nicht eintritt«, legte Stilgar auseinander, »hat unsere neue Sayyadina Jessica von den Zauberkräften ihr Einverständnis erklärt, sich heute dem Ritus zu unterziehen. Sie wird das tun, damit wir die Kraft unserer Ehrwürdigen Mutter nicht verlieren.«

Jessica von den Zauberkräften, dachte Jessica. Sie bemerkte, daß Paul sie anstarrte. Seine Augen waren voller Fragen, aber seine Lippen blieben stumm in all der Seltsamkeit, die sich um ihn herum zur Schau stellte.

Was wird aus ihm werden, wenn ich dabei den Tod finde? fragte sich Jessica.

Erneut fühlte sie dieses Unwohlsein.

Chani führte die Ehrwürdige Mutter zu der Felsenbank innerhalb des Schalltrichters und kehrte zurück, wo sie neben Stilgar Aufstellung nahm.

»Damit wir nicht alles verlieren, wenn Jessica von den Zauberkünsten versagt«, erklärte Stilgar der Menge, »wird nun Chani, die Tochter Liets, zur Sayyadina geweiht.« Er trat einen Schritt zur Seite.

Aus der Tiefe des Schalltrichters drang die Stimme der alten Frau zu ihnen herüber. Obwohl sie nur flüsterte, klangen ihre Worte laut und deutlich an jedermanns Ohren: »Chani ist von ihrem Hajr zurückgekehrt — sie hat die Wasser gesehen.«

Beeindruckt murmelte die Menge: »Sie hat die Wasser gesehen.«

»Ich weihe hiermit die Tochter Liets zur Sayyadina«, sagte die alte Frau heiser.

»Sie ist akzeptiert«, flüsterte die Menge.

Paul hörte lediglich die Worte. Alle Aufmerksamkeit war auf seine Mutter konzentriert.

Und wenn sie es nicht schafft?

Er schaute zur Seite und musterte die Frau, die hier unter dem Namen Ehrwürdige Mutter auftrat, sah Haut und Knochen und die blasse Bläue ihrer alten Augen. Sie machte den Eindruck, als könne bereits der kleinste Lufthauch sie umwerfen, und gleichzeitig wurde er den Verdacht nicht los, daß sie sogar in der Lage war, einem Coriolis-Sturm zu trotzen. Irgendwie umhüllte sie die gleiche Aura der Kraft, die er an der Ehrwürdigen Mutter Gaius Helen Mohiam bemerkt hatte, als sie ihn der Agonie des Gom Jabbar aussetze.

»Ich, die Ehrwürdige Mutter Ramallo, aus deren Stimme eine Vielzahl von anderen spricht, sage dies zu euch«, fuhr die Greisin fort: »Es ist angebracht, daß Chani eine Sayyadina wird.«

»Es ist angebracht«, wisperte die Menge.

Nickend flüsterte die Alte: »Ich gebe ihr den silbernen Himmel, die goldene Wüste und die leuchtenden Felsen und die grünen Felder, die einst um uns sein werden. All das gebe ich der Sayyadina Chani. Und damit sie nicht vergißt, daß sie eine Dienerin von uns allen ist, wird sie die Pflichten einer Helferin bei der bevorstehenden Zeremonie übernehmen. Es soll so sein, wie Shai-Hulud es wünscht.« Sie hob einen ihrer knochigen braunen Arme und ließ ihn wieder sinken.

Jessica, die feststellte, daß die Zeremonie an Geschwindigkeit zunahm, warf Paul einen Blick zu. Noch immer waren seine Augen von stummen Fragen erfüllt.

»Die Wassermeister sollen vortreten«, sagte Chani. Ihre kindliche Stimme bebte leise und verriet damit ihre Nervosität.

Jessica wurde klar, daß sich nun der Mittelpunkt aller Gefahren rasch näherte. An den Augen und dem Verhalten der Zuschauer konnte sie ablesen, daß man sie mit Erwartung musterte.

Eine Reihe von Männern bahnte sich ihren Weg durch die Menge. Sie kamen von weit hinten und gingen in Paaren nebeneinander. Jeweils zwei von ihnen trugen einen kleinen Hautsack zwischen sich, der vielleicht doppelt so groß war wie ein menschlicher Schädel. Ihr Inhalt gluckerte.

Die ersten beiden legten ihre Last am Rand der Bühne, genau vor Chanis Füßen ab und traten ein paar Schritte zurück.

Jessica sah sich zuerst den Sack und dann die Männer an. Sie hatten die Kapuzen zurückgeschlagen und zeigten langes Haar, das im Nacken zusammengerollt war. Dunkle Augenhöhlen erwiderten ihren Blick bewegungslos.

Aus dem Sack stieg ein starker Zimtgeruch auf, den Jessica sofort wahrnahm. Gewürz? fragte sie sich.

»Ist dort Wasser?« fragte Chani.

Der Wassermeister, der links vor ihr stand, ein Mann mit einer purpurn leuchtenden Narbe auf der Stirn, nickte einmal. »Dort ist Wasser, Sayyadina«, sagte er. »Aber wir können nicht davon trinken.«

»Ist dort Samen?« fragte Chani.

»Dort ist Samen«, bestätigte der Wassermeister.

Chani kniete nieder und legte beide Hände um den leise gurgelnden Sack. »Gesegnet sei das Wasser und der Samen.«

Irgend etwas an diesem Ritus kam Jessica bekannt vor. Sie sah auf die Ehrwürdige Mutter Ramallo. Ihre Augen waren geschlossen und erweckten den Eindruck, als sei die alte Frau bereits eingeschlafen.

»Sayyadina Jessica«, sagte Chani plötzlich.

Jessica wandte den Kopf und sah, daß das Mädchen bereits vor ihr stand.

»Hast du das gesegnete Wasser probiert?« fragte sie.

Bevor Jessica antworten konnte, sagte Chani: »Es ist unmöglich, daß du es schon einmal getrunken hast. Du bist eine Außenweltlerin und hast diese Möglichkeit niemals gehabt.«

Ein Seufzen ging durch die Menge. Jessicas Haare sträubten sich, als sie die ablehnende Haltung der Fremen wahrnahm.

»Die Ernte war groß, und der Bringer wurde vernichtet«, fuhr das Mädchen fort. Sie begann einen Schlauch abzuwickeln, der sich am Ende des Sackes befand.

Die Gefahr um sie herum wurde immer größer, das erfaßte Jessica instinktiv. Sie sah zu Paul hinüber und stellte fest, daß er von der Zeremonie so stark gefangen war, daß er nur Augen für Chani hatte.

Hat er diesen Augenblick irgendwann vorausgesehen? fragte sie sich. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, dachte an die noch ungeborene Tochter, die sich darunter befand und dachte: Habe ich überhaupt das Recht, unser beider Leben aufs Spiel zu setzen?

Chani hob den Schlauch an, reichte ihn Jessica und sagte: »Hier ist das Wasser des Lebens, das Wasser, das mehr als Wasser ist. Kan — das Wasser, das die Seele befreit. Wenn du eine Ehrwürdige Mutter bist, öffnet es das Universum für dich. Laßt nun Shai-Hulud das Urteil fällen.«

Jessica fühlte sich in diesem Moment zwischen ihrem noch ungeborenen Kind und Paul hin- und hergerissen. Was Paul anging, das war ihr klar, konnte sie den Schlauch annehmen und die Flüssigkeit des Sackes zu sich nehmen. Als sie sich vornüberbeugte und den Schlauch an die Lippen setzte, erkannte sie deutlich, daß von ihm eine Gefahr ausging.

Die Flüssigkeit hatte einen bitteren Geruch. Es erinnerte sie an eine Reihe bekannter Gifte, obwohl es nicht genau dasselbe war.

»Du mußt jetzt trinken«, sagte Chani.

Es gibt keinen Weg zurück, dachte Jessica. Nicht einmal die Tricks der Bene-Gesserit-Ausbildung konnten ihr jetzt noch dienlich sein.

Was ist es? fragte sie sich. Likör? Eine Droge?

Sie beugte sich über den Schlauch, nahm den Duft von Zimt wahr und erinnerte sich an die Trunkenheit Duncan Idahos. Gewürzlikör? fragte sie sich. Dann stopfte sie die Öffnung in den Mund und begann langsam zu saugen. Es schmeckte nach Gewürz. Eine Art Säure biß ihr in die Zunge.

Chani begann den Hautsack nun zu pressen. Ein großer Schluck spritzte in Jessicas Mund, und bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte hatte sie es auch schon hinuntergeschluckt. Verzweifelt versuchte sie, ihre Kühle zu bewahren.

»Ein kleiner Tod ist schlimmer als der Tod selbst«, sagte Chani. Sie starrte Jessica abwartend an.

Und Jessica erwiderte ihren Blick. Noch immer hielt sie den Schlauch zwischen den Zähnen. Sie spürte die Flüssigkeit nun auf dem Gaumen, in ihrer Kehle und konnte sie riechen. Sogar ihre Augen nahmen sie wahr — eine bittere Süße.

Kühl.

Erneut drückte Chani auf den Sack. Die Flüssigkeit füllte Jessicas Mund.

Zart.

Jessica musterte Chanis Gesicht und ihre an eine Elfe erinnernde Figur. Sie erinnerte sie entfernt an Liet-Kynes. Er mußte ihr ähnlich gesehen haben, als er noch jung gewesen war.

Es ist eine Droge, die sie mir verabreicht, dachte Jessica.

Aber es war eine Droge, die sie selbst mit dem Gespür ihrer Bene-Gesserit-Ausbildung nicht analysieren konnte.

Chanis Gesichtszüge wurden nun immer deutlicher erkennbar, als falle ein Licht auf sie.

Eine Droge.

Jessica spürte, daß ein lautloser Wirbel sie erfaßte. Jede Faser ihres Körpers akzeptierte nun die Tatsache, daß sie von etwas Unerklärlichem einbezogen worden war. Sie kam sich vor wie ein winziges Teilchen, kleiner als ein subatomares Partikel, und war sich dennoch bewußt, daß sie ihre Umgebung wahrnehmen konnte. Ihr wurde plötzlich klar — Vorhänge öffneten sich vor ihr -, daß sie sich einer psychokinetischen Behandlung unterworfen hatte. Sie war ein Partikel — und gleichzeitig auch nicht.

Die Höhle kehrte zurück — und die Menschen. Sie fühlte sie: Paul, Chani, Stilgar, die Ehrwürdige Mutter Ramallo.

Ehrwürdige Mutter!

Auf der Schule hatte man einander Gerüchte zugeflüstert: daß manche die Prüfung der Ehrwürdigen Mutter nicht überlebten; daß die Droge sie vereinnahmte.

Jessica konzentrierte sich auf die Ehrwürdige Mutter Ramallo und erkannte, daß all das im Bruchteil einer Sekunde um sie herum geschah. Es schien, als sei die Zeit nur für die anderen stehengeblieben, als schreite sie nur für sie, Jessica, allein voran.

Weshalb ist sie zum Stillstand gekommen? fragte sie sich. Sie starrte auf die starren Gesichter, sah ein Staubpartikel über Chanis Kopf dahinschweben und verhielt ihren Blick dort.

Warten.

In diesem Augenblick drang die Antwort wie eine Explosion in ihr Bewußtsein: der Lauf der Zeit war angehalten worden, um ihr das Leben zu retten.

Sie konzentrierte sich auf die psychokinetische Extension ihrer selbst, schaute nach innen und wich entsetzt vor einem drohenden, dunklen Kern zurück, der sie erschreckte.

Das ist der Ort, den wir nicht blicken dürfen, dachte sie. Die Stelle, die Ehrwürdige Mütter nur widerwillig erwähnen — der Ort, den nur der Kwisatz Haderach schauen darf.

Diese Erkenntnis trug dazu bei, daß ihr Selbstvertrauen zurückkehrte und sie es wagte, sich erneut auf die psychokinetische Extension zu konzentrieren. Wieder wurde sie zu einem Partikel, das sich anschickte, das eigene Ich zu erforschen und in ihm eine Gefahr aufzuspüren.

Sie fand die Gefahr in der Droge, die sie schluckte.

Ihre Zusammensetzung bestand aus wirbelnden Partikeln, deren Bewegungen so schnell waren, daß nicht einmal die verlangsamte Zeit in der Lage war, sie zu bremsen. Wirbelnde Partikel. Jessica begann sie allmählich zu erkennen und zu analysieren: hier ein Kohlenstoffatom, Spiralbahnen … ein Glukosemolekül. Eine ganze Molekülkette erkannte sie und ein Protein … eine Methyl-Proteinverbindung.

Ahhh!

Sie gab einen unhörbaren Seufzer von sich, als sie das Gift analysiert hatte.

Mit Hilfe der psychokinetischen Extension ging sie näher heran, verschob ein Sauerstoffatom, fügte dort ein Wasserstoffatom hinzu … suchte nach einem zweiten … Wasser.

Die Veränderung wirkte sich aus … schneller und schneller, als die katalytische Reaktion über wachsende Flächen einsetzte.

Die Zeit schien jetzt wieder in Bewegung zu geraten. Neben sich nahm Jessica einen Schatten wahr. Das Mundstück des Schlauches berührte vorsichtig ihre Lippen und sammelte einen Tropfen auf.

Chani will das Gift in dem Sack durch den Katalysator in meinem Körper verändern, dachte sie. Warum tut sie das?

Irgend jemand half ihr in eine sitzende Stellung. Sie sah, daß man die alte Ehrwürdige Mutter Ramallo von ihrer Bank half und auf sie zuführte, damit sie sich neben sie auf die mit Teppichen ausgelegte Bühne setzte. Eine dürre Hand betastete ihren Hals.

Und plötzlich drang ein anderes psychokinetisches Partikel in Jessicas Bewußtsein ein! Sie versuchte es abzuwehren, aber die Ehrwürdige Mutter kam näher und näher.

Sie berührten sich!

Es war wie ein absolutes Einssein. Zwei Menschen in einem Körper. Es war keine Telepathie, und dennoch waren die Inhalte ihrer Geister miteinander verschmolzen.

Ich bin gleichzeitig sie!

Und Jessica erkannte, daß die Ehrwürdige Mutter von sich selbst nicht als alte Frau dachte. Eine Gestalt tauchte vor Jessicas innerem Auge auf: die einer jungen Frau, die gerne tanzte und einen herzhaften Humor besaß.

Und das junge Mädchen sagte zu ihr: »Ja, so bin ich wirklich.«

Jessica war unfähig, darauf etwas zu erwidern.

»Du wirst es bald überstanden haben«, sagte die Stimme in ihrem Innern.

Es ist eine Halluzination, sagte sich Jessica. Die Droge …

»Du weißt selbst, daß es mehr ist als das«, sagte die Stimme. »Verhalte dich jetzt ganz still … und wehre dich nicht. Wir haben nicht mehr viel Zeit … Wir …« Es entstand eine lange Pause. Dann: »Du hättest uns sagen müssen, daß du schwanger bist!«

Endlich fand sie die innere Stimme, die eine Antwort geben konnte.

»Warum?«

»Dies wird euch alle beide verändern! Heilige Mutter, was haben wir nur getan?«

Jessica spürte, daß sich ihnen ein drittes Partikel näherte. Erschreckt wich sie zurück. Das Partikel ruderte ziellos umher und strahlte in panischem Entsetzen.

»Du wirst jetzt stark sein müssen«, sagte das Image der Ehrwürdigen Mutter in ihr. »Und sei dankbar, daß es eine Tochter ist, die du in dir trägst. Ein männlicher Fötus wäre bei dieser Veränderung zerstört worden. Jetzt … vorsichtig … langsam … berühre das Bewußtsein deiner Tochter. Absorbiere ihre Angst … beruhige sie … gib ihr deine Kraft und deinen Mut … vorsichtig … und sanft …«

Das dritte wirbelnde Partikel kam näher. Es kostete Jessica einige Überwindung, es zu berühren.

Das Entsetzen drohte sie zu überwältigen.

Sie kämpfte es nieder und benutzte dazu die einzige Methode, die sie kannte: »Ich werde mich nicht fürchten. Die Furcht tötet das Bewußtsein …«

Die Litanei gab ihr wieder Selbstvertrauen. Das andere Partikel lag zitternd in ihrer Nähe.

Worte allein genügen nicht, wurde Jessica klar.

Sie reduzierte ihre Gedanken auf einfachste Gefühlsbewegungen, strahlte Liebe und Geborgenheit aus und mütterliche Besorgtheit.

Das Entsetzen schwand.

Erneut nahm sie die Anwesenheit der Ehrwürdigen Mutter in sich wahr. Sie bildeten nun eine dreifache Person, in der zwei aktiv waren, während die dritte lediglich schweigend dahintrieb und aufnahm.

»Die Zeit wird knapp«, begann die Ehrwürdige Mutter. »Ich habe dir viel mitzugeben, aber ich weiß nicht, ob deine Tochter das alles wird ertragen können. Aber es muß sein. Der Stamm hat absoluten Vorrang.«

»Was …?«

»Sei still und nehme auf!«

Erfahrungen liefen vor Jessica ab. Sie fühlte sich an einen der Lernprojektoren in der Bene-Gesserit-Schule erinnert. Aber es war schneller … unglaublich viel schneller.

Und dennoch deutlich.

Jedes der Erlebnisse, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten, war ihr bekannt: der Geliebte, ein schlanker und bärtiger Fremen mit dunklen Augen. Jessica erkannte seine Kraft und Zärtlichkeit durch die Erfahrungen der Ehrwürdigen Mutter.

Es gab keine Zeit, um darüber nachzudenken, was der weibliche Fötus dabei empfand. Jessica konnte lediglich aufnehmen, registrieren und speichern. Die Erfahrungen füllten sich an: Geburt, Leben, Tod — wichtige und unwichtige Dinge nebensächliche Kleinigkeiten aus dem Leben der Ehrwürdigen Mutter.

Weshalb erinnert sie sich an den Sandrutsch von dieser Klippe? fragte sich Jessica. Zu spät erkannte sie, was geschah: die alte Frau lag im Sterben und schüttete in diesem Moment alle Erinnerungen in einem Guß in ihr Bewußtsein wie Wasser in eine Tasse. Während Jessica sie beobachtete, kehrte das andere Partikel in ein Stadium zurück, den es vor der Geburt innegehabt hatte. Und als die Ehrwürdige Mutter starb, hatte sie Jessica alle Erfahrungen und Erinnerungen hinterlassen.

»Ich habe lange auf dich gewartet«, sagte sie. »Hier hast du mein Leben.«

Und dann war es da, eingekapselt, alles, was sie hatte.

Und dann: der Moment des Todes.

Jetzt, dachte Jessica, bin ich die Ehrwürdige Mutter.

Im gleichen Augenblick wurde ihr klar, daß sie es wirklich war; daß die Droge sie verändert hatte. Sie war eine Ehrwürdige Mutter der Bene Gesserit.

Ebenfalls wußte sie, daß dies nicht der Weg war, auf dem man an der Schule vorgegangen war. Obwohl ihr niemand je gesagt hatte, wie die Zeremonie vor sich ging, wußte sie mit Bestimmtheit, daß dieser Weg ein anderer war als der beabsichtigte.

Aber das Endergebnis war das gleiche.

Jessica spürte das Tochterpartikel allmählich verblassen, und ein entsetzliches Einsamkeitsgefühl blieb in ihr zurück, als sie darüber nachdachte, was mit ihr geschehen war. Ihr eigenes Leben erschien wie ein verlangsamtes Muster, während um sie herum das Leben wieder schneller zu pulsen begann.

Das Gefühl der eigenen Spannung schwand jetzt, und obwohl das Tochter-Partikel kaum noch zu spüren war, wußte Jessica, daß er in ihr steckte und fühlbar war. Vorsichtig tastete sie danach. Sie spürte ein Schuldgefühl, weil sie etwas zugelassen hatte, was sie eigentlich hätte verhindern sollen.

Ich habe es getan, meine arme, ungeformte, liebe kleine Tochter. Ich habe dich diesem Universum ausgesetzt und all seinen Zufällen, ohne daß du eine Möglichkeit besaßest, dich dagegen zu wehren.

Das winzige Partikel schien jetzt einen kleinen Teil der von ihr ausgestrahlten Zuneigung zurückzugeben.

Bevor Jessica darauf reagieren konnte, drängte sich ihr eine Erinnerung auf. Da war etwas, das getan werden mußte. Sie versuchte danach zu greifen und stellte fest, daß es die Droge war, die ihre weiteren Überlegungen behinderte.

Ich könnte sie verändern, dachte sie. Ich könnte die Wirkung der Droge wirkungslos machen. Aber gleichzeitig verstand sie, daß dies falsch war. Die Veränderung ist noch nicht abgeschlossen.

Dann wußte sie, was sie zu tun hatte.

Sie öffnete die Augen und deutete auf den Wassersack, den Chani hoch in den Händen hielt.

»Es ist gesegnet«, sprach Jessica. »Vermischt das Wasser und laßt die Veränderung zu allen kommen, damit das Volk schaut und der Segnung teilhaftig wird.«

Der Katalysator soll nun seine Arbeit beginnen, dachte sie. Die Leute sollen davon trinken und sich für eine Weile besser erkennen. Die Droge ist jetzt ungefährlich … nachdem die Ehrwürdige Mutter sie neutralisiert hat.

Immer noch wirkte die fordernde Erinnerung auf sie ein. Es gab noch eine andere Sache, die sie erledigen mußte, wurde ihr klar, aber es war schwierig, unter den Nachwirkungen der Droge zu handeln.

Ah … die alte Ehrwürdige Mutter.

»Ich habe die alte Ehrwürdige Mutter Ramallo getroffen«, sagte sie. »Sie hat uns verlassen, aber ihr Geist wird immer unter uns sein. Laßt uns die Erinnerung an sie in den Riten ehren.«

Woher habe ich die Kenntnis dieser Worte? fragte sich Jessica.

Sie erkannte, daß diese Worte aus einem anderen Leben stammten; aus einem Leben, das ihr geschenkt worden war, mit all seinen Erfahrungen, seinem Glück und seinem Leid. Und jetzt war es ein Teil von ihr, auch wenn es noch irgendwie unvollständig schien.

»Laß sie eine Orgie feiern«, sagte das andere Gedächtnis in ihr. »Ihr Leben ist hart, und sie haben nicht viel von ihm. Ja, und wir beide — du und ich — brauchen etwas Zeit, um miteinander bessere Kontakte zu knüpfen, bevor ich mich in deine Gedankenwelt begebe und mit ihr verschmelze. Bereits jetzt bin ich ein Teil von dir. Ah, dein Bewußtsein enthält viele interessante Dinge. Dinge, die ich mir noch nicht einmal vorstellen konnte.«

Und das andere Gedächtnis öffnete sich vor Jessica und erlaubte ihr einen Blick in einen langen Korridor, der zu einer anderen Ehrwürdigen Mutter führte, und dann zu einer weiteren und zu einer weiteren und zu einer weiteren. Es schien kein Ende zu geben.

Jessica zog sich zunächst zurück. Sie hatte die unbestimmte Vorahnung, sich in diesem absoluten Einssein zu verlieren. Aber der Korridor blieb weiterhin für sie geöffnet. Er symbolisierte die Tatsache, daß die Kultur der Fremen weitaus älter war, als sie bisher angenommen hatte.

Es hatte Fremen auf Poritrin gegeben, stellte sie fest; Leute, die auf diesem herrlichen Planeten verweichlicht worden waren und den Imperialen Truppen keinerlei nennenswerten Widerstand bieten konnten, als diese über sie herfielen und sie nach Bela Tegeuse und Salusa Secundus verschleppten, auf denen die ersten menschlichen Kolonien gegründet wurden.

Oh, das Wehklagen, das sie in diesem Zerreißen eines Volkes wahrnahm.

Von irgendwoher aus der Tiefe des Korridors rief eine körperlose Stimme: »Sie haben uns die Hadj verweigert!«

Jessica sah die Sklavenbergwerke von Bela Tegeuse am Ende des inneren Korridors und die brutalen Auswahlmethoden, mit denen man die Männer nach Rossak und Harmonthep verschleppte. Es öffnete sich vor ihr die Blende eines Objektivs. Es war schrecklich.

Und sie sah, daß die Szenen der Vergangenheit von Sayyadina zu Sayyadina weitergegeben worden waren, zunächst nur durch mündliche Überlieferungen und in den geheimen Texten der Sandlieder, dann durch die Erinnerungen der Ehrwürdigen Mutter, nachdem man die giftige Droge auf Rossak entdeckt hatte, deren Wirkung auf Arrakis durch das Wasser des Lebens verstärkt wurde.

Eine andere Stimme schrie aus dem Korridor der Vergangenheit ihr zu: »Niemals werden wir vergessen! Und niemals je vergeben!«

Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich nun auf das Wasser des Lebens und seinen Ursprung: es handelte sich um die flüssige Ausdünstung eines sterbenden Sandwurms, eines Bringers. Und als ihr bewußt wurde, wie man ihn getötet hatte, mußte sie einen Aufschrei unterdrücken.

Man hatte das Geschöpf ertränkt!

»Mutter, bist du in Ordnung?«

Pauls Stimme drang zu ihr hindurch, und Jessica zwang sich dazu, widerstrebend zu ihm aufzuschauen. Sie war sich dessen bewußt, daß sie ihm gegenüber eine Pflicht zu erfüllen hatte, aber im Moment empfand sie seine Anwesenheit als störend.

Ich bin wie ein Mensch, dessen Tastsinn man das ganze Leben über unterdrückt hat und dem man es jetzt aufzwingt, Dinge zu berühren.

Der Gedanke zog sie in seinen Bann.

Und ich sage: »Schaut her zu mir! Ich habe Hände!« Und die um mich herum fragen: »Hände? Was sind Hände?«

»Bist du in Ordnung?« fragte Paul wieder.

»Ja.«

»Kann ich das ohne weiteres trinken?« fragte er und deutete auf Chani, die immer noch mit dem Wassersack in den Händen dastand. »Die anderen möchten, daß ich es trinke.«

Sie verstand die versteckte Frage hinter seinen Worten und wußte, daß er das Gift in der Flüssigkeit gespürt hatte und sich nun ihretwegen Sorgen machte. Ihr fiel auf, daß seine Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, sehr beschränkt sein mußte. Allein seine Frage deutete darauf hin, daß er sich unsicher fühlte.

»Du kannst es trinken«, erwiderte sie. »Es ist nicht mehr dasselbe.« Sie sah ihm nach und entdeckte in seiner Nähe Stilgar, dessen dunkle Augen sie nachdenklich musterten.

»Jetzt wissen wir, daß du uns nicht getäuscht hast«, sagte er.

Auch aus seinen Worten klang eine versteckte Bedeutung heraus, die eine Analyse der Nachwirkungen der Droge jedoch nicht zuließ. Wie warm und angenehm das alles war. Wie herrlich, daß die Fremen ihr diese einmalige Erfahrung hatten zuteil werden lassen.

Paul sah, daß seine Mutter im Augenblick nicht mehr ansprechbar war. Die Droge hatte sie noch im Griff. Er überprüfte seine Erinnerungen: die gerade abgeschlossene Vergangenheit und die fließenden Linien möglicher Zukünfte. Er schien durch verschlossene Zeitkorridore zu sehen, die der Linse seines inneren Auges Widerstand boten. Die einzelnen Fragmente, die er sah, waren schwer interpretierbar. Er schüttelte den Kopf und zog sich aus dem Strom zurück.

Diese Droge — er wußte etwas über sie und begann zu verstehen, was sie mit seiner Mutter angestellt hatte. Dennoch ließ sein Wissen einen natürlichen Rhythmus vermissen.

Er stellte plötzlich fest, daß es ein Unterschied war, wenn man von der Vergangenheit aus die Gegenwart sah oder man von dem aus, was man über die Vergangenheit wußte, den Versuch unternahm, Schlüsse über die Zukunft zu ziehen.

Die Dinge beharrten scheinbar darauf, nicht das zu sein, was sie vordergründig zu sein schienen.

»Trink das«, sagte Chani und hielt ihm das Mundstück des Schlauches unter die Nase.

Paul richtete sich auf und sah sie an. Irgendwie schien eine Karnevalsatmosphäre in der Luft zu liegen. Er wußte, was passieren würde, wenn er von dieser Gewürzdroge trank, die eine seltsame Substanz enthielt. Sie würde auch ihn verändern. Es würden neue Zukunftsvisionen auf ihn einstürmen, die ihn in einen anderen Raum abdrängen und gefangennehmen würden, ohne daß er sich gegen sie zur Wehr setzen konnte.

Hinter Chanis Rücken sagte Stilgar: »Trink es ruhig, mein Junge. Sonst hältst du das Ritual auf.«

Paul horchte auf die Geräusche der Menge. Wildheit war in den Stimmen der Menschen. Sie riefen »Lisan al-Gaib« und »Muad'dib«. Seine Mutter hatte eine sitzende Position eingenommen und schien in einen friedlichen Schlaf gesunken zu sein, sie atmete gleichmäßig und tief. Er erinnerte sich an einen Ausdruck, den er in der Vergangenheit gehört hatte, der aber gleichzeitig seiner Zukunft angehörte: »Sie schläft in den Wassern des Lebens.«

Chani zupfte ihn am Ärmel.

Paul nahm das Mundstück zwischen die Lippen und hörte die Leute jubeln. Als Chani auf den Wassersack drückte, schwappte ihm die Flüssigkeit in den Mund. Er spürte einen bitteren Geschmack. Dann zog Chani das Mundstück zurück und reichte den Sack zwei ausgestreckten Armen entgegen, die jemand von unterhalb der Bühne zu ihr heraufhielt. Pauls Blick haftete an Chanis Arm und sah das grüne Band der Trauer.

Chani richtete sich wieder auf, erwiderte seinen Blick und sagte: »Auch unter dem Glücksgefühl des Wassers kann ich um ihn trauern.« Sie legte ihre Hand in die seine und zog ihn am Bühnenrand entlang fort. »Es gibt eine Sache, die uns beide betrifft, Usul. Wir haben beide unseren Vater durch die Hand der Harkonnens verloren.«

Paul folgte ihr mit einem Gefühl, als sei sein Bewußtsein von seinem Körper plötzlich losgelöst. Seine Beine wurden gefühllos und erschienen ihm wie Gummi.

Sie folgten einem engen Seitengang, der nur von wenigen Leuchtgloben erhellt wurde, und er fühlte, wie die Droge ihn in den Griff bekam. Die Zeit schien sich wie eine Blüte vor ihm zu öffnen. Als sie in einen anderen Gang abbogen, mußte er sich gegen Chani lehnen. Die Mischung aus Nachgiebigkeit und Stärke, die er unter ihrer Robe zu fühlen bekam, brachte sein Blut in Wallung. Diese Entdeckung unter dem Einfluß der Droge führte zu dem einzigartigen Gefühl, daß sich hier Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart trafen und miteinander verschmolzen.

»Ich kenne dich, Chani«, flüsterte er. »Wir haben gemeinsam auf einem Felsen über dem Sand gesessen. Ich tröstete dich in deiner Angst. Wir haben uns in der Dunkelheit des Sietch umarmt und liebkost. Wir haben …« Er kam plötzlich völlig aus dem Konzept und brach kopfschüttelnd ab.

Chani stützte ihn, führte ihn durch einen schweren Vorhang in die gelblich beleuchtete Wärme eines Privatraums. Paul nahm niedrige Tische wahr, Kissen und eine Liege unter einem orangefarbenen Deckengehänge.

Paul stellte fest, daß sie stehengeblieben waren, daß Chani vor ihm stand und sein Gesicht ansah. In ihrem Blick lag sanftes Erschrecken.

»Davon mußt du mir erzählen«, flüsterte sie.

»Du bist Sihaya«, sagte Paul. »Der Wüstenfrühling.«

»Wenn der Stamm sich das Wasser teilt«, erwiderte sie, »sind wir alle eins. Wir … teilen. Ich fühle die anderen, aber ich fürchte mich, mit dir zu sein.«

»Warum?«

Er versuchte seine Gedanken auf das Mädchen zu konzentrieren, aber Vergangenheit und Zukunft begannen sie zu überschatten und brachten ihn in Verwirrung. Sie verschwamm vor seinen Augen, und er fand sie wieder — in zahllosen Variationen innerhalb verschiedener Zeitströme.

»Irgend etwas ist beängstigend an dir«, sagte Chani. »Als ich dich von den anderen wegführte … tat ich es, weil ich fühlte, was die anderen wünschten. Du … übst einen Druck auf die Leute aus. Du bringst uns dazu, Dinge zu sehen.«

Er bemühte sich, deutlich zu sprechen. »Was siehst du?«

Sie schaute auf ihre Hände. »Ich sehe ein Kind … in meinen Armen. Es ist unser Kind, deines und meines.« Erschreckt legte sie eine Hand auf ihren Mund. »Wie kann ich dich nur so genau kennen?«

Auch sie besitzen diese Fähigkeit bis zu einem gewissen Grad, dachte Paul. Aber sie unterdrücken sie, weil sie sich davor fürchten.

In einem Moment der Klarheit sah er, daß Chani zitterte.

»Was ist es, das du mir sagen willst?« fragte er.

»Usul«, flüsterte sie und zitterte immer noch.

»In die Zukunft kann man nicht zurückkehren«, sagte Paul.

Er wurde plötzlich von einem starken Mitleid ergriffen, zog sie an sich und streichelte ihr Haar. »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Chani.«

»Usul«, schluchzte sie. »Hilf mir!«

Während er sprach, spürte er, wie die Wirkung der Droge in ihm den Höhepunkt erreichte. Sie riß einen grauen Schleier zur Seite — und jetzt sah er, was dahinter verborgen gewesen war.

»Du bist so still«, sagte Chani.

Das, was er sah, hielt ihn völlig in seinem Bann gefangen. Er sah die Zeit, die sich vor ihm erstreckte, verzerrt zu einer unglaublichen Dimension, sah die Wirbel, die sich vor seinen Augen dahinbewegten, wie sie Kräfte ansammelten, die er nicht verhindern konnte. Welten und Mächte, dazwischen ein klaffender Abgrund, über den er auf einem schmalen Balken gehen mußte.

Auf der einen Seite sah er das Imperium und einen Harkonnen mit dem Namen Feyd-Rautha, der ihm entgegenstob wie eine tödliche Schwertklinge. Und die Sardaukar, die sich in Scharen von ihrem Planeten lösten, um Tod und Verderben über Arrakis zu bringen; die Gilde, die darin verwickelt war und schließlich auch die Bene Gesserit mit ihrem geheimnisvollen Plan der selektiven Aufzucht.

Sie alle lagen wie ein drohendes Gewitter über dem Horizont, und alles, was sie noch zurückhielt, waren die Fremen unter ihrem Muad'dib. Ein schlafender Gigant, der sich auf einen wilden Kreuzzug gegen das Universum vorbereitete.

Paul sah sich selbst im Mittelpunkt jener Bewegung, wo es noch verhältnismäßig ruhig war, und Chani war an seiner Seite. Er sah wie sich eine Zeit vor ihm erstreckte, die relative Ruhe in einem versteckten Sietch versprach. Ein Moment des Friedens zwischen Perioden blutiger Gewalt.

»Es gibt keinen anderen Platz, an dem wir Frieden finden können«, sagte er.

»Usul, du weinst ja«, murmelte Chani. »Usul, meine Stärke, weinst du um die Toten? Um welche Toten?«

»Für diejenigen, die jetzt noch leben können«, erwiderte er.

»Dann laß sie ihr Leben zu Ende leben«, sagte Chani.

Durch den Drogennebel hindurch fühlte er, daß sie recht hatte und zog sie mit sanftem Druck an sich. »Sihaya!«

Chani legte eine Hand auf seine Wange. »Ich habe jetzt keine Angst mehr, Usul. Sieh mich an. Ich sehe, was du siehst, wenn du mich in den Armen hältst.«

»Und was siehst du?« fragte Paul.

»Ich sehe, wie wir einander lieben, bevor die Zeit der Stille vorbei ist und der Sturm losbricht. Dafür hat uns das Schicksal ausersehen.«

Erneut bekam die Droge ihn in ihren Griff, und er dachte: Du hast mir schon so oft Liebe und Vergessen geschenkt. Wieder erfüllte ihn das glänzende Licht der Erleuchtung. Die Zukunft wurde zur Erinnerung … Die zärtliche Liebe, die Vereinigung ihrer Körper … Sanftheit und Gewalt.

»Du bist meine Stärke, Chani«, murmelte er. »Bleibe bei mir.«

»Das werde ich«, erwiderte sie. »Für immer.« Und küßte seine Wange.

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