Zum Schlupfwinkel des Skorpions

Neun auf zwei, Zeichen der Eule,

alter Späher, der jede Richtung sieht,

Seemann in verwirrender Nacht,

wo Länder brennen, verschwinden, niemals waren,

Vor sich blickt er und hinter sich,

wo im Feuerschein das Mögliche auftaucht.

Die Calantina II:IX

16

Erst nachdem die Schloßwache von Kastell di Caela in Lady Enids Zimmer gestürmt war, sollten wir erfahren, was geschehen war. Denn dort fand sie die sehr liebliche und sehr bewußtlose Danielle di Caela, die nach ihrem Erwachen von der mysteriösen Entführung erzählte.

Sie und Enid hatten an Lady Enids antikem Frisiertisch gesessen und sich über die gescheiterte Werbung von Gabriel Androctus lustig gemacht, dem Enid immerhin »die Aura eines Abenteurers« zugestand. Da hatte sich eine Wolke – eine Art Finsternis – über den Kamin gesenkt und das Licht des Feuers verschluckt.

»Erst dachten wir, der Kamin wäre kaputt«, erklärte Danielle schwach, wobei sie von Zofen und Kissen gestützt wurde. »Vielleicht irgend etwas mit dem Abzug, schlug ich vor, denn der Abzug ist der einzige Teil vom Kamin, den ich kenne. Und Base Enid ging zum Kamin, hob ihre Röcke hoch und hörte überhaupt nicht auf meine Warnung, sie sollte doch stehenbleiben – gleich würde sie in Rauch und Asche stehen, die ihr Kleid und auch ihren Teint ruinieren würden. Aber ihr kennt ja Base Enid.

Sie trat zum Kamin, und mit einem Mal war sie einfach verschwunden. Ich konnte sie irgendwo in der Finsternis strampeln und schreien hören und rannte sofort hin, um ihr zu helfen… aber dann lag ich plötzlich gefesselt und geknebelt hier auf dem Bett. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit verstrichen war, bis ich das Strampeln und Schreien vor dem Fenster hörte. Es kann nicht lange gewesen sein.

Ich habe versucht, mich aus den Fesseln zu befreien oder den Knebel zu lockern, damit ich um Hilfe rufen konnte. Aber ich konnte mich absolut nicht bewegen und… mehr möchte ich nicht dazu sagen.«

Während ich der schlimmen Geschichte zuhörte, stand ich an dem alten Frisiertisch, so weit wie möglich von Danielle entfernt. Ich schämte mich bei der Stelle, wo Danielle ihrer Kusine zur Hilfe geeilt war, denn ich erinnerte mich, wie ich in die Büsche zurückgeschreckt war, als der Schatten die Wand herunterkam.

Während Danielle erzählte, was geschehen war, saßen Bayard und Robert di Caela aufmerksam – und offensichtlich besorgt – auf den hochlehnigen Stühlen am Bett. Brithelm stand mit Sir Ramiro vom Schlund und Sir Ledyard an besagtem Fenster.

Alfrik trieb sich irgendwo herum.

Als die Geschichte zu Ende war, starrten die Männer einander lange und finster an. Auf Robert di Caelas Gesicht zeichneten sich widerstreitende Gefühle ab. Angst und Wut rasten über das edle Antlitz wie Skorpione über einen weißen Thron oder wie eine dunkle Wolke über die mondhelle Mauer einer Burg. Aber die Zeit für Gefühlswallungen war schnell vorbei. Er sprach als erster.

»Also ist meine Tochter Huma-weiß-wohin entführt worden. Dann haben wir nur ein einfaches Problem zu lösen: Wie kriegen wir sie wieder?«

Brithelm drehte sich vom Fenster weg. Bayard lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Zunächst sprach keiner von beiden, weil beide in der Gegenwart des Patriarchen von di Caela etwas nervös waren. Ich war um nichts besser, als ich sie aus meiner sicheren Position hinter dem Kaminsims beobachtete.

»Wäre es doch nie soweit gekommen«, fing Sir Robert an, »besonders in einer Zeit, wo wir so in Bedrängnis sind.

Vor einem knappen Monat erhielt ich die Nachricht, daß Bayard Blitzklinge an diesem Turnier teilnehmen würde. Ich nahm die Nachricht mit Freuden auf, weil ich sicher war, daß er durch die Prophezeiung mein Erbe der Wahl sein würde, und darüber war ich froh.

Und jetzt sind die Ansprüche dieses Erben von jemandem in Frage gestellt worden, dessen Anspruch auf diesen Besitz… beträchtlich ist. Er hat das Turnier gewonnen, bei dem es um meine Tochter Enid und alle Güter der di Caelas ging, doch dann stellt sich heraus, daß sein Name im Schicksal meiner Familie eine Rolle spielt, wenn auch eine schrecklichere, als ich wünschte oder mir auch nur vorzustellen vermag.«

Bayard setzte sich seufzend zurecht und wartete, daß Sir Robert zum Ende kam.

»Wenigstens ist dieses arme Mädchen nicht zu Schaden gekommen«, sagte ich und zeigte auf Danielle.

Sie lächelte erschöpft.

»Danke, Galen Pfadwächter«, hauchte sie. »Du bist sehr… ritterlich. Ich werde nicht vergessen«, fuhr Lady Danielle entwaffnend fort, »daß du in meiner schlimmen Lage als erster an meiner Seite warst.«

Damit hatte ich auch mich selbst überrascht.

»War mir ein Vergnügen«, stammelte ich, und Sir Ramiro grinste höhnisch am Fenster. Ich warf ihm einen haßerfüllten Blick zu. Bayard ergriff das Wort, denn er spürte meine Verlegenheit.

»Trotzdem, meine Herren, ist an dieser Geschichte noch vieles zu entschlüsseln. Vielleicht könnten wir uns anderswo zusammensetzen, wo wir Zeit und Ruhe haben und über die Situation nachdenken können. Dazu überlassen wir die, die uns teuer sind, den fähigen Händen der Zofen und Ärzte. Laßt uns zusammenkommen und gemeinsam nachdenken, meine Herren. Wir müssen eine angemessene Taktik finden.«Und dann überlegten sie alle im großen Burgsaal, den wir erreichten, nachdem wir durch ein halbes Dutzend Gänge gelaufen waren; dann über eine gewaltige Steinbrücke, die durch einen Wintergarten führte, wo Sir Robert exotische Pflanzen züchtete, die für meinen Geschmack viel zu süß dufteten; durch bekanntes Territorium, wo die di Caela Statuen und der Klang der mechanischen Vögel vor uns lagen; und schließlich die Treppe zum Erdgeschoß in den großen Saal hinunter.

Hier berieten wir, wohin der Skorpion Enid gebracht haben könnte. Wir standen an den Tischen, die erst vor wenigen Nächten im Kerzenlicht und zwischen polierten Rüstungen geglänzt hatten, und mir kam es so vor, als wäre in der einen Stunde Beratung jeder nur vorstellbare Ort auf ganz Krynn erwähnt worden. Kein Vorschlag war ermutigend, und es fiel mir schwer, aufmerksam dem zu lauschen, was die Ritter sagten.

Denn die ganze Zeit hatte ich diese Stimme im Ohr, daß ich mich an etwas erinnern mußte, was mit dem Raben damals in meinem Zimmer zu tun hatte…

Sir Ledyard glaubte, daß wir den Skorpion und seine Gefangene gut irgendwo im Südwesten auf der Sirrion-See vermuten konnten. Niemand zollte ihm Aufmerksamkeit; jeder hatte gewußt, daß seine Antwort irgend etwas mit dem Meer zu tun haben würde, und außerdem war die Sirrion-See viel zu weit weg.

Sir Robert war dafür, in Estwilde zu suchen, weil er zuvor die weißen Opale gesehen hatte. Nach diesem Vorschlag betrachtete er die Frage als erledigt.

Sir Ramiro fand diese Lösung zu naheliegend. Jemand vom Schlag des Skorpions würde sich nicht so leicht ertappen lassen. Er schlug vor, daß wir zuerst in den Granatbergen südlich des Schlosses suchen sollten, und zwar allein deshalb, weil es dort kalt und hoch und die Luft dünn war – der abschreckendste Ort der ganzen Gegend und damit, Sir Ramiro zufolge, das ideale Versteck für den Skorpion. Die beiden alten Männer begannen, sich herumzustreiten, und sie hätten sich gewiß noch geschlagen, wenn Bayard nicht eingegriffen hätte.

Bayard tippte auf das Vingaard-Gebirge, weil dort seiner Ansicht nach die Magie des Skorpions am stärksten gewesen war. Und hieß es nicht, daß Magie um so stärker wird, je näher man an ihre Quelle kommt?

Keiner der Ritter kannte sich in Sachen Magie aus. Alle Augen gingen zu Brithelm, der hilflos lächelnd die Achseln zuckte.

»Ich weiß nicht genug über die Sorte Magie, die der Skorpion benutzt, meine Herren«, erklärte er entschuldigend. »Schließlich übersteigen Wolken und sprechende Vögel meine Macht.«

»Was machen wir also?« fragte Sir Ramiro ungeduldig. »Ausschwärmen und den ganzen Kontinent durchkämmen? Das kann Jahre dauern.«

»Und der Skorpion, wie Ihr ihn nennt, kommt mir nicht so geduldig vor«, stimmte Sir Ledyard zu, wobei sein breiter, östlicher Dialekt im großen Saal nachhallte.

Wären die Dinge so weiter gegangen, so wären wir vielleicht nie auf die Antwort gestoßen. Die Ritter hätten sich noch Ewigkeiten herumgestritten und ihre Meinung kundgetan, und ich hätte dagesessen und versucht, mich an das zu erinnern, woran ich mich erinnern sollte – was der Skorpion mir an dem Abend im Dunkeln offenbart hatte, bevor Brithelm hereingeplatzt war.

Doch unmittelbar nach Sir Ledyards Bemerkung hörten wir über uns etwas zerreißen und einen Schrei. Die Ritter fuhren herum und zogen ihre Schwerter, während ich mich wie ein Windhund aus Vaters großem Saal unter dem Stuhl verkroch, weil ich ganz sicher war, daß der Skorpion zurück war.

Alfrik baumelte an einem Vorhang vom Balkon, fluchte laut und strampelte wild mit seinen stämmigen Pfadwächterbeinen.

Anscheinend war ich nicht der einzige, der dieses spezielle Versteck und seine Vorteile entdeckt hatte. Es stellte sich heraus, daß Alfrik die ganze Zeit dort oben gelauscht hatte, während hier Wege vorgeschlagen und Fragen aufgeworfen wurden. Als er sich nach vorne gelehnt hatte, um besser verstehen zu können, was gesagt wurde, und wie weit das ihn betreffen mochte, war er auf etwas getreten, was er für einen schmalen Sims um den Balkon jenseits der geschnitzten Brüstung gehalten hatte. Doch nicht einmal eine Katze hätte sich auf diesem Sims halten können.

Da hing er nun, nur an dem Vorhang, den er im Fallen noch erwischt hatte, unter ihm diverse verdiente Ritter, die sich momentan nicht sonderlich für sein Schicksal interessierten, und ein Bruder, der flüsterte: »Bitte laß ihn doch auf den Hals fallen, Paladin!« Keine beneidenswerte Lage. Als der Vorhang nachgab und mein Bruder langsam auf den Boden des Saals sank, sah man, wie er den Raum verzweifelt nach Ausgängen absuchte.

Sir Robert erwischte Alfrik am Arm und hatte ihn vor mir auf einen Tisch geworfen, ehe die zappelnden Füße meines ältesten Bruders den Boden berührt hatten, und ehe Bayard eingreifen konnte.

»Eine feine Bande von Gästen habe ich die letzten Tage beherbergt! Der eine stiehlt meine Tochter, der andere belauscht mich von meinem eigenen Balkon! Da soll ich doch dem alten Benedikt vertrauen, ehe ich wieder meine Gastfreundschaft anbiete!«

Alfrik kauerte sich zwischen die Tellerscherben. Er hatte sich in einem feinen, leinenen Tischtuch verwickelt. Bayard trat zwischen Sir Robert und meinen in die Enge getriebenen Bruder, der sich anklagend gegen mich wandte.

»Wieder einmal ein Ritterrat, und nur der alte Alfrik wurde nicht eingeladen. Du hast ihnen gesagt, daß sie mich übergehen sollen, Wiesel, damit ich keine Chance habe, Enid zu retten und um ihre Hand anzuhalten.«

»Um Humas willen, Bursche«, setzte Sir Robert an, »nun schieb doch deine Werbung ein bißchen auf.«

Das war typisch Alfrik. So tun, als würde er verfolgt, und mich beschuldigen, daß ich irgendwie eine Ritterversammlung einberufen hätte, deren einziger Sinn und Zweck auf diesem Planeten es war, ihn von Abenteuern auszuschließen.

Mir fiel seine merkwürdige, fast krankhafte Version dessen ein, was in der Wasserburg während unserer Kindheit abgelaufen war – daß er sich für den lieben Ältesten hielt, der ständig von unausstehlichen, jüngeren Brüdern bedrängt wurde.

Es war unglaublich, wie jemand derart die Vergangenheit verdrehen konnte.

Ein Windzug bauschte eine Fahne im Saal auf. Ein einzelner Metallkuckuck krächzte über uns irgendwo an dem jetzt unverhüllten Zugang zum Balkon.

Die Vergangenheit verdrehen.

Ich spürte die Erinnerung an Dunkelheit, an die Berührung eines Flügels. Ich roch Parfüm und Verwesung. Einen Augenblick lang verschwamm der Raum um mich herum. Dann kehrte er wieder zurück. Die Lichter waren noch heller, die Farben noch intensiver.

Jetzt hatte ich sie, die Erinnerung.

»Bayard, schnell! Wie war das noch mit Eurer Prophezeiung?«

»Das ist nicht die rechte Zeit für Mystik!« brüllte Sir Robert. »Bei den Hörnern von Kiri-Jolit, ich häng mich auf, ehe ich jemals wieder einen Pfadwächter über die Schwelle meines Hauses lasse!« Sir Ramiro ergriff seinen alten Freund und zog ihn von mir weg.

»Bitte, Bayard! Ich bin mir sicher, daß es wichtig ist!«

Bayard sprach nach einer kurzen Stille, in der der große, fackelerleuchtete Raum noch verlassener erschien.

»Wie ich sie aus meiner Jugend kenne, als ich die Bibliothek von Palanthas durchstöbert habe, ging die Prophezeiung so:

Und Sohn auf Sohn bringt dieser Fluch

Dem Hause di Caela Leid,

Doch niemals kommt es schlimm genug,

Bis alles fällt an eine Maid.

Erst wenn am finstersten Wegesstück

Die blitzende Klinge die Braut erreicht,

Kehr’n Generationen vom Gras zurück,

Auf daß der Fluch nun endlich weicht.«

Danach hielt er inne, denn er hatte von der Zukunft gesprochen und begriff sie nicht. Wir alle sahen einander an, während wir da an beiden Seiten von einem der langen, eleganten Tische von Sir Robert standen. Irgendwo in den Tiefen der Burg ertönte ein mechanisches Zirpen und Pfeifen. Dann herrschte wieder Stille.

Ein merkwürdiger, verwirrter Ausdruck legte sich über die Gesichter der Ritter.

Dann sahen sie natürlich mich an, als wäre ich ein unbeteiligter Beobachter oder jemand, der wahre Prophezeiung von falscher unterscheiden könnte.

»Ehrlich, Sirs. Es steckt irgendwo da drin. Ich bin ganz sicher.«

»Hör noch mal zu, Galen«, hakte Bayard nach. »Vielleicht ist es etwas, was ich ganz übersehen habe, was so offensichtlich ist, daß nur ein Kind es bemerken kann.«

Kein besonders schmeichelhafter Grund, nach meiner Meinung zu fragen, aber ich hörte trotzdem zu, als die gleichen abgelutschten, alten Verse mich mit ihren Rätseln und hölzernen Reimen überfluteten. Ich saß auf Sir Roberts gewaltigem Thron, ließ meine Füße über den Rand baumeln und spielte mit den Würfeln in der Tasche meiner Tunika herum.

Die Ritter standen nach den Versen aufmerksam da und erwarteten mein Urteil, meine Antwort. Ich duckte mich verlegen an die Rückenlehne.

»Um Humas willen, Junge«, begann Sir Robert gereizt, »dein Herr ist nicht zu einem Bardenwettstreit hier! Wir versuchen, meine Tochter wiederzufinden, und wir suchen nach Hinweisen und haben keine Lust, schlechte Reime anzuhören!«

»Wenn Ihr bedenken mögt, Sir, daß ich gerade ein fast tödliches Fieber hinter mir habe«, setzte ich an, doch Bayard mischte sich ein.

»Verzeiht, Sir Robert, aber ich glaube nicht, daß der Junge gerade literarische Spielchen treibt.«

Er drehte sich zu mir um und fuhr freundlich, aber drängend fort.

»Weiter, Galen.«

»Genau das hat der Skorpion gesagt. Oder nicht gesagt. Ich glaube nicht, daß er gesagt hat, die Prophezeiung wäre falsch, nur daß Ihr sie falsch versteht, Bayard. Jetzt, wo ich es genau bedenke, glaube ich sogar… nein, ich bin absolut sicher, daß er gesagt hat, es gäbe mehr als eine Art der Auslegung!

Also ist die Frage nicht, wie Ihr sie all die Jahre verstanden habt, Bayard, sondern wie der Skorpion sie verstanden hat.«

Ich hatte mich immer gefragt, ob ich jemals etwas von dem gebrauchen könnte, was Gileandos mir beigebracht hatte. Mit einem tiefen Atemzug erhob ich mich aus meinem Stuhl und begab mich auf die glitschigen Pfade der Mutmaßungen. Dabei lief ich vor den versammelten Rittern auf und ab.

»Seht mal, es liegt alles in dem, was er über seine eigene ›blitzende Klinge‹ zu mir sagte. Er denkt anscheinend, wenn Bayard nicht die blitzende Klinge der Prophezeiung ist, dann ist es ein richtiges Schwert.«

Ich wandte mich wieder an Sir Robert.

»Wie ich schon sagte, Sir, er hat das erwähnt, bevor er damit gedroht hat, Eure Tochter zu töten.«

»Aha?«

»Also versucht er auch, den Fluch aufzuheben. Seht mal, es macht ihm bestimmt keinen Spaß, in jeder Generation von den Toten zurückzukehren, um an Eurer Familie zu nagen. Ich glaube kaum, daß er da eine Wahl hat.«

»Dem kann ich nicht folgen«, meinte Sir Robert. »Wir laden ihn schließlich nicht ein. Er ist doch unser Fluch.«

»Und Ihr seid seiner!« rief Brithelm aus, und ich sah ihm an, daß er begriff, worauf ich hinaus wollte. »Schließlich haben die zwei Gabriels Benedikt di Caela damals in der Vergangenheit nicht gerade sehr fair behandelt. Der eine hat ihn enterbt, der andere hat ihn auf der Trotylhalde besiegt und ihn dann nach Osten zum Chaktamir Paß verfolgt, wo er ihn umgebracht hat. Egal was die di Caelas über seinen Tod in der Schlacht verbreiten.« Sir Robert nickte.

»Na schön. Die Pfadwächter haben recht bezüglich des Familien… pechs vor vier Jahrhunderten. Es ist beschämend – ja, fast unehrenhaft –, was Gabriel der Ältere und Gabriel der Jüngere taten, aber ich begreife nicht, warum wir diese Leichen aus dem Keller holen müssen.«

»Weil die Leiche von selber kommt und die Familie jede Generation heimsucht, Robert!« erwiderte Sir Ramiro feixend.

»Na schön! Na schön! Und was hat das, verdammt noch mal, mit der Prophezeiung zu tun?« fuhr Sir Robert auf.

»Die di Caelas sind ebenso Benedikts Fluch, wie er der ihre«, entgegnete Brithelm. »Und er glaubt, daß sein Vorhaben ihn befreien und die Familie zerstören wird, die ihm Unrecht getan hat.«

Sir Robert lehnte sich zurück und schwieg. Wieder surrte irgendwo im Erdgeschoß des Schlosses ein Kuckuck. Draußen donnerte es, und ich fühlte, wie sich Regen in der Luft zusammenbraute.

»Könnte der Skorpion recht haben?« fragte Sir Robert schlicht, wobei er seine Hände hinter den Kopf verschränkte und zum Balkon hochstarrte. »Sind wir, und nicht der Skorpion, der Fluch?«

»Um das herauszufinden, müssen wir nach Chaktamir, Sir«, erwiderte ich.

»Chaktamir?«

»Erinnert Ihr Euch an die Worte der Prophezeiung?« fragte ich. »›Erst wenn am finstersten Wegesstück‹?«

Sir Robert nickte abwesend, denn ihn beschäftigte immer noch die Umkehrung der Prophezeiung – die Vorhersage des Endes der di Caelas. Müde schüttelte er die Gedanken ab, baute sich zu seiner vollen, patrizischen Größe auf und marschierte durch den Raum.

»Ich kann mir nichts Finstereres vorstellen als den jetzigen Stand der Dinge«, erklärte er.

»Aber vielleicht heißt es nicht bloß, daß die Lage finster ist, Sir Robert. Vielleicht hatte derjenige, der die Prophezeiung schrieb, einen richtigen Hohlweg vor Augen.«

Sir Robert hielt inne, um das zu verdauen. In der Ferne donnerte es wieder.

»Vielleicht. Aber woher wissen wir, daß es Chaktamir ist, Galen. Warum nicht irgendwo in den Granatbergen oder auf der Trotylhalde?«

»Ich weiß nicht, Sir. Zumindest nicht mit Sicherheit. Aber es paßt doch zusammen, oder? Der Paß bei Chaktamir ist schon mal finster, denn seit Enriks Kampf mit den Männern von Neraka ist er nicht mehr viel begangen. Er ist dunkel vom Blut der Solamnier und Nerakaner.

Und natürlich auch von Benedikts Blut. Schließlich hat Gabriel der Jüngere ihn am Chaktamir Paß eingeholt.

Letztlich ist er finster, weil Eure Geschichte ihn dazu macht. Wenn die Geschichte verbreitet wurde, daß Benedikt auf der Trotylhalde fiel, dann kann man leicht annehmen, daß er in der Schlacht starb und nicht auf einer schäbigen und fragwürdigen Jagd der di Caelas.

Ich würde sagen, daß das finsterste Wegesstück auf jeden Fall Chaktamir ist, Sir Robert. Und ich glaube, Ihr werdet dort den Skorpion finden. Und Eure Tochter.«

Ich sah mich um. Brithelm saß lächelnd auf einem harten Stuhl mit hoher Rückenlehne. Die Füße hatte er auf den Tisch gelegt. Sir Ledyard und Sir Ramiro standen zu beiden Seiten von Sir Robert di Caela. Die beiden seltsamen, fremden Ritter nickten – sie stimmten mir zu. Bayard starrte mich mit undurchdringlicher Miene an.

Alfrik spielte mit einem Tischtuch, das zusammengelegt auf einem Stuhl lag. Sein Verstand hatte weitgehend abgeschaltet.

Sir Robert verschränkte die Arme und sah mich neugierig an.

»Und die ›Generationen vom Gras‹, Galen?« fragte er.

»Da habe ich keine Ahnung, Sir. Schlauheit bringt einen bei einer Prophezeiung auch nicht immer weiter, schätze ich. Vor allem weiß ich nicht, für wen die Prophezeiung gedacht ist – ob für Bayard oder für Euch oder für den Skorpion –, aber bei Chaktamir löst sich die ganze Sache auf, ob zum Guten oder zum Schlechten oder beides. Da bin ich mir sicher. Glaube ich.«

Bayard lächelte und faltete die Hände. Ich erinnerte mich an diese Geste – ich hatte sie an einem Morgen, der jetzt Jahre zurückzuliegen schien, in der Wasserburg gesehen.

Dann wurde sein Lächeln breiter. Mit der Hand am Heft seines Schwertes stand er auf. »Also, auf nach Chaktamir.«»Also, das ist wirklich die hirnrissigste Entscheidung, die ich je getroffen habe«, faßt Sir Robert di Caela zusammen, der noch schwerer in dem Stuhl saß, auf den er eine Stunde zuvor geplumpst war. Die Kerzen waren heruntergebrannt, so daß sich Schatten im Speisesaal ausbreiteten, bis selbst die Stuhllehnen lange, bedrohliche Schatten über den Boden warfen.

»Meine hirnrissigste Entscheidung«, wiederholte er.

»Wir brechen zu einem Ziel auf, das uns ein siebzehnjähriger Junge von zweifelhaftem Ruf nahegelegt hat, der zugegebenermaßen mit den roten Würfeln von Estwilde sein Schicksal befragt, ohne dabei je ganz ihre Bedeutung zu verstehen.

Wir folgen dem Schatten, den dieser Junge gesehen hat, von dem er nur weiß, daß er nach Osten gegangen ist – weder wie weit, noch ob er die Richtung geändert hat, nachdem er außer Sichtweite war. Wir ziehen aufgrund einer Prophezeiung los, von der wir nicht mehr genau wissen, ob wir sie richtig verstehen.«

Er drehte sich zu mir um und sagte offen zu mir:

»Ehrlichkeit ist nicht gerade eine deiner Stärken, Junge.«

Bayard seufzte und sah verzweifelt in die flackernden Kerzen.

»Trotzdem, Sir Robert«, erklärte Bayard heiser, »Eure Tochter wird vermißt, und Galens Idee über ihren Aufenthaltsort ist die bisher beste.«

Der alte Mann nickte.

Schließlich ließ Sir Robert von mir ab, obwohl etwas mir verriet, daß er mich am liebsten loswerden und mich in einem Karren oder Sack nach Küstenlund zurückschicken würde. Ich zog die Calantinawürfel aus der Tasche und hielt sie in der hohlen Hand.

Neun und…

Das Licht war schlecht, und Sir Robert begann wieder zu sprechen. Ich sah auf und vergaß die Zahl.

Neun und irgendwas. Etwas Großes.

Zeichen des Wiesels? Zeichen der Ratte?

Oder etwas ganz Unerwartetes?

»Wenn ich meine Tochter finden will, dann bin ich wohl auf diesen… orakelnden Jungen angewiesen.«

Er sah uns alle an, die wir vor ihm standen, und schüttelte verwundert den Kopf. Dann wurde er rot und erhob sich langsam. Sein Schatten verdüsterte das gesamte Südende des Saals, wo die Kerzen flackernd ausgebrannt waren. Er zog sein Schwert zum althergebrachten Gruß von Solamnia, und seine Stimme hallte im hohen Gewölbe des Saals wider.

»Versammelt die Ritter, die noch in Kastell di Caela sind. Versammelt alle, die auf den umliegenden Feldern lagern, und ruft die zurück, die der Schall der Trompete noch erreicht. Noch heute nacht ziehen wir nach Chaktamir. Und wehe dem Skorpion, wenn wir ihn dort finden!«Während die Männer ihre Rüstungen prüften, traf ich meine eigenen letzten Vorbereitungen, um Kastell di Caela zu verlassen. Alle Gedanken an Flucht erschienen aussichtslos.

Außerdem wollte ich gar nicht unbedingt fliehen.

Nachdem ich mich »zum Nachdenken« vor dem Aufbruch noch einmal in mein Zimmer zurückgezogen hatte, versuchte ich, mich wieder an die Zahlen der Calantina zu erinnern – die, die ich vor einer knappen Stunde in dem dunklen Saal erhalten hatte. Wie ein vom Pech verfolgter Spieler kniete ich da und warf sie wieder und wieder in der Hoffnung, dasselbe Zeichen zu sehen, doch wie es mit Würfeln so ist, war die Zahl für immer verloren. Ich warf vergeblich, erhielt die Viper, den Zentauren, den Falken, den Mungo, den Lindwurm – keine Neun dabei. Mit jedem Wurf wurden die Würfel verwirrender.

Wie das mit Prophezeiungen so ist.

Also packte ich mein Zeug zusammen, wobei ich darauf achtete, meine beste Tunika und die prächtigen Handschuhe anzuziehen, die ich während unserer Anreise aus Küstenlund so oft versteckt hatte.

Meine neue Aufmachung gefiel mir, und nachdem ich meine roten Haare noch naß gemacht und mit den Fingern in Form gebracht hatte, wartete ich, bis sich das Wasser im Becken beruhigte, damit ich mein Spiegelbild betrachten konnte.

Perfekt. Man weiß ja nie, wer vielleicht zuschaut.

Fertig, herausgeputzt und sogar etwas protzig, wenn man die Handschuhe besah, eilte ich von meinem Zimmer nach unten in den Hof von Kastell di Caela, wo ungefähr ein Dutzend weiterer Knappen Pferde sattelten, Proviant heranschleppten und alles für die Reise nach Osten fertig machten.

Gemeinsam widmeten wir uns letzten Vorbereitungen, sattelten und zäumten Valorus, Sir Roberts schwarze Stute Estrella und gewöhnlichere Pferde für die anderen Ritter und für meine Brüder. Drei Maultiere wurden von den umliegenden Höfen gebracht, und noch in derselben Nacht mit Proviant, Kleidung und Waffen bepackt. Beladen und durchnäßt wie sie waren, sahen sie wie die mürrischsten Viecher aus, die ich auf dieser ganzen verflixten, vom Wetter gebeutelten Reise gesehen hatte.

Die Packstute kam ebenfalls mit, wenn auch widerwillig. Sie machte sich steif, zerrte an den Zügeln nach hinten und schnappte nach einem großen Stallknecht, bis er sich umdrehte und ihr zu meiner großen Befriedigung einen Schlag quer über die Schnauze verpaßte, daß ihr die Knie weich wurden und sie still hielt, bis wir sie gesattelt und beladen hatten.

Mein Platz war leider wieder auf ihrem Rücken. Bayard glaubte, daß sie mich trotz des schwierigen Geländes, des Wetters und meiner eigenen Unfähigkeit im Sattel tragen würde.

Wenn die arme Packstute durch mein Gewicht zusätzlich belastet war, dann frage ich mich, ob sie sich wohl leichter fühlte, nachdem wir durch die Tore von Kastell di Caela geritten waren. Denn ich für meinen Teil war in diesem Moment erleichtert, als ich mich im Zwielicht des Morgens durch den jetzt ziemlich starken Regen zur Burg umdrehte.

Ich hätte schwören können, daß ich in dem verschwimmenden Grau ein Licht in Lady Enids Fenster sah.

Ich hätte schwören können, daß ich dort Danielle di Caela anmutig und blaß im Licht des Fensters stehen sah. Und daß sie anmutig und blaß ihren anmutigen, blassen Arm hob und mir zum Abschied zuwinkte.

Meine Ohren wurden heiß. Unwillkürlich fuhr ich mir mit der Hand durchs Haar.

Das mir naß am Kopf klebte wie das Fell eines ertrunkenen Tieres. Ich schlug die Kapuze hoch, tat, als hätte ich sie nicht gesehen, und blickte nach Osten.

Im letzten Moment, bevor die Tore zugingen, sah ich so heldenhaft und romantisch zurück, wie mir das von diesem gemeinen Lasttier aus möglich war. Aber durch den morgendlichen Dunst und den Regen wurde das Fenster zu einem rasch verschwindenden Lichtfleck, und von Danielle war nichts mehr zu erkennen.

17

Die Straße, die vom Schloß nach Süden führte, war bereits regendurchtränkt. Der Guß hatte die letzten braunen und roten Blätter abgerissen, die sich noch an die Bäume geklammert hatten, so daß das Land jetzt kahl und grau und trüb aussah. Immerhin war das noch nicht der Winter, den der Himmel eine Zeitlang angekündigt hatte.

Wir waren zwanzig, darunter nur sechs Ritter. Sir Robert hätte seine Palastwache mitnehmen können, doch er wollte Kastell di Caela nicht ungeschützt zurücklassen. Er hätte auch einen Teil seiner Leibwache mitnehmen können, doch der Ritter von Solamnia in ihm scheute davor zurück, »eine Armee auszusenden, um die Arbeit eines Ritters zu tun«, wie er es ausdrückte. Also blieben sie daheim.

Mir schien es zwar der richtige Zeitpunkt für Armeen, Katapulte, Schleudern und Kriegsmaschinen zu sein – alles, was die Aufmerksamkeit von uns persönlich ablenken konnte –, aber nur wir zwanzig zogen los, und dabei blieb es.

Bayard ritt auf Valorus voran, Sir Robert auf Estrella am Schluß – ich glaube, er war da hinten, um jeden Pfadwächter abzufangen, der einen Fluchtversuch unternehmen sollte. Ich ritt in der Mitte zwischen meinen Brüdern und war von den unangenehmen, morgendlichen Schauern völlig durchnäßt.

Alfriks miese Stimmung war ansteckend. In einer viel zu großen, blauen Tunika saß er auf seinem Pferd und hatte die Kapuze so weit ins Gesicht gezogen, daß er wie ein riesiger, lebender Sack voll nasser Wäsche aussah. Sogar sein Pferd – das sowieso nicht gerade feurig war – ließ im kalten Regen verdrossen den Kopf hängen.

Er fühlte sich betrogen, hatte er an den Toren von Kastell di Caela erklärt.

»Denn wieso«, wollte er wissen, »ist sich eigentlich alles so sicher, daß Enid Bayard heiratet, wenn wir sie retten? Kommt mir vor, als wäre es ein bißchen zu früh, um so etwas zu beschließen.«

Er verfiel in mürrisches Schweigen.

Aber falls Alfriks schlechte Laune ansteckend war, war Brithelm dagegen auf jeden Fall immun. Seine Gedanken waren weit weg von dieser Straße und diesem Teil des Landes, als er gutmütig und ohne Kopfbedeckung durch den schlimmsten Regen ritt. Er war so in Gedanken, daß er für den Rest von uns verloren war. Sein Pferd war sein einziger Führer, und es lief willenlos hinter meinem Packpferd her.

Erst am späten Vormittag machten wir Rast. Ich nehme an, es ist in Solamnia normal, daß man zügiger und weiter vorankommt, wenn man sich so unwohl fühlt, und die Aussicht auf einen Hinterhalt oder ein Monster an der Straße wie eine willkommene Abwechslung in der Eintönigkeit erscheint.

Um die Sache noch schlimmer zu machen, sprach keiner meiner Brüder ein Wort – weder zu mir, noch zu den anderen, noch zu irgend jemand sonst, so weit ich das mitbekam. Brithelm hing hinter mir seinen Gedanken nach. Seine Augen sahen nur den Regen und den östlichen Horizont. Der argwöhnische, schmollende Alfrik ritt vor mir her und versuchte zweifellos zu erraten, was ich wohl gegen ihn in der Hand hatte und was ich den Rittern erzählt hatte.

Darum nickte ich den ganzen Vormittag immer wieder ein und wurde nur an unerwartet steilen Straßenstücken oder Kuhlen wach, wo die Stute ausrutschte oder im Matsch etwas einsank. Gelegentlich störte das ferne Grollen eines Herbstgewitters meinen Schlaf, oder der Regen tropfte in meinen Mantel und über mein Gesicht und weckte mich durch Wasserspritzer.

Einmal rüttelte mich Bayard wach, der Valorus gezügelt und den größten Teil der Gruppe an sich vorbeigelassen hatte. Er hielt sein Pferd vor meinem an, um mir ein großes, rauhes Baumwolltaschentuch anzubieten.

»Was für Dämpfe dich auch im Schloß erwischt haben, du bist sie noch nicht wieder los. Ich höre dein Schniefen bis zur Spitze des Zuges.«

»Wer hätte das gedacht, Sir Bayard.«

»Wie bitte?«

»Die ganze Zeit macht Ihr Euch über die Würfel lustig, die ich bei mir habe. Und jetzt sind wir alle gestiefelt und gespornt in den Regen hinausgezogen, um einer Prophezeiung zu folgen, die mindestens so vieldeutig und unklar wie jede Bedeutung der Calantina ist. Wo liegt der Unterschied?«

»Für einen Skeptiker hast du die Prophezeiung sehr gut ausgelegt.«

»Aber Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Wo liegt der Unterschied?«

Bayard lächelte und schnalzte mit den nassen Lederzügeln, so daß sein großes Pferd schnaubend wieder an die Spitze des Zuges trabte. Zu mir rief er zurück:

»Vielleicht gibt es keinen.«Am Vormittag des nächsten Tages erreichten wir den angeschwollenen Ostarm des Vingaard.

Jetzt war nicht mehr die Zeit zum Überlegen oder zur Auslegung von Mysterien. Als ich in das schnell fließende, graue Wasser vor mir sah, stellte ich fest, daß der Vingaard über die Ufer getreten war. Die Durchquerung würde gefährlich, vielleicht sogar tödlich sein.

»Fast Hochwasserzeit, Jungs«, rief Sir Ramiro, womit er nur das Offensichtliche durch die Geräusche des Regens und des Flusses weitergab. »Herbst ist hier sowieso die Zeit für Hochwasser, und wir sind zur falschen Zeit gekommen…«

Als er Bayard betrübt ansah, rann ihm das Wasser von den dicken Brauen.

»…Vielleicht sogar zum falschen Ort?«

Um uns herum wurde es immer unwirtlicher und trüber. Der Regen fiel weiter, und der Fluß stieg an, und der bewölkte Himmel ließ keine Sonne durch. Hier an den Ufern des Vingaards sah es so aus, als hätte sich alles gegen uns verschworen: der ausgefuchste Feind, sein Vorsprung von einer Nacht, das scheußliche Wetter. Sogar das Land hatte uns verraten.

Ich saß auf dem Packpferd. Es könnte schlimmer sein. Wir könnten da draußen mitten im Strom stecken.

»Also durch die Furt, junger Mann?« erklang eine geschliffene Stimme in meinem Ohr, und ich starrte Sir Robert di Caela an, der plötzlich neben mir war. Ich hörte weitere Pferde kommen, und bald hatten sich Sir Ledyard und Brithelm zu uns gesellt.

»Nun, Galen?« beharrte Sir Robert und zog seinen Mantel gegen den auffrischenden Regen enger um sich.

»Galen?« stimmte Bayard ein, lehnte sich vor und streichelte Valorus’ Mähne, als das große Pferd sich zwischen Ledyards großer Stute, Balena, und Sir Roberts kleinerer, zarterer Estrella hindurch schob.

»Ich weiß nicht«, murmelte ich in meine Kapuze. Ich kauerte da und rollte mich ein, um auszusehen wie ein Gepäckstück auf dem Rücken der Stute.

»Rede, Junge! Meine Ohren sind alt, und der Regen ist laut!«

»Es ist bloß… ich glaube nicht, daß mein Pferd hier der Strömung da draußen standhalten kann. Ihr habt es nicht im Sumpf und in den Bergen gesehen, Sir Robert. Es ist viel… ängstlicher und unzuverlässiger, als es in ebenem Gelände auf breiten Straßen aussieht.«

»Wir sind alle etwas nervöser, wenn es nicht weitergeht«, erklärte Sir Ramiro, der auf seinem großen, gutmütigen Hengst angeritten kam. Das Wasser strömte wie Wasserfälle aus einem Bergsee an seinem grauen Wollumhang herunter.

»Tun wir, was zu tun ist«, sagte er mit grimmigem Lächeln. »Und überlaß es mir, die Stute… zu ermutigen.«

Bayard zeigte auf einen Platz am Flußufer, der vom Wasser schon fast überspült war. Sir Robert nickte und galoppierte zu den anderen, um sie zu informieren.

Ich hätte mir stundenlang über diese Überquerung Gedanken machen können, immer neue, bis ich mich schließlich selbst so vollständig verwirrt hätte, wie es Gileandos zufolge meinem Charakter entsprach. Aber es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Unverzüglich begannen meine Gefährten, das Packpferd an die Maultiere zu binden. Die Ritter steckten ihre Mäntel um die Beine fest, damit sie sich in der Strömung nicht verfingen.

Und Sir Ramiro klatschte dem Packpferd mit seiner gewaltigen Hand fest auf den Hintern. Es zuckte zusammen und sprang ins Wasser.

Wir überquerten den Vingaard.

Das Wasser an meinen Knöcheln war eiskalt. Ich zog die Füße aus den Steigbügeln, überlegte es mir dann aber noch mal und akzeptierte das Wasser, um des besseren Halts auf dem Pferderücken willen.

Die Stute schnaubte und watete dann in den Strom. Rechts von uns Knappen begann Brithelms Pferd sich durch das Wasser zu schieben, und neben ihm war Sir Robert auf Estrella. Dahinter kam Alfrik, dann zwei andere Ritter, dann Ledyard und Ramiro und dann natürlich Bayard, der fest und sicher auf Valorus saß.

Nachdem Alfrik an jeder Biegung Bayards Autorität angezweifelt hatte, war er jetzt mehr als bereit, meinem Beschützer die Position rechts außen zu überlassen.

Der Junge direkt rechts von mir, ein blondes, zahnlückiges Monster aus Kargod, grinste mich haßerfüllt an.

»Hast du die Stute im Griff?« zog er mich näselnd auf. »Oder ist es der Reiter, den man ins Wasser schieben mußte?«

»Deine Zähne werden sich gut machen, wenn sie sich in den Schlingpflanzen verfangen«, erwiderte ich und schlug die Stute erneut. Wir schoben uns weiter in die Strömung hinaus und sanken dann einen Augenblick, als das Flußbett unter der Stute verschwand und sie zu schwimmen begann.

Ich drückte ihr die Knie in die Flanken und hielt ihre Mähne so fest, daß sie zuerst schnaubte und den Kopf schüttelte. Daraufhin lockerte ich meinen Griff, aber nicht allzu sehr, denn ich war der Meinung, daß diese Strömung einen Ertrunkenen bis Burg Thelgaard tragen konnte.

In der Mitte des Flusses war das Wasser wirklich gefährlich, denn es gab eine sehr starke Unterströmung im Flußbett. Als wir diesen Punkt erreicht hatten, wurden wir deutlich stärker fortgerissen.

Eines der Maultiere hinter uns wieherte, und durch den Regen sah man ein Bündel von seinem Rücken in den reißenden Strom rutschen. Der zahnlückige Junge griff vergebens danach.

»Ich rutsche!« schrie er und kippte ins Wasser.

»Brithelm!« schrie ich verzweifelt, als der Junge flußabwärts an meinem Bruder vorbeitrieb.

Vor dem brüllenden Fluß hörte sich mein Ruf dünn, schrill und feige an. Ich schämte mich fast dafür, denn irgendwer würde den Trottel sicher aus dem Wasser ziehen. Aber dann wurden wir selbst von einer Welle verschluckt, die mich vom Rücken der Stute riß.

Ich hing mit dem rechten Fuß am Sattel fest, denn ich hatte mich im Steigbügel verfangen, der sich in alle Richtungen drehte. Doch der Knöchel hielt, und der Steigbügel hielt, und mein Kopf war über Wasser, wo ich hustend spuckte.

Wild um mich schlagend dachte ich an die paar Male, wo ich Menschen schwimmen gesehen hatte, und hoffte, daß die Nachahmung mir irgendwie helfen würde, die Strömung zu beherrschen, die mich nach Süden in den Tod riß. Mehrmals ging ich unter, und weil ich zu schnell dachte, fielen mir auch die Legenden ein, wie Leute beim dritten Mal untergegangen waren.

Wieviel Mal war es gewesen? Sechs?

Wieder schlug eine Woge über mich hinweg.

Sieben?

Durch den Schleier von Wasser und Sonnenlicht entdeckte ich irgendwo über mir in der Luft eine große, ausgestreckte Hand, nach der ich griff. Mein Kopf tauchte gerade lange genug auf, um zu hören, wie Ledyard schrie: »Hier, Junge!«

Dann sah ich nur noch das dunkle Grün des Wassers, und ich hatte den Eindruck, frei im Strom dahinzutreiben.


Es war eigentlich gar nicht schlecht, so zu treiben. Einen Augenblick lang war es, als würde ich aus einem tiefen, unglaublich befriedigenden Traum auftauchen oder in ihn zurückkehren. Ich konnte nicht feststellen, was es nun war, und bald war mir das auch gleichgültig.

War es das, was die Fische sahen, wenn sie nach oben schauten?

Das grüne Licht, das dort golden wurde, wo das Sonnenlicht einstrahlte?

War das der letzte Eindruck der Ertrinkenden, bevor sie sich in den Pflanzen verfingen und erkalteten?

Es war mir egal. Ich entspannte mich, genoß die Bewegung und das Licht und bereitete mich darauf vor, sie alle zu vergessen: Enid und Danielle, meine Brüder und Sir Robert und…

Bayard.

Der mich an den Haaren aus dem Strom zog, in die Kälte und ins schmerzhaft helle Licht, wo das Atmen so weh tat und mir schummerig und schlecht wurde.

Er legte mich quer über seinen Sattel und klopfte dabei so heftig auf meinen Rücken, daß ich mindestens eine Stunde lang Wasser aushustete.

Über dem Wasser, im trockenen Element von rauher Luft und Pflicht und zu vielen Gedanken, vergaß ich den Strom und die gefährlichen Träume vom Fluß. Bayard setzte mich sanft am Südufer des Vingaard ab. Da erst fragte ich mich, was aus Sir Robert, den Ladys di Caela und meinen Brüdern geworden war. Da erst erinnerte ich mich an Bayard, der mich aus dem Wasser gezogen und vor dem sicheren Ertrinken gerettet hatte.

Da erst erinnerte ich mich an den Rest der Gefährten.

Deren Anzahl vom Fluß halbiert worden war.


Im östlichsten Arm des Vingaard gibt es mitten im Fluß einen plötzlichen Sog, der noch mächtiger ist als die starke Unterströmung. Das ist der ständige Fluch der Flußfischer und der Menschen, die dumm genug sind, ihn zu überqueren.

»Vingaardstrudel« nennen ihn die Fischer und versuchen, sich dagegen zu schützen, indem sie ihre Boote wie Flöße hinüberstaken und Anker setzen, wo der Sog am stärksten ist.

Man kann das An- und Abschwellen des Strudels weder vorhersagen noch genau einschätzen. Tatsächlich wissen außer den Menschen, die am Fluß leben, nur wenige davon.

Zufällig hatte der Strudel beschlossen, sich genau im Moment unserer Flußdurchquerung zu melden, und hatte viele von uns aus dem Sattel in die gnadenlose Strömung gerissen. Einen Augenblick, nachdem Bayard mich aus den Strudeln gefischt hatte, die um ihn herum tobten, war die große, rudernde Gestalt von Sir Ledyard meinem Schicksal gefolgt.

»Als ich nach ihm griff«, schloß Bayard mit von der Anstrengung zitternder Stimme, die von noch etwas atemlos war, was ihn mehr aufwühlte. »Da hat er den Arm weggezogen. Hat den Arm weggezogen, Galen, und geschrien, daß wir uns selbst retten sollen, daß er weiter unten an Land gehen würde.«

Irgendwo hinter Bayard hörte ich jemanden weinen. Ganz bestimmt Brithelm, auch wenn ich durch das Wasser und die Erinnerungen daran, nichts sehen konnte.

»Sir Robert? Sir Ramiro?« fragte ich.

»Die sind den Fluß hinabgeritten, weil sie hoffen, daß sie vielleicht auf eine Sandbank, einen umgestürzten Baum oder etwas anderes stoßen, woran sich unsere Freunde festhalten.«

»Wir haben keine Hoffnung. Sie sind inzwischen tief in den Ebenen von Solamnia. Im Land der Tapferen und Unschuldigen. Möge Sir Ledyard zuletzt doch noch ans Meer kommen.«

»An deine Brust nimm, Huma, sie«, ertönte eine bekannte Stimme hinter Bayard. Alfrik stand bei meinem Beschützer.

»Diese Decke ist trocken geblieben, Wiesel«, stotterte er und warf mir eine rauhe Wolldecke über.

Ich schäme mich nicht, zuzugeben, daß ich ein paar Tränen vergoß, nachdem Sir Robert schwermütig von seiner glücklosen Suche zurückgeritten kam. Der Strudel war angewachsen und hatte ein volles Dutzend von uns mitsamt Pferden, Rüstung und Waffen in seine dunkle, wilde Tiefe gerissen. Das berichtete Sir Ramiro, nachdem er schlammbedeckt und voller Wasserpflanzen von seiner Suche wiedergekehrt war. Knappen und Ritter waren nach Süden getrieben, bis sie im starken Sog des Flusses aus dem Blickfeld verschwanden.

Bayard hatte recht. Es gab keine Hoffnung, sie wiederzufinden.

Ich weinte um Ledyard, den ich nie richtig kennenlernen würde, um das Dutzend anderer, die mit ihm ertrunken waren, und besonders um den zahnlückigen, blonden Knappen, dem ich allzu leicht und allzu prompt Unheil gewünscht hatte.

Allmählich fragte ich mich, ob auch hier der Skorpion seine Hand im Spiel hatte, ob es sein Einfluß war, der den Strudel zur ungünstigsten Zeit hatte anschwellen lassen.

Die Strecke vor uns war unsicher; was uns in Chaktamir erwartete, war dunkel und unheimlich.

Sir Robert saß müde in seiner klirrenden Rüstung neben mir. Es war die Stunde des Wahnsinns.

»Es ist furchtbar früh, ich weiß«, fing er an. »Wir alle trauern. Wir alle sind immer noch… betroffen von dem, was heute morgen geschehen ist.

Aber es hängt noch ein weiteres Leben von unserer Schnelligkeit und Entschlossenheit und Ortskenntnis ab. Denkt dran, daß Enid irgendwo vor uns sein kann. Wir müssen die Verfolgung aufnehmen, bevor ihr im Osten womöglich etwas Schreckliches zustößt. Also faßt euch ein Herz. Wo müssen wir als nächstes hin?«

Seine Augen waren fest nach Osten gerichtet. Hinter uns hörten wir den Fluß toben, vor uns lagen die Ebenen von Ostsolamnia, die in das karge, kleine Land Trot übergingen – ein Gewirr von Wegen und Kanälen, von denen der Skorpion mit seiner kostbaren Beute jeden eingeschlagen haben konnte.

Wir wählten einen davon – den, der direkt zum Chaktamir Paß führte. Bayard erhob sich im Sattel, schirmte seine Augen ab und entdeckte ein Vallenholzbaumwäldchen am Osthorizont, das uns als Wegweiser dienen konnte.

Schweren Herzens zogen wir müde gen Osten.

Als das Wäldchen genau vor uns lag, drehte sich Bayard im Sattel um und rief uns zu:

»Von hier aus reiten wir nach Südwesten und kommen über zwei Straßen und durch ein Weizenfeld. Danach kommen wir an eine weitere Straße, wo wir nach Osten reiten, so daß wir die Trotylstraße zur Linken und die Berge zur Rechten haben.«

»Und dann sind wir bald in Chaktamir?« rief Sir Robert zurück.

Sir Robert kannte sich in den Ländern östlich seiner Burg anscheinend wenig aus. Stirnrunzelnd kam Bayard zu uns zurück und schüttelte den Kopf.

Er erläuterte die Situation höflich, aber kurz, wobei er sich über Valorus’ Hals beugte.

»Ich fürchte, Sir Robert, der Paß ist immer noch fünf harte Tagesritte entfernt. Übermorgen müßten wir über die Trotylhalde nach Estwilde gelangen, dann gabelt sich nach zwei Tagen die Straße. Der südliche Zweig geht zur Heimat der Götter und weiter nach Neraka, der östliche zum eigentlichen Paß.

Irgendwann erreichen wir dann die Ausläufer des Khalkist, und wenn wir auf der Straße bleiben, geht es fast einen Tag lang stetig bergauf, bis wir nach Chaktamir kommen, ganz hoch in das Land, das einst den Menschen von Neraka gehörte und heute Niemandsland ist.

Dort, Sir Robert, wird der Skorpion uns erwarten. Und dort wird auch Eure Tochter – hoffentlich unverletzt – auf uns warten.«

Die beiden Männer steckten die Köpfe zusammen und redeten ein paar Worte unter vier Augen.

Alfrik beugte sich im Sattel nach vorne, um zu hören, was sie sagten. Er verstand offenbar nichts, denn er versuchte, sich im Sattel wieder aufzurichten.

Doch auf halbem Weg in die Senkrechte überwältigte ihn das Gewicht seiner Rüstung, und er fiel mit dem Gesicht voran auf den felsigen Grund. Brithelm half meinem schamroten Bruder auf die Beine, während Alfrik Bayard mit Fragen bombardierte.

»Woher wißt Ihr das?«

»Ich war schon mal in Chaktamir. Vor zehn Jahren…«

»Er war also schon mal in Chaktamir!« rief Alfrik triumphierend aus. »Ihr habt ihn gehört, Sir Robert! Jetzt frage ich Euch: Warum, in Paladins Namen, sollen wir uns von jemandem führen lassen, der sich verdächtig gut an Orten auskennt, die der Skorpion besucht?«

Ramiro lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf seinem leidenden Pferd zurück und lachte schallend.

»Junger Pfadwächter, ich war auch schon zweimal in Chaktamir. Vielleicht ist hier eine Verschwörung im Gange, die du übersehen hast!«

»Was für ein Problem hast du, Alfrik?« fragte Bayard ruhig, während er versonnen Valorus’ Mähne streichelte und von Matsch und losen Zweigen befreite.

»Schon seit wir das Schloß verlassen haben«, jammerte Alfrik, »heißt es nur ›Bayard, macht dies‹ und ›Bayard, jetzt führt Ihr uns‹! Wenn wir zu Enid kommen, wird sie natürlich Euch heiraten wollen, weil Ihr der einzige seid, den Sir Robert irgend etwas machen läßt.«

»Ist es das, was dich quält, Alfrik?« fragte Bayard langsam und drohend, so daß ich mich tief unter der Decke verkroch, die ich bekommen hatte, denn ich konnte am durchdringenden Blick seiner grauen Augen ablesen, daß Alfrik gerade ins Zentrum eines gewaltigen, mächtigen Sturms geraten war.

»Das also quält dich, nachdem wir gerade vierzehn Menschen hinter uns im Strudel verloren haben? Du wirst noch reichlich zu tun bekommen, Alfrik«, erklärte Bayard kalt. »Und wahrscheinlich früher, als dir lieb ist. Denn unser Feind beobachtet uns bereits.«

Bayard zeigte auf einen Platz etwas weiter vorne, wo ein kahler, absterbender Vallenholzbaum seine Zweige tief auf die grauen, regennassen Ebenen hängen ließ.

In seinen obersten Ästen hockte ein Rabe.

Zwei Tage später passierten wir die Trotylhalde. Das ist ein fast so steiniges, unwirtliches Land wie Ostküstenlund – eben, ja, aber eine Ebene, die schräg und steil aus den fruchtbaren Flußgebieten im Westen ansteigt, bis das Land um den Reisenden so zerfurcht und zerrissen erscheint wie das Gesicht des Mondes in den Astronomengläsern.

Durch diese verlassene Gegend aus dunklem Vulkangestein führte uns Bayard. Wir ritten jetzt langsamer, was einerseits am Gelände lag, andererseits am Unglück im Fluß, das viele Pferde und Maultiere verletzt und nervös gemacht hatte. Sie wieherten, bissen und traten den lieben, langen Tag hindurch.

Sie waren nicht die einzigen, die genervt und unzufrieden waren. Die Überquerung des Vingaard hatte jedem von uns zugesetzt.

Bayard und ich ritten voran. Der Ritter folgte einem kaum erkennbaren Pfad durch die glitzernden Felsen und rief gelegentlich Sir Robert, der uns folgte, etwas zu. Ramiro und Alfrik kamen nach Sir Robert. Alfrik hing unbequem im Sattel, als würde er jederzeit einen Pfeilhagel erwarten, und Sir Ramiro lachte immer weniger über die Feigheit und das Gezeter meines Bruders, als die Meilen sich hinzogen. Brithelm bildete die Nachhut, und zu Sir Roberts großem Mißfallen mußten wir immer wieder anhalten und Ramiro zurückschicken, um ihn zu holen. Einmal ertappte der große Ritter Brithelm beim Beobachten von Vögeln, ein anderes Mal hatte er gerade einen Stein hochgehoben, um das widerstandsfähige Insektenleben der Trotylhalde genauer zu untersuchen.

Beim dritten Mal fand Ramiro den benommenen Brithelm mitten auf der Straße sitzend vor, nachdem ihn ein tiefhängender Ast vom Pferd gefegt hatte, den er nicht bemerkt hatte, weil er ganz in seine Meditation versunken war.

Bayard half mir gelegentlich beim Führen der Packstute, aber häufiger suchte er zu Fuß zwischen den Felsen nach dem Pfad, der im vulkanischen Gelände wiederholt verloren ging.

Die einzigen Vögel vor uns und über uns waren Raubvögel und Aasfresser, die einzigen Bäume Kiefern, Fichten und hin und wieder ein verkrüppelter Vallenholzbaum, der seine Wurzeln nicht tief genug in den Felsboden treiben konnte und deshalb gebeugt und mickrig in der trostlosen Landschaft stand.

»Das Land der Falken«, murmelte Bayard einmal, als er Valorus geschickt um mich herum lenkte, um die Stute zurück auf den Weg zu treiben. »Hier oben wagen sich nur die mutigsten Vögel hin und töten dann einander, weil es einfach keine andere Beute gibt.«

»Klingt wie eine Kindheit im Hause Pfadwächter«, wagte ich zu bemerken. Er lachte rauh und ritt neben mich, als die Straße breiter wurde und uns ein kalter Südwind in die Gesichter fuhr.

»Oder in den Straßen von Palanthas«, gab er lächelnd zurück. Dann wurde er ernst.

»Du hast dich verändert, Galen, und zwar auf eine Art, die ich in der Wasserburg nie geahnt hätte, als du dich damals in meiner Gegenwart verteidigt hast. Du bist…«

»Nicht mehr so ein Wurm?«

Bayard wurde rot.

»Ich hätte gesagt, kooperativen«, meinte er vorsichtig, während seine Augen an der Straße hingen. »Abgesehen von deiner Größe und…«

Er sah mich an, lächelte und sah wieder weg.

»…und der absoluten Weigerung deines Schnurrbarts, so zu wachsen, wie du es dir wünschst, würde ich dich glatt für den ältesten Pfadwächter unter uns halten.

Was ich sagen will, Galen, ist, daß bei dir die Ritterschaft durch die Nähte guckt.«

Ich hatte keine Zeit, mich in dem Kompliment zu sonnen. Denn die Straße wurde steiniger und steiler, und die Falken vor uns drehten ab.


Am nächsten Mittag waren nicht nur die Falken vor uns. Zeitweise schimmerte der Osthorizont in dem strahlenden, metallischen Dunst auf, der durch Luftspiegelungen entsteht, bis es einem so vorkommt, als läge das Land vor einem unter Wasser.

Die Fata Morgana selbst war belebt. Merkwürdige Dinge liefen aufrecht durch die verschleierte Landschaft, ohne daß wir sie genau erkennen konnten – schließlich war es eine Luftspiegelung, was wir vor uns hatten. Aber sie waren dunkelrot bis braun, hatten keine Haare und rannten dauernd von einem sich auflösenden Felsen zum nächsten.

Manchmal verschwand die Fata Morgana, nur um Meilen später und viele Biegungen weiter östlich wieder aufzutauchen. Jedesmal war sie von dunklen, huschenden Gestalten bevölkert.

Irgend etwas in der Luft machte die Pferde unruhig.

»W-was ist das, Bayard?« fragte ich verunsichert.

»Ich weiß nicht genau. Aber ich weiß, daß wir bereits in Estwilde sind, und wenn der Skorpion weiß, daß wir kommen, könnten das seine Späher sein. Oder die erste Welle seiner Illusionen.«

Sir Robert griff in seinen Umhang, zog etwas heraus und warf es an den Wegrand. Sir Ramiro tat es ihm nach, und dabei hörte ich das leise Klirren von zerbrechendem Glas.

»Was ist los, Bayard?« fragte ich, doch mein Beschützer hatte nicht hingesehen. Sein Pferd hatte sich etwas vor meines geschoben, und seine Augen hingen unablässig an der Straße vor uns.

»Wie bitte?«

»Sir Robert und Sir Ramiro haben beide etwas aus ihren Taschen geholt und weggeworfen. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Robert weggeschmissen hat, aber das von Ramiro war eindeutig Glas.«

Bayard kicherte leise und flüsterte: »Die alte Schule.«

»Versteh ich nicht.«

»Ein alter solamnischer Brauch. Wenn ein Ritter in den Kampf zieht, besteht immer die Möglichkeit, daß er getötet wird.«

»Natürlich.«

»Wenn dir etwas zustößt, kann es sein, daß du etwas bei dir hast – vielleicht auch nur etwas Kleines –, von dem du lieber nicht willst, daß deine Angehörigen es bei dir finden, wenn dein Körper zu ihnen zurückgebracht wird.«

»Aha. Also habe ich gesehen…«

»Wie unsere beiden älteren Ritter das weggeworfen haben, was ihnen peinlich wäre. Ich habe keine Ahnung, was Sir Robert losgeworden ist, aber bei Sir Ramiro war es Zwergenschnaps. Wie immer.«

Rasch und entschieden kam Bayards Hand aus seinem Mantel. Etwas Kleines, Glitzerndes flog durch die Luft zwischen die Felsen am Pfad. Ich hörte Metall klirren, als das Etwas von Fels zu Fels sprang und irgendwann still liegen blieb.

Bis heute weiß ich nicht, was es war.


Während wir weiter ritten, stieg das Purpurrot des Khalkist verschwommen immer weiter am Osthorizont auf. Irgendwo in diesen Bergen lag Chaktamir, und als ich den Paß zum erstenmal ausmachen konnte, dachte ich wieder an den Brauch und an die Aussicht, auf einem Schild heimgetragen zu werden.

Ja, ich hatte auch schon vorher daran gedacht. Aber da hatte ich es mir als großartige, dramatische und romantische Szene vorgestellt, wo alle sich die Haare rauften und heulten und meiner leblosen Gestalt Abbitte für das Unrecht leisteten, das sie mir getan hatten. Meine endgültige Heimkehr würde ein großes Spektakel sein, die gerechte Strafe für die mangelnde Aufmerksamkeit meines Vaters während meiner Zeit in der Wasserburg – ob sie nun echt oder eingebildet war.

Jetzt überlegte ich, was ich wegwerfen sollte – was er am besten nie zu Gesicht bekommen sollte. Zur Wahl standen die Handschuhe und die Calantina-Würfel: die durch Betrug erworbenen Handschuhe oder die Würfel, die nach östlichem Aberglauben, Anrufungen, Weihrauch und Vogelopfern rochen.

Es stand wirklich auf der Kippe. Einen Augenblick dachte ich daran, beides wegzuwerfen, aber das fand ich dann doch übertrieben. Besonders, da ich überhaupt nicht die Absicht hatte, tot oder lebendig nach Küstenlund zurückzukehren.

Ich fragte mich, was Enrik Sturmfeste weggeworfen hätte.

Seit jenem alptraumhaften Tag im Vingaard-Gebirge hatte sich meine Treffsicherheit verbessert. Die Würfel klackerten zwischen den Steinen und kullerten dann irgendwo in das hohe Unkraut, das unseren Pfad säumte.

Jetzt dürfen alle raten, wie der letzte Wurf ausfiel.

18

Als wir uns dem Khalkist näherten, fanden wir überall die unheilvollen Zeichen des Skorpions. Das ansteigende Gebiet vor uns war verbrannt – absichtlich, nicht wie bei einem Steppenbrand oder durch etwas Unnatürliches. Vor uns lagen breite Streifen schwarzer Erde, dann wieder relativ unberührtes Land, in dem das einzige Zeichen der Gewalt ein gelegentliches, undeutliches, schwarzes Symbol war, das frisch in die Felsen gebrannt war, die sich neben unserem Pfad erhoben.

Als wir die westlichen Hänge des Khalkist hochkletterten, fing es an zu schneien. Aber nicht einmal der Schnee blieb auf den Narben der Feuer liegen, als wenn die Stellen noch heiß wären. Dann erreichten wir die richtigen Berge, der Nebel sank herab, und wir ließen den Schnee hinter uns.

Hier sahen wir die ersten Piken am Osthorizont wie dunkle Standarten oder Banner, aber irgend etwas an ihnen ließ uns die Pferde zügeln und auf der engen Straße anhalten. Sie wirkten wie dünne Zweige, an denen schwere Früchte hingen.

Bayard blinzelte nach Osten und schirmte seine Augen dabei mit der Hand ab. Mit blassem Gesicht drehte er sich zu mir um.

»Ich kann nicht erkennen, was das ist«, sagte er, »aber ich habe da einen Verdacht.«

Bevor ich nachfragen konnte, ritt er auf die dunklen, schiefen Nadeln vor uns zu. Die verstümmelten Köpfe auf den Piken waren schon eine Weile tot. Es waren die Pferde, die sie zuerst erkannten und sich schnaubend aufbäumten. Die Maultiere ließen sich einfach auf dem Pfad nieder und weigerten sich weiterzugehen. Nur der starke Sir Ramiro und eine feste Reitpeitsche brachten sie wieder in Gang.

Ich kann nicht behaupten, daß ihr Verhalten unbegründet war. Die trockenen, gegerbten Gesichter waren bis auf den Schädel eingesunken. An den Mustern auf den Helmen – Eisvögel und Rosen – erkannte ich, daß sie einst auf solamnischen Schultern gesessen hatten.

»Alte nerakanische Strategie«, erklärte Ramiro und lenkte dabei sein nervöses Tier um die erste Pike. »Eine Warnung an die Feinde, nicht näher zu kommen.«

»Sind die schon lange hier?« fragte Alfrik besorgt.

Ramiro antwortete nicht, während wir dem gewundenen Pfad zwischen den grausigen Warnungen folgten. Doch daß seine Hand zum Heft seines Schwertes glitt, war Antwort genug.

Vielleicht war der Nebel um uns herum dicker, als wir gedacht hatten. Vielleicht hatte das Wissen, daß wir in den Eingang zum alten Chaktamir Paß, Schauplatz edler und verdrängter blutiger Taten, eingedrungen waren, unsere Gedanken schweifen lassen. Aber keiner dieser Gründe erklärte das Schloß und sein plötzliches Auftauchen.

Es war, als würde sich der Nebel verfestigen, und als würde sich der Wasserdunst ganz plötzlich zu Stein verhärten.

Überrascht hielt Alfrik abrupt sein Pferd an, wodurch es auf den vereisten Steinen ins Rutschen kam. Meine Stute und Brithelms Maultier rannten von hinten in sein Pferd, und Bayard mußte Valorus hart zur Seite reißen, um dieses Durcheinander von Gliedmaßen und Pferden und Maultieren und Pfadwächtern zu umgehen, während alles zum Schloß hochstarrte.

»Das sieht aber bekannt aus«, wagte Alfrik zu bemerken.

»Vielleicht, weil es nach den Plänen von Kastell di Caela erbaut ist, Junge«, fauchte Sir Robert.

Genauso war es.

Da stand ein großes, graues Schloß mit hohen Türmen an jeder Ecke seines großen, rechteckigen Innenhofs. Als das letzte, rötliche Sonnenlicht die Fahne auf dem hohen Südwestturm traf, hingen unsere Augen wie gebannt an dem Spiel von Rot und Schwarz auf der Schloßflagge.

Pechschwarzer Skorpion auf rotem Grund.

Schwarzer Skorpion auf roter Fahne. Klar und blutig und höhnisch.

»Der Schlupfwinkel des Skorpions«, hauchte Sir Robert. »Wir nähern uns dem Ende unserer Fahrt.«

Sir Ramiro und Sir Robert hielten hinter uns an. »Das ist es. So wahr ich lebe und atme, das ist es. Kastell di Caela, Stein für Stein!« rief Robert aus.

»Irgendwie haben seine Illusionen ihm ein Schloß verschafft«, flüsterte Bayard, womit er auf etwas anspielte, an das ich gleich hätte denken sollen. »Wie logisch vom alten Benedikt, wenn es Benedikt ist, sein Schloß bis zu den letzten Zinnen und zum Mörtel nach dem Schloß zu gestalten, daß er seit über vierhundert Jahren bestens kennt.«

»Das ist ein Skandal«, stellte Sir Robert fest.

»Das ist sowieso nicht echt und braucht Euch deshalb nicht zu beunruhigen, Robert«, besänftigte der alte Ramiro.

»Und wir können uns um so leichter darin zurechtfinden«, erklärte Brithelm laut.

Alle sahen sich nach ihm um.

Er stand gelassen zwischen den Felsen und betrachtete das Schloß, als würde er seine Belagerungschancen einschätzen wollen. Dann wendete er die Augen vom Schloß ab und sah Sir Robert an.

»Benedikt hat seit Jahrhunderten ein Auge auf Kastell di Caela geworfen. Er kennt es ganz genau. Für ihn ist es nicht schwer, sich unentdeckt durch die Gänge des Schlosses zu bewegen. Aber auch wir kennen Kastell di Caela, und wenn die Kopie des Skorpions ihm nicht nur von außen gleicht, dann liegt in dieser Ähnlichkeit unser Vorteil. Das heißt, wenn wir erst mal drin sind.«

Weil ich an den Sumpf und die dortigen Illusionen dachte, schmiß ich einen Stein vor mir an die Mauern und hörte ihn von den Steinen abprallen.

Diesmal fest.

»Heißt das, daß wir hineingehen?« wimmerte Alfrik mit einem Blick nach hinten.

»Sei still, Alfrik«, schnappte Sir Ramiro. »Wir stehen schließlich vor seinen gottverdammten Toren.«

Flügelschlagen und das sanfte Gurren von Tauben kam links von der Wand herunter. Irgendwo da drüben am Haupttor des Schlosses tauchten große, tiefrote und schmutzig-metallisch glitzernde Vögel auf den Zinnen auf.

Im Schloß hörten wir Bewegungen, dann irgendwo drinnen einen schwachen Aufschrei.

Bayard zog sein Schwert, die anderen beiden Ritter desgleichen. Alfrik duckte sich hinter sein Pferd und zog sein bedrohlich langes Messer.

Bayard drehte sich zu mir um.

»Du auch«, mahnte er leise. »Es geht gleich los.« Ich zog mein Schwert.


Es ging wirklich los, aber auf neue, unerwartete Weise.

Ich war auf Satyre vorbereitet, auf andere, halb menschliche, halb tierische Wesen, wie sie der Skorpion anscheinend gern gegen seine Feinde ins Feld warf – Minotauren vielleicht oder gar Echsenmenschen, um die sich in jüngster Zeit Legenden rankten.

Aber nicht auf Zentauren.

Wegen der starken Steigung waren wir abgestiegen und führten unsere Pferde zu Fuß zum Burgtor. Da ging es auf, und zwei Zentauren traten heraus und kamen unstet und schwankend, fast wie betrunken, über den felsigen Abhang auf uns zu. Einen Augenblick fragte ich mich, ob die alten Sprichwörter über Zentauren und Wein der Wahrheit entsprachen.

Dann erreichte mich der Gestank, und ich fragte mich nichts mehr. Das war kein Wein- oder Schnapsgeruch, sondern einer nach Schimmel, nassem Gras und Verwesung. Sumpfgeruch – aber der Geruch von Verwesung unter all dem Moos und Schlamm und Vallenholz und Zedernholz – der Geruch, wenn totes Fleisch, das Luft, Feuchtigkeit und ungewöhnlich warmem Herbstwetter ausgesetzt ist, zu verrotten beginnt.

»Untote!« rief Sir Robert aus. »Von Chemosh ins Sonnenlicht gespuckt!« Er ging vorsichtig auf sie zu, Bayard und Ramiro folgten ihm.

Ich wedelte so bedrohlich wie möglich mit meinem Messer, obwohl ich keine Ahnung hatte, welchen irdischen Nutzen ein paar Schnitte bei Biestern dieser Größe haben mochten.

Ihren Kehlen entrang sich ein pfeifender Laut, als ob sie sich über das Atmen an sich lustig machten oder vergessen hatten, wie es ging.

Jetzt waren sie so nah, daß ich ihre Wunden sehen konnte.

Der sie fallen sah, Kallites und Elemon. Ich erinnerte mich an Agions Geschichte.

Mit Pfeilen bespickt, als wären sie durch eine Armee von Bogenschützen gelaufen.

Der sie fallen sah.

In der Flanke des Größeren (Kallites oder Elemon? – ich konnte mich nicht an die Einzelheiten der Geschichte erinnern) steckten noch Pfeile bis zu den Federn. Beim Kleineren sah es so aus, als würden ihm die Pfeile – mit Schaft und Federn – aus Brust und Schultern wachsen.

Meine Gefährten erhoben ihre Schwerter, als die Zentauren blindlings zwischen sie stolperten und dabei mit ihren riesigen Armen ihre Keulen schwangen.

Der größere Zentaur versetzte Sir Robert einen heftigen Schlag mit dem Unterarm. Der alte Mann wurde umgerissen und brach taumelnd an der Seite des Pfades zu einem fluchenden Haufen zusammen. In diesem Augenblick wäre Enid di Caela fast an ihr Erbe gekommen, denn das große Wesen bäumte sich auf, um mit seinen Vorderhufen Sir Robert den Schädel zu zermalmen.

Mit gezücktem Messer rannte ich auf Sir Robert zu.

Bayard hingegen schlüpfte unbemerkt – auch von mir – hinter den Zentauren und schlug ihm mit einem gewaltigen Schwerthieb beide Achillessehnen durch. Das große Vieh taumelte, stürzte auf die Seite und versuchte, wieder aufzustehen. Schon in der nächsten Sekunde blitzte Bayards Schwert wieder auf, und der Kopf des großen Zentauren rollte mehrere Meter den abfallenden Pfad hinunter.

Ramiro hatte die seltsame Anmut der Dicken – und eine Schnelligkeit und Beweglichkeit, die man bei jemandem seines Umfangs nie erwarten würde. Er nahm sich den kleineren Zentauren vor und umkreiste ihn wie ein tödlicher Fechtmeister mit vor sich ausgestrecktem Schwert. Sein erster, ernsthafter Hieb traf den taumelnden, ungeschickten Zentauren.

Der nicht fiel.

Der zischte, seine trüben, schwarzen Augen aufriß und an der Klinge entlang auf Ramiro zukam. Und zwar solange, bis die Klinge durch den Rücken wieder herauskam und er Ramiro in seiner übelriechenden, massiven Umarmung hatte.

Doch seine Arme waren nicht lang genug, um den dicken Ritter zu umfassen, viel weniger, um ihn zu zerquetschen. Rasch schüttelte Ramiro seinen Angreifer ab und zog sein Schwert zurück. Dabei machte es ein Geräusch, wie wenn man ein Messer durch eine vergammelte Melone zieht. Dann wirbelte er schnell herum und legte sein gesamtes, beträchtliches Gewicht in den nächsten Schlag.

Der Hieb war so sauber, daß der Kopf des Zentauren weiter auf seinen Schultern saß und dort einen Augenblick wackelte, ehe er herunterfiel.

Die Luft um uns war still und stank.

Sir Robert stöhnte, und seine Gelenke knackten, als Brithelm ihm aufhalf. Ramiro und Bayard steckten ihre Schwerter weg, während sie bei ihren geschlagenen Feinden standen. Und hinter uns schniefte etwas auf der Straße, das zu einem dunklen Häufchen zusammengerollt war.

»Alfrik?« rief Bayard.

»Alfrik?«

Aber es kam keine Antwort. Mein Bruder lag eingerollt und zitternd unter einer Decke auf einem Häufchen Steine. Bayard sah sich nach mir um.

»Alfrik?« fing ich an, doch ebenfalls ohne Erfolg.

»Reiß dich zusammen!« befahl Sir Robert und löste sich aus Brithelms Griff, um auf meinen verhüllten Bruder zuzulaufen. Robert di Caela neigt nicht zu Milde.

»Vielleicht«, bemerkte Alfrik einfach mit fest geschlossenen Augen, »ist diese ganze Rettungsaktion uns etwas aus der Hand geraten.«

»Das ist absurd, Alfrik«, meinte Bayard ruhig.

»Absurd und die Bemerkung eines Verräters«, murmelte Ramiro, als er sich umdrehte, um sich über Alfrik aufzubauen.

»Komm jetzt, Alfrik«, fiel ich ein. »Was glaubst du, was Enid von solcher Hysterie halten würde?« Daraufhin wickelte er sich nur noch fester in die Decke ein und zitterte noch stärker, als ob er von einem seltsamen, lebensgefährlichen Fieber befallen wäre. Brithelm legte Alfrik die Hand auf die Schulter.

Ramiro machte einen Schritt nach vorn und trat kurz gegen den Knoten aus Decke und Bruder. Alfrik grunzte, wimmerte und rollte sich noch enger ein.

Jetzt war Sir Robert dran, und wir alle fürchteten Schlimmes.

»Alfrik. Sohn.«

Keine Antwort. Sir Robert seufzte.

»Alfrik, wenn du nicht auf der Stelle da raus kommst, wirst du dem hier Rede und Antwort stehen müssen.«

Wenn etwas stärker war als Alfriks Furcht, dann war das seine Neugier. Er spähte unter seiner Decke hervor und sah Sir Robert mit dem Schwert in der Hand.

Unverzüglich war Alfrik aus der Decke heraus, und wir machten uns alle zusammen zu den Burgtoren auf. Dabei flüsterte Sir Robert Brithelm ein Urteil zu, das der Wind uns zuwehte, während wir ihnen folgten.

»Ein Glück, daß dein Bruder gekommen ist, als er gerufen wurde. Noch ein paar Minuten solcher Ungehorsam, und ich wäre gezwungen gewesen, ihn zu töten.«

Sir Robert ließ einen drohenden Blick zu Alfrik folgen, der wieder etwas zu zittern begonnen hatte. Dann wandte sich Sir Robert dem vor uns liegenden Schloß zu, und diesmal waren es seine Schultern, die bebten.

Doch von dort aus, wo ich ging, wirkte es wie das Schütteln vor Lachen, eine angenehme Erleichterung nach einem langen Nachmittag voller Sorgen.


In diesem Augenblick kam Agion aus dem Tor geschwankt. Zuerst schrien sowohl Bayard als auch ich auf vor Freude, weil wir glaubten, wir hätten uns damals im Vingaard-Gebirge in unserer Trauer geirrt. Der Dreizack durch sein großes Herz und das einfache, kleine Begräbnis hatten einfach nur in einem Alptraum stattgefunden, an den wir uns kaum noch erinnerten, als wir unseren Freund jetzt auf uns zukommen sahen.

Wir frohlockten, bis wir seinen Blick sahen. Die Dumpfheit, die Ausdruckslosigkeit. Der Ausdruck der Toten, die nichts mehr kümmert, die sich an nichts mehr erinnern.

Mit der erhobenen Keule in seiner gelblichen, geschwollenen Hand trottete Agion langsam auf Bayard zu. Der hielt die Stellung, zog sein Schwert und erhob es.

Dann senkte er die Waffe, als der Zentaur näher kam.

»Bayard! Das ist nicht mehr Agion!« schrie ich.

Aber mein Beschützer stand reglos mit gesenktem Schwert da. Der Zentaur blieb vor ihm stehen und hob langsam und wie mechanisch die schwarze Keule.

Ich weiß nicht, wie ich an Bayards Seite kam. Brithelm sagte später, daß er mich noch nie so schnell erlebt hatte, und man vergesse nicht, daß er mich viele Male auf der Flucht durch die Wasserburg gesehen hat. Wie auch immer, als nächstes erinnerte ich mich daran, wie ich mit dem Gesicht zu Agion zwischen Bayard und dem toten Zentauren stand.

»Nein! Agion! Das ist Bayard! Und Galen!« schrie ich und wedelte mit den Armen.

Einen Moment lang wurden die dumpfen, ausdruckslosen Augen weicher. Aber nur einen Moment, dann kehrte die stählerne Härte des Todes wieder. Das Agion-Wesen hob die Keule, zischte und wollte uns beide in seine eigene düstere Welt holen.

Dieser Moment des Zögerns reichte aus. So zerschlagen Sir Robert sein mochte, er war nicht kampfunfähig – wie wir merkten, als er zwischen mich und den Zentauren sprang, um den Keulenschlag mit der flachen Klinge des alten di Caela Schwerts abzufangen. Dann riß er das Schwert zu einem kurzen, altehrwürdigen solamnischen Verteidigungsschlag hoch und durchbohrte damit den verwundeten Hals von Agion.

Alles sackte weg, und ich war im schwarzen Nichts. Falls ich geträumt habe, während ich bewußtlos mitten im Chaktamir Paß lag, erinnere ich mich an nichts.

Ich weiß nur noch, wie ich aufwachte, als Bayard mich ins Licht, in Kälte und Schmerz und in eine Traurigkeit wachrüttelte, die ich zunächst nicht begriff. Eine Traurigkeit, die ich erst einordnen konnte, als ich die Körper der Zentauren sah und mich erinnerte.

»Wie du schon sagtest«, tröstete Bayard, während er mir auf die Beine half, »es war nicht mehr Agion.«

»Und doch… einen Augenblick lang dachte ich, unser alter Freund hätte trotz Tod und allem Zauber des Skorpions kurz innegehalten«, murmelte ich.

»Vielleicht hat er das auch, Junge«, erwiderte Sir Robert leise. »Das sollte uns Mut machen, denn es beweist, daß die Macht des Skorpions zu brechen ist.«

»Daß manche Dinge«, ergänzte Brithelm leise, »stärker sind als der Tod.«

Wir schwiegen einen Augenblick.

Sir Robert zeigte auf das offene Tor.

Immer zu zweit nebeneinander marschierten wir durch den drohenden Bogen.


Durch einen Vorhang aus Schneetreiben und dickem Nebel tauchten sie auf – die Schatten geduckter, schleppend gehender Männer, die sich fast wie Affen bewegten. Obwohl ihre Gestalten hinter uns und vor uns kaum zu sehen waren, erkannte ich, daß sie Waffen trugen: die schlanken Schatten nerakanischer Krummschwerter lagen in ihren schattenhaften Händen. Die kalte Luft um uns summte von ihrem Stöhnen und ihren unmenschlichen Schreien.

Es war, als würde jemand eine Armee zusammenrufen.

Bayard zog sein Schwert und wollte sich mitten in die Schatten stürzen, doch Brithelm ergriff ihn am Arm.

»Sir Bayard, Eure Pflicht liegt im Schloß – eine Aufgabe, die nur Ihr vollbringen könnt. Denn wer weiß, ob Lady Enid nicht Schrecken ausgesetzt ist, die viel schlimmer sind als alles, was wir hier vor uns haben.«

»A-aber…«, fing Bayard an.

»Ins Schloß, Sir, und mögen die Götter Euren Weg beflügeln.« Brithelm lächelte heiter und zuversichtlich. Ein Pfeil kam aus dem Nebel und fiel neben ihm auf den Steinboden.

»Bei Paladin, du wirst nicht allein einer Armee gegenüber stehen, Junge!« brüllte Sir Ramiro. »Gebt mir jederzeit einen bewaffneten Feind statt diesem wolkigen Hokuspokus, der in dem Spiegelkabinett da steckt. Her damit, tot oder lebendig! Ich decke dir den Rücken, Brithelm!«

Ramiro zog sein Schwert, stieß mich zu Bayard und stellte sich neben meinen gelassenen Klerikerbruder. Bayard zog mich am Arm auf die Zugbrücke, obwohl ich mich wehrte. Alfrik und Sir Robert folgten dicht hinter uns.

Als wir über die Brücke auf das Tor zuliefen, das sich dunkel vor uns erhob, beugte sich Bayard zu mir und flüsterte: »Keine Sorge, Sohn.«

Wir blickten zu meinem Bruder zurück, dem Mann des Friedens, der sich zwischen nebelverhangenen Steinen zum Kampf rüstete. Neben ihm stand dieser fröhliche Riese Ramiro, der seinen gewaltigen Schild über die beiden hielt, um sie vor den Pfeilen zu schützen.

»Ich bin sicher, daß wir sie beide wiedersehen, Galen. Denen passiert einfach nichts.«

Plötzlich kam ein rotes Licht aus Brithelms Hand, das sich in die schattenhaften Gestalten vor ihm grub. Ein lauter Schrei gellte durch den Nebel, so daß die Armee wie angewurzelt stehenblieb und etwas vor unserer kleinen Nachhut zurückwich.

»Verdammt!« hörte ich Ramiro noch grollen, bevor ich seine Stimme im Nebel und durch die Schreie der Schattensoldaten nicht mehr ausmachen konnte. »Wohin man sieht, überall diese Zaubertricks! Wie soll ein Mann da bloß vernünftige Gesellschaft finden?« Und er lachte herzlich und schwenkte seinen Schild vor den murmelnden Soldaten.


Von da an gab es nicht mehr viel zu lachen. Wir kamen zuerst durch den hohen Bogen des Burgtors. Der Hof selbst erschien halb zusammengeträumt und halb aus Erinnerungen an Kastell di Caela zusammengesetzt. Er war anscheinend nur mit einem Auge auf die Geschosse erbaut. Die Gebäude glichen denen von Kastell di Caela in Gestalt und Größe und standen an denselben Stellen im Hof.

Jedenfalls so weit ich sehen konnte. Denn das jenseitige Ende des Hofes, die Türme, die Geschäfte, die Ställe – sogar die Zinnen – waren hinter dem Nebel oder lösten sich im Nebel auf. Manchmal war eine Wand da, dann anscheinend nicht mehr, als wäre sie je nach Wind oder Schneestärke fest oder nicht.

Ich war von dem unheimlichen Gefühl erfüllt, daß der Erbauer nur eine Kulisse errichtet hatte. Der Bergfried, die Türme und die anderen Gebäude wirkten hohl, als wären sie allein für uns Besucher aufgestellt.

Ob nun aus dem Nebel oder aus einem schwärzeren Grund, jedenfalls schien der Boden vor uns aufzutauchen, während wir zum Bergfried ritten. Dort stiegen wir sofort ab und ließen die Pferde frei im Hof herumlaufen. Sie würden auf jeden Fall sicher sein und vielleicht brauchten wir sie von jetzt an nicht mehr.

Hinter uns drangen Schreie aus dem Nebel. Einen Augenblick lang hielt Bayard inne, drehte sich um und wollte schon zurücklaufen. Doch dann murmelte er »Enid«, nahm meinen Arm und hob mich regelrecht über den Nebel, als die Pferde davongaloppierten. Gemeinsam machten wir ein paar zaghafte, erste Schritte, um dann schneller zu laufen, damit wir Sir Robert und Alfrik erreichen konnten, die schon vorgerannt waren. An der Tür zur Burg holten wir sie ein.

Im Gegensatz zum Tor war diese verschlossen. Sir Robert hatte es einmal, zweimal probiert und lief jetzt kochend auf und ab, während Alfrik Vaters Schwert zu dem idiotischen Versuch benutzte, die Tür aufzubekommen.

»Aus dem Weg!« brüllte Bayard, und Alfrik gehorchte mit überraschender Gewandtheit. Er war es gewohnt, allen eiligst aus dem Weg zu gehen. Bayard nahm vier Schritte Anlauf und versetzte der Tür einen lauten Tritt.

Die Tür erzitterte, doch sie ging weder auf, noch brach sie aus den Angeln. Bayard prallte von dem dicken Eichenholz ab und schlug hin, um benommen und atemlos auf dem Boden liegen zu bleiben. Hinter uns und um uns herum schien der Hof zum Leben zu erwachen. Irgendwo im Nebel hörte ich schwerfällige Bewegungen, Leder knirschte, Metall klirrte. Etwas Großes regte sich, atmete und bewegte sich allmählich in unsere Richtung.

Mit Hilfe von Sir Robert rappelte sich Bayard mühsam auf und wollte wieder auf die Tür einrennen. Alfrik ging schnell neben mich und zog mich am Ärmel.

»Da draußen ist etwas, Bruder, und ich schätze, daß es uns inzwischen im Visier hat.«

Ich war der gleichen Meinung und sagte: »Wir sollten lieber Sir Bayard ablenken, bevor er sich verletzt, und dann versuchen, durch ein Fenster einzudringen. Was uns im Schloß auch erwartet, durch diese Tür werden wir es nicht erreichen.«

Bayard krachte gegen die fragliche Tür und lag dann regungslos daneben, bevor er wieder begann, sich unter Schmerzen aufzurichten. Die Geräusche – das Schnüffeln, das Rüstungsklirren – kamen näher, und jetzt tauchten große, gehörnte Wesen dunkel im Nebel auf.

»Dämonen!« schrie Alfrik.

»Männer aus Neraka«, korrigierte Sir Robert, wobei er meinen ältesten Bruder festhielt, »mit ihren offiziellen Minotaurenhelmen. Sie rufen Kiri-Jolit an, ihre Feinde zu verjagen. Und dem Geruch nach zu urteilen, sind sie schon eine ganze Weile tot. Nimm dein Schwert, sie kommen auf uns zu. Schnell um den Bergfried. Wenn ich mich nicht irre, sind dort Fenster.«

Wir verstanden sehr gut, und liefen alle vier zur Seite, wo wir Fenster zu finden hofften. Sir Robert trampelte voraus und Alfrik nicht weniger laut rechts hinter ihm her. Ich folgte den beiden, wobei ich leise wie eine von Muriel di Caelas Katzen durch den Nebel huschte. Bayard humpelte mit blanker Klinge an hinterster Stelle.

Als wir schließlich den Ziergarten und das Fenster erreicht hatten, war nicht mehr zu leugnen, daß die Soldaten aus Neraka – oder was auch immer sie waren – Boden wettgemacht hatten. Als wir um eine Ecke bogen, glaubten wir, sie hätten uns eingeholt, und zogen die Waffen, da wir im Garten vor dem Fenster gehörnte Gestalten sahen. Doch es waren nur Sträucher in Eulenform, so daß wir uns einen Augenblick entspannten – bis wir durch den Nebel außerhalb des Gartens Schnüffeln und Bewegungen hörten.

»Weiter an der Mauer lang!« drängte Alfrik. »Hier kriegen sie uns auf jeden Fall! Es muß doch noch andere Fenster geben! Ihr müßtet das doch wissen, Sir Robert!«

»Oh, es gibt andere Fenster«, überlegte Sir Robert bedächtig, »aber auf dieser Seite keine mehr, die wir erreichen können. Hör doch: Vor uns an der Wand sind die gleichen Geräusche, vor denen wir wegrennen, seit wir sie zum erstenmal gehört haben. Ob es nun bewaffnete Männer oder Monster, Lebende oder Tote sind – wir sollten uns darauf vorbereiten, es hier mit ihnen aufzunehmen. Das Letzte, was sie erwarten, ist ein Kampf, darum ist das genau das, was sie bei uns bekommen.«

Da standen wir also und blickten einander an. Pfadwächter, Blitzklinge und di Caela.

Ganz plötzlich krachte und knackte es im Garten, als sich etwas Großes näherte und das Atmen und Schnüffeln zu leisem Grollen mit gelegentlichem Gebell wurde. Die verfaulten Kehlen versuchten, den lang vergessenen Stierschrei der nerakanischen Krieger auszustoßen.

Der Feind kam durch den Obstgarten, wobei er Zweige brach und Blätter zertrat, als er die Büsche beiseite schob, und manchmal grunzte, weil er gegen Baumstämme lief. Die Gestalten waren wie die Burgmauern im Nebel: Sie entstanden, lösten sich auf, entstanden erneut. Aber dabei bewegten sie sich unablässig auf uns zu.

»Galen!« schnappte Bayard. »Kannst du von meinen Schultern aus das Fenster erreichen?«

Das Fenster erreichen? Meine Gefährten verlassen?

Meine Gefährten verlassen? Was für solamnische Gedanken hatten mich befallen, daß ich mich selbst verdammte, weil ich einen sicheren Ort aufsuchte? Hätte ich meine Antwort gehört, so wäre mir vielleicht jenes selbstgerechte, kleine, solamnische Zittern in meiner Stimme aufgefallen.

»Ich kann es versuchen, Sir, wenn Ihr irgendeinen tieferen Sinn darin seht.«

»Dann ab auf meine Schultern«, zischte Bayard drängend. »Wenn du drin bist, suchst du dir einen Weg zur Haupttür zurück und machst sie auf. Das sollte nicht schwierig sein. Die Gänge und Räume da drin sind wahrscheinlich ebenso ein Abbild des Stammschlosses der di Caelas wie die Fassade.«

»Ich weiß, Sir. Aber, um Humas willen, was passiert, wenn – «

»Da drin bist du auch nicht toter als hier.«

Keine besonders ermutigenden Aussichten. Da oder hier. Aber Bayard war es todernst mit der ganzen Sache.

»Faß dir ein Herz und klettere auf meine Schultern.«

Das tat ich, und überraschenderweise war es nur ein kurzer Satz zum Fenster, das mir irgendwie niedriger vorkam als Enids Fenster in Kastell di Caela. Ich sprang, packte das Fensterbrett und zog mich hinein. Der Raum vor mir war finster.

Hinter mir hörte ich Alfrik Bayard anbetteln und hörte, wie Bayard mit Nein antwortete. Alfrik sei viel zu schwer für solche Turnereien, und außerdem brauchten sie ihn für den bevorstehenden Kampf.

»Jetzt hör auf zu jammern und halt die Augen auf«, fiel Sir Robert ein. »Aus der Richtung kommen sie zuerst, oder ich will kein Taktiker sein.«

Ich legte meinen Dolch aufs Fensterbrett, stand in dem finsteren Raum und sah dann ein letztes Mal hinunter zu Bayard, der mit kampfbereitem Schwert hochblickte.

»Wir versuchen, uns wieder zur Tür durchzuschlagen«, murmelte er.

»Viel Glück, Sir«, meinte ich zaghaft.

»Los jetzt«, schoß er zurück. Dann lächelte er und zwinkerte mir zu – eine höchst unsolamnische Geste.

»Ich wünsch dir Wieselglück, Junge. Das dir, soweit ich das sehe, bisher am meisten geholfen hat.«

Ohne nachzudenken rannte ich in den unbeleuchteten Raum. Was ein Fehler war.

Ich machte nur zwei Schritte, dann sank ich bis zu den Knien in den dunklen Boden. Ich schrie nach Bayard, verschluckte den Schrei jedoch, als ich hörte, wie er durch die Gänge der Burg hallte, und als ich vor dem Fenster Rufe und Waffengeklirr vernahm. Die Geräusche schienen so weit weg zu sein.

Tiefer und tiefer sank ich ein und dachte an den Treibsand im Sumpf von Küstenlund. Ich stellte mir vor, daß ich in das Herz des Skorpions sank, darum ruderte ich wild mit den Armen auf dem Zimmerboden herum, bis ich in Armeslänge Abstand festen Stein fand. Indem ich mich wie ein Schwimmer in einem zähen, finsteren Teich durch das Nichts schob, das irgendwie fester war als Wasser, aber flüssiger als der Boden, erreichte ich schließlich den Boden und zog mich aus dem Morast. Dabei stellte ich erstaunt fest, daß ich völlig trocken war.

»Was ist das?« flüsterte ich und tastete dabei den Boden vor mir ab, um sicherzugehen, daß in dem Raum keine weiteren Fallgruben waren. Meine Hand fand eine heile Sturmlaterne, die umgefallen war.

Ich hob die Lampe auf und tastete in meiner Tasche nach dem Zunderkästchen, förderte aber nur die Handschuhe zutage. Fluchend wie ein Stallknecht machte ich mich in die ungefähre Richtung der Tür auf – zumindest dorthin, wo im entsprechenden Raum von Kastell di Caela Enids Tür war. Wie eine Riesenkrabbe schob ich mich über den dunklen Boden und tastete vor mir alles nach weiteren Plätzen ab, die nicht ganz fest sein mochten.

Ich fand die Tür durch das Licht, das unter ihr durchschien. Der Gang davor war in unheimliches Fackellicht getaucht, entsprach aber ansonsten dem in Kastell di Caela. Doch auf den zweiten Blick war etwas anders. Irgendein Detail fehlte.

Nach knapp fünf vorsichtigen Schritten den Gang entlang fiel es mir ein. Die mechanischen Vögel. Jene, die Enid während ihrer verwöhnten Kindertage verrückt gemacht hatten.

Die Gänge des Schlupfwinkels des Skorpions waren still.

Ich hockte mich hin und sah nach vorn und hinten den Korridor entlang. Dabei bemerkte ich, daß die Wände hin und wieder rotierten, als wären knapp faustgroße Wirbel wie bizarre Ornamente in sie eingelassen. Die Wirbel drehten sich hypnotisierend im Uhrzeigersinn. Sie waren so grau wie die Steine drumherum, doch in sich flüssig und schimmerten auch wie eine Flüssigkeit, wenn sie das Fackellicht aufnahmen und zurückwarfen.

Wände, die einen vollständig verschlucken konnten wie der Boden.

Ich schrak davor zurück und setzte mich in die Mitte des Ganges, so daß die spiralenförmigen Dinger in der Wand auf sichere Armeslänge entfernt waren.

Ich schickte einen Seufzer durch den Gang, wo er sich mit einem fernen, merkwürdigen, doch entnervend bekannten Geräusch vermischte.

Ein Surren und Zirpen.

Also gab es doch mindestens einen.


Es war reine Neugier, Interesse an fremden Häusern, fremder Einrichtung und Dekoration, die mich dem Klang des Kunstvogels nachgehen ließen. Das und das Wissen, daß das Geräusch aus der Richtung der großen Galerie kam, unter der der Haupteingang der Burg lag, die Tür, die ich für Bayard entriegeln mußte.

Weil ich mich auf meine Erinnerungen an das Äußere des Schlosses verlassen konnte, fiel mir die Orientierung nicht schwer. Am Ende des Ganges traf ich auf einen größeren, breiteren Korridor. Beim Gehen musterte ich ständig achtsam den Boden, um bloß nicht in einen dieser Wirbel aus flüssigem Stein zu treten. Der breite Gang führte direkt zur Galerie, wo ich meine Hände erst vorsichtig auf das Geländer legte, bevor ich darauf vertraute, daß sie mein Gewicht tragen würde.

Danach kam ich rechts in den Gang mit den marmornen di Caela-Statuen, die jedoch anders waren als die bei Sir Robert Verewigten.

Das hier war die Familie in ihren schlimmsten Zeiten.

Denn hier ruhte Muriel di Caela auf einem Marmordiwan mit Marmorkatzen am Hals, an den Augen und an der Brust. Es war noch greulicher, weil alles so glatt und weiß war.

Und Denis di Caela mit einer Marmorratte in einem Marmorkäfig. Ganz zu schweigen von Simon di Caela, der zufrieden als riesige, weiße Eidechse ein ewiges Sonnenbad nahm.

Es war regelrecht obszön.

Sie alle wurden von einer weiteren Statue überragt, die ich noch nie gesehen hatte – die eines Mannes mit Kapuze auf einem skelettartigen Thron mit gemeißelten Skorpionen auf den Thronlehnen und den Armen des Mannes.

Der alte Benedikt di Caela. Hier, im Dunkel der brüderlichen Vernachlässigung, saß er auf dem Thron.

Ich kam an der Tür vorbei, die in einer sichereren Welt, an die ich mich liebevoll und geradezu verzweifelt erinnerte, Danielles war. Dann nahm ich den rechten Gang, wich einem Wirbel aus, dann nach links, dann nach rechts, bis ich vor dem Gang stand, wo zu meiner Rechten die Belagerung von Ergod für immer in Farbe eingefroren an der Wand tobte.

Am Ende dieses Ganges ratterte und pfiff, pfiff und ratterte wieder der mechanische Vogel.

Als der Vogel eine Pause einlegte, vernahm ich Stimmen. Zwei Stimmen, beide laut und wütend, die durch die Tür gegenüber des Wandbilds drangen.

Die Tür, die in Kastell di Caela auf den Balkon geführt hatte, von dem aus man den großen Saal überblicken konnte.

Ich machte die Tür einen Spalt weit auf, sah Dunkelheit und roch teuren Stoff und den muffigen Geruch von Zerfall. Ansonsten nur Dunkelheit und die Stimmen, die ich jetzt deutlicher hörte.

Eine war süß und hoch und melodisch, die andere tief und melodisch und tödlich.

Enid und der Skorpion.

Offensichtlich vertrugen sie sich nicht.


Ich stand keine sechs Fuß von den Vorhängen entfernt, die denen von Kastell di Caela bis hin zum Samt und zur Stickerei ähnelten – so weit ich das im grauen Zwielicht auf dem Balkon erkennen konnte. Hinter diesen Vorhängen hoben und senkten sich die Stimmen im Duett des Streits.

Ich machte die Tür hinter mir zu.

»Denk dran, du bist meine Gefangene, Liebling.« Die Stimme des Skorpions erhob sich kalt und drohend.

Enid – gesegnet sei ihr Mut – war nicht im mindesten eingeschüchtert.

»Du kannst nicht beide Seiten haben, Vetter Benedikt. Entweder bin ich deine Geisel, dann mußt du mich hinter Schloß und Riegel einsperren, wie das bei Geiseln so üblich ist; oder ich bin das einzigartige, wenn auch zurückhaltende Ziel deiner Träume und dann liegst du mir nicht mehr am Herzen als diese tickenden Untiere vor der Tür.«

»Und wenn ich dich losbinde, Lady Enid?« Die Stimme des Skorpions nahm wieder die alten Töne auf – weich, honigsüß und furchtbar einladend. »Wenn ich das tue, würdest du mich dann etwas mehr… schätzen?«

Langsam kroch ich zur Öffnung des Vorhangs, zu der mich ein dünner Lichtspalt führte. Weil ich mich immer noch an meine Abenteuer in den Zimmern und Gängen und an Alfriks Sturz vom Balkon erinnerte, wo Stein Stein und Vorhang Vorhang gewesen war, tastete ich den Boden vor mir mit den Händen ab.

Sie antwortete, als ich den Stoff berührte und anfing, den schweren Samt ganz, ganz vorsichtig beiseite zu ziehen. Enids Stimme wurde noch lauter, denn sie wurde von einer Welle von Zorn und Belustigung getragen.

»Oh, Benedikt, Benedikt. Du könntest mich losbinden und mich in deinem Schloß frei herumlaufen lassen, und du wärst mir immer noch gleichgültig. Allerdings würde ich dieses Entgegenkommen zu schätzen wissen und Sir Robert vielleicht bitten, weniger streng mit dir umzuspringen, wenn er mich retten kommt.«

Sie bluffte, aber sie bluffte gut und gezielt. Als ich durch die Vorhänge lugte, sah ich die beiden.

Enid saß blond und braunäugig und überwältigend schön – darüber hinaus furchtlos und überwältigend wütend – auf einem Holzstuhl mit hoher Rückenlehne.

Ihr gegenüber hockte der alte Benedikt – der Skorpion aus meinen Ängsten und Alpträumen – mit Kapuze auf seinem Skeletthron, der irgendwie kleiner, mickriger und weniger bedrohlich wirkte.

»Sir Robert! Sir Robert!« rief der Skorpion spöttisch. »Liebling, dein Vater ist ein prahlerischer, leichtsinniger Dummkopf.«

»Weshalb du seine Tochter rauben mußtest, anstatt ihm direkt gegenüberzutreten«, antwortete Enid freundlich ironisch.

»Du glaubst, er kommt dich retten. Oh, ja, Lady Enid, er wird meinen Soldaten in die Arme laufen, mitten in die Pfeile und Klingen der toten Männer aus Neraka – den ›Generationen vom Gras‹ aus der Prophezeiung. Er wird den Stich des Skorpions zu spüren kriegen, meine Süße.«

Der Skorpion lehnte sich in seinem Thron zurück und lachte volltönend und giftig. Aus den Falten seiner Robe zog er etwas Glänzendes, Glitzerndes, und er begann zu reden, während er das Pendel ins Licht hielt und es wie ein billiger Jahrmarktshypnotiseur hin und her schwang.

Ich übersah den grauen Wirbelstein an der Balkonbrüstung und konnte mich nur noch am Vorhang festhalten, als ich einbrach. Mein erstickter Schreckensschrei war nicht erstickt genug. Sowohl Enid als auch der Skorpion sahen von ihren Plätzen im großen Saal zu mir hinauf.

Jetzt erst sah ich, daß Enids Hände eindeutig an ihre Stuhllehnen gefesselt waren. Und die Augen des Skorpions glühten rot, dann blau, dann weiß.

»Willkommen, Wiesel«, schnurrte er, während er seine Lehne so fest umklammerte, daß seine Knöchel ganz weiß wurden. »Wir wollten gerade besprechen, was… aus dir werden soll.«

19

»Wir können das alles gerne später besprechen, wenn Ihr mögt«, bot ich an, doch davon wollte der Skorpion nichts wissen. Er beugte sich auf seinem Thron nach vorne, und seine Augen tanzten spiralig durch alle Farben des Feuers, bis sie so weiß waren wie das Zentrum des Feuers.

»Ich glaube, ich brauche dich nicht mehr«, schnarrte er. Ohne die tödliche Melodie darin klang seine Stimme irgendwie rauh und nur entfernt menschlich. Hier waren wir auf seinem Land, wo er keine Masken mehr brauchte.

Mit dem goldenen Pendel in der Hand, das von seinem blassen Zeigefinger baumelte, zeigte er vor mir auf den Boden.

Der Punkt auf dem Boden, auf den er zeigte, begann sich zu drehen, zu verändern und zu glitzern, so ähnlich wie die Wände und Böden der Gänge, durch die ich gekommen war. Aber dieser Wirbel war schwarz, er hatte nicht das Schiefergrau von Wänden und Böden.

Ich blinzelte und sah genauer hin.

Unter mir bedeckte ein Teppich aus Skorpionen den Boden. Im Fackellicht krochen sie glitzernd mit den erhobenen Giftstacheln herum. Wenn ich da rein fiel, würde ich noch auf dem Weg nach unten darum beten, daß der Fall selbst tödlich wäre.

Langsam und überaus vorsichtig versuchte ich, mich an dem Vorhang hoch über die Brüstung zu ziehen, wobei ich zu Gilean und Mishakal und allen Göttern um einen starken Stoff in meinen Händen betete, um gute Schreinerarbeit an der Brüstung und keine Illusionen mehr vor mir. Der mechanische Vogel draußen im Gang keckerte wieder.

Ich seufzte und flüsterte mir zu: »Also hoch mit dir und finde deinen Tunnel nach draußen, Wiesel.«

Dann sah ich den Riesenskorpion mit seinen glänzend schwarzen Scheren und dem erhobenen Stachelschwanz, der langsam am Vorhang herunterkletterte und sich auf dem Weg zu meinen Händen an Saum und Stickerei festklammerte.

Aus solchem Stoff sind unsere schlimmsten Alpträume gemacht. Ich griff nach der Brüstung, doch meine Hand glitt einfach hindurch, als wäre sie aus Rauch.

Es gab nichts Festes, das als Rettungsleine dienen konnte. Ich ließ mich so weit wie möglich am Vorhang herunter, als würde ich ein Seil hinabklettern. Dann dachte ich an das brodelnde Knäuel von Tierchen unter mir und blieb, wo ich war. Ich wagte nicht, noch weiter runterzugehen, weil ich befürchtete, der Vorhang würde zu Ende sein.

Der Riesenskorpion kam weiter auf mich zu. Er hatte den schwarzen Schwanz erhoben, und seine dünnen Beine tanzten über den weichen Stoff.

»Hau ab!« zischte ich. Das Biest blieb stehen, schwenkte den Schwanz in der Luft wie ein schwarzes Blatt, das Feuchtigkeit oder Sonnenschein auffangen sollte, und hüpfte dann drohend in meine Richtung, bevor es einen knappen Meter vor meinen Händen ironisch auf einer Goldtroddel halt machte.

»Was für ein Held!« höhnte der Skorpion voller Ironie. »Ein Tier, das nicht einmal ein Zehntel so groß ist wie du, und du scheust davor zurück, als ob es… giftig wäre?« Sein Gelächter schwoll zu einem durchdringenden Geheul an. Die Skorpione unter mir wuselten noch aufgeregter durcheinander, und Enid hielt sich die Ohren zu.

»Du bist selbst nicht gerade für Fairneß im Kampf berühmt, Benedikt!« schimpfte Enid wütend. Sie sagte noch mehr, aber ihre Worte gingen in seinem Lachen unter.

Als das Lachen endlich nachließ, sah Benedikt zu mir hoch. Mit einer seltsamen, verrückten Zärtlichkeit lächelte er, doch ich konnte sehen, wie seine glühenden Augen immer tiefer in ihre Höhlen sanken und sein Schädel unter der blassen, gelblichen Haut Kontur annahm.

»Du hast mir mal gute Dienste geleistet, nicht wahr, Galen Pfadwächter?«

Das Untier über mir blieb stehen, als sein Meister sprach. »Als Belohnung für deine Dienste, kleines Wiesel, solltest du länger leben als alle deine Freunde.«

Enid warf mir einen wütenden Blick zu, weil sie sich zweifellos an die Geschichten von meinem Verrat erinnerte.

Ich sah sie voller Reue an und zuckte mit den Achseln, so weit das möglich war, während ich hier am Vorhang hing.

Ihr Zorn legte sich. Hilflos starrten wir einander an. Hilflos baumelte ich da. Über mir und unter mir erwarteten die giftigen Tiere ihre Befehle. Ich hatte noch einen Aufschub bekommen.

Durch die Gänge hörte ich entfernt etwas an die Tür klopfen – die Tür, zu der ich hatte hinrennen und sie aufmachen sollen. Der Skorpion legte grinsend die Hand ans Ohr.

»Wir haben Besuch, Liebling! Bleib nur sitzen, ich geh schon!« rief er, um gleich wieder in Lachen auszubrechen. »Das ist sicher mein Schwiegervater, wenn ich mich nicht irre.«

Mit glühenden Augen drehte er sich zu mir um.

»Und ich irre mich nie. Denn trotz deiner Wortklaubereien und deiner langen Nächte mit Poesie und Geschichte und solamnischen Überlieferungen bin ich es, der die Bedeutung der Prophezeiung enträtselt hat, nicht Bayard oder Sir Robert, der sie so verstand wie sein Vater und dessen Vater vor ihm. Ich bilde mir gerne ein, daß eine gewisse… Bardenseele in mir wohnt«, sann er nach und lehnte sich demonstrativ in seinem Thron zurück.

»Wenn ja, Onkel Benedikt, dann wette ich, daß sie einsam ist«, gab Enid zurück.

»Sei still, Kind«, erwiderte Benedikt leise, fast beruhigend. »Denn jetzt beginnt deine… Hochzeitsnacht.«

Aus den Falten seines Umhangs zog er einen Dolch, der im gelblichen Licht des Saals blitzte, als er ihn sorgsam auf die Armlehne seines Throns legte. Genau in diesem Moment erbebte die Tür zum Großen Saal und brach aus den Angeln.

In der Tür standen Bayard und Sir Robert mit gezückten Schwertern. Sir Roberts Linke hielt Alfrik an den Haaren fest. Auf diese Weise hatte er meinen widerstrebenden Bruder hierher gebracht. Alfrik schnaufte und heulte.

»Willkommen«, flötete der Skorpion geheimnisvoll. »Ich habe Euch erwartet, Bayard Blitzklinge. Und Euch… Sir Robert.

Wir haben Zeit – nicht viel Zeit, aber genug –, um unseren vierhundert Jahre alten Streit endlich auszutragen. Aber laßt uns zuerst eine frischere Wunde heilen, eine kleine Auseinandersetzung von vor knapp dreißig Jahren.«

Mit den Handflächen nach oben streckte er die Hände aus und hob sie langsam über den Kopf. An den Fingern der linken Hand hing glitzernd das Pendel.

»Laßt meine Freunde ihren Kampf wiederaufnehmen… auch wenn Euer ach-so-mächtiger Orden glaubt, er hätte allen Kämpfen ein Ende gemacht«, erklärte er gleichmütig. »Laßt Generationen vom Gras zurückkehren, ›auf daß der Fluch nun endlich weicht‹.«

Die Skorpione unter mir stoben auseinander, als der Boden des Saals bebte und knackte.

Als die Aufmerksamkeit seines Herrn auf anderes gelenkt wurde, nahm mein Feind von oben seinen krabbelnden Abstieg wieder auf.

»Bleib genau, wo du bist!« drohte ich mit möglichst einschüchternder Stimme. Dann klappte ich den Mund zu, weil mir einfiel, daß das Tier vielleicht dem Klang meiner Stimme folgte. Ich griff an meinen Gürtel zu dem Messer, das da hing…

Nicht hing.

Mir fiel das Fensterbrett ein, durch das ich in das Schloß eingedrungen war, und wie das Eisen im Licht des roten Mondes geglitzert hatte. Mein Dolch lag sehr praktisch drei Gänge weiter, denn ich hatte ihn auf einem Fensterbrett außer Reichweite vergessen.

Vergeblich suchte ich in meinen Taschen nach etwas Schwerem oder Hartem. Schließlich fand meine verzweifelte Hand etwas Rauhes, Dickes, Ledriges.

»Die Handschuhe!« zischte ich, und der Skorpion kroch am Vorhang herunter, bis er nur noch einen Fuß vor meiner anderen Hand war.

Mit Hilfe meines Mundes zog ich in einem gewagten Manöver, das ich unter anderen Umständen als zu akrobatisch, verworfen hätte, einen Handschuh an. Geschicklichkeit war immer mein größtes Talent gewesen, und diesmal, am Ende der Vorhänge des Skorpions, mußte ich das voll ausspielen.

Der Händler, der mir die Handschuhe verkauft hatte, hatte mit ihrer Robustheit geprahlt und behauptet, daß sie »tatsächlich ein Messer abhalten könnten, wenn man sie dazu benutzt«.

Als der Skorpion knapp sechs Fingerbreit vor meiner Hand den Stoff prüfte und sein Bein sich auf die grobe Stickerei senkte, streckte ich die Hand aus, ergriff das Tier mit der Hand im Handschuh und quetschte sie so fest wie möglich zu.

Ich hörte, wie sein Panzer knackte, und fühlte, wie etwas in meiner gepolsterten Handfläche brach. Der tödliche Schwanz fand seinen Weg zwischen meinen Fingern hindurch, bog sich und stach wieder und wieder in das dicke, kräftige Leder.

Dieses eine Mal hatte ein Händler nicht gelogen.

Ich schmiß die Überreste des Tieres fort und sah die Teile auf den Saalboden fallen.

Der nun um meine Freunde herum aufbrach.

Durch den Nebel, die Felsen und den Boden erhob sich ein Bataillon, das durch Stein und Fliesen brach. Manche Soldaten trugen Minotaurenhelme, heute und damals das Zeichen der Männer aus Neraka. Alle waren mit den gefürchteten Scimitaren und dem Halbmondschild des Westheeres ausgerüstet, dem Flügel der Armee, der vor dreißig Jahren Enrik Sturmfeste – und meinem Vater – in der Schlacht von Chaktamir zum Opfer gefallen war.

Während der Skorpion von seinem Platz im Saal aus gelassen zuschaute, quollen seine Soldaten aus dem Boden, stellten sich auf und drangen auf Bayard und Robert und Alfrik ein. Moos und Erde und Dreck rieselten ihnen aus den Haaren, und durch das gelbe, verwesende Fleisch sah man das bloße Weiß ihrer Knochen. Der Gestank glich dem eines längst aufgegebenen Schlachthauses.

Alfrik riß sich von Sir Robert los, wobei er eine Handvoll rote Haare einbüßte, und sprang augenblicklich zur Tür hinaus – nur um schamrot zurückzukommen, als aus dem Gang weitere Geräusche kamen. Der erstickte, fast blökende Schlachtruf weiterer untoter Soldaten.

Ich begann, am Vorhang hochzuklettern, suchte auf dem Balkon nach Halt und fand auch einen festen Punkt, nachdem ich eine endlose Minute mit dem Fuß in der Luft herumgetastet hatte. Aber aus dieser Höhe konnte ich keine Unterstützung leisten, während die Zahl unserer Gegner wuchs.

Bayard und Sir Robert standen Rücken an Rücken, so daß die beiden den gesamten Saal und den Gang nach draußen überblicken konnten. Alfrik versuchte vergeblich, sich noch dazwischen zu quetschen. Sir Robert stieß ihn warnend mit dem Ellbogen weg: »Halte selbst die Stellung, Bursche! Jetzt brauchen wir selbst das armseligste Schwert!«

Alfrik jaulte und zog sein Schwert. Unaufhaltsam schloß sich der Kreis der nerakanischen Soldaten um meine Gefährten.

Inzwischen war der Skorpion von seinem Thron aufgestanden und zu Enids Stuhl gegangen, wo er ihr in aller Ruhe die Handgelenke losband. Obwohl sie die Wesen, die der Skorpion aus dem Boden gerufen hatte, offensichtlich beunruhigten, hatte sie nicht vor, in Ohnmacht zu fallen oder zu schreien. Statt dessen versetzte sie ihrem Entführer einen solchen Stoß gegen die Brust, daß er rückwärts taumelte und das Mädchen nur durch schlangenschnellen Zugriff am Entkommen hindern konnte.

»Komm mit«, sagte der Skorpion, während er die widerstrebende Enid auf das Podest zurückzog, wo der Dolch wartend auf der Armlehne lag. Ein wisperndes Meer von schwarzen Skorpionen versammelte sich um sie herum und teilte sich, um einen Weg vom einen zum anderen Platz freizugeben.

»Auf das Podest, Liebchen«, krächzte er.

In diesem Moment – zu spät, wie ich befürchtete, aber dennoch rasch – begann Bayard Blitzklinge, sich einen Weg durch die Männer aus Neraka zu bahnen. Eile schadet oft der Treffsicherheit eines Schwertkämpfers, doch die Wut spornte Bayard so an, daß er blindlings drauflos schlug. Im nächsten Augenblick waren fünf Nerakaner seinem Schwert zum Opfer gefallen, und Sir Robert blieb nichts anderes übrig, als dem jüngeren Ritter zu folgen. Alfrik wiederum folgte mit bleicher Miene Sir Robert, wobei sein Schwert in der ausgestreckten Hand zitterte.

Die Schreie, das Stöhnen, das Bellen, alles legte sich. Der Saal war still bis auf das Schlurfen längst toter Füße, das Wimmeln der Skorpione und den Klang von Bayards Schwert, das immer wieder sein Ziel fand.

Es war, als hätten sich die Nerakaner zur Hinrichtung aufgestellt. Aber auf halbem Wege durch die untoten Soldaten wurde Bayard langsamer, weil sich Körper über Körper türmte und die Nerakaner vor ihm in Bewegung kamen. Sie wichen zurück, stießen sich gegenseitig um und wurden von denen nach vorne geschoben, die sich hinter ihnen in den Kampf stürzten. Sie schraken vor ihm zurück, als würde dieser entsetzliche, strahlende Held vor ihnen sie immer noch einschüchtern, obwohl sie doch schon durch den Tod gegangen waren.

Hinter der Wand aus dem lebenden, fauligen Fleisch seiner Legion erhob der Skorpion sein Messer.

»Wartet!« rief ich, und meine Stimme klang beschämend piepsig und schrill in dem großen Saal. Bayards Schwert hielt inne, und Sir Robert stand wie angewurzelt hinter ihm, wobei seine Hand sich in schweigender Pein nach dem Skorpion ausstreckte. Die Soldaten von Neraka senkten die Waffen und starrten stumm und leblos ihren Führer an, der auf der Plattform stand.

Einen Augenblick hielt der Skorpion inne. Das rote Licht in seinen Augen flackerte, als er zu mir hochschaute.

Wieder einmal versuchte ich, durch Worte Zeit zu schinden, und hoffte inständig, daß Bayard sich etwas gewaltig Heldenhaftes ausdenken würde, ehe mir der Atem und die Argumente ausgingen.

»Ihr glaubt, Ihr hättet die Prophezeiung enträtselt, ohne daß eine Zeile unklar und ungelöst bleibt?«

Ich sah zu Bayard, der mich ansah und das Schwert über dem Kopf erhoben hatte.

Beweg dich, Bayard. Schnell, wie eine zuschnappende Schlange. Laß ihn sehen, was ein bißchen solamnische Kühnheit in diesem Nest von Skorpionen ausrichten kann!

Das dachte und hoffte ich, doch Bayard rührte sich nicht. Und der Dolch des Skorpions hing weiter über Enid.

»Und wenn Ihr Euch irrt, Benedikt? Schließlich habt Ihr bewiesen, daß Bayard die Prophezeiung völlig falsch verstanden hat. So wie anscheinend auch Sir Robert. Aber wenn Ihr Euch nun auch irrt? Was ist, wenn dieses kleine Versstückchen von Euch allen mißverstanden wurde – Bayard, Robert und Benedikt –, und wenn es noch eine Lösung für die Reime und die Vorhersagen gibt?

Letztlich tötet Ihr die Braut, ja, aber damit endet nicht das Geschlecht. Sir Robert kann noch mehr Kinder zeugen, mehr di Caelas, die Euch jedes Mal niederringen werden, wenn Ihr wiederkehrt, um Euer Erbe einzufordern.«

»Deshalb habe ich sie ja hierher gebracht, du Dummkopf!« posaunte der Skorpion heraus. »Jetzt sind alle di Caelas unter meinem Dach, und mit ihnen geht das Geschlecht unter!«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht«, erwiderte ich triumphierend. Mir war gerade eine neue Idee gekommen, und so, wie ich das sah, konnte sie genauso wahr sein wie jede andere Geschichte, jedes Gedicht und jede Prophezeiung, die ich bisher gehört hatte. Denn während meine Gedanken sich überschlugen, waren sie im Lampenschein eines Fensters hängengeblieben, an einem blassen, winkenden Arm.

»Habt Ihr noch nichts von Danielle di Caela gehört, Sir?«

Die Hand mit dem Dolch bebte. Bayard wollte auf die Plattform stürmen, doch der Skorpion fuhr herum, zog Enid an sich und hielt ihr den Dolch an die Kehle. Wieder begannen die Kreaturen zu seinen Füßen herumzukrabbeln und zu zirpen.

»Zurück, Solamnier! Ob Prophezeiung oder nicht, wenn du einen Schritt näher kommst, schicke ich dieses Mädchen zu Hiddukel!«

»Dann fällt trotzdem alles ›an eine Maid‹, Benedikt«, beharrte ich schnell. »Denn wenn Ihr Enid tötet, wer anders als Danielle di Caela wird dann Sir Roberts Erbe antreten?«

»Nein«, sagte der Skorpion ruhig. Er drückte Enid so fest an sich, daß sie aufschrie und ihn damit erschreckte. Einen Augenblick lang ließ er los, so daß sie sich von seinem Arm losreißen konnte.

Enid di Caela aber war die Tochter ihres Vaters – keine hilflose, bedrängte Maid. Sie verpaßte dem Skorpion einen solchen Tritt vors Schienbein, daß er taumelnd zur Mitte der Plattform zurückwich, wo er sich an der Thronlehne festhielt, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Das kurze Taumeln war alles, was sie brauchte. Enid schlüpfte durch die unorganisierten Nerakaner in die Arme ihres Vaters, während Bayard schnell zwischen sie und die grausige Armee des Skorpions trat.

»Tötet sie!« kreischte der Skorpion und zeigte mit seinem knochigen Finger auf die fliehende Enid, doch es war zu spät. Das Mädchen war in den Schutz von Bayard Blitzklinge zurückgekehrt, der vier Nerakaner so schnell erledigte, daß die Klinge nicht einmal mehr surrte, sondern unsichtbar wurde. Nur der Haufen Körper zwischen Bayard und dem Skorpion erlaubte es dem Schurken, umgeben von seinen knackenden, schwarzen Dienern zur jenseitigen Tür des großen Saals zu rennen.

Ich kletterte jauchzend am Vorhang hinunter, allerdings immer noch langsam, um das Gewebe auf Festigkeit und Ungeziefer zu prüfen.

Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde der Skorpion entkommen. Bayard stieß einen weiteren Nerakaner zu Boden, duckte sich vor dem Hieb eines anderen und köpfte einen dritten mit einer raschen, blitzenden Bewegung seines Schwertarms. Nachdem Sir Robert einen langsamen Schlag von einem nerakanischen Krummschwert pariert hatte, schlug er die Hand ab, die es gehalten hatte. Der untote Soldat fiel auf die Knie, und Alfrik, der sich bei dem neuerlichen Ausbruch des Kampfes hinter Enid versteckt hatte, sprang hinter den halberledigten Nerakaner und stach ihm in den Rücken.

Aber noch schneller, als sich die Ritter durch seine untoten Wächter arbeiten konnten, lief der Skorpion zur Tür und in die Freiheit. Er hatte den Mantel um sich gewickelt und bewegte sich mit der stillen Grazie eines gewaltigen Nachtvogels. Die Tür war jetzt nur noch drei Meter entfernt.

Dann standen in dieser Tür Ramiro und Brithelm, als hätte er sie durch ein Wedeln mit dem geheimnisvollen Kristall gerufen.

Beide waren abgekämpft und ziemlich erschöpft von ihrem Kampf im Paß, doch keiner von ihnen würde diesem Schuft den Weg freimachen, den sie so weit verfolgt hatten. Mit gezogenem Schwert trat Ramiro durch die Tür und griff den alten Benedikt von der einen Seite an, während Bayard sich einen Weg zur anderen Seite bahnte.

Der Skorpion erhob sein Pendel. Hunderte kleine Untiere, die den scharfen Stachel zum tödlichen Stich erhoben hatten, eilten auf Sir Ramiro zu.

Ein rotes Licht blitzte aus Brithelms Händen auf, und der Saalboden flackerte in unnatürlichem Feuer, das die Tiere umfing und in Brand setzte. Auf dem Boden zwischen meinem Bruder und ihrem finster verhüllten Meister verrenkten sich die Skorpione und knackten.

Dann begannen sie, sich gegenseitig zu stechen.

Langsam erlosch das Feuer auf den verbrannten, spinnenartigen Überresten der Skorpione. Und ich hörte meinen Bruder in stiller Trauer sagen:

»Es tut mir leid. Selbst um euch tut es mir leid.«

Der Skorpion wich zurück. Doch er war immer noch unverzagt. Vorsichtig zog er sich in eine Ecke zurück, wobei seine roten Augen den Saal in sich aufnahmen. Wieder erhob er die Hände, und wieder begann der Boden zu beben.

»Oh, aber es ist noch nicht vorbei, ihr Dummköpfe und Solamnier und noch größere Esel«, krächzte er. »Wir alle sind unter diesem Dach aus Stein und Wolken und Fabel versammelt, um diese Prophezeiung und all die Fragen zu beenden. Keine Danielle di Caela! Das Schicksal des Geschlechts wird hier entschieden! Denn denkt daran, die Prophezeiung sagt, es kehren ›Generationen vom Gras zurück, auf daß der Fluch nun endlich weicht‹. Ihr habt erst die erste Generation kennengelernt. Jetzt nehmt es mit der zweiten auf!«

Langsam krochen mehr Bewaffnete aus den Wirbeln im Boden, die aufgebrochene Erde, Moos und gelbe, zerrissene Kleider hinter sich zurückließen. Der erste Arm, der durch den Boden brach, führte den Schild des Hauses Sturmfeste.

Ich blieb, wo ich war, auf halber Höhe am Vorhang baumelnd.

»Ja, Bayard Blitzklinge!« schrie Benedikt mit schriller Stimme, als die lang verstorbenen Ritter von Solamnia auf die Beine kamen und aus den Erd- und Wolkenwirbeln unter sich ihre Waffen zogen. »Die Männer von Neraka vereinen sich mit denen aus Eurem alten Orden! Der Tod macht alle gleich, was zählen Parteien und Rassen und Länder gegen den langen, verzehrenden Haß auf alles Lebende?«

Die toten Solamnier richteten sich auf. Es waren über hundert Mann. Umständlich und ungeschickt erhoben sie ihre Schwerter zum altehrwürdigen Gruß des Ordens. In ihren grauen, verfaulten Händen war die Geste kaum zu erkennen – fast wie Spott.

Bayard senkte entsetzt sein Schwert. Alle anderen, auch Sir Ramiro und Sir Robert schraken vor den erdverkrusteten Rittern, den Verbänden und dem Gestank zurück.


Vielleicht macht der Tod ja alle gleich, aber was hatte Brithelm noch gesagt? Manche Dinge sind stärker als der Tod? Mit fast einstimmigem Schrei, einem trockenen, brüchigen Ruf, der trotz dieser zerbrechlichen Trockenheit alles im Saal des Skorpions erschütterte, erhoben die Toten von Solamnia ihre Schwerter und griffen an.

Und zwar die wartenden Männer von Neraka.

Nach den Jahrzehnten des Todes und des Vergessens waren sie erwacht, um sich gegen einen nerakanischen Angriff zu verteidigen. Manche Dinge waren tatsächlich stärker als der Tod, darunter der uralte Eid Est Sularis oth Mithas – die Ehre ist mein Leben – in den atemlosen, trockenen Stimmen der Ritter.

Es war, als hätte auch die Zeit eine Generation lang den Atem angehalten, um jetzt plötzlich und schrecklich weiter zu atmen.

»Nein!« brüllte der Skorpion, als trotz seiner besten Pläne und Befehle die alten Feinde erneut die Waffen kreuzten. »Ihr sollt – «

Aber es blieb keine Zeit zum Sprechen, denn durch das Kampfgetümmel, das im Saal ausgebrochen war, drang Bayard Blitzklinge auf ihn ein. Aus seiner schwarzen Robe zog der Skorpion ein Schwert, dessen Klinge aus dunkelblauem Stahl war. Im gelblichen Licht des Saals glänzte es schwarz wie Onyx, und er hatte es kaum erhoben, als auch schon Bayards große Klinge darauf niederfuhr und Benedikt in die Knie zwang.

Einen Augenblick kreuzten sie die Klingen. Bayard legte all seine Kraft und all sein Gewicht in das Schwert, doch der Skorpion schob ihn mit der erstaunlichen Kraft von einem Dutzend Männern zurück. Dabei schwang das Pendel an seiner Linken wild hin und her, als er auch sie an den Schwertgriff legte, um Bayards unerbittlichen Druck zu brechen. In einem Gleichgewicht der Gewalt verharrten sie in der hintersten Ecke des Saals, und einen Augenblick drängte die helle Klinge die dunkle zurück und der silberne Glanz von Bayards hundert Jahre altem Schwert kam dem Gesicht seines Feindes immer näher.

Mit einem Schrei und einer plötzlichen, kräftigen Bewegung stieß der Skorpion Bayard zurück. Der taumelte rücklings gegen den Thron des Skorpions, und der schwarzgekleidete Schuft folgte ihm, wobei seine Augen blauweiß glommen, das Pendel hell in seiner gesenkten linken Hand blitzte, und er die Waffe mit der schwarzen Klinge triumphierend in der Rechten schwang. Aus den dunklen Ecken des Raumes um ihn herum kam das kratzende Geräusch von weiteren seiner kleinen Monster, die zu ihm hin krabbelten.

Ich fühlte mich wie eine Marionette an der Schnur, als ich den Vorhang wieder etwas hochkletterte und Bayard zuschrie: »Das Pendel!«

Er zeigte nicht, ob er mich gehört hatte, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, in seiner furchtbar schweren Rüstung auf die Beine zu kommen. Aber anscheinend hatte er mich doch vernommen.

Beim Parieren des abwärts gerichteten Schlags des Skorpions zog Bayard seine eigene Klinge hoch, ließ sie durch die Luft zischen und durchtrennte damit sauber das linke Handgelenk des Skorpions.

Die Hand flog über den Boden, zuckte wie ein Skorpion oder eine Spinne. In den Fingern hing noch die Kette des Pendels. Der Skorpion schrie auf und hielt sich den Stumpf seines linken Armes. Dann fiel er rückwärts in seine Hundertschaften giftiger Tierchen, die er aus der Finsternis herbeigerufen hatte.

Da das Pendel fort war, stürzten sie sich blindlings hungrig auf ihn. Benedikt schrie, zuckte und tauchte in der klickenden, rasselnden Versammlung von Skorpionen unter, während sich Aberhunderte von Giftstacheln in ihn senkten.

Dann blitzte Licht durch die Saalwände, als die grauen Wolkenwirbel dem Sonnenlicht wichen und sich in Luft und einen kahlen Bergpaß auflösten, der gleich darauf zu bröckeln begann.

Der Schlupfwinkel des Skorpions war eine Ruine. Das bißchen, das noch von den Steinen des Schlosses geblieben war – Überreste weniger alter Grundmauern, eine Treppe ins Nichts – wankte und begann einzustürzen.

Eine alte Mauer brach über Enid und Sir Robert zusammen und hätte die beiden ganz sicher zermalmt, wenn Sir Robert nicht seinen großen, solamnischen Schild erhoben hätte. Stein und Mörtel polterten auf das uralte Metall…

Und das Metall hielt stand.

Überall um uns herum stand der Boden auf, bebte und zitterte, als wären wir mitten in einem Erdbeben, das so gewaltsam war, daß man an eine zweite Umwälzung glauben konnte, die die ruinierte Oberfläche von Krynn erneut veränderte. Bayard trat auf die Plattform, wo der einst knochenbleiche, hohe und bedrohliche Thron des Skorpions in Stücke zersprungen war.

Er pfiff, und Valorus kam – seinem Namen getreu – gefolgt von den anderen Pferden aus den Felsen galoppiert. Der große Hengst war ruhig und gehorsam, doch die anderen waren der Panik nahe, schnaubten, schäumten und verdrehten die Augen. Als das Erdbeben begonnen hatte und die ersten Steine herunterprasselten, waren sie instinktiv dem Leithengst gefolgt – der glücklicherweise erstaunlich gelassen geblieben war. Nur ein Pferd und die Maultiere, die bis zuletzt störrisch waren, fielen dem Erdbeben zum Opfer.

In die aufgebrochene Erde marschierten oder kippten die toten Menschen. Sie kehrten in die Stille zurück, den Frieden, den jeder von ihnen, ob Nerakaner oder Solamnier, vor einer Generation so überaus kostspielig für sich errungen hatte. Der Erdboden schloß sich über ihnen und brodelte weiter, während meine Gefährten taten, was sie konnten, um ihre Tiere zu beruhigen, aufzusitzen und loszureiten.»Bayard!« schrie ich, als er Enid auf Valorus schwang. Mit seiner Dame hinter sich kümmerte er sich um die Sicherheit der anderen. Auf Valorus war also kein Platz mehr. Meine Brüder saßen zu zweit auf Brithelms Pferd, denn Alfriks Maultier war irgendwohin verschwunden. Bayard versetzte dem Pferd einen Schlag aufs Hinterteil und schickte so die beiden älteren Pfadwächter in gestrecktem Galopp über den bebenden Felsboden nach Westen in Sicherheit, dicht gefolgt von Sir Ramiro, der für mein kleines Packpferd schon schwer genug war. Die Stute hatte schwer an ihm zu schleppen.

»Spring, Junge!« rief Sir Robert zu mir hoch und stellte sich auf der tänzelnden Estrella in den Steigbügeln auf, als der Balkon, von dem ich wie der Kristall des Pendels herunterbaumelte, allmählich wankte und gefährlich knackte und zitterte.

»Nicht so nah, Sir Robert!« schrie Bayard. »Es bricht jede Sekunde zusammen! Schwing dich am Vorhang weg, Galen! Schwing dich zu Sir Robert rüber!« Der zähe, alte Ritter öffnete die Arme und nickte drängend. Ich begann, am Vorhang hin und her zu schwingen und kam höher und höher, während der Balkon über mir immer mehr aufribbelte.

Vor und zurück, vor und zurück schaukelte ich, bis ich schließlich losließ, weil hinter mir etwas einstürzte. Wie ein fliegendes Wiesel schoß ich durch die Luft genau auf Sir Robert di Caela zu, der mich auf jeden Fall auffangen und aus dem ganzen Chaos sicher in die Ebene bringen würde.

Ich hatte nicht mit Estrella gerechnet, die sich vor einem neuerlichen Beben unter ihren Hufen erschreckte und im unglücklichsten Moment nervös einen Satz nach vorn machte. Sir Robert langte verzweifelt nach hinten, doch seine Stute war zu weit gesprungen.

Der felsige Boden kam mir entgegen. Und die Finsternis.

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