5. Kaspians Abenteuer in den Bergen

Nach diesem Ereignis hatten Kaspian und sein Lehrer auf dem Dach des großen Turmes noch viele heimliche Unterredungen miteinander, und in jeder Unterhaltung erfuhr Kaspian mehr von Alt-Narnia. In all seinen freien Stunden dachte er nun über die alten Zeiten nach und träumte von ihnen. Er sehnte sich danach, daß sie zurückkehren möchten. Allzu zahlreich waren diese freien Stunden freilich nicht, denn seine Ausbildung hatte ernsthaft begonnen. Er lernte reiten, schwimmen und tauchen. Er übte sich im Kampf mit dem Schwert, im Schießen mit dem Pfeil, im Flöten- und Lautenspiel. Man lehrte ihn, wie der Hirsch gejagt und aufgebrochen wird, wenn er erlegt ist. Außerdem brachte man ihm Weltbeschreibung, Redekunst, Wappenkunde, das Versemachen und natürlich auch Geschichte bei, dazu ein wenig Rechtswissenschaft, Physik, Alchemie und Astronomie. Von Zauberei erfuhr er nur aus Büchern etwas, denn, so meinte Doktor Cornelius, ihre Anwendung sei für Prinzen nicht sonderlich geeignet. »Und ich selbst«, fügte er hinzu, »bin ein unvollkommener Zauberer und kann nur kleine Experimente ausführen.« Von der Schiffslenkung – der Navigation –, einer edlen und heroischen Kunst, wie Doktor Cornelius sie beschrieb, erfuhr er nichts, da König Miraz ein Gegner des Meeres und der Schiffe war. Sehr vieles lernte Kaspian, weil er seine eigenen Augen und Ohren kräftig gebrauchte. Schon als kleiner Junge hatte er darüber nachgedacht, warum er wohl seine Tante, Königin Prunaprismia, nicht leiden mochte. Jetzt merkte er, das hing mit ihrer Abneigung gegen ihn zusammen. Auch sah er nun selbst, was für ein unglückliches Land Narnia war. Die Steuern waren hoch, die Gesetze streng, und Miraz war ein grausamer Mensch. Nach einigen Jahren – es war in einem Frühsommer – geschah es einmal, daß die Königin sehr krank zu werden schien. Im Schloß herrschte große Unruhe und Geschäftigkeit. Ärzte kamen und gingen, und die Hofleute flüsterten miteinander. In einer dieser Nächte, als die Unruhe am Hof immer stärker zu spüren war, wurde Kaspian unerwartet von seinem Lehrer geweckt, nachdem er nur wenige Stunden im Bett gewesen war. »Wollen wir wieder etwas Astronomie treiben, Herr Doktor«, fragte er. »Schsch!« machte der Doktor. »Vertraut mir und tut genau, was ich Euch sage. Zieht alle Eure Kleidungsstücke an! Ihr habt eine lange Reise vor Euch.«

Kaspian war sehr überrascht. Da er aber Vertrauen zu seinem Lehrer gewonnen hatte, tat er sofort, was ihm gesagt wurde. Als er angekleidet war, sagte Cornelius: »Ich habe einen Ranzen für Euch besorgt. Ihr müßt nun ins Nebenzimmer gehen und ihn mit Speisen von der Abendtafel füllen.« »Dort sind doch meine Kammerherren«, entgegnete Kaspian. »Sie schlafen fest und werden auch nicht erwachen«, sagte der Doktor. »Zwar bin ich nur ein sehr bescheidener Zauberer, doch kann ich wenigstens einen Zauberschlaf verhängen.« Im Vorzimmer lagen wirklich die beiden Kammerherren breitbeinig und gewaltig schnarchend auf den Stühlen. Doktor Cornelius nahm rasch die Reste eines kalten Huhns, schnitt einige Scheiben Wildpret ab und verpackte beides mit Brot und einigen Äpfeln sowie einer kleinen Flasche Wein im Ranzen, den er sodann Kaspian überreichte. Er wurde wie ein Schulränzel mit Riemen über Kaspians Schulter gehängt. »Habt Ihr Euer Schwert?« fragte der Doktor. »Ja«, antwortete Kaspian.

»Dann schlagt diesen Mantel darüber, um Schwert und Ranzen zu verbergen. So ist es recht. Und nun müssen wir auf den großen Turm steigen und miteinander reden.« Als sie das Dach des Turmes erreicht hatten – es war eine wolkige Nacht, nicht vergleichbar jener damals, als sie die Konstellation von Tarva und Alambil beobachtet hatten –, sagte Doktor Cornelius:

»Teurer Prinz, Ihr müßt sofort dieses Schloß verlassen und Euer Glück in der weiten Welt suchen. Hier ist Euer Leben in Gefahr.«

»Warum?« fragte Kaspian.

»Weil Ihr der wahre König von Narnia seid – Kaspian der Zehnte, der rechtmäßige Sohn und Erbe Kaspians des Neunten. Lang lebe Eure Majestät!« und plötzlich, zu Kaspians Überraschung, fiel der kleine Mann auf die Knie nieder und küßte seine Hand.

»Was bedeutet das alles? Ich verstehe nichts«, sagte Kaspian. »Ich habe mich oft gewundert, daß Ihr mich niemals zuvor gefragt habt«, sprach Doktor Cornelius, »warum Ihr, der Sohn König Kaspians, nicht selbst König Kaspian seid. Alle außer Eurer Majestät wissen, daß Miraz ein Thronräuber ist. Als er seine Regierung antrat, gab er sich allerdings noch nicht als König aus, sondern nannte sich Statthalter. Aber das änderte sich bald. Zuerst starb Eure königliche Mutter, die gute Königin und einzige Telmarerin, die jemals freundlich zu mir war, und danach starben oder verschwanden alle hohen Herren, die Euren Vater noch gekannt hatten, einer nach dem anderen und nicht durch Zufall. Miraz rottete sie aus. Belisar und Uvilas wurden – zufällig – mit Pfeilen auf der Jagd erschossen; man spiegelte einen Unfall vor. Die mächtigen Passariden entsandte Miraz zur Bekämpfung der Riesen an die Nordfront, bis einer nach dem anderen gefallen war. Arlian, Erimon und weitere zwölf ließ er unter falschen Anschuldigungen wegen Verrates hinrichten. Die beiden Brüder vom Biberdamm sperrte man auf seinen Befehl ein, weil sie angeblich irrsinnig waren. Endlich überredete er sieben edle Herren, die sich als einzige unter den Telmarern nicht vor dem Meer fürchteten, fortzusegeln und jenseits des östlichen Ozeans nach neuem Land zu suchen. Sie kehrten niemals zurück, wie er es gewollt hatte. Als keiner übrig war, der ein Wort für Euch einlegen konnte, baten ihn die Speichellecker – die er dazu veranlaßt hatte –, die Königswürde anzunehmen, und das tat er natürlich.«

»Glauben Sie, daß er jetzt mich töten will?« fragte Kaspian. »Man muß damit rechnen«, antwortete Doktor Cornelius. »Aber warum gerade jetzt?« fragte Kaspian weiter. »Ich meine, wenn er es beabsichtigt, warum ist es dann nicht schon längst geschehen? Und was habe ich ihm getan?« »Vor zwei Stunden hat sich etwas ereignet, was seine Meinung über Euch geändert hat. Die Königin hat einen Sohn bekommen!« »Ich sehe nicht ein, was das damit zu tun hat«, meinte Kaspian. »Ihr seht das nicht ein!« rief Doktor Cornelius aus. »Haben denn alle meine Stunden in Politik und Geschichte nichts genützt? Hört also zu: Solange Miraz keine eigenen Kinder hatte, war er damit einverstanden, daß Ihr nach seinem Tode König werden solltet. Zwar mag er nicht besonders viel von Euch gehalten haben, aber er hätte doch lieber Euch als einem Fremden den Thron überlassen. Nun aber hat er einen eigenen Sohn und wird wünschen, daß dieser ihm auf den Thron folgt. Ihr steht im Wege, und so wird er Euch beseitigen.«

»Ist er denn so schlecht?« fragte Kaspian. »Würde er mich wirklich ermorden lassen?«

»Er ermordete Euren Vater«, gab Doktor Cornelius zur Antwort. Kaspian überlief ein Schauer; er sagte nichts. »Ich könnte Euch wohl alles erzählen«, sagte der Doktor, »aber dazu haben wir jetzt keine Zeit. Ihr müßt sofort fliehen.« »Sie kommen doch mit mir?« fragte Kaspian. »Das wage ich nicht«, antwortete der Doktor. »Das würde die Gefahr für Euch vergrößern. Zwei werden leichter aufgespürt als einer. Lieber Prinz, teurer König Kaspian, Ihr müßt sehr tapfer sein. Geht allein, und zwar sofort! Versucht über die südliche Grenze den Hof des Königs Gnom von Archenland zu erreichen. Er wird Euch gut aufnehmen.«

»Werde ich Sie niemals wiedersehen?« fragte Kaspian mit zitternder Stimme.

»Hoffentlich doch, teurer König«, entgegnete der Doktor. »Was habe ich denn außer Eurer Majestät für einen Freund in der Welt? Und ich verfüge über ein wenig Zauberkraft. – Aber jetzt ist Eile geboten. Bevor Ihr geht, möchte ich Euch zwei Gaben geben. Dies hier ist eine kleine goldene Geldbörse – ach, von Rechts wegen gehören alle Schätze des Schloßes Euch! Und dies hier ist noch viel wertvoller.« Er legte etwas in Kaspians Hand, was der Junge nicht erkennen konnte; es fühlte sich an wie ein Horn. »Das«, erklärte Doktor Cornelius, »ist der größte und ehrwürdigste Schatz von Narnia.

Als ich noch jung war, habe ich viele Schrecken ertragen und viele Beschwörungen ausgesprochen, um ihn zu finden. Es ist das Zauberhorn der Königin Suse, das sie zurückließ, als sie am Ende des Goldenen Zeitalters aus Narnia entschwand. Man sagt, daß dem, der es bläst, Hilfe auf seltsame Weise zuteil wird – niemand weiß etwas darüber, wie diese Hilfe aussieht. Vielleicht hat das Horn die Kraft, Königin Lucy und König Edmund, Königin Suse und Peter den Prächtigen aus der Vergangenheit zurückzurufen, damit sie eingreifen. Vielleicht aber ruft es auch Aslan selbst herbei. Nehmt es hin, König Kaspian, aber benutzt es nur in der Stunde höchster Not. Und nun eilt, eilt, so schnell Ihr könnt! Die kleine Gartentür ganz unten im Turm ist unverschlossen. Dort müssen wir uns trennen.« »Darf ich wenigstens mein Pferd Pfeilgeschwind mitnehmen?« fragte Kaspian.

»Es ist gesattelt und wartet am Ausgang des Obstgartens auf Euch.«

Während sie die lange, gewundene Treppe hinunterstiegen, flüsterte Cornelius Kaspian noch viele Hinweise und Ratschläge zu. Kaspians Herz sank, aber er bemühte sich, alles gut zu behalten. Dann trat er in die frische Luft des Gartens, wechselte einen innigen Händedruck mit dem Doktor, lief über den Rasen und wurde von Pfeilgeschwind wiehernd willkommen geheißen. So verließ König Kaspian der Zehnte das Schloß seiner Väter. Als er zurückblickte, sah er das Feuerwerk, das zu Ehren der Geburt des jungen Prinzen abgebrannt wurde. Die ganze Nacht hindurch ritt Kaspian südwärts. Solange das Land ihm bekannt war, benutzte er Nebenwege und Reitpfade in den Wäldern. Später hielt er sich an die Landstraße. Pfeilgeschwind war auf dieser ungewöhnlichen Reise so aufgeregt wie sein Herr. Kaspian, wenn ihm auch beim Abschied von Doktor Cornelius die Tränen in die Augen gestiegen waren, benahm sich tapfer. Zwar gab es manches Schmerzliche, aber er war doch glücklich in dem Gedanken, ein König zu sein, der ausritt, Abenteuer zu suchen – mit dem Schwert an seiner Linken und dem Zauberhorn der Königin Suse an seiner rechten Seite. Als aber der Tag mit leichtem Sprühregen heraufdämmerte und er, um sich schauend, zu allen Seiten unbekannte Wälder, wilde Heideflächen und blaue Berge sah, empfand er, wie weit und fremd die Welt ist, fühlte sich klein und fürchtete sich.

Im vollen Tageslicht verließ er die Landstraße und suchte eine Lichtung im Wald, wo er rasten konnte. Er sattelte Pfeilgeschwind ab und ließ das Pferd grasen. Selbst aß er etwas von dem kalten Huhn, trank ein wenig Wein dazu und fiel bald darauf in festen Schlaf. Erst spät am Nachmittag erwachte er. Er nahm noch einige Bissen zu sich und setzte dann seine Reise immer südwärts auf vielen unbekannten Wegen fort.

Bald gelangte er in eine hügelige Gegend; der Weg ging zwar auf und ab, führte dabei aber allmählich bergaufwärts. Von jeder Anhöhe aus konnte er feststellen, wie sich die Berge höher und schwärzer vor ihm auftürmten. Als der Abend nahte, durchritt er das Vorgebirge. Wind erhob sich. Bald darauf regnete es in Strömen. Pfeilgeschwind wurde unruhig; es lag Gewitter in der Luft. Da kamen sie in einem düsteren, endlos scheinenden Fichtenwald, und alle Geschichten, die Kaspian je über das feindselige Verhalten von Bäumen zu Menschen gehört hatte, ängstigten sein Gemüt. Er bedachte, daß er ein Telmarer war, also ein Angehöriger des Stammes, der überall die Bäume gefällt hatte und mit den wildlebenden Geschöpfen in Streit lebte. Wenn er selbst auch anders als die übrigen Telmarer war, so konnte man doch kaum von den Bäumen erwarten, daß sie das wußten. So war es denn auch. Der Wind schwoll an zum Sturm; die Wälder heulten und brausten um ihn her. Da krachte es. Ein Stamm schlug gerade hinter dem Pferd quer über den Weg. »Ruhig, Pfeilgeschwind, ruhig«, sagte Kaspian und streichelte den Hals des Tieres. Aber er zitterte selbst bei dem Gedanken, dem Tod nur um Haaresbreite entronnen zu sein. Ein Blitz flammte auf, und ein gewaltiger Donnerschlag schien den Himmel schier zu zerreißen. Pfeilgeschwind ging mit voller Macht durch, und Kaspian, obschon ein guter Reiter, hatte nicht die Kraft, das Pferd zu bändigen. Er hielt sich im Sattel und wußte, bei dem jetzt folgenden wilden Galopp hing sein Leben an einem seidenen Faden. Ein Baum nach dem anderen erhob sich schwarz und drohend vor dem Reiter aus der Dunkelheit. Unzählige Male prallten Pferd und Baum um ein Haar zusammen. Doch dann schlug etwas gegen Kaspians Stirn, und er verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, lag er mit schmerzenden Gliedern und schlimmen Kopfschmerzen auf einem Platz, der von Feuerschein erhellt war. Stimmen flüsterten in der Nähe miteinander. »Und nun«, sagte die eine, »müssen wir uns entscheiden, was wir mit dem Ding da tun wollen, bevor es aufwacht.« »Töten!« sagte eine andere. »Wir können es nicht am Leben lassen; es würde uns verraten.«

»Wir hätten es entweder sofort umbringen oder sich selbst überlassen müssen«, bemerkte eine dritte Stimme. »Jetzt, nachdem wir es hierhergebracht und ihm den Kopf verbunden haben, können wir es nicht mehr töten. Das wäre Mord an einem Gast.« »Meine Herren«, sagte Kaspian mit schwacher Stimme. »Was Sie auch mit mir tun werden, ich bitte Sie um eins: seien Sie barmherzig mit meinem Pferd.« »Euer Pferd ist längst geflohen, bevor wir Euch fanden«, berichtete die erste Stimme, eine merkwürdig heisere, grobe Stimme, fand Kaspian.

»Na, laßt euch nicht von seinen schönen Worten beschwatzen«, fuhr die zweite Stimme dazwischen. »Ich bleibe dabei, daß...« »Hummel und Heidekraut«, rief die dritte Stimme aus, »natürlich können wir es nicht ermorden. Schäm dich, Nikabrik. Was sagst du dazu, Trüffeljäger? Was sollen wir mit ihm tun?« »Ich werde ihm etwas zu trinken geben«, bemerkte die erste Stimme, die offenbar Trüffeljäger gehörte. Ein dunkler Schatten näherte sich dem Bett. Kaspian fühlte, wie ein Arm sich sanft unter seine Schultern schob – das heißt, wenn es wirklich ein Arm war. Ganz genau stimmte die Form anscheinend nicht. Das Gesicht, das sich über ihn beugte, hatte offenbar auch eine verkehrte Form. Kaspian hatte den Eindruck, daß es haarig und sehr langnasig war und zu beiden Seiten merkwürdige weiße Flecken trug. Das scheint eine Maske zu sein, dachte er bei sich. Oder vielleicht habe ich Fieber und bilde es mir nur ein. Ein Gefäß mit etwas Heißem, Süßem wurde an seine Lippen gesetzt, und er trank. In diesem Augenblick schürte einer von den anderen das Feuer. Ein Funken sprang hoch, und Kaspian hätte vor Schreck fast aufgeschrien, als das aufflammende Licht das Gesicht enthüllte, das in das seine blickte. Das war nicht das Gesicht eines Menschen, sondern das eines Dachses, wenngleich es größer, klüger und freundlicher war, als Dachsgesichter gewöhnlich sind. Und dieser Dachs hatte wirklich gesprochen. Kaspian merkte weiter, daß er auf einem Lager von Heidekraut in einer Höhle lag. Am Feuer saßen zwei kleine, bärtige Männer. Da sie viel wilder und noch kleiner, behaarter und dicker als Doktor Cornelius waren, erkannte Kaspian in ihnen sofort richtige Zwerge. Er spürte, das waren Zwerge aus alter Zeit, ohne einen Tropfen menschlichen Blutes in sich. Kaspian wußte nun auch, endlich hatte er die Alt-Narnianen gefunden. Dann verschwamm alles wieder vor seinen Augen. In den folgenden Tagen erfuhr er ihre Namen. Der Dachs wurde Trüffeljäger genannt; er war der älteste und freundlichste von den dreien. Der Zwerg, der Kaspian hatte töten wollen, war ein finsterer Schwarzzwerg mit Haupt- und Barthaaren, so schwarz und stark und steif wie Pferdehaar. Sein Name war Nikabrik. Der andere Zwerg mit Haaren von der Farbe eines Fuchses war ein Rotzwerg und hieß Trumpkin. »Und nun«, sagte Nikabrik am ersten Abend, als Kaspian sich so weit erholt hatte, daß er sitzen und sich unterhalten konnte, »müssen wir überlegen, was mit diesem menschlichen Wesen geschehen soll. Ihr beide glaubtet ihm einen guten Dienst zu erweisen, als ihr mich hindertet, es zu töten. Aber ich meine, alles, was dabei herauskommt, ist, daß wir das Wesen gefangenhalten müssen, solange es lebt. Ich werde es bestimmt nicht leben und laufen lassen, damit es zu den Seinen zurückkehrt und uns alle verrät.«

»Baum und Borke, Nikabrik!« rief Trumpkin. »Warum mußt du denn so unfreundlich daherreden. Es ist doch nicht die Schuld dieses Wesens, daß es gerade vor unserer Höhle mit seinem Kopf gegen einen Baum rannte. Ich finde, es sieht nicht wie ein Verräter aus.«

»Mit Verlaub«, bemerkte Kaspian, »bis jetzt habt ihr noch nicht herausgefunden, ob ich überhaupt zurückkehren will. Das will ich nämlich gar nicht. Ich möchte bei euch bleiben, wenn ihr es erlaubt. Nach Leuten wie euch suche ich schon mein ganzes Leben lang.« »Das kann man nun nicht ohne weiteres glauben!« knurrte Nikabrik. »Bist du etwa kein Telmarer und kein menschliches Wesen? Natürlich möchtest du zu deinesgleichen zurückkehren.« »Selbst wenn ich es wollte, so könnte ich es nicht«, antwortete Kaspian. »Ich floh um mein Leben, ehe ich den Unfall hatte. Der König will mich töten. Hättest du mich umgebracht, so hättest du gerade das getan, was ihm angenehm wäre.« »Na, so etwas«, meinte Trüffeljäger, »was du nicht sagst!« »He?« sagte Trumpkin. »Was bedeutet das? Wie kommt es, Menschlein, daß du schon in deinem Alter Miraz’ Unwillen erregt hast?«

»Er ist mein Onkel«, begann Kaspian, und sofort sprang Nikabrik mit der Hand am Dolch auf.

»Da habt ihr es!« schrie er. »Nicht nur ein Telmarer, sondern auch ein naher Verwandter und Erbe unseres ärgsten Feindes. Seid ihr immer noch so verrückt, dieses Geschöpf am Leben lassen zu wollen?« Er hätte kurzerhand Kaspian erstochen, wenn der Dachs und Trumpkin ihm nicht den Weg versperrt, ihn auf seinen Platz zurückgedrängt und ihn festgehalten hätten. »Ein für allemal, Nikabrik«, sagte Trumpkin, »willst du dich nun mäßigen, oder müssen Trüffeljäger und ich uns auf deinen Kopf setzen?«

Nikabrik versprach mürrisch, sich besser benehmen zu wollen, und die beiden anderen baten Kaspian, seine Geschichte zu erzählen. Nachdem er das getan hatte, herrschte eine Weile Schweigen.

»Noch nie habe ich so etwas Seltsames gehört«, meinte Trumpkin. »Mir ist das gar nicht lieb«, bemerkte Nikabrik. »Ich ahnte nicht, daß die menschlichen Wesen immer noch von uns reden. Je weniger sie von uns wissen, um so besser. Denkt an die alte Kinderfrau! Die hätte auch lieber ihre Zunge im Zaum halten sollen. Und das alles hängt mit diesem Hauslehrer zusammen – mit einem abtrünnigen Zwerg. Die hasse ich! Die hasse ich mehr als die Menschen. Denkt an meine Worte – aus dieser Sache kann nichts Gutes braten.« »Rede nicht dauernd von Dingen, von denen du nichts verstehst, Nikabrik«, verwies ihn Trüffeljäger. »Ihr Zwerge seid vergeßlich und ändert eure Meinung so wie die Menschen. Ich aber bin ein Tier, und was mehr ist, ein Dachs! Wir ändern uns nicht; wir sind beständig, und ich sage: viel Gutes ist davon zu erwarten. Hier haben wir den wahren König von Narnia, der in das wahre Narnia zurückgekehrt ist. Wir Tiere erinnern uns – selbst wenn die Zwerge es vergessen haben sollten –, daß Narnia immer nur dann gute Zeiten erlebte, wenn ein Adamssohn König war.« »Stock und Stein, Trüffeljäger!« rief Trumpkin aus, »du willst doch das Land nicht den menschlichen Wesen geben?« »Davon habe ich nichts gesagt«, antwortete der Dachs. »Dies ist kein Menschenland – wer wüßte das besser als ich? Aber es ist ein Land, das von einem Menschen regiert sein sollte. Wir Dachse haben eine weit zurückgehende Erinnerung und wissen es. Wie, war denn König Peter etwa kein Mensch?« »Glaubst du an all die alten Geschichten?« fragte Trumpkin. »Ich sagte schon, wir Tiere wandeln uns nicht«, entgegnete Trüffeljäger. »Wir vergessen nicht. Ich glaube so fest an Peter den Prächtigen und die übrigen, die in Feeneden herrschten, wie ich an Aslan glaube.«

»Das verblüfft mich«, meinte Trumpkin. »Wer glaubt denn sonst heutzutage an Aslan?«

»Ich tue es«, erklärte Kaspian. »Und wenn ich bis jetzt nicht an ihn geglaubt hätte, so täte ich es jetzt. Im Menschenreich wird nicht nur über Aslan, sondern auch über die Geschichten von Sprechenden Tieren und Zwergen gespottet. Manchmal habe auch ich gezweifelt, ob es ein Wesen wie Aslan gibt. Manchmal habe auch ich mich gefragt, ob es wirklich Geschöpfe wie euch geben könnte. Nun sehe ich es mit eigenen Augen – ihr seid wahrhaftig vorhanden!«

»Das ist wahr«, bestätigte Trüffeljäger. »Ihr habt recht. Solange Ihr unserem Alt-Narnia treu seid, sollt Ihr mein König sein, was auch die anderen sagen. Lange lebe Eure Majestät!« »Du elendest mich an, Dachs«, grunzte Nikabrik. »König Peter und die anderen mögen Menschen gewesen sein, aber sie waren von anderer Menschenart. Dieser ist einer von den verfluchten Telmarern. Aus Sport hat er Tiere gejagt. – Na, hast du das etwa nicht getan?« wandte er sich plötzlich fragend an Kaspian. »Ja, wenn ich ehrlich sein soll, das habe ich getan«, entgegnete Kaspian. »Aber es waren keine Sprechenden Tiere.« »Das ist einerlei«, sagte Nikabrik.

»Nein, nein, nein«, rief Trüffeljäger, »du weißt selbst, es ist nicht dasselbe, wie du auch sehr gut weißt, daß die Tiere in Narnia heutzutage anders und nicht besser sind als die armen, dumpfen, gedankenlosen Geschöpfe, wie man sie in Kalormen und Telmar findet. Sie sind kleiner und unterscheiden sich mehr von uns, als die Mischzwerge sich von euch unterscheiden.« Es wurde noch viel hin und her geredet. Endlich einigte man sich dahin, daß Kaspian bleiben solle. Man versprach ihm sogar, ihm das zeigen zu wollen, was Trumpkin »die anderen« nannte, sobald er imstande sein werde auszugehen. In diesen wilden Gegenden lebten nämlich augenscheinlich im verborgenen noch viele verschiedene Geschöpfe aus den vergangenen Tagen Narnias.

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