4. Der Zwerg erzählt von Prinz Kaspian

Prinz Kaspian lebte in einem großen Schloß mitten in Narnia bei seinem Onkel Miraz, dem König von Narnia, und seiner rothaarigen Tante, Königin Prunaprismia. Sein Vater und seine Mutter waren tot, und von allen Menschen, die ihn umgaben, hatte Kaspian seine Kinderfrau am liebsten. Obgleich er als Prinz die schönsten Spielsachen besaß – sie konnten fast alles, nur nicht sprechen –, war für ihn die letzte Stunde des Tages am schönsten. Dann wurde alles Spielzeug in die Schränke gepackt, und seine Kinderfrau erzählte ihm Geschichten.

Von seinem Onkel und seiner Tante hielt er nicht viel. Etwa zweimal in der Woche sandte der Onkel nach ihm, und dann pflegten sie für eine halbe Stunde auf der Südseite des Schlosses auf und ab zu gehen. Eines Tages, als sie dies wieder einmal taten, sprach der König zu Kaspian: »Nun, mein Junge, wir müssen dir bald Reiten beibringen und dich lehren, das Schwert zu schwingen. Wie du weißt, haben deine Tante und ich keine Kinder, und es sieht so aus, als würdest du König, wenn ich nicht mehr lebe. Wie denkst du darüber, he?«

»Ich weiß nicht recht, Onkel«, antwortete Kaspian. »Du weißt nicht recht, he?« sagte Miraz. »Nun, ich möchte wohl wissen, was man sich Besseres wünschen könnte.« »Trotzdem habe ich einen anderen Wunsch«, sagte Kaspian. »Was denn für einen Wunsch?« fragte der König. »Ich möchte – ich möchte – ich wünschte, ich hätte in den alten Zeiten gelebt«, antwortete Kaspian, der damals noch ein sehr kleiner Junge war.

Bisher hatte König Miraz in dem langweiligen Ton mancher Erwachsenen gesprochen, der deutlich erkennen läßt, daß das, was sie sagen, ihnen ziemlich gleichgültig ist. Nun aber blickte er plötzlich Kaspian scharf an.

»He? Was heißt das?« fragte er. »Was für alte Zeiten meinst du?«

»Aber, weißt du denn das nicht, Onkel?« entgegnete Kaspian. »Als alles ganz anders war. Als alle Tiere sprechen konnten und freundliche Wesen in Flüssen und Bäumen lebten, Wassergötter und Baumfeen. Und dann gab es Zwerge und in den Wäldern reizende kleine Faune. Sie hatten Ziegenfüße. Und...« »Das ist alles Unsinn. Für kleine Kinder erdacht«, sagte der Onkel streng. »Nur für ganz kleine Kinder, hörst du! Du bist für solche törichten Dinge zu alt. In deinem Alter solltest du an Schlachten und Abenteuer, nicht an Märchen denken.« »Oh, aber damals gab es auch Schlachten und Abenteuer«, entgegnete Kaspian. »Wundervolle Abenteuer. Es war einmal eine Weiße Hexe, die machte sich zur Königin des ganzen Landes und ließ es immer Winter sein. Und dann kamen von irgendwoher zwei Jungen und zwei Mädchen, die töteten die Hexe und wurden Könige und Königinnen von Narnia. Ihre Namen waren Peter, Suse, Edmund und Lucy. Diese vier regierten lange, lange Jahre, und für alle war es eine wundervolle Zeit, und das war alles, weil Aslan...« »Wer ist das?« fragte Miraz, und wäre Kaspian älter gewesen, so hätte ihm der Ton in der Stimme seines Onkels geraten, lieber aufzuhören. So aber plapperte er munter weiter. »Oh, weißt du das nicht?« fragte er. »Aslan ist der große Löwe, der von jenseits des Meeres kommt.« »Wer hat dir diesen Unsinn beigebracht?« fragte der Onkel mit Donnerstimme. Kaspian war erschrocken und sagte nichts mehr. »Königliche Hoheit«, sprach König Miraz feierlich und ließ des Jungen Hand fallen, die er bis jetzt gehalten hatte, »ich bestehe darauf, daß mir geantwortet wird. Sieh mich an. Wer hat dir diese Lügenmärchen erzählt?« »Die – die Kinderfrau«, stammelte Kaspian und brach in Tränen aus.

»Laß das sein«, sagte sein Onkel, packte Kaspian an der Schulter und schüttelte ihn. »Hör auf. Und laß dich niemals wieder von mir dabei erwischen, daß du über diese dummen Geschichten sprichst oder auch nur nachdenkst. Es gab niemals solche Könige und Königinnen. Wie hätte es auch zwei Könige zur gleichen Zeit geben können? Und es gibt auch kein Wesen namens Aslan. Auch solche Geschöpfe wie Löwen existieren nicht. Und niemals gab es eine Zeit, in der die Tiere sprechen konnten. Verstehst du?« »Ja, Onkel«, schluchzte Kaspian.

»Dann wollen wir nicht mehr davon reden«, schloß der Onkel. Darauf rief er einen der Kammerherren, die am anderen Ende der Terrasse warteten, und befahl ihm mit kalter Stimme: »Führen Sie Seine Königliche Hoheit in seine Gemächer, und senden Sie mir sofort die Kinderfrau Seiner Königlichen Hoheit.« Am nächsten Morgen wurde Kaspian klar, was er Schreckliches angerichtet hatte. Seine Kinderfrau war fortgeschickt worden, ohne daß man ihr erlaubt hatte, von ihm Abschied zu nehmen, und ihm sagte man, er werde einen Hauslehrer bekommen. Kaspian vermißte seine Kinderfrau sehr und vergoß viele Tränen ihretwegen. Weil er aber so unglücklich war, dachte er mehr als je zuvor an die alten Geschichten aus Narnia. Er träumte jede Nacht von Zwergen und Nymphen und versuchte bei Tag mit viel Mühe, die Hunde und Katzen im Schloß zum Sprechen zu bewegen. Aber die Hunde wedelten nur mit den Schwänzen, und die Katzen schnurrten.

Kaspian war überzeugt, daß er den neuen Hauslehrer hassen werde. Aber dieser neue Hauslehrer, der nach ungefähr einer Woche auftauchte, war ein Mensch, dem man unmöglich gram sein konnte. Er war so klein und dick, wie Kaspian noch keinen Mann gesehen hatte, und trug einen langen, silbergrauen Spitzbart, der ihm bis zum Gürtel reichte. Sein Gesicht, braun und mit Runzeln bedeckt, sah sehr weise, sehr häßlich und sehr gütig aus. Seine Stimme war ernst, aber seine Augen waren lustig, so daß es – solange man ihn nicht wirklich gut kannte – schwer zu unterscheiden war, wann er Spaß machte und wann er es ernst meinte. Sein Name war Doktor Cornelius. Von all den Stunden, die Doktor Cornelius gab, mochte Kaspian Geschichte am liebsten. Bisher hatte er ja von der Geschichte Narnias nur das gewußt, was die Kinderfrau erzählt hatte. Nun erfuhr er zu seiner Überraschung, daß die Mitglieder der königlichen Familie Fremdlinge in diesem Lande waren. »Der Ahnherr Eurer Hoheit, Kaspian der Erste«, berichtete Doktor Cornelius, »besiegte als erster Narnia und machte es zu seinem Königreich. Er war es, der Euer Volk in dieses Land führte. Ihr seid keineswegs geborene Narnianen; ihr seid Telmarer, das heißt, ihr alle stammt aus dem Land Telmar weit hinter den Westlichen Bergen. Darum wurde Kaspian der Erste auch Kaspian der Eroberer genannt.«

»Bitte, Herr Doktor«, fragte Kaspian eines Tages, »wer lebte in Narnia, bevor wir aus Telmar kamen?«

»Bevor die Telmarer Narnia besetzten, lebten hier keine oder nur wenige Menschen«, antwortete Doktor Cornelius. »Wem besiegten denn dann meine Ururahnen?«

»Wen nicht Wem, Euer Hoheit«, sagte Doktor Cornelius. »Es scheint mir an der Zeit zu sein, von Geschichte zu Grammatik überzugehen.«

»Oh, bitte, jetzt noch nicht«, bat Kaspian. »Ich meine, fand denn keine Schlacht statt? Warum wird er Kaspian der Eroberer genannt, wenn hier gar niemand war, der gegen ihn kämpfte?« »Ich sagte, daß es in Narnia nur wenige Menschen gab«, antwortete der Doktor und blickte den kleinen Jungen durch seine großen Brillengläser sehr merkwürdig an. Für einen Augenblick war Kaspian verwirrt. Dann begann sein Herz schneller zu schlagen. »Wollen Sie sagen«, stieß er hervor, »es gab hier andere Wesen? Meinen Sie, daß es wie in den Geschichten war? Gab es denn...« »Schsch«, machte Doktor Cornelius und legte seinen Kopf an Kaspians Ohr. »Kein Wort weiter. Wißt Ihr nicht mehr, daß Eure Kinderfrau fortgeschickt wurde, weil sie Euch von Alt-Narnia erzählte? Der König mag das nicht. Wenn er merkt, daß ich Euch Geheimnisse erzähle, werdet Ihr verprügelt, und mir schlägt man den Kopf ab.« »Aber warum?« fragte Kaspian.

»Es ist höchste Zeit, daß wir uns der Grammatik zuwenden«, sagte Doktor Cornelius mit lauter Stimme. »Wollen Königliche Hoheit jetzt bitte den ›Garten der Grammatik‹ von Pulverulentus Siccus, genannt ›Die Laube der fröhlichen Worte und munteren Sätze‹, auf Seite vier aufschlagen...« Anschließend war die Zeit bis zum Mittagessen nur mit Haupt- und Zeitwörtern ausgefüllt, aber ich glaube kaum, daß Kaspian viel lernte. Er war sehr aufgeregt und zudem überzeugt, daß Doktor Cornelius nicht ohne Absicht so viel gesagt hatte. Früher oder später würde er gewiß noch mehr erzählen. Hierin wurde Kaspian nicht enttäuscht. Einige Tage später sagte sein Hauslehrer: »Heute nacht werde ich Euch eine Astronomiestunde geben, eine Stunde Sternenkunde. In tiefster Dunkelheit werden zwei edle Planeten – Tarva und Alambil – nur einen Grad voneinander entfernt auftauchen. Eine solche Konstellation – also eine solche Stellung der Sterne – hat sich seit zweihundert Jahren nicht ergeben, und Eure Hoheit wird sie in ihrem Leben nicht mehr zu sehen bekommen. Ihr solltet etwas früher als sonst zu Bett gehen. Wenn die Zeit der Konstellation naht, werde ich Euch wecken.« Dies hatte anscheinend mit Alt-Narnia, worüber Kaspian viel lieber mehr erfahren hätte, gar nichts zu tun. Es ist aber so ungewöhnlich, mitten in der Nacht aufstehen zu dürfen, daß er sich doch auch darüber ein wenig freute. Als er an diesem Abend zu Bett ging, glaubte er zuerst, nicht einschlafen zu können, aber er versank schnell in einen Dämmerzustand, und nur wenige Minuten schienen ihm vergangen zu sein, als er fühlte, wie ihn jemand sanft schüttelte. Er setzte sich hoch und sah in dem von Mondschein erfüllten Zimmer Doktor Cornelius an seinem Bett stehen. Sein Lehrer war eingehüllt in ein Gewand mit Kapuze, und er hielt eine kleine Lampe in der Hand. Sofort fiel Kaspian ein, was vor sich gehen sollte. Er stand auf und zog einige Kleidungsstücke an. Die Sommernacht war kälter, als er gedacht hatte, und so war er ganz froh, daß Doktor Cornelius ihn in ein Gewand wie das seine hüllte und ihm ein Paar weicher, warmer Galoschen für die Füße gab. Wenige Augenblicke später verließen Meister und Schüler den Raum, beide so vermummt, daß sie auf den dunklen Gängen kaum zu sehen waren, und beide auf so leisen Sohlen, daß man sie nicht hören konnte. Kaspian folgte dem Doktor durch viele Gänge und über zahlreiche Treppen, bis sie endlich durch eine kleine Tür in einem Türmchen auf die Bleidächer kamen. Auf der einen Seite hatten sie die Zinnen, auf der anderen das steile Dach; unter ihnen lagen schattig und schimmernd die Schloßgärten; über ihnen standen die Sterne und der Mond. Gleich danach stießen sie auf eine andere Tür, die in den großen Hauptturm des Schlosses führte. Doktor Cornelius schloß sie auf, und sie erkletterten die stark gewundene Treppe dieses Turmes. Kaspian wurde immer aufgeregter. Nie zuvor war ihm erlaubt worden, diese Treppe zu besteigen.

Sie war lang und steil, aber als die beiden auf das Dach des Turmes hinaustraten und Kaspian wieder zu Atem gekommen war, merkte er, daß sich die Mühe gelohnt hatte. Weit entfernt nach rechts konnte er, wenngleich ziemlich verschwommen, die Westlichen Berge erkennen. Zur Linken sah er den Großen Fluß glitzern, und alles war so ruhig, daß er das Geräusch des Wasserfalles am Biberdamm hören konnte, der mehr als tausend Meter entfernt war. Es war nicht schwer, die beiden Sterne herauszufinden, die sie suchten. Diese standen ziemlich niedrig am südlichen Himmel, fast so hell wie zwei kleine Monde und ganz dicht beieinander.

»Werden sie zusammenstoßen?« fragte Kaspian mit schreckerfüllter Stimme.

»O nein, teurer Prinz«, erwiderte der Doktor, und auch er sprach im Flüsterton. »Dazu beherrschen die Herren des oberen Himmels ihre Tanzschritte zu gut. Beachte sie wohl. Es ist günstig, daß sie zusammentreffen, und das bedeutet etwas sehr Gutes für das traurige Reich von Narnia. Tarva, der Herr des Sieges, grüßt Alambil, die Dame des Friedens. Sie kommen einander gerade jetzt am nächsten.« »Wie schade: dort verdeckt ein Baum die Sicht«, meinte Kaspian. »Wir würden vom westlichen Turm bestimmt besser sehen, wenn er auch nicht so hoch ist.«

Zwei Minuten lang sagte Doktor Cornelius nichts. Er stand ganz ruhig und richtete seinen Blick auf Tarva und Alambil. Dann holte er tief Atem und wandte sich an Kaspian. »Jetzt«, sprach er, »habt Ihr etwas gesehen, was noch kein lebender Mensch erblickt hat, noch je erblicken wird. Ihr habt recht. Wir würden es vielleicht von dem niedrigeren Turm noch besser erkennen. Aber ich brachte Euch auch aus einem anderen Grund gerade hierher.«

Kaspian sah fragend zu ihm auf.

»Der Vorteil dieses Turmes ist«, fuhr Doktor Cornelius fort, »daß wir sechs leere Räume und eine lange Treppe unter uns haben und daß die Tür am Fuß der Treppe zugeschlossen ist. Niemand kann uns belauschen.«

»Wollen Sie mir jetzt das sagen, was Sie neulich verschwiegen haben?« fragte Kaspian.

»Das will ich«, erwiderte der Doktor. »Aber, merkt wohl, wir beide dürfen uns über diese Dinge einzig und allein hier auf der äußersten Spitze des großen Turmes unterhalten.« »Ja, das verstehe ich«, antwortete Kaspian. »Aber, bitte, sprechen Sie jetzt endlich.«

»Hört zu«, sagte der Doktor. »Alles, was Ihr über Alt-Narnia gehört habt, ist wahr. Es ist kein Land der Menschen. Es ist das Land Aslans, das Land der lebenden Bäume und der sichtbaren Nymphen, der Faune und Satyre, der Zwerge und Riesen, der Götter und Zentauren und der Sprechenden Tiere. Gegen diese alle kämpfte der erste Kaspian. Ihr Telmarer habt die Tiere und die Bäume und die Brunnen zum Schweigen gebracht, habt die Zwerge und Faune vertrieben und versucht nun, alle Erinnerung daran auszulöschen. Der König hat verboten, daß darüber gesprochen wird.«

»Ach, hätten wir doch das nicht getan!« rief Kaspian aus. »Aber ich bin so glücklich, daß alles das wahr ist, auch wenn es nun vergangen ist.«

»Viele Eures Stammes denken im geheimen so«, sagte Doktor Cornelius.

»Aber, Herr Doktor«, fragte Kaspian, »warum sprechen Sie denn von meinem Stamm. Sie sind doch auch ein Telmarer.« »Bin ich das?« fragte der Doktor.

»Nun, jedenfalls sind Sie doch ein Mensch«, meinte Kaspian. »Bin ich das?« wiederholte der Doktor mit dröhnender Stimme und warf gleichzeitig seine Kapuze zurück, so daß Kaspian sein Gesicht klar im Mondlicht erkennen konnte. Ihm fielen blitzartig die Schuppen von den Augen, und er fühlte, er hätte die Wahrheit längst merken müssen. Warum war denn Doktor Cornelius so besonders klein und dick? Warum hatte er einen so langen Bart? Zwei Gedanken schossen durch Kaspians Kopf. Der eine war voll Schreckens: Er ist kein richtiger Mann; er ist überhaupt kein Mensch; er ist ein Zwerg, und er hat mich hier heraufgebracht, um mich zu töten. Der andere Gedanke indessen war voll reiner Freude: Es gibt also wirklich Zwerge, und ich, ich, habe einen gesehen. »So, habt Ihr es endlich erraten«, sagte Doktor Cornelius, »oder doch beinahe erraten. Ich bin kein reiner Zwerg, sondern trage auch menschliches Blut in mir. Manche Zwerge entkamen damals in den großen Schlachten und blieben am Leben. Sie nahmen sich die Barte ab, trugen Schuhe mit hohen Absätzen und gaben vor, Menschen zu sein. Sie mischten sich mit euch Telmarern. Ich bin einer von ihnen, nur ein Mischzwerg, und wenn von meiner Verwandtschaft, den richtigen Zwergen, noch irgendwo in der Welt einer leben sollte, würde er mich zweifellos verachten und einen Verräter nennen. Und doch haben wir in all diesen Jahren unser eigenes Volk und all die anderen glücklichen Geschöpfe von Narnia sowenig wie die lang verlorenen Tage der Freiheit jemals vergessen.« »Das ist – das tut mir so leid, Herr Doktor«, stammelte Kaspian. »Aber, nicht wahr, Sie wissen doch, es ist nicht meine Schuld!« »Ich sage dies alles nicht, um Euch zu tadeln, teurer Prinz«, antwortete der Doktor. »Ihr mögt wohl fragen, warum ich es überhaupt sage. Aus zwei Gründen. Mein altes Herz hat diese geheimen Erinnerungen so lange bei sich bewahrt, daß es jetzt schmerzt und brechen würde, wenn ich sie Euch nicht zuflüstern könnte. Zum anderen: Vielleicht könnt Ihr, wenn Ihr einmal König werdet, uns helfen. Ich weiß, Ihr liebt alles, was mit der alten Zeit zusammenhängt, obwohl Ihr ein Telmarer seid.« »Das tue ich wahrhaftig«, beteuerte Kaspian. »Aber wie kann ich helfen?«

»Ihr könnt zu den armseligen Überbleibseln der Zwerge, wie ich einer bin, freundlich sein. Ihr könnt geübte Zauberer suchen lassen, um einen Weg zu finden, die Bäume wieder zu erwecken. Ihr könnt alle versteckten Winkel und unwegsamen Plätze des Landes durchsuchen lassen, um zu erforschen, ob dort noch Faune, Sprechende Tiere oder Zwerge im Verborgenen leben.« »Ob es wohl noch welche gibt?« fragte Kaspian eifrig. »Das weiß ich nicht – das weiß ich wirklich nicht«, seufzte der Doktor tief. »Manchmal fürchte ich, daß sie ausgestorben sind. Mein Leben lang habe ich vergeblich nach Spuren gesucht. Manchmal glaubte ich, die Zwergentrommel in den Bergen zu hören. Manchmal glaubte ich, nachts in den Wäldern einen Blick auf die in weiter Ferne tanzenden Faune und Satyre zu erhaschen. Oft bin ich verzweifelt, aber irgend etwas flößt mir immer wieder Hoffnung ein. Ich weiß nicht, was es ist. Aber wenigstens könnt Ihr versuchen, ein solcher Herrscher wie König Peter der Prächtige in den alten Zeiten – und nicht wie Euer Onkel – zu werden.«

»Dann ist das von den Königen und Königinnen und von der Weißen Hexe also wahr?«

»Gewißlich ist das wahr«, antwortete Cornelius. »Die Herrschaft jener Könige war das Goldene Zeitalter von Narnia, und das Land hat sie niemals vergessen.« »Lebten sie in diesem Schloß, Herr Doktor?« »Nein, mein teurer Prinz«, antwortete der alte Mann. »Dieses Schloß ist nicht sehr alt. Euer Ururgroßvater erbaute es. Die beiden Adamssöhne und die beiden Evastöchter lebten in dem Schloß Feeneden, als sie von Aslan zu Königen und Königinnen von Narnia gemacht waren. Kein lebender Mensch hat je jenen gesegneten Platz gesehen, und vielleicht sind jetzt sogar seine Ruinen dahingeschwunden. Man nimmt an, das Schloß hat weit von hier entfernt, an der Mündung des Großen Flusses in das Meer, gelegen.« »Oje«, bemerkte Kaspian schaudernd. »Meinen Sie in den schwarzen Wäldern? Wo alle die, die – nun Sie wissen ja –, die Geister leben?«

»Eure Hoheit spricht, wie man es Euch gelehrt hat«, antwortete der Lektor. »Aber das sind alles Lügen. Es gibt dort keine Geister. Das ist eine von den Telmarern erfundene Geschichte. Eure Könige haben eine Todesangst vor dem Meer, weil sie nicht vergessen können, daß in allen Erzählungen Aslan immer über das Meer kommt. Sie mögen also weder selbst ans Wasser gehen, noch wollen sie dulden, daß andere sich dorthin begeben. Um ihr Volk von der Küste abzuschneiden, haben sie große Waldungen anlegen lassen. Da sie aber mit den Bäumen in Feindschaft leben, haben sie nun auch Angst vor den Wäldern, und weil sie sich vor den Wäldern fürchten, nehmen sie an, diese seien voll von Geistern. Teilweise glauben die Könige und die leitenden Männer, die das Meer wie auch den Wald hassen, selbst an diese Märchen; jedenfalls aber sorgen sie dafür, daß sie verbreitet werden. Sie fühlen sich sicherer, wenn kein Mensch aus Narnia sich der Küste nähert und über das Meer blickt – gen Aslans Land und nach Osten.«

Für einige Minuten herrschte am Turm tiefes Schweigen zwischen ihnen.

Dann sagte Doktor Cornelius: »Kommt! Wir sind lange genug hier oben gewesen. Es ist Zeit, hinabzusteigen und ins Bett zu gehen.«

»Muß das sein?« fragte Kaspian. »Ich möchte immerfort von diesen Dingen hören und reden.«

»Tun wir das, so kommt vielleicht jemand auf den Gedanken, nach uns zu suchen«, meinte Doktor Cornelius.

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