Als die Telmarer Aslan sahen, wurden ihre Gesichter aschgrau; ihre Knie zitterten, und manche fielen auf ihre Gesichter. Sie hatten nicht an Löwen geglaubt; darum war ihre Angst jetzt um so größer. Selbst die Rotzwerge, die wußten, daß er als Freund kam, standen mit offenen Mündern da und konnten nichts hervorbringen. Einige von den Schwarzzwergen, die zu Nikabriks Gruppe gehörten, versuchten, sich davonzumachen. Aber alle Sprechenden Tiere drängten sich um den Löwen; sie schnurrten und grunzten und quiekten und wieherten vor Freude, umschmeichelten ihn mit ihren Schwänzen, rieben sich an ihm, berührten ihn ehrfurchtsvoll mit den Nasen und krochen unter seinem Körper hindurch und zwischen seinen Beinen hin und her. Wenn ihr jemals beobachtet habt, wie eine kleine Katze mit einem großen Hund umgeht, den sie liebt und dem sie traut, so habt ihr ein ganz gutes Bild von dem, wie sich diese Tiere benahmen. Dann erzwang sich Peter, der Kaspian führte, den Weg durch die Menge der Tiere.
»Dies ist Kaspian, Herr«, sagte er. Kaspian kniete nieder und küßte des Löwen Tatze.
»Willkommen, Prinz«, sprach Aslan. »Glaubst du geeignet zu sein, das Königreich Narnia zu übernehmen?« »Ich – ich glaube nicht, Herr«, erwiderte Kaspian. »Ich bin wohl noch zu jung.«
»Gut«, sagte Aslan. »Hättest du dich selbst für geeignet gehalten, so wäre es ein Beweis dafür gewesen, daß du es nicht bist. Darum sollst du nun unter uns und unter Peter dem Prächtigen der König von Narnia sein, der Herr von Feeneden und der Kaiser der Einsamen Eilande, du und deine Erben, solange dein Stamm lebt Und deine Krönung – aber was ist denn hier los?« In diesem Augenblick nämlich näherte sich eine merkwürdige, kleine Prozession – elf Mäuse, von denen sechs zwischen sich etwas auf einer Bahre trugen, die aus Zweigen gemacht, aber nicht größer als ein Buch war. Man könnte sich keine traurigeren Mäuse als diese vorstellen. Sie waren mit Schlamm beschmiert, einige auch mit Blut, ihre Ohren hingen herab, ihre Barthaare waren zerzaust, ihre Schwänze schleiften durch das Gras, und ihr Anführer blies auf einer zarten Flöte eine wehmütige Melodie. Auf der Bahre lag etwas, was nicht besser aussah als ein Häufchen feuchten Pelzwerkes, alles, was von Riepischiep übrig war. Er atmete zwar noch, war aber mehr tot als lebendig, bedeckt mit unzähligen Wunden, hatte eine zerquetschte Pfote, und wo sein Schwanz gewesen war, hing ein verbundener Stumpf. »Das ist etwas für dich, Lucy«, meinte Aslan. Augenblicks brachte Lucy ihre Diamantflasche herbei. Obwohl nur ein einziger Tropfen für jede von Riepischieps Wunden nötig war, herrschte eine lange und angsterfüllte Stille, bevor sie die vielen Wunden behandelt hatte und der Mäuseheld von der Bahre sprang. Sofort fuhr seine eine Hand an das Heft des Schwertes; mit der anderen zwirbelte er seinen Bart. Er verbeugte sich. »Heil, Aslan«, ertönte seine helle Stimme. »Ich habe die Ehre...« Aber dann hielt er plötzlich inne. Er hatte nämlich keinen Schwanz mehr – sei es, daß Lucy diesen vergessen hatte, sei es, daß ihr Heilmittel zwar Wunden heilen, aber keine Glieder wieder wachsen lassen konnte. Jedenfalls gewahrte Riepischiep diesen Verlust, als er sich verbeugte; vielleicht hatte sich sein Gleichgewicht dadurch verschoben. Er blickte über seine rechte Schulter. Da er seinen Schwanz nicht sehen konnte, spannte er seinen Hals so lange an, bis er auch seine Schultern drehen mußte, und dann folgte der ganze Körper. Inzwischen hatte sich aber auch sein Hinterteil gedreht und war nicht mehr zu sehen. Darauf spannte er seinen Hals erneut an, um über seine Schulter zu sehen – mit dem gleichen Ergebnis. Erst nachdem er sich dreimal um sich selbst gedreht hatte, wurde ihm die schreckliche Wahrheit bewußt. »Ich bin außer mir«, sagte Riepischiep zu Aslan. »Ich kann mich gar nicht fassen. Ich muß Eure Nachsicht erbitten, daß ich in dieser ungehörigen Aufmachung vor Euch erscheine.« »Es steht dir sehr gut, mein Kleiner«, antwortete Aslan. »Dennoch«, erwiderte Riepischiep, »wenn etwas dagegen getan werden könnte ... vielleicht Ihre Majestät«, und damit verbeugte er sich vor Lucy.
»Aber wozu brauchst du denn den Schwanz?« fragte Aslan. »Sire«, entgegnete die Maus, »ich kann essen und schlafen und für meinen König sterben ohne einen solchen. Aber der Schwanz ist der Stolz und die Ehre einer Maus.« »Ich habe mich schon manchmal gefragt, mein Freund«, sprach Aslan, »ob du nicht reichlich viel über deine Ehre nachdenkst.« »Höchster aller großen Könige«, erwiderte Riepischiep, »erlaube mir, dich daran zu erinnern, daß wir Mäuse nur mit sehr geringer Größe ausgestattet wurden. Wenn wir nicht auf unsere Würde achten wollten, so würden manche, die uns nicht das Wasser reichen können, sich auf unsere Kosten sehr unpassende Scherze erlauben. Darum habe ich keine Mühe gescheut, alle immer wieder davor zu warnen, in meiner Gegenwart abfällig über Mäuse zu reden. Wer es dennoch tut, läuft Gefahr, dieses Schwert so nahe an seinem Herzen zu fühlen, wie ich nur reichen kann. Nein, Sire, nicht einmal die größten Toren in Narnia dürften das.« Hiebei blickte Riepischiep herausfordernd an Wetterfest hinauf, aber der Riese, der immer eine Nasenlänge hinter allem herhinkte, hatte noch nicht begriffen, was zu seinen Füßen gesprochen wurde, und verstand darum auch diese letzte Bemerkung nicht. »Warum haben deine Anhänger alle ihr Schwert gezogen, wenn ich fragen darf?« sagte Aslan. »Mit der Erlaubnis Eurer Hohen Majestät«, begann die zweite Maus, deren Name Pierischiep war, »wir sind alle bereit, uns die Schwänze abzuschlagen, falls unser Anführer ohne einen solchen auskommen muß. Wir wollen – bei unserer Ehre – keine Auszeichnung tragen, die der Großen Maus verwehrt ist.« »Ah!« brüllte Aslan. »Ihr habt mich besiegt. Ihr habt tapfere Herzen. Du sollst deinen Schwanz zurückerhalten, Riepischiep – nicht deiner Würde wegen, sondern wegen der Liebe, die zwischen dir und deinem Volk ist, und mehr noch wegen der Freundlichkeit, die mir dein Volk vor langer Zeit erwies, als es die Fesseln abnagte, die mich an den Steinernen Tisch banden. Seit jener Zeit übrigens seid ihr Sprechende Mäuse, falls du es vergessen haben solltest.« Bevor Aslan noch geendet hatte, war der neue Schwanz an seinem Platz. Dann schlug Peter auf Aslans Befehl Kaspian zum Ritter des Löwenordens. Kaspian, nachdem er selbst zum Ritter gemacht worden war, verlieh die Ehre an Trüffeljäger, Trumpkin und Riepischiep. Er machte Doktor Cornelius zu seinem Kanzler und bestätigte den Wohlbeleibten Bären in seinem Erbamt als Kampfrichter. Es gab großen Beifall. Hierauf wurden die Soldaten von Telmar, streng bewacht, aber ohne sie zu verhöhnen oder zu schlagen, durch die Furt gebracht und in Beruna hinter Schloß und Riegel gesetzt. Man gab ihnen Fleisch und Bier. Sie stellten sich sehr an, als sie durch das Wasser waten mußten, weil sie alles fließende Wasser genauso haßten und fürchteten, wie sie Wälder und Tiere haßten und fürchteten. Aber endlich war die Aufregung vorüber, und dann begann der schönste Teil dieses langen Tages. Lucy, die dicht bei Aslan saß und sich überaus wohl fühlte, wunderte sich über das, was die Bäume taten. Erst dachte sie, daß sie nur tanzten. Tatsächlich bewegten sie sich langsam in zwei Kreisen; die einen gingen von links nach rechts und die anderen von rechts nach links. Dann bemerkte sie, wie die Bäume ständig etwas in die Mitte dieser Kreise warfen. Manchmal glaubte Lucy, sie schnitten lange Fasern von ihrem Haar ab. Manchmal sah es so aus, als wenn sie etwas von ihren Fingern abbrachen, aber, so dachte sie, sie haben viele Finger, die sie abgeben können, und es tut ihnen nicht weh. Was sie aber auch hinunterwarfen, alles wurde, sobald es den Boden berührte, zu Feuerholz und trockenen Knüppeln. Darauf kamen drei oder vier von den Rotzwergen mit ihren Feuerzeugen herbei und setzten den Haufen in Brand, der zuerst knisterte, dann aufflackerte und endlich wie ein ländliches Freudenfeuer zur Sonnenwende heulend aufbrauste. Und alle setzten sich in einen weiten Kreis darum. Dann fingen Bacchus und die Mänaden an zu tanzen, und es war viel wilder als der Tanz der Bäume. Nicht nur war es ein Tanz der Schönheit und Freude, wenngleich es das auch war, sondern ein Zaubertanz der Fülle. Wohin ihre Hände rührten und wohin ihre Füße traten, entstand das festliche Beiwerk. Große Stücke gebratenen Fleisches erfüllten den Hain mit köstlichem Duft; überall gab es Weizenkuchen und Haferkuchen, Honig und vielfarbigen Zucker und Sahne, so dick wie Hafergrütze und so glatt wie ruhiges Wasser, Pfirsiche, Aprikosen, Granatäpfel, Birnen, Trauben, Erdbeeren, Himbeeren – Pyramiden und Wasserfälle von Früchten. Dann kam in großen hölzernen Gefäßen und Schalen und in edlen, efeubekränzten Bechern der Wein, dunkler dickflüssiger, stark wie Obstsaft, und hellroter wie füssiges Gelee und gelbe und grüne Weine und gelbgrüne und grüngelbe. Den Baumleuten wurde noch andere Nahrung geboten. Als Lucy bemerkte, wie Klumpenschaufler und seine Maulwürfe den Rasen an mehreren Stellen, die Bacchus ihnen bezeichnet hatte, aufwarfen, und erkannte, daß die Bäume Erde essen wollten, schauderte sie etwas. Aber als sie die Erdsorten betrachtete, die ihnen gebracht wurden, änderte sie ihre Meinung. Die Bäume begannen mit fettem, braunem Lehm, der so ähnlich wie Schokolade aussah – tatsächlich so schokolodenähnlich, daß Edmund ein Klümpchen davon probierte, aber er fand ihn ganz und gar nicht genießbar. Nachdem der fette Lehm den ersten Hunger der Bäume gestillt hatte, wandten sie sich einer Sorte zu, die etwas rötlich aussah. Man findet so etwas im Land der Roten Erde. Sie behaupteten, diese Sorte sei leichter und süßer. Als Käsegang bekamen sie einen kalkigen Boden, und dann gingen sie zu delikatem Konfekt über aus den feinsten Kiessorten mit ausgesuchtem Silbersand bestreut. Sie tranken nur sehr wenig Wein, und das bißchen machte die Stechpalmen schon sehr redselig; im wesentlichen löschten sie ihren Durst in tiefen Zügen aus einer Mischung von Tau und Regen mit Waldblumengeschmack und dem duftigen Aroma leichter Wölkchen. So bewirtete Aslan die Narnianen, bis die Sonne längst untergegangen war und die Sterne hervorkamen. Das große Feuer, das jetzt heißer, aber weniger geräuschvoll brannte, strahlte wie ein Leuchtzeichen in den dunklen Wäldern. Die verängstigten Telmarer sahen es von weitem und fragten sich, was das wohl sein könne. Das schönste an diesem Fest war: niemand brach auf, und keiner ging fort. Als die Unterhaltung ruhiger und langsamer wurde, ließ allmählich einer nach dem anderen den Kopf hängen und schlief fest ein – mit den Füßen zum Feuer und guten Freunden zu beiden Seiten –, bis endlich Schweigen über dem Kreis lag. Wieder war das Geplätscher des Wassers über die Steine am Fuß der Festung Beruna zu hören. Aslan und der Mond schauten einander während der ganzen Nacht mit freudevollen, immer wachen Augen an. Am nächsten Tag wurden Boten – meistens Eichhörnchen und Vögel – durch das ganze Land geschickt mit einem Aufruf an die verstreuten Telmarer, einschließlich natürlich der Gefangenen von Beruna. Es wurde ihnen mitgeteilt, Kaspian sei jetzt König und Narnia gehöre künftig den Sprechenden Tieren, den Zwergen, den Waldnymphen, den Faunen und anderen Geschöpfen genauso wie den Menschen. Alle, die bereit seien, unter den neuen Bedingungen im Lande zu bleiben, könnten es tun. Für diejenigen, denen diese Änderung nicht gefalle, werde Aslan eine andere Heimat beschaffen. Jeder, der dorthin gehen wolle, möge am Mittag des fünften Tages zu Aslan und den Königen nach der Festung Beruna kommen.
Ihr könnt euch wohl vorstellen, daß viele der Telmarer sich nachdenklich den Kopf kratzten. Einige unter ihnen, besonders die jüngeren, hatten wie Kaspian Geschichten von den alten Zeiten gehört und freuten sich, daß diese wiedergekommen waren. Sie freundeten sich schon mit den anderen Geschöpfen an. Diese beschlossen sämtlich, in Narnia zu bleiben. Aber die meisten der älteren Männer, besonders die, welche unter Miraz wichtige Rollen gehabt hatten, waren mißmutig und hatten keine Lust, in einem Lande zu leben, wo sie nicht die erste Geige spielen konnten. »Hier leben inmitten eines Haufens angeberischer Tiere! Um keinen Preis«, sagten sie. »Und noch dazu diese Geister!« fügten einige schaudernd hinzu. »Etwas anderes sind doch diese Baumnymphen nicht. Das ist gefährlich.« Außerdem waren sie mißtrauisch. »Ich traue ihnen nicht«, sagten sie, »nicht, solange sie diesen gräßlichen Löwen und alles, was damit zusammenhängt, haben. Lange wird er seine Tatzen nicht von uns halten. Man wird es ja sehen.« Aber ebensowenig trauten sie seinem Angebot, ihnen eine neue Heimat zu geben. »Wahrscheinlich will er uns in seine Höhle schleppen und uns dann einen nach dem anderen auffressen«, murmelten sie. Je mehr sie miteinander sprachen, um so mürrischer und mißtrauischer wurden sie. Dennoch erschien an dem festgesetzten Tag mehr als die Hälfte von ihnen. Aslan hatte auf der Lichtung zwei Holzpfähle einschlagen lassen. Diese waren übermannshoch und etwa einen Meter voneinander entfernt. Ein drittes, leichteres Holzstück war oben auf ihnen befestigt und verband sie, so daß das Ganze wie eine Tür aussah, die von nirgends nach nirgends führte. Davor stand Aslan mit Peter an seiner rechten und Kaspian an seiner linken Seite. Um diese drei scharten sich Suse und Lucy, Trumpkin und Trüffeljäger, Lord Cornelius, Talsturm, Riepischiep und andere. Die Kinder und Zwerge hatten sich inzwischen gut ausgestattet mit der königlichen Kleidung aus dem Schloß, das einstmals Miraz gehört hatte und nun das Schloß Kaspians war. Mit all der Seide und dem Goldstoff, mit dem schneeweißen Leinen, das aus geschlitzten Ärmeln hervorlugte, mit silbernen Kettenhemden und juwelenbesetzten Schwertgriffen, mit vergoldeten Helmen und federverzierten Kappen waren sie fast zu sehr herausgeputzt. Selbst die Tiere trugen reiche Ketten um ihre Hälse. Aber keiner schaute sie oder die Kinder an. Das lebendige und seidenweiche Gold von Aslans Mähne überstrahlte alles. Die übrigen Alt-Narnianen hatten sich zu beiden Seiten der Lichtung aufgestellt. Am anderen Ende standen die Telmarer. Die Sonne schien hell, und Wimpel flatterten im leichten Wind.
»Männer von Telmar«, sprach Aslan, »ihr, die ihr neues Land sucht, achtet auf meine Worte. Ich will euch alle in euer eigenes Land zurücksenden, das ich kenne, aber das ihr nicht kennt.« »Wir erinnern uns nicht an Telmar. Wir wissen nicht, wo es ist. Wir wissen nicht, wie es ist«, brummten die Telmarer. »Ihr kamt aus Telmar nach Narnia«, sagte Aslan. »Aber bevor ihr in Telmar wart, lebtet ihr in einem anderen Land. Ihr gehört gar nicht zu dieser Welt. Ihr seid vor einigen Generationen aus der gleichen Welt hierhergekommen, zu der König Peter der Prächtige gehört.«
Als sie dies vernahmen, begann die Hälfte der Telmarer zu winseln: »Da habt ihr es. Was habe ich gesagt? Er wird uns alle töten und uns ganz aus der Welt schicken.« Die andere Hälfte aber warf sich in die Brust. Die Männer schlugen einander auf die Schultern und flüsterten: »Da habt ihr es. Hätten uns längst denken können, daß wir nicht hierhergehören – in diese Gegend mit all den merkwürdigen, abstoßenden, unnatürlichen Geschöpfen. Wir sind aus königlichem Blut; man wird ja sehen.« Selbst Kaspian, Cornelius und die Kinder wandten sich mit erstaunten Blicken Aslan zu.
»Ruhe!« gebot Aslan mit seiner leisen Stimme, die schon ans Knurren grenzte. Die Erde schien ein klein wenig zu zittern, und kein Lebewesen im Hain wagte sich zu rühren. »Du, Herr Kaspian«, sprach Aslan, »hättest wissen müssen, daß du kein wahrer König von Narnia sein kannst, wenn du nicht gleich den alten Königen ein Adamssohn bist und aus der Welt der Adamssöhne kommst. So ist es auch. Vor vielen, vielen Jahren wurde in jener Welt auf einem tiefen Meer, das man die Südsee nennt, ein Schiff mit Seeräubern vom Sturm auf eine Insel getrieben. Die Seeräuber benahmen sich dort so, wie sich Piraten benehmen: sie töteten die Eingeborenen, nahmen eingeborene Weiber zu Frauen, machten Palmwein, tranken und wurden betrunken, lagen dann im Schatten der Palmbäume, wachten wieder auf, stritten sich, und manchmal tötete einer einen anderen. Bei einer dieser Schlägereien wurden sechs von ihnen in die Flucht geschlagen. Sie flohen mit ihren Frauen in das Innere der Insel auf einen Berg und versteckten sich dort in einer Höhle – wie sie glaubten. Aber es war keine Höhle, sondern eine der verwunschenen Orte jener Welt, eine der Stätten, welche die Verbindung und Trennung zwischen jener Welt und dieser herstellen. In den alten Zeiten gab es viele solcher Übergänge zwischen den Welten, aber sie sind seltener geworden. Dieses war einer der letzten, ich möchte nicht sagen der letzte. Und so fielen sie oder erhüben sich oder stolperten oder sanken hindurch, bis sie sich in dieser Welt wiederfanden, im Lande Telmar, das damals unbevölkert war. Warum es aber nicht bevölkert war, ist eine lange Geschichte, die ich jetzt nicht erzählen will. In Telmar lebten nun also ihre Nachkommen und wurden ein wildes und stolzes Volk. Nach vielen Jahren gab es einmal eine Hungersnot in Telmar; da drangen die Telmarer in Narnia ein, das damals in Unordnung geraten war – aber auch das zu erzählen würde zu lange dauern. Kurz, sie besiegten und beherrschten Narnia. Hast du dir dies alles gut gemerkt, König Kaspian?« »Ganz gewiß, Herr«, antwortete Kaspian. »Ich möchte lieber aus einer etwas ehrenvolleren Ahnenreihe stammen.« »Du stammst ab von Adam und Eva«, antwortete Aslan, »und das ist so ehrenvoll, daß der ärmste Bettler deswegen sein Haupt erheben kann, und das ist zugleich so beschämend, daß der größte Kaiser auf Erden seinen Rücken beugen sollte. Sei zufrieden.« Kaspian verneigte sich.
»Nun frage ich«, fuhr Aslan fort, »wollt ihr Männer und Frauen von Telmar auf jene Insel in der Welt der Menschen zurückkehren, von der eure Väter einst kamen? Es ist kein schlechter Ort. Der Stamm der Seeräuber, welche die Insel entdeckt haben, ist ausgestorben; es gibt dort keine Einwohner mehr, wohl aber gute Brunnen mit frischem Wasser, fruchtbaren Boden, Holz zum Bauen und Fische in den Buchten, und die anderen Menschen jener Welt haben diese Insel noch nicht entdeckt. Der Übergang zwischen den Welten ist für euch offen; ihr könnt dorthin zurückkehren, aber ich muß euch sagen: sobald ihr hindurchgeschritten seid, wird er sich für immer hinter euch schließen. Es wird durch jenes Tor keinen Austausch mehr zwischen den Welten geben...«
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann drängte sich ein kräftiger, ordentlich aussehender Bursche unter den Telmarer Soldaten nach vorn und erklärte: »Also gut, ich nehme das Angebot an.« »Du hast gut gewählt«, sprach Aslan, »und weil du zuerst gesprochen hast, wird dich kräftiger Zauber umgeben. Deine Zukunft in der anderen Welt wird gut. Tritt näher.« Der Mann, der nun ein wenig blaß geworden war, kam nach vorn. Aslan und sein Gefolge traten beiseite und ließen ihm freien Zutritt zu der leeren Tür zwischen den Pfählen. »Geh hindurch, mein Sohn«, sagte Aslan, beugte sich dem Mann entgegen und berührte dessen Nase mit seiner. Sobald der Atem des Löwen den Mann gestreift hatte, trat ein anderer Ausdruck in seine Augen – aufgeschreckt, aber nicht unglücklich –, als versuche er, sich auf etwas zu besinnen. Dann reckte er seine Schultern und schritt in die Tür.
Aller Augen hefteten sich auf ihn. Alle sahen den Holzrahmen und durch ihn hindurch die Bäume, das Gras und den Himmel Narnias. Sie sahen den Mann zwischen den Pfählen, und in Sekundenschnelle war er verschwunden. Auf der anderen Seite der Lichtung wehklagten die Telmarer: »Oje! Was ist mit ihm geschehen? Willst du uns umbringen? Den Weg wollen wir nicht gehen.« Darauf sagte einer der klugen Telmarer:
»Wir können keine andere Welt hinter den Pfählen erkennen.
Wenn ihr wollt, daß wir daran glauben, warum geht dann nicht einer von euch? Alle deine eigenen Freunde halten sich weit entfernt von den Pfählen.«
Sofort erhob sich Riepischiep und verbeugte sich: »Falls mein Beispiel von Diensten sein kann, Aslan« sagte er, »so will ich auf deinen Befehl, ohne zu zögern, elf Mäuse durch den Bogen dort führen.«
»Nein, mein Kleiner«, antwortete Aslan und legte seine samtweiche Pfote behutsam auf Riepischieps Kopf. »In jener Welt würde man euch schreckliche Dinge antun. Man würde euch auf den Jahrmärkten zeigen. Es müssen schon andere führen.« »Kommt mit«, sagte da Peter zu Edmund und Lucy. »Unsere Zeit ist um.«
»Was meinst du damit?« fragte Edmund. »Kommt mit«, sagte Suse, die Bescheid zu wissen schien, »zurück in den Wald. Wir müssen uns umziehen.« »Umziehen? Wieso?« fragte Lucy.
»Wir müssen natürlich unsere eigenen Kleider wieder anziehen«, antwortete Suse. »In diesen hier würden wir auf dem Bahnsteig in England sehr auffallen.«
»Aber unsere Sachen sind doch in Kaspians Schloß«, meinte Edmund.
»Nein, das sind sie nicht mehr«, antwortete Peter und führte sie weiter hinein in den Wald, wo er besonders dicht war. »Sie sind hier. Sie wurden heute morgen schon zusammengebündelt hierhergebracht. Für alles ist gesorgt.« »War es das, was Aslan heute morgen mit dir und Suse besprochen hat?« fragte Lucy.
»Ja, das war es – und auch noch anderes«, erwiderte Peter mit ernster Miene. »Ich kann es euch nicht alles erzählen. Es waren Dinge, die er Suse und mir sagen wollte, weil wir nicht wieder nach Narnia zurückkommen werden.« »Niemals?« riefen Edmund und Lucy angstvoll. »Oh, ihr beiden wohl«, entgegnete Peter, »nach allem, was er sagte, glaube ich fest, daß er euch eines Tages wiederhaben möchte. Aber nicht Suse und mich. Er sagte, wir werden zu alt.« »Oh, Peter«, sagte Lucy, »wie traurig ist das. Kannst du dich damit abfinden?« »Nun, ich glaube ja«, erwiderte Peter. »Es ist ganz anders, als ich es mir dachte. Du wirst es verstehen, wenn deine letzte Zeit gekommen ist. Aber rasch, hier sind unsere Sachen.« Es war merkwürdig und nicht sehr angenehm, die königlichen Gewänder abzulegen und in der Schulkleidung, die gar nicht mehr besonders sauber war, in die große Versammlung zurückzukehren. Einzelne der unangenehmen Telmarer spotteten darüber. Aber die anderen Geschöpfe spendeten Beifall und erhoben sich zu Ehren von König Peter dem Prächtigen und Königin Suse der Sanften mit dem Horn und König Edmund dem Gerechten und der tapferen Königin Lucy. Innig – und von Lucy tränenreich – wurde von allen alten Freunden Abschied genommen; die Tiere küßten sie, die Wohlbeleibten Bären umarmten sie; mit Trumpkin schüttelten sie die Hände, und zuletzt kam eine kitzlige, barthaarige Umarmung von Trüffeljäger. Natürlich wollte Kaspian das Horn an Suse zurückgeben, und natürlich bat Suse ihn, es zu behalten. Endlich mußte – wunderbar und schrecklich zugleich – von Aslan Abschied genommen werden. Dann machte sich Peter zum Gehen bereit. Suse legte ihre Hände auf seine Schultern. Ihr folgte Edmund mit seinen Händen auf ihren Schultern. Dann kam Lucy mit ihren Händen auf seinen Schultern. Darauf folgte in gleicher Weise der erste Telmarer, und so bewegten sie sich in einer langen Kette auf die Tür zu. Es kam ein Augenblick, den man kaum beschreiben kann – das war, als die Kinder glaubten, drei Dinge zur gleichen Zeit zu sehen. Das eine war die Öffnung einer Höhle, die dem gleißenden Grün und dem Blau einer Insel im Stillen Ozean zugewandt war, wo alle Telmarer sich sogleich wiederfanden, nachdem sie durch die Tür getreten waren. Das zweite war eine Lichtung in Narnia mit den Gesichtern der Zwerge und Tiere, den tiefen Augen Aslans und den weißen Flecken auf den Backen des Dachses. Aber das dritte, was die beiden anderen Bilder schnell aufschluckte, war der graue, kiesbestreute Bahnsteig eines ländlichen Bahnhofs und eine von Gepäck umgebene Bank. Auf dieser Bank saßen sie alle vier, als seien sie niemals fortgewesen. Zuerst erschien alles ein wenig langweilig und trübselig, verglichen mit dem, was sie erlebt hatten, aber es war in mancher Weise auch unerwartet hübsch – der vertraute Eisenbahngeruch, der englische Himmel und die vor ihnen liegende Schulzeit im Sommer.
»Du meine Güte!« sagte Peter. »Was haben wir alles erlebt.« »So ein Pech!« bemerkte Edmund. »Ich habe meine neue Taschenlampe in Narnia liegenlassen.«