Drittes Buch Der Prophet

1

Keine Frau, kein Mann, nicht einmal eines seiner Kinder, konnte sich je rühmen, die wirkliche Freundschaft meines Vaters errungen zu haben. Das einzige Verhältnis, das einer solchen Beziehung am nächsten kam, hatte der Padischah-Imperator zu Graf Hasimir Fenring, einem Spielkameraden aus Kindheitstagen. Zunächst sollte man den Grund für diese Beziehung aus der Sicht meines Vaters sehen: Graf Fenring gelang es, das Mißtrauen des Landsraads nach der Arrakis-Affäre dadurch zu zerstreuen, indem er Unmengen von Gewürz verteilte. Wie meine Mutter berichtete, war dies jedoch nicht alles: eine Reihe weiblicher Sklaven wechselte zusätzlich den Besitzer und eine Anzahl von Personen erhielt fürstliche Würden. Das Ganze ging Hand in Hand mit einer wahren allgemeinen Beförderungswelle. Was Fenring jedoch in ein negatives Licht rückte, war seine Weigerung, einen bestimmten Menschen zu toten, obwohl das nicht außerhalb seiner Fähigkeiten lag und mein Vater zudem darauf bestanden hatte. Darüber werde ich im weiteren Verlauf berichten.

›Graf Fenring: ein Profil‹, von Prinzessin Irulan.


Baron Wladimir Harkonnen hetzte von seinen Privaträumen durch einen Korridor, vorbei an hohen Fenstern, durch die die Sonnenstrahlen des Spätnachmittags fielen.

Die Suspensoren, die unter seinem Umhang verborgen waren, hinderten ihn nicht im geringsten daran, weit ausholende Sprünge zu machen.

Er stürmte an der Privatküche und der Bibliothek vorbei, passierte den kleinen Rezeptionsraum und brach wie ein wütender Bulle in die Räume seiner Bediensteten ein, wo man sich bereits den üblichen Feierabendtätigkeiten hingab.

Der Gardehauptmann Iakin Nefud saß auf einem Diwan am anderen Ende des Raums, machte ein geistesabwesendes Gesicht und lauschte den Klängen der Semuta-Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte. Einige Leute saßen in seiner Nähe, als spielten sie den Hofstaat eines Adeligen.

»Nefud!« brüllte der Baron.

Die Männer spritzten auseinander.

Nefud stand auf. Seine Züge spiegelten erheblichen Drogengenuß wider, aber dennoch überschattete die Blässe der Angst ihn auf der Stelle. Die Semuta-Musik setzte aus.

»Jawohl, Mylord«, erwiderte Nefud, und es war nur der Droge zu verdanken, daß seine Stimme nicht zitterte.

Der Baron musterte die Gesichter der Umstehenden. Die Männer schwiegen ängstlich. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Nefud zu und sagte mit zuckersüßer Stimme: »Wie lange sind Sie jetzt der Hauptmann meiner Leibwache, Nefud?«

Nefud schluckte. »Seit Arrakis, Mylord. Fast zwei Jahre.«

»Und Sie haben während der ganzen Zeit alle Gefahren von meiner Person ferngehalten?«

»Das war mein einziges Bestreben, Mylord.«

»Und was ist mit Feyd-Rautha?« donnerte der Baron.

Nefud zuckte zurück. »Mylord?«

»Sie erkennen also nicht, daß eine Gefahr, die Feyd-Rautha droht, auch eine Gefahr für mich darstellt?« Er kehrte wieder zu seinem seidenweichen Tonfall zurück.

Nefud leckte sich die Lippen. Die Wirkung der Semuta-Droge schien jetzt ein wenig von ihm abzufallen. »Feyd-Rautha hält sich im Sklavenquartier auf, Mylord.«

»Also wieder bei Weibern, wie?« Der Baron zitterte vor unverhaltener Wut.

»Sire, es könnte sein, daß er …«

»Ruhe!«

Der Baron machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein und registrierte, wie die Männer zurückwichen und um Nefud herum einen offenen Raum ließen, als wollten sie einen großen Abstand zwischen sich und dem Objekt des Zorns bringen.

»Habe ich Ihnen nicht ausdrücklich befohlen, ständig darüber informiert zu sein, wo sich der na-Baron aufhält?« fragte der Baron. Er kam einen Schritt näher. »Und habe ich nicht weiterhin befohlen, daß Sie genauestens darüber informiert sind, was er spricht — und zu wem?« Noch ein Schritt. »Habe ich Ihnen nicht befohlen, mir sofort davon Mitteilung zu machen, wenn er die Räume der weiblichen Sklaven betritt?«

Wieder schluckte Nefud. Auf seiner Stirn bildeten sich die ersten Schweißtropfen.

Mit flacher Stimme, die dennoch keinerlei Nachdruck verloren hatte, fragte der Baron: »Habe ich Ihnen das nicht befohlen?«

Nefud nickte.

»Und habe ich Ihnen nicht außerdem befohlen, alle Sklavenjungen, die Sie zu mir bringen, zu überprüfen, und zwar persönlich?«

Wieder nickte Nefud.

»Und haben Sie möglicherweise übersehen, daß der, den Sie mir heute abend brachten, einen Leberfleck auf der Hüfte hatte?« fuhr der Baron fort. »Ist es möglich, daß Sie …«

»Onkel.«

Der Baron wirbelte herum und sah seinen Neffen Feyd-Rautha auf der Schwelle stehen. Seine plötzliche Anwesenheit sowie die nicht zu verbergende Tatsache, daß er sich in offensichtlicher Eile befand, bewies, daß er sein eigenes Spitzelsystem aufgebaut hatte, um den Baron im Auge zu behalten.

»In meinen Räumen befindet sich ein Junge, den ich nicht haben will«, sagte der Baron zornig und legte eine Hand auf die unter seiner Robe versteckte Projektilwaffe. Zum Glück war sein Schild einer der besten.

Feyd-Rautha warf den beiden Wachen, die an der rechten Wand standen, einen Blick zu und nickte. Die beiden setzten sich sofort in Bewegung, eilten aus der Tür und machten sich auf den Weg zu den Räumen des Barons.

Diese beiden also, wie? dachte der Baron. Oh, dieses kleine Ungeheuer hat noch viel zu lernen, bevor es die Konspiration perfekt beherrscht!

»Ich nehme an, du hast das Sklavenquartier nicht in Aufregung versetzt, Feyd«, sagte der Baron.

»Ich habe mit dem Sklavenmeister Cheops gespielt«, erwiderte Feyd-Rautha und dachte: Was ist schiefgegangen? Der Junge, den wir ihm geschickt haben, ist offensichtlich umgebracht worden. Und das, obwohl er wie kein anderer für diese Aufgabe prädestiniert war. Selbst Hawat hätte keine bessere Wahl treffen können. Der Junge war perfekt!

»Du hast also Pyramidenschach gespielt«, sagte der Baron. »Wie hübsch. Hast du gewonnen?«

»Ich … äh, ja, Onkel.« Er bemühte sich, ruhig zu bleiben.

Der Baron schnippte mit den Fingern. »Nefud, sind Sie daran interessiert, meine Gunst zurückzugewinnen?«

»Sire«, stammelte Nefud, »was habe ich getan?«

»Das ist jetzt unwichtig«, entgegnete der Baron. »Feyd hat den Sklavenmeister beim Cheops-Spiel geschlagen. Haben Sie das mitbekommen?«

»Jawohl … Sire.«

»Ich wünsche, daß Sie sich drei Männer nehmen und mit ihnen zum Sklavenmeister gehen. Sie stecken ihn in die Garotte und bringen mir seine Leiche, damit ich sehen kann, ob Sie es auch richtig gemacht haben. Wir können solche unfähigen Schachspieler an unserem Hof nicht dulden.«

Feyd-Rautha, plötzlich erblassend, tat einen Schritt nach vorn. »Aber, Onkel … ich …«

»Später, Feyd«, erwiderte der Baron und winkte ab. »Später.«

Die beiden Wächter, die die Räume des Barons aufgesucht hatten, um den Leichnam des Sklavenjungen zu entfernen, kehrten nun zurück. Sie gingen am Freizeitraum vorbei und trugen den toten Jungen zwischen sich. Seine Arme baumelten herab. Der Baron schaute den Wächtern nach, bis sie sich außer Sichtweite befanden.

Nefud stellte sich neben seinen Herrn und fragte: »Sie wünschen, daß ich den Sklavenmeister auf der Stelle umbringe, Mylord?«

»Genau das«, bekräftigte der Baron. »Und wenn Sie damit fertig sind, geschieht das gleiche mit den beiden Männern, die gerade an uns vorbeigegangen sind. Ich mag die Art nicht, in der sie eine Leiche transportieren. Man sollte bei solchen Dinge etwas pietätvoller zu Werke gehen. Auch ihre Kadaver möchte ich mit meinen eigenen Augen sehen.«

Nefud sagte: »Mylord, ist es etwas, das ich …«

»Tun Sie, was Ihr Herr Ihnen befohlen hat«, warf Feyd-Rautha ein. Und er dachte: Ich muß jetzt zuallererst daran denken, meine eigene Haut zu retten.

Gut! dachte der Baron. Zumindest weiß er jetzt, wie man alle Brücken hinter sich abbricht. Er lächelte, ohne daß es jemand zu Gesicht bekam. Der Bursche weiß genau, was mich freut und wie er es verhindern kann, daß meine Wut auf ihn fällt. Und er weiß, daß ich ihn vor etwas bewahren muß. Wer sollte sonst all das übernehmen, wenn ich einmal nicht mehr bin? Ich habe niemanden, der ihm gleichwertig ist. Aber er muß lernen! Und ich muß mich während dieser Zeit auch ein wenig mehr zurückhalten.

Nefud gab einigen Männern ein Zeichen und verließ an ihrer Spitze den Raum.

»Würdest du mich in meine Räume zurückbegleiten, Feyd?« fragte der Baron.

»Ganz zu deinen Diensten«, erwiderte Feyd-Rautha. Er verbeugte sich und dachte: Er hat mich ertappt.

»Nach dir«, sagte der Baron und deutete auf die Tür.

Lediglich an einem kleinen Zögern konnte Feyd-Rautha seine Angst verbergen. Habe ich völlig versagt? fragte er sich. Wird er mir jetzt ein vergiftetes Messer in den Rücken stoßen? Gibt es für ihn doch noch einen alternativen Favoriten?

Er muß diesen Moment schrecklicher Ungewißheit durchstehen, dachte der Baron, als er sich anschickte, hinter seinem Neffen herzugehen. Eines Tages wird er mich überflügeln — aber erst dann, wenn ich es will. Ich werde nicht zulassen, daß er das wegwirft, was ich aufgebaut habe.

Feyd-Rautha gab sich die größte Mühe, nicht zu schnell zu gehen. Er fühlte, wie sich auf seinem Rücken eine Gänsehaut bildete, und fragte sich, wann der tödliche Stoß erfolgen würde. Er spürte, wie sich seine Muskeln abwechselnd spannten und erschlafften.

»Hast du das Neueste von Arrakis schon gehört?« fragte der Baron.

»Nein, Onkel.«

Feyd-Rautha zwang sich dazu, nach vorne zu blicken, verließ den Bedienstetenflügel und bog in die Halle ein.

»Unter den Fremen soll es einen neuen Propheten geben, der irgendeine Führungsrolle übernommen hat«, erklärte der Baron. »Sie nennen ihn Muad'dib. Und das ist wirklich lustig. Es bedeutet ›die Maus‹. Ich habe Rabban gesagt, er soll sie in der Ausübung ihrer Religion nicht behindern. Das wird sie beschäftigt halten.«

»Das ist wirklich interessant, Onkel«, sagte Feyd-Rautha. Er bog in den Korridor ein, der zu den Privatquartieren seines Onkels führte und fragte sich: Warum redet er nur über Religion? Soll das ein versteckter Fingerzeig für mich sein?

»Ja, nicht wahr?« meinte der Baron.

Durch den Empfangssalon betraten sie das Apartment des Barons und gingen in den Schlafraum. Es waren verschiedene kleine Anzeichen eines Kampfes zu sehen: eine verschobene Suspensorlampe, ein auf dem Boden liegendes Bettuch, eine Tablettenhülse, die offen auf dem Bett lag und deren Inhalt verstreut war.

»Es war ein intelligenter Plan«, sagte der Baron. Er hatte seinen Körperschild noch immer auf Maximalleistung geschaltet, als er stehenblieb und seinen Neffen fixierte. »Aber leider nicht intelligent genug. Sag mir, Feyd, warum hast du mich nicht selbst niedergestreckt? Gelegenheiten dazu hattest du doch genug.«

Feyd-Rautha fand einen Suspensorensessel und unterdrückte ein Schaudern, als ihm bewußt wurde, daß er sich hingesetzt hatte, ohne danach zu fragen.

Am besten ist es, wenn ich mich ihm frech zeige, dachte er.

»Du hast mir selbst beigebracht, daß meine Hände auf jeden Fall sauber bleiben müssen«, erwiderte er.

»Ach ja«, meinte der Baron. »Wenn du dem Imperator gegenüberstehst, mußt du die Kraft haben, jede Beschuldigung zu bestreiten. Die Hexe, die neben ihm sitzt, wird jedes deiner Worte genau analysieren. Und sie ist in der Lage, die Wahrheit von der Lüge genauestens zu unterscheiden. Tatsächlich, ich war es selbst, der dir das beigebracht hat.«

»Warum hast du dir nie eine Bene Gesserit gekauft, Onkel?« fragte Feyd-Rautha. »Mit einer Wahrsagerin an der Seite …«

»Du weißt, wie ich darüber denke!« schnappte der Baron.

Feyd-Rautha musterte ihn und sagte: »Und dennoch, eine wäre vielleicht …«

»Ich traue ihnen nicht!« schnaufte der Baron. »Und hör jetzt damit auf, das Thema zu wechseln!«

Sanft erwiderte Feyd-Rautha: »Ganz wie du es wünschst, Onkel.«

»Ich erinnere mich an einen Tag«, fuhr der Baron fort, »als es so aussah, als beabsichtigte jemand, dich durch einen Sklaven umbringen zu lassen. In der Arena. Es ist mehrere Jahre her. Ist es wirklich so gewesen damals?«

»Es ist wirklich ziemlich lange her, Onkel. Nach allem, was in der Zwischenzeit …«

»Keine Ausreden, wenn ich bitten darf!« Die Schärfe, mit der er diese Worte hervorstieß, zeigte deutlich, wie verärgert er war.

Feyd-Rautha schaute ihn an und dachte: Er weiß es, sonst würde er nicht danach fragen.

»Es war eine Täuschung, Onkel. Ich arrangierte die Sache, um deinen Sklavenmeister zu diskreditieren.«

»Wirklich clever«, meinte der Baron. »Und mutig. Dieser Sklavenmeister hat dich hart herangenommen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Wenn du schon damals eine solche Schlauheit besessen hast, kann noch etwas aus dir werden.« Der Baron bewegte abwägend den Kopf. Und wie schon unzählige Male seit jenem schrecklichen Tag auf Arrakis, beklagte er den Verlust seines Mentats Piter. Was subtile Pläne und Verschlagenheit anging, war er nicht zu übertreffen gewesen. Auch wenn ihn das letztendlich nicht gerettet hatte. Erneut schüttelte er den Kopf. Das Schicksal war manchmal unergründlich.

Feyd-Rautha ließ seinen Blick durch den Schlafraum schweifen, studierte die Zeichen des Kampfes und fragte sich, wie es seinem Onkel gelungen war, den Sklaven, den sie so sorgfältig vorbereitet hatten, zu überwinden.

»Wie ich ihn besiegte?« fragte der Baron. »Ah, Feyd, laß mir noch das Geheimnis einiger Waffen, die mich auf meine alten Tage beschützen. Wir sollten die Zeit besser dazu nutzen, eine Übereinkunft zu treffen.«

Feyd-Rautha starrte ihn an. Eine Übereinkunft! Er will mich also auch weiterhin als seinen Erben ansehen. Eine Übereinkunft schloß man nur unter Gleichberechtigten ab — oder beinahe Gleichberechtigten!

»Was für eine Übereinkunft, Onkel?« Und er fühlte sich stolz, daß seine Stimme bei diesen Worten kühl und gelassen geblieben war und nichts von der Ehre verbarg, der er sich ausgesetzt fühlte.

Der Baron nickte. Auch er spürte, daß sein Neffe sich unter vollster Kontrolle hatte. »Du bist aus gutem Material, Feyd. Ich habe keine Lust, das sinnlos zu vergeuden. Du weigerst dich anzuerkennen, daß ich viel von dir halte. Du bist starrsinnig. Du siehst nicht ein, daß mir nichts mehr am Herzen liegt als deine Zukunft. Dies …«, er deutete mit der Hand auf die Spuren des Kampfes, »… war närrisch. Und ich denke nicht daran, eine Narrheit zu belohnen.«

Komm zur Sache, du alter Narr! dachte Feyd-Rautha.

»Du hältst mich für einen alten Narren«, fuhr der Baron fort. »Und davon kann ich dir nur abraten.«

»Du sagtest etwas von einer Übereinkunft.«

»Ah, diese jugendliche Ungeduld«, stöhnte der Baron. »Nun, kommen wir zum Grundsätzlichen: Du wirst in Zukunft auf diese närrischen Anschläge auf mein Leben verzichten. Ich werde, wenn die Zeit für dich gekommen ist, meinen Platz räumen. Ich werde mich dann in eine beratende Funktion zurückziehen und dir die Schalthebel der Macht überlassen.«

»Du willst dich zurückziehen, Onkel?«

»Du hältst mich immer noch für einen Narren«, fügte der Baron hinzu. »Und dies bestärkt dich noch darin, wie? Du glaubst, der alte Narr bittet dich um sein Leben? Sei vorsichtig, Feyd! Immerhin hat dieser alte Narr sehr deutlich die präparierte Nadel gesehen, die du in dem Körper des Sklaven untergebracht hattest. Du hast damit gerechnet, daß ich ihn umarmen würde, wie! Und dann — unter dem kleinsten Druck — hätte es Klick gemacht. Und der alte Narr hätte die Giftnadel in der Handfläche stecken gehabt! Oh, mein lieber Feyd …«

Der Baron schüttelte den Kopf und dachte: Und es hatte auch geklappt, wenn Hawat mich nicht gewarnt hatte. Egal, soll der Junge eben glauben, ich hätte das Komplott von allein gerochen. In gewisser Weise habe ich das auch. Immerhin war ich derjenige, der Hawats Leben rettete. Aber ich muß diesen Burschen davon überzeugen, daß ich mich vor nichts fürchte.

»Du sprachst von einer Übereinkunft«, wiederholte Feyd-Rautha. »Woran können wir ersehen, daß sie auch eingehalten wird?«

»Du meinst, wie wir einander trauen können, nicht wahr?« fragte der Baron lächelnd. »Nun, Feyd, was dich angeht, so werde ich Thufir Hawat auf dich ansetzen. Er soll dich im Auge behalten. In diesem Falle vertraue ich voll auf die Fähigkeit eines Mentaten. Verstehst du mich! Und was mich angeht, so hast du keine andere Wahl, als mir zu vertrauen. Aber ich kann nicht ewig leben, nicht wahr, Feyd? Und vielleicht solltest du anfangen darüber nachzudenken, daß ich Dinge weiß, die du wissen solltest.«

»Ich gebe dir mein Wort — und was gibst du mir dafür?« fragte Feyd-Rautha brüskiert.

»Ich lasse dich weiterleben«, erwiderte der Baron ungerührt.

Wieder musterte Feyd-Rautha seinen Onkel. Er setzt Hawat auf mich an! Was würde er tun, wenn ich ihm sagen würde, daß es Hawats Plan gewesen ist, der ihn seinen Sklavenmeister kostete? Sicher würde er sagen, daß ich nur lüge, um Hawat in Mißkredit zu bringen. Nein, der gute Thufir ist ein Mentat und muß diesen Augenblick vorausberechnet haben.

»Nun, was sagst du dazu?« fragte der Baron.

»Was soll ich dazu sagen. Natürlich bin ich damit einverstanden.«

Und Feyd-Rautha dachte: Hawat! Er spielt beide Enden gegen die Mitte aus … ist es nicht so? Hat er sich auf die Seite meines Onkels geschlagen, weil ich ihn bei der Sache mit dem Jungen nicht um Rat gebeten habe?

»Du hast gar nichts über meine Absicht gesagt, daß ich Hawat einsetzen will, um auf dich aufzupassen«, sagte der Baron.

Feyd-Rauthas verbarg seinen Ärger, indem er die Nasenflügel aufblies. Der Name Hawat war für die Familie Harkonnen lange Jahre ein Gefahrensignal gewesen … und jetzt schien es, als hätte sich nichts geändert: der Mann war noch immer eine Bedrohung.

»Hawat ist ein gefährliches Spielzeug«, erwiderte er.

»Ein Spielzeug! Stell dich doch nicht dumm. Ich weiß genau, was ich an ihm habe, und ich weiß auch, wie ich ihn unter meiner Kontrolle halte. Hawat verfügt über tiefe Gefühle, Feyd. Wirklich gefährlich ist nur der Mann, der über keine Gefühle verfügt. Aber tiefe Emotionen … ah, die kann man für seine Zwecke ausgezeichnet zurechtbiegen.«

»Onkel, ich verstehe dich nicht.«

»Das ist offensichtlich genug.«

Nur das Flackern eines Augenlides deutete an, daß der Baron seinen Neffen empfindlich getroffen hatte.

»Und auch Hawat verstehst du nicht«, fügte der Baron hinzu.

Genausowenig wie du selbst! dachte Feyd-Rautha.

»Wen wollte Hawat für die gegenwärtigen Umstände verantwortlich machen? Mich? Sicher. Aber er war lange Jahre ein Werkzeug der Atreides' und hat mich während dieser Zeit laufend besiegt — bis schließlich das Imperium eingriff. So jedenfalls sieht er die Lage. Der Haß, den er für mich empfindet, ist für ihn jetzt nur noch zufälliger Natur. Er glaubt, mich jederzeit wieder besiegen zu können. Und weil er das glaubt, merkt er nicht, daß ich ihn schon lange besiegt habe. Denn ich bin es, der seine Wut auf das richtet, was er zu hassen glaubt: das Imperium.«

Über Feyd-Rauthas Stirn legten sich plötzlich Falten. Er begann zu verstehen. »Gegen den Imperator?«

Das sollte meinen lieben Neffen auf den Geschmack bringen, dachte der Baron. Er muß zu sich selbst sagen: Imperator Feyd-Rautha Harkonnen! Er soll sich fragen, was ihm das wert ist. Auf jeden Fall das Leben eines alten Onkels, der diesen Traum vielleicht wahr werden lassen kann!

Langsam glitt Feyd-Rauthas Zunge über seine Lippen. Konnte es wirklich wahr sein, was der alte Narr da erzählte? Hinter der ganzen Sache schien mehr zu stecken, als er bisher vermutet hatte.

»Und was hat Hawat damit zu tun?« fragte er.

»Er glaubt, uns dazu zu benutzen, seine Rache an unserem Imperator zu vollstrecken.«

»Und wenn das erfüllt ist?«

»Er denkt nicht über das nach, was nach der Erfüllung seiner Rache kommen wird. Hawat ist ein Mann, dessen Bestimmung darin liegt, anderen zu dienen. Schon allein aus diesem Grund weiß er nichts über sich selbst.«

»Ich habe viel von Hawat gelernt«, gab Feyd-Rautha zu und fühlte gleichzeitig den Klang der Wahrheit, der in seinen Worten lag. »Aber je mehr ich von ihm lerne, desto mehr komme ich auch zu der Überzeugung, daß wir ihn uns vom Halse schaffen müssen … und zwar sehr bald.«

»Du hältst also nicht viel davon, wenn ich ihn an deine Fersen hefte?«

»Hawat heftet sich an die Fersen von allen.«

»Und vielleicht bringt er dich sogar auf den Thron. Hawat denkt auf verschlungenen Pfaden. Er ist gefährlich und keinesfalls zu unterschätzen. Aber dennoch habe ich ihm bisher das Gegenmittel nicht entzogen. Auch Schwerter können uns gefährlich werden, Feyd. Für dieses Schwert haben wir jedoch eine passende Scheide, und zwar das Gift in seinem Körper. Wenn wir ihm das Gegenmittel nicht mehr geben, wird der Tod Hawats Scheide sein.«

»Irgendwie«, sagte Feyd-Rautha, »ist das alles wie in der Arena. Man macht eine Finte, um eine zweite Finte, die eine dritte vernebeln soll, unerkannt zu lassen. Man beobachtet, wie sich der Gladiator bewegt, wie er dich ansieht, wie er das Messer hält.«

Als er bemerkte, wie sein Onkel nickte, weil ihm diese Worte offenbar gefielen, dachte er: Ja! Genau wie in der Arena! Nur daß die scharfen Klingen aus Verstand bestehen!

»Du siehst jetzt, wie sehr du mich benötigst«, sagte der Baron. »Ich bin immer noch für etwas zu gebrauchen, Feyd.«

Wie ein Schwert, das man so lange schwingt, bis es zu stumpf zum Zuschlagen geworden ist, dachte Feyd-Rautha.

Laut sagte er: »Ja, Onkel.«

»Und jetzt«, fügte der Baron hinzu, »gehen wir beide in die Sklavenquartiere hinunter. Und ich werde zusehen, wie du mit deinen eigenen Händen alle Frauen des Lustflügels erwürgst.«

»Onkel!«

»Es gibt doch noch andere Frauen, Feyd. Aber ich habe dir gesagt, daß du einen solchen Fehler, wie du ihn mit mir begangen hast, nicht mehr wiederholen darfst.«

Feyd-Rauthas Gesicht verdüsterte sich. »Onkel, du …«

»Du wirst diese Strafe hinnehmen und hoffentlich etwas aus ihr lernen«, sagte der Baron.

Feyd-Rautha sah das glühende Starren in den Augen seines Onkels. Ich darf diesen Abend nicht vergessen, dachte er, genausowenig wie all diese anderen.

»Du wirst dich nicht widersetzen«, sagte der Baron sanft.

Was könntest du schon dagegen tun, wenn ich mich weigerte, du alter schwuler Sack? fragte sich Feyd-Rautha. Aber er wußte ebensogut, daß es noch andere Arten der Strafe für ihn gab; vielleicht subtilere, aber ganz sicher auch brutalere, die ihn zerbrechen konnten.

»Ich kenne dich, Feyd«, sagte der Baron. »Du wirst dich schon nicht widersetzen.«

In Ordnung, dachte Feyd-Rautha. Jetzt brauche ich dich noch. Das weiß ich. Die Übereinkunft ist getroffen. Aber ich werde ich nicht immer brauchen. Und … eines Tages …

2

Tief im menschlichen Unterbewußtsein versteckt existiert ein durchdringendes Bedürfnis, das Universum in logischer Konsequenz in seiner Gänze zu erfassen. Aber das Universum befindet sich immer einen Schritt jenseits der logischen Erfaßbarkeit.

Aus ›Leitfäden des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


Ich habe, dachte Thufir Hawat, bisher einer ganzen Reihe mächtiger Herrscher gegenüber gesessen. Aber keiner davon verfügte auch nur annähernd über die Dimensionen dieses fetten, gefährlichen Schweins.

»Sie können ruhig offen zu mir sein, Hawat«, brummte der Baron. Er lehnte sich in seinen Suspensorensessel zurück und bohrte den Blick seiner von Fettwülsten halb geschlossenen Augen auf Hawat.

Der alte Mentat schaute auf den Tisch, der ihn von dem Baron Wladimir Harkonnen trennte, und registrierte das reichhaltige Ornament seiner Oberfläche. Auch dies war ein Faktor, der in der Beurteilung des Barons eine Rolle spielte — genauso wie die roten Wände seines privaten Besprechungszimmers und der matte, etwas herbe Duft, der in der Luft hing und offenbar dazu diente, andere Gerüche zu überdecken.

»Es ist bestimmt nicht einer einfachen Laune zu verdanken, daß Sie mich baten, Rabban diese Warnung zukommen zu lassen«, fügte er hinzu.

Hawats lederiges, altes Gesicht blieb völlig unberührt und zeigte nicht im geringsten an, was er fühlte. »Ich vermute vieles, Mylord«, erwiderte Hawat.

»Ja. Ich frage mich aber, welche Rolle Arrakis in Ihren Vermutungen Salusa Secundus betreffend spielt. Es genügt mir einfach nicht, daß Sie mir erzählen, der Imperator sei über gewisse Parallelen zwischen Arrakis und seinem geheimnisvollen Gefängnisplaneten besorgt. Ich habe Rabban also diese Botschaft sofort gesandt, weil der Kurier mit dem nächsten Schiff starten mußte. Sie sagten, die Sache dulde keinen Aufschub. In Ordnung und gut. Aber jetzt verlange ich eine Erklärung.«

Er quatscht zuviel, dachte Hawat. Er hat überhaupt nichts mit Leto gemein, der mir eine ganze Geschichte allein durch das Anheben einer Augenbraue oder einen Wink mit der Hand erzählen konnte. Oder wie der alte Herzog, der ganze Romane in einem Wort unterbrachte. Dieser hier ist ein Tölpel. Ihn zu vernichten, wäre ein Segen für die Menschheit.

»Sie werden diesen Raum nicht verlassen, bevor ich nicht eine detaillierte und komplette Auskunft erhalten habe«, sagte der Baron.

»Sie sprechen zu leichtfertig über Salusa Secundus«, erwiderte Hawat.

»Der Planet ist eine Strafkolonie. Man schickt die abgefeimtesten Halsabschneider dorthin. Was gibt es über diesen Planeten, was wir wissen sollten?«

»Die Bedingungen dieses Gefängnisplaneten sind schlimmer als auf allen anderen Welten«, sagte Hawat. »Sie wissen, daß die Sterblichkeitsrate neu dorthin verbannter Personen höher liegt als sechzig Prozent. Und Sie wissen auch, daß der Imperator jedes Druckmittel zuerst auf Salusa Secundus zur Anwendung bringt. All das wissen Sie — und stellen dennoch keine Fragen?«

»Der Imperator pflegt die Mitglieder der Hohen Häuser nicht einzuladen, um seinem Gefängnisplaneten einen Besuch abzustatten«, grollte der Baron. »Und ebensowenig lasse ich ihn in meine Karten gucken.«

»Und Neugierde über Salusa Secundus ist … äh …«, Hawat legte einen dünnen Finger an seine Lippen, »… wohl nicht standesgemäß.«

»Weil er bestimmt nicht stolz auf manche Dinge ist, die es dort zu sehen gibt!«

Hawat erlaubte sich ein mattes Lächeln. Als er den Baron ansah, leuchteten seine Augen im Schein der Leuchtröhren. »Und Sie haben sich niemals die Frage gestellt, woher der Imperator seine Sardaukar holt?«

Der Baron schürzte die fetten Lippen. In diesem Moment sah er aus wie ein schmollendes Baby.

Seine Stimme hatte allerdings kaum etwas Kindliches an sich, als er sagte: »Wieso … er rekrutiert sie … er fordert bestimmte Kontingente an …«

»Pah!« schnappte Hawat. »Und die Geschichten, die man über die Raubzüge der Sardaukar hört, sind keine Märchen, nicht wahr? Es sind Augenzeugenberichte der wenigen Überlebenden, die ihnen je im Kampf gegenübergestanden haben, wie?«

»Niemand zweifelt daran, daß die Sardaukar ganz ausgezeichnete Kämpfernaturen sind«, erwiderte der Baron. »Aber ich glaube, daß meine eigenen Legionen …«

»Eine Bande von Sonntagsausflüglern sind sie im Vergleich zu den Sardaukar!« schnaubte Hawat. »Glauben Sie etwa, ich wüßte nicht, warum sich der Imperator gegen das Haus Atreides gestellt hat?«

»Das ist eine Sache, über die Sie nicht zu spekulieren haben«, warnte der Baron.

Ist es möglich, daß nicht einmal er weiß, was den Imperator motivierte, in diesen Kampf einzugreifen? fragte sich Hawat.

»Alles steht meinen Spekulationen offen, wenn es damit zusammenhängt, die Funktion zu erfüllen, für die sich mich engagiert haben«, sagte Hawat. »Ich bin ein Mentat. Und einem Mentaten dürfen Sie weder Informationen verweigern, noch ihm Grenzen setzen.«

Der Baron starrte ihn eine ganze Minute lang wortlos an. Schließlich erwiderte er: »Sagen Sie, was Ihnen auf der Zunge brennt, Mentat.«

»Der Padischah-Imperator wandte sich gegen das Haus Atreides, weil die Kampfmeister des Herzogs, Gurney Halleck und Duncan Idaho, eine kleine Kampfeinheit — eine kleine Kampfeinheit — dazu ausbildeten, gegen die Sardaukar bestehen zu können. Einige dieser Leute mögen vielleicht sogar besser gewesen sein. Und da der Herzog in der Position war, diese Kampfeinheit zu vergrößern, genauer gesagt, sie genauso groß zu machen wie die Sardaukar-Armee des Imperators, mußte er sterben.«

Der Baron wägte Hawats enthüllende Worte nachdenklich ab und sagte dann: »Und was hat Arrakis damit zu tun?«

»Der Planet verfügt über ein unerschöpfliches Reservoir von auf den brutalsten Überlebenskampf trainierter Menschen.«

Der Baron schüttelte den Kopf.

»Sie meinen doch nicht etwa die Fremen?«

»Genau die meine ich.«

»Hah! Warum haben wir Rabban dann gewarnt? Von den Fremen kann es seit dem von den Sardaukar durchgeführten Pogrom und Rabbans Aktionen kaum mehr als eine Handvoll geben!«

Hawat starrte ihn ausdruckslos an.

»Nicht mehr als eine Handvoll!« wiederholte der Baron. »Allein im letzten Jahr hat Rabban sechstausend Fremen massakrieren lassen!«

Hawat wandte seinen Blick noch immer nicht von ihm.

»Und im Jahr davor«, sagte der Baron, »waren es neuntausend. Und allein die Sardaukar brachten zwanzigtausend um, ehe sie Arrakis verließen.«

»Und wieviel Männer hat Rabban in den letzten beiden Jahren verloren?« fragte Hawat.

Der Baron rieb die Handflächen gegeneinander. »Nun, er hat ziemlich viel neue Legionäre rekrutieren lassen, das stimmt. Seine Anwerber haben die Fähigkeit, ziemlich gute Versprechungen zu machen und …«

»Einigen wir uns auf dreißigtausend Männer?« fragte Hawat zynisch.

»Das wäre sicherlich ein wenig zu hoch«, meinte der Baron.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Hawat. »Es waren eher noch mehr. Vergessen Sie nicht, Baron, daß ich ebenso gut zwischen den Zeilen lesen kann wie Sie. Und Sie sollten ebenso in der Lage sein, die Berichte, die ich Ihnen lieferte, zu verstehen.«

»Arrakis ist ein ungastlicher Planet«, entgegnete der Baron. »Allein die Stürme dort …«

»Wir wissen beide genau, wie viele Männer ihr Leben unter dem Einfluß von Stürmen verloren«, sagte Hawat hartnäckig.

»Was bedeutet es schon, wenn er wirklich dreißigtausend Männer verloren hat?« fauchte der Baron mit zornrotem Gesicht.

»Nach Ihren eigenen Angaben«, erklärte Hawat, »hat er in zwei Jahren fünfzehntausend Fremen töten lassen und in der gleichen Zeit die doppelte Zahl an Legionären verloren. Weiterhin sagten Sie, die Sardaukar allein hätten zwanzigtausend Fremen — wenn nicht sogar mehr — umgebracht, bevor sie Arrakis verließen. Zufälligerweise habe ich die Transportlisten der Sardaukar gesehen, bevor sie nach Salusa Secundus zurückkehrten. Wenn sie wirklich zwanzigtausend Fremen getötet haben, Baron, dann haben sie dabei in jedem Fall fünfmal soviel ihrer eigenen Leute verloren. Und das sollte Ihnen zu denken geben. Verstehen Sie, was ich meine?«

Mit kalter Stimme erwiderte der Baron: »Das ist Ihre Aufgabe, Mentat. Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich habe Ihnen gesagt, wie viele Köpfe Duncan Idaho bei seinem Besuch in einem Sietch gezählt hat«, erklärte Hawat. »Es paßt alles gut zusammen. Selbst wenn die Fremen nur über zweihundertfünfzig solcher Sietch-Gemeinschaften verfügten, betrüge ihre Bevölkerung mindestens fünf Millionen. Ich vermute aber, daß sie wenigstens doppelt so viele Gemeinschaften haben. Rechnen Sie sich die Bevölkerung dieses Planeten selbst aus.«

»Zehn Millionen?«

Der Baron runzelte die Stirn.

»Mindestens.«

Der Baron schürzte die Lippen. Seine unter Fettwülsten beinahe verborgenen Augen starrten Hawat an. Könnte das wirklich stimmen? dachte er. Und wenn ja — wieso haben wir davon nie etwas gemerkt?

»Es ist uns bisher nicht einmal gelungen, den Bevölkerungsnachwuchs zu eliminieren«, führte Hawat aus. »Wenn wir irgendwelche Exemplare erwischen, sind es immer nur die Schwächeren. Das bedeutet, daß uns die Starken entgehen und sie immer noch stärker werden — genau wie die Leute, die nach Salusa Secundus deportiert werden.«

»Salusa Secundus!« bellte der Baron. »Was hat Arrakis mit dem Gefängnisplaneten des Imperators zu tun?«

»Ein Mensch, dem es gelingt, auf Salusa Secundus zu überleben«, sagte Hawat, »geht aus dieser Hölle gestärkt hervor. Und wenn Sie ihn dazu noch der härtesten militärischen Ausbildung unterziehen …«

»Unsinn! Sie behaupten damit doch wohl nicht, ich könnte die Fremen in meine Dienste nehmen, nachdem mein Neffe sie blutig unterdrückt hat?«

In einem milden Tonfall erwiderte Hawat: »Werden Ihre eigenen Truppen nicht ebenfalls ständig unterdrückt?«

»Nun … ich … aber …«

»Unterdrückung ist eine relative Sache«, fuhr Hawat fort. »Ihre Kämpfer wissen genau, daß es den Legionären anderer Adeliger ebenfalls nicht besser geht, nicht wahr? Und daß es für sie keine Alternative gibt, ist ihnen auch klar.«

Der Baron schwieg. Seine Augen wirkten blicklos. Diese Möglichkeiten — hatte Rabban dem Hause Harkonnen etwa unwissentlich die ultimate Waffe in die Hände gespielt?

Plötzlich sagte er: »Wie könnte man sich der Loyalität solcher Rekrutierten sicher sein?«

»Ich würde aus ihnen kleine Gruppen bilden, die nicht größer sein dürfen als ein Zug«, gab Hawat zurück. »Dann würde ich sie aus ihrer mißlichen Lage befreien und Männern unterstellen, die hart sind und etwas Verständnis für die Lage der Gefangenen aufbringen; Männer, die möglicherweise vorher die gleiche Situation zu meistern hatten. Und ich würde sie mit der Information behämmern, daß ihr Gefängnisplanet in Wirklichkeit ein geheimes Trainingslager für Elitekämpfer ist und man sie dazu auserwählt hat, dieser Elite anzugehören. Und ich würde ihnen zeigen, was einen Angehörigen dieser Truppen in der Zukunft erwartet: ein Leben im Wohlstand, schöne Frauen, luxuriöse Unterkünfte … alles, was das Herz begehrt.«

Der Baron nickte zögernd. »Und genauso leben die Sardaukar auch.«

»Nach einer Weile werden die Rekrutierten zu glauben beginnen, daß Salusa Secundus heilig ist, weil er sie hervorgerufen hat — die Elite. Und verstärkt wird das dadurch, daß sich noch der gemeinste Sardaukar bewußt ist, ein Leben zu leben, wie es sonst nur einem Angehörigen eines Hohen Hauses zusteht.«

»Es ist unglaublich!« stieß der Baron hervor.

»Sie fangen also an, mein Mißtrauen zu teilen?« fragte Hawat. »Aber womit hat das alles angefangen?« fragte der Baron.

»Ah, ja. Von welchem Planeten stammt eigentlich das Haus Corrino? Gab es schon Menschen auf Salusa Secundus, bevor der Imperator das erste Häftlingskontingent dort absetzen ließ? Selbst Herzog Leto, der mit ihm verwandt war, konnte darüber nie etwas herausbekommen. Man stellt solche Fragen einfach nicht.«

Die Augen des Baron glitzerten nachdenklich.

»Ja, es handelt sich wirklich um ein sorgfältig gehütetes Geheimnis. Sie haben alle Mittel eingesetzt, um …«

»Aber was gibt es dort zu verbergen?« fragte Hawat. »Daß der Padischah-Imperator über einen Gefängnisplaneten verfügt? Das weiß jeder. Daß er …«

»Graf Fenring!« stieß der Baron plötzlich hervor.

Hawat brach ab und blickte den Baron mit gerunzelter Stirn an. »Was ist mit Graf Fenring?«

»Vor einigen Jahren, an einem Geburtstag meines Neffen«, erwiderte der Baron, »kam dieser imperiale Hampelmann als offizieller Besucher zu den Feiern … und um ein Geschäft zwischen dem Imperator und mir abzuschließen.«

»Tatsächlich?«

»Ich … ah, während einer unserer Konversationen, sagte ich etwas darüber, daß ich vorhätte, so etwas wie einen Gefängnisplaneten aus Arrakis zu machen. Fenring …«

»Was genau haben Sie gesagt?« fragte Hawat.

»Genau? Nun, das ist schon eine Weile her und …«

»Mylord, wenn Sie Wert darauf legen, daß ich Ihnen in bester Weise diene, müssen Sie auch alles tun, um mir die bestmögliche Information zuzuleiten. Wurde diese Konversation nicht aufgezeichnet?«

Das Gesicht des Barons verdunkelte sich vor Zorn. »Sie sind genauso schlimm wie Piter! Ich mag es nicht, in dieser Form …«

»Piter ist aus Ihrem Leben verschwunden, Mylord«, sagte Hawat trocken. »Aber wenn wir schon einmal über ihn sprechen: Woran ist er eigentlich gestorben?«

»Er lernte mich zu gut kennen und stellte deswegen zu viele herausfordernde Fragen«, knirschte der Baron.

»Sie haben mir versichert, es nicht zu mögen, wenn man nützliche Menschen sinnlos vergeudet«, sagte Hawat. »Vergeuden Sie also auch nicht meine Kräfte. Kehren wir zu unserem Thema zurück. Wir sprachen gerade darüber, was Sie mit Graf Fenring diskutierten.«

Langsam entspannte sich der Baron wieder. Wenn der richtige Zeitpunkt kommt, dachte er, werde ich mich daran erinnern, wie er mit mir umgesprungen ist. Oh, ja, daran werde ich mich erinnern.

»Einen Moment«, sagte er und versuchte sich daran zu erinnern, wie er mit Fenring in der großen Halle gestanden hatte. Er stellte sich den abgeschirmten Schallkegel vor, in dem er gestanden hatte, und es half. »Ich sagte so etwas wie: ›Der Imperator weiß, daß es unerläßlich ist, daß bei gewissen Arbeiten eine bestimmte Reihe von Leuten das Leben verliert.‹ Ich wollte damit etwas über unsere Verluste an Arbeitskräften erklären. Dann sagte ich etwas über einen anderen Weg, das Arrakis-Problem zu lösen und deutete an, daß es der imperiale Gefängnisplanet gewesen sei, der mich dazu inspiriert hätte.«

»Hexenblut!« fluchte Hawat. »Und was hat Fenring darauf geantwortet?«

»Er fing an, mich über Sie auszufragen.«

Hawat setzte sich zurück und schloß nachdenklich die Augen. »Also deshalb haben sie angefangen, Arrakis im Auge zu behalten«, sagte er. »Nun, jetzt ist es zu spät.« Er öffnete die Augen wieder. »Sie müssen jetzt schon ein Heer von Spionen über Arrakis verstreut haben. Nach zwei Jahren!«

»Aber meine unschuldige Bemerkung kann doch nicht …«

»In den Augen des Imperators gibt es keine Unschuld! Welche Instruktionen haben Sie Rabban erteilt?«

»Hauptsächlich die, daß er Arrakis beibringen soll, uns zu fürchten.«

Hawat schüttelte den Kopf. »Sie haben jetzt zwei Alternativen, Baron. Sie können die Eingeborenen ausrotten oder …«

»Ich soll das gesamte Arbeiterpotential vernichten?«

»Oder würden Sie es bevorzugen, wenn der Imperator und all die Hohen Häuser, die er unter seine Knute zwingen kann, sich aufmachen und über Giedi Primus herfallen?«

Der Baron musterte den Mentaten und sagte schließlich: »Das würde er nicht wagen!«

»Glauben Sie das wirklich?«

Die Lippen des Barons zitterten. »Was ist die Alternative dazu?«

»Sagen Sie sich von Ihrem lieben Neffen Rabban los.«

»Ich soll mich …« Der Baron brach ab und stierte Hawat an. »Hören Sie auf damit, ihm Truppen zu senden oder irgendwelchen Nachschub. Hören Sie auf, seine Botschaften zu beantworten, und lassen Sie ihm statt dessen mitteilen, daß Sie über sein Vorgehen auf Arrakis entsetzt sind und bei nächster Gelegenheit Gegenmaßnahmen ergreifen werden. Daß die Spitzel des Imperators diese Botschaften in die Hände bekommen, ist von vornherein eine klare Sache.«

»Aber was ist mit dem Gewürz, mit den Abgaben, den …«

»Verlangen Sie die Ihnen zustehenden Profite, aber gehen Sie dabei vorsichtig zu Werke. Teilen Sie ihm nur mit, wieviel er abzuführen hat. Wir können …«

Der Baron legte die Hände mit den Handflächen nach oben auf den Tisch, blickte sie an und sagte: »Aber wie kann ich denn sicher sein, daß dieser gerissene Hund nicht …«

»Immerhin haben wir auch noch unsere Spione auf Arrakis. Sagen Sie Rabban, daß er entweder die Gewürzquoten erzielt, die sie ihm gesetzt haben, oder sich an den Gedanken gewöhnen muß, ersetzt zu werden.«

»Ich kenne meinen Neffen«, sagte der Baron. »Das würde ihn nur dazu verleiten, die Bevölkerung noch mehr anzutreiben.«

»Natürlich wird er das!« sagte Hawat. »Sie sollen auch gar nicht im Ernst beabsichtigen, ihn daran zu hindern! Alles, auf was Sie zu achten haben, ist, daß Ihre eigenen Hände bei der ganzen Geschichte sauber bleiben! Lassen Sie Rabban aus Arrakis ein zweites Salusa Secundus machen. Wir brauchen ihm nicht einmal Häftlinge zu schicken. Die ganze Bevölkerung steht ihm zur Verfügung. Wenn er es darauf anlegt, die angeforderten Quoten zu erreichen, wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Leute zu unterdrücken. Und der Imperator wird hinter seiner Drangsaliererei kein anderes Motiv erkennen. Folglich wird er sich auch nicht sonderlich um Arrakis kümmern. Und Sie Baron, werden mit keinem Wort und keiner Bewegung erwähnen, daß es noch einen anderen Grund für Rabbans Vorgehensweise gibt.«

Die Stimme des Barons klang widerwillig bewundernd. »Ah, Hawat, Sie sind ja ein ganz gerissener Hund. Aber wie bringen wir Arrakis wieder an uns, nachdem Rabban diese nützliche Vorarbeit geleistet hat?«

»Nichts ist einfacher als das, Baron. Wenn Sie die Quoten jedes Jahr ein wenig höher ansetzen, wird es bald zu einer Eskalation kommen. Die Leute werden es nicht mehr schaffen, und Sie können Rabban absetzen — wegen Unfähigkeit. Und dann übernehmen Sie den Planeten selbst … um die Lage vordergründig wieder zu normalisieren.«

»Das könnte klappen«, erwiderte der Baron. »Aber ich fühle, daß ich allmählich zu müde werde, um all das noch auf mich zu nehmen. Ich bin bereits dabei, einen anderen darauf vorzubereiten, das für mich zu tun.«

Hawat musterte das fette Gesicht seines Gegenübers. Langsam begann der alte Soldatenspitzel zu nicken. »Feyd-Rautha«, meinte er. »Das ist also der Grund für die gegenwärtige Unterdrückung der Bevölkerung. Sie sind selbst ein gerissener Hund, Baron. Vielleicht können wir diese Pläne irgendwie in Einklang bringen. Sicher können wir das. Ihr Feyd-Rautha kann nach Arrakis gehen und sich dort als Retter präsentieren. Damit kann er die Bevölkerung für sich gewinnen. Ja.«

Der Baron lächelte. Und hinter seinem Lächeln stellte er sich die Frage: Und wie paßt das alles zu Hawats persönlichen Plänen?

Hawat, der erkannte, daß er nicht mehr gebraucht wurde, erhob sich und verließ den rotwandigen Raum. Und während er ging, dachte er an die störenden Unbekannten, die jede Vorausberechnung auf Arrakis so unsicher machten. Dieser neue religiöse Führer, den Gurney Halleck in seinen Berichten von seinem Versteck bei den Schmugglern erwähnte, dieser Muad'dib.

Vielleicht hätte ich dem Baron doch nicht raten sollen, diese neue Religion unbeachtet fortbestehen zu lassen, dachte er. Aber andererseits ist es eine Binsenweisheit, daß gerade Unterdrückungssysteme ständig Sektiererbewegungen ins Leben rufen.

Und er dachte an die Berichte, die Halleck ihm über die Kampftaktiken der Fremen übermittelt hatte. Sie erinnerten an Halleck selbst … und Idaho … und sogar an ihn, Hawat. Ob Idaho überlebt hat? fragte er sich.

Eine müßige Frage. Er wagte es noch nicht einmal, sich die Frage zu stellen, ob Paul noch lebte. Ihm war klar, daß der Baron von der Voraussetzung ausging, daß alle Atreides ihr Leben verloren hatten. Und er gab offen zu, daß die Bene-Gesserit-Hexe seine Geheimwaffe gewesen war. Und das konnte nur bedeuten, daß es keine Überlebenden der Familie gegeben hatte — nicht einmal ihr eigener Sohn.

Welch einen schrecklichen Haß muß sie auf die Atreides gehabt haben, daß sie zu einer solchen Tat fähig war, dachte er. Er muß genauso stark gewesen sein wie der, den ich für diesen Baron empfinde. Wird mein letzter Schlag ebenso vernichtend wie der ihre sein?

3

In jedem Ding befindet sich ein Muster, das ein Teil unseres Universums widerspiegelt. Es hat Symmetrie, Eleganz und Anmut — die gleichen Qualitäten, die man auch in dem findet, was wahre Künstler fesselt. Man findet es im Wechsel der Jahreszeiten, in der Art, in der Sand über die Ebene wandert, in den Trauben des Creosotebuschs oder den Formen seiner Blätter. Wir versuchen, dieses Muster auch für unser Leben zu benutzen, indem wir einen bestimmten Rhythmus des Tanzes suchen oder Formen wahren, die uns Bequemlichkeit schenken. Dennoch ist es möglich, auf der Suche nach der höchsten Perfektion auch Gefahren zu sehen. Es ist sicher, daß das ultimate Muster auf sich selbst fixiert ist. Unter dem Einfluß einer solchen Perfektion bewegen sich alle Dinge dem Tode entgegen.

Aus ›Leitfäden des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


Paul-Muad'dib erinnerte sich an eine Mahlzeit, die stark mit Gewürzessenz durchsetzt gewesen war. Er klammerte sich an diese Erinnerung, die ihm die Gewißheit gab, daß alles andere, was er jetzt sah, ein Traum sein mußte.

Ich bin die Bühne, auf der sich alles abspielt, dachte er. Ich bin ein Opfer unvollständiger Visionen, des rassischen Unterbewußtseins und dessen schrecklichem Ziel.

Dennoch konnte er der Furcht, daß etwas dabei war, ihn zu überrennen, nicht entkommen. Er schien seinen festen Stand im Fluß der Zeit verloren zu haben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gingen nahtlos ineinander über.

Chani hat das Essen für mich zubereitet, dachte er.

Und jetzt befand sie sich tief im Süden, in jenem alten Land, in dem die Sonne heiß vom Himmel strahlte, versteckt in einer der neuen Sietch-Festungen, zusammen mit ihrem Sohn, Leto dem Zweiten.

Oder war das etwas, das erst noch passieren wurde?

Nein, machte er sich klar, denn Alia-die-Fremde, seine Schwester, war zusammen mit ihrer Mutter und Chani denselben Weg gegangen — einen Zwanzig-Plumpser-Trip nach Süden, in der Sänfte der Ehrwürdigen Mutter, auf dem Rücken eines wilden Bringers.

Er schob den Gedanken an einen Ritt auf dem Rücken eines Wurms beiseite und dachte: Oder muß auch Alia erst noch geboren werden?

Ich war auf einer Razzia, erinnerte Paul sich. Wir wollten das Wasser unserer Toten bei Arrakeen zurückgewinnen. Und ich fand dabei die Überreste meines Vaters auf einem Scheiterhaufen. Ich habe seinen Schädel auf einem Felsen über dem Harg-Paß zur letzten Ruhe gebettet.

War auch dies ein Erlebnis, das er erst noch haben würde?

Meine Wunden sind keine Einbildung, sagte Paul sich. Und auch nicht die Narben. Also ist auch der Schrein meines Vaters Wirklichkeit.

Immer noch in dieser seltsamen Traumwelt gefangen, erinnerte sich Paul, daß Harah, Jamis' Frau, in seinen Ruheraum eingedrungen war und ihm berichtet hatte, daß sich auf dem davorliegenden Korridor ein Kampf abspielte. Es war in dem Sietch gewesen, den sie zwischendurch bewohnt hatten — bevor man die Frauen und Kinder nach Süden schickte. Harah hatte im Eingang zur inneren Kammer gestanden. Wasserringe hatten ihr Haar geteilt. Sie hatte dagestanden, den Vorhang beiseite geschoben und ihm erzählt, daß Chani soeben dabei war, jemanden umzubringen.

Das ist geschehen, dachte Paul. Es war Wirklichkeit und ist auch in der Zukunft nicht zu ändern.

Er erinnerte sich, herausgeeilt zu sein und Chani keuchend neben einem gelbes Licht verbreitenden Leuchtglobus gefunden zu haben. Sie trug ein hellblaues Wickelkleid mit Kapuze. Die Kapuze war zurückgeschoben, und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck, den er nicht deuten konnte. Sie war gerade dabeigewesen, das Messer in die Scheide zurückzuschieben, während eine ziemlich eilige Gruppe von Menschen — eine Leiche zwischen sich — den Korridor hinabrannte.

Und Paul erinnerte sich, daß er damals zu sich selbst gesagt hatte: Du weißt, was es bedeutet, wenn sie einen Leichnam zwischen sich tragen.

Chanis Wasserringe, die im Innern des Sietchs offen getragen wurden, hatten leicht geklingelt, als sie ihm das Gesicht zuwandte.

»Chani, was hat das zu bedeuten?« hatte er gefragt.

»Ich habe einen erledigt, der vorhatte, dich zu einem Zweikampf herauszufordern, Usul.«

»Du hast ihn umgebracht?«

»Ja, aber vielleicht hätte ich ihn für Harah übriglassen sollen.«

(Und Paul erinnerte sich an die Zustimmung in den Blicken der Umstehenden. Sogar Harah hatte gelacht.)

»Aber er kam her, um mich zu fordern!«

»Du hast mir selbst die Zauberkräfte beigebracht, Usul.«

»Sicher! Aber du solltest sie nicht dazu …«

»Ich bin in der Wüste geboren worden, Usul. Ich weiß, wie man ein Crysmesser führt.«

Er unterdrückte seinen Ärger und versuchte sachlich zu bleiben. »All das mag ja stimmen, Chani, aber …«

»Ich bin nicht mehr das Kind, das im Schein der Leuchtgloben den Sietch nach Skorpionen absucht, Usul. Ich spiele jetzt nicht mehr.«

Paul starrte sie an und registrierte den ungehaltenen Ton ihrer Worte.

»Es war deiner nicht würdig, Usul«, fuhr Chani fort. »Leute seines Schlages dürfen deine Meditationen nicht stören.« Sie kam näher, sah ihn aus den Augenwinkeln an und senkte ihre Stimme zu einem solchen Flüstern herab, damit nur er sie verstehen konnte. »Außerdem, Geliebter, wenn sich herumspricht, daß die Herausforderer in der Regel zuerst mir gegenüberstehen müssen, wird es weniger von ihnen geben.«

Ja, sagte sich Paul, das ist wirklich geschehen. Es war in der realen Vergangenheit. Und die Anzahl der Rauflustigen, die es einfach ausprobieren wollten, ob sie der Klinge Muad'dibs gewachsen waren, senkte sich daraufhin enorm.

Irgendwo, außerhalb der Traumwelt, in der er jetzt schwebte, bewegte sich etwas und gab den Schrei eines Nachtvogels von sich.

Ich träume, dachte Paul. Und es liegt an der Gewürzmahlzeit. Immer noch war das Gefühl des Alleinseins in ihm. Er fragte sich, ob es möglich war, daß sein Geist jene Ebene erreicht hatte, von der die Fremen glaubten, daß in ihr seine wahre Existenz lag — im Alam al-Mithal, der Welt, in der es keine Grenzen gab. Und er empfand Furcht bei dem Gedanken an einen solchen Ort, weil ein Ort ohne Grenzen auch bedeutete, daß es in ihm keinerlei Bezugspunkte gab. Man konnte sich in einer mythischen Landschaft nicht orientieren und sagen: »Ich bin ich, weil ich mich hier befinde.«

Seine Mutter hatte einmal gesagt: »Das Volk ist sich nicht einig, was es von dir halten soll.«

Ich muß aus diesem Traum erwachen, sagte Paul sich. Und auch dies war Wirklichkeit gewesen — diese Worte aus dem Mund seiner Mutter; der Lady Jessica, die nun die Ehrwürdige Mutter der Fremen darstellte.

Paul wußte, daß Jessica sich Sorgen über die religiöse Beziehung zwischen ihm und den Fremen machte. Sie konnte sich mit der Tatsache, daß die Leute — egal, ob sie in einem Sietch oder im Grabenland lebten — von ihrem Sohn als Ihm sprachen, nicht anfreunden. Immer noch befragte sie alle Stämme, schickte ihre Spione aus, sammelte deren Antworten und versuchte daraus, ihre Erkenntnisse zu ziehen.

Sie hatte ihm ein Sprichwort der Bene Gesserit vorgehalten: »Wenn Religion und Politik unter der gleichen Fahne segeln, glauben die Menschen schnell, daß sich ihnen nichts mehr entgegenzustellen vermag. Sie ignorieren alle Hindernisse und streben immer schneller und schneller vorwärts — ohne dabei zu bedenken, daß jemand, der nur geradeaus schaut, alle Gefahren nicht sieht, die sich ihm von der Seite nähern.«

Paul erinnerte sich daran, im Quartier seiner Mutter gesessen zu haben, in der inneren Kammer, deren Wände mit Teppichen behangen waren, deren Oberfläche Szenen aus der fremenitischen Mythologie gezeigt hatten. Er hatte dagesessen und ihr zugehört und gleichzeitig die Art registriert, in der sie ihn beobachtete. Und das tat sie sogar mit gesenktem Blick. Ihr ovales Gesicht hatte einige Falten bekommen, um die Mundwinkel herum, aber ihr Haar erinnerte noch immer an polierte Bronze. Hinter der tiefblauen Färbung ihrer Augen hatte er noch immer einen grünen Glanz zu erkennen vermocht.

»Die Religion der Fremen ist einfach und doch praktikabel«, sagte er.

»Keine Religion ist simpel«, warnte sie ihn.

Aber Paul, der die hinter einem dichten Nebel verborgene Zukunft, die auf sie zukam, ahnte, reagierte mit offensichtlichem Ärger. Alles, was er sagen konnte, war: »Die Religion einigt unsere Kräfte. Das ist unser Mysterium.«

»Du treibst diese Entwicklung bewußt voran«, hatte sie ihm entgegengehalten. »Du indoktrinierst sie absichtlich.«

»So, wie du es mir beigebracht hast.«

Aber sie war an diesem Tag keinen Argumenten zugänglich gewesen, und das lag wohl daran, daß es ausgerechnet der erste Geburtstag seines Sohnes Leto gewesen war. Jessica hatte seine Verbindung mit Chani, diese »Kinderhochzeit«, wie sie sie zu nennen pflegte, noch immer nicht gebilligt. Aber immerhin hatte Chani einem Atreides das Leben geschenkt, was es ihr unmöglich machte, sie vollständig abzulehnen.

Schließlich hatte sie festgestellt: »Du hältst mich für eine unnatürliche Mutter.«

»Unsinn.«

»Ich sehe es daran, wie du mich beobachtest, wenn ich mit deiner Schwester zusammen bin. Du verstehst auch sie nicht.«

»Ich weiß, weshalb Alia anders ist«, sagte Paul. »Sie war noch nicht geboren, sondern ein Teil von dir, als du das Wasser des Lebens trankst. Sie …«

»Du weißt überhaupt nichts!«

Und Paul, unfähig seine Gedanken in dieser Beziehung auszudrücken, konnte nur erwidern: »Ich halte dich keinesfalls für unnatürlich.«

Jessica, die seine Verzweiflung erkannte, sagte plötzlich: »Da ist eine Sache, mein Sohn.«

»Ja?«

»Ich liebe deine Chani. Ich akzeptiere sie.«

Auch das war geschehen, wurde Paul jetzt klar. Es konnte keine der Visionen sein, von denen er nicht wußte, ob sie schon passiert waren.

Diese Gewißheit gab ihm neuen Halt. Die Realitätseinheiten begannen sich anzusammeln und seine Traumwelt zu durchdringen. Er wußte plötzlich wieder, daß er sich in einem Hiereg, einem Wüstenlager, befand. Chani hatte ihr Zelt auf Mehlsand gestellt damit sie eine weiche Unterlage hatten. Und das konnte nur bedeuten, daß sie in der Nähe war — Chani, seine Seele, Chani, seine Sihaya, die so süß war wie der Wüstenfrühling, Chani aus den südlichen Palmengärten.

Und er erinnerte sich daran, daß sie in der Zeit der Schlafperiode ein Lied für ihn gesungen hatte.

»O meine Seele,

Du hast keinen Sinn für das Paradies dieser Nacht,

Du wirst weiterziehen,

Gehorchend meiner Liebe.«

Und sie hatte das Lied gesungen, das die Liebenden sangen im Sand, und der Rhythmus war ihm erschienen wie das Gefühl der Dünen unter seinen Füßen, wenn er über sie schritt:

»Erzähle mir von deinen Augen,

Und ich erzähle dir von deinem Herz.

Erzähle mir von deinen Füßen,

Und ich erzähle dir von deinen Händen.

Erzähle mir von deinem Schlaf,

Und ich erzähle dir von deinem Erwachen.

Erzähle mir von deiner Sehnsucht,

Und ich erzähle dir von deinen Bedürfnissen.«

Er hatte in einem der Nebenzelte jemanden ein Baliset anschlagen gehört, und sofort waren seine Gedanken zu Gurney Halleck zurückgekehrt. Der bekannte Klang des Instruments hatte ihn an ein Zusammentreffen mit Gurney erinnert, während dem er sich selbst verborgen halten mußte. Gurney war jetzt das Mitglied einer Schmugglerbande, und Paul durfte sich ihm deswegen nicht zeigen, weil es zu verhindern galt, daß der Mann ihm unwissentlich jene Leute auf die Spur hetzte, die schon seinen Vater auf dem Gewissen hatten.

Aber der völlig andere Stil des Balisetspielers brachte Paul schnell wieder in die Realität zurück. Es war nicht Gurney, der dort in die Saiten griff, sondern Chatt, der Führer der Fedaykin, jenes Todeskommandos, das seine Leibwache bildete.

Wir sind in der Wüste, erinnerte sich Paul, in der Zentral-Erg, weit entfernt von den Patrouillen der Harkonnens. Ich bin hier, um einem Bringer aufzulauern, ihn zu besteigen und damit zu dokumentieren, daß ich ein vollwertiger Fremen bin.

Er fühlte jetzt die Maula-Pistole, die an seinem Gürtel hing und das Crysmesser. Und die Stille, die ihn umgab.

Es war ein typischer Vormorgen in der Wüste. Die Nachtvögel hatten sich zwar schon zurückgezogen, aber die Kreaturen des Tages waren noch nicht hervorgekrochen, um mit ihren Geräuschen die Ankunft ihres ewigen Feindes, der Sonne, anzukündigen.

»Du mußt bei Tageslicht durch die Wüste gehen und dem Shai-Hulud zeigen, daß du keine Angst hast«, hatte Stilgar ihm erklärt. »Deswegen werden wir unsere gewohnte Zeiteinteilung ändern und in der Nacht schlafen.«

Schweigend setzte Paul sich auf und spürte, daß der Destillanzug lose an seinem Körper hing. Er lag dicht an der Wand des Zeltes. Obwohl er sich leise bewegte, nahm Chani ihn wahr.

Von der Spitze des Zeltes, wo sie nur als sanfter Schatten sichtbar wurde, sagte sie: »Es herrschen noch keine normalen Lichtverhältnisse, Geliebter.«

»Sihaya«, erwiderte Paul lächelnd.

»Du nennst mich den Wüstenfrühling«, sagte Chani. »Aber am heutigen Tag bin ich deine Wächterin. Ich bin die Sayyadina, die darauf achtet, daß die Regeln befolgt werden.«

Paul begann seinen Destillanzug zu justieren. »Du hast mir einst die Worte des Kitab al-Ibar gesagt«, bemerkte er. »Und zwar: ›Die Frau ist dein Acker. Gehe hin und befruchte ihn.‹«

»Ich bin die Mutter deines Erstgeborenen«, bestätigte sie.

Er sah, wie sie ihn im Grau des Morgens beobachtete, seine Bewegungen registrierte und ihren eigenen Destillanzug darauf einstellte, bald selbst in ihm hinauszugehen. »Du solltest dir alle Ruhe gönnen, die du bekommen kannst«, sagte sie.

Paul erkannte die Liebe zu ihm, die aus diesen Worten sprach, und erwiderte sanft: »Die Sayyadina der Wache darf den Kandidaten weder mit guten Ratschlägen versorgen noch ihn vor etwas warnen.«

Sie schlüpfte an seine Seite und berührte mit der Hand seine Wange. »Heute bin ich beides: Frau und Wächterin zugleich.«

»Du hättest diese Pflicht jemand anderem überlassen sollen«, meinte Paul.

»Das würde die Wartezeit noch unerträglicher machen«, gab sie zurück. »So bin ich wenigstens an deiner Seite.«

Bevor er seinen Gesichtsschleier zurechtlegte, küßte Paul ihre Hand. Dann wandte er sich um und brach das Zeltsiegel. Die Luft drang zu ihnen herein. Sie enthielt jene gewisse Art der Kälte, die darauf hindeutete, daß sich in den Tausammlern einiges an Feuchtigkeit gefangen haben mußte. Mit ihr kam der Geruch der Vorgewürzmasse, die sie im Nordosten entdeckt hatten und die damit rechnen ließ, daß sich ein Bringer in der Nähe aufhielt.

Paul kroch durch die doppelte Öffnung, richtete sich im Sand auf und reckte sich. Ein matter, grüner Perlenglanz erleuchtete den östlichen Horizont. Die Zelte seiner Leute erschienen wie winzige Dünen um ihn herum. Linkerhand registrierte er eine Bewegung — die Wache. Sie hatte ihn bereits gesehen.

Sie wußten von der Gefahr, der er heute in die Augen schauen mußte. Jeder Fremen hatte dies hinter sich gebracht. Und daß sie ihn in diesen Minuten allein ließen, bedeutete, daß sie ihm alle Unterstützung gaben, sich vor diesem entscheidenden Ereignis noch einmal zu sammeln.

Heute wird es geschehen, dachte Paul.

Er dachte über das Anwachsen der Macht nach, die ihm während der ständigen Pogrome zugefallen war, an die alten Männer, die ihre Söhne zu ihm schickten, damit er sie in der Kunst des Zauberkampfes unterrichtete, die er beherrschte, an die alten Männer bei den Versammlungen, die ihm zuhörten und versuchten, seinen Plänen zu folgen, an die Männer die aus einer Schlacht zurückkehrten und ihm das höchste Kompliment spendeten, was ein Fremen abgeben konnte: »Dein Plan war erfolgreich, Muad'dib.«

Und dennoch war ihm selbst der kleinste und gemeinste Fremen in einer Beziehung weit voraus. Paul wußte, daß sein Führungsanspruch unter dieser allgemein bekannten Tatsache litt.

Er hatte noch keinen Bringer geritten.

Oh, natürlich hatte er schon zusammen mit anderen auf dem Rücken eines Sandwurms gestanden, auf kurzen Reisen oder vereinzelten Überfällen — aber er hatte noch keine eigene Reise gemacht. Und solange er das nicht vollbracht hatte, war er von den Fähigkeiten der anderen abhängig. Kein wirklicher Wüstenbewohner konnte das auf sich sitzen lassen. Wenn er diese Prüfung nicht ablegte, blieb ihm sogar das Land im Süden verschlossen es sei denn, er legte den Weg dorthin zurück, indem er sich eine Sänfte kommen — wie es die Ehrwürdige Mutter tat — oder er sich wie ein Kranker oder Verwundeter transportieren ließ.

Paul dachte an den Kampf, den er in der Nacht mit seinem Unterbewußtsein geführt hatte. Irgendwie glaubte er darin eine seltsame Parallele zu erkennen. Wenn er den Bringer besiegte, war sein Gesetz erfüllt; genauso wie er sein eigenes Unterbewußtsein besiegt hatte und in die Wirklichkeit zurückgekehrt war. Und trotzdem lag jenseits beider Fixpunkte ein nebelhaftes Gebiet. Es repräsentierte die Große Unruhe, die das ganze Universum in einen Wirbel zog.

Die unterschiedlichen Gesichtspunkte in denen er das Universum begriff, jagten ihm Angst ein. Genauigkeit maß sich mit Ungenauigkeit. Er sah es in situ. Das Jetzt begann, kaum daß es geboren und dem Druck der Realität ausgesetzt war, sein eigenes Leben zu entwickeln, und wuchs unter dem Einfluß seiner eigenen subtilen Differenzen. Zurück blieb das schreckliche Ziel. Das rassische Unterbewußtsein. Und über all dem loderte der Djihad in seiner blutigsten und wildesten Form.

Chani verließ das Zelt ebenfalls, reckte sich und sah ihn aus den Augenwinkeln an, wie sie es immer tat, wenn sie herauszufinden versuchte, in welcher geistiger Verfassung Paul sich befand.

»Erzähle mir noch einmal von den Wassern deines Heimatplaneten, Usul«, sagte sie plötzlich.

Natürlich wollte sie ihn ablenken. Sie versuchte, sein Bewußtsein vor dem großen Test aus seiner inneren Spannung zu befreien. Es wurde jetzt immer heller und Paul bemerkte, daß einige seiner Fedaykin bereits begannen, ihre Zelte abzubrechen.

»Ich würde lieber etwas über den Sietch und unseren Sohn erfahren«, erwiderte Paul. »Wickelt er meine Mutter schon um den Finger?«

»Nicht nur sie, sondern auch Alia«, sagte Chani. »Er wächst sehr rasch. Es wird einmal ein großer Mann aus ihm werden.«

»Wie ist es dort unten im Süden?« fragte Paul.

»Wenn du den Bringer reitest, wirst du es selbst sehen.«

»Aber ich möchte das Land vorher durch deine Augen sehen.«

»Es ist unglaublich einsam«, sagte Chani.

Paul berührte den Nezhoni-Schal, der, um ihren Kopf gewickelt, unter der Kapuze hervorragte. »Warum willst du mir nichts über den Sietch erzählen?«

»Ich habe dir bereits davon erzählt. Der Sietch ist ein Ort der Einsamkeit ohne unsere Männer. Er ist ein Arbeitsplatz. Wir gehen in den Fabriken unserer Arbeit nach und in den Töpfereien. Wir haben Waffen zu fertigen, Pfähle zu stecken, damit wir das Wetter voraussagen können, und Gewürz zu sammeln, das wir zur Bestechung brauchen. Wir haben Dünen zu befestigen, damit sie größer werden und verankert werden können. Wir stellen Stoffe und Decken her und trainieren die Kinder, damit der Stamm seine Stärke niemals verliert.«

»Gibt es denn überhaupt nichts, was euch im Sietch erfreut?«

»Die Kinder erfreuen uns. Wir gehorchen den Riten. Wir haben genügend Nahrung. Manchmal geht eine von uns nach Norden, um bei ihrem Mann zu sein. Das Leben muß weitergehen.«

»Meine Schwester Alia — wird sie schon von den Leuten akzeptiert?«

Im anwachsenden Morgenlicht wandte sich ihm Chani zu. Sie maß ihn mit einem durchdringenden Blick. »Das ist eine Sache, die wir ein anderesmal diskutieren sollten, Geliebter.«

»Laß uns jetzt darüber sprechen.«

»Du solltest deine Energie für die Prüfung sparen«, erwiderte sie.

Paul sah ein, daß er etwas berührt hatte, was er nicht hätte berühren sollen. Aus Chanis Stimme klang der Rückzug. »Das Unbekannte«, sagte er, »bringt seine eigenen Sorgen mit sich.«

Chani nickte plötzlich und sagte: »Es gibt … hier und da Mißverständnisse wegen Alias … Andersartigkeit. Die Frauen fürchten sich, weil sie nicht wie ein … Kind redet … daß sie über Sachen spricht, die normalerweise nur Erwachsene wissen können. Sie verstehen nicht, daß Alia verändert wurde, als sie noch im Mutterleib war.«

»Gibt es Schwierigkeiten?« fragte Paul. Und er dachte: Ich habe Visionen gehabt, die davon kündeten, daß es Schwierigkeiten mit Alia geben wird.

Chani warf einen Blick auf den langsam wachsenden Strahl des Sonnenlichts über dem Horizont. »Einige der Frauen schlossen sich zusammen und schickten eine Abordnung zur Ehrwürdigen Mutter. Sie verlangten von ihr, den Dämon aus ihrer Tochter zu vertreiben. Sie zitierten dabei aus der Schrift: ›Erlaubt es keiner Hexe, unter uns zu leben.‹«

»Und was hat meine Mutter darauf erwidert?«

»Sie rezitierte das Gesetz und schickte die Frauen beschämt zurück. Sie sagte: ›Wenn Alia Schwierigkeiten provoziert, ist das die Schuld der Autorität, die nicht vorhergesehen hat, was auf uns zukommt und keine Gegenmaßnahmen ergriff.‹ Und sie versuchte ihnen zu erklären, wie die Veränderung Alias im Mutterleib zustande gekommen ist. Aber die Frauen waren wütend, weil sie sie beschämt hatte, und verließen sie unter Unmutsäußerungen.«

Es wird noch mehr Ärger wegen Alia geben, dachte Paul.

Ein Windstoß warf ihm Sandkörner ins Gesicht, die den Duft der Vorgewürzmasse mit sich brachten. »El Sayal, der Sandregen, der den Morgen ankündigt«, murmelte er.

Paul schaute über die im Morgengrauen daliegende Landschaft hinweg. Es war eine Landschaft ohne Gefühle, der Sand eine Form, die sich selbst absorbierte. Ein trockener Blitz leuchtete im Süden auf — ein Zeichen, daß sich dort ein statischer Sturm entwickelte. Der Donner kam erst viel, viel später.

»Die Stimme, die dem Land seine Schönheit verleiht«, sagte Chani.

Immer mehr seiner Leute kamen jetzt aus den Zelten. Die Wachen, die weiter draußen ihre Posten bezogen hatten, kehrten zurück ins Lager. Alles um sich herum bewegte sich mit einer Geschäftigkeit, die nach uralten Regeln vorging und keinerlei Anweisungen erforderte.

»Gib so wenig Befehle wie nur möglich«, hatte sein Vater ihm einst erzählt. Es war lange her. »Wenn du einmal damit anfängst, Befehle zu erteilen, wirst du sie immer wieder geben müssen.«

Die Fremen kannten diese Regel rein instinktiv.

Der Wassermeister der Truppe stimmte sein Morgenlied an und fügte diesmal den rituellen Ruf hinzu, der einen zukünftigen Sandreiter ankündigte.

»Die Welt ist ein Körper«, sang der Mann, und seine Stimme wehte klagend über die Dünen. »Wer kann die Todesengel zur Umkehr bewegen? Was Shai-Hulud verfügt hat, soll geschehen.«

Paul hörte ihm zu und stellte fest, daß die gleichen Worte auch den Anfang des Todesliedes seiner Fedaykin bildeten; Worte, die die Todeskommandos rezitierten, ehe sie sich in die Schlacht stürzten.

Wird man eines Tages an dieser Stelle einen Schrein aufstellen, um anzuzeigen, daß man eine weitere Seele verlor? fragte sich Paul. Werden vorbeiziehende Fremen in der Zukunft an dieser Stelle anhalten, dem Schrein einen weiteren Stein hinzufügen und Muad'dibs gedenken, der hier starb?

Er wußte, daß diese Alternative nicht unmöglich war. Sein Tod war eine der Raum-Zeit-Linien, die er von seiner momentanen Position aus sehen konnte. Und diese zweifelhafte Vision, die nichts Konkretes aussagte, machte ihn krank. Je mehr er sich weigerte, sich dem schrecklichen Ziel hinzugeben, je mehr er gegen die Vision des Djihads ankämpfte, desto größer wurden die Schwierigkeiten, ein exaktes Abbild der Zukunft vor seinem inneren Auge zu erzeugen. Alles, was er sah, glich einem schäumenden Strom, der sich einen Weg durch eine Alptraumlandschaft bahnte und sich in einem Gewirr aus Felsen, Wolken und Nebelbänken in der Unendlichkeit verlor.

»Da kommt Stilgar«, sagte Chani. »Ich muß mich jetzt von dir fernhalten, Geliebter. Von jetzt an werde ich die Sayyadina sein, deren Aufgabe es ist, die Einhaltung der Regeln zu überwachen und sie zu einem Teil der Chronik zu machen.« Sie schaute einen Moment lang zu Paul auf und erweckte den Eindruck, als sei sie dabei, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren und ihm um den Hals zu fallen. Es geschah jedoch nichts dergleichen. »Wenn dieser Tag Vergangenheit geworden ist«, fügte sie hinzu, »bereite ich dir dein Frühstück mit den eigenen Händen.« Dann ging sie fort.

Mit den Schritten seiner Stiefel kleine Sandwölkchen aufwerfend kam Stilgar auf Paul zu. Die dunklen Augenhöhlen des Mannes waren auf ihn gerichtet. Ein Stück seines dunklen Bartes war zu erkennen, sonst sah man von seinem Gesicht nicht viel. Stilgar trug das Banner Pauls — das grüne und schwarze Banner, in dessen Stab sich ein Wasserschlauch befand -, das sich bereits einen legendären Ruf im ganzen Land erworben hatte. Mit ein wenig Stolz dachte Paul: Ich kann nicht einmal die einfachste Sache tun, ohne daß nicht jemand eine Legende daraus macht. Sie werden sich merken, wie Chani eben fortging und wie ich jetzt Stilgar begrüßen werde — jede Bewegung, die ich heute mache, werden sie aufzeichnen. Leben oder sterben — es wird eine Legende daraus werden. Aber ich darf nicht sterben. In einem solchen Fall wird alles zur Legende werden. Und niemand wird den Djihad aufhalten.

Stilgar rammte das Banner neben Paul in den Sand und ließ die Arme sinken. Seine tiefblauen Augen blieben ausdruckslos und brachten Paul auf den Gedanken, wie er wohl selbst in diesem Augenblick aussehen mochte. Denn der ständige Gewürzkonsum war auch bei ihm nicht ohne Folgen geblieben. Auch er versteckte sich hinter einer Maske undurchdringlicher Bläue.

»Sie haben uns die Hadj verweigert«, sagte Stilgar mit rituellem Ernst.

Und genau wie Chani es ihn gelehrt hatte, erwiderte Paul: »Wer kann einem Fremen das Recht verweigern, zu gehen oder zu reiten, wohin er will?«

»Ich bin ein Naib«, fuhr Stilgar fort, »der niemals lebend in die Hände seiner Feinde fällt. Ich bin ein Drittel des tödlichen Dreibeins, das unsere Gegner vernichten wird.«

Es wurde still um sie herum.

Paul warf einen Blick auf die anderen Fremen, die sich hinter Stilgars Rücken auf dem Sand versammelt hatten und sah, daß die Art, in der sie dastanden, ausdrückte, welche Empfindungen sie beim Anhören der Worte bewegten. Und er fragte sich, wie sie den Lebenskampf überstanden hatten, bevor ihnen ein Mann wie Liet-Kynes begegnet war.

»Wo ist der Herr, der uns durch das Land der Wüsten und Höhlen geführt hat?« fragte Stilgar.

»Er ist stets bei uns«, erwiderten die Fremen.

Stilgar hob die Schultern, ging näher an Paul heran und senkte seine Stimme. »Erinnere dich jetzt an das, was ich dir gesagt habe. Gehe einfach und direkt vor und unternehme keine waghalsigen Experimente. Es ist bei unserem Volk Sitte, den Bringer im Alter von zwölf Jahren zu reiten. Du bist mehr als sechs Jahre über dieses Alter hinaus und für dieses Leben nicht geboren. Es gibt keinen Grund, die anderen beeindrucken zu müssen. Wir wissen, daß du ein tapferer Mann bist. Alles, was du tun mußt, ist, den Bringer zu rufen und ihn zu besteigen.«

»Ich werde daran denken«, versprach Paul.



»Ich hoffe, daß du das wirst. Ich hoffe ebenso, daß du deinen Lehrer nicht blamierst.«

Stilgar zog einen meterlangen Plastikstab unter seiner Robe hervor. Das Ding besaß an einem Ende eine Spitze und am anderen einen federbetriebenen Plumpser. »Ich habe diesen Plumpser selbst eingestellt. Es ist ein guter. Nimm ihn.«

Paul nahm ihn. Der Plastikgriff fühlte sich warm und weich an.

»Shishakli hat deine Haken«, sagte Stilgar. »Er wird sie dir geben, sobald du zu dieser Düne da hinten gehst.« Er deutete nach rechts. »Rufe deinen großen Bringer, Usul, und zeige uns, was du gelernt hast.«

Stilgars Tonfall glich nun einer exakten Mischung aus Ritual und freundschaftlicher Besorgtheit.

In diesem Moment schob sich die Sonne über den Horizont. Der Himmel war von jenem silbrigen Blaugrau, das darauf hinwies, daß es ein Tag extremer Hitze — selbst für die Verhältnisse auf Arrakis — werden würde.

»Es wird ein Tag der Trockenheit«, sagte Stilgar in einem Tonfall, der jetzt nur noch das Ritual beinhaltete. »Geh nun, Usul, und reite den Bringer, gleite über den Sand, wie es einem Führer der Menschen würdig ist.«

Paul salutierte vor seinem Banner und stellte fest, wie schlaff die Flagge, jetzt, wo der Wind gestorben war, herabhing. Dann wandte er sich der Düne zu, auf die Stilgar gezeigt hatte, ein S-förmiges Gebilde von schmutzigbrauner Farbe. Der Rest der Truppe war bereits dabei, in die entgegengesetzte Richtung davonzugehen; auf die andere Düne zu, in deren Schutz sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.

Nur ein Mann blieb in Pauls Nähe zurück: Shishakli, ein Brigadeführer der Fedaykin. Die Kapuze verbarg sein Gesicht so, daß lediglich die Augen erkennbar waren.

Als Paul auf ihn zuging, hielt Shishakli ihm zwei dünne Haken entgegen, die an etwa anderthalb Meter langen, peitschenähnlichen Stäben hingen. Die Haken selbst waren aus Plastahl, während die Stabgriffe aus einem aufgerauhten Stoff bestanden, an denen die Hände nicht so leicht abgleiten konnten.

Wie es das Ritual erforderte, nahm Paul die Gegenstände mit der linken Hand entgegen.

»Es sind meine eigenen Haken«, sagte Shishakli mit heiserer Stimme. »Sie haben noch niemals versagt.«

Paul nickte, behielt das rituelle Schweigen bei und ging an dem Mann vorbei auf die Düne zu. Auf ihrer Spitze machte er eine Drehung und blickte auf die anderen zurück, die sich mit flatternden Roben wie ein aufgeregter Heuschreckenschwarm auf die andere Düne zurückzogen. Er stand jetzt allein auf dem Dünenkamm, und vor ihm befand sich nichts als ein endloser Horizont, der flach war und auf dem sich nicht die kleinste Bewegung zeigte. Stilgar hatte ihm eine gute Düne ausgesucht; sie war höher als alle anderen in der näheren Umgebung.

Paul bückte sich und versenkte die Spitze des Plumpsers tief in die dem Wind zugewandte Seite der Düne, wo der Sand so kompakt war, daß er das Geräusch des Lockmittels weithin tragen würde. Dann wartete er ab und dachte an die Lektionen Stilgars und der beiden Alternativen, denen er jetzt ins Angesicht sehen mußte: Erfolg oder Tod.

Sobald er die Sperre ausklinkte, würde der Plumpser zu arbeiten anfangen. Irgendwo dort draußen im Sand, würde ein gigantischer Wurm — ein Bringer — die Klopfgeräusche hören und sich ihnen nähern. Mit den peitschenähnlichen Hakenstäben — das war Paul klar — konnte er den geschwungenen und hohen Rücken des Bringers erklimmen. Und solange der Vorderrand eines Ringsegments durch die Haken offengehalten wurde, so daß die Möglichkeit bestand, daß der Sand in das Körperinnere des Wurms gelangte, würde der Bringer sich nicht wieder eingraben. Er würde — das war vorauszusehen, sich drehen, um die geöffnete Körperseite so weit wie nur möglich von der sandigen Oberfläche des Planeten zu entfernen.

Ich bin ein Sandreiter, sagte sich Paul.

Er blickte auf die beiden Haken in seiner Linken und dachte darüber nach, daß er sie bloß an irgendeiner Stelle auf dem Rücken des Wurms zu befestigen hatte, um ihn nach Belieben in die Richtung zu lenken, in die er wollte. Er hatte gesehen, wie die anderen es machten. Und er hatte den anderen bei einem kurzen Ritt geholfen. Man konnte einen gefangenen Wurm reiten, bis er erschöpft und leblos auf der sandigen Oberfläche der Wüste liegenblieb und es erforderlich wurde, einen anderen herbeizurufen.

Und wenn er diesen Test bestanden hatte, wußte Paul, war er qualifiziert genug, auch die Zwanzig-Plumpser-Reise in den Süden zu machen, um sich dort auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln. Im Süden befanden sich die Frauen und Kinder — und die Familien, die sich vor den Pogromen hatten in Sicherheit bringen können.

Paul hob den Kopf, blickte nach Süden und erinnerte sich daran, daß jeder Bringer, der aus dem Süden kam, eine unbekannte Größe darstellte. Aber er war fest entschlossen, Sieger über die unbekannte Größe zu werden.

»Am wichtigsten ist es, daß du einen auftauchenden Bringer gut beobachtest«, hatte Stilgar ihm auseinandergelegt. »Du mußt nahe genug bei ihm stehen, so daß du, sobald er an dir vorbeizieht, aufspringen kannst, aber dennoch nicht so nah, daß er dich zermalmen kann.«

Mit einem plötzlichen Entschluß löste Paul die Sperre. Das Gerät begann sofort zu arbeiten und schickte das Geräusch aus, das den Wurm anlocken würde.

Rumms! Rumms! Rumms!

Paul reckte sich, suchte den Horizont ab und erinnerte sich an Stilgars Worte: »Achte darauf, aus welcher Richtung der Wurm sich nähert. Denke daran, daß er nur selten tief unter der Oberfläche herankommt. Und höre! Meistens hört man ihn schon, bevor man ihn gesehen hat.«

Und dann drangen die ängstlichen Worte Chanis in sein Gedächtnis, die sie ihm in einer Nacht, als ihre Angst um ihn sie überkommen hatte, zuflüsterte: »Wenn du dich auf dem Pfad eines Bringers aufhältst, mußt du völlig bewegungslos dastehen. Du mußt sogar denken wie ein Sandhügel. Verstecke dich hinter deinem Umhang und werde mit jeder Faser deines Körpers zu einer kleinen Düne.«

Aufmerksam suchte Paul den Horizont ab. Er lauschte und achtete auf die Zeichen, die man ihn zu erkennen gelehrt hatte.

Es kam von Südosten, ein fernes Zischen, als begänne der Sand zu flüstern. Paul erkannte die Spur des Machers und stellte anhand ihrer Größe fest, daß er noch nie zuvor in seinem Leben einem Exemplar solchen Formats begegnet war. Das Geschöpf schien fast anderthalb Kilometer lang zu sein, und die Sandwelle, die es mit seinem Kopf erzeugte, hatte Ähnlichkeit mit einem kleinen Berg.

Ich habe dies weder in meinem Leben noch in einer meiner Visionen vorhergesehen, sagte er sich. Dann rannte er auf den Pfad zu, den der Wurm erzeugte und bereitete sich darauf vor, seinen Platz einzunehmen. Dann hatte er keine Zeit mehr, an etwas anderes zu denken.

4

»Kontrolliert die Währung und die Produktionsmittel — und überlaßt den Rest dem Pöbel.« Das ist die Anweisung des Padischah-Imperators an euch. Und außerdem sagte er: »Wenn ihr Profite wollt, müßt ihr herrschen.« Obwohl eine Art von Wahrheit in diesen Worten steckt, frage ich: »Wer ist der Pöbel — und wer sind die Beherrschten?«

Muad'dibs Geheimbotschaft an den Landsraad aus ›Arrakis erwacht‹, von Prinzessin Irulan.


Ein Gedanke, der sich nicht verdrängen ließ, kehrte in Jessicas Bewußtsein immer wieder zurück: Paul wird sich in diesem Moment seiner Sandreiter-Prüfung unterziehen. Sie versuchen, diese Tatsache vor mir zu verbergen, aber sie ist offensichtlich.

Und Chani hat sich auf eine undurchschaubare Weise entfernt.

Jessica saß in ihrem Ruheraum, um sich vor Beginn der abendlichen Unterweisungen zu entspannen. Das Zimmer war hübsch eingerichtet, obwohl es nicht die Dimensionen dessen aufweisen konnte, der ihr vor der Flucht vor dem Pogrom im Sietch Tabr zur Verfügung gestanden hatte. Immerhin war er mit dicken Teppichen, weichen Vorhängen, einem niedrigen Kaffeetisch und vielfarbigen Wandbehängen ausgestattet. Leuchtgloben beschienen die Szenerie mit gelbem Licht. Und auch hier spürte sie all die Gerüche, die die Unterkünfte der Fremen kennzeichneten. Sie signalisierten beinahe Geborgenheit.

Trotzdem wußte sie, daß das Gefühl, sich an einem fremden Ort aufzuhalten, sie nicht loslassen würde. Und daran war hauptsächlich die Herbheit schuld, die die Vorhänge und Teppiche ausstrahlten.

Ein leises Klingelgeräusch, von Trommeln untermalt, drang zu ihr herein. Jessica brachte es mit einer Geburtszeremonie in Zusammenhang, möglicherweise der, die Subiay erwartete. Ihre Zeit war gekommen. Und Jessica wußte, daß sie bald das Baby sehen würde — einen blauäugigen Engel, den man der Ehrwürdigen Mutter präsentierte, damit sie ihn segnete. Und sie wußte auch, daß ihre Tochter Alia der Zeremonie beiwohnte und später einen Bericht liefern würde.

Aber es war noch nicht Zeit für das nächtliche Gebet der Teilung. Es war undenkbar, daß man eine Geburtszeremonie zum gleichen Zeitpunkt ansetzte wie das allgemeine Gedenken an die Sklavenabschlachtungen von Poritrin, Bela Tegeuse, Rossak oder Harmonthep.

Jessica seufzte. Ihr wurde klar, daß sie mit diesen Gedanken lediglich die Sorgen um ihren Sohn zu verdrängen versuchte, der in diesem Augenblick möglicherweise einer tödlichen Gefahr ins Auge blickte — den Fallgruben, in denen vergiftete Pfeile auf einen Unvorsichtigen warteten oder plötzlichen Harkonnen-Überfällen, obwohl die letzteren seltener wurden, seit die Fremen sich besser im Luftverkehr auskannten und Pauls neue Kampfmethoden einsetzten. Aber es gab außerdem noch die natürlichen Gefahren der Wüste — die Bringer, den Durst und die Sandklüfte.

Sie überlegte sich, ob sie nach Kaffee rufen sollte, und mit diesem Gedanken kam sie zu dem immerwährenden Paradox der Wachsamkeit, unter dem die Fremen lebten: es ging ihnen, verglichen mit jenen, die den Graben bevölkerten, gut; trotz allem, was sie unter der ständigen Präsenz der Harkonnen-Söldner zu ertragen hatten.

Eine dunkelhäutige Hand schob sich durch einen Vorhang neben Jessica, setzte eine Tasse auf dem Tisch ab und zog sich zurück. Das Aroma des Gewürzgetränks war stark.

Eine Aufmerksamkeit der Teilnehmer der Geburtszeremonie, dachte Jessica.

Sie nahm die Tasse an sich, trank einen Schluck und lächelte. In welcher anderen Gesellschaft unseres Universums, dachte sie, könnte eine Person meines Status' ein anonymes Geschenk so einfach annehmen und trinken, ohne dabei Angst zu haben? Natürlich wäre es leicht für mich, jedes Gift wirkungslos zu machen, aber davon weiß der anonyme Schenker nichts.

Sie trank jetzt mit großen Schlucken und fühlte heiß und schmackhaft die Energie und Erhebungskraft des Tasseninhalts in sich hineinströmen.

Und sie fragte sich weiterhin, welche andere Gesellschaft Individuen hervorbringen konnte, die zwar ein Geschenk brachten, aber dennoch darauf verzichteten, den Beschenkten in seinen Meditationen zu stören. Respekt und Liebe waren für das Geschenk verantwortlich — und nur ganz am Rande ein klein wenig Ehrfurcht.

Ein weiteres Element der Gegenwart drängte sich in Jessicas Bewußtsein: Sie hatte an Kaffee gedacht, und er war plötzlich dagewesen. Natürlich hatte das nichts mit Telepathie zu tun, sondern war auf das Tau zurückzuführen, das Einssein einer Sietch-Gemeinschaft, einer Verhaltensweise, die durch die ihnen allen zu eigene Gewürzdiät hervorgerufen wurde. Die große Masse der Leute konnte nicht verstehen, welche Art der Erleuchtung das Gewürz gerade Jessica brachte; sie waren weder dazu ausgebildet noch darauf vorbereitet worden. Ihr Bewußtsein lehnte unverständliche Dinge in der Regel ab. Und dennoch fühlten und reagierten sie manchmal wie ein einziger Organismus.

Ohne es zu bemerken.

Ob Paul die Prüfung des Sandes schon überstanden hat? fragte sich Jessica. Er ist fähig, aber der Zufall kann auch den Fähigsten zum Straucheln bringen.

Das Warten.

Es ist die Einsamkeit, dachte sie. Man kann lange aushalten und warten. Bis die Einsamkeit einen überkommt.

Das ganze Leben schien nur aus Warten zu bestehen.

Wir sind jetzt schon seit über zwei Jahren hier, dachte sie, und es wird mindestens noch doppelt so lange dauern, bis wir daran denken können, Arrakis von diesem Gouverneur von Harkonnens Gnaden zu befreien. Mudir Nahya. Rabban, das Ungeheuer.

»Ehrwürdige Mutter?«

Die Stimme, die von außen durch den Vorhang drang, gehörte Harah, der zweiten Frau aus Pauls Familie.

»Ja, Harah.«

Der Vorhang teilte sich und Harah glitt zu ihr herein. Sie trug Sietch-Sandalen, ein rotgelbes Wickelkleid, das ihre Arme bis zu den Schultern freiließ; ihr Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel in weichen Wellen nach hinten über ihren Nacken. Über ihren Zügen lag ein besorgter Ausdruck.

Hinter ihr erschien Alia, das Mädchen von zwei Jahren.

Jessica fühlte sich ganz plötzlich an Paul erinnert, der in diesem Alter ganz ähnlich ausgesehen hatte. Auch Alia hatte diesen schweifenden, ernsten Blick, der ständig zu fragen schien, das dunkle Haar und einen festen Mund. Aber es gab auch einige Unterschiede zwischen Alia und Paul — und sie waren es, die die anderen Erwachsenen beunruhigten. Das Mädchen — kaum dem Krabbelalter entwachsen — bewegte sich mit einer Selbstsicherheit und Kühle, die ungewöhnlich war. Und am meisten schockierte es die Leute, daß die Kleine in der Lage war, sexuelle Anspielungen und Witze zu verstehen und darüber zu lachen. Und sie machte selbst Bemerkungen in ihrer halb lispelnden Sprache, die ihnen deutlich zeigte, daß sie nicht die Phase, in der sich Kinder ihrer Altersgruppe zu befinden pflegten, durchlief, sondern geistig längst alle Gleichaltrigen hinter sich gelassen hatte.

Harah ließ sich seufzend auf ein Sitzkissen fallen und sah das Kind mit gerunzelter Stirn an.

»Alia.« Jessica winkte ihre Tochter heran.

Das Kind durchquerte den Raum, kletterte auf ein neben Jessica stehendes Sitzkissen, schwang sich hinauf und grabschte nach ihrer Hand. Der körperliche Kontakt führte zu der geistigen Wachsamkeit, die sie beide bereits geteilt hatten, bevor Alia das Licht der Welt erblickt hatte. Es hatte nichts mit gemeinsam gedachten Gedanken zu tun, wie es während der Zeremonie, bei der Jessica das Gewürzgift einer anderen Bestimmung zugeführt hatte, passiert war. Es war etwas Größeres, das sie jetzt verband, die Gewißheit der Anwesenheit eines anderen Lebewesens, mit dem man total eins war.

In der formalen Weise, die einer Angehörigen des Haushalts ihres Sohnes zukam, sagte Jessica: »Subakh al kuhar, Harah. Dieser Abend findet dich wohl?«

Mit dem gleichen traditionellen Formalismus erwiderte Harah: »Subakh un nar. Mir geht es gut.«

Ihre Worte waren ohne Betonung. Und wieder stieß Jessica einen Seufzer aus.

Alia schien amüsiert zu sein.

»Die Ghanima meines Bruders ärgert sich über mich«, sagte sie in ihrem Halblispeln.

Jessica registrierte das Wort, mit dem Alia Harah belegt hatte: Ghanima. In der Umgangssprache der Fremen bezeichnete man damit einen »in einer Schlacht erbeuteten Gegenstand«, allerdings mit dem Gesichtspunkt, daß dieser nicht mehr seiner ursprünglichen Bedeutung gemäß verwendet wurde. Etwa wie eine Speerspitze, die man dazu benutzte, einen Vorhang zu beschweren.

Harah warf Alia einen finsteren Blick zu. »Versuche nicht, mich zu beleidigen, Kind. Ich weiß, wo ich hingehöre.«

»Was hast du diesmal wieder angestellt, Alia?« fragte Jessica.

Harah erwiderte: »Sie hat sich nicht nur geweigert, heute mit den anderen Kindern zu spielen, sondern sie versuchte auch noch in den Raum einzudringen, in dem …«

»Ich habe mich hinter einem Vorhang verborgen und zugesehen, wie Subiays Kind geboren wurde«, erklärte Alia. »Es ist ein Junge, und er schrie und schrie immerzu. Muß der große Lungen haben! Und als er eine ganze Weile geschrien hatte …«

»… kam sie heraus und berührte ihn«, schloß Harah. »Und da hörte er auf zu schreien. Obwohl jeder weiß, daß ein Fremen-Kind nach der Geburt so lange schreien soll, wie es kann, weil es im späteren Leben niemals wieder Gelegenheit dazu erhält, weil es sonst unseren Hajr verhindert.«

»Er hatte genug geschrien«, entschied Alia. »Ich wollte nur sein Zipfelchen berühren und sein Leben fühlen. Das ist alles. Und als er mich fühlte, wollte er einfach nicht mehr schreien.«

»Es wird nur dazu herhalten, daß die Leute noch mehr über dich reden werden«, sagte Harah.

»Ist Subiays Junge gesund?« fragte Jessica. Sie glaubte zu erkennen, daß irgend etwas Harah Sorgen bereitete und sie verwirrte.

»So gesund, wie es sich eine Mutter nur wünschen kann«, erwiderte Harah. »Sie wissen, daß Alia ihm nicht weh getan hat. Sie schienen nicht einmal etwas dagegen zu haben, daß sie ihn berührt hat. Er war sofort ruhig und schien glücklich zu sein. Es war …« Harah zuckte die Achseln.

»Es ist die Fremdartigkeit des Verhaltens meiner Tochter, nicht wahr?« warf Jessica ein. »Es liegt daran, daß sie über Dinge spricht, die Kinder ihres Alters gemeinhin noch nicht wissen. Dinge aus der Vergangenheit.«

»Woher kann sie wissen, wie die Kinder auf Bela Tegeuse ausgesehen haben?« wollte Harah wissen.

»Es stimmt aber!« rief Alia aus. »Subiays Junge sieht aus wie der Junge, den Mitha bekam — vor der Teilung.«

»Alia!« sagte Jessica. »Ich habe dich gewarnt.«

»Aber, Mutter, ich sah es, und es stimmt, und …«

Jessica schüttelte den Kopf und sah die Anzeichen der Verwirrung in Harahs Gesicht. Was habe ich da geboren? fragte sie sich. Eine Tochter, die bereits bei der Geburt das gleiche Wissen besaß wie ich … und noch mehr: sie weiß auch alles, was die Ehrwürdigen Mütter, deren Wissen in mir ist, gewußt haben.

»Es geht nicht nur um die Dinge, die sie sagt«, wandte Harah ein. »Auch die Übungen, die sie macht: die Art, in der sie dasitzt und einen Felsen anstarrt und nur einen einzigen Nasenmuskel bewegt. Oder einen Fingermuskel oder …«

»Dabei handelt es sich um das Bene-Gesserit-Training«, erklärte Jessica. »Das weißt du, Harah. Würdest du meiner Tochter dieses Erbe verweigern?«

»Ehrwürdige Mutter, du weißt, daß diese Dinge mich persönlich nicht stören«, verteidigte sich Harah. »Aber es geht hier um die Leute und die Art, in der sie sich das Maul zerreißen. Ich sehe darin eine Gefahr. Sie sagen, deine Tochter sei ein Dämon, weil andere Kinder sich weigern, mit ihr zu spielen. Sie sei ein …«

»Sie hat eben keine Gemeinsamkeiten mit den anderen Kindern«, sagte Jessica. »Und sie ist kein Dämon. Es ist nur ein …«

»Natürlich ist sie das nicht!«

Jessica fühlte sich von der Stärke in Harahs Tonfall ziemlich überrascht und schaute kurz Alia an. Das Kind erschien ihr im Moment gedankenverloren und strahlte etwas aus, das nach … Abwarten aussah. Dann sah sie wieder Harah an.

»Ich respektiere die Tatsache, daß du ein Mitglied des Haushalts meines Sohnes bist«, erklärte sie (Alia drückte gegen ihre Hand). »Und du kannst offen über alles sprechen, was dir Sorgen bereitet.«

»Ich werde bald kein Mitglied des Haushalts deines Sohnes mehr sein«, erwiderte Harah. »Ich habe nur deswegen so lange bei ihm gelebt, weil er für meine Söhne sorgte und ihnen eine Ausbildung ermöglichte, die eben nur die Kinder eines Usul erhalten. Mehr konnte ich ihnen leider nicht geben, denn jedermann weiß, daß ich nicht das Bett deines Sohnes teile.«

Erneut regte sich Alia neben ihr, halb schlafend und warm.

»Du wärest dennoch eine gute Gefährtin für meinen Sohn geworden«, sagte Jessica. Und tief in ihrem Innern fügte sie für sich selbst hinzu: Gefährtin … aber keine Gemahlin. Ein Schicksal, das sie selbst geteilt hatte. Und das führte sie zum Hauptproblem, zu dem, was man bereits seit längerem im Sietch erzählte: daß Paul mit Chani zusammen war und ob sie seine Frau werden würde.

Ich liebe Chani, dachte Jessica, aber sie dachte im gleichen Atemzug daran, daß auch die Liebe im Leben eines Adeligen eine Nebenrolle zu spielen hatte. Hochzeiten zwischen Adeligen hatten andere Gründe, Liebe kam dabei nicht vor.

»Glaubst du, ich wüßte nicht, welche Pläne du mit deinem Sohn hast?« fragte Harah.

»Was meinst du damit?« wollte Jessica wissen.

»Du planst, die Stämme unter seiner Führung zu vereinigen«, erwiderte Harah.

»Und was ist schlecht daran?«

»Ich sehe Gefahren für ihn … Und Alia ist ein Teil dieser Gefahr.«

Alia schmiegte sich enger an ihre Mutter, öffnete die Augen und sah Harah aufmerksam an.

»Ich habe euch beide beobachtet«, fuhr Harah fort. »Die Art, in der ihr euch berührt. Und Alia steht mir sehr nahe, weil sie die Schwester eines Mannes ist, der zu mir ist wie ein Bruder. Ich habe auf sie achtgegeben und sie beschützt, seit sie ein Säugling war, seit jener Razzia, nach der wir hierher fliehen mußten. Und ich habe viel über sie herausgefunden.«

Jessica nickte und fühlte, wie das Unbehagen in der neben ihr sitzenden Alia wuchs.

»Du weißt, was ich meine«, fuhr Harah fort. »Sie hat von Anfang an jedes Wort verstanden, das man ihr sagte. Hat es jemals ein anderes Baby gegeben, das in so jungen Jahren schon die Regeln der Wasserdisziplin einhalten konnte? Und was sind in der Regel die ersten Worte, die ein Kind derjenigen, die es aufzieht, entgegenbringt? Etwa ›Ich liebe dich, Harah‹?«

Harah starrte Alia an. »Weswegen, glaubst du, nehme ich all ihre Beleidigungen hin? Weil ich weiß, daß dahinter keine Bösartigkeit steckt.«

Alia schaute zu ihrer Mutter auf.

»Ja, ich bin durchaus fähig, aus meinen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen, Ehrwürdige Mutter«, sagte Harah. »Aus mir hätte eine Sayyadina werden können. Ich weiß, daß ich das, was ich gesehen habe, gesehen habe.«

»Harah …« Jessica hob die Schultern. »Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.« Und sie stellte überrascht fest, daß das der Wahrheit entsprach. Es war überraschend.

Alia reckte sich. Es war offensichtlich, daß das, worauf sie gewartet hatte, eingetreten war.

»Wir haben einen Fehler gemacht«, sagte das Kind. »Wir brauchen Harah jetzt.«

»Es ist bei der Zeremonie geschehen«, sagte Harah, »während du das Wasser des Lebens verändertest, Ehrwürdige Mutter — und Alia noch nicht geboren war.«

Wir brauchen Harah? fragte sich Jessica.

»Wer sonst kann zu den Leuten reden und ihnen beibringen, mich zu verstehen?« fragte Alia.

»Was willst du, das sie tut?« fragte Jessica zurück.

»Sie weiß bereits, was sie tun muß«, erwiderte Alia.

»Ich werde ihnen die Wahrheit sagen«, sagte Harah. Ihr Gesicht erschien plötzlich älter und trauriger als je zuvor. »Ich werde ihnen sagen, daß Alia nur vorgibt, ein kleines Mädchen zu sein, obwohl sie es in Wirklichkeit niemals gewesen ist.«

Alia senkte den Kopf. Tränen liefen über ihre Wangen, und Jessica fühlte eine Welle der Traurigkeit in ihrer Tochter.

»Ich weiß, daß ich eine Mißgeburt bin«, flüsterte das Kind. Die erwachsene Schlußfolgerung hörte sich aus ihrem Mund an wie eine bittere Bestätigung.

»Du bist keine Mißgeburt!« sagte Harah schroff. »Wer wagt es, so etwas zu behaupten?«

Erneut wunderte sich Jessica, wieso sich Harah derart beschützend vor ihre Tochter stellte. Und ihr wurde klar, daß Alia sie richtig beurteilt hatte. Sie brauchten Harah ebenso wie ihre Worte und Gefühle. Es war offensichtlich, daß sie Alia liebte, als sei sie ihr eigenes Kind.

»Wer sagt das?« wiederholte Harah.

»Niemand.«

Alia ergriff den Saum von Jessicas Aba, und sie wischte sich damit die Tränen aus dem Gesicht. Dann glättete sie den Stoff wieder.

»Dann sage du es auch nicht«, befahl Harah.

»Ja, Harah.«

»Und jetzt«, fuhr Harah fort, »erzähle mir alles, damit ich weiß, wie ich bei den anderen vorzugehen habe. Erzähle mir, was mit dir geschehen ist.«

Alia schluckte und sah ihre Mutter an.

Jessica nickte zustimmend.

»Eines Tages wachte ich auf«, sagte Alia. »Es war, als erwachte ich von einem Schlaf, aber ich konnte mich nicht erinnern, schlafen gegangen zu sein. Ich befand mich an einem warmen, dunklen Platz. Und ich fürchtete mich.«

Während sie dem halb lispelnden Tonfall ihrer kleinen Tochter horchte, erinnerte sich Jessica an jenen Tag in der großen Höhle.

»Und als ich mich fürchtete«, berichtete Alia weiter, »versuchte ich irgendwohin zu entkommen. Aber es gab keinen Ausweg.

Dann sah ich einen Funken … das heißt, ich sah ihn nicht, es war eine andere Form des Sehens. Er war bei mir, und ich fühlte seine Emotionen … er streichelte mich und sagte mir, daß alles in Ordnung gehen würde. Es war meine Mutter.«

Harah rieb sich die Augen und lächelte Alia zu. Aber es blieb ein Ausdruck in ihren Augen, der zeigte, daß die Fremen-Frau nicht nur mit ihren Ohren, sondern auch mit dem Blick die Worte des Mädchens zu verstehen suchte.

Und Jessica dachte: Was wissen wir wirklich darüber, wie solche Frauen denken? Nach allem, was sie uns voraushaben?

»Und kaum fühlte ich mich sicher und beschützt«, fuhr Alia fort, »stellte ich fest, daß sich bei uns ein dritter Funke befand … und dann geschah alles auf einmal. Der andere Funke war die alte Ehrwürdige Mutter. Sie war dabei … ihr Leben mit meiner Mutter zu teilen … ihr alles zu geben. Und ich war dabei, mit ihnen zusammen, und sah und hörte alles. Und als es vorüber war, war ich sie. Und sie waren ich. Es hat lange gedauert, bis ich mich selbst wiederfand.«

»Es war eine schreckliche Erfahrung«, sagte Jessica. »Kein Wesen sollte auf diese Weise ein Bewußtsein erlangen. Es ist ein Wunder, daß du all dies aufnehmen konntest.«

»Ich konnte nichts dagegen tun!« sagte Alia heftig. »Ich wußte einfach nicht, wie ich mein Bewußtsein gegen die Informationsflut schützen oder abblocken konnte. Es passierte einfach … es geschah.«

»Das wußten wir nicht«, murmelte Harah. »Als wir deiner Mutter das Wasser gaben, wußten wir nicht, daß du bereits in ihr existiertest.«

»Mache dir deswegen keine Vorwürfe, Harah«, erwiderte Alia. »Ich habe ja auch keinen Grund, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Und außerdem gibt es mindestens einen Grund, sich glücklich zu fühlen: Auch ich bin eine Ehrwürdige Mutter. Der Stamm hat also jetzt zwei …«

Sie brach ab und lauschte.

Harah stieß sich mit den Füßen ab und rutschte auf ihrem Sitzkissen etwas zurück. Sie starrte zuerst Alia an, dann ihre Mutter.

»Hast du das nicht schon vermutet?« fragte Jessica.

»Pschscht«, machte Alia.

Aus der Ferne hörten sie einen rhythmischen Singsang, der lauter und lauter wurde, durch die Vorhänge in die Räume der Sietch-Gemeinschaft drang und den Menschen Aufmerksamkeit abverlangte: »Ya! Ya! Yawm! Ya! Ya! Yawm! Mu zein, Wallah! Ya! Ya! Yawm! Mu zein, Wallah!«

Die Singenden schritten nun am äußeren Eingang von Jessicas Räumlichkeiten vorbei, und für einen Moment waren ihre Stimmen in aller Deutlichkeit zu hören. Aber sie gingen weiter und ihre Worte verschwammen in der Ferne.

Als der Gesang nur noch ein leises Summen war, begann Jessica das Ritual mit trauriger Stimme: »Es war Ramadhan und April auf Bela Tegeuse.«

»Meine Familie saß in ihrem Garten«, sagte Harah. »Und sie badete in der Flüssigkeit, die ein Springbrunnen in die Luft warf. In ihrer Nähe war ein Portygulbaum, rund und dunkel in der Farbe. Und ein Korb mit Mishmish und Baklawa — alle Arten guter Dinge, die man essen kann. In unserem Garten herrschte Frieden, wie auch den anderen Ländern.«

»Das Leben war voller Glück, bis die Fremden kamen«, sagte Alia.

»Unser Blut erstarrte, als wir die Schreie unserer Freunde hörten«, sagte Jessica. Und sie fühlte, wie sie die Erinnerungen aller Bewußtseine durchdrangen, die sich jetzt in ihr befanden.

»La, la, la, weinten die Frauen«, sagte Harah.

»Sie kamen durch das Mushtamal und fielen über uns her. Und das Blut unserer Männer färbte ihre Schwerter rot«, sagte Jessica.

Die Stille, die sich jetzt über sie herabsenkte, war jetzt auch in allen anderen Räumen des Sietch. Es war die Stille der Erinnerung, die geweihte Minute, die dazu diente, all diese Erinnerungen wachzuhalten.

Es war Harah, die das Ritual ganz plötzlich abbrach. Sie gab ihren Worten eine Härte, die Jessica fremd war.

»Wir werden niemals vergeben und niemals vergessen.«

In der nachdenklichen Stille, die nun folgte, ertönte das Gemurmel von Menschen und das Rascheln mehrerer Roben. Jessica spürte, daß jemand vor dem Eingang ihres Ruheraums stand und darauf wartete, eingelassen zu werden.

»Ehrwürdige Mutter?«

Eine Frauenstimme. Jessica erkannte sie sofort. Es war Tharthar, eine der Frauen Stilgars.

»Was gibt es, Tharthar?«

»Ärger, Ehrwürdige Mutter:«

Jessica fühlte am Schlage ihres Herzens, daß sie sich plötzlich Sorgen um ihren Sohn machte. »Paul …«, keuchte sie.

Tharthar zerteilte den Vorhang und kam herein, dann fiel der Vorhang wieder. Sie schaute Tharthar an, eine kleine, dunkle Frau in einem rötlichen Sackgewand mit schwarzer Ornamentik. Sie sah in völlig blaue Augen, die sie nicht aus dem Blick ließen.

»Was gibt es?« wollte Jessica wissen.

»Es gibt eine Botschaft aus der Wüste«, sagte Tharthar. »Usul wird einen Bringer treffen … heute. Die jungen Männer sagen, daß es unmöglich ist, daß er versagt. Daß er ein Sandreiter sein wird, bevor es Nacht wird. Und sie verlangen nach einer Razzia. Sie wollen nach Norden eilen und Usul dort treffen. Und sie wollen den Kriegsruf ausstoßen. Sie sagen, sie wollen ihn auffordern, Stilgar in einem Zweikampf zu besiegen und anschließend die Macht über alle Stämme übernehmen.«

Das Wasseransammeln, das Dünenbefestigen, die langsame, aber ständige Veränderung ihrer Welt genügt ihnen nicht mehr, dachte Jessica. Die kleinen, ungefährlichen Aktionen bisher — sie genügen ihnen, nach dem, was Paul und ich ihnen alles beigebracht haben, nicht mehr. Sie spüren jetzt, wie stark sie sind und wollen kämpfen.

Tharthar verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sie räusperte sich.

Wir wissen, daß wir noch warten müßten, dachte Jessica, aber uns ist ebenfalls klar, daß die lange Wartezeit der Kern unserer Frustrationen ist. Und wir wissen außerdem, daß allzulanges Warten unseren Kräften schadet. Je länger wir warten, desto energieloser werden wir.

»Die jungen Männer sagen, daß Usul Stilgar herausfordern muß, wenn er nicht als Feigling gelten will«, sagte Tharthar.

Sie ließ ihren Schleier sinken.

»Also so ist es«, murmelte Jessica und dachte: Nun, ich habe es kommen sehen. Und Stilgar auch.

Wieder räusperte Tharthar sich. »Selbst mein Bruder Shoab vertritt diese Ansicht«, fügte sie hinzu. »Sie werden Usul gar keine andere Wahl lassen.«

Dann muß es also so sein, dachte Jessica. Und Paul wird damit allein fertigwerden müssen. Die Ehrwürdige Mutter darf nicht in eine solche Angelegenheit verwickelt werden.

Alia löste ihre Hand aus der ihrer Mutter und sagte: »Ich werde mit Tharthar gehen und mir anhören, was die jungen Männer sagen. Vielleicht gibt es einen Ausweg.«

Jessicas Blick richtete sich auf Tharthar, als sie ihrer Tochter erwiderte: »Dann geh. Und berichte mir so schnell du kannst.«

»Wir wollen nicht, daß es dazu kommt, Ehrwürdige Mutter«, sagt Tharthar.

»Wir wollen es nicht«, stimmte Jessica ihr zu. »Der Stamm braucht all seine Kraft.« Sie sah Harah an. »Willst du mit ihnen gehen?«

Harah beantwortete den unhörbaren Teil ihrer Frage. »Tharthar wird dafür sorgen, daß Alia nichts zustößt. Sie weiß, daß wir bald Frauen sein werden, die zusammengehören, die sich den selben Mann teilen. Wir haben darüber gesprochen, Tharthar und ich.« Sie schaute erst Tharthar an, dann Jessica. »Wir sind uns in jeder Beziehung einig.«

Tharthar streckte eine Hand nach Alia aus und sagte: »Wir müssen uns beeilen. Die jungen Männer werden sehr bald aufbrechen.«

Sie zwängten sich durch die Vorhänge und die dort wartenden Frauen. Obwohl die erwachsene Frau das Kind an der Hand hielt, sah es so aus, als würde Alia sie führen.

»Wenn Paul-Muad'dib Stilgar tötet, wird dies dem Stamm keinen Dienst erweisen«, sagte Harah. »Früher hat man auf diese Art die Nachfolge geregelt. Aber die Zeiten haben sich geändert.«

»Sie haben sich genauso geändert für dich«, sagte Jessica.

»Glaube nicht, daß ich am Ausgang eines solchen Kampfes zweifle«, erwiderte Harah. »Usul würde den Kampf in jedem Falle gewinnen.«

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Jessica.

»Aber du glaubst, daß meine persönlichen Gefühle meine Urteilskraft beeinflussen«, meinte Harah. Sie schüttelte den Kopf, und die Wasserringe klingelten. »Das ist falsch. Und du bist der Meinung, ich könnte es nicht überwinden, daß Usul mich nicht vorgezogen hat, daß ich eifersüchtig auf Chani bin.«

»Du wirst deine eigene Wahl treffen, sobald du dazu reif bist«, sagte Jessica.

»Chani tut mir leid«, stellte Harah fest.

Jessica zuckte zusammen. »Wie meinst du das?«

»Ich weiß, was du von Chani hältst«, sagte Harah. »Du bist der Ansicht, sie sei nicht die richtige Frau für deinen Sohn.«

Jessica sank zurück und entspannte sich auf ihrem Sitzkissen. Achselzuckend gab sie zu: »Vielleicht.«

»Du könntest recht haben«, sagte Harah. »Und wenn du das wirklich hast, wirst du über einen ungewöhnlichen Verbündeten verfügen: Chani selbst. Sie will nur das, was für ihn gut ist.«

Jessica schluckte. Ihre Kehle schien sich auf einmal zu verengen. »Chani ist sehr lieb zu mir«, sagte sie. »Sie könnte keinen solchen …«

»Deine Teppiche«, wechselte Harah das Gesprächsthema, »sind ziemlich schmutzig.« Sie warf einen Blick auf den Fußboden, um so Jessicas Augen zu entgehen. »Es laufen zu viele Leute hier herum, die zu viel Schmutz mit hereintragen. Du solltest sie öfter ausklopfen lassen.«

5

Selbst als Mitglied einer orthodoxen Religion kann man dem Ränkespiel der Politik nicht entgehen. Ein Machtkampf dieser Art erfordert die Ausbildung, Bildung und Diszipliniertheit der orthodoxen Gemeinschaft. Und gerade wegen dieses Drucks müssen die Führer solcher orthodoxer Gemeinschaften sich den ultimaten inneren Fragen stellen: entweder dem völligen Opportunismus als dem Preis der Selbstbehauptung zu unterliegen — oder das eigene Leben für die Sache der orthodoxen Ethik einzusetzen.

Aus ›Muad'dib: Die religiöse Konsequenz‹, von Prinzessin Irulan.


Paul stand im Sand und wartete auf den gigantischen Wurm, der sich jetzt näherte. Ich darf nicht hier stehen wie ein Schmuggler, dachte er, ungeduldig und nervös. Ich muß ein Teil der Wüste werden.

Das Ding war jetzt nur noch Minuten entfernt und erfüllte den Morgen mit dem Zischen seiner Bewegung. Die großen Zähne innerhalb des heranrasenden Sandhügels erschienen ihm wie eine riesige, sich aufblätternde Blume. Der Gewürzduft beherrschte die gesamte Umgebung.

Der Destillanzug, den er trug, war leicht, und Paul war sich der Nasenfilter kaum bewußt. Ebensowenig der Atemmaske. Stilgars Worte, die Erinnerung an die harten Ausbildungsstunden in der Wüste, überschatteten sein gesamtes Denken.

»Wie weit außerhalb des Aktionsradius' eines Bringers mußt du im Sand stehen?« hatte Stilgar ihn gefragt.

Und er hatte richtig geantwortet: »Einen halben Meter für jeden Meter vom Durchmesser des Bringers.«

»Und warum?«

»Um dem Wirbel zu entgehen, den er aufwirft und um genügend Zeit zu haben, auf ihn zu zu rennen und ihn zu besteigen.«

»Du hast bereits die Kleinen geritten«, hatte Stilgar gesagt. »Aber bei der Prüfung wird ein wilder Bringer auf dich zukommen, ein alter Mann der Wüste. Du solltest ihm den nötigen Respekt erweisen.«

Das Geräusch des Plumpsers schien nun vom Zischen des Wurmes verschluckt zu werden. Paul atmete tief ein und schmeckte die Bitterkeit des Sandes sogar durch die Nasenfilter. Der wilde Bringer, der alte Mann der Wüste, näherte sich seinem Standort immer noch. Seine Frontsegmente schoben eine Sandwelle vor sich her, die Paul bis zu den Füßen reichte.

Komm heran, du herrliches Ungeheuer, dachte er. Näher. Du hörst meinen Ruf. Komm näher. Näher!

Die Welle erreichte seine Füße. Oberflächenstaub hüllte ihn ein. Paul machte sich bereit, starrte auf die sich heranschiebende Wand, die die Welt zu beherrschen schien.

Er hob die Haken, beugte sich vor und stieß zu. Er fühlte, wie sie zugriffen und zog daran. Dann schwangen sich seine Beine gegen den Körper des Wurms. Dies war der Augenblick, der am gefährlichsten war: Würden die Haken halten? Hatte er sie richtig placiert? Wenn sie richtig saßen und er mit ihnen ein Segment öffnen konnte, würde der Wurm darauf verzichten, sich zur Seite zu rollen und ihn zu erdrücken.

Der Wurm verlangsamte seine Bewegungen. Er wälzte sich über den Plumpser und brachte ihn zum Schweigen. Dann drehte er sich langsam nach links, um die geöffneten Segmente so weit wie möglich aus der Nähe des Sandes zu bringen. Paul fand sich plötzlich auf dem Rücken des gewaltigen Geschöpfs wieder und fühlte sich wie der Herr der Welt. Er mußte einen Freudenschrei unterdrücken und ließ davon ab, den Wurm zu einer Drehung zu bewegen, um den anderen seinen Erfolg weithin sichtbar zu machen.

Plötzlich verstand er, warum Stilgar ihn davor gewarnt hatte, sich so zu verhalten wie einige sorglose junge Männer, die auf dem Rücken dieser Ungetüme gelacht und getanzt hatten, herumgetobt waren und vor Freude Handstände gemacht hatten. Manche hatten dabei übersehen, daß dabei die Haken aus den Segmenten glitten, und bevor es ihnen möglich gewesen war, erneut zuzustoßen, war ihre Chance vertan.

Während er einen Haken an seinem Platz ließ, zog Paul den anderen zurück und setzte ihn etwas tiefer an. Er prüfte nach, ob er an seinem richtigen Platz saß, und veränderte dann die Position des ersten. Der Bringer rollte sich zur Seite, und während er dies tat, drehte er sich und näherte sich der Stelle, an der die anderen warteten.

Paul sah, wie sich die Männer ihm näherten. Sie benutzten ihre Haken, um zu ihm hinaufzuklettern, vermieden es jedoch wohlweislich, die sensitiven Ringsegmente zu berühren. Sanft glitten sie über den Sand dahin.

Stilgar bahnte sich einen Weg durch seine Leute, überprüfte den exakten Sitz von Pauls Haken und warf schließlich einen kurzen Blick in dessen lächelndes Gesicht.

»Du hast es geschafft, was?« fragte er mit lauter Stimme, um sich durch das Zischen hindurch verständlich zu machen. »Das glaubst du doch, oder? — Und ich sage dir, daß du ziemlich schlampige Arbeit geleistet hast. In unserem Stamm sind einige Zwölfjährige, die das besser machen. Zu deiner Linken, wo du gewartet hast, lag Trommelsand. Wenn der Wurm in die Richtung abgebogen wäre, hättest du keine Möglichkeit zu einem Rückzug gehabt.«

Das Lächeln wich aus Pauls Gesicht. »Ich habe den Trommelsand gesehen.«

»Und warum hast du dann nicht einem von uns signalisiert, damit er eine Gegenposition einnehmen konnte?«

Paul schluckte und blickte in die Richtung, in der sie sich bewegten.

»Vielleicht findest du es schlecht von mir, wenn ich das jetzt sage«, fügte Stilgar hinzu, »aber es ist meine Pflicht. Ich mußte abwägen zwischen dir und dem Trupp. Wenn du in diesen Trommelsand geraten wärst, hätte sich der Bringer dir zugewandt.«

Unter einem leichten Schleier der Verärgerung erkannte Paul, daß Stilgar die Wahrheit sprach. Es dauerte dennoch beinahe eine ganze Minute, bis er sich wieder so weit in der Gewalt hatte, daß er sagen konnte: »Es tut mir leid. Ich entschuldige mich. Es soll nicht wieder vorkommen.«

»In einer gefährlichen Situation solltest du dich immer auf einen anderen verlassen können. Jemand sollte immer zur Stelle sein, der den Wurm übernehmen kann, wenn du es selbst nicht schaffst«, sagte Stilgar. »Denke stets daran, daß wir zusammenarbeiten. Nur so sind wir sicher. Wir arbeiten zusammen, eh?«

Er klopfte Paul auf die Schulter.

»Wir arbeiten zusammen«, bestätigte Paul.

»Und jetzt«, sagte Stilgar rasselnd, »zeige mir, wie du einen Bringer steuerst. Auf welcher Seite sind wir?«

Paul blickte auf die rauhe Oberfläche hinunter und registrierte den Charakter und das Format der Schuppen, die Art in der sie zu seiner Rechten größer wurden und kleiner zu seiner linken. Jeder Wurm, wußte er, pflegte sich mit einer Seite öfter nach oben zu drehen als den anderen. Wenn er älter wurde, konnte man seine Oberseite anhand einiger charakteristischer Merkmale erkennen. Die Schuppen der Unterseite wurden größer, schwerer und weicher. Die der Oberseite konnte man schon allein an der Größe erkennen.

Paul bewegte sich nach links und gab den Seitensteuerleuten die Anweisung, hinter ihm ihre Plätze einzunehmen und den Wurm auf einem geraden Kurs zu halten.

»Ach, haiiiii-yoh!« Paul stieß den traditionellen Schrei aus. Die linkerhand bereitstehenden Steuerleute öffneten auf ihrer Seite ein Ringsegment.

Der Wurm beschrieb einen majestätischen Kreis, um das Innere seines Körpers vor dem Sand zu bewahren. Als der Kreis beinahe geschlossen war und das Tier sich nach Süden zubewegte, schrie Paul: »Geyrat!«

Die Steuerleute zogen ihre Haken zurück und der Wurm glitt geradeaus weiter.

Stilgar sagte: »Sehr gut, Paul-Muad'dib. Wenn du noch fleißig übst, kann aus dir eines Tages noch mal ein Sandreiter werden.«

Paul runzelte die Stirn und dachte: Habe ich denn immer noch nicht bestanden?

Von hinten erklang lautes Gelächter. Die Männer begannen zu singen und riefen laut seinen Namen dem Himmel entgegen.

»Muad'dib! Muad'dib! Muad'dib! Muad'dib!«

Und fern am Ende des Wurmes hörte Paul die Schläge der Antreiber, die sich mit den Segmenten der Schwanzspitze beschäftigten. Der Wurm begann schneller zu werden. Die Roben der Männer flatterten im Wind. Das schabende Geräusch, das sein Fortbewegungsmittel auf dem Boden erzeugte, steigerte sich.

Paul schaute auf die Männer des Trupps zurück und stellte fest, daß sich auch Chani unter ihnen befand. Während er Stilgar ansprach, blieb sein Blick auf ihr haften. »Dann bin ich also doch ein Sandreiter, Stil?«

»Hal Yawm! Seit dem heutigen Tage bist du ein Sandreiter.«

»Und ich kann damit unser Ziel bestimmen?«

»Das ist der Brauch.«

»Und ich bin jetzt ein Fremen. Geboren am heutigen Tage in der Habbanya-Erg. Vor diesem Tage habe ich nicht gelebt. Ich war ein Kind, bis zum heutigen Tage.«

»Also ein Kind nun doch nicht«, sagte Stilgar und fummelte an der Kapuze herum, mit der der Wind spielte.

»Ich befand mich in einer Flasche und wurde durch einen Korken von der Außenwelt ferngehalten. Und jetzt hat man diesen Korken herausgezogen.«

»Es gibt keinen Korken.«

»Ich möchte nach Süden gehen, Stilgar. Zwanzig Plumpser. Ich möchte das Land sehen, das wir machen; das Land, das ich bisher nur durch die Augen anderer sehen konnte.«

Und ich will meinen Sohn und meine Familie sehen, fügte er in Gedanken hinzu. Ich brauche Zeit, um die Zukunft zu erkennen, die in meinem Bewußtsein bereits Vergangenheit ist. Die Unruhen werden auf uns zukommen, und wenn ich nicht dort bin, wo ich ihnen begegnen kann, wird die Lage meiner Kontrolle entgleiten.

Stilgar sah ihn mit einem undurchdringlichen Blick an. Paul lenkte seine eigene Aufmerksamkeit auf Chani und sah, daß seine Worte nicht nur die Männer, sondern auch sie ergriffen hatten.

»Die Männer sind scharf darauf, mit dir einen Überfall auf die Harkonnen-Senken zu machen«, sagte Stilgar plötzlich. »Und das ist nur eine Plumpser-Länge entfernt.«

»Die Fedaykin haben mit mir zusammen gekämpft«, sagte Paul. »Und sie werden auch weiterhin mit mir kämpfen, so lange, bis auch der letzte Harkonnen aufgehört hat, die Luft von Arrakis zu atmen.«

Während sich der Wurm weiterbewegte, musterte Stilgar Paul. Und Paul erkannte, daß der Mann diesen Augenblick bereits vorausgesehen hatte.

Er hatte die Berichte, daß die jungen Frauen ungeduldig werden, ebenfalls gehört, dachte Paul.

»Bestehst du auf einer Versammlung der Führer?« fragte Stilgar.

Die Augen der jungen Männer des Trupps wandten sich ihnen zu. Sie schwiegen, während sie sich fortbewegten, aber sie hörten ihren Worten zu. Paul sah die Anzeichen der Unruhe in Chanis Blick. Sie schaute auf Stilgar, der ihr Onkel war, zu Paul-Muad'dib, ihrem Gefährten.

»Du kannst nicht erraten, was ich möchte«, sagte Paul.

Und er dachte: Ich kann jetzt nicht mehr zurück. Ich muß die Kontrolle über diese Leute behalten.

»Am heutigen Tage«, sagte Stilgar mit kalter Formalität in der Stimme, »bist du der Mudir. Wie wirst du diese Macht einsetzen?«

Wir brauchen Zeit, um uns zu entspannen und Zeit zu kühler Reflexion, dachte Paul.

»Wir werden nach Süden gehen«, sagte er.

»Selbst dann, wenn ich, wenn der Tag zu Ende geht, sage, daß wir nach Norden zurückkehren?«

»Wir werden nach Süden gehen«, wiederholte Paul.

Ein Zeichen unendlicher Würde schien Stilgar zu umgeben, als er seine Robe enger um die Schultern zog. »Dort wird eine Versammlung stattfinden«, sagte er. »Ich werde die anderen benachrichtigen lassen.«

Er denkt, daß ich ihn herausfordern will, dachte Paul. Und er weiß, daß er sich nicht gegen mich behaupten kann.

Er blickte nach Süden, fühlte, wie der Wind über seine Wangen strich, und dachte über die Notwendigkeiten nach, die seine Entscheidungen beeinflußten.

Niemand kann sich das vorstellen, dachte er.

Nichts würde ihn von seinem Weg abbringen können. Er mußte auf der Zentrallinie des Zeitsturms bleiben, der sich in der Zukunft vor ihm ausbreitete. Irgendwo dort in der Ferne würde es eine Möglichkeit geben, den Knoten zu durchschlagen. Aber er mußte auf der Linie bleiben, bis der günstige Augenblick sich ankündigte.

Ich werde ihn nicht herausfordern, wenn es einen anderen Weg gibt, dachte er. Wenn es eine andere Möglichkeit gibt, den Djihad zu vermeiden …

»Wir werden heute abend unser Lager in den Vogelhöhlen am Fuß des Habbanya-Rückens aufschlagen«, sagte Stilgar und hielt sich mit einem Haken an der Oberfläche des Bringers fest. Mit der freien Hand deutete er auf eine niedrige Felswand, die sich vor ihnen aus der Wüste erhob.

Paul besah sich die Klippen, große Erhebungen, die die Wüste wellenförmig durchzog. Kein Grün, kein Farbtupfer durchbrach die Starre des Horizonts. Jenseits der Felsen erstreckte sich der Weg in die südliche Wüste hinein — ein Weg von mindestens zehn Tagen und Nächten, auch wenn sie den Bringer noch so schnell antrieben.

Zwanzig Plumpser.

Der Weg lag weitab aller Harkonnen-Patrouillen. Und er wußte, wie das Land dort unten sein würde. Er hatte es oft in seinen Träumen gesehen. Eines Tages, als sie gegangen waren, hatte sich die Farbe des Horizonts verändert. Aber die Veränderung war so geringfügig gewesen, daß ihm klargeworden war, daß sie nicht wirklich war, sondern eine Projektion seiner Hoffnungen. Dahinter vermutete er den neuen Sietch.

»Ist Muad'dib mit meiner Entscheidung einverstanden?« fragte Stilgar. Obwohl der Sarkasmus, der in seiner Stimme lag, kaum hörbar war, hatten die Ohren der Fremen ihn aufgeschnappt und sahen nun Paul an; warteten auf seine Reaktion.

»Als wir die Kommandos der Fedaykin aufstellten«, erwiderte Paul gelassen, »hat Stilgar meinen Treueschwur gehört. Meine Todeskommandos wissen, daß ich das ehrlich meinte. Und jetzt zweifelt Stilgar daran?«

Der Schmerz in Pauls Stimme war unüberhörbar. Stilgar hörte ihn ebenfalls und löste seinen Schleier.

»Usuls Worten würde ich niemals mißtrauen, denn er gehört zu meinem Sietch«, erwiderte er. »Aber du bist Paul-Muad'dib, der Herzog Atreides — und der Lisan al-Gaib, die Stimme der Außenwelt. Diese Männer kenne ich noch nicht.«

Paul wandte sich ab, um zuzusehen, wie sich vor ihnen der Habbanya-Rücken aus der Wüste erhob. Der Bringer, auf dem sie saßen, schien immer noch stark und willig zu sein. Paul zweifelte nicht daran, daß er sie zweimal so weit würde tragen können wie jeder andere Wurm, den die Fremen je geritten hatten. Er wußte es. Ein gewaltiges Tier wie dies hatte es in den Geschichten, die man den Kindern erzählte, noch nie gegeben. Es war der Stoff für eine neue Legende.

Eine Hand berührte seine Schulter.

Paul drehte den Kopf, folgte dem Arm bis zu Stilgars Gesicht mit den dunklen Augen, die beinahe unter der Kapuze verborgen lagen.

»Mein Vorgänger im Sietch Tabr«, sagte Stilgar, »war mein Freund. Wir haben gemeinsam die Gefahren überstanden. Er schuldete mir sein Leben mehrere Male. Und ich schuldete ihm das meine.«

»Ich bin ebenfalls dein Freund, Stilgar«, sagte Paul.

»Niemand bezweifelt das«, erwiderte Stilgar. Er zog seinen Arm zurück und zuckte die Achseln. »So ist es eben.«

Paul wurde klar, daß Stilgar zu sehr den Lebensgewohnheiten der Fremen unterworfen war, um sich andere Alternativen auch nur vorstellen zu können. Es war unter diesen Leuten üblich, die Führergewalt aus den Händen des Vorgängers zu empfangen, nachdem man ihn besiegt hatte. Starb ein Führer in der Wüste, kämpften die stärksten Männer des Stammes um seine Nachfolge. Auf diese Art war Stilgar zu einem Naib herangewachsen.

»Wir sollten diesen Bringer im tiefen Sand zurücklassen«, sagte Paul.

»Ja«, stimmte ihm Stilgar zu. »Von hier aus können wir zu der Höhle gehen.«

»Wir haben ihn jetzt so lange benutzt, daß er sich einen oder zwei Tage eingraben und verschnaufen wird.«

»Du bist der Mudir heute«, sagte Stilgar. »Du brauchst uns nur zu sagen, wann wir …«

Er brach abrupt ab und starrte auf den östlichen Himmel.

Paul wirbelte herum. Die blaue Färbung seiner Augen, die das Gewürz hervorgerufen hatte, ließ den Himmel im ersten Moment dunkler erscheinen als er war.

Ornithopter!

»Ein kleiner Thopter«, sagte Stilgar.

»Könnte ein Scout sein«, meinte Paul. »Glaubst du, daß er uns gesehen hat?«

»Auf diese Entfernung sieht er höchstens den Wurm«, gab Stilgar zurück. Er winkte den anderen mit der Linken zu. »Alles runter. Runter in den Sand!«

Die Männer glitten an den Seiten des Wurms hinab, sprangen in den Sand. Chani folgte ihnen. Plötzlich war er mit Stilgar allein auf dem Rücken.

»Ich war als erster oben und gehe als letzter hinunter«, sagte Paul.

Stilgar nickte und ließ sich mit den Haken an der Seite in die Wüste hinab. Paul wartete, bis er sicher war, daß die anderen sich genügend entfernt hatten. Dann löste er seine Haken. Das war der gefährlichste Augenblick.

Von den ihn steuernden Haken befreit, begann der Wurm sich augenblicklich einzugraben. Paul rannte leichtfüßig über seinen langen Rücken dahin, wartete einen günstigen Moment ab und sprang.

Er landete glücklich, war sofort wieder auf den Beinen und rannte auf den Kamm der nächsten Düne zu, so wie man es ihm beigebracht hatte. Er warf sich über den Hügelrücken und verbarg sich unter einer Kaskade von Sand.

Und jetzt hieß es abwarten.

Vorsichtig wandte er sich um, lüftete die Robe und sah einen Ausschnitt des Himmels. Auch die anderen starrten nach oben.

Bevor er den Thopter sah, hörte er den Flügelschlag des Gefährts. Die Düsen gaben ein Geräusch von sich, das einem entfernten Flüstern ähnelte. Er überquerte den Abschnitt, in dem sie sich befanden und drehte dann in einem weiten Kreis auf den Bergrücken zu.

Paul stellte fest, daß die Maschine keinerlei Insignien trug.

Sie verschwand über den Bergen des Habbanya-Rückens und gelangte außer Sichtweite.

Ein Vogelschrei erklang, dann ein weiterer.

Paul schüttelte den Sand von seinem Körper und erklomm den Dünenkamm. Er sah die Gestalten der anderen, die sich in einer langen Linie auf die Felsen zu bewegten. Er erkannte Chani und Stilgar.

Und Stilgar winkte ihm zu.

Kurz darauf hatte er die anderen erreicht, und sie glitten gemeinsam über den Sand, wobei sie sorgfältig darauf achteten, keinen bestimmten Rhythmus hervorzurufen. Stilgar näherte sich Paul und marschierte neben ihm.

»Es war eine Schmugglermaschine«, sagte er.

»Das erschien mir auch so«, bestätigte Paul. »Aber ich kann mir kaum vorstellen, daß sie sich so tief in die Wüste hineinwagen.«

»Sie haben auch ihre Schwierigkeiten mit den Patrouillen«, gab Stilgar zu bedenken.

»Das stimmt. — Es wäre nicht gut für sie, wenn sie allzu weit in die Wüste hinausgingen und dort Dinge sähen, die sie nicht sehen sollten. Die Schmuggler verkaufen auch Informationen.«

»Du glaubst nicht daran, daß sie hinter Gewürz her waren?« fragte Stilgar.

»Wenn das so ist, dann müssen sie auch irgendwo in der Nähe einen Sandkrabbler versteckt haben«, sagte Paul. »Wir haben doch Gewürz bei uns. Vielleicht sollten wir etwas davon auslegen und die Schmuggler anlocken. Wenn sie dann kommen, bringen wir ihnen bei, daß dies unser Land ist. Und die Männer könnten ein bißchen Kampfpraxis mit den neuen Waffen gebrauchen.«

»Nun spricht wieder Usul aus dir«, stellte Stilgar fest. »Und Usul spricht wie ein Fremen.«

Usul hat keine andere Wahl, dachte Paul, denn er muß zu Entscheidungen gelangen, die seiner schrecklichen Bestimmung zuwiderlaufen.

6

Wenn das Gesetz und die Pflicht eins sind und vereinigt durch eine Religion, wirst Du niemals mißtrauisch werden und Dich selbst erkennen. Du wirst stets etwas weniger als ein Individuum sein.

Aus ›Muad'dib: Die neunundneunzig Wunder des Universums‹, von Prinzessin Irulan.


Die Erntefabrik der Schmuggler, die sich zwischen den Dünen bewegte, wirkte, im Zusammenhang mit dem über ihr kreisenden Tragflügler und den drohnenähnlichen Scoutbooten, wie ein Bienenschwarm, der seiner Königin folgt. Vor dem Schwarm breitete sich ein kleines Felsengebiet aus, das sich aus dem Wüstensand erhob wie eine Imitation des gigantischen Schildwalls. Ein Sturm der vergangenen Tage hatte die Felsenausläufer, in denen sich sonst große Mengen von Flugsand anzusammeln pflegten, leergefegt.

Innerhalb der Plastikkuppel der Erntefabrik beugte sich Gurney Halleck nach vorn, justierte die Öllinsen seines Feldstechers und suchte die Landschaft ab. Jenseits der Felsformation erkannte er einen dunklen Fleck in der Wüste, den er für ein Gewürzgebiet hielt. Sofort gab er einem der schwebenden Ornithopter das Signal, sich das Gebiet näher anzusehen.

Der Thopterpilot klapperte mit den Schwingen, um ihm zu zeigen, daß er das Signal verstanden hatte, trennte sich von dem Schwarm und bewegte sich auf den dunklen Fleck zu, den er mehrmals umkreiste, während seine Detektoren die Oberfläche abtasteten.

Augenblicklich gab die Maschine der Erntefabrik mit einem erneuten Flügelschlagen zu verstehen, daß Gurneys Vermutung richtig gewesen war.

Gurney setzte das Fernglas ab. Auch die anderen hatten das Signal gesehen. Die Gegend gefiel ihm. Der Höhenrücken bot ihnen Schutz. Sie befanden sich tief in der Wüste, und obwohl die Möglichkeit, hier überfallen zu werden, gering war, konnte er sich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Gurney gab der Mannschaft eines anderen Thopters das Signal, den Höhenrücken zu überfliegen und nach verdächtigen Bewegungen Ausschau zu halten. Natürlich durften sie auch nicht zu hoch fliegen, weil sie sonst von irgendwelchen Beobachtungsposten der Harkonnens aus der Ferne wahrgenommen werden konnten.

Aber es war zweifelhaft, daß die Harkonnen-Leute sich so weit nach Süden wagten. Immerhin war dies immer noch Fremengebiet. Während Gurney seine Waffen überprüfte, verfluchte er die Tatsache, daß man auf Arrakis keine Schilde einsetzen konnte. Alles, was einen Wurm anlockte, war um jeden Preis zu vermeiden. Nachdenklich rieb er seine Gesichtsnarbe, schaute hinaus und entschied, daß es am sichersten war, zu Fuß eine Gruppe durch die Felsen zu führen. Das war wirklich am sichersten. Man konnte gar nicht vorsichtig genug sein, wenn man überall damit rechnen mußte, in eine Schlacht zwischen den Harkonnens und den Fremen verwickelt zu werden.

Hauptsächlich die Fremen bereiteten ihm Sorgen. Normalerweise hatten sie ja nichts dagegen, wenn man sich das Gewürz da aufsammelte, wo man es fand; aber sie konnten fuchsteufelswild werden, wenn sie einen dabei erwischten, ein Gebiet zu betreten, in dem sie keinen Fremden sehen wollten. Und dann konnten sie unberechenbar sein.

Es war die Zähigkeit und Unberechenbarkeit der Fremen, die ihn am meisten erschreckte. Und das wollte bei einem Mann wie ihm, der von den besten Kämpfern des Universums ausgebildet worden war und die schrecklichsten Schlachten geschlagen und überlebt hatte, etwas heißen.

Gurney musterte erneut die Landschaft. Er fragte sich, aus welchem Grund er sich nicht wohl fühlte. Vielleicht lag es an dem Wurm, den sie gesehen hatten? Ach was. Das war auf der anderen Seite des Hügelrückens gewesen.

Jemand streckte den Kopf in die Plastikkuppel herein. Es war der Fabrikkommandant, ein einäugiger, bärtiger alter Pirat mit den blauen Augen und milchweißen Zähnen, die anzeigten, daß er hauptsächlich von Gewürzdiät lebte.

»Es sieht wie eine ziemlich große Fundstelle aus, Sir«, meldete er. »Sollen wir sie uns unter den Nagel reißen?«

»Lassen Sie die Fabrik am Rand der Felsen stehen«, ordnete Gurney an. »Ich werde mit meinen Männern aussteigen und die Felsen im Auge behalten. Sie können das Gewürz dann von Ihrem Standort aus abbauen.«

»Aye.«

»Und falls es Schwierigkeiten gibt«, fuhr Gurney fort, »bringen Sie die Fabrik in Sicherheit. Wir werden dann in die Thopter klettern.«

Der Fabrikkommandant salutierte. »Aye, Sir.« Sein Kopf verschwand wieder.

Erneut suchte Gurney den Horizont ab. Er durfte die Möglichkeit, daß sich hier Fremen aufhielten, nicht ausschließen. Hauptsächlich machte er sich Sorgen über ihre Unberechenbarkeit. Natürlich gab es noch andere Dinge, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen, aber wenn er diese heil überstand, winkte ihm zumindest eine anständige Belohnung. Wenn er doch nur die Möglichkeit hätte, die Scouts hoch genug hinaufzuschicken! Auch die fehlende Funkmöglichkeit trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen.

Die Maschine, die die Fabrik trug, glitt nun tiefer und machte Anstalten, ihre Fracht auf dem Boden abzusetzen. Die Fabrik setzte sanft auf. Gurney öffnete die Kuppel und die Verschlüsse der Sicherheitsgurte. Kaum hatte die Erntefabrik aufgesetzt, da war er auch schon draußen, warf die Kuppel hinter sich zu und stieg auf die Kettenabdeckung. Von dort aus schwang er sich auf den Boden hinab. Augenblicklich tauchten die fünf Männer seiner Leibgarde hinter ihm auf. Einige andere Männer lösten die Verbindungen zur Flugmaschine, die sofort etwas höher stieg und die Fabrik langsam zu umkreisen begann. Der Ernter glitt sofort auf seinen Raupenketten voran und näherte sich dem dunklen Fleck im Sand.



Ein Thopter senkte sich zu ihnen herab, dann zwei weitere. Offenbar wollten die Piloten nur sehen, ob alles ordnungsgemäß verlaufen war, denn gleich darauf begannen die Maschinen wieder aufzusteigen.

Gurney reckte und streckte sich in seinem Destillanzug und schob den Gesichtsschleier zur Seite. Auch wenn er dabei nur unnötig Körperflüssigkeit verlor — es war notwendig für den Fall, daß er einige Befehle schreien mußte. Er kletterte in die Felsen hinein und begann das Terrain zu sondieren. Unter seinen Füßen knirschten Steine, und über allem lag der Duft des Gewürzes.

Ein guter Platz für den Verteidigungsfall, dachte er. Ich sollte noch ein paar Leute hier zusammenziehen.

Er warf einen Blick zurück und stellte fest, daß seine Leute ihm in ausgeschwärmter Formation folgten. Es waren gute Männer, auch diejenigen, die noch nicht lange genug bei ihm waren, um sie einem Test zu unterwerfen. Wirklich gute Männer. Es war unnötig, ihnen ständig zu sagen, wie sie sich verhalten sollten. Und keiner von ihnen trug einen Schild. Es war beruhigend zu wissen, daß unter seinen Männern kein Feigling war; jemand, der heimlich einen Schild trug und damit das Risiko einging, daß ein Wurm davon angezogen wurde und plötzlich auftauchte, während sie sich über das Gewürzlager hermachten.

Von seinem jetzigen Standpunkt aus konnte Gurney das dunkle Feld in einer Entfernung von einem halben Kilometer ausmachen. Die Erntefabrik bewegte sich im Schatten der Felsen genau darauf zu. Er sah nach oben. Die Maschinen flogen richtig, keine von ihnen war zu hoch. Während er weiterkletterte, nickte er befriedigt.

In diesem Augenblick schienen die Felsen vor ihm zu explodieren. Zwölf donnernde Feuerstrahlen schossen schräg von unten auf die Thopter und den Carryall zu. Von der Erntefabrik her kam das Geräusch zerreißenden Metalls, und dann waren die Felsen um Gurney herum voller vermummter Kämpfer.

Er hatte gerade noch die Zeit zu denken: Bei den Hörnern der Großen Mutter! Raketen! Sie wagen es, Raketen einzusetzen!

Dann stand er auch schon einem vermummten Krieger gegenüber, der sich ihm, ein Crysmesser in der Hand, langsam näherte. Rechts und links von ihm, etwas erhöht auf den Felsen, standen abwartend zwei weitere Männer. Obwohl Gurney lediglich die Augen seines Gegners zu sehen bekam, erweckte die Art und Weise der Bewegungen dieses Mannes in ihm den Eindruck, daß er einem trainierten Kämpfer gegenüberstand. Blaue Augen musterten ihn.

Gurney griff nach dem eigenen Messer und ließ dabei die Kampfhand des Fremen keine Sekunde aus den Augen. Wenn die Fremen in der Lage waren Raketen einzusetzen, mochten sie auch über Projektilwaffen verfügen. Der Moment erforderte größte Vorsicht. Allein anhand der ihn umgebenden Geräusche konnte er erkennen, daß der größte Teil seiner Luftwaffe ausgeschaltet worden war. Überall um ihn herum vernahm er die Anzeichen vereinzelter Kämpfe.

Der Mann, der vor Gurney stand, folgte jeder seiner Bewegungen. Schließlich sah er ihm in die Augen.

»Laß die Waffe stecken, Gurney Halleck«, sagte er plötzlich.

Gurney zögerte. Auch durch den verfremdeten Klang der Nasenfilter glaubte er etwas gehört zu haben, das ihm bekannt vorkam.

»Du kennst meinen Namen?« fragte er.

»Du brauchst keine Waffe gegen den, der vor dir steht, Gurney Halleck«, sagte der Mann. Er straffte seinen Körper und ließ sein Crysmesser in der Scheide unter der Robe verschwinden. »Sage deinen Leuten, daß sie mit dem sinnlosen Widerstand aufhören sollen.«

Der Mann schwang die Kapuze nach hinten und schob den Gesichtsschleier zur Seite.

Der Schock, der Gurney traf, führte dazu, daß er wie gelähmt dastand. Zuerst hatte er den Eindruck, dem Geist des verstorbenen Leto Atreides gegenüberzustehen. Und langsam kam die volle Erkenntnis.

»Paul«, flüsterte er. Und dann lauter: »Bist du es wirklich, Paul?«

»Du traust deinen eigenen Augen nicht?« fragte Paul.

»Es hieß, du seist tot«, röchelte Gurney. Er machte einen halben Schritt vorwärts.

»Sag deinen Leuten, daß sie sich ergeben sollen«, befahl Paul und winkte zu jemandem in die Tiefe hinunter.

Gurney wandte sich nur zögernd ab. Es war ihm beinahe unmöglich, den Blick von Paul abzuwenden. Nur noch wenige seiner Männer kämpften noch, während die vermummten Wüstenbewohner überall zu sein schienen. Die Erntefabrik lag jetzt still. Auf ihrer Oberfläche turnten ein paar Fremen herum, während von seiner Luftwaffe nichts mehr zu sehen war.

»Hört auf!« brüllte Halleck. Er sog tief die Luft ein und legte die Handflächen trichterförmig an den Mund. »Hier spricht Gurney Halleck! Hört auf zu kämpfen!«

Langsam begannen die Männer sich zurückzuziehen. Sie warfen ihm fragende Blicke zu.

»Wir sind unter Freunden«, rief Gurney ihnen zu.

»Das sind feine Freunde!« schrie jemand wütend zurück. »Sie haben die Hälfte unserer Leute umgebracht!«

»Es war ein Versehen«, erwiderte Gurney matt. »Macht es nicht noch schlimmer.«

Er wandte sich wieder Paul zu und starrte in dessen fremenblaue Augen. Paul lächelte, aber in seinem Lächeln lag eine Härte, die Halleck an seinen Großvater, den alten Herzog, erinnerte. Aber er sah auch etwas anderes in Paul: eine Gewandtheit, die Hand in Hand ging mit den katzenhaften Bewegungen seines Körpers und der gebräunten, lederigen Haut, die kein Atreides vor ihm besessen hatte.

»Sie sagten, du seist tot«, wiederholte Gurney.

»Es schien mir richtig, sie in diesem Glauben zu belassen«, erwiderte Paul.

Gurney fragte sich, wie er je hatte glauben können, daß der junge Herzog, der in gewissem Sinne auch sein Freund war, nicht mehr lebte. Gleichzeitig wurde er sich bewußt, daß nicht mehr viel von dem kleinen Jungen, den er trainiert und ausgebildet hatte, übriggeblieben sein konnte.

Paul machte einen Schritt auf Gurney zu und stellte fest, daß er Tränen in den Augen hatte.

»Gurney …«

Es war, als geschähe alles von selbst. Plötzlich lagen sie einander in den Armen, klopften sich auf die Schultern und drückten sich.

»Du junger Hüpfer! Du junger Hüpfer!« schluchzte Gurney.

Und Paul murmelte: »Mensch, Gurney! Mensch, Gurney!«

Dann trennten sie sich und sahen einander an. Gurney holte tief Luft. »Also an dir liegt es, daß die Fremen soviel gelernt haben, was das Kämpfen angeht. Ich hätte es eigentlich wissen sollen. Die Fremen tun in letzter Zeit Dinge, die ich selbst geplant haben könnte. Hätte ich nur gewußt …« Er schüttelte den Kopf. »Hättest du mir nur eine Nachricht zukommen lassen, Bursche. Nichts hätte mich zurückgehalten. Ich hätte die Beine unter den Arm genommen und wäre geradewegs …«

Ein Blick in Pauls Augen brachte ihn zum Verstummen. Er sah ihn abwägend und prüfend an.

Gurney seufzte. »Aber sicher … und dann wären da ein paar Leute gewesen, die sich danach gefragt hätten, wohin der alte Gurney so schnurstracks gelaufen wäre, ich verstehe. Und ein paar andere hätten mehr getan, als sich nur diese Frage zu stellen.«

Paul nickte und sah auf die abwartend herumstehenden Fremen. Die Männer schauten in unglaublicher Überraschung. Paul wandte sich von seinem Todeskommando ab und Gurney zu. Die Tatsache, daß er seinen alten Schwertmeister endlich wiedergefunden hatte, kam ihm wie eine Erlösung vor. Es war für ihn ein gutes Omen, ein Zeichen, daß er sich auf einem Weg in die Zukunft befand, in der alles gut werden würde.

Mit Gurney an meiner Seite …

Über den Höhenrücken hinweg fiel sein Blick auf die Schmugglermannschaft, die mit Halleck gekommen war.

»Was sind das für Leute, Gurney?« fragte er.

»Es sind alles Schmuggler«, erwiderte Halleck. »Und sie stehen auf der Seite, die den Profit macht.«

»Das Unternehmen, das wir betreiben«, sagte Paul, »wirft leider so gut wie keinen ab.« Er bemerkte ein kurzes Fingersignal, das Gurney ihm gab, ein Zeichen aus alten Zeiten, das bedeutete, daß es unter den Schmugglern einige gab, denen man nicht über den Weg trauen konnte. Andere mochten sogar gefährlich sein.

Paul zog zum Zeichen, daß er verstanden hatte, die Oberlippe hoch und warf dann einen Blick auf die über ihnen in den Felsen stehenden Fremen. Stilgar war unter ihnen. Die Erinnerung an das ungelöste Problem mit ihm kühlte Pauls Hochgefühl etwas ab.

»Stilgar«, sagte er, »dies ist Gurney Halleck, von dem ich dir erzählt habe. Er war der Oberkommandierende der Truppen meines Vaters und einer der Schwertmeister, die mich unterrichteten. Er ist ein alter Freund von mir, und man kann ihm in jeder Beziehung trauen.«

»Ich höre«, sagte Stilgar. »Du bist sein Herzog.«

Paul starrte nach oben, vergrub seinen Blick in die Falten von Stilgars Gesicht und fragte sich, warum er ausgerechnet das gesagt hatte. Sein Herzog. Die Worte Stilgars hatten einen ganz seltsamen Tonfall gehabt, als wollte er damit etwas anderes ausdrücken. Und das klang gar nicht nach Stilgar, dem Führer der Fremen, der es gewohnt war, so zu sprechen wie er dachte.

Mein Herzog! dachte Gurney und sah Paul an. Ja, mit dem Tode Letos trägt Paul diesen Titel. Irgend etwas, das er schon längst totgeglaubt hatte, erwachte in ihm wieder zum Leben. Er nahm kaum zur Kenntnis, daß Paul die Schmuggler erneut aufforderte, die Waffen niederzulegen.

Gurney kam erst wieder zu sich, als er hörte, wie einer seiner Männer laut protestierte. Er wirbelte herum und schüttelte den Kopf. »Seid ihr denn taub?« brüllte er. »Ihr steht hier dem rechtmäßigen Herzog von Arrakis gegenüber! Tut gefälligst, was er euch befiehlt!«

Maulend senkten die Schmuggler die Waffen.

Paul stellte sich neben Gurney und sagte in leisem Tonfall: »Ich hatte nicht erwartet, ausgerechnet dich in unserer Falle zu finden, Gurney.«

»Ich schäme mich dafür«, sagte Gurney, »aber ich erkenne erst jetzt, daß die Gewürzschicht auf dem Sand kaum mehr als einen Millimeter dick ist.«

»Hättest du darauf gewettet, hättest du gewonnen«, gab Paul zu. Er achtete darauf, daß die Schmuggler entwaffnet wurden. »Befinden sich unter diesen Leuten Männer meines Vaters?«

»Keine. Wir sind nur noch wenige. Es gibt noch einige unter den Freihändlern. Aber die meisten haben ihren Gewinn dazu benutzt, diesen Planeten zu verlassen.«

»Aber du bist geblieben.«

»Ja.«

»Weil Rabban hier ist«, stellte Paul fest.

»Ich glaubte, für nichts als meine Rache hier leben zu müssen«, erwiderte Gurney.

Ein krächzender Schrei drang von irgendwoher an ihre Ohren. Halleck sah auf und erblickte einen Fremen, der auf dem Hügelrücken stand und mit einem Stoffetzen winkte.

»Ein Bringer nähert sich«, erklärte Paul. Er bewegte sich vorwärts nach Südwesten und achtete darauf, daß Halleck ihm folgte. In mittlerer Entfernung bewegte sich unter einer mächtigen Sandwelle etwas heran. Eine Staubwolke hob sich in den Himmel. Der Wurm jagte geradewegs unter den Dünen her und bewegte sich auf die Felsenlinie zu.

»Er ist groß genug«, bemerkte Paul.

Ein schepperndes Geräusch zeigte ihnen, daß der Wurm sich jetzt unter der Erntefabrik befand und sie gegen die Felsen schmetterte.

»Es ist zu schade, daß wir den Carryall nicht unvernichtet lassen konnten«, sagte Paul.

Gurney musterte ihn kurz und blickte dann auf die weit draußen in der Wüste abgestürzten Flugmaschinen, die die Raketen der Fremen abgeschossen hatten. Leiser Rauch kräuselte über den Schrotthaufen. Gurney fühlte ein plötzliches Mitleid für die Männer, die in dieser unverhoften Schlacht ihr Leben gelassen hatten, und sagte: »Dein Vater hätte sich mehr Gedanken wegen der Menschen gemacht, die dabei draufgegangen sind.«

Paul funkelte ihn an und lockerte seinen Schleier. Plötzlich sagte er: »Sie waren deine Freunde, Gurney, das verstehe ich. Für uns hingegen waren sie Eindringlinge, die sich in ein Gebiet vorwagten, in dem sie Dinge sehen konnten, die wir ihnen nicht zeigen wollten. Und das solltest du auch verstehen.«

»Ich verstehe es gut genug«, meinte Halleck. »Aber ich bin jetzt wirklich neugierig, was du damit meinst.«

Paul blickte auf und stellte fest, daß Gurney grinste. Es war das alte Wolfsgrinsen, das er kannte, und seine Narbe leuchtete dabei.

Gurney deutete mit einem Nicken auf die unter ihnen liegende Wüste. Die gesamte Felslandschaft war jetzt mit beschäftigt aussehenden Fremen durchsetzt. Was ihn jedoch am meisten erschreckte, war die Tatsache, daß sie sich offensichtlich um den Wurm nicht die geringsten Gedanken machten.

Ein klopfendes Geräusch drang bis zu ihnen hinauf. Es war wie ein tiefes Trommeln, das den Boden unter ihren Füßen zum Vibrieren brachte. Gurney sah, wie die Fremen über die Wüste ausschwärmten und sich alle Mühe gaben, den Pfad, den der Wurm mit seinem Körper schuf, zu erreichen.

Er kam wie ein riesiger Sandfisch plötzlich an die Oberfläche. Seine Ringsegmente wackelten. Alles geschah in Sekundenschnelle: der erste Mann setzte seine Haken an, der Wurm blieb liegen und drehte sich, und ehe er sich's versah, hatte die ganze Bande seinen Rucken erklommen.

»Das ist zum Beispiel eines der Dinge, das du nicht hättest sehen sollen«, erklärte Paul.

»Ich habe schon eine ganze Menge solcher Gerüchte gehört«, erwiderte Gurney kopfschüttelnd. »Aber bevor man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, ist es schwer zu glauben. Das Geschöpf, das auf Arrakis am meisten gefürchtet wird — und ihr benutzt es als Reittier.«

»Du hast selbst gehört, wie mein Vater von dieser Macht der Wüste sprach«, sagte Paul. »Jetzt siehst du sie. Die Oberfläche dieses Planeten gehört uns. Kein Sturm, kein Geschöpf, keine Macht ist in der Lage, uns aufzuhalten.«

Er sagt ›uns‹, dachte Gurney, und meint damit nicht nur die Fremen, sondern auch sich selbst. Er spricht, als sei er einer von ihnen. Wieder sah er in Pauls gewürzblaue Augen. Seine eigenen, wußte Gurney, sahen noch nicht ganz so aus, weil die Schmuggler in der Lage waren, sich auch mit Nahrung von anderen Planeten zu versorgen. Jemand, der dazu keine Gelegenheit hatte — wie die Fremen -, wurde so früher oder später zu einem Eingeborenen.

»Es hat Zeiten gegeben«, sagte Paul, »da wagten wir es nicht, in diesen Breitengraden einen Wurm am hellichten Tag zu reiten. Aber Rabban verfügt jetzt nicht mehr über soviel Luftunterstützung. Er kann es sich nicht erlauben, die Maschinen zur Beobachtung einiger dunkler Punkte auf dem Wüstensand einzusetzen.« Er sah Gurney an. »Die Maschinen, mit denen ihr gekommen seid, haben uns einen ganz schönen Schock versetzt.«

Uns … uns …

Um dieserart Gedanken zu vertreiben schüttelte Gurney den Kopf. »Ihr habt uns viel mehr erschreckt«, gab er zu.

»Weißt du, was derzeit über Rabban gesagt wird?« fragte Paul.

»Angeblich sollen seine Leute die Dörfer so befestigt haben, daß man ihnen nichts mehr anhaben kann. Man sagt, sie seien nun stark genug, daß sie sich nur noch zu verbarrikadieren bräuchten, während ihr euch bei neuen Angriffen solange blutige Köpfe holen werdet, bis ihr von selbst aufgebt.«

»Mit einem Wort«, schloß Paul, »sie sind unbeweglich geworden.«

»Während ihr dahin gehen könnt, wohin ihr wollt«, nickte Gurney.

»Es gibt da etwas, das ich von dir gelernt habe«, sagte Paul. »Wer die Initiative verliert, verliert auch den Krieg.«

Gurney lächelte.

»Unser Gegner ist nun absolut da, wo ich ihn haben wollte«, fuhr Paul fort. Er warf Gurney einen kurzen Blick zu. »Nun, Gurney, bist du bereit, auf meiner Seite bis zum Ende dieses Krieges mitzukämpfen?«

»Bereit?« fragte Gurney verdutzt. »Mylord, ich habe Ihre Dienste niemals verlassen! Sie waren derjenige, der mich verließ … als ich Sie für tot hielt. In der Zwischenzeit habe ich nur auf die Gelegenheit gewartet, mich an Rabban rächen zu können. Und ich bin auch jetzt noch bereit, für dieses Ziel mein Leben hinzugeben.«

Paul schwieg verlegen.

Zwischen den Felsen erschien nun eine vermummte Frau und kam auf sie zu. Gurney konnte lediglich ihre Augen sehen, als sie vor Paul stehenblieb und beide Männer rasch musterte. Es blieb ihm nicht verborgen, daß sie, was Paul anbetraf, Besitzrechte anzumelden schien. Sie drängte sich nahe an Paul heran.

»Chani«, sagte Paul, »das ist Gurney Halleck. Ich habe dir von ihm erzählt.«

Sie sah zuerst Halleck, dann Paul an. »Ich erinnere mich daran.«

»Wohin gehen die Männer mit dem Bringer?« fragte Paul sie.

»Nur etwas in die Wüste hinaus, damit wir Zeit haben, etwas von der Ausrüstung zu bergen.«

»Nun, denn …« Paul brach ab und schnupperte.

»Es kommt Wind auf«, sagte Chani.

Aus den Felsen über ihnen rief eine Stimme: »He, ihr da! — der Wind!«

Gurney stellte plötzlich fest, daß die Fremen fieberhaft zu arbeiten anfingen, während sie zuvor beim Auftauchen des Wurms ganz ruhig geblieben waren. Die Überreste der Fabrik rumpelten auf den Raupenketten zwischen die Felsen — und verschwanden in einer Öffnung, die sich wieder schloß, ohne daß der geringste Spalt zurückblieb.

»Habt ihr viele solcher Verstecke?« fragte Gurney verdattert.

»Sehr viele«, antwortete Paul. Er sah Chani an. »Suche Korba und sage ihm, daß Gurney mich darauf hingewiesen hat, daß sich unter den Schmugglern einige Leute befinden, denen man nicht trauen kann.«

Chani sah noch einmal zu Gurney, dann zu Paul. Schließlich nickte sie, drehte sich um und verschwand mit gazellenhafter Behendigkeit zwischen den Felsen.

»Sie ist deine Frau?« fragte Gurney.

»Die Mutter meines Erstgeborenen«, erklärte Paul. »Es gibt inzwischen wieder einen Leto Atreides.«

Gurney nahm diese Neuigkeit mit einem erstaunten Blick zur Kenntnis.

Mit kritischen Augen überwachte Paul die weiteren Arbeiten. Am südlichen Horizont begann sich der Himmel zu verfärben. Alles deutete auf Sturm hin. Die ersten Ausläufer des herannahenden Windes brachten bereits den Sand zum Tanzen.

»Verschließe deinen Anzug«, sagte Paul. Er zog die Kapuze wieder in die Stirn.

Gurney gehorchte.

Mit der durch den Schleier hervorgerufenen dumpfen Stimme, die allen Robenträgern zu eigen war, fragte Paul: »Welchen Leuten aus deiner Mannschaft traust du nicht, Gurney?«

»Es sind einige neue Rekruten dabei«, erwiderte Gurney. »Es sind Außenweltler …« Er zögerte. War das nicht verrückt, was er da sagte? Außenweltler. Und wie leicht das Wort über seine Zunge gekommen war.

»Ja?« fragte Paul.

»Sie sind nicht so wie die üblichen Glücksritter, die ich kenne«, fuhr Halleck fort. »Sie scheinen mir … zäher.«

»Harkonnen-Spitzel?« fragte Paul.

»Ich glaube, Mylord, daß sie nicht zu den Harkonnen gehören. Ich würde eher annehmen, daß es sich um Angehörige irgendwelcher imperialer Stellen handelt. Sie könnten ihre Ausbildung auf Salusa Secundus erhalten haben.«

Pauls Augen leuchteten auf.

»Sardaukar?«

Gurney zuckte die Achseln. »Wenn es welche sind, haben sie sich gut maskiert.«

Paul nickte. Er stellte im gleichen Augenblick fest, wie schnell Halleck sich wieder in seine alte Rolle hineingefunden hatte. Auch wenn er jetzt reservierter wirkte. Aber das war nicht unnatürlich: auch ihn hatte das Leben auf Arrakis verändert.

Aus einer Felsspalte unter ihnen tauchten zwei in Roben gekleidete Fremen auf. Einer von ihnen trug ein schwarzes Bündel über der Schulter.

»Wo stecken meine Leute jetzt?« fragte Gurney.

»Versteckt in den Felsen unter uns«, sagte Paul. »Es gibt hier eine Höhle, die wir die Vogelhöhle nennen. Wenn der Sturm vorüber ist, werden wir entscheiden, was wir mit ihnen tun.«

Von oben rief eine Stimme: »Muad'dib!«

Paul wandte sich dem Rufer zu und sah einen Fremen, der auf den Höhleneingang deutete. Paul winkte zurück, daß er verstanden hatte, während Gurney verblüfft fragte: »Du bist Muad'dib? Du bist der Mann, von dem …«

»Das ist mein Fremenname«, erwiderte Paul.

Gurney wandte sich ab. Er hatte plötzlich ein Gefühl, das er nicht beschreiben konnte. Die Hälfte seiner Mannschaft war getötet worden, die andere Hälfte gefangen. Er machte sich keine Gedanken über die neuen Leute, denen er selbst nicht über den Weg traute — aber unter den anderen waren Freunde, gute Männer; Leute, für die er sich verantwortlich fühlte. »Wenn der Sturm vorüber ist, werden wir entscheiden, was wir mit ihnen tun.« Das war es, was Paul — was Muad'dib gesagt hatte. Und Gurney erinnerte sich an die Geschichten, die man über Muad'dib, den Lisan al-Gaib erzählte — wie er sich aus der Haut eines Sardaukar-Offiziers ein Trommelfell gemacht hatte und daß er ständig von seinen Todeskommandos, den Fedaykin, umgeben war, die singend in die Schlachten zogen.

Er ist es also.

Die beiden Fremen, die auf sie zugekrochen waren, verharrten vor Paul, und einer der dunkelgesichtigen Männer sagte: »Es ist alles versteckt, Muad'dib. Wir gehen wohl jetzt besser nach unten.«

»Richtig.«

Gurney stellte fest, daß der Tonfall des anderen Fremen eine Mischung aus Befehl und Bitte war. Dies war Stilgar, eine andere legendäre Gestalt der Fremen.

Paul warf einen Blick auf das Bündel, das der andere Mann schleppte und sagte:

»Was ist das, Korba?«

Stilgar entgegnete an Korbas Stelle: »Es wurde in der Fabrik gefunden und trägt die Insignien deines Freundes hier. Es ist ein Baliset. Du hast mir sehr oft erzählt, welch ein Künstler Gurney Halleck auf diesem Instrument ist.«

Gurney musterte Stilgar und erkannte zwischen der Kapuze und dem Gesichtsschleier zwei dunkle Augen, eine gebogene Nase und den oberen Rand eines schwarzen Bartes. »Sie verfügen über einen gut mitdenkenden Genossen, Mylord«, sagte er. Und zu Stilgar gewandt: »Vielen Dank.«

Stilgar gab seinem Begleiter das Zeichen, Halleck das Bündel zu übergeben, und erwiderte: »Danken Sie Ihrem Herzog. Seiner Gunst verdanken Sie übrigens auch Ihr Hiersein.«

Gurney nahm das Bündel an sich und wunderte sich über die harten Untertöne dieser Konversation. Irgend etwas an diesem Mann kam ihm herausfordernd vor, und er fragte sich, ob es unter den Fremen auch so etwas wie Eifersucht gab. War Stilgar etwa wütend darüber, daß in diesem Neuankömmling namens Gurney Halleck jemand verborgen war, der Paul bereits vor seiner Ankunft auf Arrakis gekannt hatte?

»Ich würde es begrüßen, wenn ihr beide Freunde würdet«, sagte Paul.

»Stilgar der Fremen, das ist ein Name, den man kennt«, sagte Gurney. »Und jeder Mann, der der Feind meiner Feinde ist, ist mithin mein Freund.«

»Willst du meinem Freund Gurney Halleck die Hände schütteln, Stilgar?« fragte Paul.

Zögernd streckte Stilgar eine Hand aus. »Es gibt nur wenige, die noch nicht von Gurney Halleck gehört haben«, sagte er. Er ergriff Hallecks Hand und schüttelte sie. Dann wandte er sich wieder Paul zu. »Der Sturm ist nicht mehr weit.«

»Er wird bald da sein«, stimmte Paul ihm zu.

Stilgar ging voraus und führte sie durch die Felsen einen schmalen, kurvenreichen Pfad entlang, der vor einem niedrigen Eingang unter einem Überhang endete. Mehrere Fremen beeilten sich, das Türsiegel, wieder hinter ihnen anzubringen. Leuchtgloben beschienen einen Gang.

Von hier an übernahm Paul die Führung. Gurney war direkt hinter ihm, während die anderen abbogen und einen anderen Weg nahmen. Im Eingang einer behaglich eingerichteten Kammer, an deren Wänden weinrote Teppiche hingen, blieben sie stehen.

»Wir haben ein bißchen Zeit, um uns zu unterhalten«, sagte Paul. »Die anderen werden inzwischen …«

Ein Alarmgong ertönte plötzlich aus einem anderen Teil des Höhlensystems, gefolgt vom heftigen Klirren aufeinanderscheppernder Klingen. Paul wirbelte herum, rannte augenblicklich den Weg zurück, während Gurney ihm mit gezogenem Messer folgte.

Sie traten auf einen Felsvorsprung inmitten einer großen Höhle hinaus, auf deren Boden inzwischen ein heftiger Kampf entbrannt war. Einen winzigen Moment lang stand Paul wie gelähmt da und versuchte anhand der Kleidung die Kämpfenden voneinander zu unterscheiden. Sinne, die seine Mutter ausgebildet hatte, sagten ihm, daß die Schmuggler gegen die Fremen kämpften. Und noch eines fiel ihm auf: die Schmuggler kämpften jeweils zu dritt. Sie standen in Triangeln Rücken an Rücken und verteidigten sich. Und das war die Gewißheit, daß sie es hier mit Sardaukar des Imperators zu tun hatten.

Einer der kämpfenden Fedaykin sah Paul. Er stieß einen Kampfschrei aus, der sich in der großen Höhle sofort wie ein Echo fortpflanzte: »Muad'dib! Muad'dib! Muad'dib!«

Die anderen hatten ihn ebenfalls gesehen. Ein schwarzes Messer flog auf Paul zu. Es gelang ihm, der Waffe im letzten Moment auszuweichen. Sie prallte hinter ihm gegen das Gestein. Blitzschnell wandte er sich um und sah, wie Gurney sie aufhob.

Die kämpfenden Dreiergruppen wurden nun weiter und weiter zurückgetrieben.

Gurney hielt das Messer vor Pauls Gesicht, deutete auf die imperialen Farben und nickte.

Es waren Sardaukar, ohne Frage.

Paul machte einen Schritt auf den Rand des Vorsprungs zu. Nur drei Sardaukar kämpften jetzt noch mit verbissener Wut. Der Blutgeruch der bereits Gefallenen legte sich schwer auf seine Lungen.

»Aufhören!« schrie Paul. »Herzog Paul Atreides befiehlt euch, mit dem Kämpfen aufzuhören!«

Die Kämpfenden hielten inne, zögerten.

»Ihr Sardaukar!« rief Paul zu den Überlebenden hinüber. »Auf Grund welcher Befehle trachtet ihr nach dem Leben eines rechtmäßigen Herzogs?« Und rasch, ehe seine Männer den Ring um die drei Männer enger schließen konnten, fügte er hinzu: »Aufhören, habe ich gesagt!«

Einer der Angesprochenen trat vor. »Wer behauptet, daß wir Sardaukar sind?« verlangte er zu wissen.

Paul nahm Gurney das Messer aus der Hand und hielt es hoch. »Dieses Messer hier behauptet es.«

»Und wer behauptet, daß Sie ein rechtmäßiger Herzog sind?«

Paul deutete auf die Fedaykin. »Diese Männer hier sagen, daß ich der rechtmäßige Herzog bin. Euer eigener Imperator setzte das Haus Atreides ein, um den Planeten Arrakis zu übernehmen. Und ich bin das Haus Atreides.«

Die Sardaukar blieben bewegungslos stehen und starrten sich an.

Paul behielt den Sprecher der drei Männer im Auge. Er war hochgewachsen und schlank. Eine helle Narbe zog sich über seine linke Wange. In den Augen des Mannes zeigte sich gleichzeitig Wut und Verwirrung, aber dennoch machte er einen so stolzen Eindruck, daß Paul den Verdacht nicht los wurde, daß er sich auch noch nackt im Dienst wähnen würde.

Er winkte einem seiner Unterführer und fragte: »Korba, wie konnte es geschehen, daß ihnen nicht alle Waffen weggenommen wurden?«

»Die Männer haben die Waffen in versteckten Taschen ihrer Destillanzüge verborgen«, erklärte der Unterführer. Paul sah betroffen auf die Toten und Verwundeten. Es hatte jetzt keinen Zweck mehr, darüber zu lamentieren. Korba schien das auch zu spüren, denn er senkte seinen Blick.

»Wo ist Chani?« fragte Paul entsetzt und wagte, während er auf die Antwort wartete, nicht zu atmen.

»Stilgar hat sie weggebracht.« Korbas Blick wanderte über die Opfer des Kampfes. »Ich übernehme die Verantwortung für dieses Unglück, Muad'dib.«

»Wieviele Sardaukar waren dabei, Gurney?« fragte Paul.

»Zehn.«

Paul ließ sich von dem Vorsprung in die Höhle hinab und ging auf den Sprecher der Sardaukar zu.

Unter den Fedaykin breitete sich Unruhe aus. Offenbar hatten sie etwas dagegen, wenn er sich so nahe an die Gefahrenquelle heran begab.

Ohne sich umzudrehen fragte Paul: »Wieviele Ausfälle haben wir zu verzeichnen, Korba?«

»Vier Verwundete und zwei Tote, Muad'dib.«

Hinter den Sardaukar, am anderen Ende der Höhle, geriet plötzlich etwas in Bewegung. Aus dem zweiten Ausgang tauchten Chani und Stilgar auf. Paul richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Sardaukar. Die Augen der Männer allein zeigten schon, daß sie sich noch nicht lange auf Arrakis aufhielten. »Sie«, sagte er und deutete auf den Sprecher. »Wie heißen Sie?«

Der Mann versteifte sich und warf seinen Kollegen einen raschen Blick zu.

»Versuchen Sie das ja nicht«, warnte Paul ihn. »Es ist mir völlig klar, daß man Ihnen aufgetragen hat, Muad'dib zu suchen und zu töten. Ich sollte annehmen, daß ihr einfache Gewürzjäger seid, die in der Wüste herumkriechen, nicht wahr?«

Ein plötzliches Ächzen Gurneys aus dem Hintergrund führte dazu, daß Paul lächelte.

Blut lief über das Gesicht des Sardaukar.

»Aber was Sie hier sehen«, fuhr Paul fort, »ist weit mehr als nur der Muad'dib. Sieben von euch sind gestorben — und von uns nur zwei. Drei für einen. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, gegen wen wir gekämpft haben, nicht wahr?«

Der Sardaukar setzte einen Fuß vor, wich jedoch sofort zurück, als die Fedaykin Anstalten machten, ihn anzugreifen.

»Ich habe Sie nach Ihrem Namen gefragt«, wiederholte Paul und setzte alle seine Kräfte ein, um den Mann unter den Druck seiner Stimme zu zwingen. »Ihren Namen!«

»Captain Aramsham von den imperialen Sardaukar«, knurrte der Mann. Seine Kinnlade fiel nach unten. Er starrte Paul verblüfft an und schien völlig zu vergessen, daß er ihn noch vor wenigen Minuten für einen Barbaren gehalten hatte.

»Schön, Captain Aramsham«, versetzte Paul gelassen. »Die Harkonnens würden eine schöne Stange Geld dafür ausgeben, wenn sie wüßten, was Sie jetzt erfahren haben. Und erst der Imperator — ich frage mich, was er dafür geben würde, wenn er erführe, daß doch ein Atreides seinen schmutzigen Verrat überlebt hat.«

Erneut warf der Captain seinen beiden Begleitern einen raschen Blick zu. Es war für Paul offensichtlich, was der Mann dachte. Sardaukar ergaben sich nicht — aber irgendwie mußte der Imperator von dieser Bedrohung erfahren.

Immer noch die Kraft seiner Stimme einsetzend, sagte Paul: »Ergeben Sie sich, Captain.«

Der Mann zur Linken des Offiziers sprang plötzlich vor, aber bevor er etwas erreichen konnte, traf ihn das Messer seines eigenen Vorgesetzten in die Brust. Der Angreifer taumelte zurück und fiel zu Boden. Captain Aramsham sah seinen letzten verbliebenen Kollegen von der Seite an und sagte: »Was Seiner Majestät nützt, entscheide ich ganz allein, verstanden?«

Die Schultern des anderen Sardaukar sanken herab.

»Legen Sie die Waffe nieder«, sagte der Captain.

Der Sardaukar gehorchte.

Der Captain sah Paul an. »Ich habe einen Freund für Sie getötet«, sagte er. »Ich hoffe, Sie werden das nicht vergessen.«

»Ihr seid meine Gefangenen«, erwiderte Paul, »denn ihr habt euch ergeben. Ob ihr lebt oder sterbt, ist für uns unwichtig.« Er gab seinen Leuten ein Zeichen, die beiden Eindringlinge zu übernehmen und winkte dem Unterführer, der den Auftrag gehabt hatte, die Schmuggler eingehend zu untersuchen, heran.

Die Fremen nahmen Aramsham und seinen Gefährten zwischen sich und führten sie hinaus.

Paul verbeugte sich vor seinem Unterführer.

»Muad'dib«, sagte der Mann. »Ich habe einen Fehler gemacht und …«

»Das hast du nicht«, entgegnete Paul. »Den Fehler habe ich begangen, indem ich dich nicht warnte, welchen Leuten du gegenüberstandest. Denke in Zukunft, wenn du einen Sardaukar durchsuchst, immer daran, daß jeder einzelne von ihnen über einen falschen Zehennagel verfügt, mit dem er — unter Zuhilfenahme eines zweiten — in der Lage ist, einen effektiven Transmitter zu konstruieren. Sardaukar haben in der Regel auch mehr als einen falschen Zahn, und sie verstecken in ihrem Haar ganze Rollen von Shigadraht, der so dünn ist, daß man ihn mit bloßem Augen kaum erkennen kann. Aber es ist stark genug, um den Kopf eines Menschen säuberlich vom Hals zu trennen. Wenn man einem Sardaukar gegenübersteht, ist höchste Vorsicht geboten. Selbst wenn man sie von allen Seiten durchleuchtet hat und ihre Gliedmaßen einzeln abklopft: man kann nie ganz sicher sein, daß sie nicht doch noch irgendwo etwas versteckt haben.«

Paul blickte auf und sah Gurney, der sich ihnen langsam näherte und zuhörte.

»Dann wäre es das Beste, wenn wir sie sofort töteten«, meinte der Unterführer.

Kopfschüttelnd maß Paul Gurneys Gesicht und sagte: »Nein. Ich möchte, daß die beiden Männer fliehen.«

Gurney zuckte zusammen. »Aber Sire!« keuchte er entsetzt.

»Ja?«

»Ihr Mann hier hat recht. Lassen Sie die Gefangenen sofort umbringen. Und zerstören Sie alle Spuren ihrer Anwesenheit. Sie haben die Sardaukar des Imperators besiegt! Wenn der Imperator davon Wind bekommt, wird er nicht eher ruhen, bis er Sie über einen kleinen Flamme geröstet hat.«

»Auf dieses kleine Vergnügen wird er leider verzichten müssen«, erwiderte Paul. Er sprach langsam und kalt. Irgend etwas war in ihm vorgegangen, während er die Sardaukar in seinem Blickfeld gehabt hatte. Eine Anzahl von Entscheidungen waren durch sein Bewußtsein geflossen. »Gurney«, fragte er plötzlich, »gibt es in der näheren Umgebung Rabbans viel Mitglieder der Gilde?«

Gurney richtete sich auf und runzelte die Stirn. »Ihre Frage hat keinen …«

»Gibt es sie?« herrschte Paul ihn an.

»Arrakis wimmelt nur so von Agenten der Gilde. Sie kaufen Gewürz, als handele es sich dabei um das kostbarste Mineral des Universums. Was, glauben Sie, war der Grund, weshalb wir uns so weit in die Wüste hinaus …«

»Das Gewürz ist das kostbarste Mineral des Universums«, gab Paul zurück. »Für sie jedenfalls.« Er sah Stilgar und Chani an, die gerade die Höhle durchquerten und auf sie zukamen. »Und wir kontrollieren es, Gurney.«

»Es sind die Harkonnens, die das Gewürz kontrollieren!« protestierte Halleck.

»Die Leute, die ein Ding zerstören können«, entgegnete Paul, »kontrollieren es auch und haben es in der Hand.« Er brachte Gurney, der darauf etwas erwidern wollte, mit einer schnellen Handbewegung zum Schweigen und nickte Stilgar zu, der, Chani neben sich, vor Paul stehenblieb.

Paul nahm das erbeutete Sardaukarmesser in die rechte Hand und zeigte es Stilgar. »Du lebst nur, um das Beste für unseren Stamm zu erreichen«, sagte er. »Wärest du in der Lage, mir mit diesem Messer das Leben zu nehmen?«

»Wenn es zum Besten des Stammes wäre, ja«, nickte Stilgar.

»Dann tue es«, sagte Paul.

»Bedeutet das, daß du mich herausforderst?« wollte Stilgar wissen.

»Falls ich es täte«, sagte Paul, »würde ich dabei unbewaffnet vor dir stehenbleiben und ließe mich umbringen.«

Stilgar schnappte erschreckt nach Luft.

Chani sagte: »Usul!« Sie warf Gurney und Paul einen verwirrten Blick zu.

Während Stilgar noch nach Worten suchte, sagte Paul: »Du bist Stilgar, ein Krieger. Als die Sardaukar zu kämpfen anfingen, bist du nicht an der Front geblieben. Dein erster Gedanke war, Chani zu beschützen.«

»Sie ist meine Nichte«, erwiderte Stilgar. »Und hätte ich nur den geringsten Zweifel gehabt, daß die Fedaykin mit diesem Abschaum nicht fertiggeworden wären …«

»Warum galt dein erster Gedanke Chani?« verlangte Paul zu wissen.

»Er galt ihr gar nicht«, gab Stilgar bekannt.

»Wie?«

»Mein erster Gedanke galt dir«, sagte Stilgar.

»Glaubst du, du könntest die Hand gegen mich erheben?« fragte Paul.

Stilgar fing an zu zittern. »Es ist so Brauch«, murmelte er schließlich.

»Es ist Brauch, daß man, wenn man fremde Außenweltler in der Wüste trifft, tötet, um ihr Wasser als ein Geschenk des Shai-Hulud entgegenzunehmen«, sagte Paul. »Und doch hast du einmal zwei Leben gerettet: das meiner Mutter und das von mir.«

Als Stilgar schwieg und den Blick gesenkt hielt, fügte Paul hinzu:

»Du siehst, wie schnell sich Bräuche ändern, Stilgar. Und mindestens zu einem hast du selbst den Anstoß gegeben.«

Stilgar starrte das gelbe Wappen am Griff des Messers an.

»Glaubst du«, fragte Paul ihn, »daß ich, wenn ich erst wieder als Herzog in Arrakeen sitze, noch die Zeit dazu hätte, mich um alle Dinge zu kümmern, um die sich ein Führer des Sietch Tabr kümmern muß? — Befaßt du dich denn mit den internen Problemen einer jeden einzelnen Familie?«

Stilgars Blick löste sich nicht von der Klinge.

»Glaubst du, ich könnte ein Interesse daran haben, mir den eigenen rechten Arm abzuschneiden?« fragte Paul weiter.

Langsam hob Stilgar den Kopf.

»Du!« sagte Paul laut. »Glaubst du, ich würde zulassen, daß der Stamm und ich in der Zukunft auf deinen weisen Rat verzichten müssen?«

Mit leiser Stimme erwiderte Stilgar: »Es gibt einen jungen Mann in meinem Stamm, den ich ohne Schwierigkeiten herausfordern und töten könnte zu Shai-Huluds Ehren. Aber dem Lisan al-Gaib kann ich nichts tun. Du hast dies gewußt, als du mir dieses Messer gabst.«

»Ich wußte es«, stimmte Paul zu.

Stilgar öffnete die Hand. Das Messer klirrte auf den steinernen Boden. »Die Bräuche ändern sich«, sagte er.

»Chani«, sagte Paul, »gehe zu meiner Mutter und überbringe ihr die Nachricht, daß ihr Rat hier …«

»Aber du sagtest, wir würden gemeinsam nach Süden gehen!« protestierte das Mädchen.

»Ich habe mich geirrt«, warf Paul ein. »Die Harkonnen sind nicht hier, also auch kein Krieg.«

Chani schnappte nach Luft, aber schließlich blieb ihr doch nichts anderes übrig, als die Gegebenheiten zu akzeptieren.

»Du wirst meiner Mutter eine Botschaft überbringen«, fuhr Paul fort, »die allein für ihre Ohren bestimmt ist. Sage ihr, daß Stilgar mich als Herzog von Arrakis anerkennt, daß wir aber noch einen Weg finden müssen, dies den jungen Männern beizubringen, ohne daß sie rebellieren.«

Chani sah Stilgar an.

»Tu, was er sagt«, brummte Stilgar. »Wir wissen beide, daß er in der Lage wäre, mich zu besiegen, ohne daß ich eine Hand gegen ihn erheben könnte.«

»Ich werde mit deiner Mutter zurückkehren«, sagte Chani zu Paul.

»Sie soll allein kommen«, befahl Paul. »Stilgar hat schon immer recht gehabt: Ich bin stärker, wenn ich dich in Sicherheit weiß. Du wirst im Sietch zurückbleiben.«

Obwohl sie zunächst protestieren wollte, unterließ sie es.

»Sihaya«, sagte Paul und sprach sie mit dem Namen an, den er sonst nur benutzte, wenn sie allein waren. Abrupt wandte er sich von Chani ab. Sein Blick traf den Gurneys. Halleck schien das vorangegangene Gespräch nur bis dahin mitbekommen zu haben, wo Paul seine Mutter erwähnt hatte.

»Ihre Mutter«, sagte Halleck plötzlich.

»Es war Idaho, der uns in der Nacht, als der Überfall passierte, retten konnte«, sagte Paul und sah der hinausgehenden Chani nach. »Jetzt sind wir …«

»Was ist aus Duncan Idaho geworden, Mylord?« fragte Gurney.

»Er ist tot. Er hat die Angreifer mit seinem Körper aufgehalten, um uns eine Chance zur Flucht zu geben.«

Die Hexe lebt also noch! durchzuckte es Gurney. Und ich habe ihr Rache geschworen! Aber offensichtlich weiß Paul überhaupt nicht, welch ein Ungeheuer diese Kreatur ist, die ihm das Leben schenkte. Diese Dämonin! Seinen Vater hat sie an die Harkonnens verkauft.

Paul durchquerte die Höhle und stellte fest, daß man mittlerweile die Verwundeten und Toten hinausgetragen hatte. Dabei fiel ihm ein, daß auch dieser Tag wieder in eine Legende aus dem Leben des Paul-Muad'dib umgemünzt werden würde. Ich habe nicht einmal mein Messer gezogen, dachte er, aber trotzdem wird es eines Tages heißen, ich hätte zwanzig Sardaukar mit eigener Hand erschlagen.

Gurney folgte Stilgar, ohne den Grund unter seinen Füßen zu fühlen. Er achtete weder auf den Weg, noch auf die Beleuchtung. Alles in ihm schrie nach Rache. Die Hexe lebt, während die Männer, die sie verraten hat, in ihren Gräbern vermodern. Ich muß dafür sorgen, daß Paul die Wahrheit erfährt, ehe ich sie töte.

7

Ein haßerfüllter Mensch verschließt sich selbst vor den Argumenten der inneren Vernunft.

Aus ›Die Weisheit des Muad'dib‹, von Prinzessin Irulan.


Die Menge, die sich in der Versammlungshöhle zusammendrängte, strahlte für Jessica das gleiche Zusammengehörigkeitsgefühl aus, das sie zum erstenmal an dem Tag gespürt hatte, an dem Paul und Jamis aneinandergeraten waren. Die Leute murmelten nervös miteinander. Kleine Gruppen hatten sich bereits in der Menge gebildet.

Als sie durch den schmalen Gang von Pauls Privatquartier die Höhle betrat, verbarg sie schnell den Nachrichtenzylinder unter ihrer Robe. Nach der langen Reise vom Süden nach hier fühlte sie sich endlich wieder ausgeruht, auch wenn sie nicht verstehen konnte, weshalb Paul die Erlaubnis, die erbeuteten Ornithopter zu benutzen, verweigerte.

»Noch besitzen wir nicht die Kontrolle über den Luftraum«, hatte er gesagt. »Und wir müssen mit dem Brennstoff sparen, den wir von außerhalb beziehen. Wir müssen dafür sorgen, daß die Maschinen und der Treibstoff solange aufgespart werden, bis wir es uns leisten können, einen Maximaleinsatz zu fliegen.«

Paul stand mit einer Gruppe von Männern in der Nähe des Felsvorsprungs, der eine Art Bühne bildete. Im bleichen Licht der Leuchtgloben erschien ihr die Szenerie irgendwie unwirklich. Die ganze Höhle kam ihr vor wie ein Präsentierteller, auf dem sich eine aufgeregte Menge drängte, die mit den Füßen scharrte und flüsterte.

Sie musterte ihren Sohn und fragte sich, warum er ihr noch nicht die Überraschung, die er in der Hinterhand hatte, präsentierte: Gurney Halleck. Der Gedanke an Gurney weckte Erinnerungen an eine lange nicht mehr existierende Vergangenheit, an die Zeit der Liebe mit Pauls Vater.

Am anderen Ende der Bühne wartete Stilgar, umgeben von einer Gruppe seiner Freunde. Die Art, in der er ohne ein Wort zu sagen dastand, verlieh ihm eine Aura der Würde.

Wir dürfen diesen Mann nicht verlieren, dachte Jessica. Pauls Plan darf nicht schiefgehen. Alles andere würde eine entsetzliche Tragödie hervorrufen.

Sie betrat die Bühne, überquerte sie und ging an Stilgar vorbei, ohne ihn anzusehen. Von der Bühne aus betrat sie die Höhle, den Versammlungsraum, in dem die Menge bereitwillig Platz für sie machte. Stille umfing sie.

Jessica wußte, was dieses Schweigen bedeutete: unausgesprochene Fragen, aber auch der Respekt vor der Ehrwürdigen Mutter.

Als sie sich Paul näherte, zogen sich die ihn umstehenden jungen Männer zurück. Jessica war einen Moment bestürzt über die Ehrerbietung, die sie ihm erwiesen. ›Alle Menschen, die unter dir stehen, sind begierig, deine Position einzunehmen‹, lautete eines der Axiome der Bene Gesserit. Aber in den Gesichtern der Umstehenden konnte von dieser Begierde nichts entdecken. Irgend etwas an der religiösen Aura, die Pauls Führerschaft umgab, hielt sie zurück. Und ihr fiel ein weiteres Sprichwort der Bene Gesserit ein: ›Es ist Brauch, daß Propheten unter Gewalteinwirkung sterben‹.

Paul schaute sie an.

»Es ist soweit«, sagte Jessica und reichte ihm den Nachrichtenzylinder.

Einer von Pauls Männern, er fiel durch seine Dicklichkeit auf, warf Stilgar einen Blick zu und sagte: »Wirst du ihn jetzt herausfordern, Muad'dib? Jetzt ist die richtige Zeit. Die Leute werden dich für einen Feigling halten, wenn du …«

»Wer wagt es, mich einen Feigling zu nennen?« verlangte Paul zu wissen. Seine Hand zuckte zum Griff des Crysmessers.

Die Fremen in seiner Nähe schwiegen betroffen und wichen zurück. Das Schweigen griff sofort auf die gesamte Menge über.

»Eine Menge Arbeit wartet auf uns«, sagte Paul, drehte sich um und bahnte sich mit der Schulter eine Gasse. Er erreichte die steinerne Bühne, schwang sich hinauf und wandte sich der Versammlung zu.

»Tu es!« schrie jemand.

Gemurmel kam auf.

Paul wartete, bis die Leute sich wieder beruhigt hatten, und das allgemeine Gemurmel in vereinzeltem Hüsteln endete. Dann hob er den Kopf, streckte das Kinn vor und sagte so laut, daß man es noch in der entferntesten Ecke hören konnte: »Ihr seid des Wartens müde.«

Erneut wartete er, bis die Erwiderungsrufe verstummt waren.

Und das sind sie wirklich, dachte er. Er hob den Nachrichtenzylinder, schüttelte ihn und dachte an das, was in ihm verborgen war. Man hatte ihn einem Kurier der Harkonnens abgenommen.

Und die Nachricht war klar: sie besagte, daß Rabban von nun an mit keiner Unterstützung von Giedi Primus mehr rechnen konnte. Von nun an mußte er mit seinen Problemen auf Arrakis allein fertigwerden.

Paul hob erneut seine Stimme: »Ihr seid der Meinung, daß es nun an der Zeit sei, Stilgar herauszufordern und einen Wechsel in der Führung der Truppen hervorzurufen!« Bevor die Menge darauf antworten konnte, schrie er wütend: »Haltet ihr den Lisan al-Gaib denn wirklich für so dumm?«

Die Menge schwieg. Sie wirkte wie gelähmt.

Er übernimmt jetzt den religiösen Mantel, dachte Jessica. Aber das darf er nicht tun!

»Es ist so Brauch!« schrie jemand.

Trocken erwiderte Paul: »Auch Bräuche ändern sich.«

Aus irgendeiner Ecke der Höhle brüllte jemand mit unverhohlenem Zorn: »Aber nicht ohne unsere Zustimmung!«

Mehrere begeisterte Zurufe zeigten Paul, daß noch mehrere Leute so dachten.

»Wie ihr wollt«, erwiderte er.

Und plötzlich stellte Jessica fest, daß er die Kraft der Stimme so einsetzte, wie sie es ihn gelehrt hatte.

»Ihr werdet es bestimmen«, sagte Paul. »Aber zuerst werdet ihr mir zuhören.«

Stilgar ging am Bühnenrand entlang. Sein bärtiges Gesicht wirkte ausdruckslos. »Auch das ist einer unserer Bräuche«, sagte er in die Menge hinein. »Es ist das Recht eines jeden Fremen, in der Versammlung seine Stimme zu erheben. Und Paul-Muad'dib ist einer der unseren.«

»Das Wichtigste ist der Nutzen des Stammes, nicht wahr?« fragte Paul, und Stilgar erwiderte mit flacher, aber dennoch würdiger Stimme:

»Das ist unser höchstes Ziel.«

»In Ordnung«, sagte Paul. »Dann laßt mich euch die Frage stellen, wer derjenige ist, der die Truppen unseres Stammes führt — und mithin auch die der anderen Stämme, da diese ihre Kampfkraft durch unsere Lehrer um ein Beträchtliches steigern konnten?«

Er wartete ab und ließ seinen Blick über die Köpfe der Anwesenden schweifen. Niemand antwortete ihm.

Und er fuhr fort: »Ist es Stilgar, der all dies beherrscht? Er selbst streitet dies ab. Bin ich es also? Aber auch Stilgar befolgt meine Vorschläge nur gelegentlich, auch wenn die Weisesten der Weisen mir ihr Ohr leihen und auf den Versammlungen meinen Worten lauschen.«

Immer noch herrschte Stille.

»Ist es also meine Mutter, die herrscht?« fragte Paul. Er deutete auf Jessica, die, gekleidet in eine schwarze Robe, noch immer zwischen den Menschen stand. »Stilgar und die anderen Truppenführer fragen sie vor jeder wichtigen Entscheidung um ihren Rat, das weiß ein jeder von euch. Aber geht eine Ehrwürdige Mutter über den Sand oder führt sie eine Razzia gegen die Harkonnens an?«

Diejenigen Leute, die Paul von seinem Standort aus sehen konnte, runzelten nachdenklich die Stirn. Einige murmelten aufgeregt.

Er läßt sich auf eine gefährliche Sache ein, dachte Jessica, aber gleichzeitig erinnerte sie sich an den Nachrichtenzylinder und die darin enthaltene Botschaft. Jetzt wurde ihr auch Pauls Absicht klar: er zielte darauf ab, die Fremen zu verunsichern und ihre bisherigen Maßstäbe ins Wanken zu bringen. Alles weitere würde sich dann von selbst ergeben.

»Ein Mann kann also keine Führungsrolle übernehmen, ehe er nicht einen anderen im Zweikampf besiegt hat, wie?« fragte Paul herausfordernd.

»Es ist so Brauch!« rief jemand aus der Menge.

»Und was ist unser Ziel?« fragte Paul. »Unser Ziel ist es, das Ungeheuer Rabban von seinem Thron zu stoßen und aus unserer Welt etwas zu machen, auf dem unsere Familien in Ruhe und Frieden leben können. Ist das unser Ziel oder nicht?«

»Harte Aufgaben erzwingen harte Methoden«, rief ihm ein anderer Fremen zu.

»Zerbrecht ihr eure Messer vor der Schlacht?« verlangte Paul zu wissen. »Ich sehe es als Tatsache an — nicht etwa als Prahlerei oder Herausforderung -, daß unter uns kein Mann ist, auch nicht Stilgar, der in der Lage wäre, mich in einem Zweikampf zu besiegen. Selbst Stilgar weiß das, und da er es weiß, wißt auch ihr es.«

Erneut erhoben sich einige unzufriedene Stimmen.

»Viele von euch haben mit mir auf dem Trainingsboden gekämpft«, stellte Paul fest. »Ihr wißt, daß ich keiner von denen bin, die mit ihren Kräften protzen. Ich sage das nur, weil wir es alle wissen und weil ich närrisch wäre, würde ich es nicht selbst sehen. Ich habe mit diesem Training viel früher begonnen als jeder von euch, und meine Lehrer waren die härtesten Kämpfer, denen ich begegnet bin. Wie sonst sollte ich in der Lage gewesen sein, Jamis zu besiegen? Und noch dazu in einem Alter, wo andere Kinder mit Holzschwertern spielen?«

Er setzt seine Stimme sehr gut ein, dachte Jessica, aber ich weiß nicht, ob seine innere Kraft gegenüber diesen Leuten ausreicht. Sie sind größtenteils gegen eine stimmliche Beeinflussung gefeit. Ohne Logik kann er sie nicht in die Knie zwingen.

»Also«, sagte Paul, »gehen wir weiter zu diesem hier.« Er hob den Nachrichtenzylinder. »Wir haben diesen Zylinder einem Kurier der Harkonnens abgenommen und seine Echtheit steht außerhalb jeden Zweifels. Die Botschaft ist an Rabban adressiert und teilt ihm mit, daß man seine erneute Truppenanforderung ablehnt, daß seine Erntezahlen weit unter dem festgesetzten Soll liegen und daß er mit den Leuten, über die er verfügt, noch mehr an Gewürz aus Arrakis herausholen soll.«

Stilgar stellte sich neben Paul auf.

»Wie viele unter euch verstehen den wirklichen Sinn dieser Botschaft?« fragte Paul. »Stilgar hat ihn sofort begriffen.«

»Sie sind von der Außenwelt abgeschnitten!« schrie jemand.

Paul steckte sowohl den Zylinder als auch die Botschaft unter seine Schärpe. Er zog einen dünnen Shigadraht unter der Robe hervor, an dem ein Ring baumelte.

»Dieser Ring ist das herzogliche Siegel meines Vaters«, erklärte er. »Ich habe geschworen, ihn erst dann zu tragen, wenn ich reif genug bin, meine Truppen über die Oberfläche Arrakis' zu führen und mein rechtmäßiges Lehen wieder in Besitz zu nehmen.« Er löste den Ring und steckte ihn auf einen Finger. Dann ballte er die Hand zur Faust.

Absolute Stille herrschte jetzt in der Höhle.

»Wer herrscht auf diesem Planeten?« fragte Paul. Er hob die Faust. »Ich beherrsche ihn. Ich herrsche auf jedem Quadratmeter von Arrakis! Arrakis ist mein herzogliches Lehen, ob der Imperator dazu nun ja oder nein sagt. Er gab diese Welt meinem Vater — und durch meinen Vater gehört sie mir!«

Paul stellte sich auf die Zehenspitzen, musterte die Menge und versuchte ihre Stimmung zu ergründen.

Fast, dachte er.

»Wenn diese Welt erst wieder mir gehört, wird es eine Anzahl von Männern geben, die mich dabei unterstützen werden, die Rechte, die mir zustehen, zu erhalten«, fuhr er fort. »Und einer dieser Männer wird Stilgar sein. Nicht etwa, weil ich ihn bestechen will — und auch nicht, weil ich mich ihm gegenüber generös verhalten muß, weil er mir — wie sicher vielen anderen dieses Stammes — einmal das Leben rettete. Ich will ihn in eine wichtige Position bringen, weil er ein weiser Mann ist und ein tapferer Kämpfer. Weil er seine Truppen intelligent führt und nicht nach irgendwelchen verstaubten Regeln. Könntet ihr mich für so dumm halten, daß ich mich meines rechten Armes freiwillig beraube, indem ich ihn herausfordere, nur um euch ein blutiges Spektakel zu liefern?«

Paul warf einen harten Blick über die Anwesenden. »Ist hier irgend jemand, der daran zweifelt, daß ich der rechtmäßige Herrscher von Arrakis bin? Verlangt ihr wirklich von mir, daß ich zuerst jeden Führer herausfordern muß und alle Stämme führerlos hinter mir zurücklasse?«

Neben Paul richtete sich Stilgar auf und sah ihn fragend an.

»Darf ich überhaupt unsere Kräfte in dem Moment schwächen, wo wir sie am nötigsten brauchen?« fragte Paul. »Ich bin euer Herrscher — und als solcher sage ich euch, daß es Zeit ist, damit Schluß zu machen, uns gegenseitig unserer besten Kräfte zu berauben und daß wir uns statt dessen unseren wirklichen Feinden zuwenden: den Harkonnens!«

Mit einer plötzlichen Bewegung riß Stilgar sein Crysmesser aus der Scheide und hielt es über die Köpfe der Anwesenden ausgestreckt. »Lang lebe Herzog Paul-Muad'dib!« rief er.

Ein ohrenbetäubender Jubel erfüllte das Innere der Höhle, und es schien kein Ende zu nehmen. Die Leute schrien und sangen. »Ya hya chouhada! Muad'dib! Muad'dib! Muad'dib! Ya hya chouhada!«

Und Jessica übersetzte automatisch: »Lang leben die Kämpfer des Muad'dib!« Es war alles genauso eingetroffen, wie sie, Paul und Stilgar es geplant hatten.

Der Lärm ebbte nur langsam ab.

Nachdem die Stille wieder eingekehrt war, sah Paul Stilgar und sagte: »Knie nieder, Stilgar.«

Stilgar ging am Rand der Bühne nieder.

»Gib mir dein Crysmesser«, verlangte Paul.

Stilgar gehorchte.

Aber das haben wir nicht geplant, dachte Jessica.

»Sprich mir nach, Stilgar«, sagte Paul und rief sich die Worte ins Gedächtnis zurück, die er aus dem Mund seines Vaters vernommen hatte. »Ich, Stilgar, empfange dieses Messer aus den Händen meines Herzogs.«

»Ich, Stilgar, empfange dieses Messer aus den Händen meines Herzogs«, wiederholte Stilgar und nahm die milchige weiße Klinge, die Paul ihm reichte, wieder in Empfang.

»Dorthin, wo mein Herzog es befiehlt, werde ich dieses Messer stoßen«, sagte Paul, und Stilgar wiederholte auch dies ohne zu zögern.

Jessica, die den Ursprung der Worte erkannte, mußte ihre Tränen zurückhalten. Sie schüttelte den Kopf. Ich kenne die Gründe, dachte sie. Ich sollte mich davon nicht erschüttern lassen.

»Ich widme diese Klinge meinem Herzog und werde nicht eher ruhen, bis seine Feinde vernichtet sind und solange noch Blut in meinen Adern fließt«, sagte Paul.

Stilgar sprach es ihm nach.

»Und nun küsse die Klinge«, forderte Paul ihn auf.

Stilgar gehorchte und küßte dann, nach alter Fremensitte, Pauls Messerhand. Auf ein Nicken von Paul hin steckte er das Messer in die Scheide zurück und stand auf.

Ein seufzendes, ehrerbietiges Flüstern ging durch die Anwesenden, und Jessica hörte jemand sagen: »Die Prophezeiung eine Bene Gesserit wird uns den Weg zeigen und eine Ehrwürdige Mutter wird ihn erkennen.« Und aus weiterer Entfernung: »Sie zeigt ihn uns durch ihren Sohn!«

»Stilgar führt diesen Stamm an«, gab Paul bekannt. »Darüber kann es keine Unklarheiten geben. Er befiehlt mit meiner Stimme. Und was er euch sagt, ist genau das, was ich euch sagen würde.«

Ein weiser Entschluß, dachte Jessica. Ein Häuptling darf auf keinen Fall das Gesicht vor denen verlieren, die ihm untertan sind.

Mit leiserer Stimme sagte Paul: »Stilgar, ich möchte, daß noch heute nacht Sandläufer ausgeschickt werden, um eine Gemeinschaftsversammlung einzuberufen. Wenn du diesen Auftrag erledigt hast, hole Chatt, Korba, Otheym und zwei andere Unterführer deiner Wahl zu mir in mein Quartier, damit wir einen Schlachtplan ausarbeiten können. Wir müssen der Ratsversammlung, wenn sie zusammentritt, schon einen Sieg vorzeigen können.«

Er gab seiner Mutter mit einem Nicken zu verstehen, daß sie ihm folgen solle und setzte sich durch die Menge, die ehrfürchtig vor ihm Platz machte, in Richtung auf sein Quartier in Bewegung. Während er an den Leuten vorbeiging, streckten vereinzelt Anwesende die Hände nach ihm aus. Stimmen riefen seinen Namen.

»Ich werde dorthin gehen, wohin Stilgar mich schickt, Paul-Muad'dib!«

»Laß uns bald in den Kampf ziehen, Paul-Muad'dib!«

»Das Blut der Harkonnens wird den Sand unserer Welt befeuchten!«

Jessica spürte die Kampfbereitschaft der Männer: sie konnte kaum noch größer werden. Jetzt sind sie bereit, ihr Leben für Paul hinzugeben, dachte sie.

Im inneren Zimmer seiner Räume wies Paul seine Mutter an, sich zu setzen und sagte: »Warte hier.« Er duckte sich und verschwand durch einen Vorhang in einem Nebenraum.

Es war still in diesem Zimmer, nachdem Paul gegangen war, so still hinter den Vorhängen, daß nicht einmal das leise Geräusch der Luftumwälzungsanlage zu Jessica durchdrang.

Er ist gegangen, um Gurney Halleck zu holen, dachte sie und fragte sich, welche seltsamen Gefühle sie dabei durchströmten. Gurney und seine Musik erinnerten sie an die schöne Zeit auf Caladan, bevor sie nach Arrakis übersiedelt waren. Irgendwie kam ihr das alles unwirklich vor, als hätte es Caladan in ihrem Leben gar nicht wirklich gegeben. Sie hatte sich in den beinahe drei Jahren auf Arrakis zu einer völlig anderen Person entwickelt. Aber bisher war ihr das gar nicht bewußt gewesen. Es war die Anwesenheit Gurneys, die sie darauf hinwies.

Das Kaffeeservice aus Silber und Jasmium, das aus Jamis' Besitz in den Pauls übergegangen war, stand neben ihr auf einem niedrigen Tisch. Jessica schaute es an und überlegte, wieviele Hände dieses Metall schon berührt hatten. In diesem Moment war es Chani gewesen, die Paul daraus bediente.

Was kann dieses Wüstenmädchen schon für einen Herzog tun, außer ihm Kaffee zu servieren? fragte sie sich. Sie bringt ihm weder Macht noch eine Familie. Paul hat nur eine einzige Chance er muß sich mit einem Hohen Haus verbünden, möglicherweise sogar mit der kaiserlichen Familie. Es gibt dort eine ganze Reihe von Prinzessinnen im heiratsfähigen Alter — trotz allem anderen — und jede einzelne von ihnen wurde von den Bene Gesserit ausgebildet.

Jessica versuchte sich vorzustellen, wie es ihr ergehen würde, wenn sie all die Entbehrungen, die sie auf Arrakis hinnehmen mußte, mit den Annehmlichkeiten als Mutter eines Mannes von königlichem Geblüt vertauschte. Sie sah auf die dicken Wandbehänge des Höhlenraums, und ihr fiel ein, auf welche Art sie hierhergereist war: auf dem Rücken eines Wurmes, den man zusätzlich mit allem beladen hatte, was sie hier brauchte.

Solange Chani lebt, wird Paul seine Pflicht nicht erkennen, dachte Jessica. Sie hat ihm einen Sohn geboren, und das genügt ihm.

Das plötzliche Verlangen, ihr Enkelkind, das seinem Großvater in jeder Beziehung ähnlich war, zu sehen, überkam sie. Jessica legte beide Handflächen gegen ihre Wangen und begann in der rituellen Weise zu atmen, die ihre Gefühle abkühlte und den Verstand besänftigte. Schließlich beugte sie sich vor und paßte ihren Körper an die Anforderungen des Geistes an.

Die Richtigkeit der Tatsache, daß Paul die Höhle der Vögel zu seinem neuen Kommandoposten gemacht hatte, konnte man nicht in Zweifel ziehen, wußte Jessica. Der Platz war nahezu ideal. In nördlicher Richtung lag die Windpaßöffnung, die sich auf ein geschützt liegendes Dorf inmitten einer Felsansammlung ausrichtete. Dieses Dorf hatte eine Schlüsselstellung inne, denn in ihm lagen die Unterkünfte der Techniker und Handwerker sowie das Nachschubzentrum der gesamten Harkonnen-Abwehr.

Ein Hüsteln drang an Jessicas Ohren. Sie setzte sich wieder aufrecht hin, tat einen tiefen Atemzug und sagte: »Herein.«

Vorhänge wurden beiseite gerissen und Gurney Halleck stürmte in den Raum. Jessica hatte gerade noch Gelegenheit, einen kurzen Blick auf sein verzerrtes Gesicht zu werfen, dann war er auch schon hinter ihr, legte einen Arm um ihren Hals und riß sie hoch.

»Gurney, Sie Narr, was haben Sie vor?« keuchte Jessica.

Dann fühlte sie den harten Druck einer Messerspitze an ihrem Rücken. Sofort wurde ihr klar, daß Halleck vorhatte, sie umzubringen. Warum? Sie hatte nicht die geringste Ahnung. Zudem war Halleck nicht der Typ des Verräters. Aber dennoch war seine Absicht unverkennbar — und er besaß genügend Erfahrung, um jeden Trick, sich aus dieser Umklammerung zu befreien, sofort zu unterbinden.

»Du hast geglaubt, du wärst jetzt in Sicherheit, du Hexe, was?« knurrte Gurney.

Bevor Jessica auch nur ihre Gedanken in Worte kleiden konnte, öffnete sich der Vorhang erneut und Paul trat ein.

»Hier ist er also, Mutt…« Er verstummte abrupt und blieb wie erstarrt stehen.

»Sie werden da stehenbleiben, wo Sie jetzt sind, Mylord«, sagte Gurney.

»Was …«, stieß Paul ungläubig hervor.

Jessica wollte etwas sagen und spürte plötzlich, wie der Griff um ihren Hals sich verstärkte.

»Du wirst nur dann sprechen, wenn ich es dir erlaube, du Hexe«, sagte Gurney. »Ich möchte nur, daß dein Sohn etwas ganz Bestimmtes aus deinem Mund hört — und ich werde nicht zögern, beim geringsten Anzeichen eines Reflexes zuzustoßen. Deine Stimme wird ganz normal klingen, wenn du etwas sagst, und du wirst keinen einzigen Muskel bewegen. Du wirst dich nun mit der größten Vorsicht verhalten, auch wenn du nicht mehr lange zu leben hast. Du hast nur noch ein paar Sekunden, und ich rate dir, sie nicht sinnlos zu vergeuden.«

Paul machte einen Schritt vorwärts und sagte entsetzt: »Gurney, Mensch, was ist …?«

»Bleib wo du bist!« schrie Gurney. »Noch einen Schritt und sie ist tot!«



Paul griff nach seinem Messer und sagte mit tödlicher Ruhe: »Das wirst du mir erklären müssen, Gurney.«

»Ich habe geschworen, denjenigen, der deinen Vater verraten hat, zu töten«, erwiderte Gurney. »Glaubst du, ich könnte vergessen, was ich einem Menschen verdanke, der mich aus den Sklavenhöhlen der Harkonnens befreit hat? Der mir die Freiheit, das Leben und meine Ehre wiedergab? Der mich zu seinem Freund machte, was ich über alles andere stelle? Ich habe den Verräter jetzt vor meiner Klinge. Und niemand wird mich davon abhalten können, ihn zu …«

»Einen größeren Irrtum könntest du gar nicht begehen, Gurney«, entgegnete Paul.

Und Jessica dachte: Also so ist das! Welche Ironie!

»Ich soll mich irren?« fragte Gurney. »Ich schlage vor, daß wir jetzt diese Frau sprechen lassen. Und sie soll auch wissen, daß ich Unsummen an Bestechungsgeldern und für Spitzel ausgegeben habe, um darüber, was ich jetzt weiß, Informationen zu sammeln. Ich habe sogar einen Harkonnen-Captain unter Semuta gesetzt, um die Geschichte aus ihm herauszubekommen.«

Jessica fühlte, wie der Arm sich um eine Winzigkeit löste, aber bevor sie etwas sagen konnte, warf Paul ein: »Der Verräter war Yueh. Ich sage dir das nur einmal, Gurney. Ich habe unwiderlegbare Beweise dafür. Es war Yueh, niemand anderes. Ich habe keine Ahnung, wie du auf den Gedanken gekommen bist, es könnte meine Mutter gewesen sein. Es gibt nicht die geringsten Verdachtsmomente gegen sie. Und wenn du wirklich versuchst, ihr etwas anzutun …«, Paul zog sein Messer aus der Scheide und hielt es mit ausgestreckter Hand Gurney entgegen, »… wirst du das nicht überleben.«

»Yueh war ein kondinionierter Mediziner«, entgegnete Gurney. »Er war gar nicht fähig, so etwas zu tun.«

»Ich kenne einen Weg, die Konditionierung zu durchbrechen«, erwiderte Paul einfach.

»Beweise!« knurrte Gurney.

»Der Beweis ist nicht hier«, sagte Paul. »Er ist im Sietch Tabr, tief im Süden, aber wenn …«

»Das ist nichts anderes als ein Trick«, schnaubte Gurney Halleck. Erneut festigte er seinen Griff um Jessicas Hals.

»Es ist kein Trick, Gurney«, sagte Paul, und der Tonfall, in dem er diese Worte sagte, klang so traurig, daß Jessica ihn in ihrem Herzen spürte.

»Ich habe die Botschaft gelesen, die man einem Agenten der Harkonnens abnahm«, sagte Gurney. »Und sie wies genau darauf hin, daß …«

»Ich habe sie ebenfalls gelesen«, erwiderte Paul. »Mein Vater zeigte sie mir in jener Nacht, in der er mir auch erklärte, was die Harkonnens damit erreichen wollten, indem sie die Frau beschuldigten, die er liebte.«

»Ayah!« stieß Gurney hervor. »Du hast nicht …«

»Sei still«, sagte Paul, und seine Stimme enthielt jetzt einen solch harten Kommandoton, wie Jessica ihn noch bei keinem anderen Menschen gehört hatte.

Er verfügt über die Große Kontrolle, dachte sie.

Gurneys Arm begann zu zittern. Sie spürte deutlich, daß sie Messerspitze sich unruhig hin und her bewegte.

»Du hast meine Mutter in der Nacht, als sie meinen Vater umbrachten, nicht weinen gehört, Gurney«, fuhr Paul jetzt entschlossen fort. »Und du weißt auch nichts davon, welchen Ausdruck ihre Augen zeigen, wenn wir von unserer Rache sprechen.«

Er hat es nicht vergessen, dachte Jessica. Tränen traten in ihre Augen.

»Und offenbar hast du aus dem, was du in den Sklavenhöhlen der Harkonnens gelernt hast, keine Lehre gezogen, Gurney. Du erzählst mir, wie stolz du darauf bist, daß mein Vater dir seine Freundschaft schenkte! Warst du die ganzen Jahre denn nicht in der Lage, die Harkonnens und Atreides auseinanderzuhalten und zu erkennen, daß man die Tricks der ersteren schon allein an dem Gestank erkennt, den sie bei allem, was sie tun, zurücklassen? Bist du dir nicht dessen bewußt, daß die Atreides sich die Loyalität ihrer Untertanen mit Güte erkaufen, während die Harkonnens sich die der ihren mit Brutalität erzwingen? Hast du wirklich nicht gemerkt, daß du nur einem weiteren ihrer schmutzigen Tricks aufgesessen bist?«

»Aber Yueh?« murmelte Gurney.

»Der Beweis, von dem ich eben sprach«, sagte Paul, »ist das handgeschriebene Geständnis Yuehs. Ich schwöre unter dem Siegel der Zuneigung, die ich für dich empfinde, daß ich die Wahrheit, sage. Und ich werde diese Zuneigung auch dann noch in mir bewahren, wenn du hier tot zu meinen Füßen liegen wirst.«

Paul schien wirklich zu allem entschlossen zu sein.

»Mein Vater erfaßte stets instinktiv, wer seine Freunde waren«, fügte er hinzu. »Es gab nur wenige Leute, die er mochte, aber er hat sich in ihnen niemals geirrt. Seine Schwäche lag darin, daß er zu sehr auf den Haß fixiert war. Es war ihm einfach unmöglich, zu glauben, daß jemand, der die Harkonnens haßte, in der Lage sei, ihn zu verraten.« Er sah seine Mutter an. »Bevor mein Vater starb, gab er mir den Auftrag, meiner Mutter zu sagen, daß er ihr niemals mißtraut habe.«

Jessica, die spürte, daß sie die Kontrolle über sich verlor biß sich auf die Lippe. Die steife Formalität, mit der Paul nun sprach, zeigte ihr, was es ihn kostete, diese Worte überhaupt hervorzubringen. Am liebsten hätte sie sich ihm zugewandt und seinen Kopf an ihre Brust gedrückt, aber der Arm, der ihren Hals umklammert hielt, hatte seine Unsicherheit offenbar wieder verloren. Die Messerspitze an ihrem Rücken war weiterhin da.

»Einer der schrecklichsten Augenblicke im Leben eines Jungen«, sagte Paul gepreßt, »ist, wenn er entdeckt, daß auch sein Vater und seine Mutter völlig menschliche Wesen sind, die einander in einer Form zugetan sind, die man als Kind nicht verstehen kann. Man nimmt es hin wie einen Verlust, wie ein Erwachen gegenüber der Tatsache, daß die Welt um einen herum existiert, und man doch allein in ihr ist. Dieser Moment bringt seine eigene Form von Wahrheit mit sich, und man kann ihr nicht entkommen. Ich habe wirklich gehört, was mein Vater über meine Mutter sagte. Sie ist wirklich keine Verräterin, Gurney.«

Endlich fand Jessica ihre Stimme wieder. »Laß mich los, Gurney«, sagte sie. Ihre Stimme klang ruhig und keineswegs befehlend, aber trotzdem ließ Halleck den Arm sinken. Jessica stand auf und ging auf Paul zu, berührte ihn jedoch nicht.

»Paul«, sagte sie, »in diesem Universum existieren noch andere Formen des Erwachens. Ich habe gerade festgestellt, wie ich dich benutzt und manipuliert habe, damit du einen Weg einschlägst, den ich bestimmen wollte … einen Weg, den ich einschlagen mußte. Wenn es dafür überhaupt eine Entschuldigung gibt … dann denke bitte an meine Ausbildung.« Mühsam schluckte sie den Klumpen, der sich in ihrer Kehle bildete, hinunter und sah ihrem Sohn in die Augen. »Paul … ich möchte, daß du etwas für mich tust: Gehe den Weg, den du gehen mußt, wenn du dadurch glücklich wirst. Wenn du es wünschst, heirate dein Wüstenmädchen. Widersetze dich jedem und allem, der dich daran hindern will. Gehe deinen eigenen Weg. Ich …«

Abrupt verstummte sie. Das entsetzliche Stöhnen hinter ihrem Rücken ließ sie herumfahren.

Gurney!

Pauls Augen wandten sich von ihr ab und blickten an ihr vorbei.

Gurney stand immer noch an der gleichen Stelle, aber er hatte das Messer wieder in die Scheide gesteckt und war dabei, über die Brust die Robe auseinanderzureißen, unter der nun die graue Hülle des Destillanzuges sichtbar wurde. Es war einer jener Anzüge, wie ihn die Schmuggler trugen.

»Stoßen Sie mir das Messer in die Brust«, knirschte Gurney verzweifelt. »Töten Sie mich und vergessen Sie alles, was ich hier und heute gesagt habe. Ich habe meinen eigenen Namen beschmutzt und meinen Herzog verraten. Das Beste wäre …«

»Schweig!« versetzte Paul.

Gurney starrte ihn an.

»Schließe deine Robe und hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen«, sagte Paul. »Der Unsinn, den ich allein heute gehört habe, wird für ein paar Monate reichen.«

»Töten Sie mich«, fauchte Gurney, »ich bestehe darauf!«

»Du solltest mich besser kennen«, erwiderte Paul. »Für welchen Trottel hältst du mich? Muß ich denn mit jedem Mann, den ich brauche, das gleiche Drama durchexerzieren?«

Gurney schaute Jessica an und sagte in einem müden, resignierten Tonfall, der gar nicht zu ihm paßte: »Dann Sie, Mylady. Bitte … töten Sie mich.«

Jessica ging auf ihn zu und legte beide Arme auf seine Schultern. »Gurney, warum bestehst du darauf, daß die Atreides diejenigen töten sollen, die sie lieben?« Mit sanftem Griff brachte sie seine Robe wieder in Ordnung und verschloß sie über seiner breiten Brust.

Gebrochen sagte Gurney: »Aber … ich …«

»Du glaubtest, etwas Gutes für Leto zu tun«, fuhr Jessica fort. »Und dafür danke ich dir.«

»Mylady«, sagte Gurney. Sein Kinn fiel auf die Brust, um niemanden seine Tränen sehen zu lassen, schloß er die Augen.

»Laßt uns über die Sache in Zukunft nur noch wie über ein gewöhnliches Mißverständnis unter alten Freunden denken«, sagte Jessica, und Paul hörte den beruhigenden Tonfall in ihrer Stimme. »Nun ist es vorüber, und wir alle wissen, daß es ein solches Mißverständnis nie wieder geben wird.«

Gurney öffnete seine feuchten Augen und schaute auf sie herab.

»Der Gurney Halleck, den ich einst kannte«, sagte Jessica, »war ein Mann, der ebenso gut mit dem Messer wie mit dem Baliset umgehen konnte. Und den Spieler Gurney Halleck habe ich stets am meisten verehrt. Erinnert sich dieser Gurney Halleck nicht mehr daran, wie schön es für mich war, den Klängen seines Instruments zu lauschen? Hast du dein Baliset noch immer, Gurney?«

»Ich habe ein neues«, erwiderte Gurney. »Es stammt von Chusuk, ein schönes Instrument. Es könnte beinahe von Varota kommen, obwohl es unsigniert ist. Ich denke, es wurde von einem Studenten von Varota gebaut, der dann später nach …« Er brach ab. »Wie kann ich nur hier herumstehen und schwätzen, wo …«

»Was du sagst, ist kein Geschwätz, Gurney«, warf Paul ein, stellte sich neben seine Mutter und sah Gurney in die Augen. »Es ist ein Gespräch zwischen Freunden. Ich würde es begrüßen, wenn du so freundlich wärst und uns eines deiner Lieder vorspieltest. Der Entwurf des Schlachtplans kann noch ein bißchen warten, denn der Kampf beginnt frühestens morgen.«

»Ich … werde mein Baliset holen«, sagte Gurney. »Es ist draußen im Gang.« Er ging an ihnen vorbei und schlüpfte durch den Vorhang hinaus.

Als Paul seine Hand auf den Arm seiner Mutter legte, stellte er fest, daß sie zitterte.

»Es ist vorüber, Mutter«, sagte er.

Sie hob den Kopf nicht, sondern musterte ihn lediglich aus den Augenwinkeln. »Vorüber?«

»Natürlich. Gurney ist …«

»Gurney? Oh … ja.« Sie senkte den Blick.

Die Vorhänge raschelten, als Gurney, sein Baliset unter dem Arm, wieder eintrat. Er fing an, das Instrument zu stimmen ohne dabei ihren Blicken zu begegnen. Die Wandteppiche und Vorhänge dämpften die Echos, und Gurney stellte plötzlich betroffen fest, wie stark Jessica in den Jahren ihrer Trennung gealtert war. Die Entbehrungen und die Wasserknappheit, der sie in der Wüste unter den Fremen ausgesetzt war, hatten tiefe Falten in ihre Gesichtszüge gemeißelt.

Sie wirkt müde, dachte er. Wir müssen einen Weg finden, um sie wieder aufzurichten.

Er schlug einen Akkord an.

Paul sah Gurney an und sagte: »Ich habe … einige Dinge zu erledigen, die meine Anwesenheit erfordern. Wartet hier auf mich.«

Gurney nickte.

Er erweckte den Eindruck, als sei er nicht ganz bei der Sache, als reise sein Bewußtsein in diesem Moment nach Caladan zurück und zu seinen blauen Himmeln, an denen die Wolken vorbeizogen und auf baldigen Regen hindeuteten.

Paul mußte sich regelrecht zwingen, den Raum zu verlassen. Er bahnte sich einen Weg durch die schweren Außenvorhänge und trat in den Gang hinaus. Hinter ihm schlug Gurney erneut das Instrument an. Paul blieb stehen und lauschte einen Moment der Musik.


»Obstgärten und Weinberge,

Vollbusige Houris,

Ein schäumender Becher

Auf dem Tisch.

Was schwätze ich von Schlachten

Und Bergen, zerrieben zu Staub?

Warum fühle ich die Tränen?

Offen sind die Himmel

Und bieten ihren Reichtum an.

Meine Hände sind zufrieden,

Solange sie gesund und kräftig sind.

Warum denke ich an Aufmärsche

Und Gift in geschmiedetem Kelch?

Warum fühle ich die Tränen?

Die Arme der Geliebten locken

Und versprechen mir so viel

Wie das Paradies.

Warum erinnere ich mich der Narben,

Und träume von alten Schlachten …

Warum überschattet die Furcht meinen Schlaf?«


Aus einer der vor Paul liegenden Nebengänge tauchte ein mit einer Robe bekleideter Kurier auf. Die Kapuze des Mannes war zurückgezogen, und die Bänder, die von seinem Nacken herabbaumelten und zur Befestigung des Destillanzuges dienten, deuteten darauf hin, daß er gerade aus der offenen Wüste gekommen war.

Paul gab ihm mit einem Wink zu verstehen, daß er auf ihn warten sollte und beeilte sich, ihm entgegenzugehen.

Der Mann verbeugte sich und machte das Handzeichen, das an sich nur einer Ehrwürdigen Mutter oder einer Sayyadina zukam. Er sagte: »Die Führer der einzelnen Stamme beginnen sich bereits zu versammeln, Muad'dib.«

»Jetzt schon?«

»Diejenigen, die jetzt schon eingetroffen sind, kamen auf Stilgars Einladung, die er gab, bevor …« Der Kurier hob die Schultern.

»Verstehe.« Paul warf einen kurzen Blick zurück und erinnerte sich daran, daß das Stück, das Gurney jetzt spielte, zu denen gehörte, die seine Mutter am meisten mochte. »Stilgar und die anderen werden bald hier sein. Zeige ihnen, wo meine Mutter sie erwartet.«

»Ich werde hier warten, Muad'dib«, bestätigte der Kurier nickend.

»Ja … ja, tue das.«

Paul zwängte sich an dem Mann vorbei und strebte den Tiefen des Höhlensystems zu, um an einen Ort zu gelangen, den es in jeder Höhle gab und der in der Nähe des jeweiligen Wasserbeckens lag. Dort wurde ein kleinerer Wurm gefangengehalten, der nicht mehr als neun Meter lang war, weil die Wassergräben, die man um ihn herum gezogen hatte, sein Wachstum behinderten und außerdem dafür sorgten, daß er nicht ausbrach. Sobald der Wurm das Stadium des Kleinen Bringers überwunden hatte, mied er jegliche Ansammlungen von Wasser, weil sie für ihn das reinste Gift darstellten. Das Ertränken eines Bringers war das größte Geheimnis der Fremen, weil dadurch die Erzeugung des Wassers des Lebens zustande kam. Und dieses neue Gift konnte nur von einer Ehrwürdigen Mutter verändert werden.

Paul hatte die Entscheidung gefaßt, als er des Ausdrucks höchster Gefahr im Gesicht seiner Mutter teilhaftig geworden war. Nicht eine der Zukunftslinien hatte jemals eine Gefahr beinhaltet, die von Gurney Halleck ausgegangen wäre. Jene hinter einem grauen Nebel verborgene Zukunft hatte in ihm das Gefühl einer schattenhaften Bedrohung geweckt, über die er sich jetzt klar werden mußte.

Ich muß es herausfinden, dachte er.

Sein Körper hatte sich im Laufe der Zeit an immer größere Melangekonzentrationen gewöhnt — und dadurch waren seine Visionen seltsamerweise weniger geworden. Und undurchschaubarer. Erst jetzt war ihm klargeworden, was er zu tun hatte.

Ich werde den Bringer ertränken, dachte er. Dann werden wir sehen, ob der Kwisatz Haderach derjenige ist, der die ultimate Prüfung der Ehrwürdigen Mütter bestehen kann.

8

Und man hörte im dritten Jahr des Wüstenkrieges, daß Paul-Muad'dib allein unter den Kiswa-Schleiern in der Höhle der Vögel lag. Er lag da wie tot, im Banne der Flüssigkeit, die wir ›das Wasser des Lebens‹ nennen, während sein Geist die Grenzen sprengte, die das Universum uns auferlegt. Und also erfüllte sich die Prophezeiung, daß der Lisan al-Gaib fähig ist, gleichzeitig lebend und tot zu sein.

›Gesammelte Arrakis-Legenden‹, von Prinzessin Irulan.


Chani ging im Morgengrauen aus der Habbanya-Senke auf die Höhle der Vögel zu und vernahm das sich entfernende Rotorengesumme des Thopters, der sie bis dahin gebracht hatte und nun einem sicheren Versteck zustrebte, nur noch aus weiter Ferne. Die Männer der sie begleitenden Garde hielten einen gewissen Abstand zu ihr und beobachteten die Umgebung mit wachen Blicken. Sie erfüllten damit der Gefährtin Muad'dib, der Mutter seines erstgeborenen Sohnes, eine Bitte: sie wollte einen Moment mit ihren Gedanken allein sein.

Warum hat er mich zu sich rufen lassen? fragte sie sich. Zuvor hieß es doch, ich sollte mit Leto und Alia im Süden bleiben.

Sie zog die Robe enger um die Schultern und setzte ihren Fuß auf die ersten Ausläufer eines Pfades, den nur ein ausgebildeter Wüstenbewohner als solchen zu erkennen vermochte. Kleinere Steine knirschten unter ihren Füßen, aber Chani überschritt sie, ohne dadurch beim Gehen behindert zu werden.

Irgendwie fühlte sie sich plötzlich erheitert über die Tatsache, daß sie nun hier zwischen den Felsen herumkletterte, während zu allem entschlossene Männer sie umgaben und man sogar einen Thopter eingesetzt hatte, um sie aus dem Süden herbeizuholen. Es war eine nicht wiederzugebende Freude in ihr, wenn sie daran dachte, bald wieder mit Paul-Muad'dib beisammen zu sein, ihrem Usul. Auch wenn sein Name inzwischen zu einem Kampfruf der Fremen geworden war, blieb er für sie doch ihr Gefährte, der Vater ihres Kindes, ihr zärtlicher Liebhaber.

Aus den Felsen über ihr erschien eine Gestalt und gab mit einem Handzeichen zu verstehen, daß sie sich beeilen sollte. Chani beschleunigte den Rhythmus ihrer Schritte. Die ersten Vögel waren bereits erwacht und erhoben sich singend in den Morgenhimmel. Ein schmaler Lichtstreifen war am östlichen Horizont zu sehen.

Die Gestalt vor ihr gehörte nicht der Eskorte an. Ist es Otheym? fragte sie sich anhand einiger Bewegungen, die für ihn charakteristisch waren. Als sie ihn erreichte, erkannte sie, daß er es wirklich war. Der breite Unterführer der Fedaykin trug die Kapuze nach hinten geschlagen. Seine Nasenfilter waren nur nachlässig befestigt, wie er es immer tat, wenn er sich für einen kurzen Moment in der Wüste aufhielt.

»Beeil dich«, zischte er und führte sie durch einen versteckten Spalt in die Höhle. »Es wird bald hell sein«, fügte er hinzu, während er das Türsiegel offenhielt. »Die Harkonnens unternehmen jetzt regelmäßig Erkundungsvorstöße in dieses Gebiet, und wir können es uns nicht leisten, entdeckt zu werden.«

Sie gelangten in die Vorhöhle. Leuchtgloben schienen. Otheym drückte sich an ihr vorbei und sagte: »Folge mir. Und beeil' dich.«

Sie schritten durch einen Gang, bogen ab und betraten schließlich einen Raum, der zu jener Zeit, als man die Höhle der Vögel noch für eine Zwischenstation gehalten hatte, den Zwecken einer Sayyadina gedient hatte. Jetzt bedeckten Teppiche und Sitzkissen den Boden. Die Wände waren mit Behängen bedeckt, die einen Habicht zeigten. Ein niedriger Tisch, auf dem mehrere Papiere ausgebreitet lagen, deutete darauf hin, daß man hier vor kurzem offenbar eine Besprechung abgehalten hatte.

Die Ehrwürdige Mutter saß dem Eingang genau gegenüber. Als Chani eintrat, maß sie sie mit einem Blick, der so stark nach innen gerichtet war, daß er das Mädchen zum Zittern brachte.

Otheym legte die Handflächen gegeneinander und sagte: »Ich habe Chani gebracht.« Dann verbeugte er sich und zog sich zurück.

Jessica dachte: Wie bringe ich es ihr bei?

»Wie geht es meinem Enkel?« fragte sie.

So erfordert es das Ritual, dachte Chani. Ihre Ängste kehrten zurück. Wo ist Muad'dib? Warum erscheint er nicht persönlich, um mich zu begrüßen?

»Er ist gesund und glücklich, meine Mutter«, erwiderte sie. »Ich habe ihn bei Alia und Harah zurückgelassen.«

Meine Mutter, dachte Jessica. Ja, sie hat das Recht, mich so zu nennen. Schließlich hat sie mir einen Enkel geschenkt.

»Ich hörte, daß man euch vom Coanua-Sietch einige Stoffe geschickt hat«, sagte Jessica.

»Es sind herrliche Stoffe«, bestätigte Chani.

»Hat dir Alia eine Botschaft mitgegeben?«

»Nein. Aber es geht jetzt besser im Sietch, nachdem die Leute ihren Status akzeptiert haben.«

Warum redet sie so um den heißen Brei herum? fragte sich Chani. Wenn sie sogar einen Thopter eingesetzt haben, um mich herzubringen, muß etwas Dringendes vorliegen. Aber egal — wenn es nicht anders geht, werde ich die Formalitäten hinzunehmen haben.

»Aus den Stoffen, die die Leute geschickt haben, könnte man einige Kleider für Leto machen«, sagte Jessica.

»Wie du meinst, meine Mutter«, erwiderte Chani. Sie löste ihren Schleier. »Gibt es neue Nachrichten vom Schlachtfeld?« Sie versuchte, möglichst unbeteiligt dreinzuschauen, damit Jessica nicht bemerkte, was sie wirklich interessierte: wie es Paul ging.

»Neue Siege wurden errungen«, erklärte Jessica. »Rabban hat sogar schon um einen Waffenstillstand bitten lassen. Man schickte seine Parlamentäre zurück nachdem man ihnen ihr Wasser genommen hatte. Er bemüht sich jetzt, den Bewohnern der Dörfer das Leben etwas zu erleichtern, aber die Leute wissen genau, daß er das nur tut, weil er Angst vor uns hat.«

»Also geht es genauso, wie Muad'dib es voraussagte«, erwiderte Chani. Sie starrte Jessica an und versuchte weiterhin, ihre Ängste um Paul vor ihr zu verbergen. Ich habe seinen Namen ausgesprochen, dachte sie, aber sie reagiert nicht darauf. Es ist unmöglich, hinter dieser Maske, die sie ihr Gesicht nennt, die kleinste Emotion zu erkennen. Sie ist wie ein Eisblock. Hat das einen Grund? Ist meinem Usul etwas zugestoßen?

»Ich wünschte, wir wären im Süden«, sagte Jessica. »Die Oasen waren so herrlich, als wir sie verließen. Kannst du es nicht auch kaum noch erwarten, bis das ganze Land so aussieht?«

»Das Land ist schön, das stimmt«, entgegnete Chani, »aber es steckt auch viel Mühe und Kummer in ihm.«

»Das ist der Preis der Freiheit«, versetzte Jessica.

Soll das bedeuten, daß sie dabei ist, mich auf ein neues Leid vorzubereiten? fragte Chani sich. »Es sind sehr viele Frauen ohne ihren Mann«, sagte sie, »daß es schon zu Eifersüchteleien kam, als man mich holte.«

»Ich habe dich rufen lassen«, eröffnete ihr Jessica.

Chani bemerkte, daß ihr Herz zu hämmern begann. Sie unterdrückte das Verlangen, sich beide Ohren zuzustopfen. Irgend etwas würde jetzt kommen. Etwas Schreckliches. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, sagte sie: »Die Nachricht, die ich erhielt, war von Muad'dib unterzeichnet.«

»Ich unterzeichnete sie im Beisein von zweien seiner Unterführer«, gab Jessica zu. »Es war eine notwendige Sache.« Und sie dachte: Chani ist eine tapfere Frau. Sie ist sogar in der Lage, ihre Angst zu überspielen, wenn sie sie innerlich zerreißt. Ja, Sie könnte genau die Frau sein, die wir jetzt brauchen.

Es war kaum das kleinste Anzeichen von Resignation in Chanis Stimme, als sie sagte: »Sage mir jetzt, was du sagen mußt.«

»Du solltest mir helfen, Paul wieder zum Leben zu erwecken«, sagte Jessica und dachte im gleichen Augenblick: Das war genau das richtige Wort. Ihn zum Leben zu erwecken. Jetzt weiß sie, daß er lebt und sich gleichzeitig in einer großen Gefahr befindet.

Chani brauchte nur eine Sekunde, um zu fragen: »Was soll ich tun?« Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, auf Jessica zu stürzen und sie schütteln zu müssen. Es kostete sie einiges, nicht laut loszuschreien: »Bringe mich zu ihm!« Gefaßt wartete sie auf eine Antwort.

»Ich vermute«, sagte Jessica, »daß die Harkonnens einen Agenten in unsere Reihen eingeschmuggelt haben, um Paul zu vergiften. Es scheint mir die einzig logische Erklärung zu sein. Ein äußerst ungewöhnliches Gift haben sie eingesetzt. Ich habe sein Blut untersucht, ohne es jedoch entdecken zu können.«

Chani fiel auf die Knie. »Vergiftet? Hat er Schmerzen? Was könnte ich …«

»Er ist ohne Bewußtsein«, erklärte Jessica. »Alle seine Lebensprozesse laufen so langsam ab, daß man sie nur noch mit den kompliziertesten Geräten messen kann. Zum Glück war ich es der ihn in diesem Zustand fand. Jeder Laie müßte ihn unweigerlich für tot halten.«

»Du hast mich nicht aus reinen Höflichkeitsgründen rufen lassen«, erwiderte Chani. »Ich kenne dich, Ehrwürdige Mutter. Was, glaubst du, kann ich für Paul tun, das du nicht tun kannst?«

Sie ist tapfer, liebreizend und hat eine schnelle Auffassungsgabe, dachte Jessica. Aus ihr wäre eine ungewöhnlich gute Bene Gesserit geworden.

»Chani«, begann sie, »du wirst es sicherlich kaum glauben, aber ich weiß wirklich nicht, warum ich nach dir geschickt habe. Es war ein Instinkt … eine grundsätzliche Intuition. Es durchdrang mich ganz plötzlich: Schicke nach Chani.«

Zum erstenmal konnte Chani jetzt so etwas wie Trauer in Jessicas Gesicht erkennen.

»Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand«, fuhr Jessica fort. »Und das ist alles … und es ist weit mehr als das, was man sich gemeinhin unter allem vorstellt. Dennoch habe ich versagt.«

»Dieser alte Freund von Paul«, sagte Chani, »dieser Halleck. Ist es möglich, daß er diesmal der Verräter war?«

»Nicht Gurney«, sagte Jessica. Die beiden Worten enthielten soviel, daß Chani keinen Augenblick daran zweifelte, daß die Ehrwürdige Mutter diese Möglichkeit bereits überprüft und als unmöglich beiseite gelegt hatte.

Sie stand auf und glättete ihre Robe. »Ich möchte ihn sehen«, sagte sie.

Jessica erhob sich und zerteilte die Vorhänge zu ihrer Linken.

Chani folgte ihr und fand sich in einem Zimmer wieder, das einst ein Lagerraum gewesen zu sein schien. Jetzt waren die steinernen Wände mit schweren Teppichen bedeckt. An der gegenüberliegenden Wand lag Paul auf einem Feldbett. Ein einzelner Leuchtglobus beschien von der Decke her sein Gesicht. Eine schwarze Robe bedeckte seinen Körper bis zur Brust, während seine Arme schlaff und leblos neben ihm lagen. Er schien unter der Robe unbekleidet zu sein. Seine Haut erschien wächsern. An seinem gesamten Körper konnte man nicht die geringste Muskelbewegung ausmachen.

Chani unterdrückte das Gefühl, auf ihn zuzueilen und sich über ihn werfen zu müssen. Sie dachte plötzlich an Leto, ihren Sohn, und in diesem Moment wurde ihr klar, daß Jessica vor nicht allzu langer Zeit vor einer ähnlichen Situation gestanden hatte: man hatte ihren Mann umgebracht, und all ihre Gedanken galten von da an ihrem Sohn und der Chance, ihn am Leben zu erhalten. Diese plötzliche Erkenntnis traf Chani so stark, daß sie instinktiv nach der Hand der neben ihr stehenden Frau griff und sie drückte. Jessica erwiderte diesen Druck. Er war in seiner Intensität beinahe schmerzhaft.

»Er lebt«, sagte Jessica. »Ich versichere dir, daß er lebt. Aber der Faden, an dem sein Leben hängt, ist so fein, daß man ihn wirklich übersehen kann. Es sind unter den Führern der einzelnen Stämme bereits Stimmen laut geworden, die behaupten, aus mir würde die Mutter, nicht jedoch die Ehrwürdige Mutter, sprechen, die verhindern will, daß man ihren Sohn als tot ansieht und dem Stamm sein Wasser vorenthält.«

»Wie lange befindet er sich schon in diesem Zustand?« fragte Chani. Sie befreite sich aus Jessicas Griff und ging tiefer in den Raum hinein.

»Seit drei Wochen«, erwiderte Jessica. »Und ich habe eine ganze Woche lang versucht, ihn zu wecken. Es hat inzwischen Versammlungen gegeben, Ratschläge und Untersuchungen. Dann habe ich nach dir geschickt. Die Fedaykin gehorchen meinen Befehlen, sonst wäre es mir nicht gelungen, ihn so lange …« Sie befeuchtete mit der Zunge ihre Lippen und beobachtete Chani, wie sie sich ihrem Sohn näherte.

Chani, die nun neben seinem Lager stand, sah auf Paul hinab. Ein weicher Bart umrahmte sein Gesicht. Sie musterte die Linien seiner Augenbrauen, seine starke Nase, die geschlossenen Augen. An jede Einzelheit konnte sie sich erinnern.

»Auf welche Art wird er ernährt?« fragte sie.

»Sein Körper verbraucht so wenig Energie, daß er kein Bedürfnis nach Nahrung hat«, erklärte Jessica.

»Wer weiß alles davon, was ihm passiert ist?«

»Nur seine engsten Vertrauten, einige der Führer, die Fedaykin — und natürlich derjenige, der ihm das Gift verabreichte.«

»Man hat also nicht die geringste Ahnung, wer für das Attentat in Betracht käme?«

»Wir haben alle Möglichkeiten erwogen, jedoch keine Spur gefunden.«

»Was sagen die Fedaykin dazu?« wollte Chani wissen.

»Sie glauben, daß Paul sich in einem gesegneten Trancezustand befindet, in dem er alle Kräfte für die letzte Schlacht sammelt. Ich habe dazu beigetragen, diese Theorie weiterzuverbreiten.«

Chani kniete sich neben das Lager und beugte sich über Pauls Gesicht. Irgendwie schien sie einen Unterschied in der Luft über seinem Kopf zu spüren … aber es war nur das Gewürz, der alles durchdringende Gewürzduft, der das gesamte Leben der Fremen beherrschte. Und doch …

»Ihr seid beide nicht mit dem Gewürz aufgewachsen, so wie wir es sind«, sagte Chani. »Hast du je an die Möglichkeit gedacht, daß sich sein Körper eventuell gegen eine zu starke Gewürzdiät zur Wehr setzen könnte?«

»Alle Untersuchungen auf eine allergische Reaktion sind negativ verlaufen«, sagte Jessica.

Sie schloß die Augen. Wie lange habe ich jetzt nicht mehr geschlafen? fragte sie sich. Ich kann mich kaum noch daran erinnern.

»Wenn du das Wasser des Lebens umfunktionierst«, sagte Chani, »werden dir Dinge bekannt, die anderen auf ewig verborgen bleiben. Hast du diese Fähigkeit dazu benutzt, sein Blut zu untersuchen?«

»Es ist normales Fremenblut«, sagte Jessica. »Wie das aller Menschen, die sich an das Leben und die Nahrung hier angepaßt haben.«

Chani, auf den Fersen hockend, gab sich den Anschein, als denke sie konzentriert nach, obwohl sie in Wahrheit nur ihre Angst überspielte. Es war ein Trick, den sie der alten Ehrwürdigen Mutter abgelauscht hatte. Die Zeit, in der man dahockte und an nichts dachte, konnte dazu dienen, das Bewußtsein zu klären.

Plötzlich sagte sie: »Ist ein Bringer in der Nähe?«

»Mehrere«, erwiderte Jessica. »In diesen Tagen ist es besser, ständig mehrere bei sich zu haben. Jeder Sieg erfordert seinen Segen. Jede Zeremonie vor einem Angriff …«

»Aber Paul-Muad'dib hat sich von diesen Zeremonien stets ferngehalten«, warf Chani ein.

Jessica nickte. Sie erinnerte sich an die Abneigung, die ihr Sohn der Droge, die angeblich seine seherischen Fähigkeiten negativ beeinflußte, entgegenbrachte.

»Woher weißt du das?« fragte sie.

»Man redet darüber.«

»Man redet über soviel«, sagte Jessica bitter.

»Besorge mir das natürliche Wasser eines Bringers«, verlangte Chani.

Der Tonfall, in dem sie diese Worte sagte, führte dazu, daß Jessica sich ungewollt versteifte. Dann bemerkte sie die Konzentration Chanis und erwiderte: »Sofort.« Augenblicklich verschwand sie hinter den Vorhängen, um einen Wassermann loszuschicken.

Chani saß da und starrte Paul an. Wenn er es versucht hat, dachte sie, wäre es genau das, was ich von ihm erwarten würde.

Jessica kehrte zurück und kniete sich neben sie. Sie hielt ein kleines Gefäß in den Händen, aus dem ein scharfer Geruch aufstieg. Sie tauchte einen Finger in die Flüssigkeit und hielt ihn unter Pauls Nasenlöcher.

Die Haut unter Pauls Nase verzog sich leicht und schien zu vibrieren. Langsam begannen seine Nasenflügel zu zittern.

Jessica schnappte überrascht nach Luft.

Chani berührte Pauls Oberlippe mit dem angefeuchteten Finger.

Er atmete tief und seufzend ein.

»Was ist das?« fragte Jessica erstaunt.

»Sei still«, flüsterte Chani. »Du mußt einen kleinen Teil des Wassers verwenden. Schnell!«

Ohne eine weitere Frage zu stellen, tat Jessica, wie Chani sie geheißen hatte. Sie hob das Gefäß und schüttete einen kleinen Schluck in Pauls Mund.

Augenblicklich öffnete er die Augen. Er starrte direkt in Chanis Gesicht.

»Es ist nicht nötig, das Wasser zu verwandeln«, sagte er mit schwacher Stimme.

Jessica, die bereits dabei war, einen Tropfen umzuwandeln, erstarrte mitten in der Bewegung, schluckte ihn hinunter und erkannte in demselben Augenblick, der dieser Prozedur automatisch folgte, was Paul getan hatte.

»Du hast das heilige Wasser getrunken!« rief sie erschreckt aus.

»Einen Tropfen«, bestätigte Paul. »Ganz wenig … nur einen Tropfen.«

»Wie konntest du nur eine solche Narrheit begehen?« fragte Jessica.

»Er ist dein Sohn«, erklärte Chani.

Jessica sah sie überrascht an.

Ein warmes Lächeln, das voller Verständnis war, legte sich auf Pauls Gesicht. »Höre auf meine Geliebte, Mutter«, sagte er. »Hör ihr zu. Sie weiß, was sie sagt.«

»Was andere konnten, mußte er ebenfalls tun«, sagte Chani.

»Als der Tropfen auf meiner Zunge lag, als ich ihn fühlte und schmeckte«, fügte Paul hinzu, »als ich erkannte, was mit mir geschah, wußte ich, daß ich in der Lage bin, das gleiche zu tun wie du. Die Bene Gesserit sprachen davon, daß dem Kwisatz Haderach Erkenntnisse zuteil werden würden, die ihnen selbst verborgen geblieben sind. Aber sie können sich nicht einmal vorstellen, wie weit ich darüber hinausgegangen bin. In den wenigen Minuten, in denen ich …«

Er verstummte, als er sah, daß Chani ihn stirnrunzelnd ansah. »Chani? Was tust du denn hier? Du solltest doch an sich … Warum bist du hier?«

Er versuchte sich auf den Ellbogen zu stützen, aber Chani drückte ihn sanft wieder auf das Lager. »Bitte, Usul«, sagte sie dabei.

»Ich fühle mich so schwach«, bekannte Paul und blickte sich um. »Wie lange habe ich hier gelegen?«

»Du hast dich drei Wochen lang in einem Koma befunden, das so stark war, daß man dich kaum noch zu den Lebenden zählen konnte«, erklärte Jessica.

»Aber es war … für mich hat das alles nur einen Moment …«

»Für dich war es nur ein Moment, aber für mich waren es drei lange Wochen«, sagte Jessica.

»Es war nur ein Tropfen, aber ich verwandelte ihn«, murmelte Paul. »Ich veränderte das Wasser des Lebens.« Und bevor Jessica und Chani ihn daran hindern konnten, tauchte er seine Hand in das Gefäß, das neben ihm auf dem Boden stand und steckte die befeuchteten Finger in den Mund.

»Paul!« schrie Jessica in Panik.

Er griff nach ihrer Hand, bedachte sie mit einem Lächeln, das Jessica zutiefst erschreckte und verwirrte, und sagte: »Ihr sprecht von einem Ort, an den euer Bewußtsein nicht vordringen kann? Ein Ort, den selbst die Ehrwürdige Mutter mit ihren Geisteskräften nicht erreichen kann? Zeig ihn mir!«

Jessica schüttelte den Kopf. Allein der Gedanke erfüllte sie mit Entsetzen.

»Zeig ihn mir!« befahl Paul.

»Nein!«

Aber dennoch gelang es ihr nicht, sich ihm zu entziehen. Gefangen von der schrecklichen Macht, die er jetzt besaß, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen und den Blick nach innen zu richten — in das Dunkel absoluter Finsternis.

Pauls Bewußtsein umgab sie plötzlich, schien ihr zu folgen und gleichsam in die Schwärze einzutreten. Vor ihr befand sich etwas — ein im Nebel liegender Ort, vor dem sie zurückschreckte. Ohne zu wissen warum, begann sie zu zittern. Da war etwas, eine Region, in der es windig war, in der sich in mattem Licht sanfte Schatten formten, die an ihr vorbeizogen, ohne daß sie auch nur die Gelegenheit erhielt, sich eingehender mit ihnen zu befassen. Dunkelheit und Lichtsphären umgaben sie gleichzeitig — und über allem wehte der Wind aus dem Nichts.

Als sie plötzlich die Augen öffnete, stellte sie fest, daß Paul sie anstarrte. Er hielt noch immer ihre Hand gepackt, aber der dämonische Ausdruck war von seinem Gesicht verschwunden. Es schien, als hätte er eine Maske abgenommen. Jessica taumelte zurück und wäre hingefallen, hätte Chani sie nicht im letzten Moment aufgefangen.

»Ehrwürdige Mutter«, hörte sie das Mädchen sagen. »Was ist geschehen?«

»Ich bin … müde«, flüsterte Jessica. »So … müde.«

»Hier«, sagte Chani und führte sie zu einem an der Wand bereitstehenden Sitzkissen. »Nimm Platz.«

Es war ein gutes Gefühl, von ihren kräftigen Armen gehalten zu werden. Willenlos ließ Jessica sich leiten.

»Er hat also wirklich durch das Wasser des Lebens gesehen?« fragte Chani und befreite sich von Jessicas Armen, die sie noch immer umschlungen hielten.

»Er hat gesehen«, wisperte Jessica. Noch immer machte ihr der Gedanke daran stark zu schaffen. Sie fühlte sich so unsicher, wie jemand, der nach langen Wochen auf See zum erstenmal wieder Festland betritt. Erneut fühlte sie das Bewußtsein der alten Ehrwürdigen Mutter in sich. Auch deren Vorgängerinnen schienen nun zu erwachen und fragten: »Was war das? Was hast du gesehen?«

Dennoch wurden all diese wirbelnden Gedanken von der Tatsache an den Rand gestellt, daß sich mit ihrem Sohn der alte Traum der Bene Gesserit endlich erfüllt hatte: er war der Kwisatz Haderach, der Mann, der an vielen Orten zugleich sein konnte. Es war seltsam, daß sie sich darüber nicht freute.

»Was ist geschehen?« wollte Chani wissen.

Jessica schüttelte nur apathisch den Kopf.

Paul sagte: »In jedem von uns existieren Kräfte der Vergangenheit. Sie können sowohl geben als auch nehmen. Es ist nicht schwierig für einen Menschen, sich jenen Kräften zu stellen, die nehmen. Aber es ist fast unmöglich, sich den gebenden Kräften zu stellen, ohne sich dabei in etwas zu verwandeln, das nichts Menschliches mehr an sich hat. Für eine Frau ist die Situation genau umgekehrt.«

Jessica schaute auf und sah, daß Chani sie anstarrte und Paul dabei zuhörte.

»Verstehst du, was ich damit sagen will, Mutter?« fragte er.

Jessica konnte nichts als nicken.

»Diese Kräfte sind so tief in uns«, fuhr Paul fort, »daß sie beinahe jede Zelle unserer Körper beherrschen. Wir sind von diesen Kräften umgeben. Man kann sich sagen ›Ja, ich kann mir vorstellen, wie eine solche Sache funktioniert‹, aber wenn man in sein Innerstes hineinsieht und der ungezügelten Kraft seines Selbst ungewappnet gegenübersteht, kann man dem dunklen Punkt nicht mehr entkommen. Man versteht, daß es einen überwältigen könnte. Für den Geber ist die nehmende Kraft die größte Gefahr. Und umgekehrt.«

»Und du, mein Sohn«, fragte Jessica erschöpft, »bist du nun derjenige, der gibt, oder der, der nimmt?«

»Ich befinde mich auf einem Drehpunkt«, erwiderte Paul. »Ich kann nicht geben ohne zu nehmen — und nicht nehmen ohne …«

Er verstummte und schaute die Wand zu seiner Rechten an.

Chani spürte einen leichten Luftzug an der Wange und wandte sich um. Die Vorhänge zum Nebenraum bewegten sich leise.

»Es war Otheym«, sagte Paul. »Er hat uns zugehört.«

Seine Worte machten Chani klar, daß er unter seinen hellseherischen Fähigkeiten litt. Otheym würde über das, was er gesehen und gehört hatte, mit den anderen reden, und diese würden eine neue Legende weben, die sich mit der Schnelligkeit eines Steppenbrandes über das Land verbreitete. Paul-Muad'dib ist anders als andere Menschen, würden sie sagen. Jetzt gibt es keinen Grund mehr, daran zu zweifeln. Er ist ein Mensch, aber trotzdem sieht er durch das Wasser des Lebens. Wie eine Ehrwürdige Mutter es kann. Er ist wirklich der Lisan al-Gaib.

»Du hast die Zukunft gesehen, Paul«, bemerkte Jessica. »Willst du uns sagen, was du zu Gesicht bekamst?«

»Es war nicht die Zukunft«, sagte Paul, »sondern die Gegenwart.« Er versuchte, sich gegen die Liege abzustützen und eine sitzende Stellung einzunehmen, und wies Chani zurück, als sie Anstalten machte, ihm dabei zu helfen. »Der Raum über Arrakis ist voller Gildenschiffe.«

Die Absolutheit, mit der er dies sagte, brachte Jessica zum Frösteln.

»Und der Padischah-Imperator ist ebenfalls dort«, fuhr Paul fort. Er warf einen Blick an die Decke. »Bei ihm ist seine alte Wahrsagerin und fünf Legionen seiner Sardaukar, der alte Baron Harkonnen und Thufir Hawat. Harkonnen hat sieben Schiffsladungen seiner Leute mitgebracht. Jedes der Hohen Häuser hat ein Truppenkontingent geschickt. Sie umkreisen den Planeten und warten.«

Chani schüttelte, unfähig, den Blick von Paul zu wenden, den Kopf. Die Art, in der er sprach, sein ganzes Benehmen erfüllte sie jetzt mit Schrecken.

Jessica schluckte. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. »Auf was warten sie?«

Paul sah sie an. »Auf die Landeerlaubnis der Gilde. Sie hat angedroht, jedes Schiff auf Arrakis zu vernichten, das vorzeitig zur Landung ansetzt.«

»Bedeutet das, daß die Gilde uns beschützt?« fragte Jessica erstaunt.

»Uns beschützt? Die Gilde ist selbst schuld am derzeitigen Zustand. Weil sie die unglaublichsten Geschichten über uns mitverbreitet hat, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Charterkosten für Truppentransporte soweit zu senken, daß nun sogar die ärmsten Häuser an diesem Feldzug teilnehmen können. Sie alle warten darauf, uns auszunehmen.«

Jessica wunderte sich darüber, daß Pauls Worte nicht die geringste Bitterkeit enthielten. Er sprach sachlich, genauso wie in jener Nacht, als sie über den Pfad geschritten waren, der sie zu den Fremen gebracht hatte.

Paul atmete tief ein und sagte: »Du mußt eine größere Menge Wasser für uns verändern, Mutter. Wir brauchen einen Katalysator. Chani, du sorgst dafür, daß gleich eine Expedition aufbricht, die nach Vorgewürzmasse sucht. Was geschieht eurer Meinung nach, wenn wir das Wasser des Lebens mit der Vorgewürzmasse mischen?«

Jessica wägte nachdenklich seine Worte ab. Plötzlich wurde ihr klar, was er vorhatte.

Entsetzt keuchte sie: »Paul!«

»Wir haben dann das Wasser des Todes«, beantwortete Paul die eigene Frage. »Es wird zu einer Kettenreaktion kommen.« Er zeigte auf den Boden. »Die Kleinen Bringer würden sterben, was ein Glied in der Kette zwischen den Würmern und dem Gewürz zerstört. Und damit würde aus Arrakis eine echte Wüste werden — eine Wüste, in der es ohne Bringer auch kein Gewürz mehr gibt.«

Chani legte erschreckt eine Hand über den Mund. Es war ein unaussprechlicher Plan, den Paul da vorgetragen hatte.

»Wer in der Lage ist, eine Sache zu kontrollieren«, sagte Paul, »kann sie auch zerstören und zeigt damit, daß er völlig Herr der Situation ist. Wir sind in der Lage, das Gewürz zu vernichten.«

»Was läßt die Gilde bis jetzt noch zögern?« flüsterte Jessica.

»Sie suchen nach mir«, erwiderte Paul. »Vergiß das nicht! Die besten Navigatoren der Gilde, hervorragend ausgebildete Männer, die es verstehen, die Zukunft in ihren Visionen zu erforschen und in der Lage sind, die schnellsten Kurse für die besten Heighliner zu finden, suchen nach mir. Aber sie sind unfähig, mich zu finden. Sie werden nervös! Weil sie genau wissen, daß ich ihr Geheimnis kenne.« Paul legte eine Handfläche vor seine Augen. »Ohne das Gewürz sind sie nämlich blind!«

Endlich fand Chani ihre Stimme wieder. »Du sagtest, du hättest die Gegenwart gesehen!«

Paul legte sich zurück und suchte nach der vollendeten Vergangenheit, folgte ihr in die Zukunft und stellte fest, daß die Visionen schwanden.

»Tut, was ich euch befohlen habe«, sagte er. »Die Zukunft wird sich für mich ebenso ungewiß erweisen wie für die Gilde. Das Gesichtsfeld meiner Vision verengt sich schnell. Alles konzentriert sich auf den Ort, wo das Gewürz gefunden wird … wo sie bisher noch nicht einzugreifen gewagt haben … weil jeder Eingriff den Verlust dessen nach sich gezogen hätte, hinter dem sie her sind. Aber jetzt sind sie zu allem entschlossen. Alle Wege führen in die Dunkelheit hinein.«

9

Und nachdem Arrakis zum Brennpunkt des Universums geworden war, begann der Morgen grau heraufzudämmern.

Aus ›Arrakis erwacht‹, von Prinzessin Irulan.


»Schau dir das nur an!« flüsterte Stilgar.

Paul, der neben ihm in einer Felsspalte hoch oben auf dem Schildwall lag, schaute durch das Fernglas. Die Öllinse war auf ein Sternenschiff gerichtet, das unter ihnen auf der Ebene allmählich sichtbar wurde. Die morgendliche Sonne warf einen rötlichen Schimmer über die Ostseite des Leichters. Hinter den Bullaugen erkannte man noch immer das Licht der letzten Nacht. Jenseits des Schiffskörpers lag die Stadt Arrakeen kaltglänzend unter den Strahlen der nördlichen Sonne.

Es war nicht nur die Anwesenheit des Leichters, die Stilgar zu diesem erstaunten Ausruf verleitet hatte, das wurde Paul klar, sondern die gesamte Konstruktion, zu deren Mittelpunkt das Schiff geworden war. Ein drei Stockwerke hoher, metallener Bau erstreckte sich mit einem Radius von zweitausend Metern kreisförmig über das Land. Es war wie ein gigantisches Zelt, dessen Mittelpunkt der Leichter bildete. Hier hatten der Padischah-Imperator Shaddam IV. und fünf Legionen seiner Sardaukar Quartier bezogen.

Gurney Halleck, der neben Paul auf dem felsigen Bogen kniete, meinte: »Ich zähle neun Ebenen. Offenbar hat er eine Menge Sardaukar mitgebracht.«

»Fünf Legionen«, sagte Paul.

»Es wird hell«, zischte Stilgar. »Sie dürfen dich nicht zu Gesicht zu bekommen, Muad'dib. Laß uns hinter die Felsen zurückgehen.«

»Ich bin hier völlig sicher«, erwiderte Paul.

»Das Schiff ist mit Projektilwaffen ausgerüstet«, sagte Gurney.

»Sie glauben also, daß wir Schilde tragen«, meinte Paul. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie auch nur einen einzigen Schuß für drei Leute verschwenden würden — selbst wenn sie uns sähen.«

Paul schaute mit dem Fernglas in eine andere Richtung des Beckens und ließ seinen Blick über die riesigen Felsklippen schweifen, unter denen die Gräber der Männer seines Vaters lagen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß alle diese getöteten Männer ihnen jetzt zusahen. Die von den Harkonnens beherrschten Forts und Dörfer, die jenseits des Schildwalls lagen, befanden sich bereits in den Händen der Fremen oder waren von der Außenwelt abgeschnitten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch das letzte von ihnen fallen würde. Der Gegner beherrschte nur noch die Stadt Arrakeen und dieses vor ihnen liegende Becken.

»Vielleicht riskieren sie mit ihren Thoptern einen Ausfall«, meinte Stilgar. »Falls sie uns entdecken.«

»Das sollen sie nur probieren«, nickte Paul. »Es würde ihnen nicht gut bekommen. Außerdem kommt ein Sturm auf.«

Er schwenkte das Fernglas nun auf das Landefeld der Stadt Arrakeen, wo die Fregatten der Harkonnens in einer Linie unter dem Banner der MAFEA-Gesellschaft standen. Er dachte daran, daß die Gilde nur diesen beiden Kampfgruppen eine Landeerlaubnis erteilt hatte, während die anderen Schiffe als Reserveeinheiten noch immer in einer Kreisbahn warteten. Dieses Verhalten erinnerte ihn an einen Mann, der die Temperatur des Sandes mit dem Zeh prüft, ehe er sich dazu entschließt, sein Zelt aufzubauen.

»Es gibt hier doch nichts mehr zu sehen außer dem, was wir schon wissen«, bemerkte Gurney. »Wir sollten uns jetzt wieder zurückziehen. Der Sturm kommt näher.«

Paul schenkte seine Aufmerksamkeit jetzt wieder der seltsamen Konstruktion, die das Sternenschiff umgab. »Sie haben sogar ihre Frauen mitgebracht«, meinte er. »Und Lakaien und Bedienstete. Seine Majestät scheint wirklich recht zuversichtlich zu sein.«

»Es kommen Männer über den geheimen Weg«, meldete Stilgar plötzlich. »Ich glaube es sind Otheym und Korba.«

»In Ordnung, Stil«, nickte Paul. »Gehen wir also zurück.«

Er blickte noch einmal auf das, was vor ihnen lag, studierte die Ebene mit all ihren Schiffen, die glitzernden Metallverstrebungen, die schweigend daliegende Stadt und die Fregatten der Harkonnen-Söldner. Dann kroch er rückwärts zurück zwischen die schützenden Felswände, und einer der Fedaykin übernahm Pauls Platz als Beobachter.

Er erreichte eine leichte Vertiefung in der Oberfläche des Schildwalls, die etwa dreißig Meter durchmaß und mehr als drei Meter tief war. Man hatte diesen Ort so gut getarnt, daß er von oben her nicht einzusehen war: ein in der Farbe den Felsen angepaßtes Kunststoffzelt überdachte das Lager völlig und verbarg es vor neugierigen Blicken. In einer kleineren Nische hatte man die Kommunikationsausrüstung untergebracht. Überall standen Fedaykin herum, die nur darauf warteten, daß Paul den Befehl zum Angriff gab.

Zwei Männer erschienen aus der Kommunikationsnische und sprachen mit den Wachen.

Paul nickte Stilgar zu und deutete mit dem Kopf auf die beiden Ankömmlinge. »Sie sollen dir berichten, Stil.«

Stilgar setzte sich gehorsam in Bewegung.

Paul setzte sich mit dem Rücken gegen eine Felswand, reckte und streckte sich. Er sah zu, wie Stilgar die beiden Männer in ein dunkles Felsenloch schickte und dachte an den dahinterliegenden Gang, der gerade groß genug war, um einen Mann hindurch zu lassen, der in die Ebene hinab wollte.

Stilgar kehrte zurück.

»Was war an ihrem Bericht so wichtig, daß sie es nicht wagten, einen Cielago mit der Botschaft zu betrauen?« wollte Paul wissen.

»Sie sparen sich ihre Vögel für die Schlacht auf«, erwiderte Stilgar. Er warf einen Blick auf die Funkgeräte, dann auf Paul. »Selbst ein gebündelter Strahl ist nicht so zuverlässig wie eine persönliche Nachrichtenübergabe. Es ist nicht gut, solche Geräte zu benutzen, Muad'dib. Wenn man sie zu lange einsetzt, kann man auch sie aufspüren.«

»Sie werden sehr bald zu beschäftigt sein, um überhaupt noch an mich zu denken«, entgegnete Paul. »Was hatten die Männer zu berichten?«

»Die beiden gefangenen Sardaukar sind am Fuße des Hügels freigelassen worden und befinden sich jetzt auf dem Weg zu ihrem Herrn. Die Raketenabschußbasen wurden verteilt. Die Männer warten nur noch auf ihren Einsatzbefehl. Alles ist in bester Ordnung.«

Paul warf einen Blick auf seine Männer, die sich im Halbdunkel der Zeltbespannung wie leise Schatten bewegten. Die Zeit verging zu langsam.

»Unsere beiden Sardaukar werden eine ganze Weile marschieren müssen, ehe sie sich bemerkbar machen können«, meinte Paul. »Sie werden doch beobachtet?«

»Sie werden beobachtet«, nickte Stilgar.

Gurney Halleck, der neben Paul auftauchte, räusperte sich. »Sollten wir uns nicht an einen sichereren Platz zurückziehen?«

»Einen solchen gibt es nicht«, entgegnete Paul. »Was sagt der Wetterbericht?«

»Der Sturm wird einer der schlimmsten sein, den wir je zu verzeichnen hatten«, sagte Stilgar. »Fühlst du es nicht, Muad'dib?«

»Die Anzeichen sind deutlich genug«, erwiderte Paul. »Aber ich verlasse mich dennoch lieber auf die Augen geschulter Beobachter.«

»In einer Stunde wird es losgehen«, meinte Stilgar. Er deutete durch einen Spalt des Zeltdaches auf das Landefeld hinunter. »Und die da unten wissen es auch. Sie haben ihre Thopter zurückgezogen und in Sicherheit gebracht. Zweifellos haben sie einen Wetterbericht von denen erhalten, die Arrakis noch umkreisen.«

»Keine weiteren Ausfälle mehr?« fragte Paul.

»Seit der Landung in der letzten Nacht nicht mehr«, schüttelte Stilgar den Kopf. »Sie wissen, daß wir hier sind. Ich nehme an, daß sie auf einen günstigen Zeitpunkt warten.«

»Diesen Zeitpunkt bestimmen wir«, meinte Paul.

Gurney wandte den Blick nach oben und brummte: »Falls sie uns lassen.«

»Die Flotte wird im Raum bleiben«, versicherte ihm Paul.

Gurney wiegte nachdenklich den Kopf.

»Sie haben keine andere Wahl«, führte Paul aus. »Immerhin sind wir in der Lage, das Gewürz zu vernichten. Die Gilde kann ein solches Risiko nicht eingehen.«

»Verzweifelte Menschen sind in der Regel am gefährlichsten«, warf Gurney ein.

»Sind wir denn nicht verzweifelt?« fragte Stilgar.

Gurney schaute ihn finster an.

»Du hast keine Ahnung vom Traum der Fremen«, sagte Paul zu Gurney. »Stil denkt an all die Wassermengen, die wir gesammelt haben. Und an die Zeit, die bisher aufgewendet wurde, um Arrakis zum Blühen zu bringen. Er ist nicht …«

»Arrrgh«, brummte Gurney.

»Warum ist er denn so geladen?« fragte Stilgar.

»Das ist er immer vor einer Schlacht«, lächelte Paul. »Das ist die einzige Art von Humor, die Gurney sich gestattet.«

Ein langsames, beinahe wölfisches Grinsen legte sich über Gurney Hallecks Züge. Er fletschte grinsend die Zähne. »Es tut mir so leid um all die armen Harkonnens, die heute sterben werden, ohne ihre Heimat noch einmal zu sehen«, meinte er.

Stilgar grinste ebenfalls. »Er redet jetzt wie ein Fedaykin.«

»Gurney ist das geborene Todeskommando«, erklärte Paul und dachte: Ja, es ist besser, wenn sie noch einige Minuten in guter Stimmung verbringen, ehe wir gegen die Harkonnens zu Felde ziehen. Er schaute zu dem Loch, das als Ausgang aus der Mulde diente, hinüber und warf dann Gurney einen Blick zu. Der alte Kämpe schien dumpf vor sich hinzubrüten.

»Überflüssige Besorgnis mindert die Kampfkraft«, murmelte er. »Das hast du mir einst gesagt, Gurney.«

»Das Hauptproblem, über das ich mir Sorgen mache, mein Herzog«, gab Gurney zu, »sind die Atomwaffen. Wenn Sie sie einsetzen wollen, um den gesamten Schildwall in die Luft zu jagen …«

»Die Flotte, die Arrakis umkreist, wird auf jeden Fall auf Atomwaffen verzichten«, erklärte Paul. »Sie werden es nicht wagen … weil sie auf jeden Fall verhindern wollen, daß wir das Gewürz vernichten.«

»Aber die Bestimmungen verbieten …«

»Die Bestimmungen!« brüllte Paul. »Es ist die Furcht und nicht irgendeine Bestimmung, die die Hohen Häuser davon abhält, Atomwaffen einzusetzen. Die Regeln der Großen Konvention sind eindeutig: ›Wer es wagt, Atomwaffen gegen Menschen einzusetzen, hat mit der Vernichtung seines Planeten zu rechnen.‹ Wir aber werden den Schildwall sprengen, sonst nichts.«

»Das ist in meinen Augen kein Unterschied«, sagte Gurney.

»Die Haarspalter dort oben werden das aber als Unterschied anerkennen«, erwiderte Paul. »Und jetzt laßt uns von etwas anderem reden.«

Er wünschte sich in diesem Augenblick, er könne seinen eigenen Worten Glauben schenken. Stilgar zugewandt, meinte er plötzlich: »Was ist mit den Leuten in der Stadt? Sind sie bereit?«

»Ja«, murmelte Stilgar.

Paul sah ihn an. »Was behagt dir daran nicht?«

»Ich habe noch keinen Städter getroffen, dem man hundertprozentig trauen konnte«, gab Stilgar zu.

»Ich war einst selbst ein Städter«, erwiderte Paul.

Stilgars Gestalt straffte sich. Er war verlegen. »Muad'dib weiß, daß ich nicht …«

»Ich weiß, was du meintest, Stil. Aber jetzt entscheiden keine Vermutungen mehr, sondern handfeste Taten. Die Stadtleute haben das Blut der Fremen in sich. Alles, was sie von uns unterscheidet, ist, daß sie nicht wissen, sich selbst zu befreien. Aber wir werden ihnen das noch beibringen.«

Stilgar nickte und sagte in einem reuevollen Tonfall: »Das Sein bestimmt das Bewußtsein, Muad'dib. Draußen in der Wüste haben wir die Städter immer für verweichlicht gehalten.«

Paul sah, daß Gurney Stilgar eingehend musterte. »Erzähle uns, warum die Sardaukar die Städter aus ihren Häusern vertrieben haben, Gurney.«

»Ein alter Trick, mein Herzog. Sie beabsichtigten, uns mit Flüchtlingen zu überschwemmen.«

»Der letzte Guerillakrieg liegt bereits so lange zurück, daß sie nicht einmal mehr wissen, wem ein solches Unterfangen nützt«, sagte Paul. »Die Sardaukar haben uns dadurch sogar noch in die Hände gespielt. Sie sind über die Frauen der Städter hergefallen, haben sie mißhandelt und vergewaltigt und diejenigen Männer, die sich dagegen zur Wehr setzten, umgebracht. Und damit haben sie sogar die Leute gegen sich aufgebracht, die sich bei einer normalen Auseinandersetzung abwartend verhalten hätten. Die Sardaukar sind wirklich die besten Werber für unsere Sache, Gurney.«

»Die Städter scheinen wirklich ziemlich bei der Sache zu sein«, gab Stilgar kleinlaut zu.

»Der Haß, den sie gegen die Harkonnens empfinden, ist eben erst erweckt worden«, sagte Paul. »Deswegen werden wir sie auch als Stoßtruppen einsetzen.«

»Eine Menge von ihnen werden dabei sterben«, gab Gurney zu bedenken.

Stilgar nickte zustimmend.

»Wir haben sie über nichts im unklaren gelassen«, führte Paul aus. »Sie wissen genau, daß jeder Sardaukar, den sie niedermachen ein Gegner weniger für uns ist. Ihr seht, meine Herren, daß es etwas gibt, wofür sie bereit sind zu sterben. Sie haben herausgefunden, daß sie ein Volk sind. Sie sind endlich aufgewacht.«

Der Posten mit dem Fernglas stieß einen leisen Warnruf aus. Paul ging zu seinem Standort an der Felsspalte hinüber und fragte: »Ist etwas?«

»Es gibt eine ziemlich große Aufregung dort unten beim Metallzelt«, zischte der Posten. »Ein Wagen traf soeben vom westlichen Randwall ein. Er hat ziemliches Aufsehen erregt.«

»Unsere Gefangenen sind also jetzt angekommen«, stellte Paul befriedigt fest.

»Sie haben einen Schild um das gesamte Landefeld gelegt«, sagte der Posten. »Man kann es am Tanzen der Luft erkennen, dort drüben, bei den Gewürzlagerschuppen.«

»Jetzt wissen sie, gegen wen sie kämpfen«, bemerkte Gurney. »Ich hoffe, sie werden das zitternd zu würdigen wissen.«

Paul sagte zu dem Posten:

»Achte auf den Flaggenmast auf dem Schiff des Imperators. Wenn meine Flagge dort weht …«

»Dazu wird es nicht kommen«, warf Gurney ein.

Paul sah Stilgars gerunzelte Stirn und fuhr fort: »Wenn der Imperator meinen Anspruch anerkennt, wird er das dadurch zu erkennen geben, daß er die Flagge der Atreides hissen läßt. In diesem Fall gehen wir zu unserem zweiten Plan über und richten uns ausschließlich gegen die Harkonnens. Dann werden sich auch die Sardaukar heraushalten.«

»Ich habe, was diese Außenweltgeschäfte angeht, keinerlei Erfahrung«, gab Stilgar zu. »Ich habe zwar von ihnen gehört, aber es scheint mir unwahrscheinlich, daß …«

»Um sich auszurechnen, was sie tun, braucht man keine Erfahrung«, warf Gurney ein.

»Sie ziehen jetzt eine neue Flagge an dem großen Schiff auf«, meldete der Posten. »Sie ist gelb, mit schwarzen und roten Kreisen in der Mitte.«

»Das ist ja etwas völlig Neues«, gab Paul zu. »Die Flagge der MAFEA-Gesellschaft.«

»Es ist die gleiche wie auf allen anderen Schiffen«, sagte der Posten.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Stilgar.

»Das ist in der Tat ungewöhnlich«, gab auch Gurney zu. »Hätte der Imperator das Banner der Atreides hissen lassen, hätte er sich auch danach richten müssen. Aber es sind zu viele Beobachter in der Gegend. Er hätte auch die Harkonnen-Flagge aufziehen lassen können. Aber nein — er nimmt die der MAFEA. Und er sagt den Leuten dort oben damit …«, Gurney zeigte auf den Himmel, »… wo der Profit zu machen ist. Er deutet damit an, daß es ihm egal ist, ob sich hier ein Atreides befindet oder nicht.«

»Wie lange dauert es noch, bis der Sturm den Schildwall erreicht?« fragte Paul.

Stilgar wandte sich ab, stellte dem Fedaykin an den Geräten eine Frage und kehrte zurück. »Es dauert nicht mehr lange, Muad'dib. Er nähert sich schneller, als wir zuerst angenommen haben. Er wird schreckliche Ausmaße haben. Vielleicht größere, als wir uns wünschten.«

»Es ist mein Sturm«, sagte Paul und sah die Spannung auf den Gesichtern der ihn umgebenden Kämpfer. »Und selbst, wenn er die ganze Welt zum Erzittern bringt, kann er nicht so stark sein, wie ich ihn mir wünsche. Wird er den Schildwall mit voller Kraft treffen?«

»Er wird nahe genug herankommen, um einen Unterschied nicht merkbar werden zu lassen«, erwiderte Stilgar.

Aus dem Loch, das in das Becken hinausführte, kroch ein Kurier und sagte: »Die Patrouillen der Sardaukar und Harkonnens ziehen sich zurück, Muad'dib.«

»Sie rechnen vermutlich damit, daß der Sturm die Sicht für uns erheblich verschlechtern wird«, vermutete Paul. »Ihr müßt, sobald der Sturm ihren Schild zerstört hat, sofort jeden einzelnen Schiffsbug treffen.« Er schob das Zeltdach beiseite und schaute zum Himmel hinauf, wo die ersten Anzeichen des Sturms bereits deutlich zu erkennen waren. Schließlich verschloß er das Dach wieder und meinte: »Fange jetzt damit an, unsere Leute hinunter zu schicken, Stil.«

»Wirst du nicht mit uns gehen?« fragte Stilgar.

»Ich werde mit den Fedaykin noch ein wenig warten«, gab Paul zurück.

Stilgar zuckte die Achseln und begab sich in die Felsenöffnung hinein, deren Dunkelheit ihn augenblicklich verschluckte.

»Den Zünder, der den Schildwall in die Luft sprengt, überlasse ich dir, Gurney«, sagte Paul. »Ich weiß, daß er bei dir in guten Händen ist.«

»In Ordnung«, sagte Halleck.

Paul winkte einem seiner Unterführer und sagte: »Otheym, sorge dafür, daß unsere Leute sich aus den gefährlichen Gebieten zurückziehen, bevor der Sturm sie erreicht.«

Der Mann verbeugte sich und folgte Stilgar.

Gurney, der sich in der Felsspalte gegen die Wand lehnte, sagte zu dem Beobachtungsposten: »Halte deinen Blick hauptsächlich nach Süden gerichtet. Die Felswand dort wird bis zu ihrer Sprengung völlig unverteidigt sein.«

»Verseht einen Cielago mit einem Zeitsignal«, ordnete Paul an.

»Einige Fahrzeuge bewegen sich auf den südlichen Wall zu«, meldete der Beobachter. »Sie setzen Projektilwaffen ein, möglicherweise testen sie sie. Unsere Leute tragen Körperschilde, wie befohlen. Die Fahrzeuge stoppen jetzt.«

In der plötzlichen Stille konnte Paul jetzt den sich nähernden Sturm hören. Sand drang durch undichte Stellen in der Zeltdecke ein. Ein unerwartet starker Windstoß riß mit einem Ruck die ganze Überdachung weg.

Paul gab seinen Fedaykin mit einer Handbewegung den Befehl, Deckung zu suchen, und lief zu den Leuten, die immer noch an den Kommunikationsgeräten saßen. Gurney war sofort neben ihm.

Einer der Kommunikanten sagte: »Einen solchen Sturm habe ich noch nie erlebt, Muad'dib!«

Paul warf einen schnellen Blick auf den sich verdunkelnden Himmel. »Gurney, sorg' dafür, daß die Beobachter vom Südwall zurückgezogen werden.«

Er mußte seinen Befehl mit größter Lautstärke wiederholen, damit man ihn im Tosen der Naturgewalten überhaupt noch verstand.

Gurney gehorchte und verschwand.

Paul vermummte sein Gesicht und befestigte die Kapuze des Destillanzuges.

Gurney kehrte zurück.

Paul berührte seine Schulter und gab ihm zu verstehen, daß er dafür sorgen sollte, den Zünder ebenfalls, genauso wie die Kommunikanten, in dem Tunnel unterzubringen, durch den Stilgar und Otheym verschwunden waren. Gurney tat wie ihm geheißen. Am Eingang verharrte er, behielt die Hand am Drücker und sah Paul fragend an.

»Es kommt nichts mehr durch«, sagte einer der Kommunikanten. »Die Luft ist statisch zu sehr aufgeladen.«

Paul nickte und sah auf die Standarduhr. Dann hob er die Hand. Gurney verstand. Der Zeiger begann sich langsam in Bewegung zu setzen.

»Jetzt!« schrie Paul.

Gurney drückte den Zündknopf.

Es war, als benötigte die Detonation eine ganze Sekunde, ehe sie den Boden unter ihnen zum Vibrieren brachte. In das Aufheulen des Sturms hinein entlud sich ein grollender Donner.

Der Beobachtungsposten stand plötzlich neben Paul und hielt das Fernglas in der Hand. »Der Schildwall ist zusammengebrochen, Muad'dib!« schrie er aufgeregt. »Jetzt hat der Sturm sie erreicht! Und unsere Kanoniere haben ihnen eine volle Breitseite gegeben!«

Paul stellte sich die Sturmwellen vor, wie sie den Sand vor sich her trieben, der jeden Schild zum Zusammenbrechen brachte.

»Der Sturm!« schrie jemand. »Wir müssen in Deckung gehen, Muad'dib!«

Paul kam erst wieder zu klaren Gedanken, als die feinen Sandkörner seine Wangen gleich heißen Nadelstichen trafen. Wir haben erst angefangen, dachte er, legte einen Arm um die Schultern des Kommunikanten und rief: »Laßt die Ausrüstung hier liegen. Wir haben genügend Reserven im Tunnel!« Dann fühlte er sich wie in einer Woge hinweggetragen, war von Fedaykin umdrängt, die ihn abschirmten und beschützten. Sie zwängten sich durch die Tunnelöffnung, erreichten stillere Bezirke und kamen in eine größere Kammer, in der Leuchtgloben schienen und von der aus ein weiterer Gang abzweigte.

Hier saß auch ein weiterer Kommunikant an den Geräten.

»Nicht viel zu machen«, sagte der Mann.

Eine Sandwolke überschüttete sie.

»Versiegelt den Tunneleingang, schnell!« rief Paul. Die darauffolgende Windstille zeige ihm, daß man seiner Anweisung augenblicklich Folge leistete. »Ist der Weg nach unten noch offen?« fragte er.

Einer der Fedaykin machte sich sofort auf den Weg, um nachzusehen. Zurückgekehrt sagte er: »Die Explosion hat einige Stellen zum Einsturz gebracht, aber die Techniker meinen, man könne ihn durchaus noch als offen bezeichnen. Sie sind im Moment dabei, den Weg mit Laserstrahlen freizumachen.«

»Sage ihnen, sie sollen gefälligst ihre Hände dazu benutzen«, rief Paul zurück. »Es gibt hier einige aktivierte Schilde!«

»Sie passen schon auf«, sagte der Fedaykin und machte sich erneut auf den Weg.

Jetzt tauchten auch die Kommunikanten von draußen auf, die ihre Ausrüstung zwischen sich trugen.

»Ich habe diesen Männern gesagt, daß sie die Ausrüstung draußen lassen sollen!« sagte Paul heftig.

»Fremen sind nicht dazu zu bewegen, Ausrüstungsgegenstände liegenzulassen, Muad'dib«, erwiderte einer der Männer.

»Menschenleben sind jetzt wichtiger als Ausrüstungsgegenstände«, sagte Paul. »Wir werden bald über mehr Ausrüstung verfügen, als wir überhaupt je einsetzen können.«

Gurney Halleck näherte sich ihm und sagte: »Ich hörte, daß der Weg nach unten offen sein soll. Wir befinden uns hier sehr nahe an der Oberfläche, Mylord, falls es den Harkonnens einfallen sollte, einen Vergeltungsschlag zu führen.«

»Sie sind nicht in der Lage, so etwas zu tun«, erwiderte Paul. »Im Moment werden sie damit beschäftigt sein, festzustellen, daß sie über keine Schilde mehr verfügen und Arrakis nicht mehr verlassen können.«

»Der neue Befehlsstand ist vorbereitet worden«, fuhr Gurney halsstarrig fort.

»Dafür haben wir im Moment noch keine Verwendung«, sagte Paul. »Auch ohne meine Mitwirkung geht jetzt alles seinen programmierten Gang. Wir werden warten bis …«

»Ich habe eine Nachricht aufgefangen, Muad'dib«, rief der Kommunikant von seinen Geräten herüber. Der Mann schüttelte den Kopf und drückte den Kopfhörer gegen die Ohren. »Verdammte Störungen!«

Er begann auf ein Stück Papier zu schreiben, schüttelte erneut den Kopf, schrieb, wartete, schrieb …

Paul stellte sich neben den Mann und sah ihm über die Schulter. Der Fedaykin rückte etwas zur Seite und machte ihm Platz. Paul starrte auf den Zettel und die Worte, die der Mann geschrieben hatte.

»Überfall … auf Sietch Tabr … Gefangene … Alia (unverständlich) … Familie der (unverständlich) … sind tot (unverständlich) … Muad'dibs Sohn …«

Erneut schüttelte der Kommunikant den Kopf.

Paul blickte auf und bemerkte, daß Gurney ihn anstarrte.

»Die Nachricht ist verstümmelt«, wandte Gurney ein. »Die Störungen. Du weißt nicht, ob …«

»Mein Sohn ist tot«, sagte Paul und wußte, daß das, was er sagte, der Wahrheit entsprach. »Mein Kind ist tot … und Alia ist gefangengenommen worden … als Geisel.« Er fühlte sich leer, wie eine Muschel, ohne Emotionen. Alles, was er anfaßte, zog Tod und Trauer nach sich, wie eine Krankheit, die sich über das Universum ausbreitete.

Er war plötzlich in der Lage, die Gedanken eines Greises zu verstehen, die Ansammlung von Erfahrungen aus zahllosen verschiedenen Leben. Irgend etwas schien in ihm zu sein, das ihn mit knöcherner Hand betastete.

Und er dachte: Wie wenig weiß das Universum doch über die wahre Natur der Grausamkeit!

10

Und als Muad'dib vor ihnen stand, sagte er: »Auch wenn wir die Gefangene für tot halten, so lebt sie doch, weil sie von meinem Fleische ist und meiner Stimme. Und sie schaut zu den fernsten Grenzen der Möglichkeiten. Ja, selbst das Unmögliche schaut sie, durch mich.«

Aus ›Arrakis erwacht‹, von Prinzessin Irulan.


Baron Wladimir Harkonnen stand mit demütig gesenkten Augen im kaiserlichen Audienzzimmer, dem ovalen Selamlik, in den der Padischah-Imperator ihn hatte rufen lassen. Mit verhehlten Blicken musterte er den von Metallwänden umgebenen Raum und die Leute, die sich in ihm befanden — die Noukker, die Pagen, die Wächter und den Sardaukartrupp, der sich an den Wänden entlang verteilt hatte. Über ihnen hingen die zerfetzten, angesengten und teilweise blutigen Flaggen, die man erbeutet hatte. Sie stellten die einzige Dekoration des Audienzraumes dar.

Von rechts aus einem Nebenraum erklangen plötzlich Stimmen: »Macht Platz! Macht Platz für den Herrscher!«

Der Padischah-Imperator betrat das Audienzzimmer durch einen Nebeneingang. Ein ganzes Rudel seiner Höflinge folgte ihm. Er wartete, bis man seinen Thron aufgestellt hatte und ignorierte währenddessen nicht nur den Baron, sondern praktisch jeden, der sich in seiner Umgebung aufhielt.

Der Baron, unfähig den Herrscher seinerseits ebenfalls zu ignorieren, musterte den Mann und versuchte an seinem Habitus den Grund für seine Vorladung zu erkennen. Der Imperator sagte jedoch nichts. Er stand nur da, ein schlanker, eleganter Mann in einer grauen Sardaukar-Uniform mit silbernen und goldenen Litzen. Sein schmales Gesicht und die grauen Augen erinnerten den Baron mit ihrem kalten Blick an den verstorbenen Herzog Leto. Es war der Blick eines prähistorischen Raubvogels. Aber das Haar des Imperators war rot, nicht schwarz, auch wenn das meiste davon unter dem Helm eines Burseg verborgen lag, auf dem sich das kaiserliche Wappen befand.

Die Pagen brachten jetzt den Thron. Es war ein schwerer Sessel, den man aus einem einzigen Stück Hagalquarz herausgeschnitten hatte. Er leuchtete blaugrün und gelb. Sie stellten ihn dort auf, wo der Imperator ihn haben wollte, und er setzte sich hinein.

Eine alte Frau in einer schwarzen Aba-Robe löste sich aus dem Gefolge und nahm Aufstellung hinter dem Thron. Sie legte eine faltige, dürre Hand auf die Rückenlehne und musterte mit einem fast karikaturenhaften Hexengesicht die Anwesenden. Sie besaß eine lange Nase, tief in den Höhlen liegende Augen und eine blasse Haut, darunter bläulich leuchtende Adern.

Die Anwesenheit der alten Hexe trug nicht dazu bei, das Selbstvertrauen des Barons zu steigern. Im Gegenteil: wenn es jemand zu fürchten gab, war es die Ehrwürdige Mutter Gaius Helen Mohiam, die Wahrsagerin des Imperators. Allein an ihrer Anwesenheit konnte man die Wichtigkeit dieser Audienz erkennen. Den Rest des Gefolges musterte der Baron lediglich aus den Augenwinkeln: zwei Agenten der Gilde, von denen der eine groß und fett, und der andere klein und fett war. Beide glotzten mit nichtssagenden, grauen Augen. Zwischen den Lakaien stand eine der Töchter des Imperators: Prinzessin Irulan, eine Frau, der man nachsagte, daß auch sie die Ausbildung der Bene Gesserit erhalten hatte und die angeblich einmal eine Ehrwürdige Mutter sein würde. Sie war von hochgewachsener Gestalt, blond und hatte ein hübsches Gesicht, das überheblich über den Baron hinwegsah.

»Mein lieber Baron.«

Der Imperator hatte sich also entschlossen, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Seine Stimme war ein sanfter Bariton, und er hatte sie offensichtlich sehr gut unter Kontrolle.

Baron Harkonnen verbeugte sich tief und achtete sorgfältig darauf, daß er die vorgeschriebenen zehn Schritte Abstand hielt. »Ich bin Ihrem Ruf gefolgt, Majestät.«

»Ruf!« gackerte die alte Hexe.

»Ich bitte Euch, Ehrwürdige Mutter«, erwiderte der Imperator, und über das offensichtliche Unbehagen des Barons hinweglächelnd, sagte er: »Erzählen Sie uns doch zuerst, wohin Sie Ihren wertvollen Thufir Hawat geschickt haben.«

Der Baron schickte verzweifelte Blicke nach rechts und links und wünschte sich, seine Leibwächter mitgebracht zu haben, auch wenn sie nicht viel gegen die aufmarschierten Sardaukar hätten ausrichten können.

»Ich höre«, sagte der Imperator.

»Er ist jetzt seit fünf Tagen fort, Majestät«, erwiderte der Baron schnell und musterte rasch die Agenten der Gilde. »Er hatte den Auftrag, bei den Schmugglern zu landen und von dort aus den Versuch zu unternehmen in das Lager dieses fanatischen Predigers Muad'dib einzudringen.«

»Unglaublich!« stieß der Imperator hervor.

Die klauenartige Hand der alten Hexe legte sich auf die Schulter des Imperators. Sie beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Der Imperator nickte und sagte: »Fünf Tage ist er also bereits verschwunden. Sagen Sie, machen Sie sich denn überhaupt keine Sorgen über sein Ausbleiben?«

»Aber ich mache mir Sorgen, Majestät!«

Der Imperator starrte ihn weiterhin an, während die alte Hexe glucksende Laute der Erheiterung von sich gab.

»Ich wollte damit andeuten, Majestät«, fuhr der Baron fort, »daß Hawat ohnehin innerhalb der nächsten Stunden stirbt.« Er beschrieb das latente Gift, von dem Hawat abhängig war und dessen Wirkung.

»Wie gerissen von Ihnen, Baron«, erwiderte der Imperator.

»Und wo befinden sich Ihre Neffen Rabban und Feyd-Rautha?«

»Der Sturm wird bald losbrechen, Majestät. Ich habe beide mit der Inspektion unserer Vorposten beauftragt, damit die Fremen nicht im Schutz des Unwetters angreifen können.«

»Ach was«, sagte der Imperator verächtlich. »Wir werden von diesem Sturm kaum etwas mitbekommen, solange wir uns hier aufhalten. Diese Fremenbrut wird es sowieso nicht wagen, anzugreifen, solange ich mich mit fünf Legionen Sardaukar hier aufhalte.«

»Natürlich nicht, Majestät«, beeilte sich der Baron zu versichern, »aber gutgemeinte Vorsichtsmaßnahmen kann man schlecht tadeln.«

»Aha«, sagte der Herrscher. »Tadeln. Dann soll ich also vermeiden, darüber zu sprechen, wieviel Zeit und Geld mich dieser ganze Arrakis-Unsinn bereits gekostet hat? Oder wie wenig die MAFEA in letzter Zeit aus diesem Planeten herausgepreßt hat? Und auch nicht von den Veranstaltungen bei Hof, die ich verschieben — oder gar absagen mußte, bloß weil dieser Unsinn meine Zeit auffrißt?«

Der Baron senkte erneut den Blick. Die Wut des Kaisers flößte ihm Furcht ein. Seine Position war im Moment mehr als unsicher, das sah er ein. Er konnte nur auf die Große Konvention und die Dictum Familia vertrauen.

Hat er vor, mich umbringen zu lassen? fragte er sich. Das kann er nicht tun! Jedenfalls nicht, solange die Flotte der anderen Häuser um Arrakis kreist und darauf wartet, aus diesem angeblichen Unsinn Gewinn zu ziehen.

»Haben Sie Geiseln genommen?« fragte der Imperator.

»Das ist zwecklos, Majestät«, erwiderte der Baron. »Sobald wir jemanden gefangennehmen, halten diese Fremen sofort eine Trauerfeier ab. Gefangene sind für sie bereits gestorben.«

»Tatsächlich?« fragte der Imperator.

Der Baron wartete, schaute nach rechts und links, musterte die metallenen Wände des Selamliks, die einen solchen Reichtum repräsentierten, daß sogar er davon eingeschüchtert wurde. Er hat alles mitgebracht, dachte er, vom Pagen bis zur Konkubine. Unter seinen Leuten sind Diener und Friseure, Schneider und deren Anhang und Frauen. Die ganzen höfischen Parasiten und Speichellecker. Alle sind sie hier, intrigieren und schmarotzen, weil sie darauf warten, daß er dieser Affäre ein Ende bereitet, damit sie anschließend darüber auf ihren idiotischen Partys schwätzen können.

»Möglicherweise haben Sie nie die richtigen Geiseln genommen«, sagte der Imperator plötzlich.

Er weiß etwas, vermutete der Baron. Die Angst saß plötzlich wie ein Stein in seinem Magen, und er konnte den Gedanken an etwas zu essen kaum noch unterdrücken. Ja, das Gefühl erinnerte ihn an den Hunger, der ständig in ihm brannte. Er hätte alles für eine Mahlzeit gegeben, aber zur Zeit befand sich niemand in der Nähe, der seinen Anweisungen gefolgt wäre.

»Haben Sie irgendeine Vermutung, wer dieser Muad'dib sein könnte?« fragte der Imperator.

»Bestimmt ein Angehöriger der Umma«, erwiderte der Baron. »Ein fremenitischer Fanatiker, ein religiöser Abenteurer. Man hat regelmäßig mit solchen Spinnern zu tun, wenn man sich am Rande der Zivilisation aufhält. Aber das brauche ich Eurer Majestät nicht zu erklären.«

Der Imperator tauschte einen Blick mit der Wahrsagerin und sah den Baron dann finster an. »Und sonst wissen Sie wirklich nichts über diesen Muad'dib?«

»Es ist ein Verrückter«, versicherte der Baron. »Alle diese Nomaden sind nicht ganz normal.«

»Ein Verrückter?«

»Die Fremen rufen seinen Namen, wenn sie sich in eine Schlacht stürzen. Sogar ihre Frauen … sie werfen uns ihre Babys entgegen und rennen in unsere Messer, bloß um eine Bresche in unsere Reihen zu schlagen, damit ihre Männer um so besser nachsetzen können. Sie haben überhaupt keinen — Selbsterhaltungstrieb.«

»Das ist ja wirklich schrecklich«, erwiderte der Imperator zynisch. »Sagen Sie mal, mein lieber Baron, haben Sie je den Versuch unternommen, die südlichen Polarregionen von Arrakis zu erforschen?«

Die Tatsache, daß der Imperator so plötzlich das Thema wechselte, verwirrte den Baron zutiefst. Verlegen stotterte er: »Äh, nun, Majestät … Sie müssen wissen, daß die gesamte Südregion unbewohnbar ist … und daß es dort von Würmern nur so wimmelt. Man hat dort keinerlei … äh … Schutz vor den Stürmen und … es gibt dort auch kein Gewürz.«

»Sie haben also noch nichts davon gehört, daß es dort unten grüne Zonen geben soll?«

»Es hat schon immer solche Berichte gegeben, Majestät. Vor langer Zeit hat man Vorstöße in diese Gebiete unternommen. Man hat ein paar Grünpflanzen gesehen, aber die vielen Thopter, die man bei diesen Erkundungsreisen verloren hat, haben uns zu der Ansicht gelangen lassen, daß derartige Unternehmungen zu kostspielig sind, um sie fortzusetzen. Es ist einfach so, daß die Südregion von Arrakis zu unwirtlich ist, um dort Menschen anzusiedeln.«

»Soso«, meinte der Imperator. Er schnippte mit den Fingern, und links von seinem Thron öffnete sich eine Tür. Zwei Sardaukar, die ein etwa vier Jahre altes Mädchen zwischen sich führten, traten ein. Das Kind trug eine schwarze Aba, hatte die Kapuze seiner Robe zurückgeschlagen. Seine Augen besaßen die typische volle Bläue der Fremen und starrten die Anwesenden aus einem runden, weichen Gesicht an. Dem Baron fiel sofort auf, daß das Mädchen keinerlei Angst verspürte — und dies erzeugte in ihm ein seltsames Gefühl, für das er keine Worte fand.

Selbst die alte Wahrsagerin zuckte zurück, als das Mädchen an ihr vorbeigeführt wurde. Sofort machte sie das abwehrende Zeichen gegen den bösen Blick. Es war offensichtlich, daß die alte Hexe ebenfalls Angst hatte.

Der Imperator räusperte sich, aber bevor er etwas sagen konnte, öffnete das kleine Mädchen den Mund und sagte in einem klaren, wenn auch einem kindhaften Lispeln ähnlichen Tonfall: »Das ist er also.« Sie ging bis an den Rand des Throns heran, musterte den Baron und meinte: »Er ist wirklich nicht mehr als ein fetter alter Mann, der seine Massen nur mit Hilfe von Suspensoren in Bewegung bringen kann.«

Der Baron war über diese Feststellung aus dem Mund eines Kindes derart beeindruckt, daß er sich nicht in der Lage fühlte, zu antworten. Sprachlos starrte er sie an, während die Wut in ihm aufstieg. Ist es eine Zwergin? fragte er sich.

»Mein lieber Baron«, sagte der Imperator, »ich mochte Sie mit der Schwester des Muad'dib bekannt machen.«

»Der Schwes…« Der Baron verstummte und starrte seinen Herrscher an. »Ich verstehe nicht.«

»Ich gehöre ebenfalls zu jenen Menschen, die anständig getroffene Vorsichtsmaßnahmen zu schätzen wissen«, eröffnete ihm der Imperator. »Mir wurde berichtet, daß Ihre angeblich unbewohnten Südregionen eine ganze Menge Anzeichen menschlicher Besiedlung zeigen.«

»Aber … das ist unmöglich!« protestierte der Baron heftig. »Die Würmer … es ist doch klar, daß dort …«

»Die Fremen scheinen da anderer Meinung zu sein«, sagte der Imperator.

Das kleine Mädchen hatte sich auf den Rand des Podiums gesetzt, auf dem der kaiserliche Thron stand und ließ die Beine herunterbaumeln. Offenbar war sie von ihrer Umgebung nicht im geringsten beeindruckt.

Der Baron starrte verwirrt auf die baumelnden Beine. Das Kind trug Sandalen.

»Unglücklicherweise«, fuhr der Imperator unbeeindruckt fort, »habe ich nur fünf Truppentransporter ausgeschickt, um einige Gefangene zu machen. Zurückgekehrt ist nur ein einziger Transporter. Und mit ihm drei Gefangene. Können Sie sich vorstellen, Baron, daß meine Sardaukar von einer Gruppe von Frauen, Kindern und Greisen überwältigt wurden? Dieses Kind hier kommandierte eine Truppe!«

»Da sehen Sie es«, keuchte der Baron entsetzt. »Jetzt wissen Sie es selbst, wie diese Leute sind!«

»Ich habe mich freiwillig in Gefangenschaft begeben«, sagte das Kind plötzlich. »Ich wußte nicht, wie ich vor meinen Bruder treten und ihm sagen sollte, daß sein Sohn nicht mehr lebt.«

»Nur eine Handvoll meiner Männer konnte entkommen«, sagte der Imperator. »Entkommen! Sagt Ihnen das etwas?«

»Wir hätten sie auch noch erwischt«, sagte das Mädchen. »Nur die Flammen haben uns zu schaffen gemacht.«

»Meine Männer setzten die Triebwerke ihrer Maschinen als Flammenwerfer ein«, erklärte der Imperator. »Es war die letzte, verzweifelte Anstrengung, die sie unternehmen konnten. Stellen Sie sich das vor, Baron: Meine Sardaukar waren gezwungen, sich vor einer Horde Frauen, Kinder und Greisen zurückzuziehen!«

»Wir müssen unsere Kräfte sammeln«, keuchte der Baron. »Wir müssen sie ausrotten und jeden einzelnen …«

»Schweigen Sie!« brüllte der Imperator und stand auf. »Beleidigen Sie meine Intelligenz nicht noch mehr! Sie wagen es, sich in kindlicher Naivität hinzustellen und …«

»Majestät«, sagte die alte Wahrsagerin.

Der Imperator gab ihr mit einem Wink zu verstehen, daß sie schweigen solle. »Sie behaupten also, nichts davon zu wissen, wie stark die Fremen sind und wie meisterhaft sie kämpfen? Für wie dumm halten Sie mich eigentlich, Baron?«

Harkonnen tat zwei angsterfüllte Schritte zurück, während die Gedanken durch seinen Kopf rasten. Es war Rabban. Nur Rabban kann mir das angetan haben. Rabban hat …

»Und Ihre angebliche Fehde mit Herzog Leto«, fuhr der Imperator, sich wieder hinsetzend, fort. »Das war wahrlich Ihr Meisterstück!«

»Majestät«, flehte der Baron. »Was glauben Sie …«

»Schweigen Sie!«

Die alte Bene Gesserit legte erneut eine Hand auf die Schulter des Herrschers und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Das kleine Mädchen hörte jetzt auf, die Beine baumeln zu lassen und sagte statt dessen: »Jag ihm noch mehr Angst ein, Shaddam. Ich weiß zwar, daß man sich über so etwas nicht freuen sollte, aber ich kann diesen Genuß einfach nicht unterdrücken.«

»Sei still, Kind«, sagte der Imperator. Er beugte sich vor, legte eine Hand auf den Kopf des Mädchens und starrte erneut den Baron an. »Halten Sie das für möglich, Baron? Sind Sie wirklich ein solcher Dummkopf, wie meine Wahrsagerin behauptet? Erkennen Sie in diesem Kind wirklich nicht die Tochter Ihres ehemaligen Verbündeten Herzog Leto?«

»Mein Vater war niemals sein Verbündeter«, sagte das Kind. »Mein Vater ist tot, und was dieses alte Harkonnen-Ungeheuer angeht, so hat es mich nie zuvor gesehen.«

Der Baron starrte das Mädchen wie gelähmt an. Als er seine Stimme endlich wiederfand, keuchte er:

»Wer?«

»Ich bin Alia, die Tochter von Herzog Leto und Lady Jessica, die Schwester von Paul-Muad'dib«, erwiderte das Mädchen. Sie zog sich auf das Podium hinauf und sprang dann auf den tiefer liegenden Boden des Audienzzimmers. »Mein Bruder hat sich geschworen, Ihren Kopf eines Tages auf der Spitze seiner Flagge aufgespießt vor sich herzutragen — und ich glaube, er wird das auch schaffen.«

»Sei still, Kind«, wiederholte der Imperator. Er lehnte sich in seinen Thron zurück, stützte mit einem Arm seinen Kopf und schaute abwartend den Baron an.

»Die Anweisungen des Imperators betreffen mich nicht«, sagte das Kind. Es wandte sich um, zeigte mit ausgestreckter Hand auf die Wahrsagerin und fügte hinzu: »Sie weiß warum.«

»Was meint sie damit?« fragte der Imperator und sah die Wahrsagerin neugierig an.

»Dieses Kind ist mir ein Greuel!« stieß die alte Frau keuchend hervor. »Seine Mutter verfügt über eine Kraft, die größer ist als jede zuvor in der Geschichte der Menschheit! Tod! Er kann gar nicht schnell genug zu diesem Kind oder zu der, die sie mit diesen Kräften ausgestattet hat, kommen!« Die Alte deutete mit einem Finger auf Alia und krächzte: »Hinaus! Verschwinde aus meinem Bewußtsein!«

»T-P?« flüsterte der Imperator erschreckt. Er starrte Alia an. »Bei der Großen Mutter!«

»Sie verstehen nicht, Majestät«, sagte die alte Frau. »Es handelt sich nicht um Telepathie. Sie ist in meinem Bewußtsein. Sie ist wie die, die vor mir waren; wie jene, die mir ihre Erinnerungen gaben. Sie ist in meinem Bewußtsein! Sie kann normalerweise gar nicht dort sein — aber sie ist es trotzdem!«

»Welche anderen?« fragte der Imperator verständnislos. »Was soll dieser Unfug?«

Die alte Frau straffte ihre Gestalt und senkte die ausgestreckte Hand. »Ich habe schon zuviel geredet, aber die Tatsache ist, daß dieses Kind kein Kind ist und vernichtet werden muß. Wir sind lange darauf vorbereitet worden und haben eine solche Geburt erwartet — aber wir hätten niemals erwartet, daß es eine der unserigen ist, die uns betrügen wird.«

»Du schwätzt zuviel, alte Frau«, sagte Alia. »Obwohl du keine Ahnung hast, wie es geschehen ist, führst du dich hier auf wie eine in die Ecke getriebene Klapperschlange. Das beweist deine Blindheit.« Alia schloß die Augen und hielt den Atem an.

Die alte Ehrwürdige Mutter stöhnte und keuchte.

Alia öffnete die Augen wieder. »So war es«, erklärte sie. »Es war ein Zufall kosmischen Ausmaßes, und auch du hast deine Rolle darin gespielt.«

Die Ehrwürdige Mutter hielt jetzt beide Hände weit von sich gestreckt. Ihre Handflächen tasteten hilflos in der Luft herum.

»Was wird hier gespielt?« verlangte der Imperator zu wissen. »Bist du wirklich in der Lage, deine Gedanken in die Köpfe anderer Menschen zu übertragen, Kind?«

»Das hat damit gar nichts zu tun«, erwiderte Alia. »Da ich nicht als du geboren bin, kann ich auch nicht wie du denken.«

»Bringt sie um«, murmelte die alte Frau und hielt sich an der Rückenlehne des Throns fest, um nicht umzusinken. »Bringt sie um!« Ihre eingefallenen alten Augen starrten Alia in offensichtlicher Furcht an.

»Still«, verlangte der Imperator. Er schaute Alia näher an und sagte dann: »Bist du in der Lage, mit deinem Bruder Verbindung aufzunehmen?«

»Mein Bruder weiß, daß ich hier bin«, erwiderte Alia.

»Kannst du ihm mitteilen, daß ich dich nur dann leben lasse, wenn er sich ergibt?«

Alia lächelte unschuldig. »Das werde ich nicht tun«, sagte sie einfach.

Der Baron machte ein paar Schritte vorwärts und blieb neben Alia stehen. »Majestät«, flehte er, »ich weiß nichts von …«

»Wenn Sie mich noch einmal unterbrechen, Baron«, sagte der Imperator sanft, »wird das das letztemal sein, das verspreche ich Ihnen.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Alia zu und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Du willst also nicht, wie? Kannst du vielleicht in meinen Gedanken lesen, was mit dir geschieht, wenn du dich meinen Befehlen widersetzt?«

»Ich habe bereits gesagt, daß ich keine Gedanken lesen kann«, entgegnete Alia. »Aber um deine Absichten zu erkennen, braucht man auch keine lesen zu können.«

Der Imperator sah sie finster an. »Du scheinst mir ein hoffnungsloser Fall zu sein, mein Kind. Ich brauche nur meine Truppen zu sammeln, und dann kann ich aus diesem Planeten ein …«

»So einfach ist das nun auch wieder nicht«, unterbrach ihn Alia. Sie warf den beiden Vertretern der Gilde einen Blick zu. »Vorher solltest du diese Männer befragen.«

»Es zeugt nicht gerade von Weisheit, sich meinen Anordnungen zu widersetzen«, sagte der Imperator.

»Mein Bruder wird bald hier sein«, sagte Alia. »Und selbst ein Imperator wird, sobald er auftaucht, anfangen zu zittern.«

Der Imperator sprang auf. »Das reicht mir jetzt. Wenn ich deinen Bruder zwischen die Finger bekomme, werde ich ihn mitsamt seinem Planeten zu Staub zermah…«

Der Boden unter ihren Füßen begann plötzlich heftig zu schwanken. Hinter dem Thron, wo die glatte Außenhülle des Sternenschiffes begann, rieselte plötzlich Sand ein. Das unerwartet einsetzende Knistern deutete an, daß der Abwehrschirm zusammenzubrechen begann.

»Ich habe es ja gesagt«, meinte Alia keck. »Mein Bruder ist schon auf dem Weg.«

Der Imperator stand jetzt vor seinem Thron, drückte die recht Hand gegen sein Ohr und empfing durch den in seiner Hand verborgenen Minisender einen Lagebericht. Der Baron stellte sich zwei Schritte hinter Alia auf. Die Sardaukar verteilten sich blitzschnell und bewachten alle Türen.

»Wir werden starten und uns im Raum neu formieren«, sagte der Imperator. »Baron, verzeihen Sie mir. Diese Verrückten greifen wirklich unter dem Schutz des Sandsturms an. Aber wir werden ihnen zeigen, was der Zorn des Imperators vermag.« Er deutete auf Alia. »Werfen Sie sie in den Sturm hinaus.«

Alia wich zurück als sei sie von größter Panik erfaßt. »Gebt dem Sturm, nach dem er verlangt!« kreischte sie und rannte genau in die Arme des Barons.

»Ich habe sie, Majestät!« schrie Harkonnen triumphierend.

»Soll ich sie sofort — aaaahh!« Er ließ Alia plötzlich fallen und griff nach seinem linken Arm.

»Tut mir leid, Großvater«, sagte Alia. »Du hast jetzt mit dem Gom Jabbar der Atreides Bekanntschaft geschlossen.« Sie stand leichtfüßig wieder auf und ließ eine schwarze Nadel zu Boden fallen.

Der Baron taumelte zurück und fiel hin. Seine Augen schienen fast aus den Höhlen zu quellen, als er auf die blutige Wunde auf der linken Handfläche starrte. »Du … du …«, stammelte er. Die Suspensoren ließen ihn nach rechts rollen, bis sie seine fleischigen Massen zum Halten brachten. Er röchelte mit offenem Mund.

»Diese Leute sind wirklich verrückt«, schnaufte der Imperator wütend. »Schnell, ins Schiff zurück! Wir werden diesen Planeten sofort …«

Links von ihm erschien plötzlich ein Riß in der Wand. Der Geruch verschmorter Leitungen breitete sich aus.

»Der Schild!« schrie einer der Sardaukar-Offiziere. »Der äußere Schild ist zusammengebrochen! Sie …«

Seine Worte gingen im Aufkreischen geborstenen Metalls völlig unter. Die Schiffswand, in deren Nähe sie sich befanden, begann zu schaukeln und dann zu knittern.

»Sie haben den Bug getroffen!« schrie jemand.

Staubwolken breiteten sich im Audienzzimmer aus. Alia nutzte sie geschickt aus und rannte in ihrem Schutz auf die Außentür zu.

Der Imperator wirbelte herum und bedeutete seinen Leuten, durch einen Notausgang zu entfliehen, der sich hinter seinem Thron befand. Er warf einem Sardaukar-Offizier, der nur undeutlich in der Sandwolke zu erkennen war, ein Handzeichen zu. »Wir werden …«

Ein erneuter Stoß erschütterte die Konstruktion. Die Doppeltüren sprangen auf, Sand wirbelte herein und legte sich auf die Lungen der entsetzt aufschreienden Anwesenden. Eine kleine, mit einer Robe bekleidete Gestalt tauchte für eine Sekunde im Lichtschein auf. Es war Alia auf der Suche nach einem Messer, mit dem sie sich verteidigen konnte. Die Sardaukar schwärmten aus, zückten ihre Waffen und versuchten einen Ring um ihren Herrn zu bilden.

»Retten Sie sich, Sire!« brüllte ein Offizier. »Gehen Sie in das Schiff zurück!«

Der Imperator schien nicht zu hören. Er stand immer noch allein auf dem Podest seines Throns und deutete mit ausgestreckten Händen auf die Szenen, die nur unwirklich durch die Wandrisse zu erkennen waren. Ein Großteil der Unterkunftskonstruktion, die das Schiff umgab, war einfach weggeblasen worden. Eine riesige Sandwolke hatte sich über die Ebene gelegt. Alles wirkte wie ein Kampf im Nebel. Da und dort zuckten statische Entladungen auf. Die gesamte Ebene wimmelte von Kämpfenden, so daß es schwer war, die Sardaukar von den vermummten Angreifern zu unterscheiden. Die Fremen schienen von überallher zu kommen, und sie schienen es meisterhaft zu verstehen, den Sturm für ihre Zwecke einzusetzen.

Und dann schoben sich die gigantischen Körper der Sandwürmer durch das Getöse der Schlacht an das Schiff heran. Der Imperator sah klaffende Mäuler und riesige Zähne. Die schrecklichen Kreaturen, auf deren Rücken Dutzende von kampfbereiten Fremen saßen, erhoben sich wie dunkle Mauern, türmten sich höher und höher und griffen an. Es zischte, als der Wind die Geräusche ihrer Bewegungen zu ihm herübertrug. Der Imperator sah die flatternden Roben der Angreifer, die entschlossen ihre Waffen schwangen.

Die Sardaukar wichen entsetzt zurück. Hier standen sie einem Gegner gegenüber, der in ihnen zum erstenmal den Eindruck erweckte, auf verlorenem Posten zu stehen.

Aber dennoch waren die Gestalten auf den Rücken der Würmer Menschen, und das Aufblitzen der Säbel und Messer in ihren Händen Erscheinungen, denen ins Gesicht zu sehen man sie ausgebildet hatte. Die Sardaukar warfen sich erneut in die Schlacht. Und während das große Mann-zu-Mann-Gefecht auf der äußeren Ebene seinem Höhepunkt zustrebte, ergriff einer der Leibwächter den Herrscher und zerrte ihn zurück in das Schiff, verschloß die Tür hinter ihm und bereitete sich darauf vor, zu sterben.

Noch unter dem Schock der plötzlichen Stille, die ihn in der sicheren Umhüllung des Schiffes umfing, starrte der Imperator in die erschreckt aufgerissenen Augen seiner Tochter. Die alte Wahrsagerin stand wie ein bleicher Schatten neben ihr, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Auch die Vertreter der Gilde waren anwesend. Sie wirkten in der traditionellen grauen Kleidung der Organisation, die sie vertraten, wie zwei nichtssagende Kaufleute, die emotionslos einem Spiel zusahen, dessen Ausgang ihnen völlig gleichgültig war.

Der größere der beiden berührte sein linkes Auge mit der Hand.

Als der Imperator ihn genauer ansah, stellte er fest, daß etwas mit den Augen des Mannes nicht stimmte. Er hatte eine Kontaktlinse verloren, und das Auge, in das er starrte, zeigte ein so tiefes Blau, daß es beinahe schon schwarz war.

Der kleinere der beiden bahnte sich mit dem Ellbogen einen Weg auf den Imperator zu und sagte: »Der Ausgang dieses Kampfes ist völlig ungewiß.« Und der Größere fügte hinzu: »Und das gilt auch für diesen Muad'dib.«

Die Worte rissen den Imperator aus seinen Gedanken. Er fühlte den Spott, der aus diesen Worten sprach und fragte sich, ob sie sich wirklich Sorgen um den Ausgang dieser Schlacht machten.

»Ehrwürdige Mutter«, sagte er. »Wir müssen einen neuen Plan ausdenken.«

Die alte Frau schob die Kapuze zurück und erwiderte seinen Blick mit ausdruckslosen Augen. Dennoch verstanden sie sich. Es gab für sie nur noch eine Möglichkeit, und beide dachten im gleichen Augenblick daran: Verrat.

»Schicken Sie nach Graf Fenring«, sagte die Ehrwürdige Mutter.

Der Padischah-Imperator nickte und gab einem seiner Untergebenen mit einem Wink zu verstehen, diesem Befehl auf der Stelle Folge zu leisten.

11

Er war Krieger und Mystiker, Sünder und Heiliger, Fuchs und Hase, ritterlich, unbarmherzig, weniger als ein Gott, aber mehr als ein Mensch. Die Motive, die Muad'dib antrieben, kann man anhand gewöhnlicher Kriterien nicht messen. Im Moment seines Triumphs, sah er, daß man den Tod für ihn vorbereitet hatte, und nahm den Verrat dennoch hin. Tat er dies, weil er es als gerecht empfand? Wessen Gerechtigkeit war es denn, der er sich unterwarf? Man soll sich daran erinnern, daß wir von Muad'dib sprechen, von jenem Mann, der aus den Häuten seiner Gegner Trommelfelle machen ließ und der die Verpflichtungen seiner herzoglichen Abstammung mit einer Handbewegung beiseite wischte und alles auf den folgenden Satz reduzierte: »Ich bin der Kwisatz Haderach; das ist Legitimation genug.«

Aus ›Arrakis erwacht‹, von Prinzessin Irulan.


Am Abend nach seinem Sieg kehrte Paul-Muad'dib, eskortiert von seinen Leuten nach Arrakeen, in die alte Residenzstadt der Atreides zurück. Das Gebäude, das sie kurz nach ihrer Ankunft auf dem Wüstenplaneten bezogen hatten, stand noch. Es war unversehrt und befand sich noch im gleichen Zustand, in das Rabban es nach dem Anschlag auf Herzog Leto hatte bringen lassen. Es hatte einige Plünderungsversuche durch die Stadtbevölkerung gegeben, aber bis auf einige Bilder aus der Haupthalle schien nichts beschädigt worden zu sein.

Paul durchquerte die Halle, während Stilgar und Gurney Halleck neben ihm hergingen. Überall wimmelte es von seinen Leuten, und ein Kommandotrupp war bereits damit beschäftigt, die einzelnen Räume nach versteckten Fallen abzusuchen.

»Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich mit deinem Vater zum erstenmal hier war«, sagte Gurney und musterte die Umgebung. »Schon damals hat es mir hier nicht gefallen. Jede einzelne unserer Höhlen würde sicherer sein.«

»Das ist ein wahres Fremenwort«, stimmte Stilgar ihm zu und bemerkte das kalte Lächeln auf den Lippen Muad'dibs. »Du bist wirklich entschlossen, hier wieder zu leben, Muad'dib?«

»Dieser Ort ist zu einem Symbol geworden«, erwiderte Paul. »Rabban hat hier gelebt. Dadurch, daß ich sein Haus übernehme erfahren die Leute, daß ich auch seine Macht in meine Hände genommen habe. Schickt Männer durch das Haus, aber sie sollen nichts berühren. Ich will nur wissen, ob alle Harkonnen-Spitzel verschwunden sind und ob man keine Spielzeuge hier zurückgelassen hat.«

»Wie du meinst«, sagte Stilgar leicht unwillig und ging hinaus, um die Durchsuchung zu überwachen.

Kommunikanten strebten an ihnen vorbei. Sie trugen Ausrüstungsgegenstände, die sie neben dem gigantischen Kamin aufstellten. Überall machten sich die Fedaykin breit. Die Männer murmelten und warfen mißtrauische Blicke um sich. Dieses Haus war zu lange ein Symbol der Unterdrückung für die Leute gewesen, als daß sie sich jetzt so ohne weiteres in ihm wohl fühlen konnten.

»Eine Eskorte soll meine Mutter und Chani holen«, wies Paul Gurney an. »Weiß sie überhaupt schon, was mit unserem Kind geschehen ist?«

»Man hat ihr die Nachricht überbracht, Mylord.«

»Sind die Bringer wieder aus dem Becken verschwunden?«

»Ja, Mylord. Der Sturm ist fast vorbei.«

»Hat er viel Schaden angerichtet?« fragte Paul.

»Nichts, was man mit Geld nicht wiederherstellen könnte, Mylord«, sagte Gurney.

»Ausgenommen der Menschenleben.«

Paul war nicht bei der Sache. Seine ganze Aufmerksamkeit galt plötzlich wieder seinem inneren Auge und den Abgründen, die sich auf dem Zeitpfad vor ihm auftaten. Welchen Weg er auch beschreiten würde — ein jeder führte unausweichlich in den Djihad, den er zu vermeiden wünschte.

Er seufzte, durchquerte die Halle und sah einen Stuhl, der gegen die Wand gelehnt stand. Sein Vater hatte auf ihm gesessen, aber das erschien ihm jetzt nicht mehr wichtig. Es war ein Gebrauchsgegenstand. Paul setzte sich, zog die Robe über die Beine und löste die Riemen seines Destillanzuges im Nacken.

»Der Imperator hält sich noch immer im Wrack seines Sternenschiffs verschanzt«, bemerkte Gurney.

»Vorläufig soll er da auch nicht heraus«, erwiderte Paul. »Habt ihr die Harkonnens schon gefunden?«

»Man ist immer noch dabei, die Gefallenen zu untersuchen.«

»Haben die Schiffe, die Arrakis umkreisen, schon geantwortet?« Paul deutete an die Decke.

»Bisher noch nicht, Mylord.«

Paul stieß einen Seufzer aus und lehnte sich in den Stuhl zurück. Plötzlich sagte er: »Bringe mir einen gefangenen Sardaukar. Wir werden unserem Imperator eine Nachricht zukommen lassen. Es wird Zeit zum Verhandeln.«

»Jawohl, Mylord.«

Gurney ging und gab einem Fedaykin zu verstehen, solange seine Position neben Paul einzunehmen.

»Gurney«, sagte Paul, bevor er verschwand, »seit wir wieder zusammen sind, habe ich mich gefragt, ob du nicht für einen Tag wie den heutigen ein Sprichwort vorbereitet hast.«

Gurney blieb stehen, räusperte sich und schluckte. Plötzlich grinste er.

»Wie Sie wünschen, Mylord.« Er machte eine Pause und sagte dann: »Und der Tag des Sieges wurde zu einem Tag des Klagens für die Menschen, denn sie erfuhren, daß der Sohn des Königs nicht mehr unter den Lebenden war.«

Paul schloß die Augen und versuchte die Traurigkeit aus seinem Herzen zu vertreiben, so wie er es einst beim Tod seines Vaters getan hatte. Es war jetzt wichtiger, über die Entdeckungen des heutigen Tages nachzudenken — die Zukünfte, die sich ihm aufdrängten und die unerwartete Gegenwart Alias, die er spürte.

Innerhalb aller seiner Wahrnehmungen war dies die seltsamste. »Ich habe in der Zukunft einige Worte für dich hinterlassen«, hatte sie zu ihm gesagt. »Auch wenn du dazu nicht in der Lage bist, Bruder, halte ich es für ein interessantes Spiel. Und … oh ja, ich habe unseren Großvater umgebracht, den alten Baron. Er hat keine großen Schmerzen zu erleiden gehabt.«

Stille. Pauls Zeitsinn spürte, wie sie sich wieder zurückzog.

»Muad'dib.«

Paul öffnete die Augen und sah über sich Stilgars schwarzbärtiges Gesicht. Seine dunklen Augen leuchteten kämpferisch.

»Ihr habt den Leichnam des alten Barons gefunden«, sagte Paul.

Stilgar starrte ihn überrascht an. »Woher weißt du das?« flüsterte er erschreckt. »Wir haben die Leiche gerade erst unter dem großen Metallzelt gefunden.«

Paul ignorierte die Frage. Gurney kehrte zurück. Zwei Fremen begleiteten ihn. Zwischen sich führten sie einen gefangenen Sardaukar.

»Hier ist einer von ihnen, Mylord«, sagte Gurney und gab den Wachen mit einem Handzeichen zu verstehen, daß sie den Gefangenen fünf Schritte von Paul entfernt halten sollten.

Der Blick des Sardaukar, merkte Paul, wirkte schockiert. Eine Wunde zog sich von der Nase des Mannes quer über die Wange. Er gehörte der hellblonden, knochigen Kaste an, die auf einen Offizier hinwies, obwohl er keinerlei Rangabzeichen mehr trug. Die Uniform des Sardaukar war zerfetzt, lediglich die goldenen Knöpfe mit dem imperialen Wappen wiesen ihn aus.

»Ich nehme an, daß dieser Mann ein Offizier ist, Mylord«, sagte Gurney.

Paul nickte. Er sagte zu dem Gefangenen: »Ich bin Herzog Paul Atreides. Verstehen Sie, was das bedeutet, Mann?«

Der Sardaukar starrte ihn unbeweglich an.

»Machen Sie die Zähne auseinander«, verlangte Paul, »oder Ihr Herrscher wird sterben.«

Der Gefangene schloß die Augen und schluckte.

»Wer bin ich?« verlangte Paul zu wissen.

»Sie sind Herzog Paul Atreides«, wiederholte der Mann rauh.

Er war Paul etwas zu bereitwillig, aber immerhin hatte man einen Sardaukar auf derartige Situationen vorbereitet. Diese Leute waren an Siege gewöhnt, rief Paul sich in Erinnerung zurück.

»Ich habe eine Botschaft an den Imperator, die Sie ihm überbringen werden«, fuhr Paul fort und gebrauchte die überlieferte Form: »Ich, Herzog eines Hohen Hauses, Blutsverwandter des Imperators, gebe hiermit Nachricht, wie es die Große Konvention in ihren Regeln vorschreibt. Wenn der Imperator und seine Männer die Waffen niederlegen und zu mir kommen, werde ich ihr Leben mit meinem eigenen beschützen.« Er hob die linke Hand und zeigte dem Gefangenen den herzoglichen Siegelring. »Ich schwöre es bei diesem Ring.«

Der Sardaukar leckte sich die Lippen und warf Gurney einen fragenden Blick zu.

»Richtig«, sagte Paul. »Ein Gurney Halleck wurde niemals einem anderen als seinem rechtmäßigen Herrscher dienen.«

»Ich werde die Botschaft übermitteln«, sagte der Sardaukar.

»Bringt ihn zu unserem Vorposten und laßt ihn frei«, ordnete Paul an.

»Jawohl, Mylord.« Gurney gab den Wachen ein Zeichen und führte sie hinaus.

Paul wandte sich an Stilgar.

»Chani und deine Mutter sind eingetroffen«, sagte der Fremen. »Chani hat darum gebeten, einige Zeit mit ihrem Kummer allein bleiben zu dürfen. Die Ehrwürdige Mutter ist im Zauberraum verschwunden; warum, weiß ich nicht.«

»Sie verzehrt sich vor Heimweh nach einem Planeten, den sie niemals wiedersehen wird«, erklärte Paul. »Auf ihm fällt das Wasser vom Himmel, und die Pflanzen wachsen dort so dicht, daß man sich manchmal zwischen ihnen nicht bewegen kann.«

»Wasser, das vom Himmel fällt«, murmelte Stilgar ergriffen.

In diesem Augenblick spürte Paul, daß mit Stilgar eine Verwandlung vorgegangen war: er hatte sich von einem Fremen in eine Kreatur des Lisan al-Gaib verwandelt, die ihn fürchtete und respektierte. Der geisterhafte Wind eines sich ankündigenden Djihads schien ihn zu umwehen.

Aus einem Freund ist ein Untertan geworden, dachte Paul. Er kam sich plötzlich sehr einsam vor und musterte die Männer, die den gleichen Aufenthaltsraum mit ihm teilten. Aus ihren Augen sprach tiefste Verehrung, und es war offensichtlich, daß jeder der einzelnen hoffte, mit der Aufmerksamkeit Muad'dibs belohnt zu werden.

Muad'dib, der uns allen seinen Segen erteilt, dachte er bitter. Sie warten darauf, daß ich den Thron an mich reiße und wissen doch nicht, daß ich dies nur deshalb tue, um einen Djihad zu verhindern.

Stilgar räusperte sich und sagte: »Rabban ist ebenfalls tot.«

Paul nickte.

Die Wachtposten an der Tür traten zur Seite und machten Platz für Jessica. Sie trug eine schwarze Aba und ging mit Schritten, die deutlich zeigten, daß sie es lange gewohnt gewesen war, über den Sand zu laufen. Dessenungeachtet schien ihr die altvertraute Umgebung einiges Selbstvertrauen zurückzugeben. Jetzt war sie wieder das, was sie vorher gewesen war — die Konkubine eines regierenden Herzogs.

Sie blieb vor ihrem Sohn stehen und sah ihn an. Pauls Ermüdung blieb ihr nicht verborgen, dennoch sagte sie nichts. Es schien, als sei sie unfähig, irgendeine Emotion für ihren Sohn zu fühlen.

Jessica hatte die Halle betreten und sich im ersten Moment gefragt, wieso der Ort ihr so fremd erschien. Als sei sie nie hier gewesen, als hätte sie nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt, in dem sie mit Leto gelebt hatte. Es war kaum zu glauben, daß sie in diesem Raum einst einem völlig betrunkenen Duncan Idaho gegenübergestanden hatte.

Es sollte eine Wortverbindung geben, dachte sie, die dem genauen Gegenteil von ›Adab‹, der intuitiven Erinnerung, entspricht.

»Wo ist Alia?« fragte sie.

»Sie ist draußen«, sagte Paul, »und sie tut das, was jedes echte Fremenkind in solchen Zeiten tun sollte. Sie tötet verwundete Gegner und markiert ihre Körper für die Teams, die deren Wasser einsammeln.«

»Paul!«

»Du verstehst hoffentlich, daß sie dies lediglich aus Mitleid tut«, fuhr Paul fort. »Ist es nicht seltsam, wie oft wir vergessen, daß Mitleid und Grausamkeit einander so ähnlich sind?«

Jessica starrte ihren Sohn an. Die unerwartete Veränderung schockierte sie. Ist der Tod seines Kindes daran schuld? fragte sie sich. Dann sagte sie: »Die Menschen erzählen sich seltsame Geschichten über dich, Paul. Sie behaupten, du hättest alle Kräfte der Legende, daß man nichts vor dir verbergen könne, daß du alles siehst, was anderen verborgen bleibt.«

»Sollte eine Bene Gesserit solche Fragen stellen?« erwiderte Paul.

»An allem, was du bist, bin ich nicht unschuldig«, sagte Jessica. »Du solltest also nicht …«

»Wie würde es dir gefallen, Milliarden und Abermilliarden von Leben zu leben?« entgegnete Paul. »Sie würden eine ungeheure Sammlung von Legenden für dich mitbringen. Denk nur an die unschätzbaren Erfahrungen und die Weisheit, die sie mit sich bringen würden! Aber Weisheit kühlt die Liebe ab, nicht wahr? Und umgibt jedweden Haß mit einem neuen Kleid. Wie kann man sagen, was Unbarmherzigkeit ist, ehe man nicht alle Tiefen der Grausamkeit und des Mitleids ausgelotet hat? Du solltest mich fürchten, Mutter, denn ich bin der Kwisatz Haderach.«

Jessica schluckte. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Plötzlich sagte sie: »Es gab einmal eine Zeit, da hast du mich wegen dieser Tatsache abgelehnt.«

Paul erwiderte kopfschüttelnd: »Ich bin jetzt nicht mehr in der Lage, irgend etwas abzulehnen.« Er sah ihr in die Augen. »Der Imperator und seine Leute werden bald kommen. Man wird sie jeden Moment ankündigen. Bleib bei mir. Ich möchte sie im klarsten Licht sehen. Meine zukünftige Braut wird ebenfalls unter ihnen sein.«

»Paul!« keuchte Jessica. »Begehe nicht den gleichen Fehler wie dein Vater!«

»Sie ist eine Prinzessin«, erwiderte Paul. »Sie ist der Schlüssel zu meinem Thron, und das ist alles, was sie jemals sein wird. Ein Fehler? Glaubst du, weil ich das bin, was du aus mir gemacht hast, hätte ich keinerlei Rachegefühle?«

»Auch den Unschuldigen gegenüber?« fragte Jessica und dachte: Er darf nicht die gleichen Fehler begehen wie ich.

»Es gibt keine Unschuldigen mehr«, sagte Paul.

»Dann erzähle das Chani«, meinte Jessica und deutete auf den Gang, der hinter ihnen lag.

Chani betrat von dort aus die Große Halle. Sie bewegte sich zwischen den Wächtern, als sei sie sich ihrer gar nicht bewußt, hatte die Kapuze zurückgeschlagen und ging mit gläsernen, zerbrechlich wirkenden Schritten durch den Raum, wo sie neben Jessica stehenblieb.

Paul sah, daß sie geweint hatte. Sie gibt Wasser für die Gefallenen. Traurigkeit übermannte ihn, aber er war unfähig, ein Wort des Trostes zu sagen.

»Er ist tot, Geliebter«, sagte sie. »Unser Sohn ist tot.«

Sich selbst nur mühsam unter Kontrolle haltend, stand Paul auf. Er berührte ihre Wangen mit der Hand und fühlte die Feuchtigkeit der noch nicht getrockneten Tränen. »Wir haben ihn verloren«, sagte er leise, »aber du wirst anderen Söhnen das Leben schenken. Es ist Usul, der dir dies verspricht.« Er schob sie behutsam fort und winkte Stilgar.

»Muad'dib?« sagte der Mann.

»Der Imperator und seine Leute werden das Schiff verlassen«, erklärte Paul. »Ich werde hierbleiben. Die Gefangenen werden in der Mitte des Raums versammelt und dort bewacht. Jeder einzelne wird sich mindestens zehn Meter von mir entfernt halten, es sei denn, ich entscheide anders.«

»Wie du befiehlst, Muad'dib.«

Als Stilgar ging, um seinen Befehl auszuführen, hörte er die anderen Fremen murmeln: »Hast du das gesehen? Er wußte es! Obwohl ihm niemand davon erzählt hat, weiß er es!«

Jetzt konnte man die Ankunft des Imperators und seines Gefolges bereits hören. Die Sardaukar, die ihn umgaben, marschierten mit kräftigen Schritten, um sich selbst Mut zu machen. Am Eingang des Hauses wurden Stimmen laut. Gurney Halleck trat ein und ging auf Stilgar zu, um einige Worte mit ihm zu wechseln. Dann ging er auf Paul zu und maß ihn mit einem seltsamen Blick.

Werde ich auch Gurney verlieren? fragte sich Paul. Wird auch er sich wie Stilgar entwickeln? Werde ich einen Freund verlieren und statt dessen einen Untertan gewinnen?

»Sie haben keinerlei Waffen bei sich«, sagte Gurney. »Ich habe mich selbst davon überzeugt.« Er schaute sich um und traf Pauls Blick. »Feyd-Rautha Harkonnen befindet sich unter ihnen. Soll ich ihn von den anderen trennen?«

»Nein.«

»Es sind auch einige Vertreter der Gilde dabei, die alle möglichen Privilegien fordern und sogar mit einem Embargo gegen Arrakis drohen. Ich habe ihnen versprechen müssen, ihre Botschaft zu übermitteln.«

»Laß sie nur drohen.«

»Paul«, zischte Jessica, die jetzt hinter ihm stand. »Er spricht von der Gilde!«

»Ich werde der Gilde bald alle Zähne ziehen«, erwiderte Paul.

Er dachte kurz über die Organisation nach, die bereits seit so langer Zeit existierte, daß sie nur noch ein Parasitendasein führte. Sie war unfähig, zu erkennen, wie sehr sie das Leben benötigte, das sie am Leben erhielt. Die Gilde hatte es niemals nötig gehabt, zur Waffe zu greifen … und jetzt, wo es keinen anderen Ausweg mehr für sie gab, mußte sie feststellen, daß sie unfähig war, sich zur Wehr zu setzen. Allein die Tatsache, daß sie Arrakis nicht von Anfang an allein ausgebeutet hatte, zeigte ihre Blindheit. Die Gilde dachte nicht an die Zukunft und das von ihren Navigatoren so dringend gebrauchte Gewürz. Die Quelle war da, und sie hatte lange davon profitiert. Offenbar hatte sie angenommen, daß, wenn sie einmal versiegte, anderswo eine neue aufgetan werden konnte.

Es war die Schuld der Navigatoren, die die Gilde in diese mißliche Lage gebracht hatte. Die kurzweiligen hellseherischen Fähigkeiten dieser Männer, die dazu dienten, ein Raumschiff gut und schnell durch den Weltraum zu führen, reichte nicht aus, um die Gefahren der Zukunft zu erkennen. Und so hatten die Navigatoren ihre eigene Organisation unbewußt in die Stagnation gesteuert.

Sie sollen sich ihren neuen Gastgeber nur gut ansehen, dachte Paul.

»Unter den Leuten befindet sich noch eine Bene Gesserit, die behauptet, mit Ihrer Mutter befreundet zu sein«, sagte Gurney.

»Meine Mutter hat keine Freunde unter den Bene Gesserit«, erwiderte Paul.

Gurney warf erneut einen mißtrauischen Blick um sich und beugte sich dann zu Paul hinüber.

»Thufir ist ebenfalls bei ihnen, Mylord. Ich hatte bisher keine Möglichkeit, ihn allein zu sprechen. Aber er gab mir mit einem Handsignal zu verstehen, daß er mit den Harkonnens zusammenarbeitet, weil er dachte, Sie seien tot. Er will auch jetzt bei ihnen bleiben.«

»Thufir ist bei diesen …«

»Er wollte bei ihnen bleiben … und auch ich hielt es für besser. Falls … irgend etwas nicht in Ordnung ist, haben wir ihn jedenfalls unter Kontrolle. Und wenn er zu uns steht … haben wir immerhin ein Ohr am Puls der anderen Seite.«

Paul erinnerte sich an eine seiner Zukunftsvisionen. In einer davon hatte Thufir Hawat eine vergiftete Nadel bei sich getragen, die dazu diente, wie der Imperator es ausgedrückt hatte, »diesen aufsässigen Herzog« zu beseitigen.

Erneut machten die Posten am Haupteingang Platz und senkten die Lanzen. Von draußen wurden Stimmen laut. Das Rascheln kostbarer Gewänder drang an Pauls Ohr. Mit weitausholenden Schritten, unter denen noch der Wüstensand knirschte, betrat der Padischah-Imperator Shaddam IV. die Halle. Hinter ihm schritt sein Gefolge.

Der Imperator hatte seinen Burseg-Helm verloren und sein Haar war zerzaust. Die Sardaukar-Uniform, die er trug, war an mehreren Stellen zerrissen. Obwohl er weder einen Gurt noch Waffen trug, schien er von einem Schild seiner starken Persönlichkeit umgeben zu sein.

Eine Fremen-Lanze schoß plötzlich vor und versperrte dem Mann genau an der Stelle den Weg, die niemand überschreiten durfte. Das Gefolge kam aus dem Tritt und prallte aufeinander. Paul sah erstaunte Gesichter und hörte raschelnde Gewänder. Einige der Gesichter kamen ihm bekannt vor, obwohl ein Großteil der Versammelten lediglich aus Höflingen und Lakaien bestand, die offensichtlich ein kurzweiliges Vergnügen auf Arrakis gesucht hatten und jetzt erstaunt zur Kenntnis nahmen, daß die Bevölkerung dieser Welt den Spieß umgedreht hatte.

Paul sah die vogelähnlich leuchtenden Augen der Ehrwürdigen Mutter Gaius Helen Mohiam, während Feyd-Rautha Harkonnen sich etwas im Hintergrund hielt.

Das ist eines der Gesichter, vor denen mich die Visionen gewarnt haben, dachte er.

Er schaute an Feyd-Rautha vorbei und wurde angezogen von einer Bewegung, die ein Mann machte, dessen spitzes, wieselähnliches Gesicht ihm unbekannt war. Und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, diesen Mann fürchten zu müssen.

Warum muß ich mich vor ihm in acht nehmen? fragte sich Paul. Er beugte sich zu seiner Mutter hinüber und flüsterte: »Der Mann, der links neben der Ehrwürdigen Mutter steht, wer ist das?«

Jessica blickte auf und erkannte das Gesicht, das sie bereits in den Dossiers von Pauls Vater gesehen hatte. »Graf Fenring«, erwiderte sie. »Der Mann, der vor uns hier war. Er ist ein genetischer Eunuch. Und ein Killer.«

Der Laufbursche des Imperators, dachte Paul, und es traf sein Bewußtsein wie ein Schlag, daß er in allen möglichen Visionen zwar auf den Imperator selbst, aber nie auf Graf Fenring gestoßen war.

Ihm kam zu Bewußtsein, daß er zwar mehrmals seinen eigenen Leichnam in den Strömen zukünftiger Möglichkeiten, nie aber seinen Tod selbst gesehen hatte. Habe ich ihn deswegen nie zu Gesicht bekommen, weil er derjenige ist, der mich töten wird?

Der Gedanke machte ihn vorsichtiger. Paul wandte seine Aufmerksamkeit von Fenring ab und musterte die Höflinge und die Sardaukar, die ihn mit bitteren und abschätzenden Blicken ansahen. Manche der Gesichter wirkten, als überlegten ihre Träger ernsthaft, ob sich die unerwartete Niederlage sich durch einen Überraschungsangriff nicht doch noch in einen nachträglichen Sieg verwandeln ließe.

Schließlich wandte sich Paul einer hochgewachsenen, blonden Frau zu. Ein hübsches Gesicht mit grünen Augen und reiner Haut starrte ihn an. Sie wirkte gelassen, unbeteiligt und schien nicht einmal eine Träne vergossen zu haben. Ohne daß man es ihm sagen brauchte, wußte Paul, daß es Prinzessin Irulan war, die dort vor ihm stand. Auch sie hatte die Ausbildung der Bene Gesserit genossen. Er kannte ihr Gesicht aus mehreren Visionen.

Sie ist der Schüssel, dachte er.

Die in der Mitte der Großen Halle zusammengetriebenen Leute begannen sich plötzlich zu bewegen. Zwischen ihnen tauchte Thufir Hawat auf. Er war älter geworden mit den Jahren, seine Schultern hingen tiefer.

»Da ist Thufir Hawat«, sagte Paul. »Laß ihn heraus, Gurney.«

»Mylord!« sagte Gurney unsicher.

»Laß ihn heraus«, wiederholte Paul.

Gurney nickte.

Sobald die Lanze, die die Gruppe in ihrer Bewegung einengte, sich hob, taumelte Hawat nach vorn. Hinter ihm wurde der Kreis wieder geschlossen. Rheumatische Augen sahen Paul an, spürten die herrschende Spannung, die sich unter den Leuten des Imperators breitmachte.

Hawat machte einige Schritte auf Jessica zu und sagte: »Mylady, erst heute habe ich erfahren, wie sehr ich Ihnen in meinen Gedanken Unrecht tat. Es steht mir wohl nicht mehr zu, Sie um Vergebung zu bitten.«

Paul wartete ab, aber seine Mutter schwieg.

»Thufir, alter Freund«, sagte er schließlich, »ich hoffe, es fällt dir auf, daß ich den Rücken mal wieder der Tür zuwende.«

»Das Universum ist voll von Türen«, sagte Hawat.

»Bin ich der Sohn meines Vaters?« fragte Paul.

»Eher der Ihres Großvaters«, brummte Hawat. »Nicht nur Ihre Blicke, sondern auch Ihre Bewegungen gleichen den seinen.«

»Und dennoch bin ich der Sohn meines Vaters«, sagte Paul. »Ich sage dir, Thufir, daß du als Lohn für all die Jahre im Dienst meiner Familie alles von mir verlangen darfst. Wirklich alles. Soll ich dir mein Leben schenken, Thufir? Es gehört dir.« Paul machte einen Schritt nach vorn, legte die Hände an die Seiten und sah den Ausdruck höchster Wachsamkeit in Thufirs Augen.

Er hat gemerkt, daß ich über diesen Verrat Bescheid weiß, dachte er.

Paul senkte die Stimme zu einem Flüstern herab, so daß nur Hawat allein ihn hören konnte. »Es ist mein Ernst, Thufir. Wenn du mich umbringen willst, dann tu es jetzt.«

»Ich wollte nur noch einmal vor Ihnen stehen, Mylord«, sagte Hawat. Erst jetzt fiel Paul auf, mit welch unsäglicher Anstrengung der Mann sich auf den Beinen hielt. Paul streckte die Arme aus, packte Hawat an den Schultern und fühlte, wie dessen Muskeln unter seinem Griff zitterten.

»Hast du Schmerzen, alter Freund?« fragte Paul.

»Ich habe Schmerzen, Mylord«, gab Hawat zu, »aber das Vergnügen überdeckt sie.« Er drehte sich halb in Pauls Armen, hob die linke Hand, deutete auf den Imperator und zeigte allen Anwesenden die winzige Nadel, die zwischen seinen Fingern verborgen gewesen war. »Sehen Sie das, Majestät?« rief er. »Sehen Sie die Nadel des Verräters? Haben Sie wirklich geglaubt, daß ein Mann wie ich, der sein Leben für die Atreides geben würde, zu einer solchen Schandtat bereit sei?«

Paul stolperte beinahe, als der alte Mann in seinen Armen zusammensackte. Hawat starb schnell. Sanft legte Paul seinen Leichnam auf den Boden, erhob sich wieder und winkte zweien seiner Leute, die ihn wegtrugen.

In der Großen Halle herrschte völlige Stille.

Der Imperator hielt seinen Blick gesenkt. Das Gesicht, das niemals zuvor Angst gezeigt hatte, begann sich zu verändern.

»Majestät«, sagte Paul und registrierte den überraschten Blick, den die Prinzessin ihm zuwarf. Sie hatte gemerkt, daß er die Kraft seiner Stimme einsetzte — jene Kraft, die eine jede ausgebildete Schülerin der Bene Gesserit kannte — und daß in ihr alle Verachtung lag, die er in sich spürte. Also ist sie wirklich eine Bene Gesserit, dachte er.

Der Imperator räusperte sich und sagte: »Möglicherweise ist mein verehrter Verwandter jetzt der Meinung, er könne die Lage ganz nach seinem Belieben bestimmen. Nichts könnte der Wahrheit allerdings weniger entsprechen. Sie haben die Große Konvention verhöhnt, indem Sie Atomwaffen einsetzten gegen …«

»Ich setzte Atomwaffen gegen ein ganz gewöhnliches Hindernis der Wüste ein«, erwiderte Paul. »Leider versperrte mir dieses Hindernis den Weg, Majestät. Und da ich in ziemlicher Eile war, Sie festzusetzen, weil ich herausfinden wollte, welche seltsamen Geschäfte sie auf Arrakis betreiben, blieb mir leider nichts anderes übrig, als sie wegzuräumen.«

»Über Arrakis befindet sich derzeit eine ziemlich große Armada der Hohen Häuser«, sagte der Imperator. »Ich brauche nur ein einziges Wort von mir zu geben und sie wird …«

»Oh, natürlich«, meinte Paul. »Das hätte ich beinahe vergessen.« Er schien im Gefolge des Herrschers etwas zu suchen, und als er es entdeckt hatte, sagte er zu Gurney: »Sind die beiden fetten, graugekleideten Kerle dort drüben die Vertreter der Gilde, Gurney?«

»Jawohl, Mylord.«

Paul zeigte auf die beiden Männer. »Ihr beiden werdet jetzt hinausgehen und dafür sorgen, daß die Flotte die Nachricht erhält, daß sie den Heimatkurs setzen kann. Nachher werdet ihr mich darum bitten …«

»Die Gilde nimmt Ihre Befehle nicht entgegen!« brüllte der größere der beiden Männer. Zusammen mit seinem Kollegen drängte er sich gegen die seinen Weg versperrenden Lanzen, die auf einen Wink von Paul hin angehoben wurden. Die Männer verließen den Kreis der Gefangenen, und der Kleinere sagte, Paul zugewandt: »Sie können sich darauf verlassen, daß wir diesen Planeten unter ein Embargo stellen, das …«

»Wenn ich noch mehr von diesem Unsinn aus Ihrem Mund höre«, sagte Paul, »werde ich dafür Sorge tragen, daß man die gesamte Gewürzproduktion von Arrakis vernichtet. Für immer.«

»Sind Sie verrückt?« fragte der Größere entsetzt und taumelte einen Schritt zurück.

»Sie wissen also, daß ich die Macht dazu habe?« fragte Paul zynisch.

Der Gildenmann schien eine Sekunde lang in die Leere zu starren. Schließlich erwiderte er: »Ja, ich weiß, daß Sie das könnten, aber ich weiß auch, daß Sie das nicht dürfen.«

»Aha«, machte Paul und nickte. »Sie sind beide Navigatoren, vermute ich?«

»Ja.«

Der Kleinere sagte: »Wenn Sie das Gewürz vernichten, blenden Sie sich damit selbst und sprechen damit für alle von uns das Todesurteil aus. Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, welche Auswirkungen eine solche Tat für diejenigen nach sich ziehen würde, die von diesem Stoff abhängig sind?«

»Die Navigatoren können dann nicht mehr die Schiffe der Gilde steuern«, sagte Paul. »Und damit erledigt sich die Gilde von selbst. Die Menschheit wird sich wieder in isolierte Grüppchen auf isolierten Planeten zurückentwickeln. Vielleicht werde ich es trotzdem tun, aus irgendeiner Laune heraus. Oder aus Langeweile.«

»Lassen Sie uns privat darüber sprechen«, sagte der größere Gildenmann nervös. »Ich zweifle nicht daran, daß wir einen Kompromiß finden können, der …«

»Schicken Sie eine Nachricht an jene Leute, die sich im Orbit um Arrakis befinden«, verlangte Paul. »Ich habe diese Diskussion allmählich satt. Wenn die Flotte sich nicht bald zurückzieht, wird es sowieso keinen Grund mehr für uns geben, noch über irgend etwas zu reden.« Er nickte den Kommunikationsleuten zu, die in einer Ecke der Halle ihre Instrumente angeschlossen hatten. »Sie können unsere Geräte benutzen.«

»Zuerst sollten wir die Sache ausdiskutieren«, sagte der größere der Gildenmänner. »Wir können doch nicht so einfach …«

»Fangen Sie an!« donnerte Paul ihn an. »Wer die Kraft hat, ein Ding zu zerstören, kontrolliert es auch. Sie wissen jetzt, daß ich über diese Macht verfüge. Wir sind nicht hier, um zu verhandeln, Kompromisse zu schließen oder etwas auszudiskutieren. Entweder tun Sie jetzt, was ich Ihnen gesagt habe, oder Sie werden für die Folgen allein einzustehen haben!«

»Er meint es wirklich ernst«, sagte der kleinere Gildenvertreter leise zu seinem Kollegen. Es war offensichtlich, daß er sich jetzt fürchtete.

Zögernd durchquerten die beiden Männer den Raum und gingen zu den Kommunikanten hinüber.

»Werden sie gehorchen?« fragte Gurney leise.

»Sie sind in der Lage für einen begrenzten Zeitraum in die Zukunft zu sehen«, erwiderte Paul. »Also wissen Sie genau, was auf sie zukommt, wenn sie meine Anweisung nicht erfüllen. Jeder Gildennavigator wäre dazu in der Lage, die Konsequenzen zu erkennen. Schon allein deswegen werden sie gehorchen.«

Paul wandte sich dem Imperator zu und sagte: »Als man Ihnen erlaubte, den Thron Ihres Vaters zu besteigen, mußten Sie versprechen, den Gewürzfluß niemals versiegen zu lassen. Sie haben dieses Versprechen nicht erfüllen können, Majestät. Sind Ihnen die Konsequenzen klar?«

»Niemand hat mir erlaubt, den …«

»Hören Sie auf, den Idioten zu spielen«, unterbrach Paul den Mann. »Die Gilde ist vergleichbar mit einer Stadt, die an einem Fluß liegt, dessen Wasser sie benötigt. Da sie das aber nicht zugeben kann, läßt sie sich ihren Anteil durch Sie sicherstellen. Doch jetzt habe ich in diesem Fluß einen Damm eingebaut, und sie kommt an das Wasser — nämlich das Gewürz — nicht mehr heran. Und auch Sie sind nicht mehr in der Lage, ihr ihren Anteil zu geben.«

Der Imperator strich nervös durch sein wirres, rotes Haar und warf den beiden Gildenvertretern, die ihm die Rücken zuwandten, einen mißtrauischen Blick zu.

»Selbst Ihre Wahrsagerin zittert jetzt«, fuhr Paul fort. »Es gibt eine Reihe anderer Gifte, derer sie sich bedienen könnte, aber wer einmal das Gewürz gekostet hat, ist darauf angewiesen.«

Die alte Frau zog ihre formlose schwarze Robe enger um die Schultern und drückte sich durch die Menge, bis sie an der Lanzenbarriere aufgehalten wurde.

»Ehrwürdige Mutter Gaius Helen Mohiam«, sagte Paul, »es ist lange her, seit wir uns auf Caladan sahen, nicht wahr?«

Die Greisin sah an ihm vorbei auf seine Mutter und sagte: »Jessica, ich sehe jetzt ein, daß er derjenige ist, von dem wir sprachen. Dafür kann ich dir die Geburt deiner schrecklichen Tochter vergeben.«

Paul erwiderte mit kalter Stimme: »Sie hatten niemals das Recht oder die Macht meiner Mutter auch nur das geringste zu vergeben!«

Die alte Frau schloß die Augen, als sein Blick den ihren traf.

»Versuche doch, mich mit deinen Tricks hereinzulegen, alte Hexe«, sagte Paul. »Wo hast du dein Gom Jabbar? Versuch nur, an jenen Ort zu schauen, an den du nicht schauen darfst! Dort wirst du mich finden und erkennen, daß ich dich genau im Auge behalte.«

Die alte Frau senkte den Kopf.

»Du hast nichts dazu zu sagen?« verlangte Paul.

»Ich habe dich unter den Menschen willkommen geheißen«, murmelte die Ehrwürdige Mutter. »Beschmutze nicht dieses Angedenken.«

Lauter sagte Paul: »Schaut sie an, Kameraden! Vor euch steht eine Ehrwürdige Mutter der Bene Gesserit. Sie hat zusammen mit ihren Schwestern neunzig Generationen auf eine Kombination aus Fleisch und Geist gewartet, deren Erscheinen sie selbst mit vorbereitet hat. Schaut sie euch an. Sie weiß jetzt genau, daß die Arbeit von neunzig Generationen nicht umsonst gewesen ist! Hier bin ich — das Produkt. Und ich werde dennoch nicht den Plan erfüllen, den ich erfüllen sollte!«

»Jessica!« kreischte die alte Frau. »Bring ihn zum Schweigen!«

»Schweigen Sie!«

Paul sah die Alte an. »Für all das, was Sie in dieser Affäre angerichtet haben, könnte ich Sie lachend erwürgen. Und Sie könnten es nicht einmal verhindern!« Er schnappte nach Luft, als er sah, wie die Greisin sich wütend versteifte. »Aber ich halte es für besser, Sie am Leben zu lassen, ohne daß Sie jemals die Gelegenheit haben werden, mich zu berühren oder auch nur den kleinsten Einfluß auf mein Leben zu nehmen.«

»Jessica, was hast du nur angerichtet«, jammerte die alte Frau.

»Ich kann Ihnen nur eines zugute halten«, fuhr Paul fort. »Und zwar, daß Sie erkannten, was die Menschheit braucht. Aber mit welch dilettantischen Mitteln seid ihr vorgegangen! Ihr Bene Gesserit habt angenommen, es würde genügen, gewisse Abstammungslinien zu kontrollieren und voranzutreiben, damit sich euer Meisterplan erfüllt. Wie wenig versteht ihr doch von …«

»Du darfst davon nicht in der Öffentlichkeit sprechen«, zischte die alte Frau entsetzt.

»Ruhe!« donnerte Paul. Das eine Wort verlor seine Wirkung nicht. Die Alte taumelte zurück und wäre, hätte man sie nicht von hinten festgehalten, umgestürzt. »Jessica«, keuchte sie. »Jessica!«

»Ich erinnere mich an Ihr Gom Jabbar«, sagte Paul. »Denken Sie in Zukunft an das meine. Ich kann Sie mit einem einzigen Wort töten.«

Die Fremen, die in der Halle versammelt waren, sahen einander vielsagend an. Behauptete die Legende nicht: »Und sein Wort wird den Tod in die Reihen jener tragen, die sich der Rechtschaffenheit verschließen?«

Paul wandte seine Aufmerksamkeit jetzt der hochgewachsenen Prinzessin zu, die neben ihrem Vater stand. Sie im Auge behaltend sagte er: »Majestät, wir beide kennen den einzigen Weg, der aus unseren Schwierigkeiten hinausführt.«

Der Imperator schaute überrascht auf seine Tochter und erwiderte: »Sie wagen es? Ein Abenteurer ohne Familie, ein Niemand von …«

»Sie haben bereits zugegeben, daß ich jemand bin«, fiel ihm Paul ins Wort. »Ein Blutsverwandter, das haben Sie selbst gesagt. Lassen sie uns also mit diesem Unfug aufhören.«

»Ich bin ein Herrscher«, sagte der Imperator.

Paul warf einen Blick auf die beiden Gildenvertreter, die noch immer neben der Funkanlage standen. Beide Männer nickten ihm zu.

»Ich könnte Sie zwingen«, sagte Paul.

»Das werden Sie nicht wagen!« krächzte der Imperator.

Paul sah ihn nur an.

Die Prinzessin legte plötzlich eine Hand auf den Arm ihres Vaters und sagte: »Vater.« Der Klang ihrer Stimme war weich und sanft.

»Versuchen Sie nicht, mich hereinzulegen«, erwiderte der Imperator. Er blickte seine Tochter erneut an. »Du brauchst das nicht auf dich zu nehmen, Tochter. Wir haben noch andere Möglichkeiten …«

»Aber er ist ein Mann, der würdig wäre, dein Sohn zu sein«, sagte die Prinzessin.

Die Ehrwürdige Mutter bahnte sich einen Weg zu ihrem Herrscher durch, beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Sie plädiert für dich«, sagte Jessica zu Paul.

Paul behielt weiterhin die blonde Prinzessin im Auge und fragte: »Es ist Irulan, die Älteste, nicht wahr?«

»Ja.«

Chani trat jetzt neben Paul und sagte: »Wünschst du, daß ich gehe, Muad'dib?«

Paul sah sie kurz an und erwiderte: »Daß du gehst? Du wirst nie wieder von meiner Seite weichen.«

»Aber es gibt keine Bindung zwischen uns«, sagte Chani.

Paul schaute sie einen Augenblick lang stumm an und sagte schließlich: »Belüg mich nicht, meine Sihaya.« Chani schien darauf etwas erwidern zu wollen, aber Paul gab ihr, indem er einen Finger auf seine Lippen legte, zu verstehen, sie solle schweigen. »Was uns aneinander bindet ist untrennbar«, sagte er. »Ich möchte, daß du hierbleibst und alles aufmerksam beobachtest damit ich dich später um Rat fragen kann.«

Der Imperator und seine Wahrsagerin schienen noch immer in einer erregten, wenn auch unhörbaren Diskussion vertieft zu sein.

Paul sagte zu seiner Mutter: »Sie erinnert ihn an die Abmachung, eine Bene Gesserit auf den Thron zu bringen. Und Irulan ist diejenige, die man dazu ausersehen hat.«

»War das ihr Plan?« fragte Jessica.

»Ist das nicht offensichtlich?« fragte Paul zurück.

»Die Anzeichen sind kaum zu übersehen«, sagte Jessica schroff.

»Aber meine Frage war ironisch gemeint. Ich sehe keinen Sinn darin, daß du versuchst, mir Dinge beizubringen, die ich einst dich gelehrt habe!«

Paul sah sie kaltlächelnd an.

Gurney Halleck trat neben ihn und sagte: »Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, daß sich in dieser Bande da ein Harkonnen versteckt hält, Mylord.« Er nickte in Richtung auf den dunkelhaarigen Feyd-Rautha, der sich gegen die Lanzenbarriere zu seiner Linken drückte. »Es ist der Bursche mit dem heimtückischen Gesichtsausdruck. Sie haben mir einst versprochen, daß ich …«

»Vielen Dank, Gurney«, erwiderte Paul.

»Es ist der na-Baron … das heißt, jetzt, wo der alte Baron tot ist, hat er seine Stelle eingenommen. Ich wäre schon zufrieden, wenn Sie mir gestatteten, ihn …«

»Bist du ihm gewachsen, Gurney?«

»Mylord scherzen!«

»Die Rederei zwischen der alten Hexe und ihrem Herrn hat jetzt lange genug gedauert«, sagte Paul. »Meinst du nicht auch, Mutter?«

Jessica nickte. »In der Tat.«

Paul rief laut: »Majestät, befindet sich in Ihren Reihen ein Harkonnen?«

Der Imperator runzelte verächtlich die Stirn und gab Pauls Blick zurück.

»Ich dachte, mein Gefolge stünde unter Ihrem persönlichen Schutz.«

»Ich fragte nur aus Gründen der Information«, sagte Paul. »Ich möchte an sich nur wissen, ob dieser Harkonnen wirklich zu Ihrem Gefolge gehört — oder ob er sich dort nur aus Feigheit versteckt.«

Der Imperator lächelte berechnend. »Wer sich in meiner Gegenwart aufhält, gehört ganz automatisch zu meinem Gefolge.«

»Natürlich haben Sie das Wort des Herzogs Atreides«, erwiderte Paul. »Aber Muad'dib, ist eine ganz andere Person. Er hat gänzlich andere Vorstellungen von dem, was ein Gefolge ist. Mein Freund Gurney Halleck wünscht diesen Harkonnen zu töten. Wenn er …«

»Kanly!« schrie Feyd-Rautha und drückte sich gegen die Lanzenbarriere. »Dein Vater nannte dies eine Vendetta, Atreides?! Und du hast die Stirn, mich einen Feigling zu nennen, wo du dich hinter deinen Männern versteckst und einen Lakaien ausschickst, um mich niederzustrecken?«

Die Wahrsagerin versuchte hastig, etwas in das Ohr des Imperators zu flüstern, aber er stieß sie zur Seite und fragte: »Eine Kanly, wie? Meinetwegen, aber auch dafür gelten bestimmte Regeln.«

»Paul, sorg dafür, daß sie damit aufhören«, sagte Jessica.

»Mylord«, warf Gurney ein. »Sie haben mir einst versprochen, daß ich …«

»Du hast bereits genügend Gelegenheit gehabt, dich an ihnen zu rächen«, wehrte Paul ab und kam sich vor, als sei er eine an Drähten hin und her gerissene Puppe. Er legte seine Robe ab und reichte sie mitsamt seinem Gürtel seiner Mutter. Dann streifte er den Destillanzug ab. Er wurde das Gefühl nicht los, als hätte das gesamte Universum auf diesen Moment gewartet.

»Es gibt keinen Grund, das zu tun«, gab Jessica zu bedenken. »Es gibt noch andere Möglichkeiten, Paul.«

Paul schlüpfte aus dem Destillanzug und zog das Crysmesser aus der Scheide, die Jessica in den Händen hielt. »Ich weiß«, sagte er verächtlich. »Gift. Oder einen Meuchelmörder. Die altbekannten heimtückischen Methoden.«

»Sie haben mir einen Harkonnen versprochen!« zischte Gurney außer sich vor Zorn. Die Narbe in seinem Gesicht zuckte. »Sie sind ihn mir schuldig, Mylord!«

»Hast du mehr unter ihnen zu erleiden gehabt als ich?« fragte Paul.

»Meine Schwester«, keuchte Gurney. »Die ganzen Jahre in den Sklavenhöhlen …«

»Mein Vater«, erwiderte Paul. »All die guten Freunde und Kameraden. Thufir Hawat und Duncan Idaho, die ganzen Jahre im Untergrund … und noch eins: es handelt sich jetzt um eine Kanly, und da gibt es für mich kein Zurück mehr.«

Hallecks Schultern sanken nach unten. »Mylord, falls das elende Schwein … Er ist nicht mehr wert als ein Tier, das man mit dem Stiefelabsatz zerquetscht. Rufen Sie einen Henker oder lassen Sie es mich tun, aber stellen Sie sich nicht selbst vor so einen widerwärtigen …«

»Muad'dib hat es nicht nötig, dies zu tun«, sagte Chani.

Paul sah sie an und erkannte an ihren Augen, daß sie um sein Leben fürchtete. »Aber Herzog Paul muß es tun.«

»Dieser Harkonnen ist nicht mehr als ein Tier!« wiederholte Gurney krächzend.

Paul zögerte einen Moment. Er rief sich in Erinnerung zurück, daß er selbst von den Harkonnens abstammte. Als ihn ein scharfer Blick seiner Mutter traf, erwiderte er: »Er hat menschliche Gestalt, Gurney, also ist er zweifellos ein Mensch.«

Gurney sagte: »Wenn er so viel von einem …«

»Geh bitte zur Seite«, unterbrach Paul ihn. Er umklammerte das Crysmesser und schob Gurney aus dem Weg.

»Gurney!« sagte Jessica. Sie berührte Hallecks Arm. »Er ist genau wie sein Großvater. Versuche nicht, ihn zurückzuhalten. Das ist alles, was du jetzt für ihn tun kannst.« Und sie dachte: Große Mutter! Welche Ironie des Schicksals!

Der Imperator musterte Feyd-Rautha, sah dessen breite Schultern und kräftige Muskeln. Paul hingegen war schlank und sehnig, zwar nicht so mager wie die übrigen Eingeborenen von Arrakis, aber man konnte trotzdem seine Rippen zählen.

Jessica beugte sich zur Seite und flüsterte so leise, daß nur Paul sie hören konnte: »Vergiß eines nicht, mein Sohn. Es gibt Personen, die von den Bene Gesserit auf eine bestimmte Weise konditioniert wurden. Sie reagieren auf ein Schlüsselwort, das meist Uroshnor lautet. Wenn sie diesen Feyd-Rautha präpariert haben — was ich vermute und jemand dieses Wort ausspricht …«

»Ich wünsche keinen speziellen Rat für diesen Kampf«, sagte Paul. »Laßt mich vorbei.«

Gurney sagte zu Jessica: »Warum tut er das? Glaubt er, er würde im Falle seines Todes zu einem Märtyrer werden? Hat dieser religiöse Schnickschnack ihm völlig den Kopf verdreht?«

Jessica verbarg das Gesicht zwischen den Händen und stellte für sich allein fest, daß auch sie nicht wußte, welche Motive Paul leiteten. Alles, was sie fühlte, war der Tod in diesem Raum und die Tatsache, daß Paul sich so verändert hatte, daß es immer schwerer wurde, ihn zu begreifen. Obwohl jede Faser ihres Körpers darauf beharrte, ihren Sohn zu beschützen, gab es nichts, was sie tun konnte.

»Ist es der religiöse Schnickschnack?« wiederholte Gurney.

»Sei still«, erwiderte Jessica. »Und bete.«

Der Imperator lächelte plötzlich. »Falls Feyd-Rautha Harkonnen … aus meinem Gefolge … es so wünscht«, sagte er, »… entlasse ich ihn aus meinen Diensten und gebe ihm die Freiheit, über sich selbst zu entscheiden.« Er gab den Fedaykin einen Wink. »Jemand von eurer Bande besitzt meinen Gurt und das dazugehörige Schwert. Falls Feyd-Rautha es wünscht, möge er sich dieser Waffe bedienen.«

»Ich wünsche es«, sagte Feyd-Rautha arrogant.

Er ist viel zu zuversichtlich, dachte Paul. Das ist ein Vorteil, der mir zugute kommt.

»Holt die Klinge des Imperators«, befahl Paul und achtete darauf, daß man seine Anweisung ausführte. »Legt sie dort auf den Boden.« Er deutete mit dem Fuß an, welche Stelle er meinte. »Und jetzt drückt die ganze kaiserliche Bande gegen die Wand und laßt nur den Harkonnen heraus.«

Kleider raschelten und Füße scharrten, als die Fremen das Gefolge des Imperators zurückdrängten. Hier und da wurde ein Wort des Protests laut. Nur die Gildenvertreter befanden sich noch außerhalb der Lanzenbarriere. Sie maßen Paul mit unentschlossenen Blicken.

Sie versuchen den Ausgang des Kampfes zu bestimmen, dachte Paul. Aber das gelingt ihnen nicht. An diesem Ort sind sie genauso blind wie ich. Und er wurde sich der Zeitströme bewußt die ihn umtosten, und der anderen Ebenen, in die er hinübergleiten konnte, wenn er nur einen falschen Schritt machte. An diesem Ort, zu dieser Zeit würde die endgültige Entscheidung über den noch ungeborenen Djihad fallen. Das Rassenbewußtsein, das ihn seiner schrecklichen Bestimmung zuführen würde, drängte zu einer Entscheidung. Das war die Ursache, die ihn den Kwisatz Haderach, den Lisan al-Gaib sein ließ. Die Menschheit hatte ihren eigenen Niedergang vorausgesehen und auf der Basis eines jahrhundertealten Planes sein Erscheinen vorausgeplant, um überleben zu können. Es war, als würden alle vergangenen Generationen in diesem Moment eins sein, in ihm, bereit, alle Barrieren zu überspringen.

Und Paul wurde klar, wie wenig es an ihm lag, seiner Bestimmung zu entgehen. Er hatte angenommen, den Djihad verhindern zu können, doch nun wußte er, daß das unmöglich war, daß er sich bereits in ihm befand. Seine Legionen würden durch das Universum stürmen, notfalls auch ohne ihn. Alles, was sie brauchten, war die Legende, zu der er bereits geworden war. Und er hatte sie dazu gebracht, indem er ihnen gezeigt hatte, wie man selbst die Gilde besiegte, die ohne das Gewürz nicht existenzfähig war.

Im gleichen Moment, in dem er spürte, daß er versagt hatte, sah er, daß Feyd-Rautha Harkonnen aus seiner zerfetzten Uniform schlüpfte. Er trug lediglich eine kurze Fechthose und einen Kampfgürtel.

Wir sind am Höhepunkt angelangt, dachte Paul. Von hier aus wird sich uns die Zukunft öffnen. Die Wolken werden weichen und die Sonne unsere Glorie bescheinen. Und selbst wenn ich hier sterbe, wird man später sagen, ich hätte mein Leben geopfert, um meinen Truppen als Geistwesen voranzuschweben. Wenn ich siege, bedeutet das, daß niemand gegen Muad'dib bestehen kann.

»Ist der Atreides fertig?« rief Feyd-Rautha, die traditionellen Worte des Kanly-Rituals benutzend.

Paul entschloß sich, ihm in der Art der Fremen zu antworten. »Möge deine Klinge zerbrechen!«

Er deutete auf das Kurzschwert des Imperators, das immer noch auf dem Boden lag, um seinem Gegner zu zeigen, daß er es aufheben und benutzen solle.

Feyd-Rautha nahm die Klinge an sich, ohne Paul aus den Augen zu lassen. Eine Sekunde lang balancierte er sie in der Hand und spürte eine völlig neue Art der Erregung. Dies würde ein Kampf werden, von dem er lange geträumt hatte: eine Schlacht Mann gegen Mann und Klinge gegen Klinge — ohne daß Schilde dazwischen waren. Vor ihm lag die Möglichkeit, einen Preis zu erringen, der selten einem Menschen geboten worden war, denn natürlich würde der Imperator denjenigen, der diesen Mann tötete, hoch belohnen. Es war nicht unmöglich, daß die Belohnung aus der Hand seiner Tochter bestand — und mithin aus der Hälfte seines Throns. Und dieser bäurische, hinterwäldlerische Herzog von Arrakis war natürlich kein Gegner für einen ausgebildeten, in allen Kampftechniken und Tricks erfahrenen Harkonnen. Dieser Tölpel würde nicht einmal ahnen, daß Feyd-Rautha über mehr als nur eine Waffe verfügte.

Laß uns sehen, wie gut du auf Gift vorbereitet bist! dachte Feyd-Rautha. Er winkte Paul mit dem Kurzschwert des Imperators zu und sagte: »Bereite dich auf deinen Tod vor, du Narr.«

»Sollen wir kämpfen, Cousin?« fragte Paul, bewegte sich wie eine Katze vorwärts und achtete dabei sorgfältig auf das gegen ihn gerichtete Blatt. Er ging in die Knie, während das milchweiße Crysmesser in seiner Hand leuchtete.

Sie umkreisten einander, beide barfüßig und warteten mit zusammengekniffenen Augen auf die kleinste Öffnung in der Abwehr.

»Wie hübsch du tanzen kannst«, spottete Feyd-Rautha.

Er ist ein Schwätzer, dachte Paul. Also hat er noch eine Schwäche. Wenn es zu still wird, verliert er die Ruhe.

»Hast du schon gebeichtet?« fragte Feyd-Rautha.

Paul umkreiste ihn lautlos.

Die Ehrwürdige Mutter im Gefolge des Imperator spürte plötzlich, wie sie zitterte. Der junge Atreides hatte den Harkonnen mit Cousin angesprochen. Das konnte nur bedeuten, daß er darüber informiert war, von wem er abstammte. Und das war verständlich, wenn er der Kwisatz Haderach war. Aber dennoch hielt das Entsetzen sie in seinen Krallen.

Für die Zuchtpläne der Bene Gesserit konnte sich dieses Wissen wie eine Katastrophe auswirken.

Ihr wurde bewußt, daß sie etwas von dem, was Paul gesehen hatte, auch wußte: daß Feyd-Rautha ihn möglicherweise tötete, aber trotzdem keinen Sieg davontrug. Ein weiterer Gedanke machte ihr zu schaffen: hier waren zwei Endprodukte einer langen genetischen Linie aufeinandergestoßen, die sich in einem Kampf auf Leben und Tod einließen. Kamen sie dabei beide ums Leben, würde nur Feyd-Rauthas Bastardtocher übrigbleiben, ein unbekanntes Baby, über das man noch nicht viel wußte, und Alia.

»Vielleicht besitzt ihr hier nur Heidenpriester«, sagte Feyd-Rautha zynisch. »Sollte ich vielleicht die Ehrwürdige Mutter bitten, deine Seele auf die lange Reise vorzubereiten?«

Lächelnd ging Paul nach rechts. Er war vorsichtig und hielt sich zurück. Es war besser, den richtigen Augenblick abzupassen, als sich in sinnlosem Geschwätz zu verlieren.

Feyd-Rautha sprang vor, täuschte mit der Rechten und hielt die Waffe plötzlich in der linken Hand.

Paul ließ sich nicht einschüchtern, sondern stellte fest, daß sein Cousin sich immer noch so bewegte, als trüge er einen Schild. Obwohl sich Feyd-Rauthas Reaktion nur um Sekundenbruchteile verzögerte, konnte man an seinen Bewegungen erkennen, daß er auch schon gegen ungeschützte Gegner vorgegangen war.

»Ist es bei den Atreides üblich, einem Kampf auszuweichen?« fragte Feyd-Rautha hämisch.

Paul ging unbeirrt seinen Weg weiter. Er erinnerte sich an Idahos Worte auf dem Kampfboden von Caladan: »Studiere während der ersten Minuten deinen Gegner. Natürlich verschenkst du dadurch einen Überraschungssieg, aber du findest so viel mehr über ihn heraus. Laß dir Zeit und warte auf eine sichere Chance.«

»Vielleicht denkst du, dieser Tanz verlängert dein Leben um einige Minuten«, kommentierte Feyd-Rautha Pauls Bewegungen. »Na, wie du meinst.« Er blieb plötzlich stehen und reckte sich.

Fürs erste hatte Paul nun genug gesehen. Feyd-Rautha bewegte sich nach links und wandte ihm die rechte Hüfte zu, als vertraue er darauf, daß der Kampfgürtel ihn beschützen werde. Es war eine typische Reaktion für einen Mann, der es gewohnt war, unter dem Schutz eines Schildes mit zwei Messern zu kämpfen.

Oder … Paul zögerte. Der Gürtel ist mehr als er scheint.

Für einen Mann, dessen Truppen an diesem Tag geschlagen worden waren, wirkte er sehr zuversichtlich.

Feyd-Rautha bemerkte Pauls Zögern und sagte: »Warum willst du dich dem Unausweichlichen noch länger entziehen?«

Wenn in diesem Gürtel ein Pfeil verborgen ist, dachte Paul, muß er sehr winzig sein. Es ist nicht zu erkennen, daß man den Gürtel präpariert hat.

»Warum sagst du denn nichts?« fragte Feyd-Rautha ungeduldig.

Paul schwieg weiterhin. Er lächelte kalt, denn jetzt hatte er gemerkt, daß sein Gegner auf dem besten Wege war, das Selbstvertrauen zu verlieren.

»Du lachst, wie?« fragte Feyd-Rautha und ging einen halben Schritt zurück. Sofort sprang er wieder vor.

Da Paul eine erneute Verzögerung seiner Bewegungen erwartet hatte, konnte er jetzt kaum ausweichen. Etwas fetzte über seinen linken Arm. Er fühlte einen winzigen Schmerz, und auf der Stelle wurde ihm klar, daß die vorhergegangenen Täuschungen Feyd-Rauthas lediglich Tricks gewesen waren. Täuschungen, um andere Täuschungen zu überdecken. Er war gerissener, als Paul erwartet hatte.

»Euer Thufir Hawat hat mir einige seiner Finten gezeigt«, stieß Feyd-Rautha hervor. »Allerdings war ich es meist, der dabei Blut ließ. Zu schade, daß der alte Narr jetzt nicht mehr sehen kann, was er mir beigebracht hat.«

Paul erinnerte sich an etwas, das Duncan Idaho gesagt hatte: »Achte nur auf das, was während des Kampfes geschieht. Auf diese Weise wirst du die wenigsten unliebsamen Überraschungen erleben.«

Erneut umkreisten sie sich, geduckt und vorsichtig.

Paul stellte fest, daß Feyd-Rautha wieder selbstsicherer wurde und wunderte sich. Bedeutete der kleine Kratzer für seinen Gegner soviel? Höchstens wenn die Spitze vergiftet gewesen war! Aber wie war das möglich? Immerhin hatten seine eigenen Leute die Waffe auf Gifte untersucht, bevor sie sie Feyd-Rautha ausgehändigt hatten. Um irgend etwas zu übersehen waren sie zu gut ausgebildet.

»Die Frau, mit der du da eben gesprochen hast«, begann Feyd-Rautha einen erneuten Monolog. »Ich meine diese Kleine. Bedeutet sie etwas für dich? Ist sie vielleicht dein Liebchen? Ich bin sicher, daß sie auch meine speziellen Wunsche erfüllen wird.«

Paul sagte nichts. Statt dessen konzentrierten sich seine Sinne auf die kleine Wunde, die sein Gegner ihm versetzt hatte. Er stellte fest, daß es sich um eine betäubende Substanz handelte, die sein Körper sofort entgiftete. Dennoch blieben die Zweifel in ihm, denn es war ihnen gelungen, die Klinge mit irgendeinem Mittel zu benetzen. Ein Betäubungsmittel. Es war zu schwach, um von einem Giftschnüffler aufgespürt zu werden, aber stark genug, die Muskulatur eines Menschen zu beeinflussen. Seine Gegner verfolgten also immer noch irgendwelche obskuren Pläne, um ihre Niederlage durch Verrat nachträglich in einen Sieg umzumünzen.

Wieder sprang Feyd-Rautha vor.

Paul, der das Lächeln auf seinem Gesicht gefrieren ließ, um den Eindruck zu erwecken, das Betäubungsmittel habe seine Wirkung bereits getan, sprang im letzten Moment zur Seite und stieß dann unerwartet zu.

Feyd-Rautha duckte sich, sprang entsetzt zurück, wechselte die Klinge in die andere Hand und starrte mit bleichem Gesicht auf die Wunde, die Paul ihm mit einem blitzschnellen Hieb beigebracht hatte.

Jetzt soll er anfangen zu zweifeln, dachte Paul. Er soll ruhig glauben, mein Messer sei vergiftet gewesen.

»Verrat!« schrie Feyd-Rautha. »Er hat mich vergiftet! Ich fühle Gift in meinem Arm!«

Paul brach sein Schweigen und fügte hinzu: »Nur ein bißchen Säure als Dank für das Betäubungsmittel auf der Klinge des Imperators.«

Feyd-Rautha sah Pauls Lächeln und hob erneut das Kurzschwert. Seine Augen leuchteten voller Haß.

Paul hob das Crysmesser und begann wieder mit der langsamen Umkreisung seines Gegenspielers.

Feyd-Rautha griff nun wieder an, riß das Kurzschwert hoch und wurde zurückgeworfen. Paul drang gegen ihn vor. Sie täuschten einander mehrfach und mußten sich schließlich wieder trennen.

Paul, der damit rechnete, daß der vergiftete Pfeil aus Feyd-Rauthas rechter Hüfte hervorschnellen würde, zwang seinen Gegner dazu, ihm die rechte Seite zuzuwenden. Jede Sekunde erwartete er ein Ende des Kampfes, und beinahe wäre ihm fast die winzige Spitze entgangen, hätte Feyd-Rautha sich nicht durch ein plötzliches Vernachlässigen seiner Anstrengung selbst verraten. Die Nadel verfehlte ihn nur um Haaresbreite.

Aus der linken Hüfte!

Sie begehen einen Verrat nach dem anderen, dachte Paul und setzte seine unter der Bene-Gesserit-Ausbildung geschulten Muskeln ein, bevor Feyd-Rautha seinen Trick wiederholen konnte. Da er gleichzeitig der Nadel ausweichen mußte, verlor er den Boden unter den Füßen und stürzte. Feyd-Rautha lag plötzlich auf ihm.

»Du hast also das kleine Ding an meiner Hüfte gesehen«, flüsterte Feyd-Rautha. »Du weißt, daß damit dein Schicksal besiegelt ist, Narr.« Er bewegte sich leicht, um die Nadel näher an ihn heranzubringen. »Deine Muskeln werden erschlaffen, und den Rest besorge ich mit dem Messer. Und niemand wird es je erfahren!«

Paul hörte die lautlosen Schreie, die seinem Bewußtsein zusetzten. Es schien, als hätten sich alle seine Vorfahren in ihm versammelt, um ihn dazu zu bewegen, das geheime Wort auszusprechen, das Feyd-Rautha Einhalt gebieten würde und ihn selbst retten.

»Ich werde es nicht sagen«, keuchte er.

Feyd-Rautha starrte ihn überrascht an. Es war genug für Paul, um herauszufinden, wie er sich seines Gegners entledigen konnte. Mit einem gewaltigen Schwung warf er sich zur Seite, rollte Feyd-Rautha von sich und stürzte sich auf ihn, sorgfältig darauf achtend, daß die Nadel nicht in seine Richtung zeigte.

Paul befreite seinen rechten Arm, riß das Crysmesser hoch und stieß zu. Feyd-Rautha ächzte und fiel in sich zusammen. Die Seite die die versteckte Nadel verbarg, deutete zu Boden.

Schweratmend stieß Paul sich vom Boden ab und kam wieder auf die Füße. Über die Leiche Feyd-Rauthas gebeugt, die Klinge in der Hand, richtete er seinen Blick langsam auf den Imperator.

»Majestät«, sagte er, »Ihre Truppe hat erneut einen Mann verloren. Wollen wir jetzt nicht zu einer vernünftigerem Verhandlungsweise übergehen? Sollten wir jetzt nicht über das Unerläßliche zu sprechen beginnen? Ihre Tochter wird mit mir verheiratet werden, und damit öffnet sich der Thron für die Atreides.«

Der Imperator wandte sich um und schaute Graf Fenring an. Der Graf wich seinem Blick nicht aus. Er verstand auch ohne Worte, was der Imperator von ihm verlangte.

Erledige diesen Aufrührer für mich, sagte der Blick des Imperators. Ich weiß zwar, daß er jung und erfolgversprechend ist — aber er ist gleichzeitig ermüdet von seinem Kampf und stellt nun für niemanden mehr einen Gegner dar. Fordere ihn jetzt heraus … Du weißt schon, wie du es machen mußt. Und bringe ihn um.

Langsam bewegte Fenring den Kopf und sah Paul an.

»Tu es!« zischte der Imperator.

Mit dem Blick der Bene Gesserit, den seine Frau ihn gelehrt hatte, beobachtete Graf Fenring Paul. Die Geheimnisse und die verborgene Größe, die diesen jungen Mann umgaben, blieben ihm nicht verborgen.

Ich könnte ihn umbringen, dachte er und zweifelte nicht daran, daß er dazu körperlich in der Lage war.

Aber irgend etwas in ihm hinderte ihn daran, den Befehl des Herrschers auszuführen.

Und Paul, der die augenblicklich herrschende Spannung zwischen den beiden Männern fühlte, verstand plötzlich, warum der Graf bisher nie in einer seiner Visionen aufgetaucht war. Fenring war einer jener Leute, die beinahe alle Anforderungen der Bene Gesserit erfüllten; ein Fast-Kwisatz-Haderach, der an einem Fehler seiner manipulierten Erbmasse litt, ein genetischer Eunuch. Er empfand so etwas wie Mitleid für diesen Mann, eine tiefe Verbundenheit, wie zu einem Bruder, den das Schicksal daran hinderte seine Stelle einzunehmen.

Fenring, der Pauls Gefühle aufnahm, sagte plötzlich: »Majestät, ich muß diesen Auftrag ablehnen.«

Heiße Wut überkam Shaddam IV. Er machte durch die Menge zwei Schritte auf Fenring zu und versetzte ihm einen Faustschlag.

Der Graf lief dunkelrot an, musterte seinen Herrscher emotionslos und erwiderte: »Wir sind bisher Freunde gewesen, Majestät. Was ich jetzt tue, steht jenseits dessen, was man unter einer Freundschaft versteht. Ich will vergessen, daß Sie mich geschlagen haben.«

Paul räusperte sich und sagte: »Lassen sie uns nun vom Thron reden, Majestät.«

Der Imperator wirbelte herum und starrte ihn an. »Der Thron gehört mir!« brüllte er.

»Ihr Thron wird in Zukunft auf Salusa Secundus stehen«, entgegnete Paul.

»Ich habe die Waffen niedergelegt und Ihrem Wort vertraut«, schrie der Herrscher. »Und Sie wagen es, mich …«

»Ihre Person ist in meiner Gegenwart sicher«, sagte Paul. »Das hat ein Atreides Ihnen versprochen. Muad'dib hingegen wird Sie auf Ihren Gefängnisplaneten schicken. Sie haben dennoch keinen Grund zur Furcht, Majestät. Ich werde dafür Sorge tragen, daß aus dieser unwirtlichen Welt ein Paradies gemacht wird.«

Der Imperator schien jetzt zu verstehen. Er starrte Paul funkelnd an und schnarrte: »Jetzt sehen wir, was Sie wirklich beabsichtigen.«

»Gut beobachtet«, sagte Paul.

»Und was wird aus Arrakis?« fragte der Imperator. »Wollen Sie auch aus dieser Wüste eine blühenden Garten machen?«

»Die Fremen haben das Wort des Muad'dib«, erklärte Paul. »Es wird auf dieser Welt Wasser fließen. Es wird grüne Oasen geben und alles, was der Bevölkerung Nutzen bringen kann. Aber wir müssen auch an das Gewürz denken. Deswegen wird es auch weiterhin Wüsten auf dieser Welt geben … und heftige Stürme und alles, was man braucht, um kräftige Männer heranzuziehen. Wir Fremen haben ein Sprichwort: ›Gott erschuf Arrakis, um die Menschen auf die Probe zu stellen.‹ Und gegen das Wort Gottes kann man sich nicht versündigen.«

Die alte Wahrsagerin, die in Pauls Worten den heraufziehenden Djihad erkannte, murmelte erschreckt: »Sie können dieses Volk nicht auf das Universum loslassen!«

»Ich hoffe, Sie erinnern sich noch an die zärtliche Art der Sardaukar!« zischte Paul wütend.

»Das dürfen Sie nicht«, flüsterte die Alte erneut.

»Sie sind eine Wahrsagerin«, meinte Paul. »Achten Sie also auf das, was Sie sagen.« Er schaute die Prinzessin an und wandte sich dem Imperator zu. »Uns verbleibt nicht mehr viel Zeit, Majestät.«

Der Herrscher musterte unentschlossen seine Tochter. Prinzessin Irulan legte eine Hand auf seinen Arm und sagte mit weicher Stimme: »Ich wurde darauf vorbereitet, Vater.«

Der Imperator holte tief Luft.

»Sie können sich nicht dagegen wehren«, redete ihm die alte Wahrsagerin zu.

»Wer wird für Sie verhandeln, Verwandter?« fragte der Herrscher schließlich und reckte seine hochgewachsene Gestalt.

Paul drehte sich um und sah seine Mutter, die mit einem schwermütigen Blick neben Chani hinter einer Reihe Fedaykin bereitstand. Er ging zu ihnen hinüber, blieb stehen und schaute Chani an.

»Ich kenne die Gründe«, flüsterte Chani. »Wenn es denn sein muß … Usul.«

Ihr Kummer, der sich deutlich in ihrer Stimme manifestierte, blieb Paul nicht verborgen. Sanft streichelte er ihre Wange. »Meine Sihaya braucht sich niemals zu fürchten«, sagte er. Und seiner Mutter zugewandt: »Du wirst für mich verhandeln, Mutter, und Chani wird dir dabei zur Seite stehen. Sie ist klug und hat einen scharfen Blick. Und es ist eine bekannte Tatsache, daß niemand besser handeln kann als ein Fremen. Chani sieht durch meine Augen. Sie weiß, was ich will und was ihre Söhne eines Tages brauchen werden. Höre auf sie.«

Jessica, die die Berechnung in der Stimme ihres Sohnes wohl verstand, unterdrückte ein Frösteln.

»Wie lauten deine Anweisungen?« fragte sie.

»Ich will sämtliche Anteile des Imperators an der MAFEA-Gesellschaft als Mitgift.«

»Sämtliche?« fragte Jessica schockiert.

»Er darf nichts davon behalten. Ich verlange eine Grafschaft und einen Aufsichtsratsposten der MAFEA-Gesellschaft für Gurney Halleck und außerdem Caladan als Lehen für ihn. Für jeden überlebenden Kämpfer der Atreides wird es zusätzliche Ehren und Würden geben — selbst für den kleinsten Soldaten.«

»Und was ist mit den Fremen?« fragte Jessica.

»Die Fremen gehören mir«, sagte Paul. »Was sie erhalten, erhalten sie aus der Hand Muad'dibs. Stilgar wird Gouverneur von Arrakis werden, aber das kann noch warten.«

»Und ich?« fragte Jessica.

»Gibt es etwas, das du dir wünschst?«

»Vielleicht Caladan«, meinte sie und warf Gurney einen Blick zu. »Ich bin mir nicht sicher. Ich bin schon zu sehr eine Fremen geworden … und eine Ehrwürdige Mutter. Ich glaube, ich werde einige Zeit Ruhe und Einsamkeit brauchen, um mir darüber klar zu werden, was ich will.«

»Die wirst du bekommen«, versprach Paul. »Und außerdem alles, was Gurney und ich dir geben können.«

Jessica nickte. Sie fühlte sich plötzlich alt und schrecklich müde. Sie sah Chani an. »Und was ist mit der kaiserlichen Konkubine?«

»Keine Titel für mich«, flüsterte Chani erschreckt. »Nichts. Ich bitte dich.«

Paul schaute in ihre Augen und erinnerte sich daran, daß sie genauso schon einmal vor ihm gestanden hatte. Nur trug sie damals den kleinen Leto in den Armen, ihr Kind, das jetzt nicht mehr lebte. »Ich schwöre dir«, flüsterte er, »daß du es niemals nötig haben wirst, einen Titel zu tragen. Die Prinzessin dort hinten wird meine Frau werden und du meine Konkubine, weil dies aus politischen Gründen notwendig ist. Der Friede, den wir erhalten wollen, kann nur weiterbestehen, wenn die Hohen Häuser sehen, daß die Formen gewahrt bleiben. Trotzdem wird diese Prinzessin nicht mehr als meinen Namen tragen. Ich werde sie weder berühren noch zulassen, daß sie mir Kinder gebiert.«

»Das sagst du jetzt«, sagte Chani und warf einen Blick auf die große Prinzessin am anderen Ende des Raumes.

»Kennst du meinen Sohn denn so wenig?« flüsterte Jessica. »Sieh dir die Prinzessin an, wie hochmütig und überheblich sie dasteht. Man sagt ihr schriftstellerische Ambitionen nach. Hoffen wir, daß ihr dieser Zeitvertreib genügt; einen anderen wird sie in Zukunft schwerlich haben.« Jessica lachte bitter. »Und vergiß nicht, Chani: sie wird zwar seinen Namen führen, aber dennoch weniger als eine Konkubine sein. Sie wird niemals in die Lage versetzt werden, die Zärtlichkeit des Mannes, dem sie verbunden ist, kennenzulernen. Aber uns, Chani — die wir jetzt noch als Konkubinen bezeichnet werden -, wird die Geschichte später Gattinnen nennen.«

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