Haus di Caela

Drei zu acht, Licht über Flut,

Zeichen des Zentauren in verlorener Zeit.

Generationen von Licht, die die Flut überspült,

Das alte Wasser singt vor Ehrfurcht.

Und hier an ewigen Flußufern

Bewegt sich das Licht, verliert sich, bewegt sich.

Die Calantina, III:VIII

9

»Ganz gleich, was du sagst, Brüderchen – das ist der Ort, den ich gesucht und erwartet habe. Ein Ort, wie ich ihn mir beständig und hoffentlich demütig erträumt habe. Ich habe die Götter um solch einen Ort angefleht, an dem ich zum Einsiedler werden kann: allein mit Gedanken und Meditationen und mit den sanften Geschöpfen des Sumpfes.«

So hörte ich Brithelm unaufhörlich reden, der in dem Kampf im Sumpf Sinn und Zweck entdeckt hatte. Am späten Vormittag saßen wir immer noch auf dieser Lichtung und erwogen verschiedene von zahlreichen Unwägbarkeiten.

Auch Bayard war Brithelms Loblied auf die »sanften Geschöpfe des Sumpfes« leid, besonders nachdem einige dieser sanften Geschöpfe – genau gesagt, die Satyre – uns aufgelauert hatten.

»Meine Träume führen mich an andere Orte, Brithelm«, sagte er. »Und ich für meinen Teil würde aufstehen und zum Kastell di Caela reisen, damit ich um die Hand der Lady Enid anhalten kann, würde unser zentaurischer Aufpasser hier nicht etwas anderes verlangen.« Bayard deutete mit dem Kopf auf Agion.

So ging das nun schon stundenlang, ein schwelender Streit zwischen Sir Bayard und Agion, ob die Forderungen nun erfüllt waren oder nicht. Bayard fand, daß der Sumpf jetzt von den Satyren und dem Bösen, das sie zunächst auf die Zentauren gehetzt hatten, befreit war. Er fand, daß wir hier nichts mehr verloren hatten, da es keinen Feind mehr gab. Und da wir unsere Namen in dieser Angelegenheit zweifellos reingewaschen hatten, sollten uns die Zentauren doch erlauben, unserer Wege zu ziehen.

Agion hingegen hätte sich erheblich besser gefühlt, wenn er seinen Zentaurenfreunden die aufgespießten Köpfe einiger Satyre hätte bringen können. Ihm zufolge war eine grausige Trophäe besser als Frieden oder als jede beliebige Anzahl glaubhafter Versprechen. Und von auf geheimnisvolle Weise verschwundenen Satyren würde es weder Trophäen noch Friedensangebote geben.

Ich konnte Agions Standpunkt nachvollziehen und hatte den großen, dummen Kerl inzwischen ziemlich gern. Aber solange er auf einem Beweis bestand, saßen wir im Sumpf fest – er konnte keine Satyrköpfe bekommen, weil es schlicht und einfach keine Satyre mehr gab (falls es je welche gegeben hatte).

Bayard wiederum dachte nur noch an das Turnier in Kastell di Caela. Er konnte sich immer noch vorstellen, rechtzeitig für die Teilnahme am Kampf um Enid di Caelas Hand einzutreffen, für deren verstohlenes Lächeln oder heimlich anerkennenden Blick unser Held freudig alle Junggesellen von Ansalon erledigen würde. Bis dahin waren es seiner Aussage nach immer noch zehn Tage, und wenn wir sofort aufbrechen würden, konnten wir rechtzeitig in Kastell di Caela sein, ohne dabei Valorus oder uns allzusehr zu überanstrengen. Aus diesem Grunde mußten wir sofort los.

Der unverzügliche Aufbruch war auch ganz in meinem Sinne. Die Gegend gefiel mir überhaupt nicht, und ich hatte keineswegs meinen anderen, älteren Bruder vergessen, der zweifellos irgendwo hier in der Rüstung meines Vaters herumlag, und der mich – tot oder lebendig – in eine peinliche Lage bringen konnte, wenn er auftauchen würde.

»Agion«, argumentierte Bayard, »wir haben einander beigestanden, haben Seite an Seite gekämpft. Wenn wir die Ereignisse von gestern abend noch einmal durchgehen, finden wir bestimmt jeder eine Situation, wo einer von uns sagen kann, daß er dem anderen das Leben gerettet hat. Bei einer solchen Nähe, so viel Vertrauen, das zwischen uns gewachsen ist, kannst du mich da noch von der Weiterreise abhalten?«

»Ja.«

Ich mußte eingreifen. So kamen wir einfach nicht weiter.

»Schau mal, Agion«, fing ich an, wobei ich mich an die Wand der Hütte anlehnte, dann merkte, was ich tat, und erschreckt einen Schritt machte, weil ich dem verrotteten Holz und der Statik mißtraute. »Schau mal, Agion, was hält dich denn davon ab, uns einfach gehen zu lassen, nachdem wir doch durch unsere Handlungsweise unsere Unschuld bewiesen haben? Oder glaubst du immer noch, daß wir es waren, die die Satyre aufgehetzt haben?«

»Oh, Ihr seid wirklich die edelsten aller Seelen, Meister Bayard und Meister Galen!« rief Agion aus. »Das kann ich nicht bestreiten und würde das auch nie tun. Aber gleichzeitig sind auch Archala und die Ältesten – nun, es sind Archala und die Ältesten. Und ihnen bin ich Treue schuldig. Ich muß mein Versprechen halten.«

»Was hast du denn genau versprochen, Agion?«

Bei meiner Frage runzelte der große Zentaur die Stirn und kratzte sich mit einer Geste den Kopf, die mich unangenehm an Alfrik erinnerte.

»Wenn ich mich recht entsinne, Meister Galen, waren es genau diese Worte: Ich sollte keinen – weder den Ritter noch den Knappen – aus den Augen lassen, bis ich sie wieder in die Obhut der Ältesten zurückbringe.«

Perfekt.

»Du hast also nur versprochen, uns nicht aus den Augen zu lassen, bis du uns zurückbringst?« rief ich dem Zentauren zu, der von der Plattform zu einem nahen Vallenholzbaum geschlendert war, von dem er Blätter abrupfte.

»Ja, Meister Galen«, rief er zurück, während er eine Handvoll Vallenholzblätter in den Mund stopfte.

»Dann komm doch mit.«

Agion schluckte. »Mitkommen?«

»Mitkommen?« Bayard blieb wie angewurzelt auf der Plattform stehen.

»Warum nicht? Du weißt doch, daß man wortwörtlich gehorchen kann, Agion, nicht wahr?«

»Ja«, sagte er zögernd.

»Na also«, fuhr ich fort. »Wenn du mitkommst, Agion, hast du dein Versprechen nicht gebrochen. Es kann eine Zeit kommen – nein, es wird auf jeden Fall eine Zeit kommen –, wo unsere Unschuld selbst dem mißtrauischsten Richter klar wird. Aber bis dahin haben wir zu tun. Wozu ein Turnier in elf Tagen gehört, bei dem«, ich nickte Bayard bedeutsam zu, »unsere Anwesenheit erwartet wird.«

Jetzt wußte Agion nicht mehr weiter. Er verschränkte die Arme und scharrte mit dem rechten Vorderhuf in dem nassen Boden. Er steckte in einem Dilemma, das ich mir bestens ausmalen konnte, und wegen seiner Blödheit und seiner guten Absichten flog ihm mein Herz zu.

Agion kaufte mir meine Argumentation ab. Er nickte heftig, und sein Gesicht brach in ein dummes Grinsen aus. Plötzlich keilte er aus und erschreckte damit diverse Ziegen.

»Verstanden, Meister Galen! Wenn ich nicht mit Ihm zu meinen Ältesten zurückkehre, habe ich mein Versprechen nicht gebrochen! Also ist die beste Entscheidung mitzukommen!«Kastell di Caela war immer noch ziemlich weit entfernt. Wir mußten nach Südsüdosten und das Vingaard-Gebirge auf einem Pfad durchqueren, den Bayard kannte, dann über den Südwestausläufer der Solamnischen Ebene ziehen, den südlichsten Zufluß des Vingaard überqueren und auf halbem Wege zwischen der Furt und Solanthus anhalten. Per Luftlinie war es eine einwöchige Reise.

Leider waren wir keine Krähen, und wir würden uns sputen müssen, um die Zeit aufzuholen, die wir durch die Zentauren, Satyre und Skorpione verloren hatten. Zehn Tage, befand Bayard, und auch das nur bei gutem Wetter.

Nur mit einem Umhang und einer schmutzigen Reisetunika bekleidet, führte uns Bayard auf dem Rücken von Valorus aus dem Sumpf. Als wir schließlich offeneres, trockeneres Gelände erreichten, kamen wir zu etwas, was ich für einen kleinen Berg hielt, was sich aber als hügelige Hochebene erwies, die sich weit nach Osten erstreckte, und wo das einzig Herausstechende ein paar Wäldchen und unsere Straße waren. Auf dieser ritten wir in unseren vom gestrigen Regen verschlammten Kleidern dahin.

Es war eine hübsche, aber eintönige Landschaft.

Beim Rückblick auf das Sumpfland, das wir gerade verlassen hatten, zog ich sie doch dem verstrickten und verstrickenden Geheimnis hinter uns vor. Ich hatte noch nie so viel Land überblickt, denn ich war noch nie so weit von zu Hause fort gewesen. Beim Zurücksehen fiel mir auf, daß der Sumpf sich veränderte, jedoch nicht durch das rasche Wachstum, das uns bei unserem Aufenthalt darin eine Quelle der Verwunderung und des Ärgers gewesen war. Jetzt wurde der Sumpf von außen her braun und welk. Ich wußte, daß das etwas mit dem Verschwinden des Skorpions zu tun hatte, aber es kam mir auch so vor, als ob unser Abschied dem Land den Herbst gebracht hatte.

Auch war der Sumpf ja nicht alles, was wir zurückließen. Ich dachte an Brithelm, der uns zum Abschied von der Plattform aus zugewinkt hatte, als wir die kahle Lichtung in der Mitte des Sumpfes verlassen hatten. Er hatte bei den Ziegen und Moskitos in seiner Eremitage bleiben wollen, um zur Ruhe zu kommen und über die Erhabenheit der Götter nachzusinnen.

Ich wünschte Brithelm nichts Böses, obwohl ich mächtig froh war, ihn los zu sein. Er war einfältig und schwer zu ertragen, aber wahrscheinlich eindeutig der Beste aus dem armseligen Wurf der Pfadwächter, mich selbst eingeschlossen. Das Problem war, daß die Welt mit einem eindeutig Besten nichts anzufangen wußte. Dort im Sumpf, wohin das Schicksal sie verschlagen hatte, waren meine beiden Brüder am besten aufgehoben.

Dennoch erinnerte ich mich wehmütig an den Abschied, als mein seherischer, mittlerer Bruder von Ziegen umringt gefährlich nah am Rand der rutschigen Plattform stand und uns dreien hinterhersah.

»Sieh den Dingen nicht direkt ins Auge, Bruder, denn die Einsicht lebt im Augenwinkel«, schrie er uns einen letzten Rat für die Reise zu.

»Was soll das heißen, heiliger Mann?« rief Agion zurück, doch Brithelm hatte uns schon den Rücken zugekehrt und war in der baufälligen Hütte verschwunden.

Bei meinem letzten Blick auf Brithelm, bevor er durch die wacklige Tür verschwand, hatte er etwas Silbernes aus der Tasche gezogen und an die Lippen gesetzt.

Humas Hundepfeife.

Von überallher kamen Ziegen zur Hütte geströmt.

Ich saß auf Agions Rücken, und etwas bedrückt wandte ich mich nach vorn – nach Osten, zur Zukunft meiner Reise.

»So ist es besser, Galen«, sagte Bayard, und ich hatte keine Ahnung, was für ein Tadel mich jetzt erwartete. »Schau lieber nach vorn, als zurück, denn hinter dir liegen Treibsand und Morast, die leicht deine besten Absichten verschlingen können.«

Was war das denn? Wußte er über Alfrik Bescheid? Ich schwieg und betete heimlich, daß die Ehre, die er so schätzte, ihn davon abhalten würde, zu vermuten – oder gar zu glauben –, daß ich meinen Mistkerl von Bruder hatte ersaufen lassen.

Aber, nein, das war nur ein bißchen Philosophie zum Auftakt einer langen, verworrenen Geschichte mit Thronräubern und viel Gewalt, die mir zeigen sollte, wie unmenschlich Menschen sein können. Zeitweise würde sie sogar ein bißchen interessant werden, aber mitunter sollte ich mir wünschen, Agions Talent, völlig abzuschalten, zu besitzen. Doch diese Geschichte muß erst noch erzählt werden.»Das dritte Kapitel im Buch von Vinas Solamnus, dem langen Text, der nur in der Bibliothek von Palanthas vollständig erhalten ist, befaßt sich mit dem Schicksal der Familie di Caela – von dem Zeitpunkt ab, wo sie auf geheimnisvolle Weise durch Paladins Tore aus dem Norden kamen. Von dem Zeitpunkt ab, als der Begründer der Linie, der alte Gerald di Caela, sich Vinas Solamnus anschloß und sein Name in die älteste und ehrwürdigste Ritterschar aufgenommen wurde.«

Genau wie die Blitzklinges, die auch schon früh dazugehört hatten und stolz darauf waren.

Wohingegen die Pfadwächter, wie ich wußte, Nachzügler waren. Bayard war viel zu höflich, um das zu erwähnen, jedoch hatte man uns schon frühzeitig eingetrichtert, wie es unser Leben beeinflussen würde, daß wir nicht zu dem Dutzend oder so der ältesten Sippen gehörten.

»Und so gedieh die Familie geehrt und berühmt über tausend Jahre lang, bis vor ungefähr vierhundert Jahren der Titel – der Name di Caela, sozusagen der Pater familias – an einen Gabriel di Caela fiel. Der alte Gabriel hatte anscheinend drei Söhne. Der älteste hieß Dunkan, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, und der jüngste war auch ein Gabriel. Aber es ist Benedikt di Caela, der mittlere Sohn, der im Zentrum dieser düsteren, bedrückenden Geschichte steht – von Geburt an durchs Schicksal enterbt.«

Agion beugte sich beim Gehen vor, rieb sich die knorrigen Hände und lächelte. »In den alten Sagen«, erklärte er, »erhält der mittlere Sohn meist eine besondere Gabe. Am Anfang sieht es so aus, als ob er wenig bekommt, doch am Ende hat er das beste Erbe von allen.«

»Aber was wir jetzt hören, ist wahre Geschichte, Agion«, unterbrach ich ihn, »wo der mittlere Sohn wahrscheinlich der ist, der einfach übergangen und ausgelassen wird, wenn diesem Dunkan aus Sir Bayards Geschichte nicht ein vorzeitiges Unglück widerfährt. Außerdem ist es gewöhnlich der Jüngste, der im Märchen am meisten beschenkt wird, weil er im richtigen Leben am wenigsten bedacht wird.«

Bayard setzte sich im Sattel zurück und schlug gegen den kalten Nachmittagswind die Kapuze über. »Ihr liegt beide falsch«, stellte er kurz angebunden fest. »Vielleicht solltet ihr besser zuhören, anstatt eure haarsträubenden Theorien über Gerechtigkeit weiter auszuspinnen. Die Geschichte dieses Benedikt also«, nahm er den Faden wieder auf, wobei er die Zügel in die andere Hand nahm, »begann mit Neid, und soweit ich weiß, endet sie auch damit. Er wollte seine Brüder unbedingt aus dem Weg räumen, dort im Schloß des alten Gabriel – dem Kastell di Caela, wie es genannt wurde.

Dort schmiedete der junge Benedikt seine Pläne, ›die Gedanken giftdurchtränkt‹, wie das alte Buch von Vinas Solamnus sagt. Aber zur damaligen Zeit hatten die Kleriker von Mishakal Möglichkeiten, die Ausbreitung von Gift zu verhindern und seine Wirkung sogar umzukehren. Selbst wenn sie zu spät kamen und das Giftopfer tot vor ihnen lag, so daß sie es weder heilen noch wiederbeleben konnten, konnten sie immer noch das Gift aus dem Blut isolieren, seine Bestandteile bestimmen und feststellen, wann es verabreicht wurde, und wer es gemischt hatte.

Wenn das nichts half, konnten sie die Toten reden lassen und so den Mörder finden. Also wurde der junge Benedikt jahrelang nur im Traum zum Giftmischer, denn er war viel zu feige, um einen offenen Mord zu begehen. Statt dessen saß er abseits, brütete vor sich hin und wälzte Rachepläne. – Das größte Gift ist zweifellos der Neid«, verkündete Bayard, wobei er mich betont anstarrte und damit eine Antwort forderte.

»Nun, Sir, ich würde Schierling ein stärkeres Gift nennen, denn neidische Männer leben meines Wissens jahrelang. Aber ich bin kein Apotheker und für Chemie nicht begabt.«

»Und auch nicht für Metaphern«, gab Bayard zurück, um dann seine Geschichte wieder aufzunehmen.

»So hat sich Benedikt dort in diesem Schloß gewissermaßen – metaphorisch gesehen – selbst vergiftet, indem er seinen Gedanken freien Lauf ließ. Und wenn jemand so durch und durch in Wort und Tat vergiftet ist, kann er auch nur vergiftete Entdeckungen machen. Jede seiner Berührungen ist wie Gift.«

»Wie beim Skorpion?« fragte ich und wünschte mir augenblicklich, ich könnte diese Worte zurücknehmen. Denn ich hatte meinem Fluch in diesem Moment einen Namen gegeben und enthüllt, daß ich mehr über den Mann in Schwarz wußte, der die Wasserburg und den Sumpf heimgesucht hatte. Mehr als ein ehrlicher Junge wissen durfte. Ich senkte den Kopf und schloß die Augen.

Aber ich hörte Agion hinzufügen: »Oder wie bei der Viper.« Als ich aufblickte, sah ich Bayard zustimmend nicken.

»Oder wie bei den giftigen Wesen aus Legende und Geschichte, Agion. Ja, man könnte sagen, daß Benedikt gewissermaßen eines dieser Wesen war.

Denn das Gift hatte ihn vollkommen durchsetzt, bis selbst Gegenstände, die er zum Besten aller hätte verwenden können – die ihm vielleicht wirklich ein Erbe hätten einbringen können, das weit über das seiner Brüder hinausging –, in seinen Händen statt dessen zu monströsen, verfluchten Dingen wurden. Wie bei dem Pendel.«

Pendel? Da war doch was…

»Gefunden hat er es«, erzählte Bayard, »im Keller von Kastell di Caela, das er so begehrte, während er in der Dunkelheit nach einem Ort suchte, wo er seine abstrusen und immer verrückteren Illusionen üben konnte. Er drückte das Pendel an sich und vergaß es für eine Zeitlang. Das heißt, bis er es ans Licht schaffte und in seine Räume oben im Schloß brachte. Dort zog er es aus den Falten seiner Robe und sah es zum erstenmal an. Die Kette war aus Gold, und der Anhänger der Kette war ein Kristall.«

Ein Kristall. Bayards Worte trafen mich wie das Licht von hundert Sternen in der Dunkelheit. Ich erinnerte mich an den Sumpf, die Lichtung, die Ziegen, die vielen Feuer…

»Und als das Pendel vor seinen Augen baumelte, dachte Benedikt seine giftigen Gedanken, träumte seine Träume von Unfällen. Als er durch den Kristall sah, wuchs eine Spinne in der Ecke des Zimmers zu unnatürlicher Größe und Gestalt heran…«

Wie die Ziegen, die sich plötzlich widernatürlich in Satyre verwandelt hatten.

»Und wäre gewiß aus ihrem Netz gekrabbelt und hätte ihn vergiftet, wenn er nicht noch einmal hingesehen und erkannt hätte, was das Tier wirklich war – die ganz normale Spinne, die er schon zwei Tage in der Ecke des Zimmers beobachtet hatte.«

Bayard legte eine Pause ein und sah Agion an.

»Diese Geschichte von der Spinne erklärt den Fluch der di Caelas – oder gibt zumindest den uns bekannten Ursprung an.«

Ich war baff.

Nein! Bestimmt hatte diese alte Kamelle aus dem Buch von Vinas Solamnus nichts mit dem zu tun, was ich vor zwei Nächten auf der Lichtung im Sumpf beobachtet hatte. Bestimmt hatten die Bücher nichts…

Bayard nahm seine Geschichte wieder auf.

»Durch diesen zufälligen Blick wußte Benedikt also, daß das Pendel ein Instrument der Macht war. Aber woher stammte es? Darüber sind sich die Historiker uneinig.

Manche sagen, ein Kender hätte es fallen lassen, der es Gott weiß wo gefunden hatte, denn Kender gab es damals wie heute. Manche meinen, das Pendel sei durch Zufall oder durch einen großen, bösen Plan aus dem Eckstein des Schlosses freigekommen, wo es Generationen hindurch verborgen lag, um auf jemanden zu warten, der so neidisch und so verschlagen war, daß er es seiner Bestimmung gemäß verwenden konnte. Aber natürlich gibt es viele derartige Legenden auf Krynn.

Spielt das wirklich eine Rolle? Denn am Ende war es dasselbe, ob Benedikt nun aus dem Bösen heraus handelte, das durch seine eigene Unzufriedenheit, seinen Neid und seine eigenen frühen, dunklen Studien in ihm gewachsen war, oder ob er als Instrument eines größeren Bösen handelte, das in die Geschicke der Welt eingriff.

Kleines oder großes Böses, auf jeden Fall nahmen die Ratten im Keller neue, monströse Formen an, als Benedikt das Pendel aus Gold und Kristall vor seinen Augen schwang. Der Legende nach suchten sie auf Benedikts Befehl hin Dunkans Zimmer auf, und als der alte Gabriel die Schreie seines Ältesten hörte und zu seiner Rettung stürmte, bot sich ihm eine so unaussprechlich grauenvolle Szene dar, daß die Geschichten vor dem genauen Bericht zurückscheuen.

Doch dieselben Historiker bestätigen, daß Dunkans Körper nicht eine Schramme aufwies, sondern daß er so unversehrt und schlicht dalag, daß die Einbalsamierer ihre groteske, unschöne Aufgabe nicht durchführen wollten, weil sie Koma, Lähmung oder Scheintod befürchteten. Aber er war wirklich tot, und die Kleriker von Mishakal konnten weder Wunde noch Gift entdecken.«

Wie bei den Zentauren aus Agions Erzählung.

»Gabriel der Jüngere jedoch witterte sozusagen eine Ratte«, lächelte Sir Bayard und hob die Hand. »Er war in der Nacht, wo Benedikt das Pendel entdeckt hatte, am Fuß der Granatberge auf der Jagd gewesen – in der Nacht, die seither in Solanthus und den umliegenden Teilen von Solamnia als ›Nacht der Ratten‹ bekannt ist.

Obwohl die Kleriker in Dunkans Zimmern nichts fanden, was auf Verrat hinwies, wußte Gabriel der Jüngere, daß es Verrat war, und benachrichtigte seinen Vater, daß die Kleriker von Mishakal Dunkan von jenseits der Finsternis sprechen lassen sollten.

Der alte Gabriel schreckte davor zunächst zurück, wie das wohl jedem Vater so geht. Denn in diesem Tun lag etwas Gewaltsames, es war ein störender, widernatürlicher Eingriff, selbst wenn er von Klerikern in weißen Roben und mit den allerbesten Absichten durchgeführt wurde. Aber sein jüngster Sohn drängte nur um so leidenschaftlicher und sagte: ›Viel widernatürlicher ist es, Vater, daß der Bruder aufsteht und um des Erbes willen den Bruder ermordet.‹ Der alte Gabriel ließ sich überreden und befahl den Klerikern, Dunkan in jener Nacht in der Gruft sprechen zu lassen.

Inzwischen versteckte sich Gabriel der Jüngere in den Bergen.

Sein einziger gebliebener Bruder blieb in Kastell di Caela und erwartete die Zeremonien zum Abend der Tag- und Nachtgleiche, wo sich die Priester versammelten. Ob er des Mordes schuldig war oder einer subtileren Untat, die niemand genau benennen konnte, konnte niemand herausfinden. Und wir werden es auch niemals mit Sicherheit wissen.

Auf jeden Fall brach in der Nacht vor der Beschwörung ein wütendes Feuer in der Gruft aus, das auf Brandstiftung zurückging. Die Roben, die man in Benedikts Zimmern fand, waren am Saum angesengt und rochen verdächtig nach Lampenöl, Phosphor und Asche.

Der Körper war natürlich auch zu Asche verbrannt und konnte nicht mehr zum Sprechen gebracht werden. Jetzt war der alte Gabriel außer sich, weil er ganz sicher war, daß sein mittlerer Sohn ein Verbrechen begangen hatte. Darum sang man in der Nacht der Tag- und Nachtgleiche in der Kapelle von Kastell di Caela vor sechzig Rittern von Solamnia und zwanzig Klerikern der Mishakal die Totenklage für Dunkan di Caela. Und auch die Totenklage für Benedikt di Caela.«

»Das verstehe ich nicht«, unterbrach Agion. »War Benedikt tot?« Der Zentaur kratzte sich verwirrt den Kopf.

»In jener Nacht erklärte Benedikts Vater ihn trotz eindringlicher Proteste seitens Ritterschaft und Klerus für tot und ernannte Gabriel den Jüngeren zum einzigen überlebenden Erben von Kastell di Caela. All das, ohne daß es jemals einen halbwegs stichhaltigen Beweis für die Schuld von Benedikt di Caela gegeben hat.

Der sich zugegebenerweise in den folgenden Tagen nicht gerade so verhielt, als wäre er unschuldig. Benedikt floh aus dem Schloß, um in den Ländereien nördlich von Solanthus eine Armee aufzustellen – eine Armee aus Dieben, Goblins und den Kopfgeldjägern, die dem Königspriester von Istar Goblinköpfe bringen sollten. Es war jedenfalls eine unrühmliche Mannschaft, die sich aufmachte, um Steuern einzutreiben, zu erpressen und in den Südwestprovinzen von Solamnia Benedikts Befehle zu befolgen.«

»Hat jemand Benedikt unterstützt, als er diese Armee aufstellte?« fragte Agion, dessen Gesicht im schwindenden Licht des anbrechenden Abends nicht mehr ganz zu erkennen war. »Ich meine, welche von den Rittern und Priestern?«

»Die meisten Priester – gewiß nicht jeder Priester, aber auf jeden Fall die Mehrheit –, durchschauten Benedikts Illusionen und sahen die Ratten und Spinnen dahinter. Und zudem sahen sie, daß es Benedikt war, der diese Illusionen erschaffen hatte. Aber es gab viele Ritter, die angesichts der Legionen, die er sammeln konnte, auch Macht für sich selbst witterten oder – was noch schlimmer war – eine Gefahr sahen, der sie sich nicht auszusetzen wagten.

Ich schäme mich zuzugeben, daß seine Reihen nicht frei von meinen Mitbrüdern waren. Ritter von Solamnia standen an der Spitze seiner Scharen und widersetzten sich damit ihren heiligsten Eiden.«

Bayard machte eine Pause, stellte sich in den Steigbügeln auf und sah sich um. Dann klatschte er Valorus leicht die Zügel an den Hals, als wir in eine Region hochritten, wo das bisher saftige Gras nur noch spärlich wuchs.

»Also stammt die Familie, mit der Er Sich verbinden will…«, setzte Agion nach kurzem Schweigen an.

»Von Gabriel di Caela dem Jüngeren ab, ganz recht. Er entthronte den Bruder, der ihn entthronen wollte. Er vernichtete den Thronräuber, wenn auch nicht vollständig. Nach Norden und Westen floh Benedikt, zur Trotylhalde und weiter nach Estwilde – genau das Estwilde, aus dem dein lächerliches Würfelspiel stammt, Knappe.«

Ich nickte zustimmend und überging den alten Streit, um das Ende von Bayards Geschichte zu hören.

»Dort holten die beiden Gabriels ihn ein – Gabriel di Caela der Jüngere an der Spitze von dreißig Rittern und zweihundert Fußsoldaten und sein Vater an der Spitze einer fast doppelt so starken Streitmacht. Als sich die beiden vereinten, gab es keine Hoffnung mehr für Benedikt.

Unterlegen und schlecht geführt entwarf Benedikt eine Illusion nach der anderen, von denen einige große Verluste verursachten: dreißig Fußsoldaten starben bei der Überquerung der Trotylschlucht, als die Brücke unter ihnen plötzlich verschwand. Sie war nie dagewesen. Dreißig weitere wurden im Schlaf von Skorpionen erstochen.«

Ich setzte mich auf Agion zurück und atmete tief durch, bis der große Zentaur nach hinten langte und mich festhielt.

»Was ist mit Ihm, junger Meister?« fragte Agion, dessen großes, dummes Gesicht sich besorgt verzog.

»Die Höhe, Agion. Die Höhe bekommt mir nicht. Aber wir haben Bayard unterbrochen. Weiter, Sir.«

Bayard sah mich stirnrunzelnd an und fuhr fort.

»Aber alle diese Illusionen waren nutzlos, als es zum Kampf kam – als Gabriel di Caela der Jüngere durch ein Heer aus abtrünnigen Rittern, Goblins und Goblinjägern, Dieben und Söldnern watete, bis er seinem Bruder gegenüberstand. In diesem Moment wußten beide, daß Hunderte von Jahren zukünftiger Ereignisse davon abhängen würden, was jetzt geschah.

Doch es gab keine Wahl, wie es oft so ist in der Hitze der Schlacht. Gabriel der Jüngere erhob sein Schwert und traf seinen Bruder mit der Schnelligkeit und Zielsicherheit, die er beim Orden gelernt hatte. Die Anwesenden sagten, daß die Welt den Atem anhielt, als Benedikt di Caelas Kopf, der über den Schultern abgetrennt war, einen Moment schwankte, sein Gesicht ganz bleich wurde und die Augenlider sich schlossen. Und wer weiß, was der Kopf dachte, als er von den Schultern auf den Boden fiel, wo er ins Vergessen eintauchte.«

»Aber ich fürchte, das war nicht das Ende von Benedikt di Caela«, sagte ich schließlich, als die Stille zwischen uns unbehaglich, beinahe bedrückend geworden war.

»Es lag irgendwie daran, daß man ihn für tot erklärt hatte«, überlegte Bayard, »darum ging die ganze Sache los. Als Gabriel der Jüngere Benedikt erschlug, sah es aus, als wäre das das Ende, als könnten die di Caelas von da an wieder für alle Zeiten auf ihrem Reichtum und ihrem Land sitzen. Aber als Gabriel der Jüngere alt wurde, ging es los – der Fluch auf die Familie di Caela und ihr Schloß begann zu wirken. Es gab eine Rattenplage mit all den Krankheiten, die Ratten mit sich bringen. Gabriel der Jüngere verlor zwei seiner Söhne, den Ältesten durch Krankheit, den Mittleren durch Wahnsinn.

Diesmal war es der Jüngste, der überlebte und zum Äußersten gezwungen war, um den Fluch aufzuheben. Geschwind ordnete der junge Roland die Evakuierung von Kastell di Caela an, wobei er den alten Gabriel den Jüngeren auf den eigenen Schultern durch die eisernen Tore trug, obwohl der alte Mann bei jedem Schritt schrie und wetterte. Und dann setzte er das Schloß in Brand, und als die Flammen durch die Steinbrüstungen, über die Zinnen und durch die obersten Turmzimmer schlugen, hieß es, daß man die Ratten quietschen hörte und über diesen dünnen, fieberhaften Schreien ein gequältes Stöhnen vernehmen konnte, das sich im Rauch und im Krach der zusammenbrechenden alten Balken verlor. Alles, was übrig blieb, war die steinerne Außenmauer, und Roland di Caela baute das Schloß von innen her wieder auf und regierte dreißig Jahre lang in Weisheit und Frieden, bis der Fluch wiederkehrte.

Hier wird die Geschichte unklar, denn Kastell di Caela wird inzwischen seit zwanzig Generationen von dem Fluch heimgesucht, und jedesmal nimmt er eine andere Form an. Die Flut schlug fehl, weil Simeon di Caela Schleusen in den Burggraben einbaute, und Antonio di Caela hielt das Buschfeuer auf, indem er zur rechten Zeit die rechten Schleusen öffnete, Cyprian di Caela schlug die Ogerinvasionen zurück, und Theodor di Caela jagte Räuberbanden davon, die von einem geheimnisvollen Hauptmann in schwarzer Robe angeführt wurden.

Selbst die Umwälzung trug dazu bei, Benedikts Pläne zu vereiteln, denn am Ende der vierten Generation seit Beginn des Fluches trieben Bergarbeiter und Pioniere der Goblins Tunnel bis hundert Meter vor Kastell di Caela, wodurch sie die Bewohner in Angst und Schrecken versetzten, denn sie sahen ihren Feind nicht, sondern wußten ihn nur irgendwo unter sich. Als dann die Umwälzung die Grundfesten von Krynn erschütterte, brachen die Tunnel über ihren Erbauern und über Benedikt zusammen.

So kehrte er in jeder Generation zurück, unermüdlich, unerbittlich. In jeder Generation wurde er geschlagen, manchmal vom ältesten Sohn der di Caela, manchmal vom jüngsten oder mittleren Sohn. Oft vom einzigen lebenden Erben, denn Benedikts Angriffe fordern immer wieder ihren Tribut, auch wenn sie scheitern.

In dieser Generation ist es still geworden, denn Robert di Caela wehrte den letzten Versuch vor etwa vierzig Jahren ab, als sechzehnjähriger Knabe. Seitdem lebt das Haus di Caela in Frieden, und da Lady Enid di Caela die einzige lebende Erbin ist, werden ihre Kinder nach ihrer Heirat den Namen des Vaters annehmen, und das Land wird der Familie di Caela für immer genommen sein. Das jedenfalls glauben die Leute der Gegend.

Zumindest die meisten. Die Familie di Caela ist sich da nicht so sicher.«

»Und Er, Sir Bayard?« fragte Agion, als Bayard erneut eine Pause einlegte. »Ich habe diese vierhundertjährige Geschichte von Verfehlungen, Rache, Gewalt und Unrecht gehört, und ich muß gestehen, daß ich viele Fragen habe. Die wichtigste davon ist, was ist Sein Anteil an einer alten Geschichte des Jammers.«

»Auch das ist eine lange Geschichte«, meinte Bayard abwinkend, als hätte er genug vom Erzählen.

»Oh, bitte erzähl Er sie, Sir Bayard!« beharrte Agion. »Galen und ich lieben Geschichten!«

»Agion, vielleicht ist Sir Bayard ein bißchen müde und…«

»Laß nur, Galen«, sagte Bayard ergeben. »Ihr solltet es beide erfahren, da ihr mitbetroffen seid.«

Und wieder begann er mit einer weiteren reißerischen Geschichte, während seine Zuhörer neben ihm her ritten.»Meine Kindheit hätte der deinen sehr ähnlich sein können, Galen. Ich war Erbe eines großen Schlosses mitten in Solamnia.«

»Was meiner Kindheit wirklich sehr ähnelt, Sir«, stimmte ich sarkastisch zu. »Denn schließlich bin ich der dritte in der Erblinie für eine Rattenfalle von Wasserburg im Küstenlund.«

Bayard ignorierte mich, denn er war darauf versessen, seine Geschichte fortzuführen, und entschlossen, mir etwas beizubringen oder uns beide dabei umzubringen. Gibt es überhaupt erfolgreiche Männer mit einer Kindheit, die nicht von Unglück gezeichnet ist?

»Es waren keine Soldaten von Neraka und keine Räuber aus Estwilde, die mich meines Geburtsrechts, meines Schlosses und meiner Ländereien beraubten. Nein, keiner unserer alten Feinde verschwor sich gegen mich. Statt dessen waren es unsere eigenen Leute, die sich eines Sommerabends gegen meinen Vater auflehnten – ungefähr um diese Jahreszeit –, als ich vierzehn war. Sie töteten Vater und Mutter. Töteten auch die Diener und das Gesinde, weil unsere Leute ›Mitleid mit den Unterdrückern hatten‹. Und als ich vierzehn war, hätten sie auch mich getötet, wenn mein Glück und ihre Aufregung nicht meine Rettung ermöglicht hätten.«

»Diese Schufte!« rief ich aus, weil ich dachte, daß ein Ausruf von mir erwartet wurde.

Damit hatte ich offensichtlich unrecht. Bayard drehte sich zu mir, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Keine Schufte. Obwohl auch ich das mit vierzehn geglaubt habe und mir schwor, mich an ihnen und allen Ihrigen zu rächen. Ich war zu jung, um ihren Zorn oder meinen Eid zu verstehen. Keine Schufte, denn das gemeinste Ergebnis der Umwälzung – als die Welt zusammenbrach und das Land sich veränderte – war, daß die Armen als erste und am schlimmsten litten, Galen. Zu der Zeit, als ich meinen Eid ablegte, wußte ich davon nichts, wußte nichts von der Wut, die aufkommt, wenn man sieht, daß jemand einfach deshalb nicht hungert, weil er nicht zum Hungern geboren ist. Diese Wut lernte ich in Palanthas aus erster Hand kennen.«

»Palanthas?« unterbrach ich. »Moment mal. Ihr habt unten in Burg Vingaard Eure Eltern verloren, wart mit vierzehn ganz allein und habt dennoch den Mut und das nötige Kleingeld aufgebracht, um die einwöchige Reise durch das Vingaard-Gebirge nach Palanthas zu unternehmen?«

Auch Agion merkte jetzt auf; der Name »Palanthas« riß seine Gedanken aus dem Nirgendwo zurück in die Gegenwart. Er drehte sich um und fragte meinen Beschützer:

»Palanthas, Sir Bayard? Er war in Palanthas?«

»Ja, Agion. Und ich habe dort gelebt.«

»Dann kann Er mir vielleicht eine Frage beantworten. Ißt man in Palanthas wirklich Pferde?«

Ich hielt das für einen zentaurischen Aberglauben und wollte schon loslachen, doch dann sah ich Bayard zustimmend nicken.

»Die Armen schon, Agion, wenn sie welche erwischen. Aber das kommt selten vor, und so müssen sie von anderem leben. Ich weiß das, wie gesagt, wirklich aus erster Hand.«

Die Augen auf die Straße vor uns gerichtet, erzählte er weiter, während ich Valorus und das Packpferd ansah und mir vorzustellen versuchte, wie sie eine Tafel zierten.

»… als ich nun sicher aus der Burg geflohen war, ritt ich eine halbe Meile fort, von wo aus ich nur noch Rauch, aber nicht mehr die Flammen aus dem Wachturm sehen konnte. Dann nahm ich die Straße nach Westen, verließ das Land meines Vaters und ritt in feindliches Gelände, wie wir es früher nannten. Damals kam es mir so vor, als wäre das feindliche Gelände das Land, das ich zurückließ. Das Land, das ich geerbt hätte, wenn sich die Zeiten nicht geändert hätten.«

Er unterbrach sich und zügelte Valorus.

»Hier machen wir Rast und essen etwas. Eine Ziegenkeule kann sogar im kühlen Herbstwetter verderben, wenn man nicht vorsichtig ist.«

Was auch immer in Palanthas geschehen war und was es auch mit den di Caelas zu tun hatte, jedenfalls hatte Sir Bayard Blitzklinge gelernt zu überleben.

Während wir am Feuer saßen und die Ziegenkeule auf einem improvisierten Spieß drehten, ruhte die Geschichte. Agion stand Wache, um sofort zu melden, wenn sich jemand durch den Bratengeruch angezogen fühlte.

»Genug erzählt für heute«, beharrte Bayard. »Ihr solltet euch ausruhen.«

Ich nickte und warf dann einen Seitenblick auf Agion, der jetzt genüßlich an einem Apfel herumschnupperte und hinter uns nach Westen zum Sumpf schaute, an den er sich wahrscheinlich kaum mehr erinnern konnte.

Ich döste ein Weilchen, genau wie Agion. Bayard nahm seine Geschichte erst wieder auf, als wir wieder auf der Straße nach Südosten durch flaches, eintöniges Gelände zogen – die Landschaft, für die Küstenlund zu Recht berühmt ist. Als ich einen Falken am tiefsten Punkt des Osthimmels kreisen sah, setzte er wieder an.

»Die Reise nach Palanthas war riskant, denn das Vingaard-Gebirge ist zu jeder Jahreszeit verdammt kalt. Wäre es nicht Sommer gewesen, so wäre meine Geschichte vielleicht ganz anders ausgegangen.

Palanthas ist natürlich zu Recht für seine Reichtümer berühmt, seine Bibliothek und die Hochschulen und den phantastischen Turm, zu dem Zauberer aus ganz Ansalon reisen, um ihre Prüfung abzulegen und Unterricht zu nehmen. Wenn das alles gewesen wäre, was zu dieser Stadt gehörte – die Liebe zu Gelehrsamkeit und Weisheit – «, bemerkte er mit ironischem Lächeln, »dann wäre ich dort bestimmt willkommener gewesen.«

Ich stellte mir die goldene Stadt vor, ein Paradies auf einem Hügel, von dem aus man die triste Umgebung in alle Richtungen überblicken konnte. Damals wußte ich noch nicht, daß Palanthas trotz seines Reichtums und seines Glanzes eine rauhe Hafenstadt ist, die zu einem tiefen Meereshafen hin abfällt. Aus diesem Hafen kamen Seeleute, die in Sprachen redeten, die keiner von uns je gehört hatte oder je wieder hören würde. Diese Männer trugen Dolche mit herrlichen Griffen und Gift an den gezackten Klingenspitzen.

In Bayards Geschichte hörte ich zum erstenmal etwas über die Armut, die Würfel und die Messer. Ich lauschte zunächst ungläubig, doch die Teile von Bayards Geschichte paßten genau zusammen, wie Alfrik gesagt hatte, ehe er in seinem sumpfigen Matschsee versank. Agion hingegen brauchte nicht überzeugt zu werden. Er nickte die ganze Zeit zustimmend. Natürlich war er noch nie in Palanthas gewesen, aber er war sicher, daß Menschenstädte, wo kleine, gewalttätige Zweibeiner sich in Häusern aus Stein, gebrannter Erde und totem Holz zusammendrängten, nur düstere Seiten hatten.

»Als ich in Palanthas ankam«, erklärte Bayard, während er sich nach vorne lehnte, um dem langsamer werdenden Valorus eine Klette aus der Mähne zu zupfen, »gab es im südlichen Teil der Stadt nichts für mich zu tun. Dort waren überall Geschäfte und Händler, und die meisten interessierten sich nicht für Käufer, weil sie nur darauf versessen waren, die Waren anderer Kaufleute aufzukaufen, um, sagen wir mal, der einzige Teehändler oder der einzige Kürschner der Stadt zu sein. Wer wirklich nach Leuten Ausschau hielt, die seine Waren kaufen sollten, schaute nach den Reichen: den Zauberern in ihren Kutschen oder den prächtigen Gewürzhändlern, die auf ihren Vollblutpferden durch die Straßen ritten. Könnt ihr euch vorstellen, wie man so hochgezüchtete Pferde in einer Stadt einsperren kann?

Nein, dort gab es keine Arbeit für mich. Mit dem wenigen Geld, das ich aus meinem Zimmer in der Burg gerettet hatte, konnte ich nicht einmal etwas zu essen kaufen. Die Händler dort waren an so mickrigen Summen nicht interessiert.

Also ging ich in den Westen der Stadt. Unterwegs kam ich durch die Ruinen der alten Tempel, die für Götter gebaut waren, die diese Menschen nicht mehr verehrten, weil sie ›unpraktisch‹ waren. Dort sah ich aus einiger Entfernung ganz kurz den legendären Turm der Erzmagier. Allerdings hatte ich keine Muße, um die Architektur zu bestaunen…«So, das reicht für den Anfang. Während Bayard seine Geschichte fortsetzte, begann sich ein Hauch von Bitterkeit über jedes Ereignis zu legen, von dem er berichtete. Und als ich hörte, wie er im Hafen geschlafen hatte und sich mit Ratten, Halsabschneidern und Banden herumgeschlagen hatte, verstand ich allmählich, warum er vor Kälte und Hunger zum Einbrecher geworden war. Sir Bayard erzählte uns, daß er in einem reichen Oststadthaus ein paar Truhen durchwühlte. Weil er nur Decken fand, hatte er sich in eine eingewickelt und war eingeschlafen. Beim Erwachen war er der Gefangene eines Ritters von Solamnia, der für einen Besuch in Palanthas in diesem Haus abgestiegen war und deshalb wenig mitgebracht hatte, was für einen Einbrecher von Wert war.

Er erzählte, wie dieser Ritter einen anderen Ritter kannte, der einen anderen kannte, der Bayards Vater gekannt hatte, und wie er nur darum – weil einer einen kannte, der einen kannte – der Kälte und dem Hunger und der Armut entkommen war. Wie er nur darum viele Jahre später mit einer solamnischen Armee im Rücken an die Rückeroberung seines Landes und von Burg Vingaard gehen konnte.

»Unter diesen Umständen, Sir, hätte auch ich alle mir möglichen familiären Beziehungen genutzt«, tröstete ich ihn und Agion nickte bestätigend. »Es war seit Generationen Euer Schloß, und Ihr habt diesen Freundschaftsdienst einfach angenommen, um den Pöbel davonzujagen, der es Euch geraubt hat.«

»Aber es mußte gar kein sogenannter Pöbel fortgejagt werden«, erläuterte Bayard. »Denn sie hatten das Schloß nie bezogen. Sie glaubten, wenn sie im Luxus ihrer angeblichen Unterdrücken leben würden, dann würden sie so bösartig und gemein wie ihre Unterdrücker werden.«

»Soll das heißen, daß sie ihre Strohhütten den Sälen von Burg Vingaard vorzogen?«

Bayard nickte.

Das war unglaublich.

»Dann hatten sie es verdient, vertrieben zu werden, weil sie einfach blöd waren«, verkündete ich.

Diesmal pflichtete Agion mir nicht so schnell bei, denn ein Haus mit Strohdach erschien ihm zweifelsohne anheimelnder als die Aussicht auf Stein wände. Auch Bayard war anderer Ansicht. Mit gerunzelter Stirn schüttelte er langsam den Kopf und blinzelte nach Osten in die Ferne.

»Galen, das kann ich nicht beantworten. Was manchmal wie schiere Dummheit wirkt, hat oft verborgene Prinzipien.« Er sah weiter nach Osten, um dann zu nicken, als ob er etwas am Horizont entdeckt hätte. Das hatte er auch wirklich. Er drehte sich zu mir um und wandte sich ernst an mich.

»Ich habe schon genug Probleme mit meinen eigenen Prinzipien, da kann ich nicht noch über andere urteilen.« Ich setzte mich im Sattel zurecht, weil ich eine weitere salbungsvolle Lektion erwartete, aber statt dessen nickte Bayard nach Osten und wechselte das Thema.

»Das Vingaard-Gebirge.«

»Sir?«

»Das Vingaard-Gebirge. Du wirst es bald sehen. Du würdest es jetzt schon sehen, wenn du Erfahrung darin hättest, wie man in die Ferne schaut.« Er lächelte, zog an den Zügeln des Packpferds und brachte es auf gleiche Höhe mit Valorus. »Von hier aus reiten wir genau nach Osten, dann sollten wir die Berge ungefähr bei dem Paß erreichen.«Während der Abendhimmel ein immer tieferes Blau annahm, wirkten die Berge tiefschwarz. In dieser Nacht kampierten wir in ihrem Schatten. Das Grün um uns herum wurde an dieser Stelle spärlich, denn es ging bereits aufwärts, und der Boden wurde steiniger.

Wir schliefen nicht gut, zumindest ich nicht, und am Morgen war ich kaum frischer als am Abend zuvor. Bayard rüttelte mich wach, und als das nicht viel half, stieß er mich mit dem Fuß an. Ein Stiefeltritt gegen aufgerittenes Fleisch tut nicht gerade gut.

»Noch ein scharfer Ritt heute, Galen«, verkündete er fröhlich – fröhlich und richtig energiegeladen. »Wenn wir zügig weiterreiten und die Götter uns einen freien Weg ohne Hindernisse bescheren, können wir immer noch in fünf Tagen in Kastell di Caela eintreffen, am Abend vor dem Turnier.«

10

Jetzt wird es Zeit für eine eigene Geschichte. Diese ereignete sich nicht lange, nachdem Bayard seine Geschichte erzählt hatte, und begann, während wir auf dem Weg zum Kastell di Caela durch das Vingaard-Gebirge zogen.

Wie von Bayard befürchtet, würde uns die Verzögerung im Sumpf spät, wenn auch nicht zu spät, zum di Caela Turnier kommen lassen. Doch das Turnier würde nicht warten. Über zweihundert Ritter aus ganz Solamnia und ganz Ansalon hatten sich versammelt. Es heißt, daß ein Ritter sogar aus Balifor kam. Er trug eine blaue Rüstung und einen exotischen, gelben Federschmuck, doch als wir das Schloß erreichten, war er bereits fort, weil er bei den Kämpfen sofort besiegt worden war. So brachte er keine Dame heim in die Berge am östlichen Ende der Welt, sondern nur einen großen Bluterguß und ein gebrochenes Schlüsselbein.

Doch der Blaue Ritter von Balifor war noch nicht einmal der auffälligste Bewerber um die Hand der Lady Enid di Caela. Wenn man Bewerber vom ganzen Kontinent herbeiruft, kann man damit rechnen, daß eine Reihe davon ein bißchen… ausländisch sind.

Da war Sir Orban von Kern, der mit seinem gespaltenen Bart und seiner Augenklappe irgendwie verrufen und fast wie ein Pirat aussah, auch wenn man sagte, daß kein Ritter ein unschuldigeres und edleres Herz in sich trug. Auf Sir Orbans Schulter hockte ein sprechender, orangeroter Papagei, dessen Farben sich mit dem Wechsel von Sonnen- und Mondlicht veränderten. Der Papagei redete die ganze Zeit mit Sir Orban, der ihm sozusagen antwortete und eigentlich kaum mit anderen redete.

Da war Sir Prosper Inverno von Zeriak, der von allen Rittern von Solamnia dort in Kastell di Caela aus dem tiefsten Süden kam. Seine Rüstung war dick und durchscheinend wie der Gletscher von Eismauer, der eine halbe Tagesreise von seinen Ländereien entfernt lag. Dick und durchscheinend und glitzernd wie Saphire, so daß die Versammelten sich fragten, ob sie aus Eis oder aus Edelstein bestand. Über den Schultern trug er das Fell eines weißen Bären, und es hieß, daß die Luft in seinem Zelt kälter wäre als in der Umgebung. Selbst Wein, der in einem Becher in seinem Zelt stehenblieb, sollte morgens eine Eiskruste gehabt haben. Aber unabhängig von den Gerüchten war er für sein unübertroffenes Geschick und seine Kraft im Kampf mit der Lanze berühmt, und kein Ritter wollte ihn zu Beginn des Turniers als Gegner haben.

Dann war da Sir Ledyard von Südlund, der, wie es hieß, zu lange zur See gefahren war. Er hatte von weitem das Blutmeer von Istar gesehen, und seine Augen waren von dem Anblick rot geworden. Genauso seltsam war sein Helm, auf dem über den Ohren Muschelwirbel in das Metall getrieben waren, so daß Sir Ledyard aussah, als wäre er selbst ein Wesen aus dem Blutmeer. In diesem Helm und in den Muscheln über seinen Ohren sang angeblich die See und rief ihn unablässig zurück.

Dann gab es noch Sir Ramiro vom Schlund, der noch weiter aus dem Osten kam als der Blaue Ritter von Balifor und auch noch größer war. Vierhundert Pfund muß er gewogen haben – ohne Rüstung. Er war immer gutgelaunt und liebte Marschlieder – und zwar etwas obszöne –, und ich bin sicher, daß Lady Enid erleichtert aufatmete, als er am ersten Tag des Turniers dem verhüllten Ritter zum Opfer fiel.

Denn der verhüllte Ritter war derjenige, der in Kastell di Caela die meisten Gerüchte auf sich vereinte. Er kam in der letzten Nacht vor Beginn des Turniers und schlug sein Lager abseits der anderen Teilnehmer gut zwei Meilen westlich der Burgmauern auf. Viele Ritter, selbst der unbeschwerte Sir Ramiro, erschauerten, wenn sie nach Westen zum Lager des verhüllten Ritters blickten, das sich als schwarze Silhouette vor der blutroten, untergehenden Sonne abzeichnete.

Sir Robert di Caela war deswegen selbst beunruhigt, auch wenn er nicht wußte warum, und stellte fest, daß er immer wieder über dieses fernste Lager hinaus nach Westen blickte. Er suchte die Ausläufer des Vingaard-Gebirges nach Zeichen einer Bewegung ab, nach einem letzten Lichtschimmer von der berühmten Rüstung des nahenden Bayard Blitzklinge. Einem Zeichen, daß wir endlich kämen. Dann würde Sir Robert den Ereignissen voller Zuversicht entgegensehen können, weil er wußte, daß das Schicksal sich erfüllte, daß der Blitzklinge, den er erwartete, doch noch gekommen war.

Als die Dunkelheit hereinbrach, stieg Sir Robert enttäuscht von den Zinnen, denn der Blitzklinge war nicht gekommen, war sicher unterwegs aufgehalten worden. Inzwischen gingen im Lager die Gerüchte um.

Der verhüllte Ritter stammte angeblich von jemandem ab, der aus einer Familie der solamnischen Orden ausgestoßen worden war. Er war zum Turnier gekommen, weil er hoffte, der Sieg könnte seine Familie rehabilitieren und die Ehre wiederherstellen, die sie Generationen zuvor bei der Umwälzung verloren hatten.

Oder der verhüllte Ritter war ein Zauberer, der verflucht war, über die Erde zu wandern, bis er ein solches Turnier gewinnen konnte. Dann würde er von dem Fluch und seinem Band an diese traurige Erde befreit sein und spurlos verschwinden.

Oder der verhüllte Ritter war der verkleidete Sir Bayard Blitzklinge, denn er war ohne Bedienstete gekommen, und war Bayard nicht auf der Suche nach einem Knappen durch Küstenlund gestreift?

Solche und andere Geschichten nahm Sir Robert in jener Nacht in das herrschaftliche Schlafzimmer von Kastell di Caela mit. Während er sich diese Geschichten durch den Kopf gehen ließ, klopfte es an den Toren, und es gab einen kurzen, überraschten Ausruf von den Wachen – ob freudig oder erschrocken konnte Sir Robert nicht sagen.

Heute nacht ist es zu spät für einen Antrittsbesuch, dachte Sir Robert, wie er mir später erzählte. Wer es auch ist, er kann bis morgen warten, denn das Turnier geht über Nacht nicht los.

Aber dann dachte er an Sir Bayard Blitzklinge irgendwo auf dem Weg nach Kastell di Caela. Wer weiß? Vielleicht stand er vor dem Tor und erwartete solamnische Höflichkeit – ein warmes Zimmer, einen Becher Wein, einen höflichen, formvollendeten Eintrag in die Listen für morgen.

Von neuer Hoffnung beseelt, erhob sich Sir Robert aus dem Bett, wobei seine Gelenke wohl knirschten und knackten.

Ich kann ihn vor mir sehen – kann alles sehen und hören, als würde es vor meinen Augen geschehen.

Sir Robert schnallt sich die Rüstung über das Nachthemd, den Helm über die Nachtmütze, und vor dem Schlafzimmerspiegel – eines der letzten Überbleibsel seiner schönen Frau, die viel zu jung starb – rückt der alte Mann den Brustharnisch und das glänzende Visier zurecht und bemüht sich um ein Gleichgewicht zwischen Bequemlichkeit und Würde.

Nicht schlecht für einen Mann mit Fünfzig, denkt er. Die Haare natürlich ein bißchen gelblich fahl, und das Gewicht drückt gegen die Nähte der Rüstung. Aber alles in allem nicht so weit entfernt von den alten Tagen und bestimmt gut genug, um solche wie diese jungen Bewerber zu empfangen.

Die außer Sir Bayard Blitzklinge und vielleicht noch ein paar anderen nur blasse Abbilder der Ritter sind, die den Orden in meiner Jugend bevölkerten.

Dann steigt er die Treppe hinunter, wobei er wegen der späten Stunde und der Kälte etwas hustet. Irgendwo hinten im Schloß melden sich drei mechanische Kuckucks. Sir Robert fummelt an einer Kerze herum, die kurz aufflackert, dann ausgeht und ihn im Dunkeln stehen läßt. Er flucht verhalten und greift über sich, um den Stummel an den glühenden Resten einer Fackel an der Wand anzuzünden.

Da hört er die Stimme unten am Fuß der Treppe. Obwohl er den Mann nie zuvor gesehen hat, weiß er, daß dies nicht Bayard Blitzklinge ist, wie er gehofft hat. Es ist der verhüllte Ritter, der weit im Westen sein Lager aufgeschlagen hat und auf die Dunkelheit gewartet hat, um sich erst dann im Schloß vorzustellen und für das Turnier anzumelden.

»Ich nehme an, Ihr seid Sir Robert di Caela?« fragt der Ritter aus dem Dunkeln. Und di Caela hat ein Dutzend Bemerkungen im Kopf – von tapferen, zornigen Worten bis zu scharfen Abfuhren, die diesen unverschämten Kerl wissen lassen sollen, daß in diesem Schloß die Geschäfte bei Tag erledigt werden. Doch als er die kalten, abfälligen Worte des Ritters unten an der Treppe hört, kann er nur ein schwaches »Ja« zur Antwort geben.

Sir Robert weicht unwillkürlich in sein Schlafzimmer zurück. Die Beine, die ihn sicher durch hundert Turniere getragen haben, das unerbittliche Schwert vom Chaktamir Paß, wo mein Vater zum Helden wurde, bewegen sich jetzt, bevor er es überhaupt bemerkt. Er bleibt stehen, wobei er sich wundert, warum ihn das so viel Mut kostet.

Am Fuß der Treppe regt sich etwas.

»Ich bin zu meinem Antrittsbesuch gekommen, Sir Robert«, sagt die Stimme eisig. »Ihr habt ein herrliches und gut gepflegtes Schloß. Die Ausbauten fallen kaum auf, was auf meisterliche Handwerksarbeit hindeutet.«

»Ich danke Euch«, setzt Sir Robert an, der sich von dem unguten Gefühl, der seltsamen Angst erholt. »Danke, Herr Ritter, auch wenn ich leider wohl wenig über die Ausbauten und Verzierungen am Schloß weiß. Ich bin ein rauher Geselle, der sich das Kinn mit dem Tischtuch abwischt, anstatt mit guten Manieren ein passender Erbe für seine alten Vorfahren zu sein.«

»Wenn das Euer größter Fehler als Ritter ist, Sir Robert«, besänftigt die dunkle Stimme, »dann könnt Ihr Euer Land an Eure Erben weitergeben in dem Wissen… daß Ihr in jeder Hinsicht gut gedient habt. Ich vermute mal, daß der Zustand Eures Besitzes – die Finanzen, das Land, das Wohlergehen Eurer Diener und Pächter – so gesund ist, wie Euer Schloß aussieht.«

»Na, na«, errötet di Caela und lehnt sich an den Türrahmen. Jetzt ist er sich kaum mehr so sicher, daß er den Besucher nicht mag. Ja, er bemerkt an dem jungen Kerl ein gewisses – Urteilsvermögen, eine Weisheit, die seine Jahre übersteigt. Zu wissen, wie schwer es sein kann, ein Rittergut zu bewirtschaften, wieviel Kraft und nötigen Schlaf das einen Mann kosten konnte.

Und würde er nicht gerade jeden Moment das Eintreffen von Bayard Blitzklinge erwarten, dann…

»Ich nehme an, Ihr seid gekommen, um Euch für das Turnier anzumelden, junger Freund«, beginnt Sir Robert herzlich, und der Mann tritt auf dem Treppenabsatz ins Licht.

Er trägt schwarz, als wäre er in Trauer, bemerkt Sir Robert. Und die Kapuze über seinem Gesicht wirkt nicht im mindesten so bedrohlich, wie der alte Ramiro sie geschildert hat.

Ganz sicher versucht er, einen Kummer zu überwinden, damit das Leben weitergehen kann.

»Ihr müßt der sein, den sie den verhüllten Ritter nennen«, stellt Sir Robert fest – ohne fragenden Tonfall, denn das Fragen ist er nicht gewöhnt. Fragen bedeutet schließlich Schwäche.

»Gabriel Androctus«, kommt die Stimme ruhig und weich aus den Falten des schwarzen Umhangs. »Das wird beim Turnier besser klingen. Weniger… theatralisch.«

»Tretet vor, Junge!« ruft Sir Robert noch herzlicher aus. »Kommt in meine Gemächer, dann suche ich gleich eine Feder.«

Doch Sir Gabriel steht vor der untersten Stufe und rührt sich nicht.

»Seid Ihr taub, junger Freund? Kommt her!«

»Oh, aber es ist spät, Sir Robert. Zweifellos später als… wir beide ahnen«, besänftigt Sir Gabriel. »Jetzt, wo ich mich vorgestellt und angemeldet habe, bitte ich Euch, mich zu entlassen, damit ich in mein Lager zurückkehren kann. Die Nacht ist kurz, und für die morgigen Kämpfe sollte ich ausgeruht sein.«

»Sicher, sicher«, ruft Sir Robert über seine Schulter. Er ist schon auf halbem Weg zu seinem Schreibtisch, wo der Federkiel im Tintenfaß steckt und das eingerollte Pergament mit den Namen der Turnierteilnehmer mit einem Samtband zusammengebunden liegt.

Er entrollt die Liste und hört, wie unten eine Tür zugeht. Er setzt die Feder an, um sie dann fluchend zurückzuziehen.

»Ich habe vergessen, Sir Gabriel zu fragen, wo er herkommt, verdammt noch mal!«

Doch die Säle unten liegen im Schweigen. Draußen wiehert ein Pferd im Stall, und die Nacht ist nur von Eulenrufen und dem leisen Zirpen der Grillen erfüllt.

Als am nächsten Morgen die Listen für das Turnier ausgehängt werden, steht Sir Gabriels Name ohne Herkunftsort oder Familie ganz unten auf dem Pergament. Natürlich wünscht sich Sir Robert, er hätte danach gefragt und die Liste vervollständigt, wie sich das gehört.

Doch der Name steht da mit denen der anderen versammelten Ritter. Was sonst kann ein Mann erwarten, der vorhat, seine Tochter dem besten Mann von Solamnia zu geben?

Er könnte erwarten, daß Bayard Blitzklinge da ist.

Sir Robert steht am Fenster des niedrigen Turms und schaut nach Westen über die Wimpel, die auf den Zelten im Lager flattern. Da ist Ramiros großer Bär mit dem Fisch im Maul und dahinter Sir Prospers silberner Eisberg. Noch dahinter weht das seltsame, pechschwarze Banner von Gabriel Androctus.

Dahinter die Berge, wo sich auf den Wegen nach Osten und nach unten kein Staub erhebt.

Bayard kommt nicht. Immer noch nicht.

Sir Robert seufzt auf. Sein Knappe beginnt mit der anstrengenden Aufgabe, dem alten Mann in den bronzenen Prunkharnisch zu helfen. Als er das endlich geschafft hat, händigt er ihm den Schild mit dem Wappen des Hauses di Caela aus – hellrote Blume auf weißer Wolke vor blauem Grund.

Sir Robert steigt die Turmtreppe hinunter. Es ist Zeit, das dreitägige Fest zu eröffnen, bei dem er seine Tochter als Preis vergeben wird. Und mit ihr seinen Namen, denn in der nächsten Generation wird dieser Ort nicht länger Kastell di Caela heißen – so viel ist sicher.

Kastell Inverno vielleicht?

Oder Kastell Androctus?

Er bleibt auf dem Absatz der langen Wendeltreppe stehen, um ein weiteres Mal aus dem Westfenster zu blicken. Nichts am Fuß der Berge.

Nun gut, denkt Sir Robert di Caela resigniert, das Turnier mag beginnen.

Während der Morgen allmählich wärmer wird und die Ritter zusammenkommen, finden nacheinander die genau festgelegten Vorbereitungen für ein solamnisches Turnier statt: zuerst die Gebete, die Kleriker in weißen Roben sprechen. An den Großen Drachen, an Kiri-Jolit und an Mishakal – um Ehre und guten Kampf und um die Verschonung von tödlichen Wunden.

Dann der Segen der Barden mit Liedern für Huma und Vinas Solamnus und Gerald di Caela, den Ahnherrn der Familie, in deren Namen das Turnier stattfindet.

Zum Zeitpunkt des Segens sind fast alle Ritter eingetroffen – mehr als fünfzig sind versammelt. Vier der berühmtesten kommen zu spät.

Sir Prosper Inverno kommt erst, als die weißgekleideten Kleriker der Mishakal Kiri-Jolit, den Gott des Kampfes, preisen. Der große Mann schreitet zu Fuß durch die Reihen der Ritter, wobei seine geheimnisvolle, durchscheinende Rüstung glitzert. Gemurmel kommt auf, als die Ritter bemerken, wer da gerade eintrifft. Sir Robert lächelt bei dem Auftritt: Er hat gehört, daß Südländer eine Vorliebe für Dramatik haben.

Menschen aus dem Osten hingegen sind weniger einfallsreich. Oder zumindest einer davon, denn Sir Ramiro vom Schlund kommt erst, als die Gebete an Mishakal zu Ende gehen – zu spät, um den heilsamen Segen ihrer Priester zu empfangen. Entschuldigend nickt er Sir Robert zu, der an seinen Augen ablesen kann, daß der Wein am Vorabend in Ramiros Lager großzügig geflossen ist, so daß er heute morgen zerschlagen, müde und spät dran ist. Ohne Zweifel hat seine Genußsucht seine geringen Siegesaussichten vernichtet, wie es Sir Robert auch von anderen, früheren Turnieren bekannt ist.

Noch später kommt Sir Gabriel Androctus, der während der Gebete, der Bardenlieder und dem Bewaffnen der Wettstreiter verdächtig auf sich warten läßt. Er erscheint erst im allerletzten Moment, als die Trompeten erschallen und die Ritter vortreten, während der Herold ihre Namen verliest. In diesem Moment, als das Lesen beginnt, sieht Robert di Caela den schon mit seiner Lanze bewaffneten Sir Gabriel auf seinem Pferd, das er im Schritt durch die aufgeregten Teilnehmer lenkt.

Es ist keine Überraschung, daß seine Rüstung schwarz ist. Wieder spürt Sir Robert das ungute Gefühl von gestern abend auf der Treppe und fragt sich, warum er diesen Mann so freundlich eingetragen hat.

Muß noch halb geschlafen haben, denkt er. Aber bestimmt werden Orban oder Prosper…

Bestimmt werden ihre Lanzen ihr Werk tun, bevor es dazu kommt…

Mit langsam schwindender Geduld und zunehmendem Ärger blickt er nach Westen zu den Ausläufern der Berge.

So viel also zu Blitzklinge und dem Schicksal, denkt er. So viel zu Prophezeiungen.Obwohl Sir Robert niemals die Verlosung beeinflussen würde, damit ein beunruhigender Ritter – wie Gabriel Androctus – einen hervorragenden Gegner bekommt – wie den Blauen Ritter von Balifor –, atmet er doch auf, als die Lose entsprechend gezogen werden. Als ihre Lose aus dem silbernen Zeremonienhelm auftauchen, kommt aus dem goldenen zugleich die Nummer »3«, so daß sie den dritten Zweikampf des Tages bekommen.

Gut. Dann ist es bald vorbei.

Während der ersten beiden Kämpfe ist Sir Robert nachdenklich. Die Kämpfe sind fast so schnell vorbei, wie sie begonnen haben, denn Sir Ledyard und Sir Orban besiegen zwei junge, linkische Ritter aus Lemisch. Ledyards müheloser Sieg gibt Ramiro Anlaß zu einem Spruch: »Ist Sir Ledyard die Blüte von Südlund, ist dann sein Gegner die Blöße von Lemisch?«

Über solche Blödeleien würde Sir Robert normalerweise lange und laut lachen, besonders wenn sie mit Ramiros eigenartigem, östlichen Akzent vorgebracht werden. Und ebenso würde er über den Tanzbären und die Gaukler lachen, die vor den Zuschauertribünen Späße machen, während alles auf den nächsten Kampf wartet. Aber jetzt ist er schweigsam, weil er den nächsten Kampf auf der Liste erwartet, denn die Turniermarschälle haben sich bereits an die langwierige Prozedur gemacht, die nächsten beiden Ritter aufzustellen – den Blauen Ritter aus Balifor und den geheimnisvollen, schwarzgewandeten Gabriel Androctus.

Schließlich erklingt die Trompete des Herolds, und die Vorstellung der Gaukler wird unter vereinzeltem Applaus von seiten der Diener und einiger weniger aufmerksamer Ritter und Damen abgebrochen. Wer sich mit Turnieren auskennt, hat seine Aufmerksamkeit bereits den Kämpfern zugewendet, die jeder an einem Ende des Platzes stehen und vom aufgewirbelten Staub halb verdeckt sind. Die Ritter halten ihre Lanzen in Habachtstellung – aufrecht, so daß sie wie Fahnenstangen oder Obelisken fast zwanzig Fuß in die warme Nachmittagsluft ragen.

Androctus ist Linkshänder, stellt Sir Robert besorgt fest. Das macht es dem Blauen Ritter schwerer. Aber den Geschichten nach hat er schon Schlimmeres bewältigt.

Beim Trompetenstoß des Herolds sollen beide Männer ihre Visiere schließen und die Lanzen anlegen – als Zeichen, daß sie aufeinander vorbereitet sind und daß der Kampf beginnen kann.

Doch hier haben wir ein Problem. Die Visiere beider Ritter sind schon den ganzen Morgen geschlossen, weil beide die Dramatik einer Anonymität vorgezogen haben.

Eine Dramatik, der Sir Robert schnell entgegentritt.

»Edle Herren, öffnet die Visiere!« ruft er mit seiner theatralischsten, befehlendsten Stimme aus. Wie er es erwartet hat (und sich heimlich daran erfreut), zögern beide Seiten.

Dann hebt zu seiner Überraschung der schwarz gerüstete Ritter sein Visier. Er hat ein blasses Gesicht – eines, das Frauen schön nennen würden, das Männer jedoch sicher als gefährlich einstufen würden. Sir Robert wünscht sich, seine Tochter Enid säße neben ihm, die so sicher Gesichter beurteilen kann. Doch sie ist nicht anwesend, weil sie lieber in ihren Zimmern bleiben wollte. Für sie ist das ganze Ereignis bloß ein »Haudegenspektakel in feinen Kleidern«. Also ist er auf sein eigenes Urteil angewiesen.

Das Gesicht im Helm ist so undurchdringlich wie das einer Statue oder eines Toten. Es ist das Gesicht eines Mannes irgendwo zwischen zwanzig und sechzig – genauer kann Sir Robert das nicht bestimmen. Die Augen sind grün, fast gelbgrün, und die Augenlider unnatürlich rot, als wären sie schlecht geschminkt oder nicht ans Licht gewöhnt.

Obwohl es so geisterhaft wirkt, ist es ein beunruhigend vertrautes Gesicht.

Den Blauen Ritter beachtet Sir Robert kaum. Er weiß nicht einmal genau, ob Sir Gabriels Gegner sein Visier öffnet und schließt. Denn der verhüllte Ritter schließt mit einem lauten Schnappen seinen Helm, lehnt sich im Sattel zurück und wechselt die schwere Lanze in die rechte Hand – um keinen unziemlichen Vorteil zu haben.

Pferde dieser Größe – die schweren, braunen Streitrösser aus Abanasinia – brauchen einen Augenblick, um in Gang zu kommen. Die großen Beine und Schenkel und die breite Pferdebrust sind schwere Gewichte, zu denen noch der Ritter in Rüstung auf dem Rücken dazukommt. Um dann annähernd Kampfgeschwindigkeit zu erreichen, brauchen sie Zeit und Kraft. Aber wenn so ein Pferd einmal in Bewegung ist, ist es praktisch nicht mehr aufzuhalten – wie eine Lawine oder ein Sturzbach aus den Bergen.

Genau auf den schwarzen Ritter treibt der Blaue Ritter von Balifor sein Pferd zu, und einen Augenblick scheut und wiehert das Tier unter ihm, weil es vielleicht eine unerwartete Wendung im Kampf wittert. Doch dann rasen beide Männer schwer gerüstet und mit angelegter Lanze aufeinander zu, wo zwei Wimpel – der eine klares Himmelblau, der andere schwarz wie das Auge des Raben – an hohen Fahnenstangen flattern.

Dann stoßen sie zusammen, und die Lanzen splittern. Der Blaue Ritter fällt mit scheppernder Rüstung vom Pferd, wobei ein eisenblauer Stiefel im Steigbügel hängenbleibt, als das erschreckte Tier in einer Staubwolke davongaloppiert. Der Marschall reitet ihm hinterher, die Stallburschen folgen auf dem Fuße. An der Stelle des Zusammenstoßes liegt reglos der Blaue Ritter. Einen Augenblick hebt er langsam den Kopf mit dem Helm, als wolle er auf die Beine kommen. Dann kippt der Kopf zurück, und der Körper zuckt qualvoll zusammen.

Auf der Stelle ist Sir Robert auf den Beinen, weil er Betrug wittert, einen unfairen, höchstens geduldeten Stoß mit der Lanze. Doch alles hat sauber ausgesehen, absolut sauber, und als der Knappe des Blauen Ritters und andere Bedienstete zu ihrem Herrn laufen, wirft Sir Robert einen neuerlichen Blick auf den Sieger.

Sir Gabriel scheint vom Leiden seines Gegners ungerührt, denn er hat nicht einmal der Form halber ritterlich nach dem Wohlergehen seines gestürzten Gegners gefragt, wie es Orban und sogar der exzentrische, von der See geprägte Sir Ledyard getan haben. Statt dessen sitzt der schwarze Ritter am Rand des Platzes auf seinem Pferd und hält die gebrochene Lanze in die Höhe. Langsam lenkt er das große Schlachtroß zu den Zuschauertribünen, und als er direkt vor Sir Robert ist, klappt er wieder sein Visier hoch.

Sein Gesichtsausdruck ist ironisch, das Lächeln kalt wie schroffe Berge. Es ist ein Lächeln, das Sir Robert während des langen ersten Nachmittags des Turniers verfolgt, während die Lanzen splittern und Jubelrufe in seinen Ohren verklingen, bis sie nur noch unwichtige Hintergrundgeräusche für seine verstörten Überlegungen sind. Geräusche wie die von den mechanischen Kuckucks am Abend in den Gängen von Kastell di Caela, wo Sir Robert hektisch in seinen unaufgeräumten Zimmern herumläuft, nachdem er die Bediensteten für den Abend weggeschickt hat.

Morgen aber. Da bekommt dieser Sir Gabriel Androctus mit Sir Orban von Kern einen würdigen Gegner. Orbans Lanze war einst von hier bis Tarsis berühmt.

Sir Robert schläft unruhig und in der Hoffnung, daß die Zeiten von Orbans Lanze nicht vorüber sind.


Den Losen zufolge, die aus dem goldenen Helm gezogen werden, ist es der fünfte Kampf des nächsten Tages. Sir Robert ist aufgebracht und ungehalten, nachdem er am Morgen Lady Enid gescholten hat, bis wirklich die Tränen flossen (seine eigenen Tränen allerdings, denn wenn man Lady Enid schilt, dann schimpft sie zurück!). Es geht sogar das Gerücht, daß er auf dem Weg zum Turnier einen trödelnden Diener geschlagen hat.

Es ist, als hätte sich eine Wolke über den Kampfplatz gelegt, als Sir Robert trübsinnig und nervös vier langweilige Kämpfe hindurch auf der Tribüne sitzt, weil er nur darauf wartet, daß Sir Orban und der finstere Gabriel Androctus die Lanzen kreuzen.

Am Nachmittag ist es dann endlich so weit. Die Helden besteigen an entgegengesetzten Enden des Feldes ihre Rösser, und ihre Knappen marschieren vor die Tribünen, um den Gastgeber des Turniers von ihren Herren zu grüßen. Sir Orbans Knappe ist ein hübscher, dunkelhaariger Bursche, der zur Fülle neigt. Es ist der Neffe von Sir Ramiro vom Schlund, der am ersten Tag des Turniers von seinem eigenen Wein und von Sir Prosper Inverno besiegt wurde. Jetzt sitzt Ramiro in Begleitung einer unbekannten, jungen Frau neben Sir Robert bei den Zuschauern. Alle applaudieren dem gewandten, stattlichen Neffen.

Sir Gabriels Knappe hingegen ist ein ebenso großes Geheimnis wie sein Herr. Die dünne, schwarz verhüllte Gestalt hat das Turnier am ersten Tag nicht besucht, und eigentlich hatte alles geglaubt, Sir Gabriel wäre allein gekommen. Wer er auch ist und wo er auch herkommt, der Knappe versteht seine Sache: Er bringt die Förmlichkeiten kühl und ohne Versprecher über die Lippen und kehrt auf der Stelle zu seinem Herrn zurück. Jetzt führen die Knappen die Pferde langsam zu den Plätzen, wo sich die Visiere schließen und die Lanzen angelegt werden.

Wieder wechselt Sir Gabriel Androctus betont die Lanze von der linken Hand in die rechte. Sir Robert di Caela flucht einen höchst unsolamnischen Fluch in sich hinein.

Der Schuft will zeigen, daß er ihn mit links schlagen kann, denkt Sir Robert. Und fragt sich, ob Sir Gabriel Androctus seiner Prahlerei wohl genügen wird.

Der erste Stoß verläuft besser als gestern, denkt Sir Robert, als die Ritter einander begegnen und jeder dem anderen seine splitternde Lanze gegen den schweren Schild rammt. Beide Ritter stellen sich bei dem Aufprall in den Steigbügeln auf, und Sir Robert beißt die Zähne zusammen. Seine Schulter tut weh, als er sich an den Schmerz lange zurückliegender Turniere erinnert.

Beide Ritter wenden ihre Schlachtrösser und strecken die Hand nach einer neuen Lanze aus. Auf das Zeichen des Marschalls beginnt der Ansturm erneut. Wie große, holprige Wagen stürmen die Pferde vorwärts, und die Ritter lehnen sich mit angelegten, drohenden Lanzen im Sattel nach vorn.

Beim zweiten Aufprall ändert sich die Lage auf schreckliche Weise von Grund auf. Mit einem Knall und dem kreischenden Geräusch von zerkratztem, verbeultem Metall trifft Sir Gabriels Lanze mit voller Wucht gegen Sir Orbans Schild, durchstößt die Metall- und Lederschichten und bohrt sich dann wieder in Metall, als der Lanzenkopf in Orbans Brustharnisch taucht.

Augenblicklich sind Sir Robert und Sir Ramiro auf den Beinen und schreien »Betrug«. Denn die Waffen des verhüllten Ritters sind eindeutig vorher geschärft worden – scharfe Waffen statt Turnierwaffen –, nicht abgestumpft und gepolstert, wie es die Regeln des Turniers verlangen.

Für den gestürzten Sir Orban macht das alles keinen Unterschied. Zweimal versucht er, sich zu erheben, und beim zweitenmal gelingt es ihm mit einem tiefen, schmerzerfüllten Stöhnen, sich hinzuknien. Als er dann mit Staub und Dreck bedeckt dahockt, tröpfelt Blut aus der zerbeulten Kerbe im Brustharnisch und durch sein Visier, während er immer wieder hustet. Sir Orban bäumt sich noch einmal auf und fällt dann mit dem Gesicht nach vorn hin, noch ehe ihn seine Diener erreichen können.

Sein fülliger Knappe, der Kraft aus seiner Wut und seiner Angst zieht, dreht den gepanzerten Körper mit einer schnellen, geschickten Bewegung auf den Rücken.

Er öffnet das Visier und bricht in Tränen aus.

»Möge seine Seele an Humas Brust ruhen«, flüstert Sir Ramiro.

Sir Orbans Papagei kreischt, als würde er in Flammen stehen.

Starke Arme packen Gabriel Androctus, der sein Visier hochklappt und in kaltem Zorn das Leid und das Durcheinander auf dem Turnierplatz beobachtet. Er lächelt kurz, als man den Kopf der Lanze aus dem Brustharnisch zieht. Zum allseitigen Erstaunen ist die Waffe immer noch fest umwickelt.

»Turnierwaffen«, sagt er. »Wie es die Regeln verlangen, di Caela.«

Nur mit reiner Wucht, ohne unterstützende Klinge oder Spitze oder geschärften Rand hat er seine Holzlanze in einen gepanzerten Gegner getrieben.

Die Marschälle lassen erstaunt los. Androctus denkt nicht einmal daran abzusteigen, sondern reitet auf seinem Schlachtroß vom Turnierplatz zu seinem Zelt am Westrand des Lagers.

Sein Gegner für den nächsten Morgen zieht seine Teilnahme am Turnier zurück. Es ist ein Ritter aus Ergod, Sir Lyndon von Rocklin. Ritter und Gastgeber stehen im großen Saal von Kastell di Caela. Ein Stuhl liegt zerschmettert vor Sir Robert, der ihn in seiner Wut auf den Boden geschmissen hat.

Seinem aufgebrachten Gastgeber erklärt Lyndon:

»Ich weiß, wie das aussieht, Sir Robert, und daß es ein schlechtes Licht auf mich wirft. Aber trotz der Versicherungen des verhüllten Herrn, trotz der Polsterung an der zerbrochenen Lanze ist irgend etwas hier überaus faul und unfair im Vorgehen dieses schwarz gekleideten Mannes.«

»Ich weiß, Lyndon, und wir haben, bei Huma, alles getan, um das herauszufinden. Wir haben die Lanze genauestens untersucht, sogar zweimal! Wenn meine Augen nicht trüb und die Marschälle selbst blind sind, hat Sir Gabriel nichts Regelwidriges getan. Entsetzlich, ja, in seiner sauberen, blinden… Brutalität. Aber nicht regelwidrig.«

»Dennoch«, beharrt Sir Lyndon, »wird weder Lady Enid, noch ihr beträchtliches Erbe ausreichen, damit ich meine Ehre beflecke. Und befleckt wäre sie, wenn ich gegen jemanden antrete, der im Turnier unfair gekämpft und dabei einen bewundernswerten Ritter durch seinen Betrug getötet hat.«

»Verwechselt nicht Ehre mit Angst, Sir Lyndon«, erschallt eine Stimme vom Saaleingang.

Es ist Prosper Inverno von Zeriak, der nach seinem Sieg über Sir Ledyard in den großen Saal von Kastell di Caela tritt.

»Beeindruckendes Schauspiel heute, Inverno«, bringt Sir Robert heraus, wobei er seinen Zorn wegen der Ankunft des ehrenwerten Gastes im Zaum hält.

»Ich danke Euch, Sir Robert«, erwidert Sir Prosper fröhlich. »Hätte ich Sir Ledyard nicht vom Pferd gestoßen, stünde er jetzt statt meiner hier. Ehrlich gesagt, habe ich wohl mehr abbekommen als er, aber er hat bestimmt einiges an der Stelle davongetragen, wo er morgen größte Schwierigkeiten haben wird, auf einem Pferd zu sitzen. Sein Sturz war schon komisch, und er hat ihn wie ein wahrer Ritter lachend hingenommen.«

Mit leisem, müden Lachen geht Sir Prosper in die Mitte des Raums. Seine dunkelgrüne Tunika ist an der rechten Schulter zerrissen, wo Ledyards Lanze gegen die unvergleichliche, durchscheinende Rüstung gestoßen ist. Prosper setzt sich langsam und vorsichtig. Seine Beine schmerzen von der Umklammerung des breiten Schlachtrosses.

»So, so, Lyndon. Ihr wollt also zurücktreten und diesen… Sensenmann mir überlassen?« Er lächelt, lehnt sich im Stuhl zurück und schlägt unter Schmerzen die Beine übereinander.

»Ihr könntet ihn wenigstens morgen noch ein bißchen erwischen – ihn weich machen für den Nachmittag, wo er gegen mich antreten muß.«

»A-aber, Sir Prosper!«

»Keine Sorge, Lyndon. Ich bin schon oft gegen fünf Gegner an einem Tag angetreten. Mit noch so einem Hochstapler, der von seiner eigenen Wichtigkeit zu sehr überzeugt ist, sollte ich leicht fertig werden.«

»Aber Eure Ehre, Sir Prosper. Gegen einen, der unfair gekämpft hat? Wenn es in der Schlacht wäre, wo es heißt töten oder getötet werden, keine Frage, das wäre etwas anderes. Aber ein Turnier ist schließlich etwas Sportliches, und ich glaube nicht, daß Sir Gabriel Androctus wirklich…«

»Schluß, Lyndon!« bricht Sir Prosper los. »Glaubt Ihr wirklich, das hier ist noch Sport, wenn Orban tot bei seinen Zelten aufgebahrt liegt und seine Diener und sein Knappe heulend seine Sachen einpacken? Wie würde es Euch gefallen, dieser Knappe zu sein, der dem alten Alban von Kern berichten muß, daß sein Sohn in einem Turnier mit stumpfen Waffen gefallen ist und daß der Mörder weitermachte, um den Preis zu gewinnen? Nein, Sir Lyndon«, beschließt Prosper. »Sir Gabriel Androctus kämpft heute nachmittag noch ein einziges Mal, und beim Orden, ich werde dafür sorgen, daß er verliert.«

Jetzt ist die Zeit für Abgesandte zum Zelt. Denn Sir Robert schickt heimlich einen Boten zu Gabriel Androctus, um darum zu bitten, daß der Schlußkampf bis zum nächsten Morgen verschoben werde. Damit, erklärt er, könne eine kurze Trauerzeit für Sir Orban einberaumt werden, bevor sein Gefolge mit dem Körper nach Kern aufbrechen würde.

Was Sir Robert bei seiner Bitte um Aufschub sicher auch im Sinn hat, ist die Hoffnung, daß eine Nacht Ruhe Sir Prosper helfen wird, Müdigkeit und Steifheit zu überwinden, damit er am Morgen bereit ist für den Kampf und diesen Gabriel Androctus in die Schlangengrube zurückjagen kann, aus der er gekrochen sein muß, um an diesem Turnier teilzunehmen. Doch das soll nicht sein.

Die Antwort ist ein Zettel mit kühner, bestechender Schrift – ganz sicher die Schrift eines Künstlers oder eines Mannes, der auf sich selbst vertraut und sich vor nichts fürchtet.Unsinn. Warum wegen einer launischen Leiche die Regeln ändern?

Das Turnier muß weitergehen. Sir Prosper hat heute morgen einen würdigen Gegner gezogen; ich einen unwürdigen. So geht es halt bei Turnieren. Wenn ich mich recht entsinne, hat er sein Los zuerst aus dem Helm geholt. Das sind Eure Regeln. Befolgt sie.Sir Robert sitzt an seinem Schreibtisch und liest die Botschaft, die man ihm gerade überreicht hat. Er entläßt den Boten und liest sie noch einmal, als der Junge fort ist.

Er seufzt tief und resigniert, hält den Zettel über eine verlöschende Kerze und sieht zu, wie er beim letzten Aufflackern Feuer fängt. Das brennende Papier hält er so lange wie möglich in der Hand, bevor er es in den Kamin wirft.

So beginnt der Schlußkampf des Turniers, immer noch bleibt Zeit, und die Hoffnungen von Sir Robert di Caela steigen und sinken und steigen, nur um wieder zu sinken.

Denn während der langwierigen Vorbereitungen der Ritter auf das Aufrufen und das Lanzenanlegen sucht Sir Robert wie immer den Horizont ab – fast automatisch inzwischen, denn eigentlich hat er die Hoffnung aufgegeben, daß Sir Bayard Blitzklinge aus dem Vingaard-Gebirge naht.

Was ist das, was da Meilen entfernt im Westen Staub aufwirbelt, dort, wo die Ebene am Rand der Berge lila wird?

Die Staubwolke kommt näher und entpuppt sich als Gestalt zu Pferd, die in vollem Tempo auf das Schloß zureitet. Als die Gestalt näher kommt und aus dem Schatten der Berge ins Sonnenlicht gelangt, erkennt Sir Robert den unverwechselbaren Glanz einer fernen Rüstung.

Blitzklinge?

Bei Humas Blut, wenn es doch so wäre! Denn in diesem Fall ist er Gabriel Androctus’ nächster Gegner. Es wird Stunden dauern, bis wir diesen kleinlichen Androctus, der so auf Regeln pocht, dazu bekommen. Wir werden stundenlang im Maßstab der Ritterschaft von Solamnia nach Präzedenzfällen suchen müssen. Ich wäre nicht überrascht, wenn der verhüllte Ritter darauf besteht, daß die Schreiber und Priester und Gelehrten des Schlosses alle siebenunddreißig Bände des Maßstabs durchforsten müssen, denkt Sir Robert. Aber selbst wenn ich den Appell an den Maßstab verliere, erkaufe ich damit Prosper wertvolle Zeit.

Das heißt natürlich, wenn die Gestalt dort auf der Straße Blitzklinge ist.

Sir Robert hebt die Hand und gebietet den Vorbereitungen Einhalt. Ein Reiter kommt, verkündet er. Kommt schnell von Westen. Es sind schlechte Zeiten, wo ein schnell herannahender Reiter einen Aufstand, eine Invasion oder was auch immer bedeuten kann. In solchen Zeiten und in dieser Situation bittet er daher darum, daß »die zwei letzten Wettbewerber ihren ersten Kampf noch etwas verschieben, bis der Reiter eintrifft und wir erfahren, ob es etwas Dringendes ist oder…«, und Sir Robert di Caela lacht, »… oder ob es bloß ein junger Kerl ist, der sich für einen guten Platz beim Schlußkampf verspätet hat.«

Prosper von Zeriak nickt höflich.

Androctus hingegen ist nicht erfreut. Er schickt seinen verhüllten Knappen mit einer Botschaft, daß der letzte Wettkampf jetzt angesetzt sei. Wenn Sir Robert zu seinem Wort stehen würde, würde der Kampf jetzt wie vorgesehen beginnen.

Das ist zu viel. Sir Robert lehnt sich in seinem Stuhl nach vorne und brüllt den Knappen an.

»Sag deinem Ritter, Gabriel Androctus, daß ich dieses Turnier auf meinem Land ausrichte. Auf meine Kosten. Um die Hand meiner Tochter. Und angesichts dieser Tatsachen sag Gabriel Androctus…«

Dabei wendet sich Sir Robert von dem Knappen an den Ritter, der am Rande des Platzes auf seinem schwarzen Schlachtroß sitzt, und er erhebt seine Stimme noch lauter, bis Sir Ramiro neben ihm zusammenzuckt und dessen unbekannte, aber hübsche Begleiterin sich die Ohren zuhält, und er schreit so laut, daß selbst die schwerfälligen Schlachtrösser hochschrecken:

»Daß ich aus diesem Grunde verdammt noch mal das tue, was mir gefällt!«Das ist wahres Drama – Sir Roberts bester Auftritt in den letzten drei leidvollen Tagen. Unglücklicherweise kommt bei all dem Gebrüll wenig heraus.

Denn der Reiter ist ganz und gar nicht Bayard Blitzklinge, sondern ein einfältiger, rothaariger Junge aus Küstenlund in einer Rüstung, die nur von den Schultern aufwärts glänzt, weil der Brustharnisch und alles darunter mit dunklem, sandigem Schlamm, vertrockneten Algen und Wasserpest und anderen, noch übler riechenden Dingen verkrustet ist.

Ein Pfadwächter ist der Junge. Sir Robert erinnert sich an den Vater und fragt sich, wie ein so feiner, alter Ritter wie Andreas so ein schniefendes Würstchen hervorgebracht haben sollte.

Der Bursche verkündet, daß er vorhat, am Turnier um die Hand der Lady Enid di Caela teilzunehmen. Die Tribüne platzt vor Lachen, und Sir Prosper, dem die verletzte Würde des Jungen bewußt ist, schwenkt wild seine Lanze in der Luft. Aus Respekt vor Prosper erstirbt das Lachen.

Außer bei einem Mann. Von jenseits des Turnierplatzes erhebt sich das Lachen von Gabriel Androctus – melodisch, tief und fast schön. Enid di Caela hört dieses Lachen, fragt sich, von wem es kommt, und geht zum Fenster.

Wo sie zum erstenmal etwas vom Turnier sieht. Sie sieht Sir Prosper von Zeriak, den sie an seiner wolkenartigen, durchs scheinenden Rüstung erkennt und der sich einem Mann entgegenstellt, der lacht – einem schönen Ritter in schwarzer Rüstung, den sie trotz seines angenehmen Äußeren sofort ablehnt.

Sie stellt fest, daß er Linkshänder ist. Da sie selber bei Turnieren zugesehen hat, weiß sie, daß Linkshänder für Verwirrung sorgen können.

Enid di Caela stellt fest, daß sie um Prosper von Zeriak bangt. Auch wenn sie keine Lust hat, Sir Prospers viel jüngere und viel klügere Frau zu werden, weiß sie, daß er ein guter Mann ist.

Wohingegen sie über den Ritter in der schwarzen Rüstung nur weiß, daß er Orban von Kern getötet hat und daß schon sein Anblick – obwohl er schön und gepflegt ist – ihr eine Gänsehaut bereitet.

Unter dem Aussichtspunkt der Lady Enid stampfen unruhig die beiden Streitrösser. Es sind reinblütige Kriegspferde, die darauf versessen sind, sich an Kraft und Geschwindigkeit zu messen.

So also steht es um Sir Prosper von Zeriak. Gemessen und sehr solamnisch nickt er seinem Gegner zu. Er schließt sein Visier und legt die Lanze an.

Der verhüllte Ritter, Gabriel Androctus, steht reglos wie eine riesige Onyxstatue am Ende des Turnierplatzes. Als schließlich der Herold zu Sir Robert blickt und dann die Trompete an die Lippen setzt, macht Sir Gabriel seine Lanze bereit. Die beiden Rösser stieben vor und wirbeln den Boden unter sich auf. Der letzte Kampf um die Hand von Enid di Caela beginnt.


Für zwei so erfahrene und vortreffliche Ritter kommt der erste Stoß zögernd, ja, ungeschickt. Androctus, den zweifellos der Ruf seines Gegners eingeschüchtert hat, macht einen großen Bogen um Sir Prosper und dessen riesigen Falben, und Sir Prosper täuscht linkisch mit der Lanze an, um eindeutig auf den Schild am rechten Arm seines Gegners zu zielen.

Normale Männer hätten sich beim ersten Stoß verausgabt, um ihren Gegner möglichst gleich mit einem glänzenden, auffälligen Treffer niederzuwerfen. Doch Sir Gabriel und Sir Prosper begegnen sich gelassen und geduldig erneut und dann ein drittes Mal. Erst beim vierten Gang trifft die Lanze auf den Schild. Die älteren, erfahreneren Ritter, einschließlich Sir Robert und Sir Ramiro, lehnen sich zurück, weil sie einen langen Nachmittag erwarten.

Selbst der älteste, gewiefteste Ritterveteran ist vom nächsten Gang überrascht. Denn es scheint, als hätte jeder die Schwäche in der Verteidigung des anderen erkannt, um sie sofort zu nutzen. Beim fünften Durchgang splittern die Lanzen, als Sir Prosper Sir Gabriels Schild von vorn erwischt. Dabei stürzt der verhüllte Ritter über die rechte Flanke von seinem Streitroß, bleibt mit dem Fuß im Steigbügel hängen und wird ein paar Schritte mitgeschleift, bis er sich befreien kann und taumelnd aufsteht.

Sir Gabriels Lanze hat ihrerseits Sir Prospers Schild getroffen und ist wie bei dem schicksalhaften Kampf mit Sir Orban hindurchgestoßen, um den Brustharnisch des heranstürmenden Ritters zu treffen. Obwohl Prosper älter ist, reagiert er schneller als sein gefallener Waffenbruder: Er wirft sich nach links, um der Lanze auszuweichen, die wie ein Komet an ihm vorbeischießt. Dennoch verliert Sir Prosper bei diesem Manöver das Gleichgewicht. Er kippt über die mittlere Absperrung und landet auf der Seite, worauf er sich unter Schmerzen erhebt, indem er sich an der Seite der Absperrung hochzieht.

Einen Augenblick lang glauben alle, daß er verloren hat. Dann, als er sieht, daß sein Gegner ebenfalls gestürzt ist, ziehen beide mit neuer Zuversicht ihr Schwert und schreiten aufeinander zu.

Zehn Fuß voreinander bleiben sie stehen. Sir Prosper greift zu seinem Schwert, das für das Turnier sorgfältig abgestumpft worden ist.

»Scharfe Waffen, Sir Gabriel?« fragt er mit angemessener, kalter Höflichkeit.

»Wenn es unser Gastgeber gestattet«, stimmt Sir Gabriel zu. »Schließlich«, verkündet er laut, »hat Sir Robert uns daran erinnert, daß dies sein Turnier ist.«

»Scharfe Waffen«, erklärt Sir Robert ohne Zögern.

»Dann soll es so sein«, spricht Sir Gabriel und streckt die Hand aus, in die der verhüllte Knappe ein mörderisch scharfes Schwert legt. Der Knappe von Sir Prosper folgt seinem Beispiel.

Langsam und wachsam umkreisen die zwei Ritter einander. Dann nähern sie sich schnell wie Schlangen und kreuzen die Klingen.

»Ich kann den Schwertern nicht einmal folgen«, flüstert Sir Ramiro Sir Robert zu und will dann noch etwas sagen.

Aber in diesem Moment trifft Gabriel mit einer kurzen Handbewegung. Sir Prosper erbebt durch einen tiefen, schweren Schnitt an der Rückseite seines rechten Beins. Es ist praktisch vorbei: Die Sehnen hinten im Knie sind durchtrennt.

»A-also, seht nur, Sir Gabriel!« schreit Sir Robert in die plötzliche Stille auf dem Platz. »Findet Ihr nicht, das reicht?«

»Das reicht?« ruft Sir Gabriel ruhig zurück. »Oh, wohl kaum.« Eine weitere kurze Bewegung von der linken Hand, und Sir Prosper sinkt auf die Knie und fällt dann vornüber. Er ist völlig gelähmt.

Doch kein Schrei von Prosper. Bei all dem Schmerz und der Aussicht auf weitere Schmerzen – und Schlimmeres – bleibt er völlig still.

»Ihr habt das Turnier gewonnen, mein Land, Enids Hand«, bittet Sir Robert. »Jetzt haltet Euer Schwert zurück.«

»Wer war mit scharfen Waffen einverstanden?« fragt Sir Gabriel. »Einmal, Sir Robert, einmal in der Geschichte Eurer Familie, haltet Euer Wort.«

Zum letztenmal zuckt das Schwert blitzschnell auf den wehrlosen Kopf von Sir Prosper von Zeriak herunter, der unbewegt nach Süden blickt, bis das Schwert trifft.


Also wird Sir Robert di Caela am nächsten Sonntag, vier Tage später, seine Tochter Enid mit ihrem Verlobten, Sir Gabriel Androctus, vermählen. Mit der Hand seiner Tochter übereignet er dann irgendwann das Land und allen Besitz der Familie di Caela. Er übergibt Kastell di Caela selbst.

11

Während all dies geschah, waren wir immer noch im Vingaard-Gebirge.

In den steilen Vorbergen wurden wir erheblich aufgehalten, weil ein starker Regen die Wege zerstörte. Agion und Bayard mußten zweimal anhalten und Bäume fällen, die sie über den beschädigten Weg legen konnten. Denn ob beschädigt oder nicht, abseits der Straße war es so steil, daß Pferde nie durchkommen würden, und die Straße war unsere einzige Möglichkeit, die Berge zu durchqueren, ohne umzukehren und das Turnier gänzlich zu versäumen. Nach zwei Tagen Holperstrecke und Trübsinnblasen kamen wir in noch höheres, felsiges Gelände. Der Morgen war grau, aber überraschend freundlich, die Sonne erhob sich verschleiert hinter den Wolken, und die Aussicht auf weniger Regen verbesserte unsere Laune. Bayard ritt unserer kleinen Gruppe pompös auf Valorus voran.

Das Pferd war gehorsam und tänzelte anmutig auf dem Pfad vor Agion her, der sich an einem Armvoll Äpfel guttat, den er gesammelt hatte. Ich saß auf seinem Rücken und führte das Packpferd am Zügel, dessen Schmollen seit dem Sumpf schwelender Wut gewichen war – seit Bayard die prunkvolle, schwere Rüstung von Solamnia wieder auf seinen Rücken gepackt hatte.

Irgendwann am Vormittag wurde die Straße ebener und es war, als hätte plötzlich eine andere Jahreszeit eingesetzt. Das Gras von Küstenlund, das noch nicht ganz herbstlich war, verblaßte zu Braun, als wir in die Ausläufer der Berge gelangten. Die fruchtbare Erde, auf der so viel langweiliges Grünzeug wuchs, wich unebenerem, felsigerem Grund.


Es wurde schon langsam Abend, und wir hatten noch immer nicht den Paß erreicht, an den sich Bayard erinnerte, als wir den Oger zum erstenmal sahen. Er war eine füllige Gestalt in voller Rüstung. Seine dicken, kräftigen Beine trugen einen Körper, der einen Umfang wie ein Vallenholzbaum hatte. Darauf saßen breite Schultern, auf denen ein überraschend kleiner Helm thronte. Seine Fangzähne waren gelblich und verdreht wie Zypressen. Seine knorrigen Füße schienen aus den metallenen Beinschienen seiner Rüstung zu wachsen, als würde er tiefe, groteske Wurzeln in die Felsen treiben. Er war mit Netz und Dreizack ausgerüstet, als käme er vom Meer. Sein Pferd sah ängstlich und unglücklich aus.

Die Luft um ihn herum schien grauschwarz zu schimmern. Es war, als würde etwas in der Rüstung in Flammen stehen. Die kahlen Zweige der struppigen Bergbäume, die den Pfad säumten, bogen sich von ihm weg, als bestände er aus Gift oder gnadenloser Kälte.

Bayard vor mir nickte und wollte einfach weiterreiten, doch das Monster stellte sich Valorus in den Weg und blieb dort stehen. Bayard grüßte und versuchte, auf der anderen Seite vorbeizukommen, doch der Oger stellte sich wieder in den Weg.

Agion rief unter mir aus: »Das Ding hat wenig Manieren, Sir Bayard. Leg Er Seine Rüstung an und bring Er ihm etwas Höflichkeit bei.«

Bayard versuchte noch einmal, an dem Wesen vorbeizureiten, und wurde wieder aufgehalten. Jetzt hörte sich Agions Vorschlag schon besser an. Bayard wendete Valorus und ritt zu dem Packpferd zurück, wo er abstieg, die Rüstung herunterzerrte und sich umzog.

»Nun, Knappe?« fragte er, wobei er von den am Boden verstreuten Metallteilen zu mir hoch sah.

»Nun, Sir?«

»Ist es nicht deine Knappenpflicht, mir hierbei zu helfen?«

Wir setzten uns vor das Monster hin und sortierten. Ich arbeitete wie verrückt, erriet, welche Schnalle wohin gehörte, welcher Riemen über welchen ging, sogar in welche Richtung das Visier zeigen mußte, als ich Bayard den Eisenhelm auf den Kopf setzte. Schließlich stand Bayard eingepackt vor mir, und ich hievte ihn wieder auf Valorus. Agion trat beiseite, denn er war zu ritterlich, um an dem Kampf teilzunehmen, der stattfinden würde, und zu blöd, um den großen Vorteil darin zu erkennen, daß man die Ritterlichkeit auch mal ablegen konnte.

Ich dachte natürlich daran, umzukehren und davonzurennen. Aber ich wußte, daß ich zu Fuß nicht weit kommen würde, und daß der große Wilde erst Bayard und dann Agion töten würde und dann mich über die felsigen Berge verfolgen würde, um meine abgeschnittenen Ohren nach Barbarenart an seine Zügel zu hängen. Wie Gileandos sagte, neigte meine Phantasie »am Rande der Katastrophe zum Überschäumen«, und jetzt schäumte sie über, durch alle Bereiche von Mord und Folter und jede Art von Verstümmelung, für die sich ein Körperteil anbot.

Bayard saß auf, zog sein Schwert und spornte Valorus zum Trab auf Sir Enormus an, der ruhig wartend dastand und mit beiden Händen seinen Dreizack hielt.

Die Katastrophe nahte schneller, als Valorus vollen Galopp anschlug und Bayard sein Schwert hob. Anstatt mit dem Dreizack anzugreifen, wich unser riesiger Feind vor Sir Bayards Ansturm zurück und schwang dann den Dreizack so beiläufig wie einen Teppichklopfer gegen die vorbeireitende Gestalt. Dabei erwischte er Bayard mit der flachen Seite der Zacken und fegte ihn rücklings auf den Felsboden, wo er still wie die Steine um ihn herum liegenblieb.

Es dauerte lange, bis sich Bayard wieder regte. Inzwischen war sein Gegner den Pfad etwas weiter hoch geritten und hatte an einer Stelle angehalten, wo der Weg enger wurde und durch eine Granitspalte führte. Dort reichte der Fels zu beiden Seiten des Weges weit über seine Schultern. Es war unmöglich, den Oger zu umgehen, so wie er da auf seinem Pferd saß und den Pfad wie ein Felsen versperrte.

Agion war sofort zu Bayard geeilt, hatte sich neben ihn gekniet – für einen Zentauren keine leichte Sache – und hatte ihn behandelt. Mit verschiedenen, stark duftenden Kräutern versuchte er, ihn wiederzubeleben.

Ich hingegen stand einfach nur da. Ich betrachtete das riesige Wesen, das da träge wie ein Gepäckstück auf seinem Pferd saß. Es bewegte sich nicht. Es drohte nur.

Aber ich hatte den Eindruck, es würde mich beobachten. Und ich war schon früher auf diese Weise beobachtet worden.

Ich hörte Bayard hinter mir husten und die Rüstung scheppern, als er auf die Beine kam.

»Was hast du da vor meiner Nase herumgewedelt, Zentaur?«

»Goldwurz. Damit kann man…«

»Ich weiß, ich weiß, den Atem rauben und den Patienten umbringen. Also, wenn du fertig bist mit deinem Mordversuch, dann könntest du vielleicht…«

Bayard brauchte einen Augenblick, bis ihm einfiel, wo er war. Plötzlich hielt er inne und sah den Pfad hoch, wo der Oger auf seinem Pferd saß und wie eine riesige Metallsperre wartete. Ich blieb, wo ich war, und hatte es nicht eilig, mich meinen Gefährten wieder anzuschließen. Aber als ich sah, wie Bayard auf dem steinigen Hang ins Stolpern kam, wie er sein Schwert zum solamnischen Gruß erhob und Agion winkte, damit der ihm wieder auf Valorus half, spürte ich so etwas wie Scham.

Scham, daß ich nicht half.

Nicht, daß mich das lange beschäftigt hätte. Schließlich konnte man zwischen diesen Ogern und Zentauren hier umkommen. Ich kauerte mich etwas abseits vom Geschehen an einen Baumstumpf und erwartete den Ausgang, immer bereit zum Davonrennen, falls sich das Blatt gegen meinen Beschützer wendete.

Hoch zu Roß wendete Bayard jetzt Valorus und schrie dem Monster, das da oben den Pfad einnahm, seine Herausforderung zu.

»Wer bist du, daß du uns so unverschämt unseren friedlichen Weg durch diese Berge verwehrst?«

Keine Antwort.

Bayard fuhr fort: »Wenn du einen Funken Anstand in dir hast, dann tritt beiseite und laß uns kampflos passieren. Aber wenn du Kampf willst, dann sollst du ihn bekommen. Mit Bayard Blitzklinge von Burg Vingaard, Ritter des Schwertes und Hüter der drei Orden von Solamnia.«

Das klang wirklich hübsch, doch der Wächter des Passes blieb, wo er war, eine düstere Gestalt vor dem dunklen Osthimmel.

Mit erhobenem Schwert griff Bayard den Oger erneut an.

Diesmal war es fast so schnell vorbei, wie es losging. Das Biest schwang beiläufig sein Netz, fing damit Bayards Schwert und warf es klirrend auf ein paar Felsen südlich des Pfades. Dann ließ es die flache Seite des Dreizacks auf Bayards Helm herunterdonnern, und wieder stürzte unser Held und blieb still auf dem Boden liegen. Der Sieger saß auf seinem Pferd und sah zu, wie Agion vorgaloppierte und Sir Bayard in die Arme nahm, um ihn mühsam den Weg hinunter aus der unmittelbaren Gefahr zu holen.

Das war eine tapfere und dumme Handlung von dem Zentauren, denn wer konnte sagen, wann der Dreizack heruntersausen würde?

Außerhalb der Reichweite des Dreizacks lief Agion zügig an mir vorbei, und ich folgte ihm sogleich, wobei ich das widerwillige Packpferd hinter mir her zerrte.

Ungefähr hundert Meter vor dem wartenden Oger hielten wir auf einer kleinen, nicht so steinigen Fläche neben der Straße an. Agion kniete sich wieder hin und hielt Bayard Goldwurz unter die Nase.

Dieses Mal funktionierte es nicht. »Ist er…«

»Nur bewußtlos«, versicherte Agion. »Sir Bayard wird wahrscheinlich einige Zeit nicht zu sich kommen.« Er blickte auf den Pfad vor uns. »Und unser Feind ist anscheinend verschwunden.«

Ich folgte seinem Blick. Tatsächlich. Der schmale Pfad war jetzt frei von Ungetümen.

»Kannst du ihn tragen, Agion? Vielleicht können wir durchschlüpfen, solange Sir Riese weg ist. Oder wir könnten zurück nach Westen, nach Küstenlund, gehen.« Der Zentaur schüttelte den Kopf.

»Vorerst bleiben wir hier, mein kleiner Freund. Der Ritter ist verletzt. Er kann nicht transportiert werden. Bis er also aufwacht… zünden wir ein Feuer an und halten Wache und halten Ausschau nach Ogern.«

Ich blickte mich um. Es war nicht gerade eine vielversprechende Landschaft. Bayard hatte uns immer höher ins Vingaard Gebirge geführt, über die Baumgrenze hinaus in ein lebensfeindliches, felsiges Land aus Stein und Eis und hartem Fels. Die Welt um uns herum war in eine unbehagliche, nachdenkliche Stille verfallen.


Der folgende Tag war wahrscheinlich der bisher schlimmste. Bayard reagierte weder auf Goldwurz, noch auf Mimseng oder Schaltkraut. Das weiß ich, weil Agion mich zwischen den Felsen nach diesen und anderen Kräutern suchen ließ. Nachdem ich das Gebiet um die Lichtung und den Pfad noch einmal so weit abgesucht hatte, wie mein Mut es zuließ, kehrte ich zu unserem Lager zurück, wo Agion über einem immer noch bewußtlosen Bayard kniete.

»Hab ich Ihm je erzählt, was Megära über Schaltkraut zu sagen hatte?« fragte Agion.

»Schau mal, Agion, ich finde nicht, daß wir jetzt – «

»›Gut für alles, was Ihn plagt, Agion‹, sagte sie immer, solange Er ein Jahr auf die Wirkung warten will.‹« Er warf das Schaltkraut gleichgültig beiseite.

»Agion – «

»Er paßt auf, ob der geheimnisvolle Oger zurückkommt. Mit den plötzlichen Wetterumschwüngen und den geheimen Eigenschaften dieser stinkenden Pflanzen habe ich genug Probleme. Was mich betrifft, so werde ich es uns für die Nacht bequem machen, denn heute sieht es nicht so aus, als würde Bayard erwachen. Also können wir nicht weiter.«Bei Anbruch der Nacht sah es noch übler aus. Die Luft wurde dünner, und die Temperatur fiel noch weiter ab. Es war, als wäre plötzlich der Winter hereingebrochen. Die Landschaft um uns herum war in das blutrote Licht der untergehenden Sonne getaucht, und unsere Schatten wurden immer länger, während die Dunkelheit aus dem Osten vor uns hochkroch. Bald kam unser einziges Licht und die einzige Wärme von der armseligen Flamme, die Agion geschickt mit den spärlichen trockenen Zweigen und Blättern entzündet hatte.

Ich zog meine verzierten Lederhandschuhe aus der Tasche – die teuren, die ich mit dem Geld der Diener gekauft und während unserer ganzen Sumpfreise versteckt gehalten hatte, um keinen Verdacht zu erregen. Es war zu kalt, als daß ich mich darum geschert hätte, was jemand von meinen Sachen dachte.

»Findest du nicht, daß Sir Bayard diese Spielchen unten in Solamnia zu ernst nimmt?« flüsterte ich Agion zu. »Schließlich setzt er nicht nur sein eigenes Leben bei dieser hirnverbrannten Reise durch die Berge aufs Spiel, auch wenn er sich schon selbst ganz gut vordrängelt.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Agion. »Steht nicht irgendwo im Kodex: ›Im Turnier heißt es Leben oder Tod‹?«

»Ich bin unter Solamniern aufgewachsen, Agion, und ich denke, ich hätte solche Dummheiten schon mitbekommen, wenn es solche Dummheiten gäbe. Leben oder Tod ist jetzt der tiefe Winter, der über uns hereinbricht. Schau ihn dir doch an.«

Bayard lag neben uns auf einer Decke und war gegen den kalten Fallwind abgeschirmt. Er zeigte keine Anzeichen, daß er erwachen wollte, obwohl es schon zwölf Stunden her war, daß er sich zum letztenmal geregt hatte.

»Was soll ich denn machen?« fauchte Agion. »Es ist nicht der beginnende Kältetod, noch nicht einmal eine beginnende Frostbeule. Was Ihn plagt, Meister Galen, ist reine Unbequemlichkeit – die Schmerzen eines Edelknaben, der sich an den Kamin hockt, wenn der erste Frost den Boden berührt. Er ist zu weich, Meister Galen, und obwohl es nicht meine Aufgabe ist, Ihm solche Dinge zu sagen, muß das mal jemand aussprechen.«

Er sah mich mit solcher Verachtung an, daß er zweifellos glaubte, ich würde auf der Stelle zerknirscht zusammenbrechen.

»Zuallererst ist Feigheit absolut unziemlich und unrühmlich für einen, der einem Ritter wie Sir Bayard dient. Aber es sind auch die kleineren Dinge – das Gejammer und Genörgel und die Sorge vor großen Strapazen und stürmischem Wetter. Er ist oft wirklich überflüssiger Ballast, denn wenn eine Kante in Seinem Sattel ist, dann findet Er sie und dazu noch das Steinchen in seinem Lager. Ich frage mich die ganze Zeit, was Er mal sagt, wenn wirklich Gefahr und echte Unannehmlichkeiten drohen. Aber ich habe schon zuviel gesagt.«

»Wenigstens darin hast du recht, Zentaur. Du redest zuviel. Vielleicht jammere und nörgele ich über das Wetter, aber guck dich doch um, Agion. Je höher wir kommen, desto kälter wird es, und ein großer, dämlicher Zentaur wird der letzte sein, der eine wirklich gefährliche Temperatur spürt.

Aber es gibt Gefahren. Uns könnten im höchsten Bereich des Passes die Vorräte ausgehen. Du kennst doch solche Geschichten – wie die Reisenden ihre Rationen verzehren, dann die Pferde und schließlich einander? Tja, wenn der Proviant verbraucht ist, kommt als erstes das Packpferd dran, dann Valorus – ich bin sicher, wir gehen nach Vertrautheit. Rate mal, wer der dritte ist, Agion. Man wartet immer bis zuletzt, ehe man jemanden der eigenen Art ißt – das ist die menschliche Natur, die Natur von allen, außer vielleicht Goblins. Überleg mal, wer hier der Außenseiter ist«, flüsterte ich, um mein Argument so bedrohlich wie möglich zu beenden. »Die Treue zur eigenen Art ist mächtig.«

So schmollten wir vor uns hin und weigerten uns, miteinander zu reden. Wir verteilten die Wachen für die Nacht, und der, der gerade nicht dran war, schlief unruhig.

Agion schnarchte dabei so laut, daß ich von Zeit zu Zeit auf meinem Wachtposten aus dem Schlaf schreckte und von Panik erfüllt war, daß ich gleich von einer Lawine oder einem Bergrutsch verschüttet werden würde, die von irgendeinem unbeachteten Gipfel auf uns hernieder brachen.

Das war alles Einbildung und Traum. Aber der Schlaf war wegen der Träume unruhig, denn alte Ängste stiegen aus dem Gedächtnis und aus der Phantasie hoch, um meinen Platz am Feuer und meine Decke zu teilen. Ich träumte, daß der Skorpion mich fand, daß Bayard alles über den Skorpion erfuhr, daß Alfrik mit dem Messer in der Hand aus dem Sumpf stieg, und daß Vater uns auf der Straße erwartete und mein Todesurteil in der Hand hielt.

Irgendwann sehr früh am Morgen – die Nacht war noch pechschwarz – schreckte ich während meiner Wache wieder aus dem Schlaf auf.

Das Glück hatte mich nicht verlassen. Ich war eingenickt, und dennoch war nichts Schlimmes geschehen. Seufzend blickte ich nach oben, wo das Buch von Gilean sich über mir kaum sichtbar am Himmel drehte und dabei immer wieder von den Wolken verdeckt wurde, die rasch von Osten nach Westen zogen. Man konnte kaum über den Bereich des Feuers hinaus sehen, kaum etwas anderes hören als sein Prasseln, das Atmen der Pferde, Agions Schnarchen und das schwache Heulen des Windes.

Aber von irgendwo da draußen im Süden – in Richtung Paß – trug mir der Wind ein Geräusch zu, das mich kerzengerade dasitzen und lauschen ließ. Doch dann hörte ich nur noch Schweigen in der Ferne; das Geräusch wiederholte sich nicht.

Eine Stunde oder so saß ich hellwach und still da und lauschte. Aber ich hörte nur das Knacken der Kiefernzweige im Feuer und das Grollen des Zentauren, den im Schlaf bestimmt keine Gedanken störten, weil sie das auch im Wachen nicht taten.

Was ich gehört hatte, waren vorüberziehende Stimmen. Und ich hätte schwören können, daß es sich so anhörte, als wenn meine Brüder einander beim Namen riefen.

Als Agion mich mit der Wache ablöste, dachte ich kurz daran, den Stimmen zu folgen.

Aber wo waren sie hin?

Wer konnte sicher sein, daß ich meine Brüder gehört hatte und nicht irgendwelche Monster?


Als Bayard am nächsten Morgen erwachte, brabbelte er etwas davon, das Schloß einzunehmen, »damit Vingaard wieder unser ist, Launfal«. Er war anscheinend hundert Meilen weit weg und dazu ein Dutzend Jahre in der Vergangenheit, so daß wir eine Weile brauchten, bis wir ihm erklärt hatten, wo er sich befand.

Er brauchte trotzdem noch eine Zeitlang, um sich wieder zu erholen. Mürrisch beschloß er, mit der Reise bis zum nächsten Tag zu warten, denn er wußte, daß er mit seinen Wunden den Ritt nicht überstehen würde.

Als der Abend kam, hatte sich Bayard einigermaßen erholt. Er entspannte sich und wurde regelrecht freundlich. Es gab immer noch kein Zeichen von dem Oger, darum kletterten er und ich auf einen gewaltigen, langsam ansteigenden Steinhaufen, der sich über dem Pfad erhob, und ließen Valorus und die Stute in Agions Obhut zurück. Bayard zeigte zum Horizont.

»Vielleicht haben sie damals in der Zeit der Träume hier nach Drachen Ausschau gehalten, als es noch Drachen gab«, murmelte Bayard.

»Wer?«

»Zwerge. Vielleicht auch Menschen. Vielleicht eine Art, die 1 älter ist als alle beide, oder eine, die aus beiden entstanden und längst vergessen ist. Wir wissen so wenig über die Zeit, in der diese Steine hierher gebracht wurden.«

Er sah mich versonnen an.

»Eigentlich«, überlegte er, »wissen wir gerade genug von unserer Vergangenheit, um uns Probleme zu machen.«

Bayard schwieg eine Zeitlang. Unter uns und im Osten fielen die Berge rasch zu Vorbergen ab, dann zu Hügelland, dann zu Ebenen, die ich selbst von unserem Aussichtspunkt aus noch sehen konnte – aus großer Entfernung und in zunehmender Dunkelheit.

So mußte dieses Land in der Zeit ausgesehen haben, die Bayard erwähnt hatte – damals in der Zeit der Träume, als Menschen gegen Elfen kämpften, als die Zwerge niemandem trauten, als alles nach Drachen Ausschau hielt. Vielleicht waren damals mehr Bäume in den Höhen gewachsen, weil sie noch nicht abgeholt und verfeuert waren. Damals gab es vielleicht sogar im Herbst mehr Vogelgezwitscher.

Während ich so nachdachte, blinkte im äußersten Osten in meinem Blickfeld ein stecknadelkopfgroßes Licht auf. Ihm folgte ein zweites, dann ein drittes, und bald war ein großer Fleck in der Dunkelheit da unten und der Osten voller schwacher Lichtpunkte. Es sah so aus, als würde man in einen Brunnen schauen, wo jemand – ein durchtriebener Junge vielleicht – ein paar Phiolen Phosphor versteckt hatte. »Solamnia«, sagte Bayard leise hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß er lächelnd an mir vorbeischaute.

»Was du am Osthorizont siehst, sind die Lichter eines Dorfes in Solamnia. Ein hübscher, kleiner Flecken auf halbem Wege zwischen diesem Paß und dem Südarm des Vingaard. Wenn die Götter es so wollen, können wir morgen abend dort sein. Und von da aus ist Kastell di Caela nur noch zwei Tage entfernt – einen Tag und eine Nacht Gewaltritt, wenn wir beherzt weiterziehen und es die Pferde schaffen. Für den Augenblick«, sagte er mit einem direkten Blick auf mich, während seine grauen Augen sich schon vor Müdigkeit trübten, »für den Augenblick haben wir wohl eine Rast verdient. Unabhängig von meinen Hoffnungen, rechtzeitig zum Turnier einzutreffen, werde ich nicht in finsterer Nacht auf felsigem Gelände das Leben meiner Gefährten riskieren.«

»Meister Bayard? Meister Galen?« rief Agion von unten, wobei erstmals ein Anflug von Furcht in seiner Stimme lag.

Er hatte Angst vor den rutschigen Felsen und dem trügerischen Geröll unter seinen großen, tolpatschigen Hufen.

Bayard ging zu einem Ausguck hinter uns, wo der Zentaur ihn sehen konnte.

»Agion, zünde ein Feuer an. Wir sind bald unten, und dann können wir alle beisammensitzen und reden und schlafen, wenn wir müde werden.«

Der große Steinhaufen erstreckte sich fast hundert Meter über das Plateau. Bayard kannte den Paß gut und ebenso das Plateau. Wenn er entschieden hatte, nicht bei Nacht zu reisen, ging es wirklich über trügerischen Boden.

Auf der windabgewandten Seite des Steinhügels war die Luft ruhig, und wir fanden ordentlich gebündelte und aufgestapelte Zweige, als ob frühere Reisende sich um unser Wohlergehen gekümmert hätten, ohne zu wissen, wer wir sein würden oder wie viel Zeit vergehen würde, bis wir in ihre Fußstapfen traten.

Agion entfachte mit einem Brennholzbündel das Feuer. Die Pferde sahen den Funken vom Feuerstein, rochen den Kiefernrauch und rückten näher heran, als das Licht von den trockenen Zweigen aufstieg. Wir saßen mit dem Rücken zu den warmen Pferden, mit dem Gesicht und den ausgestreckten Händen zum warmen Feuer. Und da hörte ich den Rest von Bayards Geschichte.

Und begriff, daß Geschichte so etwas war wie dieser Knick am Weg mit verlassenen Feuerholzbündeln – daß Dinge zurückgelassen werden, um später auf eine Weise benutzt zu werden, wie die, die diese Dinge dort gelassen haben, es sich vielleicht nie hätten träumen lassen.

Bayard hatte recht mit unserer Vergangenheit, die sich oft nur so weit zeigt, daß sie uns Probleme macht.

»Also gab es schon Blitzklinges, als diese di Caela Geschichte losging«, fing ich an, als die Wärme sich auf meiner Haut ausgebreitet hatte und der Zwieback – fast das letzte von dem Proviant, den wir aus der Wasserburg mitgebracht hatten – meinen Magen füllte. »Aber was machen die Blitzklinges heute in dieser Geschichte?«

Bayard schürte das Feuer.

»Was macht der Blitzklinge. Weißt du, Galen, ich bin der letzte aus der Familie, und hierin liegt das Ende der Geschichte.

Denn die Geschichte der Blitzklinges kreuzt sich zweimal mit der der di Caelas – am Anfang und am Ende. Es ist nämlich ein Blitzklinge, der den Fluch der di Caelas aufheben soll.

Sag bloß, ich habe vergessen, die Prophezeiung zu erwähnen, die unsere Geschichten verbindet?«

Er warf mir einen unschuldig besorgten Blick zu.

»Ja, Bayard, ich fürchte, Ihr habt vergessen, das zu erwähnen. Nachdem Ihr mich durch einen Sumpf geschleift habt, der mich ums Haar komplett verschlungen hätte, dann an einem Ungetüm von Oger vorbei, der uns beinahe alle zu Kleinholz verarbeitet hätte, dann durch das kälteste Wetter, das ich je erlebt hab, kann ich verstehen, warum Ihr vielleicht zu erwähnen vergessen habt, daß es wirklich einen Grund für all das gibt, und daß wir etwas gegen diesen Fluch machen sollen.«

»Beruhige dich, Galen«, bat Bayard, wobei er vom Feuer aufstand und langsam auf mich zukam.

»Hör dir den Rest meiner Geschichte an. Es ist der Anfang vom Ende der Linie von Benedikt di Caela oder von diesem Benedikt selbst, falls er – wie manche Legenden behaupten – vierhundert Jahre alt ist und immer wiederkehrt. Es ist der Anfang seines Endes, oder seines endgültigen Sieges.

Denn ich habe mir die Prophezeiung Wort für Wort eingeprägt, als ich sie in der Großen Bibliothek von Palanthas fand, als es außer Lesen und Warten und der Hoffnung auf Weisheit wenig zu tun gab. Wie es oft so ist, entdeckte ich das Buch per Zufall. Ich schlug einfach mal das dritte Kapitel auf und las zunächst flüchtig darin herum. Meine Aufmerksamkeit wuchs, als der Name Blitzklinge im Text vorkam, und ich habe Hunderte von Seiten gelesen, um diesen Namen wiederzufinden. Dann stand am Ende des Kapitels etwas an den Rand gekritzelt, das offenbar eine Bedeutung für mich hatte.

Und Sohn auf Sohn bringt dieser Fluch

Dem Hause di Caela Leid,

Doch niemals kommt es schlimm genug,

Bis alles fällt an eine Maid.

Erst wenn am finstersten Wegesstück

Die blitzende Klinge die Braut erreicht,

Kehr’n Generationen vom Gras zurück,

Auf daß der Fluch nun endlich weicht.«

»Ziemlich wortreicher Hokuspokus, wenn Ihr mich fragt«, bemerkte ich. Wir hatten schweigend dem Nachtwind zugehört, der über das Plateau fegte. »Der erste Teil ist relativ eindeutig, und das Erbe der di Caela fällt… an eine Frau?«

Bayard nickte.

»Und dann muß ich zugeben, daß ›blitzende Klinge‹ zweifellos kein Zufall ist. Aber danach ist es zu verworren und unverständlich und sowieso schlecht gereimt. Habt Ihr eine andere Auslegungsmöglichkeit gefunden?«

»Absolut nicht, Galen. Jedesmal, wenn ich es lese, ergibt es dieselbe Bedeutung. Was, wie ich zugebe, für eine Prophezeiung ungewöhnlich ist.«

Der Wind heulte lauter, und Bayard rutschte näher ans Feuer und betrachtete mich ruhig über den zuckenden Flammen.

»Es kommt mir auch so vor, daß jemand, der in den zukünftigen Chroniken – ob in Soths prophetischen Gedichten oder in der Geschichte von Astinus von Palanthas oder in einem einfacheren Werk wie dem, das ich in der Großen Bibliothek entdeckt habe, seinen Namen findet und weiß, daß er eine Rolle in der Geschichte zu spielen hat – daß der diese Rolle übernimmt und darauf vertraut, daß diese Rolle etwas Gutes bewirken wird, weil er die besten Absichten hat.«

»Aber, Meister Bayard, was ist, wenn seine Rolle trotz seines guten Herzens und aller guter Absichten katastrophal ausfällt?« fragte Agion und legte mir dabei einen Umhang über die Schultern.

Der Zentaur wurde noch ein richtiger Philosoph. »Oder was ist, Sir, wenn Ihr wirklich eine gute Rolle habt, aber dabei zwei ebenso wohlmeinende Gefährten vernichtet, bloß weil Ihr Euren Platz in der Geschichte einnehmen wollt?«

Bayard lehnte den Kopf an Granit und Kalkstein. Er schloß die Augen. Der Wind sang sein verlorenes Lied rund um unser Lager. Außerhalb dieses Kreises aus Feuer und Stein war feindselige Nacht. Es war ungefähr so, wie ich es mir auf dem weißen Mond Solinari vorstellte, der angeblich einen guten Einfluß auf den Planeten ausübt, aber auf der Oberfläche kalt und rauh und lebensfeindlich ist.

»Glaubt ihr nicht, ich hätte mir solche Dinge auch überlegt?« fragte Bayard schließlich, und ein verlorener Ausdruck zog über sein Gesicht. Er wirkte jetzt doppelt so alt wie er war, und das bestürzte mich.

»Aber letztlich«, fuhr er fort, und der schmerzerfüllte Ausdruck ließ nach, »hilft es nichts, an solche Dinge zu denken, so lange sie nicht geschehen sind, und schon gar nicht«, er zeigte nach draußen, »an einem so traurigen Ort. Keine Sorge«, versicherte er leise, »ich werde euch nicht wegen persönlicher Vorteile oder aus Ehrgeiz in Gefahr bringen.«

Agion nickte und rückte näher ans Feuer.

Ich war weniger überzeugt.

»Was sagt denn Sir Robert di Caela zu der ganzen Sache?«

»Sir Robert di Caela«, antwortete Bayard zögernd, »weiß vielleicht gar nichts von dieser Sache, wie du es ausdrückst.«

»Weiß nichts von einer Prophezeiung, die seine Familie betrifft?«

»Eine Prophezeiung unbekannter Herkunft, Galen«, stellte Bayard richtig. »Die noch nicht einmal von einem Historiker stammt, sondern von jemandem an den Rand einer alten Geschichte gekritzelt wurde – mit anderer Handschrift und anderer Tinte.«

»Wie auch immer. Ihr wollt mir weismachen, daß Ihr der einzige seid, der dieses… dieses Orakel kennt, Sir?«

»Das könnte sein. Es stand weit hinten in der Großen Bibliothek. Ich bin zufällig darauf gestoßen – oder vielleicht nicht zufällig, sondern durch eine merkwürdige Vorsehung, wie ich lieber glauben möchte. Das Manuskript war fahrig und unordentlich geschrieben, so daß selbst die jungen, scharfen Augen, die ich damals besaß, Schwierigkeiten beim Lesen hatten. Ich nehme an, es war das Original, und es wird niemals von den Schreibern kopiert worden sein. Doch die Hand, die die Prophezeiung geschrieben hatte, war sicher und flüssig.«

»Aber ich könnte ein ganzes Buch voll Prophezeiungen schreiben, Sir, und mir die Zukunft mit Hilfe meiner ganzen Phantasie ausmalen, oder diese Würfel benutzen, mit denen ich eine Zukunft vorhersage, die Ihr als Schwindel bezeichnen würdet. Wer kann sagen, daß Euer Weiser ein echter Seher war? Daß er nicht ein Scharlatan war, der Kleinodien verkauft und einem zu Wucherpreisen Öl andreht, das angeblich das Augenlicht wiederherstellt, wenn man es sich auf die betroffene Braue reibt? Und in Wirklichkeit sind die Perlen aus Glas, und das Öl ist verwässertes Patschuli. Und was in dem Buch steht, könnte zur gleichen Kategorie von Wundern gehören.«

Bayard nickte ernst.

»Daran habe ich auch gedacht, Galen«, bestätigte er mit gerunzelter Stirn.

»Alles, was ich sage«, erklärte er dann, »ist, daß es Zufälle gibt, die keine Zufälle sind, die allem zugrunde liegen, was wir tun, und aus denen Geschichte entsteht. Es war Zufall, daß ich das Buch von Vinas Solamnus fand, aber es war kein blinder Zufall. Es war eine Möglichkeit, die in einem großen Plan stattfand, den ich damals noch nicht erkannte.«

»Wie der Wurf von zwei roten Würfeln«, beharrte ich stur. Bayard starrte mich lange an, setzte zum Sprechen an und schwieg dann doch wieder. Das Packpferd hinter mir stampfte auf die harte Erde, und Valorus wieherte, als ob jemand hinter der Wärme unseres Feuers lachte und tanzte.

»Im Augenblick«, beschloß Bayard, der sich in seine Decke wickelte und dessen Atem zu sehen war, obwohl er nur zehn Fuß oder so vom Feuer entfernt stand, »im Augenblick sollten wir uns lieber nicht über solche Dinge aufregen, sondern lieber schlafen.«Der Oger kehrte gegen Mitternacht zurück, wie Bayard es vorausgesehen hatte. Das vorherige Handgemenge hatte dem grobschlächtigen Kerl nichts ausgemacht, und er legte es offenbar schon wieder auf Ärger an.

Bayard hingegen war immer noch in einem schrecklichen Zustand. Trotzdem erhob er sich langsam – vorsichtig, fand ich – und grüßte seinen enormen Gegner mit dem altehrwürdigen Gruß von Solamnia. Das Schwert in der rechten Hand und den Dolch in der linken, stand er am Feuer, sah den dunklen Koloß auf dem Pferd an und verschränkte demonstrativ die Arme.

Nun, der dunkle Koloß machte keinerlei Anstalten zu antworten. Ich bezweifle, daß er aus einer gewissen Ehrfurcht vor solamnischen Bräuchen schwieg oder überhaupt irgendwelche Ehrfurcht hatte. Nein, er saß wahrscheinlich da und freute sich darauf, daß dieser kleine Kerl in seiner Rüstung wieder in die Reichweite seines Dreizacks reiten würde.

Agion und ich liefen Bayard nach, bevor er auf den Oger zuritt, und versuchten beide, ihn vom Kampf gegen Windmühlenflügel abzuhalten.

»Ihr seid nicht dazu verpflichtet, gegen diesen Burschen anzutreten, Sir Bayard«, drängte ich. »Soll er uns doch den Pfad hinunterjagen, und unten stellen wir ihm eine Falle.«

Das hörte sich vernünftig an, fand ich. Bayard jedoch zog eine Schnalle an seinen Beinschienen fester und drehte mir den Rücken zu.

»Aber wenn Er darauf besteht«, fügte Agion hinzu, »daß unser Weg über dieses Monster da führen muß, dann bedenke Er, daß es auch unsere Straße ist – meine und Galens –, nicht allein die Seine.« Er starrte den Oger an, um seinen Gegner einzuschätzen. »Und daß der Kampf vor uns ebenso unser Kampf ist wie Seiner.«

»Aber ich denke, wir müssen es jetzt zu Ende bringen«, warf ich geschwind ein und warf dabei Agion einen Blick aus reinem, blitzenden Haß zu, »und ich muß Euch wohl dringend an Eure eigenen Worte erinnern, daß ›dies ein Kampf zwischen Ritter und Gegner‹ ist. So gern Agion und ich auch helfen würden, wir können es wirklich nicht tun, ohne praktisch all Eure Prinzipien zunichte zu machen. Und damit wärt Ihr ja sozusagen der Ritterschaft von Solamnia unwürdig.«

»Und deshalb kann ich auch nicht auf eine List zurückgreifen, Galen.«

»Ich verstehe, Sir«, behauptete ich.

Diesmal ging es anders los. Valorus, der sich zweifellos an die Begegnung vor zwei Tagen erinnerte, war nicht nur unruhig, sondern tänzelte aufgeregt herum, weil er offenbar von ungleichen Kämpfen genug hatte. Obwohl Bayard so müde und wund wirkte, beruhigte er den großen Hengst mit einem einzigen Klopfen seiner Hand und drehte sich dann zu uns um.

Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht der eines Verurteilten. Müde, ja, und bestimmt etwas Angst dabei, aber unter der Müdigkeit und der Angst lag eine Zuversicht, die ich zuvor nie bemerkt hatte. Die ich mir nie vorgestellt hatte.

»Wenn ich ihn eine Weile beschäftigen kann, nur diese Nacht, Galen, dann werde ich ihn besiegen«, flüsterte Bayard. »Da bin ich mir sicher.«

»Denn es gibt bestimmt einen Grund, weshalb er nur nachts kämpft. Ich wette, es ist ein so einfacher Grund wie die in den alten Legenden: Daß er bei Tag nicht kämpfen kann, weil das Sonnenlicht ihn schwächt und lähmt. Wesen der Finsternis sind oft so. Denk an die Vettern der Oger, die Goblins und Trolle, wie sie vor dem gesunden Sonnenlicht zurückschrecken.«

Bayard lenkte Valorus zum Kampf, warf einen letzten Blick über die Schulter und lächelte, als er das Visier seines Helms schloß.

»Den Fuchs spielen, Junge! Den Fuchs spielen!« rief er, als Valorus zu traben begann und dann, weil er wieder von einer zuversichtlichen, sicheren Hand gelenkt wurde, losgaloppierte. Genau auf die turmhohe, dunkle Gestalt des Ogers zwischen den Felsen zu, was für ein gefährliches Spiel.

Ich kletterte auf einen kleinen Vorsprung in der Nähe der Straße, von wo ich die Ereignisse beobachten konnte.

Als Bayard sich dem berittenen Oger näherte, blickte ich zum klaren, kühlen Herbsthimmel hoch. Die unzähligen, spiralenförmigen Sterne aus der Konstellation von Mishakal, Göttin der Heilkunst und des Wissens, flackerten über mir, und wenn ich ein Sterndeuter gewesen wäre, hätte mir dieses Zeichen Mut verliehen.

Statt dessen sah ich dort im Licht der zwei Monde und im schwachen Schein von Agions hundert Fuß entferntem Feuer die Calantina.

Zeichen des Mungos.

Ich wußte von den Schlangentänzen im hintersten Estwilde, wo ganz zum Schluß der Mungo gebracht wird, und wo er zur Musik der Flöte und der Trommeln mit nichts als seiner Schnelligkeit, seinem Verstand und seinen scharfen Zähnen gegen das tödliche Reptil antritt. Und ich schöpfte etwas Hoffnung, daß Bayards Version der Ereignisse irgendwie stimmen würde, daß wir in einer Geschichte steckten, wo die Sonne aufging, der Oger einen furchtbaren Schrei ausstieß, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, und sich dann vor unseren Augen in Rauch auflöste oder dahinschmolz.

Bis ich meinen Posten eingenommen hatte, hatte Bayard dort, wo die Felsen vom Weg zurückwichen, etwa fünfzehn Meter vor dem Oger, angehalten – knapp sieben Meter außerhalb der Reichweite von Netz und Dreizack. Hier konnte er noch ausweichen.

Bayard blieb, wo er war – starrte regungslos seinen Feind an. Der Oger antwortete auf die gleiche Weise, wobei eine dunkle Wolke praktisch aus dem Erdboden zu kommen schien und sein Pferd bedeckte, bis es aussah, als säße er auf dem Rücken einer Gewitterwolke. Die beiden Widersacher saßen so still, daß ein Kaninchen leise aus den Felsen an der Straße hoppelte, zwischen ihnen Männchen machte und dann ohne Eile davonsprang, ohne zu bemerken, daß es mitten durch ein Gebiet gelaufen war, wo jederzeit ein blutiger Schwertkampf losbrechen konnte. So still war es.

Als das Kaninchen vorbei war und der Pfad wieder eine Weile still dagelegen hatte, gab es eine winzige Bewegung. Aber nicht von Bayard.

Die Hand des Ogers glitt langsam über den Dreizack. Er sah Bayard direkt in die Augen, und plötzlich flatterte Bayards Mantel wie ein Banner, als ein eisiger Windstoß es ihm von den Schultern riß, so daß es wie ein riesiger, ungeschickter Vogel hinter ihm den Weg hinab segelte.

Bayard bewegte sich noch immer nicht. Es kam einem vor, als wäre er ein Teil der Landschaft geworden. Vielleicht hatte er in die schrecklichen Augen des Ogers gesehen und sich in Stein verwandelt.

Langsam wurde der Dreizack erhoben, »angelegt«, wie es bei den Solamniern hieß. Wie bei einer Lanze zeigten seine drei häßlichen Zähne genau auf Bayards Herz.

Bayard bewegte sich noch immer nicht. Valorus zuckte nervös und schnaubte, doch Bayards feste Hand beruhigte ihn.

Noch einmal blieben sie lange Zeit reglos stehen. Agion kam zu mir auf das Plateau und legte mir die Hand auf die Schulter.

Sein fester Griff hielt mich fast so auf der Stelle fest wie die beiden Kämpfer, denen wir zusahen.

Ein Rabe landete auf der Schulter des Ogers. Eine Minute lang wirkte er komisch, wie ein riesiger, ungelenker Zauberer auf einem Gemälde. Dann duckte sich der Rabe, hob aufmerksam den Kopf und flog davon.

Ich bekam düstere Ahnungen.

Dann ging es los. Valorus stürmte vor, und höchstens zehn Fuß vor seinem wartenden Feind lenkte Bayard das große Tier in eine schliddernde, laute Kehre zur linken Seite des Ogers.

Der war darauf nicht gefaßt. Er hatte seinen Dreizack wie zuvor erhoben, wie eine Keule oder einen Knüppel, und wollte alles bewußtlos schlagen, was rechts an ihm vorbei wollte.

Bevor der große Kerl reagieren konnte, war Bayard bei ihm und ließ sein Schwert in einem blitzschnellen Schlag heruntersausen, der jeden außer einem Monster den Arm gekostet hätte. Doch als Bayard zum Angriff überging, ließ der Oger den Dreizack fallen und warf ihm das Netz ins Gesicht, wobei er das niedersausende Schwert erwischte. So schnitt es zwar mitten durch das Netz, doch dieses Schneiden bremste es etwas, so daß der Feind den Schlag, als dieser ihn schließlich erreichte, mit dem schwer gepanzerten Unterarm abwehren konnte.

Der Klang von Metall auf Metall war anders, nicht so wie das Geschepper, das man auf Turnierplätzen hörte. Statt dessen klang die Ogerrüstung klar und hallend nach, wie eine riesige Turmglocke, die selbst die Vögel in der Luft erschreckte, und ich fragte mich, wo ich dieses Geräusch schon einmal gehört hatte.

Die Wolke unter dem Oger verfestigte sich und wurde wieder zu einem Pferd, das sich bewegte. Die Augen des Pferdes glühten rot. Es schüttelte seine verfilzte, schwarze Mähne.

Sofort ging der Vorteil wieder an den Feind, denn Bayard taumelte auf Valorus, halb im Netz verfangen und aus dem Gleichgewicht gebracht, während das Monster versuchte, ihn herunterzuziehen und zugleich nach einem Dolch langte.

Es war nicht besonders klug, was ich jetzt tat, aber ich mußte es einfach tun.

Als die beiden an dem Netz hin und her zerrten und Bayard im Sattel weiter und weiter nach vorn gezogen wurde, bis er unausweichlich herunterkippen und sein Leben verlieren würde, riß ich mich von Agion los, hob einen faustgroßen Stein auf und schleuderte ihn auf den Oger, der mir den Rücken zukehrte und deshalb weder mich, noch den Stein, noch irgend etwas anderes kommen sehen konnte.

Es hatte mal eine Zeit gegeben – und das war gar nicht so lange her –, wo ich ganz gut mit Steinen gewesen war. Ich hatte mich an Nagetieren und Hunden, Dienern und Brüdern geübt. Kurz gesagt, ein Stein in meiner Hand hatte jedem größeren Lebewesen in der Wasserburg gesunden Respekt eingeflößt.

Diese Zeiten waren offenbar vorbei, denn der Stein flog harmlos über die Köpfe der beiden Gestalten zu Pferd hinweg und polterte hinter ihnen in der Finsternis zu Boden.

Ich nahm einen weiteren Stein. Schließlich hatte ich nichts Besseres zu tun, und inzwischen hielt sich Bayard nur noch mit Hilfe von Knauf und Steigbügeln im Sattel.

Natürlich ging der Wurf wieder daneben. Steinewerfen ist vor allem eine Sache des Selbstvertrauens, und das hatte ich jetzt verloren. Und Bayard, der gegen einen starken Gegner kämpfte, der ihn eindeutig überwältigen würde, schaffte es immer noch, seines zu behalten. Er hielt sich im Sattel, als der Oger sein Pferd zurücktrieb und am Netz zerrte. Und knurrte. Der Laut klang, als käme er irgendwo aus tiefem Wasser, oder als hätte ein seltsames, schreckliches Tier am Grunde eines Brunnens eine Halsverletzung und würde da unten in seinem eigenen Blut ertrinken. Der Schrei kam von weitem, war tief und blubbernd.

Blinde Panik hilft nicht beim Steinewerfen. Mein dritter und vierter Wurf gingen weit daneben, und ich sah mit wachsender Furcht zu, wie Bayard das bißchen Gleichgewicht verlor, das er noch hatte, wie er sich allmählich zum Feind hin neigte, der jetzt mit dem Messer in der Hand dasaß und meinen Beschützer in Reichweite zog.

Was bestimmt bald soweit gewesen wäre, hätte der Zufall nicht eingegriffen. Ich schaffte doch noch einen Treffer mit einem Stein.

Mein siebter Wurf überschlug sich immer wieder wie ein Dolch und landete kräftig auf dem Pferd des Ogers.

Das Ereignis brachte sie um ein Haar beide um. Und zwar auch die Pferde, denn das Pferd des Ogers sprang rückwärts, wieherte und bäumte sich auf, wodurch es die Seile des Netzes zwischen seinem Reiter und Bayard straff zog.

Zum Glück war Bayard nicht zu angeschlagen, um rasch und klar zu denken. Die straffen Seile bedeuteten einen Vorteil beim Durchschneiden, und so begann er augenblicklich mit seinem Breitschwert vier, fünf, sechs Stränge von dem Netz zu durchtrennen, so daß er sich endlich befreien konnte. Er zügelte Valorus, der ausgerutscht war, taumelte und um ein Haar gegen die Granitwand geprallt wäre, die an der Straße aufragte.

Als würden sie einem stummem Befehl folgen, stiegen beide Gegner ab. Unser Feind schritt zu dem Platz, wo er seinen Dreizack verloren hatte, hob die Waffe auf und drehte sich mit einem seiner erschreckenden Knurrlaute zu Bayard um.

Mittlerweile hatte Bayard sein Gleichgewicht wiedergefunden und hatte auch einen sicheren Stand und Platz zum Ausweichen. Den ersten Stoß des Dreizacks parierte er geschickt und problemlos und vergolt ihn mit einem glatten Abwärtsschlag und einem Schritt zur Seite.

Der Dreizack schoß harmlos an ihm vorbei, traf auf Granit und bohrte sich gut sechs Fingerbreit in den harten Stein, bevor der Oger die Richtung änderte und dabei den Dreizack so beiläufig herauszog wie eine Mistgabel aus dem Heu. Bayard tänzelte um den Feind herum, der seinen Bewegungen rasch und wild wie ein in die Enge getriebener Dachs folgte.

Ich setzte mich auf einen Steinhang über ihnen. Von hier aus konnte ich nur Beleidigungen brüllen, aber keine Steine schleudern. Denn sie waren zu nah beieinander, und bei meiner Treffsicherheit und meinem Glück hätte ich zu leicht Bayard treffen können.

Also setzte ich mich. Im Mondlicht konnte ich sehen, wie sich Agion wachsam neben mir herunterbeugte. Das Feuer war hinter ihm. Über uns gingen die beiden Monde auf und badeten die nackten Felsen, die Kiefern, die Espen, den Wacholder und die beiden Gegner in silbernem und rotem Licht. Die Kämpfer umkreisten sich. Gelegentlich stolperte einer oder wich gegen eine Felswand zurück, aber sie umkreisten sich weiter aufmerksam und mit schlagbereiten Waffen. Das würde eine lange Nacht werden. Ich muß zugeben, daß der Kampf mich nach einer Stunde Tänzeln und Antäuschen und Beinahe-Treffern nicht mehr interessierte, obwohl doch Bayards Leben auf dem Spiel stand und meines höchstwahrscheinlich von seinem abhing. Bayard war zweimal gestürzt; einmal hatte er seine Waffe verloren. Jedesmal hatte er jedoch schnell seinen Stand und seine Waffe wiedergefunden, und einmal hatte er es geschafft, den großen Kerl für eine oder zwei Minuten in die Enge zu treiben.

Schließlich legte ich mich hin und beobachtete wieder den Himmel. Bis auf das Metallgeklirr, die Schreie, die Rufe und das Knurren der beiden Zweikämpfer war die Nacht still. Alles in allem war doch ziemlich klar, wie die Sache hier ausgehen würde. Mal abgesehen von einem möglichen, plötzlichen Glückstreffer durch Bayard oder einem so unglaublich dummen Fehler des Ogers, daß man noch viele Generationen lang davon erzählen würde, würde der Kampf vorbei sein, wenn der Größere schließlich den Kleineren überwand.

Außer, natürlich, wenn Bayard mit dem Sonnenlicht recht behielt.

Nichtsdestotrotz würde es eine Nacht der Abwehr und der Verzögerung sein.

Bis zum Morgen blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten.


Nun, vielleicht hatte der Oger seine Gründe gehabt, warum er letzte Nacht nicht dagewesen war. Vielleicht hatte er jemand anders geärgert; vielleicht hatte er jagen müssen oder mußte noch andere Pässe bewachen, wo er tagsüber hinging; vielleicht war er dem Ruf der Natur gefolgt, was in voller Plattenrüstung eine ewig lange Prozedur sein kann.

Auf jeden Fall stellte sich heraus, daß seine Abwesenheit nichts mit Sonnenlicht zu tun hatte, wie wir merkten, als die Sonne aufging und er Bayard fröhlich mehrere Male gegen die Granitklippen am Weg warf.

So viel also zu den Prophezeiungen von Rittern, zu Sternen und Würfeln.

»A-aber…«, wollte Bayard ansetzen, um dem großen Kerl zu erklären, daß er doch in Flammen aufgehen oder zu Staub zerfallen sollte. Ein weiterer Stoß kürzte den Streit ab. Bayard rutschte an der Klippenwand herunter. Der Oger setzte ihm mit erhobenem Dreizack nach.

In diesem Moment griff Agion in den Kampf ein. Der große Zentaur hatte sich nur noch mühsam zurückgehalten, seit die Sonne aufgegangen war und zunehmend klar wurde, daß Bayards märchenhafte Lösung für unser Problem wirklich ein Märchen war. Die Stärke des Ogers wuchs eher noch, und Bayard wurde schwächer.

Jetzt, wo mein Beschützer in seiner Rüstung wie eine gefangene Schildkröte herumrollte und der Oger sich über ihm aufbaute, stürmte Agion auf die beiden zu, wobei seine großen Hufe gefährlich über das lose Geröll auf dem Weg rutschten. Er schwang seine Keule über dem Kopf, und sein zerzaustes Haar flatterte wie ein Schal im Wind.

Der Oger schreckte hoch, als hätte man ihn aus dem Schlaf gerissen. Schnell wendete er sich dem Zentauren zu, der mit seltsamer, traumhafter Geschwindigkeit rasch die Entfernung zwischen ihnen überwand. Bayard kam auf die Beine, taumelte in seiner schweren Rüstung einen Moment und wollte sein Schwert vom Boden aufheben.

Da drehte sich der Oger mit einem schnellen, kräftigen Schwung des Dreizacks zu Bayard um. Mein Beschützer duckte sich, und das war gut so. Die Zinken des Dreizacks pfiffen eine tödliche Melodie, als sie über seinem Kopf durch die Luft sausten.

Agion stürmte auf den Oger zu. Der Aufprall ließ die Felsen um uns herum erbeben, und die beiden riesigen Wesen rutschten in einem Wirrwarr von Armen, Beinen und Waffen über den steinigen Pfad. Bayard stürmte mit erhobenem Schwert auf sie zu.

Der Oger stieß Agion weg, kroch auf Händen und Knien auf seinen Dreizack zu und erreichte ihn gerade, als Bayard sich bückte, um Agion aufzuhelfen. Mit einem tiefen, trockenen Schrei schleuderte das Monster die Waffe auf den Ritter.

Der nicht hinsah.

Ich brüllte eine Warnung, aber es war zu spät. Bayard sah von dem aufstehenden Zentauren hoch, sah die Waffe auf sich zufliegen. Es blieb keine Zeit mehr zu denken und auszuweichen. Der Ritter stand da wie vom Donner gerührt.

Bis heute frage ich mich, wie Agion sich so rasch und so geschickt in dieser schrecklichen, endlosen Stille bewegen konnte, die sich auszubreiten scheint, wenn etwas Furchtbares passieren wird. Schneller, als ich gucken konnte, stellte sich der Zentaur hin – zwischen Bayard und die fliegende Waffe.

Bei den Göttern, die Zacken gingen tief. Alle drei durchbohrten diese große, dumme Brust, senkten sich rasch hinein.

Brachten das große, schlichte Herz zum Stillstand.

Agion stürzte zum Klang von kullernden Steinen mit einem Stoßseufzer zu Boden.

Jetzt war die Reihe am Oger, überrascht zu sein. Selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, wie seine Augen sich vernebelten. Das Biest sah sich dämlich um, als hätte es vergessen, wo es war, und es sah sich immer noch um, als ein wutschnaubender Bayard auf es einstürmte. Ein schneller Schwerthieb brachte Stille. Der Ogerkopf fiel zwischen knackende Zweige. Weitere Zweige knackten, als Bayard sich schweigend neben Agion niederkniete. Ich rannte zu meinem Beschützer.

Dann begann der Ogerkopf, der sich mit seinem verfilzten Haar in den Zweigen verfangen hatte, zu sprechen.

Er sprach mit einer tiefen, honigsüßen Stimme, die ich inzwischen gut kannte, denn war das nicht der Skorpion?

Ich konnte den abgeschlagenen Kopf nicht ansehen, jedoch nicht aus Angst oder Abscheu. Ich konnte meine Augen einfach nicht von Agion abwenden.

Aber ich konnte das Ding reden hören. Oh, ja, ich konnte es hören, als es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so kalt und bedrohlich und teilnahmslos durchging, daß es dabei mein Herz wie mit einem Dreizack durchbohrte. Ich erinnere mich an jedes einzelne Wort.

»Hier verlasse ich dich, Bayard Blitzklinge. Und mögest du die Straße ins Herz von Solamnia… so frei finden, wie du magst. Ich wünsche dir eine sichere Reise und Vogelgezwitscher auf dem Weg. Denn mein Teil ist getan. Was heute geschah, hat sichergestellt, daß du nicht mehr am Turnier in Kastell di Caela teilnehmen wirst.«

»Wir haben noch Zeit!« protestierte Bayard, der einen unsicheren Schritt auf den sprechenden Kopf zu machte.

»Möglich. Wenn du deinen großen Freund den Aasfressern überläßt. Den Geiern und Raubvögeln. Aber das Turnier wird bald zu Ende sein. Sir Robert di Caela wird einen Erben haben und Lady Enid einen Mann. Und das alles ist mein Tun, denn meine Macht reicht weit. Gib nicht den Satyren im Sumpf die Schuld, obwohl deren einfache Bedrohung dich vielleicht eine Nacht aufgehalten hat; auch nicht deinem verräterischen Knappen, der kein wahrer Meister der Verzögerung ist…«

Ich konnte nicht aufblicken.

»Auch nicht diesem Oger hier, Sir Bayard, von dessen längst toten Lippen ich hier die Zukunft vorhersage. Nein, wenn es einen Schuldigen gibt, dann ist das deine mangelnde Entschlußkraft und deine Lust am Zögern. Nenn es, wie du willst. Aber denk dran: Ich bin diese Verzögerung.«

Bayard stürzte sich auf den Prahlhans in den Zweigen. Mit einem kräftigen Fußtritt ließ er den Kopf in das Unterholz abseits des Weges kullern.

Ich sah zu Agion zurück. Der noch jünger wirkte als zuvor. Warum auch, nach Rechnung der Zentauren war er nicht älter als ich.

Ich sah Bayard in die Augen. Wo wirklich nichts als Schmerz stand. Ein Schmerz jenseits von Wut, jenseits von Tränen.

»›Verräterischer Knappe‹?« fragte er. Dann kniete er sich neben Agion nieder.

Eine Stunde lang hockte er schweigend da, ohne mich zu beachten. Einmal, als ich nach seinem Arm griff, um ihn aus der Erstarrung zu schütteln, in die er gefallen war, schüttelte er meine Hand ab, als hätte ich ihm einen Skorpion auf die Schulter gesetzt.

Keine zwanzig Fuß entfernt dampfte der Ogerkopf und besudelte den Boden, auf dem er lag.


Nach einer Schweigestunde stand Bayard auf und wandte sich an Agion.

»Es tut mir leid, Agion. Furchtbar leid. Morgen werde ich meinen Weg zum Kastell di Caela fortsetzen, und wenn wir dorthin kommen, werde ich tun, was ich tun muß. Danach werde ich in den Sumpf von Küstenlund zurückkehren, um dort Archala und den Ältesten Rede und Antwort zu stehen, so gut ich kann. Aber jetzt muß ich ein bißchen schlafen. Halte solange Wache, guter Zentaur, sei so gut. Halte ein letztes Mal Wache.«

Dann drehte er sich zu mir um, starrte über meinen Kopf hinweg, als würde er nach Sternen Ausschau halten (obwohl es noch nicht einmal Mittag war), und als säße ich fern von dieser Zeit und diesem Land zusammengekauert auf den kalten Stufen eines Hauses.

»Mach, was du willst, Wiesel«, sagte er. »Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Ich brauche dich nicht.«

12

Am nächsten Tag brachen wir das Lager ab und begaben uns mit dem Pferd des Ogers – wieder auf den schmalen Paßpfad. Unser Abstieg durch die Berge ging durch steile Hohlwege, wo die Pflanzen in der vorherigen Nacht überfroren waren. Die toten Zweige glitzerten vom Eis und vom Licht der aufgehenden Sonne. Bayard ritt ganz in Gedanken vorweg.

Egal wie schön die Zweige waren, sie waren tot. Und Bilder von Tod und Verlust stachen heute morgen schnell ins Auge, denn den gesamten vorherigen Tag und Abend hatten wir mit dem langen, traurigen Ritual von Agions Begräbnis verbracht.

Die Zeit nach Bayards Schlaf war scheußlich gewesen. Unter Tränen hatten wir den Körper des Zentauren gesäubert und nach einem Platz für das Begräbnis gesucht. Doch wir waren in den Bergen, und deren Boden war felsig – zu hart zum Graben.

Wir waren gezwungen, Agion dort liegen zu lassen, wo er gefallen war – wo er den scharfen Stahl empfangen hatte, der für Sir Bayard bestimmt gewesen war. So schichteten wir Steine über die reglose Gestalt unseres Gefährten, bis sich bei Sonnenuntergang ein großer Steinhügel über dem Körper erhob.

Bayard stand in Tunika und mit langem, staubigem Haar vor unserem Werk. Meine Hände und Schultern schmerzten vom Schleppen und Heben der Steine. Irgendwo im dichten Dickicht einer nahen Zeder meldete sich eine Eule.

»Auch das ist schlimm«, sagte Bayard nachdenklich.

»Sir?«

»Ich weiß nichts darüber, was Zentauren in diesem Fall tun«, fuhr er leise fort, als wäre ich nicht da.

»Aber es gibt die Form des Ordens. Und auch wenn er kein Solamnier war, sehe ich keinen Grund, warum diese Worte nicht zutreffen sollten, warum sie ihn nicht… miteinschließen sollten.«

Merkwürdigerweise wurden die Nachtvögel still, als Bayard neben dem Grabhügel stand und das alte Gebet sang:

»An deine Brust nimm, Huma, ihn

Am Himmel, ungeteilt und wild.

Gönn eines Kriegers Frieden ihm;

Befrei den letzten Blick so mild

Von den Wolken der Kriegesflammen

Die von Sternenfackeln stammen.

Laß seinen letzten Atemzug

Ganz sanft in der Luft sich wiegen,

Laß über Rabenträumen ihn fliegen,

Wo Tod bringt nur des Falken Flug.

Dann steig er auf zu Humas Schild

Am Himmel, ungeteilt und wild.

«Als wir in die Vorberge herunter gelangten, wurde das Wetter immer wärmer, und die Temperatur stieg von eisiger Kälte zu dem an, was man frisch nennen könnte. Irgendwann waren wir in einem Land, das ganz nach Frühherbst aussah. Die vereisten Zweige der Berge wichen grünem Leben, als der Pfad sich durch Vallenholzbäume, Birnbäume und Ahorn wand, deren Blätter sich langsam rot, gelb und orange vom Hellblau des solamnischen Himmels abhoben.

Wir waren wirklich in Solamnia, der Heimat der Legenden. Fast jede Erzählung, die ich auf den Knien meines Vaters gehört hatte, hatte in diesem geschichtsträchtigen Land ihren Anfang und meist auch ihr Ende genommen.

Aber es kam mir so vor, als wäre Bayard auf dieser Seite der Berge eher noch rastloser. Man konnte sehen, daß Kastell di Caela ihm nicht nah genug war. Er hatte es eilig. Zum erstenmal gab er Valorus die Sporen, und der große Hengst trat aus, schnaubte und tat dann, was sein Reiter wünschte.

Ich fand das Tempo unangenehm, aber nach vielleicht vier Stunden merkte man es auch den Pferden an, die uns ja schließlich trugen. Schon nach ein, zwei Stunden begann das Packpferd zu schwitzen, zu schnauben und zu stinken, und als wir wirklich ebenes Land erreicht hatten, kamen mir Visionen, wie die Stute mitten im Laufen umkippte, weil ihr Herz aussetzte. Bayard würde allein weiterreiten.

Bayard zeigte kein Zeichen von Gnade oder Erschöpfung. Die Strapazen der Reise schienen ihm überhaupt nichts mehr auszumachen. Den ganzen Morgen und den ganzen Nachmittag lang trieb er den lahmer werdenden Valorus durch rauhes Gelände, als wenn wir eine Kavallerie wären – oder, noch schlimmer, Späher einer Bande von räuberischen Nomaden. Die Bauern oder Reisenden, auf die wir gelegentlich trafen, wichen vor uns zurück, weil sie zweifellos dachten: Gut, sie sind nur zu zweit, aber ihren Mienen nach sind sie die Vorhut einer schrecklichen Horde Plünderer.

So ritten wir bis tief in die Nacht weiter. Dann endete unsere gnadenlose Reise, und Bayard glitt von Valorus, als würde er es selbst mit dem Schlafen eilig haben, und sagte bloß: »Hier.«

Dann band er die Zügel an den tief hängenden Ast eines Apfelbaums, lehnte sich an den Stamm und fiel rasch in tiefen Schlaf.


Ich saß auf meiner Decke. Einen Augenblick lang dachte ich, ich wäre wieder in der Wasserburg und Opfer irgendeiner Strafe, aber dann klärten sich meine Gedanken, und die Umgebung kehrte wieder an ihren Platz zurück – die leicht gewellte solamnische Landschaft, die Sterne von dem Buch Gilean direkt über meinem Kopf, ein großer, bewaffneter Mann, der neben meiner Decke stand und etwas sagte, was ich zuerst nicht verstand. Aber dann…

»…bis wir nach Kastell di Caela kommen. Von dort aus kannst du ein Dutzend Wege nach Hause finden, Galen. Wenn nicht Ritter, die vom Turnier heimziehen, dann gewiß Kaufleute oder Barden oder Pilger auf ihrem Weg nach Westen – nach Küstenlund oder durch den Westtor Paß –, und die werden nichts dagegen haben, daß ihnen jemand mit den Pferden hilft, bis du wieder bei deinem Vater zu Hause bist.

Was mich angeht, so bin ich es deinem Vater schuldig, dafür zu sorgen, daß du nicht in Solamnia verloren gehst oder überfallen wirst. Sei aber sofort bereit und auf dem Pferd, sonst breche ich ohne dich auf.«

Bayard wirkte immer bedrohlich, nur nach den Ereignissen in den Bergen glaubte ich jetzt nicht mehr, daß er bluffte. Während ich in der kalten Nacht nach Luft schnappte – beim Aufwachen fühlt sich die Luft immer kälter an –, wickelte ich mich in meine Decke und klammerte mich dann aus Angst um mein Leben an der Mähne der Stute fest, während wir dem davongaloppierenden Sir Bayard nachhetzten, der schon vor uns in der Finsternis unterwegs war.

Noch drei Tage nach Kastell di Caela.

In den frühen Morgenstunden stoben wir wie Erscheinungen durch den kleinen Ort, den wir von dem Aussichtspunkt im Vingaard-Gebirge gesehen hatten – der Ort, in dem wir Bayard zufolge eigentlich Rast machen wollten. Seite an Seite preschten wir zwischen den dunklen, strohgedeckten Häusern hindurch, wobei uns nur ein paar Lampen in den Fenstern durch die verschlafenen Gassen führten, die zu dieser Stunde die einzigen Zeichen waren, daß das Dorf nicht gänzlich verlassen war.

Außer dem kurz angebundenen Wecken und ein oder zwei lauten Befehlen weigerte sich Bayard, mit mir zu reden. Er ignorierte jede Frage oder Bemerkung von mir, sah über mich hinweg oder durch mich durch, als wäre ich unsichtbar. Ich kam mir vor wie die Puppenspieler von Gutlund, die Erfinder und Darsteller in den Kenderpuppenspielen, die mit ihren hölzernen Figuren auf der Bühne stehen, sie bewegen und ihnen ihre Stimmen leihen. Die Zuschauer ignorieren diese Künstler schon so lange aus Tradition und achten nur auf die Puppen, daß viele Außenstehende sich fragen, ob die Kender die Puppenspieler überhaupt noch wahrnehmen.

Ja, zwischen uns hatte sich einiges geändert. Auch als der Himmel sich bewölkte und es wieder zu regnen begann, hüllte sich Bayard in Schweigen. Er blickte nur auf die Straße vor uns. Zweifellos brütete er über die Bemerkungen des Ogers vor sich hin.

Die Eintönigkeit der Straße – die leichten Hügel, das Schweigen, die Trübseligkeit von Wetter und Stimmung – war zum Verrücktwerden, so daß ich erleichtert und dankbar war, als sich hinter einer Anhöhe endlich eine Änderung der Landschaft andeutete. Wir blickten in ein Tal, das sanft nach Osten abfiel, und da lag vor uns Kastell di Caela, das von den hellen Zelten und den Pavillons von zwei Dutzend Rittern umgeben war.

»Kastell di Caela«, sagte Bayard gleichmütig und zeigte auf die Festung unter uns. »Wir kommen zweifellos zu spät.«

Er hätte ruhig beeindruckter sein können. Kastell di Caela war kein riesiges, imposantes Bauwerk wie, sagen wir mal, der Turm des Oberklerikers eine knappe Woche nördlich; doch es ließ das Haus meiner Kindheit wie eine Hütte erscheinen.

Ich zog an der Mähne der Stute, um sie einen Augenblick anzuhalten, obwohl Bayard bereits ins Tal unterwegs war.

Kastell di Caela öffnete sich gen Westen. Wir konnten von unserem Standort aus den Haupteingang und die Zugbrücke sehen. Vier kleine Türme erhoben sich genau an den Ecken eines riesigen, quadratischen Innenhofs, und diese Türme waren verschieden hoch. Der von uns aus hinterste war bei weitem der höchste, ein viereckiges Bauwerk, das hoch über die beiden konischen Türme davor hinausragte.

Der gute Zustand war bemerkenswert. Schießscharten und Mauerzacken wechselten sich an den Zwischenmauern ab wie lückenhafte, aber ansonsten tadellose Zähne. Die Westfassaden der Türme strahlten im Licht des Sonnenuntergangs hinter uns und glitzerten in einem rötlichen Licht, in dem das Schloß rostig braun, aber immer noch makellos erschien.

So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich weiß, ich war ein armer Bub aus der Provinz, der nicht an große Architektur gewöhnt war; aber obwohl dieser Ort seit über tausend Jahren stand, glänzte er so neu, als würde er wie der Sumpf, den wir hinter uns gelassen hatten, ständig nachwachsen und sich immer wieder vom Zahn der Zeit und vom Nagen des Wetters erholen.

»Ist doch was, oder?« flüsterte ich vor mich hin. Das Packpferd zuckte nervös und schüttelte mich im Sattel durch.

Ich dachte an Agion und wie er unter mir vor der verrückten Architektur des Schlosses zurückgewichen wäre. Dann fielen mir die wenigen Hütten und Höfe ein, an denen wir zwischen dem Sumpf und den westlichen Ausläufern der Berge vorbeigekommen waren, und wie unser Zentaurenfreund vor diesen kleinen Gebäuden zurückgeschreckt war, als wären sie irgendwie ein Versehen der Erde.

Das Schloß vor mir schien zu verschwimmen. Ich hatte keine Zeit, an Agion zu denken. Sir Bayard bekam zu viel Vorsprung. Mit einem scharfen Zungenschnalzen und einem Klaps auf die Flanke setzte ich die Stute in Marsch. Sie galoppierte den Hang hinunter, während sich ihr Reiter verzweifelt festklammerte, und schneller, als ich gedacht hatte, erreichten wir die Ebene vor dem Kastell di Caela und ritten an einigen Pavillons vorbei.

Wo die Ritter ihr Lager abbrachen.

Das Turnier war offenbar vorüber.

Bayard war an den Zelten und dem lauten Lager vorbei und schon fast an den Schloßtoren, bevor ich ihn erreichte.

Er hatte am Rand des Grabens angehalten und dem Posten auf den Zinnen seinen Namen zugerufen und wartete jetzt darauf, daß die Botschaft ins Schloß gebracht wurde – zweifellos zu Sir Robert di Caela. Dann würde das riesige Tor aufgehen und die Zugbrücke heruntergelassen werden. Aufrecht im Sattel sitzend, mit den Augen am Eingang zum Schloß, beachtete Bayard mich nicht, nicht einmal, als ich ihn ansprach.

»Es sieht natürlich nicht so aus, als ob wir ein warmes Bad und ein Federbett für die Nacht bekommen, oder, Sir Bayard?«

Vom Wassergraben aus war die Burg noch beeindruckender, denn die Mauern stiegen über zehn Meter bis zu den Schießscharten über dem Tor auf. Oben auf den Zinnen standen mindestens ein halbes Dutzend Bogenschützen und sahen gelangweilt auf uns herab. Sie waren überhaupt kein bißchen neugierig. Bloß wieder so ein ausländischer Ritter, dachten sie wahrscheinlich.

Nur kommt der hier zu spät.

Wenn man sich im Sattel zurücklehnte und sich den Hals fast ausrenkte, konnte man hinter den Bogenschützen über die Tormauer hinweg die Spitze des höchsten Turms in der Südostecke des Schlosses sehen. Oben auf diesem Turm flatterte ein großes, blaues Banner, das gut zu erkennen war, weil es vom Nordwind gebeutelt wurde – die Fahne des Hauses di Caela. Hellrote Blume auf weißer Wolke vor blauem Grund. Alles wirkte sehr reich, sehr blaublütig und sehr abweisend.

Nervös sah ich Bayard an, der mich nicht beachtete. Statt dessen stieg er ab und wühlte in den Decken auf Valorus’ Rücken herum, bis er etwas gefunden hatte, das in Leinen eingewickelt war. Es war so groß, daß ich überrascht war, daß ich es noch nicht früher bemerkt hatte.

Ja, wenn ich auch nur zur Hälfte Knappe gewesen wäre, dann hätte ich es nicht nur bemerkt, sondern mich sehr gut darum gekümmert.

Es war ein Schild, den Bayard hier am Eingang von Kastell di Caela auswickelte. Nicht der, den er gegen die Schläge von verschwindenden Satyren oder geheimnisvollen Ogern benutzt hatte, sondern ein glänzender, einer ohne jeden Kratzer. Auf ihm war ein rotes Schwert vor einer strahlend gelben Sonne eingraviert.

Der Schild der Blitzklinges.

Wenn Adel auf Adel trifft.

Die Tore wurden uns geöffnet, und Robert di Caela kam höflich lächelnd und elegant persönlich aus der Burg, um uns zu empfangen. Er war einer jener Männer, deren Haar schon in den Zwanzigern grau oder gar weiß wird, die aber unter dem Kopfschmuck eines doppelt so alten Mannes ihre jugendlichen Züge behalten, so daß sie im Endeffekt immer jünger wirken, als sie sind. Und in diesem jungen Gesicht hing ein weißer Schnurrbart, der sorgfältig um eine edel geschwungene Nase gestutzt war, die so fein und gekrümmt war wie der Schnabel eines Falken.

Seine Augen waren grün wie das küstennahe Meer. Das war kein Mann, der in seinem großen Saal Jagdhunde herumscheuchte.

Gutes Blut, gute Abstammung, ein Knochenbau, um den er zu beneiden war. Ich begann, Hoffnung für Enid zu hegen. Ich begann sogar, Hoffnungen für Bayard zu hegen – daß irgend etwas beim Turnier oder in den Gedanken dieses wichtigen, eleganten Mannes geschehen war, das Bayard zum Favoriten machte, zu Enid di Caelas auserwähltem Verehrer. Daß Bayard der Prophezeiung gemäß seinen Familiennamen mit dem der di Caelas verbinden würde.

So hoffte ich zumindest.

Bis Robert di Caela sprach.

»Blitzklinge, sagt Ihr? Ach, es gab eine Zeit, wo ich Angst hatte, der Name wäre ausgestorben – das muß in Eurer Jugend gewesen sein, als die Bauern Burg Vingaard erstürmten. Ja, der Name bedeutete uns einst viel. Vielleicht hätte er uns auch jetzt viel bedeutet… wenn Ihr rechtzeitig eingetroffen wärt.«

»Das Turnier…«, setzte Bayard fragend an.

»Ist vorbei«, erklärte Sir Bayard barsch. »Und meine Tochter ist verlobt.«

Bayards Gesicht wurde rot.

»Verlobt…«, fuhr Sir Robert mit einem Hauch von Kälte und Bangigkeit in seiner Stimme fort, »mit Gabriel Androctus, solamnischer Ritter des Schwerts.«

Ich konnte nicht ausmachen, ob diese Kälte und die Beklommenheit für Sir Bayard bestimmt waren, oder ob sie jetzt ausschließlich diesem Androctus galten. Aber ich konnte trotz seiner Höflichkeit feststellen, daß Sir Robert di Caela der auserkorene Schwiegersohn nicht zusagte.

»Nein, Sir Bayard Blitzklinge von Vingaard«, fuhr Sir Robert jetzt noch kälter fort, »es hieß, Ihr würdet hier sein – ja, Ihr wärt gar dazu ausersehen, das Turnier zu gewinnen. Mein alter Freund Sir Ramiro vom Schlund wollte schon einen erklecklichen Betrag auf Eure Lanze wetten.«

»Ich kenne Ramiro gut«, erwiderte Bayard bescheiden. »Er hat einen Hang zum Leichtsinn.«

»Der noch leichter wird, wenn die fragliche Partei nicht auftaucht!« fauchte Sir Robert. Dann beherrschte er sich wieder, lächelte und zeigte auf eine Tür zur Burg. »Der junge Mann, der durch die Lanze erwählt wurde, ist zwar etwas ungeschliffen, scheint aber tadellos erzogen und einzigartig zum Lanzenkampf begabt zu sein.«

Sir Robert blickte Bayard scharf an, der bei jedem Schritt über den Hof kleiner wurde. Als wir die Tür zur Burg erreichten, ergriff Bayard die Chance, Sir Robert und Kastell di Caela mit Anstand zu verlassen.

»Es liegt mir fern, Gastfreundschaft auszuschlagen, besonders die eines so edlen und großzügigen Hauses«, fing er an und erlangte beim Sprechen sein Gleichgewicht und sein Selbstvertrauen zurück, »aber meine Pferde sind müde. Und mein Knappe sicher auch.« Das kam fast wie ein Nachsatz.

»Aus diesem Grunde bitte ich Euch, mich bis morgen zu entschuldigen. Mit Eurer Erlaubnis werde ich meinen Pavillon außerhalb der Burgmauern bei den anderen Rittern aufstellen.« Der erste Fehler bei diesem ganzen, höflichen Rückzug war, daß wir gar keinen Pavillon zum Aufbauen hatten – nicht einmal ein Zelt. Doch Bayard dachte gar nicht ans Übernachten; er war nur darauf aus, hinter diese Mauern zu gelangen, wo wir ganz sicher bis in die frühen Morgenstunden an einem Lagerfeuer frösteln würden. Dann würden wir leise in Begleitung anderer aufbrechender Ritter abreisen. Nach dieser kurzen Unterhaltung mit Robert di Caela war es offensichtlich, daß der große Zweifel in Bayards Gedanken sich als richtig erwiesen hatte: Die handschriftliche Prophezeiung am Rand des Buchs von Vinas Solamnus war im besten Fall eine Ausgeburt der Phantasie, im schlimmsten Fall ein gemeiner Witz. Bayard war geschlagen. Anstatt sich selbst und den Namen Blitzklinge noch weiter zu beschämen, wollte er zügig zum Sumpf von Küstenlund zurückkehren, um die Nachricht vom Tod unseres Begleiters zu überbringen und sein Versprechen an Agion wahrzumachen, daß er sich dem Urteil der Zentauren beugen würde.

»Ich respektiere die Entscheidung meines Herrn und Beschützers, Sir Robert, doch wenn Eure Hoheit einverstanden ist, würde ich heute nacht lieber in Kastell di Caela bleiben.«

Bayard und Sir Robert starrten mich mit offenem Mund an.

Wir standen an der großen Mahagonitür zum Schloß – zwei Mann hoch und fünfmal so schwer –, und es war, als wäre diese Tür plötzlich auf uns vier heruntergekippt.

»Sicher, junger Mann, die Gastfreundschaft dieses Schlosses steht dir frei…«, begann Sir Robert. Ich konnte das große »Aber« in seinem Satz kommen hören, deshalb reagierte ich sofort.

»Dann nehme ich Euer freundliches Angebot an, Herr.« Ich drehte mich zu den Pferden um, um meine Sachen vom Packpferd zu nehmen, denn ich wußte, daß beide Ritter sich viel zu fein waren, um in meiner Abwesenheit eine Entscheidung über meinen Verbleib zu treffen.

Das ist das Beste an der guten, alten solamnischen Höflichkeit: Man kann sich darauf verlassen, daß die Leute, die man ausnutzt, prinzipiell anständiger sind als man selbst. Als ich zu den Pferden lief, konnte ich mich entspannen und mich zum erstenmal umsehen, weil ich wußte, daß während Galens Abwesenheit keine Intrigen gesponnen wurden.


Kastell di Caela war weniger eine Burg, als vielmehr eine von Mauern umgebene Stadt, jedenfalls sah es damals für mich so aus. Häuser und Unterstände mit Strohdächern säumten die Innenseite der Torwand. Sie dienten anscheinend entweder als Heim oder als Geschäft für Bauern und Pächter, die hier Waren tauschten, miteinander stritten und mir Hühner anboten.

Nachdem unsere Pferde erstmal hinter den Burgtoren waren, schienen sie gelöster. Jetzt quälte sie nur noch der Hunger. Während einer der Bauern einen anderen beschimpfte, fischte ich mehrere Rettiche aus dem Korb vor seinem Stand und bot sie der Stute an. Sie fraß selig. Erst schnaubte sie kurz angesichts des ersten, scharfen Geschmacks der Pflanze, doch dann kaute sie laut und genüßlich, wobei sie entzückt ihre großen, braunen Augen schloß.

Ich sah der Stute beim Kauen zu, während ich vorsichtig meine Tasche aus dem unordentlichen Haufen auf dem Packsattel zog. In solchen Zeiten möchte man ein Pferd oder Maultier sein – frei von Sorgen über die Zukunft und vor allem von der gegenwärtigen Politik. Wenn ich mich nur darum zu sorgen habe, wo der nächste Rettich herkommt, schleppe ich mit Freuden eine hundert Pfund schwere Rüstung.

Ich warf einen Blick über die Schulter, wobei ich darauf achtete, meine Hände hinter dem Rücken zu verstecken, falls das Packpferd meine Finger mit weiteren Radieschen verwechselte.

An der Tür zur Burg redeten Sir Robert und Bayard immer noch – anscheinend ruhig, auch wenn ich selbst von hier aus sehen konnte, daß Bayard wegen des Ungehorsams seines Knappen immer noch schamrot war. Wie auch immer, eigentlich dachte ich ja, daß ich nicht mehr sein Knappe war.

Was nicht bedeutete, daß ich ihm nicht mehr diente.

Denn es gibt nichts, was einen Jungen gedanklich so sehr zu sich selbst zurückbringt wie ein langer Ritt, bei dem nicht gesprochen wird. Besonders wenn er die Gedanken seines Gefährten kennt und weiß, daß sie nicht besonders freundlich sind. Auch wenn das ganze Hügelland von Solamnia zwischen dem Fuß des Vingaard-Gebirges und den Toren von Kastell di Caela gelegen hätte, wäre die Reise nicht lang genug gewesen, den Gedanken an diesen schmalen Paß und den prahlerischen Ogerkopf zu entrinnen.

Und an unseren gefallenen Freund mit seinem armseligen Steingrab.

Was ich Agion schuldete, würde ich nie wieder gutmachen können.

Aber auch Bayard schuldete ich eine ernsthafte Buße und wollte mich ans Werk machen. Doch das ging besser in diesem Schloß, wo seine Hoffnungen auf Macht und Heirat in Trümmern lagen, als von irgendeinem einsamen Lager aus.

Schließlich nannte man mich Wiesel.

Wenn alles andere fehlschlug, konnte ich mich bei Robert di Caela einschmeicheln. In den nächsten Tagen würde ich um den alten Mann herumflattern und jedes Wort, jede Tat von ihm bewundern. Selbst seine Gesten würde ich bestaunen. Enid würde ich wie meine geliebte, ältere Schwester behandeln, egal, wie stur und dumm sie sich aufführen mochte, und ich würde von Sir Robert lernen, wie man sein Land verwaltet, während diese neugefundene Schwester in irgendwelchem Ödland von Gabriel Androctus enttäuscht werden würde. Ich würde Sir Robert das leere Nest füllen, und wenn die Frage des Erbes aufkäme (was angesichts der Stärke und offensichtlichen Gesundheit der di Caelas noch Jahre hin war), hatte ich ihn vielleicht genug becirct, daß man von mir in den Sälen hörte, wo der letzte Wille aufgesetzt wurde. Mir gefiel die Größe, die Bauweise und der Luxus von Kastell di Caela. Ich hoffte inständig, eine Weile bleiben zu können.

Doch immer der Reihe nach. In dieser ganzen Pracht mit den vielen Fenstern mußten auch Aussichten für Bayard sein.

Bayard ritt zum Tor hinaus auf das Gelände, das die Burg umgab, wo er die Nacht zwischen den Pferden auf dem Boden verbringen würde, während ich in frischem, seidenem Bettzeug und hoffentlich an einem Kamin schlafen würde. Dabei warf er mir einen so ungläubigen, geschlagenen und enttäuschten Blick zu, daß ich für einen Augenblick richtig wütend wurde. Trotz des Skorpions, seiner Diebstähle und Lügen und Gemeinheiten, glaubte Bayard, daß ich das eigentliche Wiesel im Hühnerstall war.

Dann erreichte mich von irgendwoher aus den warmen Räumen der Burg Bratenduft. Ich folgte Sir Robert durch die riesige Mahagonitür in einen gut erleuchteten Raum mit poliertem Marmorboden, in dem sich glänzende Rüstungen und dunkle Gemälde befanden.

Das war die Art von Heim, für die ich geboren war, beschloß ich.

»Bei meiner Unterhaltung mit Sir Bayard hörte ich den Namen ›Galen‹«, begann Sir Robert, wobei er seinen herrlichen blauen Mantel neben sich über einen Stuhl legte. »Ist es möglich, daß ich den Familiennamen kenne, oder bist du…« und er lächelte, so weit ich sehen konnte, ohne jede Ironie, »… von einem fernen Ort, dessen Namen mir vielleicht nicht bekannt sind.«

»Ich bin ein Pfadwächter«, sagte ich.

»Aha«, entgegnete Sir Robert und sagte nichts weiter, als er eine Kerze auf einem Mahagonitisch im Saal anzündete und mir ein Zeichen gab, ihm zu folgen.

Wir kamen durch den Ahnensaal der Familie di Caela. Ich wußte, daß die Blitzklinges eine gewisse historische Bedeutung hatten – und ich hoffte inständig, daß Sir Robert mich nicht bitten würde, sein Gedächtnis in bezug auf meine Familiengeschichte aufzufrischen –, doch irgendwie verblaßten beide Namen vor dem Glanz und den Traditionen, die dieses Gebäude beherbergte. Ich ging durch eine Art Schrein – ich wußte, sowohl Vater als auch Gileandos wären beeindruckt gewesen.

Denn das hier war der Sitz einer bedeutenden Familie, die Seite an Seite mit Vinas Solamnus gekämpft hatte. Die ihre Herkunft über ein Jahrtausend zurückverfolgen konnte. Und der Mann vor mir, der die Kerze hielt, war der Erbe von alledem – nicht nur des Reichtums, wohlgemerkt, sondern auch der Geschichte, des Heldentums und des Adels. Ich suchte aus dem Augenwinkel nach einem Porträt, das Benedikt darstellen mochte. Die Augen eines Porträts – eines schönen, alten Mannes mit einer auffälligen Narbe auf der linken Wange – schienen mich zu verfolgen, als ich durch diesen Saal lief. Ich dachte an Kindermärchen über Spuk in Galerien und über Wesen hinter den Wänden, die Vorübergehende durch Löcher in den Bildern beobachteten.

Da ich die Augen bei dem Bild und die Gedanken bei der Wahrscheinlichkeit von Spuk in der Vertäfelung hatte, merkte ich erst, daß Sir Robert stehengeblieben war, als ich in ihn hineinlief.

»Ein Pfadwächter, sagst du?«

»Ja, Sir.«

»Sohn von Sir Andreas Pfadwächter?«

»Ja, Sir.«

»Aber mir wurde gesagt…«

»Sir?«

»… daß Sir Andreas nur zwei Söhne hat«, überlegte Sir Robert mit schiefgelegtem Kopf. Er nahm mich bei der Schulter und schob mich unter einen Fackelhalter an der Wand – eindeutig, um mich besser betrachten zu können.

»Ich werde oft vergessen, wenn man die Söhne aus der Wasserburg aufzählt«, erwiderte ich verzweifelt schnell, wobei ich mit weit aufgerissenen Augen auf den Fackelhalter über mir starrte, damit sich meine Augen mit der starken Hitze und dem Rauch der Fackel füllen konnten.

Aus irgendeinem Grund brannte meine Kehle schon ohne die Hilfe von Fackel oder Rauch. Und nachdem das Feuer die Tränen herausgelockt hatte, brach ich gekonnt in falsches Schluchzen aus.

»Meine Brüder sperren mich in den Ställen ein, Sir Robert. Bei den Jagdfalken!« schniefte ich.

Sein Griff an meiner Schulter ließ nach.

»Wenn das so ist, mein Junge, dann werden sie sich bald dafür verantworten«, erklärte er – wirklich eine verwirrende Bemerkung.

Ich sah ihn neugierig an. Er drehte sich weg und sagte verlegen zu mir:

»Jetzt reiß dich zusammen, Galen. Du bist zu groß für Tränen.«

Als wir durch einen Bogen in einen weiteren Raum traten und auf eine breite Treppe zugingen, folgten meine Augen den Stufen zu einer Empore mit Marmorbrüstung und Statuen von Falken und Einhörnern. Fein gearbeitete, metallene Kuckucke saßen auf Schaukeln, die von der Decke der Burg herunterhingen. Ihre Aufhängungen verloren sich in der Dunkelheit und der Höhe.

Plötzlich pfiff hinter uns ein Kuckuck. Ich drehte mich nach dem Geräusch um.

Und hatte dort auf der Galerie eine Erscheinung, die einen Metallkuckuck aufzog.

In Wahrheit war es ein Mädchen ungefähr in meinem Alter in einem einfachen, weißen Kleid, das von der Prinzessin bis zur Dienerin praktisch jedes Mädchen als bequemes Kleidungsstück tragen konnte. Es war jedoch offensichtlich, daß diese dort es nicht gewohnt war, irgendwelche Befehle zu befolgen. Sie bewegte sich über die Empore, als ob sie ihr gehörte.

Das Mädchen hatte blondes Haar und eine helle Haut, doch selbst von unten konnte ich sehen, daß ihre Augen dunkel und ihre Wangenknochen hoch wie die einer Frau aus den Ebenen waren. Daher wunderte ich mich zunächst über ihre Abstammung, um dann auf der Stelle zu beschließen, daß sie von beiden Seiten der Familie das Beste geerbt haben mußte.

Das Mädchen beachtete uns kaum, sondern war damit beschäftigt, den einen Kuckuck zu reparieren, dessen Ruf anscheinend nicht mehr funktionierte. Mit einem winzigen, glitzernden Werkzeug untersuchte sie den Kopf des Spielzeugs.

»Sag den Dienern, daß sie noch ein Gedeck zum Abendessen auflegen sollen, Liebling«, rief Sir Robert dem Mädchen auf dem Absatz zu. »Wir haben einen Gast.«

»Sag du’s ihnen«, rief das Mädchen zurück, dessen Aufmerksamkeit immer noch seiner Aufgabe galt. »Du gehst doch in die Richtung.«

Sir Robert errötete kurz und ballte die Fäuste. Dann schüttelte er lachend den Kopf und ging weiter. Ich lief doppelt so schnell, um mit ihm aufzuschließen.

»Eure Frau, Herr?«

»Meine folgsame Tochter, Enid di Caela«, grinste Sir Robert, als wir über ein paar Stufen zu einer anderen Mahagonitür gingen.

Enid? Die kuchenbackende, stämmige Enid aus meiner Phantasie? Bayard hatte guten Grund, niedergeschlagen zu sein!

»Enid di Caela«, wiederholte Sir Robert, diesmal ruhiger und weniger lustig. »Bald Enid Androctus. – Ah, und hier ist einer deiner Brüder!«Es dauerte einen Augenblick, bis Sir Roberts letzte Bemerkung mich erreicht hatte. Ich kämpfte immer noch mit dem Gedanken, wie sehr die echte Enid die Enid meiner Vorstellungen bei weitem übertraf. Ich war immer noch in ihr blondes Haar verstrickt, ertrank in ihren dunklen Augen, wie die Dichter vielleicht sagen würden. Doch als Alfrik durch einen Türbogen vor uns trat, konnte ich mich gerade noch davon abhalten, kehrt zu machen und durch die getäfelten, kuckucksbesetzten Gänge zu flüchten.

13

Mein Bruder war beunruhigend gelassen und regelrecht freundlich, als er mich im langen Flur von Kastell di Caela traf, auch wenn ich glaube, daß es Sir Robert verwirrte, daß zwei lang getrennte Brüder einander nicht glücklich in die Arme fielen.

Während uns Sir Robert in das Zimmer führte, das man uns zugewiesen hatte, begann ich die Hoffnung zu hegen, daß etwas meinen Bruder unterwegs verändert haben mochte. Vielleicht war er weiser und verzieh leichter als zu dem Zeitpunkt, an dem ich ihn bis zum Bauch im Wächtersumpf zurückgelassen hatte. Da Alfrik einen höflichen, ja, freundlichen Ton anschlug, beschloß ich, daß es Schlimmeres geben konnte, als heute abend sein Zimmer zu teilen.

Als er mich dann in der eindeutigen Absicht, mich zu erdrosseln, ansprang, sobald die Tür sich schloß, konnte ich bloß noch schwach Einspruch erheben.

»Bruder, bitte! B-bitte! Du bringst mich um!«

Das war doch hoffentlich laut genug gewesen, um Sir Robert zurückzurufen. Aber es kehrten keine Schritte zur Tür zurück und Alfriks Würgegriff wurde noch fester.

»Genau, kleiner Bruder. Diesmal ist es aus mit all den großen Tönen und Versprechungen und Hilferufen, denn ich werde dich umbringen. Dich erwürgen, weil du mich da unten im Wächtersumpf hast stecken lassen.«

»Aber was wird Sir Robert daz – « Meine Stimme quetschte sich zu Zischen und Pfeifen zusammen.

Alfriks Griff ließ nach.

»Du hast recht, Wiesel. Wenn ich dich fertigmache, könnte das meine Aussichten hier doch sehr beeinträchtigen.

Auch wenn ihr hier zur Zeit nicht gerade beliebt seid – du und dein feiner und mächtiger Sir Bayard Blitzklinge nämlich –, würde es mir nicht gut anstehen, etwas so Unsolamnisches anzustellen wie einen Brudermord, hm? Besonders da du keine Gefahr mehr für mich bist und nicht länger etwas hast, was ich haben will.«

Er erzählte mir, was er über das Turnier in Erfahrung gebracht hatte – von den Kämpfen und den Ängsten und der kalten Macht von Sir Gabriel Androctus und von Sir Robert di Caelas wachsender Ungeduld, als die Tage vergingen und kein Bayard Blitzklinge auftauchte. Breitbeinig stand er über mir und strahlte über unsere Verspätung.

»Ich schätze, es ist nur die solamnische Höflichkeit, die ihn davon abhält, euch beide zu teeren und zu federn und in einem Faß zum Vingaard-Gebirge zurückzurollen.«

»W-wie ist es dir überhaupt gelungen…«

»Euch zu überholen? Anscheinend haben dich und Bayard auf dem Weg zum Schloß alle überholt, was?«

Er stemmte die Hände in die Hüften und lachte. Lachte, bis er knallrot anlief und die Adern an seinem Hals anschwollen und ich mich allmählich fragte, ob mein Bruder wohl nicht alle Tassen im Schrank hatte. Ich nutzte die Gelegenheit, unter ihm weg zu schlüpfen und unter einen Tisch in der entferntesten Ecke des Zimmers zu kriechen.

»Brithelm«, erklärte er, als sein Lachen nachließ und er wieder Luft holen konnte. »Brithelm war es, der mich aus dem Treibsand geholt hat. Und ich habe ihm gesagt, daß ich nach Kastell di Caela müßte. Ich habe ihm von dem Turnier erzählt, und daß wir uns beeilen müßten, um rechtzeitig da zu sein.

Also sauste er zur Wasserburg zurück und ist ein paar Stunden später mit zwei von Vaters besten Pferden und Proviant für eine Woche wieder da. Wir also los nach Kastell di Caela. Ich habe mir keine großen Chancen für das Turnier ausgemalt, aber ich dachte, ich würde nebenbei Gelegenheit bekommen, dir die Haut vom Leibe zu ziehen, oder wenigstens deinen Platz als Bayards Knappe einzunehmen. Denn niemand will einen Knappen, der seinen eigenen Bruder ertränkt.

Jedenfalls verschafft mir Brithelm nicht nur Pferde und Proviant, sondern er kennt auch diesen Paß durch das Vingaard-Gebirge weit im Süden von Westtor. Ein Paß, der seiner Aussage zufolge, unsere Reise um mindestens drei Tage abkürzt.

Du kannst dir vorstellen, Galen, wie überrascht wir waren, als wir dich und Bayard und diesen Pferdemann…«

»Agion.«

»Wer auch immer… gegen diesen Oger oben auf dem Paß anrennen sahen. Ich hab’s mir von weitem angeschaut. Brithelm konnte nicht so weit sehen – daß er überall dagegen rennt, liegt einfach an seinen schlechten Augen, wußtest du das? Also sage ich, daß Bayard gewinnt, und er glaubt mir. Sonst wäre er bestimmt nach unten gestürmt, um sich einzumischen.

Als ich dann sah, daß ihr es euch für die Nacht bequem gemacht hattet, sind Brithelm und ich vorbeigezogen und weiter durch die Berge geritten.«

»Dann habe ich in jener Nacht am Feuer wirklich deine Stimme gehört!«

»Kommt mir anständiger vor, wenn man seinen Bruder mit zwei fähigen Begleitern auf einem Bergpaß zurückläßt, als allein und bis zum Bauch im Treibsand«, gab Alfrik weise von sich. »Denk darüber nach, wenn du zu fromm wirst.«

Ich rutschte hinter den Tisch zurück.

»Du kannst vielleicht jetzt deine Chance als Knappe bekommen, Alfrik. Wegen ein paar Sachen, die im Sumpf und in den Bergen vorgefallen sind, hat Bayard keine Verwendung mehr für mich. Wahrscheinlich sucht er sich gleich einen neuen Knappen. Du kannst ihn heute abend draußen in seinem Lager finden.«

»Das wär’s dann wohl, hm, Bruder?« feixte Alfrik, während er sich aufs Bett setzte. »Ich laufe aber nicht mehr Bayard Blitzklinge nach. Der ist zu spät gekommen. Der ist nicht mehr der Favorit.«

»Das heißt?«

»Gabriel Androctus ist es«, verkündete Alfrik frohlockend. »Er hat das Turnier und die Hand von Lady Enid gewonnen. Er wird der bedeutendste Ritter in diesem Teil von Solamnia werden.

Vielleicht braucht er ja gerade einen neuen Knappen, und wenn das so ist, dann werde ich dieser Knappe sein.«Vor der Tür meines Zimmers sangen in den Gängen von Kastell di Caela die mechanischen Kuckucks.

Ich wachte von meinem Nickerchen auf. Alfrik war immer noch fort. Zweifellos bereitete er sich auf das große Festessen des Polterabends vor, das den Trauungsfeierlichkeiten vorausging.

Zweifellos zog er sich viel zu fein an. Weil er zweifellos versuchen wollte, eine Audienz bei Gabriel Androctus zu bekommen – eine Chance, sich kriechend und stiefelleckend den Weg zum Knappendasein zu bahnen.

Brithelm war auch irgendwo in Kastell di Caela, obwohl niemand genau wußte, wo. Er war kurz nach der unseligen Begegnung von Gabriel Androctus mit Sir Prosper von Zeriak eingetroffen und fast unverzüglich abgezogen – ohne Frage auf der Suche nach einem stillen Plätzchen im Schloß, wo er meditieren konnte.

Was alles ganz gut war. Ich brauchte etwas Zeit zum Umdenken.

Ein guter, gesunder Schlaf war in diesen Räumen unwahrscheinlich bei all diesem Gezirpe und Gesinge und Gepiepse von den kleinen Metallvögelchen vor meiner Tür. Wäre es nur ein Vogel und ein weniger reiches Haus gewesen, so hätte ich an den Rufen die Zeit bis zum Essen ablesen können, denn Kuckucke kamen damals als so eine Art mechanischer Zeitmesser in Mode.

Modisch, ja, aber nicht zuverlässig. Da die meisten der Vögel von Gnomen stammten, riefen die meisten nicht so regelmäßig, wie es ihre Hersteller versprochen hatten. Statt dessen riefen sie mal gar nicht, mal unaufhörlich, bis sie kaputt waren, oder sie riefen zu unregelmäßigen Zeiten, wobei Metall über Metall kratzte, so daß der Zuhörer sich wünschte, die Zeit würde anhalten oder er hätte das ganze verdammte Zeug überhaupt nie gekauft.

Die di Caelas waren natürlich eine zu alte und zu reiche Familie, um sich um die genaue Uhrzeit zu scheren. Sie lebten in einem Herrenhaus, wo Vergangenheit und Gegenwart nebeneinander existierten und niemand je das eine dem anderen vorzog. Und darüber hinaus waren sie so reich, daß man, wenn sie wirklich mal zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein mußten, einfach mit dem wichtigen Ereignis wartete, bis sie kamen. Die Vögel dienten nur der Dekoration und den angenehmen Geräuschen, die sie nach Ansicht mancher di Caelas anscheinend von sich gaben.

Diese Geräusche waren für manchen Gast jedoch nicht angenehm. Die Kuckucksrufe rissen mich aus meinen Gedanken, die sowieso schon von Fragen gequält wurden, die früher oder später gestellt werden mußten.

Warum hatte ich Sir Bayard Blitzklinge verlassen, der sich vor knapp vierzehn Tagen so großzügig dazu herabgelassen hatte, mich als Knappen mitzunehmen, obwohl mein Vater erhebliche Einwände gehabt hatte?

Warum war Sir Bayard eigentlich zu spät zum Turnier gekommen, und was hatte ich mit diesen Verzögerungen zu tun?

Je mehr ich über meine Lage nachdachte, desto mehr schien eine Rückzahlung an Sir Bayard angebracht. Ich zog die Würfel heraus und warf die Calantina.

Zeichen des Hirsches. Was völlig aus der Luft gegriffen war, wie ich fand.

Nun, ich glaubte sowieso nicht mehr so recht an die Calantina. Ich versuchte es noch einmal, weil ich auf ein Zeichen hoffte, das ich besser verstehen und lieber mögen würde.

Zeichen der Ratte. Mal wieder. Ich erinnerte mich an das letzte Mal, wo ich das geworfen hatte. Das war in der Wasserburg gewesen.

Also schön. Ich würde wieder gehen. Wieder einmal war das Wiesel eine Ratte.

Ich stand auf, nahm meinen Mantel vom Bett und ging zur Tür. Dort legte ich mein Ohr an die Tür und lauschte. Draußen im Gang war es ziemlich still. Anscheinend waren die Kuckucke in diesem Gang abgelaufen oder kaputt oder fürs erste fertig, bis ihre Rädchen irgendwann in zehn Minuten bis drei Tagen an den Punkt kamen, wo sie wie ein völlig durchgedrehtes Uhrwerk wieder loslegen würden.

Ich öffnete langsam die Tür und trat auf den Gang. Auf Zehenspitzen schlich ich an den metallenen Wächtervögeln vorbei und strebte den Gang entlang auf die Treppe zu. Dabei umklammerte ich immer noch meinen Mantel.

Der von Vögeln beherrschte Gang endete mit einem Bogen, der auf einen Treppenabsatz oberhalb des großen Raumes führte, wo Sir Robert zum erstenmal von der bevorstehenden Hochzeit seiner Tochter gesprochen hatte. Ich stand bei dem Bogen und sah die Treppe hinunter.

Auf diesem Absatz hatte Lady Enid gestanden und die Vögel nachgestellt. Ich sagte der Lady schweigend Ade in der Hoffnung, daß die di Caelas – sowohl die liebliche Enid als auch ihr eleganter Vater – eines Tages im großen Saal der Wasserburg ein paar Tränen vergießen würden, wenn Alfrik die Nachricht erhielt, daß sein kleiner Bruder in einem fernen Land einen vorzeitigen Tod gefunden hatte. Vielleicht würden sie sich dann wünschen, sie hätten diesen jüngsten Pfadwächter gekannt: den unbeugsamen Galen, das durchtriebene, aber gutherzige Wiesel.

Ich schniefte, weil ich durch diese traurige Szene in meiner Vorstellung selbst zu Tränen gerührt war. Dann wollte ich die Treppe hinuntergehen.

In diesem Moment begann der Vogel rechts von mir zu kreischen – laut und schmerzerfüllt, als wenn ihn jemand entzweireißen würde. Überrascht warf ich mich herum und schmiß meinen Mantel über das quäkende, mechanische Ding, das unter den grauen Falten weitertanzte. Sein Schreien kam erstickt, er war aber immer noch nicht still. Ich sah hinter mich zu meinem Zimmer, dann wieder vor mir die Treppe hinunter.

An deren Fuß Enid stand, die ihre kleine Hand auf das Geländer gelegt hatte und mich aus braunen Augen neugierig und amüsiert ansah.

»Spiel nicht an den Apparaten rum, Junge«, sagte sie ruhig. »Sonst klingen sie noch schlimmer. – Obwohl man sich bei dem, den du gerade zugedeckt hast«, fuhr sie fort, während sie die Treppe hochkam, »kaum noch vorstellen kann, daß etwas den Klang noch mehr beschädigen könnte.«

Sie duftete nach Flieder und nach verlorener Zeit.

Ich fand meine Stimme wieder, die zweifellos schon den halben Gang zurückgeflohen war. »Der da kommt einem etwas… heiser vor, Lady Enid. Aber die anderen, wenn ich so kühn sein darf…«

»Sind scheußlich«, lachte sie. Ihr Lachen klang so musikalisch, wie das Geräusch des abgedeckten Kuckucks disharmonisch. »Ich glaube wirklich, wenn Mutter noch lebte, wären wir diese kleinen, blechernen Quälgeister längst los, egal wie lange sie schon zur Familientradition der di Caelas gehören. Was Klang und Farben angeht, kann man dem Geschmack der Männer nicht trauen – denn sie lieben bei beidem zu sehr das Grelle.«

Sie ging an mir vorbei und hob meinen Mantel von dem armen Kuckuck, der mit seinem nervtötenden, hysterischen Gekreische weitermachte. Mit einem Griff unter seine Stange löste sie etwas, bewegte einen Bolzen oder einen Schalter, und der Vogel wurde endlich still.

»Du weißt natürlich alles über Familientradition, da du ja auch so ein Solamnier bist«, sagte Lady Enid, während sie sich bei mir einhakte und mich in einer Woge von Licht und Flieder die Treppe hinunter führte. »Findest du diese Besessenheit mit Blutlinien und Zeremonien nicht auch mitunter etwas… öde?«

Ich war sprachlos über die Schlauheit da an meinem Arm.

»Ich meine, jede kleine Geste ist Teil irgendeiner solamnischen Tradition, und wenn man die bricht, ist die Strafe nichts weiter als Gesichtsverlust. Das kann natürlich unangenehm sein, aber es ist bestimmt nicht so tödlich, wie die Ritter immer tun.«

Sie lachte wieder ihr musikalisches Lachen, und ich merkte, wie mein Gesicht heiß wurde.

»Verzeiht mir, Sir. Da vergesse ich doch einfach, daß Ihr Euch auf die Ritterschaft vorbereitet und Euch bestimmt die ganze Zeit mit so ernsthaften Dingen befaßt.«

»Ritterschaft?« Ich blieb auf der Treppe stehen.

»Bist du nicht Sir Bayard Blitzklinges Knappe?«

»D-doch, natürlich. Verzeiht mir, Lady Enid. Ich habe mich von der Schönheit des Schlosses ablenken lassen.«

Und von der Herrin des Schlosses. Ich vergaß mich so sehr, daß ich unter anderem vergaß zu fragen, wo es überhaupt hinging. Wohin führte sie mich?

»Attraktiver Mann, dieser Blitzklinge. Ich sah ihn von meinen Fenstern aus bei der Ankunft. Ich wette, er ist ein guter Schwertkämpfer.«

»Einer der besten«, stimmte ich zu. »Wenn Ihr bei Männern so etwas schätzt.«

»Da wünschte ich mir doch, ich könnte noch eine freie Entscheidung treffen«, sagte Enid trübsinnig. Dann heiterte sich ihr Gesicht plötzlich auf, und sie nickte zu einem der Porträts an der Wand hin.

»Muriel di Caela. Meine Urgroßtante.«

»Hübsch«, antwortete ich automatisch.

»Es ist goldig, daß der Orden den Jungen Höflichkeit eintrichtert, Galen, aber in diesen Räumen gibt es dazu keinen Anlaß. Sieh dir das Gesicht an: eine Eule. Ein Antlitz, das höchstens ein Troll lieben könnte.«

»Habt Ihr sie gekannt?«

»Sie starb, als ich klein war. Sechs Monate vor meiner Geburt hat sie sich oben im Südwestturm eingeschlossen – der höchste, ganz ohne Fenster bis auf die Räume, die zur Zwischenmauer hinausgehen. Da hat sie sich mit ihren Lieblingen eingeschlossen – einem Dutzend Katzen. Kannst du dir vorstellen, wieviel Haare in der Luft waren? Damals war Großvater der di Caela – der Herr des Schlosses. Er ließ ihr ihren Willen. Es ist Tradition, daß bei den di Caelas die Männer alle Entscheidungen für ihre Frauen treffen – bis sie alt sind…«

Das sagte sie mit einer gewissen Bitterkeit. Ich wurde aufmerksamer.

»Dann jedoch lassen die Männer sie machen, was sie wollen. Was um die Zeit gewöhnlich heißt, daß sie den Männern das Leben zur Hölle machen, die sie jahrelang gegängelt haben.

Jedenfalls fing Tante Muriel etwa zum Zeitpunkt meiner Geburt an, alle Nahrung zu verweigern. Da sie von der herrschsüchtigen Sorte war – bedenke, daß sie ein halbes Jahrhundert aufzuholen hatte, in dem sie keine Entscheidung treffen durfte, ein halbes Jahrhundert, wo sie fraglos der Familientradition der di Caelas folgte –, verweigerte sie auch die Nahrung für ihre Tiere. Natürlich haben ihre Katzen sie aufgefressen.

Nach einer Woche Fasten berichteten die Wachen besorgt, daß Tante Muriel schwieg. Daß sie keine Befehle und Anweisungen mehr durch den Türschlitz des Turmzimmers brüllte.

Unter Vaters Führung versuchten sich die Wachen an der Tür. Unter Onkel Roderichs Führung – der nicht lange darauf starb, aber das ist eine ganz andere Geschichte –, versuchten sie, das Schloß zu knacken. Schließlich mußten sie die Tür natürlich einschlagen. Den Rest…«, sie lächelte düster, »kannst du dir denken.«

»Lag das auch an dem Fluch?«

Natürlich bereute ich meine Worte sofort. Aber Enid zeigte sich nicht überrascht.

»Vielleicht indirekt. Ich habe nie daran gedacht. Natürlich wird fast alles auf den Fluch geschoben, was hier passiert, Galen.«

Sie legte den Kopf schief und lächelte mich neugierig an.

»Du scheinst eine ganze Menge über den Fluch der di Caelas zu wissen. Besonders wenn man bedenkt, daß du kein di Caela bist.«

Ich war von ihrem Lächeln so überwältigt, daß ich nicht antworten konnte.

»Ach, was soll’s«, sagte sie wegwerfend. »Wahrscheinlich bekommen es alle Solamnier mit, wenn der alte Benedikt zurückkommt.«

»Es ist also in jeder Generation derselbe?«

»Keiner von uns hat die geringste Ahnung. Der Fluch klingt etwas besser, wenn es so wäre. Aber ob es nun jedesmal der alte Benedikt ist oder einer seiner Nachkommen oder jemand ganz anderes, jedenfalls soll diese Generation wichtig sein. Darum hat Vater das Turnier einberufen. Er wollte mich an einen namhaften Ritter verheiraten, bevor der Fluch wiederkehrt.«

Ich nickte wissend, da ich absolut keine Ahnung hatte, wie der Fluch denn nun wirklich funktionierte. Oder wie Sir Robert ihn sich vorstellte.

Wir bogen links in einen Gang ab, der von dem Treppenabsatz wegführte. Je länger wir liefen, desto größer kam mir das Schloß vor. Fast eine eigene kleine Welt.

Beim Gehen überschlugen sich meine Gedanken.

»Es war also dieser Gabriel Androctus, der gesiegt hat. Sir Gabriel Androctus, Ritter des Schwertes. Ein hochtrabender Titel, aber wenn du mich fragst, ein Ritter, dem es doch noch an einigem mangelt«, erzählte Enid weiter. Sie zeigte einen weiteren Gang nach rechts hinunter. Auf der einen Seite waren Fenster, auf der anderen lebensgroße Marmorstatuen.

»Die ersten sechs Oberhäupter der Familie di Caela«, erklärte sie.

»Welcher ist Benedikt?«

»Benedikt di Caela hat versucht, diese Familien zu zerstören. Er versucht es vielleicht immer noch. Warum sollten wir eine Statue für ihn aufstellen, du Dummerjan?«

Am Ende des Gangs ging eine Tür auf, und ein weiteres Mädchen – das ich ungefähr auf Enids Alter schätzte – trat aus dem Zimmer und kam auf uns zu.

»Base Danielle«, rief Enid. »Komm her und lern Galen Pfadwächter kennen, den berühmten Knappen.« Das Mädchen wurde etwas langsamer und warf einen Blick auf mich.

»Für einen berühmten Knappen ist er furchtbar klein«, rief Danielle.

»Aber trotzdem charmant«, antwortete Enid. »Komm schon.«

Ich muß zugeben, daß ich mich innerlich etwas wand. Ich hasse jedes Aufsehen meinetwegen, und ich konnte sehen, daß es Aufsehen geben würde. Danielle glitt den Gang herunter – sie hatte die Anmut der di Caelas.

Aber nicht ihr Äußeres.

Was nicht heißen sollte, daß sie nicht ebenfalls schön war. Doch statt blondem Haar, braunen Augen und hohen Wangenknochen, war ihr Haar rot, die Augen grün und die Gestalt klein und vogelartig. Sie starrte mich an, und es kam mir so vor, als würde ich in einen Spiegel schauen, wo ich als hübsches Mädchen gespiegelt wurde.

Es war also wirklich unangenehm.

»Im Sockel des alten Gerald ist ein Sprung, Enid«, stellte Danielle gelassen fest, wobei sie mich musterte. »Der Junge hier sieht eher einem Pfadwächter ähnlich als einem Menschen.«

»Oh, hör auf, Danielle!« schimpfte Enid. »Er ist nicht verantwortlich für…«

Da lachten beide Mädchen los, und Enid legte mir eine Hand auf die Schulter, und mir stieg wieder die Röte ins Gesicht.

»Danielle hält nicht besonders viel von deinem ältesten Bruder, obwohl ich partout nicht begreifen kann, weshalb. Wo er doch ihre Farben und das alles hat«, erläuterte Enid. Danielle heulte in gespielter Wut auf und tat so, als wollte sie uns verlassen und wieder verschwinden.

Enid rief sie zurück. Dann starrten sich die beiden einen Augenblick lang grimmig an, bis sie in schallendes Gelächter ausbrachen.

Da bemerkte ich die stärkste Familienähnlichkeit. Das Lachen der beiden erfüllte die langen Gänge des Schlosses mit warmer, schmeichelnder Musik.

Wir liefen zu dritt zum Ende des Gangs mit den Statuen, den das Licht der Nachmittagssonne erhellte. Bei Danielles Tür bogen wir nach rechts ab, wie ich glaubte, zurück zur Treppe. Unterwegs zeigten mir die Mädchen zahlreiche Gegenstände aus der Geschichte der di Caelas.

Ich hörte von Denis di Caela, der den Ratten im Schloßkeller den Krieg erklärt hatte – in jedem Schloß eine schier unmögliche Aufgabe, doch in einem dieser Größe (und zur Zeit des Fluches) absolut unmöglich. Ich hörte, wie er nach zehn Jahren verlorener Schlachten eine riesige Ratte gefangen hatte, und das Tier dann ein Jahr lang als Geisel hielt, weil er glaubte, daß die Ratten aufgeben würden, um »ihren Anführer zu befreien«.

Dann war da Simon di Caela, der sich für eine Eidechse hielt und seine Zeit damit verbrachte, auf dem Dach des niedrigen Nordostturms in der Sonne zu liegen und auf Fliegen zu warten. Es sei ein plötzlicher Frosteinbruch gewesen, behaupteten die Mädchen fröhlich, der ihn umbrachte. Aber irgendwie hatten solche Männer seit über vierhundert Jahren die Attacken von Benedikt di Caela abgewehrt.

Das sollte doch reichen, um einem Mut und Zuversicht zu geben.

»Was dämpft denn Eure… Begeisterung für den fraglichen Bräutigam, wenn ich fragen darf, Lady Enid?«

»Die Prophezeiung, du Dummerjan. Die Randnotiz im Buch von Vinas Solamnus«, erklärte Enid schlicht.

»Also kennt Ihr die Prophezeiung?«

»Natürlich«, erwiderte sie. »Onkel Roderich ist extra nach Palanthas gereist, als ein Bibliothekar sie bei dem Text fand. Natürlich ist es dämlich, aber da in jeder Generation ein Unglück geschieht, geht die Familie allen Hinweisen nach.

Da steht etwas über eine ›Blitzklinge‹, weißt du«, fuhr sie fort, während sie uns nach links in einen anderen Gang und dann rechts entlang führte. Eine Wand von diesem Gang war mit einem Gemälde über den Fall von Ergod bemalt. Die andere war völlig nackt bis auf eine Tür, die nach Angaben der Mädchen zu einem Balkon über dem Speisesaal führte. »Und Vater hat sich an diese Prophezeiung geklammert und sie als Omen genommen, daß wir uns durch Heirat mit den Blitzklinges verbinden müßten.«

»Das sagt der Wortlaut der Prophezeiung natürlich nicht so klar«, fügte Danielle hinzu. »Man kann sie auf verschiedene Arten lesen – daß irgendwie ›die blitzende Klinge den Fluch aufhebt‹ oder so was, woraus Onkel Robert geschlossen hat, daß Enid einen von ihnen heiraten muß.

Das war auch der Grund für das Turnier. Onkel Robert glaubte, wenn es ein Turnier geben würde, würde Bayard Blitzklinge dabei auftauchen. Es war unter anderem auch ein Vorwand, um ihn herzulocken.«

»Was natürlich nicht funktioniert hat«, seufzte Enid und nahm so den Faden wieder auf. »Wo hat Sir Bayard gesteckt – hat er sich im Wald verlaufen?«

Ich errötete noch heftiger, falls das möglich war. Enid überging das einfach.

»Ich habe ihn zwar erst einmal gesehen, aber im Vergleich zu diesem… Androctus schneidet er nicht schlecht ab.

Aber den muß ich leider heiraten.«

»Aber – «, fing ich an, doch Danielle unterbrach mich.

»Onkel Robert sagt, daß Enid sich keine Gedanken machen soll. Die Heirat mit diesem Androctus – eigentlich mit egal welchem Ritter – wird ihr Leben kaum verändern. Er behauptet, jeder, der eine di Caela heiratet, wird dadurch ein di Caela, und sagt, daß sie hier im Schloß bleiben und im Prinzip so weiterleben kann wie vorher.«

»Gibt es da nicht so ein Gnomensprichwort?« fragte ich. »Ungefähr so: ›Wenn du über jemanden etwas erfahren willst, dann laß ihn in die Familie einheiraten.‹«

Beide Mädchen lachten traurig und nickten.

»Egal wie Gabriel Androctus ist«, verkündete Enid, »unsere Heirat wird das letzte Mal sein, wo ich etwas tue, was ich nicht will.«

Was sich nicht sehr vielversprechend für das Eheglück des Helden anhörte.

Doch auch das bereitete mir keine Genugtuung.

Es mußte einen Weg geben, damit Bayard recht behielt! Enids Mann mußte ein Blitzklinge sein, nicht irgend so ein Ausländer, der sich wie ein prahlerischer Henker ausstaffierte.

Die beiden Cousinen wickelten mich weiter um den Finger und führten mich im zweiten Stock der Burg herum. Dabei mästeten sie mich mit Schönheit und Aufmerksamkeit, bis sie mich unausweichlich zum Schlachten in den Speisesaal führen würden, wo Sir Robert mir die gefürchteten Fragen stellen und alle Einzelheiten über meine kriminelle Vergangenheit der letzten vierzehn Tage als Bayards Knappe aufdecken würde.

Ich wurde langsamer und erstickte ein hörbares Gähnen.

»Bitte seht dieses Gähnen nicht als Mangel an Interesse an, meine Damen. Ich finde diese Geschichte von den di Caelas und den Blitzklinges wirklich faszinierend, aber ich fürchte, ich…«

Ich legte eine Kunstpause ein und vertraute auf Höflichkeit und gute Erziehung. Womit ich nicht enttäuscht wurde.

»Base Danielle, da schleifen wir den Jungen durch das ganze Gebäude, wo er doch lieber vor dem Essen noch etwas schlafen sollte!« rief Enid aus.

»Wie furchtbar unhöflich von uns, Base Enid! Was wird er jetzt bloß von der Gastfreundschaft in Kastell di Caela denken?«

Danielle streckte die Hand aus und strich mir das Haar glatt. Wieder wurde mir heiß, und ich errötete.

»Oh, ich denke nichts Schlechtes von Eurer Gastfreundschaft, Lady Danielle. Nur, ich bin wirklich müde. Wenn Ihr mich freundlicherweise zu meinem Zimmer zurückbringen könntet, damit ich vor dem Essen noch ein Stündchen schlafen kann, wäre ich Euch schrecklich dankbar.«

Was sie ohne Zögern taten, wobei sie sich unterwegs unentwegt entschuldigten. Bei soviel Aufmerksamkeit, die mir galt, konnte ich mir nur mühsam unseren Weg durch die Gänge, an Gemälden, Statuen, Porträts und Treppe vorbei merken, bis wir schließlich die Tür erreichten, die tatsächlich meine war. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich den Irrgarten der Burg verstanden hatte oder nicht.

Dann saß ich eine Zeitlang in meinem Zimmer, wo ich einmal die roten Würfel warf und das Zeichen des Seepferdchens bekam. Ich verwünschte mich selbst dafür, daß ich nur drei von Gileandos’ Kommentaren zur Calantina gelesen hatte. Den Band über Wasserzeichen hatte ich »für später« gelassen, weil mir die Tiere darin unbekannt waren. Ob Würfel oder nicht – nachdem die Schritte vor meiner Tür in Richtung Kuckucke verklungen waren und nachdem ich wieder in den Gang getreten war und mich nach rechts und links umgesehen hatte, wo ich weder die schöne Enid noch ihre schöne Cousine sah, führte mich meine Neugier wieder den Weg der letzten Stunde entlang.

Denn ich wollte unbedingt einen Blick auf Gabriel Androctus erhaschen.


Der Weg war leicht wiederzufinden. An den Porträts vorbei, über die riesige Marmortreppe, den ersten Gang links von der Galerie ab, dann rechts, dann durch den Gang mit den Statuen. Irgendwo in den Winkeln des Hauses hörte ich hinter mir jemanden nach mir rufen. Ich blieb stehen und schaute aus dem Fenster über den Hof und die Schloßmauern auf die Felder im Westen. Dort hinten erkannte ich die gelbe Sonne von Bayards Fahne, die zwischen den Wimpeln verschiedener anderer Ritter wehte.

Wo er schließlich ein Nachtlager gefunden hatte.

Auf Zehenspitzen schlich ich mich an den marmornen di Caelas vorbei, die mich leer und mißbilligend anstarrten. Der Sockel des alten Gerald war wirklich gesprungen.

Wenn man Denis und Simon und letztens auch Muriel in Betracht zog, lag so etwas wohl in der Familie.

Dann schob ich mich an Danielles Tür vorbei.

Ich lief rechts den Gang runter, dann links, dann wieder rechts, bis ich in dem Gang stand, wo rechts von mir still und bewegungslos die Belagerung von Ergod tobte, die für immer an der Wand verewigt war.

Die Tür gegenüber führte in eine volle, warme Dunkelheit, in den Duft von kostbaren Kleidern, der von einem ganz leichten Modergeruch durchsetzt war. Irgendwo hinter der Dunkelheit konnte ich etwas hören – Stimmen, Gelächter, das Klappern von Besteck und Geschirr. Vorsichtig trat ich vor, bis meine ausgestreckte Hand Samt berührte.

Ich war hinter einem Vorhang. Wie ein schlechter Schauspieler tastete ich an dem Stoff und suchte nach einer Öffnung.

Die ich nach einigen Schwierigkeiten fand, um dann festzustellen, daß ich auf einem Balkon stand, der sich über einem Speisesaal in den Raum schob, der den großen Saal der Wasserburg winzig erscheinen ließ. Das hatte ich durchaus erwartet – aber jetzt erschien mir die heimische Burg so winzig, wie ich es mir nie hätte träumen lassen. Denn der Speisesaal von Kastell di Caela war allein schon so groß wie die ganze Wasserburg, und der Preis für die Dekoration dieses einen großen Raumes hätte alle Schätze der Pfadwächter verschlungen.

Fackeln und Kerzen tauchten den Raum in gleichmäßiges, weißes, gelbes, bernsteinfarbenes und rotes Licht, und die, die da unten im Saal das Festessen vorbereiteten, wirkten fast wie Spielzeuge. Musikanten stimmten Gitarre und Elfencello, in der Mitte des Raumes übten noch ein paar Gaukler, und um die Künstler herum waren etwa vierzig Bedienstete mit ihren jeweiligen Pflichten beschäftigt – Tischtücher auflegen, Geschirr, Besteck und Gläser vor jedem Stuhl aufdecken.

Ich setzte mich oben im Dunkeln hin und sah zu, wie das Bankett begann.

Nicht lange, nachdem ich den Vorhang geteilt hatte, spielten die Musikanten eine feierliche, solamnische Melodie. Ich nieste einmal in den dicken Samt, dann setzte ich mich wieder zurecht, um zuzusehen, wie allmählich die Bewohner von Kastell di Caela und ihre Gäste in den Speisesaal traten.

Zuerst die Damen. Blumengeschmückt und in unglaublich blauem Leinen führte die blonde Enid die Prozession an. Bestimmt würde sie am kommenden Sonntag noch schöner aussehen, wenn sie im kompletten Hochzeitsstaat von Solamnia vorausschritt, aber von meinem Platz aus konnte ich jetzt einen besorgten Ausdruck auf ihrem Gesicht erkennen. Etwas schien diese wundervollen, braunen Augen zu beunruhigen.

Danielle folgte ihr, wobei sie die Hände wie eine Brautjungfer vor sich gefaltet hielt. Ich sah ihr an, daß sie immer noch über die Situation und die bevorstehende Heirat ihrer Kusine entrüstet war. Sie beugte sich vor und flüsterte Enid etwas zu, und trotz all der Feierlichkeit begannen die Schultern der Kusinen vor stillem Lachen zu zucken.

Nach diesen beiden kamen verschiedene andere Hofdamen, die im Vergleich zu den di Caelas verblaßten. Danach die Ritter, von denen einige anscheinend am Turnier teilgenommen hatten. Am auffälligsten davon waren ein großgewachsener Mann mit einem muschelförmigen Helm und ein Koloß von vierhundert Pfund in einem grellen Prunkharnisch.

Sir Ledyard und Sir Ramiro, sollte ich später erfahren.

Sir Robert di Caela ging am Schluß des Zuges und setzte sich an das Kopfende der riesigen Mahagonitafel in der Mitte des Raumes. Ich beobachtete, wie die übrigen Ritter an ihren Stühlen standen, bis der alte Mann sich gesetzt hatte. Der hochlehnige Stuhl zu seiner Rechten war noch frei – er war anscheinend für den Bräutigam reserviert.

Waren diese Ritter Rivalen des Bräutigams gewesen, hatten sie um Lady Enid gekämpft und geworben? Sie wirkten etwas zu alt für solche Torheiten.

Dann folgten jüngere Männer, von denen viele ihren ersten »Turnierorden« mitbrachten, wie Vater es nannte – eine Beule oder eine Verstauchung oder gar einen Knochenbruch, der ihre erste Teilnahme an einem Turnier verkündete. Mehrere trugen die Arme in Schlingen und Schienen, und einer der Männer, der sich offenbar den Knöchel gebrochen hatte, mußte sich auf die Schultern von zwei anderen stützen.

Alfrik und Brithelm kamen zusammen mit diesen Männern herein. In all diesem solamnischen Glanz und Prunk wirkten beide etwas fehl am Platz. Alfrik erinnerte mich wie üblich an einen Hanswurst, aber es tat gut, Brithelm zu sehen – in seinen roten Roben und ungekämmt, doch heil und gesund und nicht bereit, sich nur wegen der Gesellschaft zu zieren. Ich merkte, wie ich auf einmal überraschend froh war, daß er gekommen war und meinen ältesten Bruder aus dem Treibsand gezogen hatte.

Trotz all der jungen Kämpfer, die hier versammelt waren, und trotz der normalerweise gelösten Stimmung am Vorabend einer Hochzeit, besonders bei einem Bankett, wo es Musik und Wein im Übermaß geben würde, war die Stimmung da unten nüchtern, ja, trostlos.

Und trostlos blieb sie, bis sich fast alle Ritter gesetzt hatten. Dann wurde die Musik leiser, und auf Anweisung von Sir Robert, der anscheinend selbst etwas sentimental veranlagt war, huschten Diener durch den Raum und löschten fast die Hälfte der Kerzen und Lampen und ein paar Kerzen in dem Kronleuchter, der in der Mitte des Saals von der Decke hing. Jetzt herrschte ein tief bernsteinfarbenes Licht. Im flackernden Kerzenschein, der auf seinem polierten Brustharnisch glitzerte, betrat der Bräutigam zu einem feschen Marschlied der Cellos und eines kleinen, silbernen Kornetts den Saal. Auch das Kornett glitzerte in den Händen des Musikanten auf der anderen Seite des Saals.

Von hier oben aus konnte ich ihn in dem Dämmerlicht schlecht erkennen. Seine Schritte waren lang und zielstrebig, und ich bemerkte, daß selbst einige der imposanteren Ritter bei seinem Nahen ängstlich zurückwichen.

Auf einen Wink von Sir Robert standen die, die sich bereits gesetzt hatten, respektvoll auf, und jeder Ritter erhob sein Weinglas in Richtung auf die dunkel gekleidete Gestalt, die da kam. Das Fackellicht ließ die Kristallgläser und den roten Wein schimmern.

Vor Sir Roberts Tisch blieb Sir Gabriel in Habachtstellung mit den Händen auf dem Rücken stehen. In dem spärlichen Licht des großen Saals der di Caelas konnte ich einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen: Es war blaß, hatte dunkle Brauen, aber er sah gewiß gut aus. Auch schien er nicht zu alt für ein Turnier aus diesem Anlaß, im Gegensatz zu einigen anderen Anwesenden, die – falls sie tatsächlich in den letzten Tagen daran teilgenommen hatten – sich hätten schämen sollen, daß sie sich aufführten, als wären sie erst halb so alt.

Sir Gabriel schien genau zu wissen, was er tat. Wie ein Tanzmeister, der für Pomp und Rituale geboren ist, erledigte er den zeremoniellen Teil des Banketts.

Sir Robert stand mit erhobenem Glas vor ihm.

»Gesundheit und ein langes Leben für Gabriel Androctus, Ritter des Schwertes von Solamnia«, fing er an. »Dem wir am Nachmittag nach diesem einmaligen Abendbankett unser größtes Juwel übergeben werden.«

»Gesundheit und ein langes Leben für Sir Robert di Caela, den Herrn des Hauses di Caela«, setzte Sir Gabriel Androctus zu seiner Erwiderung an, doch weiter drang kein Wort mehr zu meinem Verstand vor, so entgeistert war ich angesichts der bekannten, honigsüßen, giftigen Stimme. Einer Stimme, die ich sofort erkannte, denn ich hatte sie in der Wasserburg und im Sumpf gehört.

Der Bräutigam war der Skorpion.

14

Als Sir Robert nach mir schickte, lag ich wieder in meinem Bett. In Decken eingepackt täuschte ich Fieber vor, stöhnte den Wachen, die mich abholen wollten, mitleiderregend etwas vor und schickte sie dann mit meinem Bedauern zu Sir Robert zurück.

Jetzt kam der schwierige Teil. Die Gänge hatte ich mir zwar gut eingeprägt, doch ich hatte nicht die geringste Ahnung, was hinter den meisten Türen lag. Hinter irgendeiner mußte natürlich das Zimmer des Skorpions sein, in dem es einen Hinweis darauf geben mochte, wer er war, und was er wirklich wollte.

Der Fluch von Kastell di Caela war überfällig, und nach Bayards Geschichte damals in den Bergen war ich sicher, daß der alte Benedikt – nämlich der Skorpion – wieder da war.


Beim Warten spielte ich unschlüssig mit der Calantina herum. Ich ging meine Möglichkeiten durch. Vor dem Fenster legte sich die Dämmerung über den Hof, die Mauern und Türme und die weiten Ländereien von Kastell di Caela. Irgendwo über mir – vielleicht genau auf der Spitze dieses Turms, wo das Banner der di Caelas noch eine letzte Stunde rot und blau und weiß herumflatterte, bevor ein Klettermaxe von Diener es für die Nacht einholen würde – begann eine Nachtigall ihre dunkle Serenade an Monde und Sterne.

Im Zimmer waren nur drei Kerzen, die ich alle gegen die einbrechende Dunkelheit anzündete. Dann ging ich zum Fenster und sah nach unten.

Der Burghof unter mir war bereits in Schatten gehüllt, und schemenhaft bewegten sich Diener darin, die aufgezäumte Pferde für abreisende Ritter bereitstellten. Das Bankett war schon fast vorbei. Irgendwo vom Speisesaal hörte ich grölende Lieder, ein sicheres Zeichen, daß man beim Fest von Wildbret zu Schnaps übergegangen war.

Immer noch kein Plan. Das Wiesel steckte fest. Ich überlegte fieberhaft, nahm wieder die Würfel zur Hand.

Zeichen des Drachen? Irgend etwas von den Versen fiel mir wieder ein – so was wie »eine Maske der Unschuld zerstören«. Ich konnte mich an nichts weiter erinnern, so daß ich es fürs erste sein ließ und mich wieder aufs Bett setzte, wo ich in den Kamin und in das heruntergebrannte Feuer starrte, das einer meiner Brüder vor meiner Ankunft im Schloß angezündet haben mußte. Das Feuer war jetzt fast erloschen und ließ die Finsternis ins Zimmer.

Ich griff gerade nach einer Kerze, als ich Geräusche am Fenster hörte – Kratzen und das Schlagen von Flügeln und einem Schnabel gegen das Fenster. Mir blieb das Herz stehen.

Ich lief zum Fenster und machte es weit auf, obwohl ich genau wußte – wie man das eben durch Ahnung oder Instinkt weiß –, was mich draußen erwartete.

Ich frage mich heute noch, warum ich den Raben hereinließ. Ich wußte, wo er herkam, und ich wußte Bescheid über den, der ihn geschickt hatte – geschickt oder sich selbst in ihn verwandelt hatte oder in ihn eingedrungen war wie Wasser in einen Krug. Ich habe nie herausgefunden, wie es funktionierte. Obwohl alles, was ich vom Skorpion wußte, brutal und oft blutrünstig war, machte ich das Fenster auf.

Während ich zum Fenster lief, stieg jede nur mögliche Angst in mir auf. Ich dachte an die Drohungen in der Wasserburg und im Wächtersumpf, an die so unheimlich verwandelten Ziegen und an den toten Agion im Vingaard-Gebirge, dem die scharfen Zinken eines Dreizacks grausam tief in der Brust steckten. Auf dem kurzen Weg vom Bett zum Fensterladen hatte ich sogar so intensiv daran gedacht, daß ich einen Augenblick lang erleichtert und direkt etwas enttäuscht war, als ein lebendiger, atmender Rabe ins Zimmer flog, wo ich mich doch auf ein Monster vorbereitet hatte.

Er starrte mir direkt ins Gesicht, wie ein Mensch oder ein Pferd starren würden, anstatt den Kopf zur Seite zu drehen und mich mit dem einen glitzernden Auge zu betrachten, wie das jeder natürliche Vogel tun würde. Und die Stimme war überhaupt nicht natürlich, allerdings erschreckend bekannt.

»Das Wiesel wieder. Deine dummen Brüder haben deine Ankunft heute abend überall herum erzählt, und du hast gewiß die Neugier des Alten di Caela auf dich gezogen. Er hat viele Fragen an dich.«

»An mich? Ich bin doch bloß ein einfacher Knappe. Ex-Knappe, genau genommen«, sagte ich, während sich meine Gedanken überschlugen.

»Nun«, zischte der Rabe, »er ist einfach ein wenig… betrübt, was Bayard betrifft – der doch auf die Prophezeiung hin den ganzen Weg auf sich genommen hat, nur um durch viel Pech und Verzögerungen aus dem Rennen geworfen zu werden.« – Ich schwöre, daß der Rabe an dieser Stelle kicherte. – »Nur du und ich wissen, daß du dieses Pech warst, kleiner Freund. Du hast die Verspätung auf dem Gewissen. Sir Robert vermutet das, aber nur du und ich wissen es.«

»Und trotzdem«, versuchte ich es, »Bayard tut mir leid.« Ich tat möglichst unbeschwert. »Bloß weil er Enid di Caelas Hand nicht errungen hat, kann er doch nicht völlig leer ausgehen. Bestimmt habt Ihr, wo Ihr soviel Glück gehabt habt, doch ein kleines bißchen Mitleid mit ihm.«

»Soviel Glück?« tobte die Stimme los und versuchte, der schmalen Vogelkehle einen Schrei zu entlocken, während der Rabe in einem zunehmend hektischen Kreis zwischen Kamin und Bettpfosten herumflog. »Du nennst vierhundert Jahre vergebliche Bemühungen und vergebliche Pläne ›Glück‹?«

Der Rabe flatterte zum Fensterbrett, wo er mit seinen gelben Krallen zum Himmel über dem hohen Turm des Schlosses zeigte. Über dem konischen Dach, dessen Fahnenstange jetzt leer war, und hinter den dünnen Wolkenschwaden konnte ich sehen, wo die verfeindeten Konstellationen sich trafen, wo der Kiefer von Paladin dort an der nördlichsten Himmelsecke nach Takhisis’ Schwanz schnappte. Um diesen ewigen, unsterblichen Zwist glitzerten die kleineren Sterne wie Tausende von eingenähten Juwelen.

»Nein, kleiner Freund«, fuhr die Stimme fort, während der Rabe eine knochige, gelbe Kralle aus seinen Federn streckte und seine Augen erst rot, dann orange, dann gelb glitzerten.

»Bayard stürmt herbei, um Prophezeiungen zu erfüllen, die vor Jahrhunderten geschrieben wurden. Prophezeiungen, die die Niederlage von Benedikt di Caela und seinen Nachfahren verkünden.«

Ich nickte blöd, wie ein Junge, der dem Schulmeister zustimmt, obwohl die Stunde völlig an ihm vorbeigerauscht ist.

»Prophezeiungen, die von Männern stammen, die… vielleicht eine Vision empfangen haben. Eine Vision aus einem blendenden Verschmelzen von Licht und Begreifen. Doch hinterher, wenn die Vision vorüber ist und sie etwas daraus herleiten sollen – aus dem Chaos von Worten und Namen und Ereignisberichten, die noch gar nicht geschehen sind, sondern noch bevorstehen –, wer kann da behaupten, daß sie verstanden haben, was sie aufgeschrieben haben?

Wer kann behaupten, daß Bayard es verstanden hat? Denn ich will dir sagen, es gibt mehr als eine Art, diese Prophezeiung da zu lesen.«

Der Vogel hockte auf dem Fensterbrett und sah mich intelligent und grausam an. Da bemerkte ich zum erstenmal, daß seine Federn matt und stumpf waren, und daß die Daunen auf seinem Kopf schon dünn wurden, als wenn das Tier von einer seltsamen, zehrenden Krankheit besessen wäre.

Ich hörte etwas am Fensterglas und wandte mich diesem neuen Geräusch zu, wobei ich den Vögel sorgfältig im Blick behielt.

Im Hof fiel Schnee. Schnee im Frühherbst – unnatürlich und unheimlich. Während der Schnee fiel, sprach der Rabe.

»Kennst du die Geschichte von Enrik Sturmfeste?«

Ich kannte sie nicht und schüttelte stumm den Kopf.

»Enrik Sturmfeste – einst Ritter des Schwertes wie Bayard Blitzklinge, dann Ritter der Krone. Er wollte Ritter der Rose werden und strebte dies nicht an, weil er bei diesem Orden so viel Gutes vollbringen konnte, o nein, sondern wegen der Verlockungen von Ehre und Ruhm, die mit diesem Orden einhergingen.

O ja, ich weiß, daß ein Ritter nach beidem streben kann. Er kann sich gleichzeitig von ganzem Herzen nach dem Ruhm der Ritterschaft und nach den guten Taten sehnen. Ich weiß auch, daß an so einem Gleichgewicht der Bestrebungen nichts auszusetzen ist.

Nicht… unbedingt.

Es war Enrik Sturmfeste, der die Ritter gegen die Männer von Neraka führte, in die Pässe hinunter, wo dein Ahnherr« – er zeigte auf mich – »sich durch Tapferkeit auszeichnete, falls du dir das vorstellen kannst, und den Familiennamen errang, den du in den letzten miesen Monaten durch den Dreck gezogen und mit Füßen getreten hast…«

»Auf Euer Drängen hin!« schrie ich, und der Rabe lachte.

»Das sei noch dahingestellt, kleines Wiesel. Aber zurück zu Enrik Sturmfeste. Es gibt ein Gerücht, daß er einen Calantiner um Rat gefragt hat. Vielleicht hast du von ihnen gehört. Es sind Priester des falschen Gottes Gilean oder zumindest die falsche Version dieses falschen Glaubens, wie er in Estwilde auftritt. Sie lesen aus den roten Würfeln und deklamieren Verse über Tiere. Und nennen das Prophezeiung.«

Seine kleinen, schwarzen Äuglein glitzerten vor Bosheit. Sie waren hellwach – die kalten Augen einer Viper.

»Ich kenne die Calantina. Aber was war mit Enrik?«

»Nun, auf Enriks Schultern lastete die Verteidigung von ganz Solamnia. Obwohl er ein tapferer, ehrenwerter Ritter war, war das eine schwere Last. Er war sich nicht so sicher, ob seine Strategie klug oder sein Herz stark genug war, darum fragte er den Calantiner nach dem Ausgang des Feldzugs. Hätte er nicht gefragt, sondern sich auf die Eingaben seines großen Mutes verlassen und den Wegen und dem Willen der Götter vertraut, hätten wir ihm da nicht mehr vertraut und mehr an ihn geglaubt?«

»Der Calantiner, Sir. Die Prophezeiung.«

»Der Calantiner warf die Zwei und die Zehn«, erklärte der Rabe, um dann den Kopf zurückzuwerfen und rauh zu lachen.

Zwei und zehn. Zeichen des Raben.

»Das Orakel selbst hatte natürlich recht. Das Zeichen des Raben ist das der Illusion. Man wiegt sich auf gefährlichem Boden fälschlich in Sicherheit. Nicht wahr, Galen Pfadwächter?«

Ich stammelte herum.

»Das ist eine Auslegung, Sir.«

»Wie ein richtiger Calantiner«, grinste der Rabe gemein. »Natürlich nickte der Calantiner, der für Enrik die Würfel befragte, wiederholt und sagte: ›Sir, das Orakel sagt, daß Eure Verteidigung von Solamnia gegen die Truppen von Neraka Eure letzte Schlacht sein wird. Danach werdet Ihr und Solamnia wieder Frieden finden.‹

Und Enrik war erleichtert über das Orakel, das ihm und seinen Armeen Erfolg verhieß. In der einen Auslegung.

Dann geschahen andere Dinge – die sich Enrik nicht hatte vorstellen können, und die die Calantiner nicht gesagt hatten, ob sie das nun vorhergesehen hatten oder nicht. Was spielt das schließlich auch für eine Rolle? Der Frieden, der für Solamnia kam, stammte tatsächlich von dem siegreichen Feldzug, den Enrik Sturmfeste führte, der eine Handvoll Männer am Chaktamir Paß zurückließ, wo sie die Armee von Neraka von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang aufhielten, womit sie für die Solamnier unter enormen Verlusten wertvolle Zeit erkauften.

Zweihundert Ritter sollen diesen Paß verteidigt haben. Fünfzehn überlebten, um von diesen Helden zu erzählen.

Unter ihnen dein Vater, Galen.«

»Er redet aber nicht viel davon. Und was war mit Enrik?«

»Enrik. Der fand auch Frieden, wie der Calantiner es vorhergesagt hatte. Während die tapferen Männer Chaktamir hielten, führte Enrik seinen Trupp zu einem anderen Übergang, der nicht leicht zugänglich war. Sie umgingen die Nerakaner im Süden und brachten den Tod aus dem Osten. Von den tausend Nerakanern im Paß überlebte nicht ein Mann.

Aber der Friede, den Enrik fand, war der Schlaf des Todes, den ihm in der letzten Stunde des Kampfes ein nerakanischer Pfeil brachte. Als er die siegreiche Fahne der solamnischen Armee hochhielt, sprang ein verwundeter Bogenschütze, der wie tot mitten auf dem Paß gelegen hatte, auf und schoß Enrik Sturmfeste einen schwarzen Pfeil in den Hals.«

»Einen schwarzen Pfeil?«

»Rabenfedern, Galen Pfadwächter. Also hatten die Calantiner recht, und das Zeichen des Raben triumphierte auf eine Weise, die kein Mensch – nicht einmal die Calantiner selbst – vorhergesehen hatte.«

»Das ist ja alles gut und schön, Sir, aber ich gebe zu, daß ich nicht recht weiß, was diese ganze Geschichte von Enrik Sturmfeste zu bedeuten hat. Was hat sie mit Eurer Anwesenheit hier in Kastell di Caela zu tun? Heißt das nun, daß Prophezeiungen etwas ganz anderes bedeuten können, als wir glauben? Wenn das so ist, dann werde ich mir diesen Rat bestimmt zu Herzen nehmen. Unheilvolles Gerede ist gar nicht nötig.«

»Oh… Prophezeiungen können für unterschiedliche Ohren unterschiedliche Dinge bedeuten. Das ist sogar mit Orten so«, krächzte der Rabe.

»Was bedeutet Chaktamir für Euch?« Der Vogel legte neugierig und verschlagen den Kopf schief. »Ich meine… es ist Geschichte, Sir. Wo die Solamnier die Nerakaner aufgehalten haben. Wo Vater gekämpft hat.«

»Oh, aber es ist noch so viel mehr«, krächzte der Rabe trocken. »Für unterschiedliche Augen können Orte Unterschiedliches bedeuten. Genauso wie Geschichten, junger Mann.«

»Geschichten?«

»Zum Beispiel die Geschichte von Benedikt di Caela.« Als dieser Name fiel, flackerten die drei dünnen Kerzen und gingen aus, wodurch der Raum noch tiefer in Finsternis getaucht wurde. Dann spürte ich Stiche auf meiner Schulter, das Prickeln kleiner Krallen, als wenn eine Ratte auf mir säße. Ich wollte das Tier abstreifen, doch ich konnte mich nicht mehr rühren.

Dann streifte eine Feder über meine Brust, und ich roch Parfüm. Darunter lag ein Geruch von etwas Altem, das bereits zu faulen begann. Dann ertönte wieder die Stimme.

»Du kennst die Geschichte von Benedikt di Caela? Hör sie noch einmal, kleiner Galen, diesmal so, wie es wirklich geschah. Denn Geschichte ist ein Netz, ein Labyrinth, und wer sich daran erinnert, weiß nur noch, wie er selbst daraus hervorging.«

»Ich wußte es«, stammelte ich, und der Vogel auf meiner Schulter lachte trocken und siegessicher.

»Wußtest… was?« fragte er mit spielerischer Grausamkeit.

»Daß Ihr Benedikt di Caela wart! Daß der Skorpion und Sir Gabriel Androctus – alle beide – Benedikt di Caela waren!«

»Benedikt di Caela sind«, zischte der Rabe. »Das ist keine große Erkenntnis, Wiesel. Ich komme ziemlich oft hierher zurück, weißt du. Aber das tue ich, weil das Schloß mir gehört. Und das Land. Und der Titel.

Vor vierhundert Jahren bin ich zweimal gestorben. Einmal im Osten von hier, bei Chaktamir, das mehr ist als nur ein Inbegriff für solamnisches Säbelrasseln. Mehr als der Paß, wo Enrik Sturmfeste fiel.«

»Ich dachte, Ihr wärt auf der Trotylhalde bei Estwilde besiegt worden.«

»Ja, das ist die Version der Familie, daß ich dort umkam. Daß ich nur so weit nach Osten gezogen bin und unterwegs eine Rebellenarmee aufgestellt habe. Aber in Wahrheit, kleines Wiesel, wurde ich wie der gemeine Verbrecher gejagt, zu dem sie mich erklärt hatten. Als ich mich allein und untröstlich ostwärts nach Neraka zurückzog, wo ich mir zu guter Letzt Sicherheit erhoffte, holten sie mich zu siebt ein. Dort hat mich mein Bruder Gabriel umgebracht und mir den Kopf abgeschlagen.

Aber da war ich sowieso schon tot. Sozusagen, jedenfalls. Denn mein Vater Gabriel hatte mich im großen Saal für tot erklärt, da, wo ich heute abend gespeist habe, damit er Land und Titel widerrechtlich meinem jüngeren Bruder und Mörder übertragen konnte. Den Vater immer vorgezogen hatte.«

»Sir, ich hasse es ja, allzu pingelig zu sein, aber da war doch schließlich dieses kleine Ereignis mit dem mysteriösen Tod Eures älteren Bruders Dunkan, das doch irgendwie mit dem zusammenhing, was Ihr da im Schloßturm zusammengebraut habt. Schließlich erklären Väter ihre Söhne gewöhnlich nicht einfach so für tot.«

»Doch es war einfach so, Galen. Du kennst jetzt die Gabriels aus dieser Geschichte und weißt, daß sie keine Gnade mit Gegnern oder Rivalen zeigen.

Und das war ich für sie. Ein Gegner. Ein Rivale. Mein Gift war für die Ratten, egal was für Gemeinheiten sie sich vorstellten.«

»Es fällt mir schwer, das zu glauben, Sir.« Die Krallen gruben sich scharf in meine Schulter. Ich zuckte zusammen und unterdrückte einen Schrei, während der ungesunde, warme Geruch wieder an mir vorbeistrich.

»Ob es dir schwerfällt, mir zu glauben, kann mir egal sein«, schimpfte der Rabe. »Bruder Dunkan starb an irgend etwas anderem. Wer weiß, was es war? Was es auch war, es war nicht meine Schuld.«

»Und das Feuer?«

»Stammte zugegebenermaßen von mir. Ja, ich habe den Körper meines Bruders in einem der Turmzimmer verbrannt, die du von hier aus sehen kannst. Es war ein… sehr solamnisches Feuer, denn Dunkan verbrannte mit seinen Waffen und hielt in den auf der Brust gefalteten Händen einen Band des Maßstabs. Sie haben dir natürlich nicht erzählt, daß ich ihn wie einen Helden hinübergeschickt habe, weil sie ja so in ihrer Aura von Verrat und Intrigen gefangen sind. Ein Fehler der di Caelas, weiß ich – kompliziertere Intrigen, als ihnen gut täte.«

»Aber warum Dunkans Körper verbrennen? Die Kleriker der Mishakal, die den Toten nach Spuren von Gift untersuchten – «

»Hätten gefunden, was Vater ihnen vorgegeben hätte. Und er hätte damit seinen Beweis gehabt. Das Zeugnis dieser unantastbaren Männer der Göttin, die sagen würden: ›Ja, Sir Gabriel, Euer jüngster Sohn – der nach Euch benannt ist – ist jetzt Euer würdigster Erbe, während der mittlere Sohn ein verworfener Schurke ist, wie Ihr das schon immer geahnt habt.‹

Aber ich hatte meinem Bruder nichts getan. Statt dessen hatte ich alle Regeln eingehalten und war der anständige zweite Sohn gewesen, bis Vater mich für tot erklärte.

Dann versuchte ich vier Jahrhunderte lang, gewaltsam zurückzuerobern, was mir rechtmäßig gehörte, was mir durch hinterhältige Bestrebungen genommen worden war. Du hast bestimmt von den Ratten, von der Flut, dem Feuer und den Ogern gehört. In jeder Generation entfesselte ich eine neue Naturkatastrophe, und jedesmal fand ein gewitzter di Caela einen Weg, mir erneut mein Erbe vorzuenthalten.«

»Wie ist das eigentlich, Sir? Wenn man tot ist? Und warum zwischendurch immer eine Generation verstreichen lassen?«

Es gab eine lange Pause, während der das Dunkel über mir in Schweigen gehüllt war, in übermäßig süße Blumenessenzen und in das Rascheln der Flügel.

Der Vögel fing flüsternd an.

»Ich kann mich daran erinnern… oder ich glaube das zumindest… wie ich mit den Ratten, die ich auf das Schloß gehetzt hatte, im Turm verbrannte. Ich erinnere mich daran, in der Flut zu ertrinken, erinnere mich an alle möglichen Unglücke unter allen möglichen katastrophalen Umständen. Und wenn die Erinnerung dann wieder Form annimmt, sind zwanzig oder dreißig Jahre vergangen.

Dazwischen liegt eine heiße, rote Finsternis. Die meiste Zeit davon verschlafe ich. Manchmal erinnere ich mich an Lichter – rote Lichter, als ob der Rauch selbst brennen würde. Und Stimmen, auch wenn ich in der Geräuschkulisse um mich herum nie richtige Worte ausmachen kann.

Einmal floß die Finsternis in einen höhlenartigen Raum mit einem spiegelglatten Boden aus poliertem Marmor. Und auf diesem Spiegel saßen ein paar Ritter mit zerbrochenen Waffen und gesenkten Köpfen, die in den Spiegel starrten, der nur die Sterne reflektierte.

Ich weiß nur, daß ich von diesen Männern und diesem Spiegel geträumt habe.

Einmal wurde die Finsternis zu einer kahlen Landschaft voller Krater, und der Mond, der sich darüber erhob, war so schwarz wie der Onyxspiegel, aber dennoch irgendwie strahlend. In diesem gottverlassenen Land gab es keinerlei Leben, nur irgendwo im Schatten der Felsen heulte und plapperte etwas – ob es verwundet war oder auf der Lauer lag, konnte ich nicht feststellen.

Das war am Anfang. Ich weiß auch nicht genau, ob ich von diesem Land nur geträumt habe.«

Er machte eine Pause. Ein schwaches Licht fiel auf den Fensterrahmen. Solinari ging auf, und die anderen Sachen – große Sachen – im Zimmer nahmen wieder Gestalt an. Ich konnte die Umrisse von Bett und Garderobe sehen.

»Aber unabhängig von dem Traum«, fuhr der Rabe fort, »unabhängig von den Schreien, den Qualen und dem langen Schlaf, erwachte ich jedesmal benommen im Sonnenschein und war wieder auf Krynn. Und jedesmal ging ich wieder an die Aufgabe, das zurückzugewinnen, was eigentlich mir gehörte.

Diesmal jedoch ist das anders. Denn zum erstenmal in diesen vierhundert Jahren fällt das Erbe der di Caelas an eine Frau. An Lady Enid. Und diesmal habe ich mich dazu entschieden, keine Goblins, keine… Skorpione. Ich werde niemanden ermorden, niemanden bestehlen.

Vielleicht hast du dich gewundert, warum ich nicht gleich über Bayard und dich hergefallen bin, um euch zu töten?«

»Der Gedanke kam mir irgendwann, Sir, doch ich hatte keine Einwände gegen Eure Umsicht, falls es Umsicht war.«

»Ich habe die Regeln befolgt. Ich habe niemanden ermordet.«

»Dieser Regel folgen die meisten Leute, Sir. In Küstenlund hält man es für ganz normal, einen Tag ohne Mord zu verbringen. Nur, was ist mit den Rittern beim Turnier?«

»Die sind unter den fairen und beiderseitig akzeptierten Regeln des solamnischen Zweikampfs gefallen. Was nicht heißen soll, daß es mir keinen Spaß gemacht hätte, als Orban von Kern tot umfiel, oder als meine Klinge Sir Prosper Inverno traf.«

»Und Jaffa? Was ist mit dem Bauern?«

»Der ist mit dem Schwert auf mich losgegangen, Wiesel. Was hätte ich denn tun sollen? Und dennoch genoß ich seinen Tod, weil ich wußte, daß man ihn Bayard Blitzklinge anlasten würde.«

Ich hielt inne und atmete einmal tief durch, bevor ich fragte:

»Was ist mit Agion?«

»Agion?« Der Vogel auf meiner Schulter setzte sich um. Wieder nahm ich den Modergeruch unter dem Parfüm wahr.

»Der Zentaur, verdammt! Die Sache mit dem Oger im Vingaard-Gebirge trug voll und ganz Eure Handschrift, und Ihr könnt nicht behaupten, daß – «

»Daß der Kampf zwischen Bayard und dem Oger nicht fair war? Aber natürlich kann ich das. Es war der Kampf eines Ritters gegen einen Feind, und wußte dieser Agion nicht, wie… unehrenhaft es ist, sich in einen solchen Zweikampf einzumischen? Der Tod des Zentauren ist zu bedauern, doch er wurde nur für seine Überschreitung gerecht bestraft. Oder willst du das bestreiten?«

Ich sagte kein Wort.

Aber schweigend gelobte ich mir und Agion, alles zu tun, um dieses Monster auf meiner Schulter zu erledigen.

»Nur warum? Welchen echten Nutzen habt Ihr denn noch vom Erbe der di Caelas?«

»Keinen.« Der Flügel des Vogels streifte mich wieder, und wieder zog der alte Verwesungsgeruch an mir vorbei.

»Keinen mehr. Auf dieser Seite der Finsternis verblaßt das Land, die Juwelen und das Gold leuchten wie verrottetes Holz, nicht mehr in ihrem eigentlichen Glanz. Selbst die Töchter… verblassen, weil ich mich nicht mehr an sie erinnere.

Nein, ich mache das, weil die di Caelas diese Dinge haben wollen, weil sie sie in die warmen, lebendigen Hände ihrer Nachkommen legen wollen.

Ich mache das um der Zerstörung willen, Wiesel. Einfache, klare Zerstörung. Und das reicht mir.

Darum befolge ich die Regeln und heirate Lady Enid di Caela. Und auch wenn sie ein hübsches und kluges Ding sein mag, und wenn ich es vielleicht bedaure, soviel Schönheit und Klugheit zu vergeuden, werde ich sie danach töten müssen. Mit einer ›blitzenden Klinge‹ eigener Art. Denn dann ist es aus mit den Regeln, kleiner Galen. Dann gehört mein Erbe wieder mir. Ich bin der di Caela, und mein Wort ist Gesetz.«

Ich versuchte, mich zu bewegen und das verhaßte Vieh von der Schulter abzuschütteln, doch ich war wie gelähmt. Es war, als wäre ich eines dieser Opfer, das der Skorpion sticht, um es dann an einen dunklen, fernen Ort zu ziehen, wo er über seine hilflose, sterbende Beute rennt und sich daran labt.

»Kein Sterbenswörtchen darüber, Wiesel«, wisperte der Rabe. »Oh, nein, kein Wort. Denn Sir Bayard ist jetzt schon gegen dich eingenommen, und Sir Robert kommt um vor Gram. Ich bin dir natürlich… unendlich dankbar für deine Unterstützung. Das würde mich allerdings nicht davon abhalten, dir die Augen auszupicken und sie zu fressen oder – was sagte ich so schön in der Wasserburg – dir die Haut vom Leibe zu ziehen? Oder Schlimmeres, oh, ich versichere dir, noch viel Schlimmeres, wenn du je mein Vertrauen enttäuschst.

Außerdem, kleiner Herr Galen, sind wir ja schließlich verschworene Partner, nicht wahr? Und ich habe vielleicht noch mal Verwendung für dich.«

Ich hatte keine Ahnung, was der Skorpion damals mit mir im Sinn hatte, welche heimtückische Rolle er mir in den nächsten Tagen zugedacht hatte. Ganz sicher hatte er mir mehr erzählt, als klug für ihn war, falls er nur vorhatte, das Mädchen zu heiraten und mich in Ruhe zu lassen.

Da kam Brithelm ins Zimmer, der ein Tablett mit Essen auf dem Kopf trug, und der Vogel flog los und knallte gegen das dicke Glas der Fensterscheibe, so daß er auf das Fensterbrett fiel und dunkel und regungslos im schwachen Licht des roten Mondes liegenblieb.

Dieses eine Mal war ich glücklich, daß Brithelm nie daran dachte anzuklopfen.

»Abendbrot, Galen!« flötete mein vergeistigter Bruder fröhlich und reckte den Hals, um das vollbeladene Tablett zu stabilisieren. »Die Wachen sagen, daß du im Regen stehst und die Federn hängen läßt!«

Ich merkte, daß ich die Arme wieder bewegen konnte. Ich fühlte, wie meine Beine schwach wurden und vor Erleichterung und in der Erinnerung an die Angst schlotterten.

»Ja, aber was stehst du denn da rum? Ab ins Bett, wenn es dir schlecht geht, Galen, und dann Suppe. Und Wein, auch wenn ich finde, daß du noch zu jung bist. Was soll’s, wenn du erst mal gefestigt bist, dann wette ich, du – «

»Brithelm!«

Mein Bruder hörte auf zu reden und blieb mitten im Zimmer stehen, wobei das Tablett auf seinen dicken, roten Haaren schwankte.

»Brithelm, mir geht es nicht gut.«

Während mein Bruder mich in Decken hüllte und mir heiße Suppe und gesüßten Wein verabreichte, erzählte er seine Geschichte.»Alfrik hat ebenfalls die Satyre getroffen, denen wir im Sumpf begegnet sind«, erzählte Brithelm unschuldig. »Das hat er mir erzählt. Damals wußte er auch noch nicht, daß es nur Illusionen waren. Er hat mehrere von ihnen getötet und dabei entdeckt – wie wir –, daß es Ziegen waren, und in seiner ehrenhaften Wut…«

»›Ehrenhafte Wut‹, Brithelm? Waren das Alfriks Worte?«

»Ja doch, ich halte sie für passend, du etwa nicht? Denn in seiner ehrenhaften Wut über die Tatsache, daß man unschuldige Tiere für so überaus schändliche Pläne mißbrauchte, suchte er das Lager des Zauberers und fand den Schurken unweit der Stelle, wo er die Satyre gefunden hatte. Er schlug die ganze Gruppe in die Flucht.

Vielleicht hatten wir es deshalb später so leicht, den Schurken aus dem Sumpf zu vertreiben, als wir ihn dann trafen.«

»Ich schätze, das ist Alfriks Theorie?«

»Allerdings. Er hat mir erklärt, er habe den Weg für die Heldentaten von Sir Bayard Blitzklinge freihalten wollen. Auch wenn Alfrik voller Demut bestreitet, daß ihm allein der Ruhm für die Vertreibung des Bösen aus dem Sumpf gebührt.«

»Voller Demut«, bestätigte ich.

Ich fühlte mich noch schlimmer. Die Übelkeit, die ich nur für die Wachen erfunden hatte, schien jetzt wahr zu werden und überkam mich in schwindelerregenden Wellen. Ich hustete und nieste einmal. Dann wickelte ich mich fester in die Decken und streckte die Hand nur so weit heraus, daß ich die Schale mit süßem Wein hochheben und daraus trinken konnte. Ich sah zum Fenster, wo still die kleine, dunkle Gestalt lag.

Brithelm brabbelte etwas über Alfriks Tapferkeit, wie er Alfrik aus dem Treibsand gerettet hatte, und wie sie an dem Morgen nach unserer Trennung zusammen aufgebrochen waren. Wie sie ohne Zwischenfall über die Ebenen von Küstenlund gezogen waren – auf Pferden, die Alfrik aus Dankbarkeit von Archala, dem Anführer der Zentauren, bekommen hatte, weil er geholfen hatte, die Satyre aus dem Sumpf zu vertreiben.

Anscheinend hatten sogar die Zentauren Alfrik seine haarsträubende Geschichte abgekauft.

Brithelm fand kein Ende. Er erzählte, wie schnell die Zeit auf dem Weg verstrichen war und wie angenehm, bis auf die Furcht, die in beiden aufkam, daß sie Bayards Paß womöglich nicht finden würden. Dann hätten sie sich nordwärts wenden und fast bis Palanthas reiten müssen, um die Berge zu durchqueren, und dieser Umweg hätte bedeutet, daß Alfrik das Turnier versäumte. Und Brithelm fuhr fort, daß »etwas« ihm gesagt hätte, er solle dem Flug der Raben folgen. Dann hatten unterwegs bald Raben über ihnen in den Zweigen gesessen, die unheilvoll krächzten, und als Alfrik schrie und fliehen wollte, flogen die Vögel ostwärts nach Solamnia.

Ich nippte wieder am Wein, sah nochmals aus dem Fenster und erschauerte.

Brithelm sagte, daß er und Alfrik den Paß gefunden hätten, indem sie den Raben folgten. Sie hatten die Berge mitten in der Nacht durchquert.

Die Entdeckung des Passes, die schnelle, ungehinderte Reise: Das alles war für Brithelm erstaunlich. Die Leichtigkeit war ein sicheres Zeichen, daß die Hand des Schicksals die Geschicke seines älteren Bruders lenkte. Und doch, als sie in Kastell di Caela ankamen, war zu seiner großen Überraschung – offenbar auch zu Alfriks – das Turnier schon vorbei. Sir Robert di Caela war höflich, jedoch abgelenkt und in Gedanken, als er ihnen Zimmer im Schloß zuwies und die beiden ausgiebig lobte, weil sie den rauhen, gefährlichen Weg überstanden hatten.

»Aus irgendeinem Grund ist Sir Robert allerdings über Bayard Blitzklinge äußerst ungehalten«, schloß Brithelm und starrte mich neugierig an. Es war, als würden seine Augen mich durchbohren.

Er stand vom Bett auf, wo er gesessen hatte, und ging zum Fenster. Zärtlich hob er den leblosen Körper des Vogels auf und hielt ihn in den Händen.

»Der arme Kerl muß hier reingeflogen sein und sich am Fenster zu Tode gestoßen haben. Komisch, Galen«, sagte er und drehte sich zu mir um. »Komisch, daß die Diener ihn nicht weggenommen haben, bevor sie dich hier unterbrachten. Er ist schon tagelang tot. Wie traurig.« Wenig feierlich warf er den Vogel aus dem Fenster.

»Jedenfalls ist das nichts, was ein kranker Junge in seinem Zimmer haben sollte.«

Schon tagelang tot. Wie der Gefangene in der Wasserburg.

Ob es nun vom Wein kam oder vom Fieber, oder ob ich vom Liegen müde war, meine Augen schwammen plötzlich in Tränen. Ich hatte Mühe, sie zurückzuhalten, als ich lossprudelte.

»Brithelm, ich habe furchtbare Dinge getan.«

Er sah mich scharf an und nickte. Und ich erzählte meine Geschichte oder zumindest das, was ich zu erzählen wagte.»Dieser Vogel war also Benedikt di Caela?« fragte Brithelm zwischen zwei Mundvoll hartgekochtem Ei.

»Nein, verdammt noch mal! Dieser Vogel war eine Zwischenstation für Benedikt di Caela, für Gabriel Androctus, für den Skorpion, was immer du willst. Wer oder was er auch ist, er ist immer noch hier im Schloß und heckt gemeine Pläne aus.«

Brithelm war sofort auf den Beinen und lief zur Tür.

»Du und ich müssen einfach zu Sir Robert di Caela gehen und ihm sagen, daß dieser… Gabriel Androctus, den er als seinen zukünftigen Schwiegersohn betrachtet, in Wirklichkeit der wiederauferstandene Familienfluch ist.«

»Das glaube ich kaum, Brithelm. Wer weiß, was für fiese Tricks der alte Benedikt noch im Ärmel hat.«

»Dann wird es auch Zeit, Sir Bayard die ganze Geschichte zu erzählen, Galen. Dann wärst du nicht ganz ohne Beschützer.«

»Oh, das glaube ich kaum, Brithelm! Für dich ist die Welt vielleicht wirklich ein Ort des Vertrauens, aber ich kann mich darauf verlassen, daß Bayard Blitzklinge mich zerlegt, wenn er diese Geschichte erfährt.«

»Dann«, entschied Brithelm, »ist eben Zerlegen angesagt. Möchtest du deine Suppe?«

»Nein… Ich bin kein bißchen hungrig. Auch kein bißchen nüchtern nach dem ganzen süßen Wein, den du mir verabreicht hast. Ich bin aber noch nicht betrunken genug, um alles aus meiner dunklen Vergangenheit zu gestehen. Ich fürchte, dazu brauchte ich Zwergenschnaps oder Stärkeres.«

Brithelm nickte und versenkte sein breites Gesicht in der Suppenschüssel. Als er wieder Atem holte, hatte er wenig zu sagen.

»Wir gehen zu Bayard, sobald du das Fieber überstanden hast. Also, wir müssen zu ihm. Denk doch mal an Sir Robert. Denk an Enid – wenn auch nur die Hälfte von dem, was der Rabe verkündet hat, wahr ist, schwebt sie in schrecklicher Gefahr. Denk an Agion.«

Irgend etwas jenseits von Wein und Fieber zwang mich dazu. Dieses Mal war ich mir sicher.

»Brithelm, ich muß es heute nacht tun. Morgen mittag wird Bayard schon fort sein – darauf kannst du wetten. Er ist zu niedergeschlagen, um zur Hochzeit zu bleiben. – Die Hochzeit!«

»Hab ich auch vergessen«, erklärte Brithelm ruhig. »Sind das da am Boden der Schüssel Kartoffeln? Ich habe sie übrig gelassen, weil ich dachte, es sind Rüben.«

»Wir müssen Bayard holen, und zwar heute nacht!«

»Sehr richtig«, stimmte Brithelm zu und beugte sich neugierig über die Suppenschüssel.

Er sah mich wieder an, als ob er durch mich hindurch sehen könnte.

»Und keine Lügen diesmal, Galen. Nicht wie Alfrik.«

Er mußte meinen überraschten Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er lachte, schaute nach unten und rührte mit seinem Finger in der Schüssel herum.

»Du hast doch nicht etwa gedacht, ich hätte unserem Bruder seine Heldengeschichten geglaubt?«

»Aber warum…«

Er blickte wieder hoch und lächelte mich an.

»Einfach weil es ihm dann besser geht. Er war furchtbar beschämt – immer wieder hatte man ihn als Knappe übergangen, und als er schließlich etwas dagegen tun wollte, hat ihn sein kleiner Bruder bis zum Bauch im Wächtersumpf stecken lassen, wo er um Hilfe schrie, bis sein mittlerer Bruder ihn retten kam. Er brauchte ein bißchen… Ausschmückung für seine Geschichte, den Teil, wo er der Held war.«

»Aber was ist mit mir, warum soll ich Sir Bayard alles erzählen?«

»Gleicher Grund.«

Wieder blickte er in die Schüssel und rührte noch etwas um.

»Kartoffeln werden so durchsichtig, wenn man sie zu lange kocht. Sind das hier Rüben, Galen?«

Er hielt mir die Schüssel hin und hatte wieder sein seliges, leeres Grinsen aufgesetzt.


Wie man sich leicht vorstellen kann, war Bayard nicht gerade übermäßig erfreut, mich zu sehen. Die Nachtluft drang noch viel eisiger durch meinen Mantel als oben in den Bergen, so daß ich zitternd zu dem Pavillon kam, wo am Nachmittag seine Standarte gehißt worden war, und wo er allein und abseits von den anderen Rittern saß. Er hatte sich in die Decke gewickelt, aus der er den prächtigen Schild der Blitzklinges gezogen hatte, und zitterte ebenfalls in der kalten Herbstnacht. Der Schild lag mit der Vorderseite zur Erde achtlos neben ihm.

Die Nacht war immer noch bewölkt und kühl. Nicht weit von Bayard tranken die anderen Ritter Roka, machten Musik und erzählten sich Geschichten. Sie genossen die Gesellschaft, bevor die meisten von ihnen ihr Lager abbrechen und nach Palanthas, Kargod und Solanthus aufbrechen würden, zu den wenigen Orten, wo der Orden immer noch zugelassen und sogar willkommen war. Als Brithelm zwischen ihnen hindurchging, blieb ihm vor Staunen über die Geschichten der Ritter der Mund offen stehen.

»Glaubst du, daß das wahr ist, Galen – all diese Geschichten über Seeungeheuer und Entführungen durch Adler? Glaubst du, daß Sir Ramiro da drüben wirklich ein sprechendes Schwert hat?«

»Ich schätze, es tut ihm einfach gut, den anderen davon zu erzählen, Brithelm«, antwortete ich geistesabwesend, weil mein Blick durch den Halbschatten von Feuerschein und Dunkelheit auf das Lager meines vormaligen Beschützers fiel.

Der am Rand im Zwielicht vor sich hin brütete und seine Aufmerksamkeit offensichtlich auf die Sterne gerichtet hatte. Es war ein regelrecht mitleiderregender Anblick, und ich fürchte, Bayard tat mir richtig leid.

Ich versuchte, an dem Trubel vorbeizuschlüpfen, und hätte dies auch leicht geschafft bei all den Geräuschen, dem Becherklappern und den Prahlereien.

Aber der Rauch von den Lagerfeuern oder der Staub, den der Wind aufwirbelte, (oder vielleicht auch nur die schiere Müdigkeit) brachten mich dermaßen zum Niesen, als hätte ich mich quer durch ein Feld voller Goldruten gewälzt. Als der Anfall vorbei war, schniefte ich und lief weiter, als ob ich zum Lager gehörte oder eine Nachricht für meinen Herrn hätte, die keinen Aufschub duldete.

Sir Ramiro vom Schlund mit seinen vierhundert Pfund hielt mich auf, bevor ich zu Bayard gelangen konnte.

»Ich würde nicht zu ihm gehen, wenn ich du wäre, Junge. Er scheint nicht so zufrieden mit den ganzen Begleitumständen dieses Turniers zu sein, und soweit ich das sehe, hattest du bei seiner Verspätung ein bißchen die Hand im Spiel.«

»Also redet er darüber, ja?« fing ich an. Doch Ramiro wedelte so rasch mit seinen fetten Händen, daß seine Unterarme bebten.

»Nein, nein, Junge, solche Worte würdest du von Bayard Blitzklinge niemals hören. Dein Bruder hat bei dem Bankett vorhin ziemlich herumgetönt und schien höchst angetan davon, daß du Sir Bayards Absichten so dreist zunichte gemacht hast. Falls das also wirklich so ist und du jetzt Vergebung suchst, würde ich dir raten, bis morgen zu warten.«

Der große Ritter baute sich vor mir auf und verschränkte die Arme vor seiner umfangreichen Brust. Es war, als würde einem ein Tor vor der Nase zugeschlagen, und ich trat zurück – um ein Haar in das fröhliche Lagerfeuer von zwei Rittern aus Kargod. In meiner alleramtlichsten Stimme, die mindestens eine Oktave tiefer war, sagte ich:

»Bayard ist also nicht zufrieden mit mir, Sir Ramiro? Vielleicht wird es ihn befriedigen, wenn die Familie di Caela, einschließlich der schönen Enid, nun doch noch von dem Fluch eingeholt wird, den sie seit vierhundert Jahren mit sich herumschleppen.«

»Wieder der Fluch? Ich dachte, die di Caelas hätten diese Geschichte zu den Akten gelegt.«

»Bitte laßt mich durch, Sir. Die Hiobsbotschaften sind zuerst für Sir Bayards Ohren bestimmt.«

Ich hustete wieder und begann den langen Umweg um Sir Ramiro. Er wollte sich wieder in den Weg stellen, doch Brithelm lenkte ihn mit ein paar Fragen über sein sprechendes Schwert ab, und ich konnte frei durch das Lager zu Bayards Platz laufen, der dort in Decken und düstere Gedanken gehüllt saß und die Sterne beobachtete.

Ich blieb stehen und sortierte meine Gedanken, während Bayard den Mond betrachtete.

»Es geht um Kastell di Caela, Sir. Da sieht’s nicht gut aus, fürchte ich.«

»Also wollte Robert dich auch nicht haben?« fragte Bayard eisig, während er nach wie vor über mich hinweg auf das Firmament starrte. Ich folgte seinem Blick zum Zenit des Himmels, wo die beiden Drachen um das Buch von Gilean tanzten. Schwarze Wolken trieben rasch vor den Sternen vorbei. In der Luft lag ein Geruch, der Regen ankündigte.

Alles war seltsam und bedrohlich, und zu meinen Füßen saß ein widerborstiger Ritter.

»Es ist komplizierter als das, Bayard«, setzte ich an.

»Ja, es ist eine komplizierte Situation, Galen«, fauchte er, wobei seine Augen mit der Betrachtung des Himmels aufhörten, um mir trübsinnig direkt ins Gesicht zu schauen. »Aber ich habe das Rätsel gelöst. Die Lösung ist, daß die Söhne von Andreas Pfadwächter – trotz aller guten Absichten ihres Vaters – wie Krabben in einem Glas sind: Einer klettert auf den anderen, bis er den Rand erreicht, dann greift der unter ihm hoch und zieht ihn runter. Außer dem mittleren Sohn, der sich irgendwie an gute Grundsätze hält.«

Er nickte Brithelm zu, als er dies sagte. Dann stand er auf und wickelte sich gegen den aufkommenden Wind und den bevorstehenden Regen fest in seine Decke. Er lief vor mir weg, und sein Schweigen und die langen Schritte warnten mich davor, ihm nachzurennen, bis wir über dreißig Meter voneinander entfernt waren.

Dicke Regentropfen klatschten um uns herum auf den Boden. Aus dem Süden kam Donnergrollen. Ich mußte den dramatischen Gewitterlärm überschreien:

»Benedikt di Caela ist zurück.«

Ein Blitz färbte den Himmel über dem Feld weiß. Einen Augenblick lang sah man deutlich die klare Silhouette von Bayard. Bei dem darauffolgenden Donner konnte ich ihn nicht hören, aber ich sah seinen Mund deutlich das Wort WAS formen.

Als wieder ein Blitz zuckte und Donner folgte, begann der Regen auf den Boden zwischen uns zu peitschen. Ich raste los, um mich meinem Beschützer anzuschließen und patschte dabei durch den frischen, gerade entstandenen Schlamm auf der Straße. Durch meine Decken drang Wasser. Mir war kalt, ich war naß, und alles tat mir weh.

Ich muß ohnmächtig geworden sein. Es war Bayards Ruf, der mich wieder auf die verregnete Straße nach Kastell di Caela brachte. Er stand neben mir, hielt mich an den Schultern fest und schüttelte mich.

»Was ist mit dir? Galen? Was…« Dann hielt er inne und schüttelte mich nur noch einmal, aber dieses Mal sanfter. »Wollen wir dich erst mal aus dem Regen holen.«

Er hob seine Decke über uns und schob mich in Richtung Schloß zu einem Hain. Es waren größtenteils Nadelbäume, und die Äste der vereinzelten Vallenholzbäume zwischen den Zedern und Wacholdern waren dick genug, um eine erheblich größere Gruppe als uns vor dem Guß zu bewahren.

Da saßen wir nun. Bayard legte die Decke über zwei tiefhängende Zweige über uns, wodurch er einen groben Unterschlupf vor dem Wetter baute.

Ich legte mich unter die Decke und atmete die alten Gerüche von Wolle, Staub, kräftigem Regen, Schweiß und Pferden ein. Bayard beugte sich über mich.

»Was ist los, Bayard?«

»›Sir Bayard.‹ Ob du willst oder nicht, du bist wieder eingestellt. In diesem ganzen verdammten Hain ist nicht ein einziger trockener Zweig. Sieht so aus, als ob wir das hier ohne Feuer überstehen müssen.«

Ein besorgter Blick ging über Bayards Gesicht. Er lehnte sich nach vorn und legte mir die Hand auf die Stirn.

»Du glühst ja, Junge.«

Wenn ich es recht bedachte, fühlte ich mich ein bißchen steif, aber ich hatte gedacht, das käme nur daher, daß ich mich anfangs so gegen die Kälte eingewickelt hatte. Ich wollte Bayard bitten, mich zu den Feuern im Lager zurückzubringen, wo ich mir die Füße wärmen und zu mir kommen konnte, nur das machte auch keinen rechten Sinn, denn mein Problem war doch, daß mir zu heiß war, und…

Ich weiß noch, daß Bayard fragte: »Was war das jetzt mit Benedikt di Caela?«

Danach weiß ich nichts mehr.

15

Licht strömte über mein Gesicht, und einen Moment lang dachte ich, ich wäre geblendet. Ich beschloß, daß ich das Licht nicht sehen wollte, doch dann sah ich über mir Wolken durch mein Blickfeld treiben. Zuerst dachte ich, die Wolken würden sich bewegen, bis ich hartes Holz unter mir ruckeln fühlte und Hufgeklapper und Pferdeatem hörte.

Unter einem taghellen Himmel, der von Wolken und Vögeln über mir durchzogen wurde, reiste ich irgendwo hin.

Auch Brithelms Gesicht war über mir. Ich hörte ihn reden und hörte irgendwo hinter ihm Bayards Stimme, die im Quietschen der Räder und dem Lied einer Lerche fast unterging.

Ich versuchte zu sprechen, um die naheliegenden Fragen zu stellen: Wo bin ich? Was passiert mit mir? und Was soll all das Geflüster und die Aufregung? Aber Brithelm redete irgend etwas von Ausruhen und Entspannen, und seine Hand auf meiner Stirn war so kühl und beruhigend wie die Nachtluft. Hinter ihm hörte ich Frauenstimmen, von denen eine wie Enid klang – dieses süße, hohe Vogelgezwitscher.

Ich hoffte inständig, daß es Enid war, denn die Stimme brachte ihr Bild in mein Gedächtnis und meine Vorstellungen zurück. Doch der Karren fuhr wieder in den Schatten, der seinerseits zu einer großen, beständigen Dunkelheit wurde.


Ich war irgendwo in einem Zimmer, das mir entfernt bekannt vorkam. An der jenseitigen Wand hing ein Wandbehang, der im Kerzenlicht verschwamm. Über mir tauchte ein Gesicht auf, wieder ein Gewirr von Schatten und Farben.

Unbändige, zerzauste Haare, so rot wie die rote Robe.

»Er wacht auf, Danielle. Lauf und hol die Ritter.«

Das Geräusch einer Tür, die sich leise schloß. Ich versuchte, mich aufzusetzen. Es war zu erschöpfend, und als ich es versuchte, tanzte das Licht im Raum wie Sterne.

»Bleib liegen, kleiner Bruder«, sagte Brithelms beruhigend kühle Stimme. »Wenn du gegen das Fieber ankämpfst, wirft es dich um.

Und außerdem hast du eine schwere Aufgabe vor dir. Ich habe versucht, sie einfacher zu machen, habe Sir Bayard Blitzklinge alles erklärt, auch wie leid es dir tut. Habe mich mit Sir Robert und diesem Herrn in Schwarz herumgestritten – «

Herr in Schwarz!

» – daß sie dieses… Gespräch verschieben sollen, aber sie wollten nichts davon hören. Sie haben darauf bestanden, die Sache gleich zu regeln, und jetzt sind alle drei auf dem Weg hierher, wo sie deine Geschichte hören wollen. Ruh dich aus«, fuhr Brithelm fort. »Du bist unter Freunden.«

Ich machte die Augen zu und beschloß, so mitleiderregend aufzutreten, wie ich mich fühlte.


Ich mußte weggenickt sein, während verschiedene Stimmen sich im Zimmer vermischten. Die Tonlagen und die Wortwechsel veränderten sich jedesmal, wenn ich weit genug aus dem Schlaf hochkam, um sie zu hören. Schließlich gab es eine Bewegung an meinem Bett, und ich öffnete langsam und mitleiderregend die Augen, als hätte man mich hier und jetzt von den Grenzen des Jenseits zurückgerufen.

Bayard stand an meinem Bett.

»Brithelm sagt, daß es dir besser geht.«

Ich nickte, so schwach ich konnte, und versuchte, tapfer, aber wie kurz vor dem Sterben zu erscheinen.

»Du hast noch weitere Gäste. Ich habe sie bedrängt, auf deine Genesung zu warten, genau wie dein Bruder Brithelm, aber Sir Gabriel besteht darauf, daß die Hochzeit wie geplant stattfindet. Dennoch will Sir Robert mit dir reden. Und er hat Sir Gabriel mitgebracht, der schwört, daß er dich noch nie im Leben gesehen hat.

Du weißt, Galen, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, ob du etwas weißt, oder ob du lügst, oder ob du dir das alles in Fieber, Wein und Schuldgefühlen zusammengeträumt hast. Ich will bloß sagen, daß ich dir jetzt vertrauen muß.«

Er legte seine Hand an sein Schwert.

»Und du kannst mir vertrauen, Galen Pfadwächter. Wenn du die Wahrheit sagst, und wenn das, was du sagst, diesen Gabriel Androctus oder Benedikt di Caela, oder welchen teuflischen Namen er sich als nächstes zulegt, ärgert, dann kannst du sicher sein, daß der Mann dir nichts anhaben wird, solange Bayard Blitzklinge atmet.«

»Das ist beruhigend, Sir. Solange Ihr atmet.«

Bayard lachte leise. Dann rief er über die Schulter:

»Laß die Gäste herein, Brithelm.«

Sie umstellten mich, als würden sie mich bewachen. Ernst und still lauschten sie der Geschichte mit ihrem Anfang in der Wasserburg, über den Sumpf und die Berge bis zu meiner überraschenden Entdeckung hier in Kastell di Caela.

Androctus hörte sich mit beunruhigender Gelassenheit meine Anschuldigungen an, als würden sie dem Delirium entspringen oder hätten mit jemand anderem zu tun. Er wirkte sogar bewegt, als ich erzählte, was Agion in den Bergen passiert war, und dabei eine Minute aussetzen mußte.

Darüber wunderte ich mich, bis Gabriel Androctus sprach. Denn es war dieser fürchterliche Alptraum von einer Stimme, der mich seit der Wasserburg verfolgte – so süß und sanft und lebensgefährlich.

»Dieser junge Mann hier hat Schlimmes durchgemacht«, sagte er warmherzig. »Kein Wunder, daß diese Härten… seinen Verstand vernebelt haben, so daß er Feinde sieht, wo es keine gibt. Wenn ich irgend etwas tun kann, damit es ihm besser geht, werde ich überglücklich sein, dies nach der Zeremonie zu tun.«

Sir Robert blickte seinen zukünftigen Schwiegersohn von der Seite an – ein Blick, der keine Wertschätzung enthielt.

»Aber, Sir Gabriel«, seufzte er, »die Zeremonie steht natürlich in Frage. Denn wenn nur eine Unze Wahrheit in dem liegt, was der Junge sagt – «

»Daß ich Benedikt di Caela bin?« unterbrach Sir Gabriel ungläubig, um dann in lautes, schreckliches Gelächter auszubrechen. »Ihr seid zu argwöhnisch, Sir Robert. Ihr seid zu lange von dem Fluch beherrscht worden, den Eure Vorfahren heraufbeschworen haben.«

Er lächelte böse und lehnte sich gegen den Wandbehang.

»Aber wir wollen doch fair sein. Hat der Junge auch nur den kleinsten Beweis, mal abgesehen von seinem fiebrigen Zeugnis?«

Bayard und Sir Robert sahen mich an.

Meine Gedanken überschlugen sich.

Beweis? Aus den Bergen? Aus dem Sumpf?

Nichts.

Aus…

»Bayard, bitte bringt mir meinen Mantel. Er liegt da drüben beim Feuer.«

Bayard tat, was ich sagte, ohne Gabriel Androctus aus den Augen zu lassen.

Der jetzt verwirrt und vielleicht ein wenig verunsichert aussah.

Bayard reichte mir den Mantel, der am Kamin angewärmt und teilweise getrocknet war. Die Falten aber waren immer noch von dem kräftigen Regenguß der letzten Nacht durchnäßt. Ich hustete bei dem Geruch nasser Wolle und tastete dann in den Taschen herum. Da waren die Calantina-Würfel, die Handschuhe…

»Da sind sie!«

Sir Bayard und Sir Robert beugten sich interessiert nach vorne. Sir Gabriel machte einen kurzen, zögernden Schritt zur Tür hin.

»Diese Steine!« verkündete ich, wobei ich die klamme Kordel des Beutels aufzog und das halbe Dutzend Opale über das Bett kullern ließ, wo sie sich weich und weiß und zart von dem groben Bettuch abhoben.

»So?« schoß Sir Gabriel schnell zurück. »Das ist also der Beweis meiner Schuld?«

»Das will ich wohl meinen! Das sind genau die Opale, mit denen Ihr mich bestochen habt, als diese ganze unschöne Geschichte losging. Als Ihr damals in der Wasserburg meines Vaters Sir Bayards Rüstung wolltet und sie bekamt und Gott weiß was für Unheil damit – «

»Genug, Galen«, warnte Bayard. »Du hast dich klar ausgedrückt. Überzeugt Euch das, Sir Robert?«

»Nicht, wenn er nicht ein größerer Esel ist, als ich glaube«, schnappte Sir Gabriel, als Sir Robert sich übers Bett beugte und einen der Opale aufnahm, um ihn ins Licht zu halten. »An wie vielen Orten, frage ich, könnte ein Junge mit Galen Pfadwächters… Neigungen einen Beutel voller Halbedelsteine ›gefunden‹ haben?«

»Was soll das mit dem ›größeren Esel, als Ihr glaubt‹, Androctus?« fauchte Sir Robert mit rotem Gesicht zurück. »Für wie blöd hältst du mich eigentlich, du säbelrasselnde Primadonna?« brüllte er, so daß Bayard zwischen die beiden Männer sprang, um sie auseinanderzuhalten.

Androctus machte noch einen Schritt auf die Tür zu. »Ihr habt mich mißverstanden, Sir«, flötete er. »Ich meinte nur, daß er sie überall gefunden haben könnte, und daß die Tatsache, daß er sie bei sich hatte, nicht zu dem Schluß führen kann, daß ich ihn mit den Steinen bestochen habe.«

Sir Robert beruhigte sich wieder und gewann seine Würde zurück. Er sprach kalt und ohne Umschweife.

»Aber das hier sind weiße Opale, Sir Gabriel. Aus Estwilde. Wie es sie nur in Estwilde und dort auch nur in den Minen der Trotylhalde gibt.«

»Wo Benedikt di Caela gefallen ist!« rief Bayard aus.

»Naja, nicht ganz«, unterbrach ich. »Benedikt di Caela fiel am Chaktamir Paß…«

»Woher weißt du das?« rief Sir Robert aufgeregt aus und drehte sich so schnell zu mir um, daß er das Gleichgewicht verlor, aufs Bett fiel und die Opale verstreute. »Das ist der Teil der Geschichte…«

»Den die di Caelas verschweigen?« unterbrach Androctus, dessen schwarze Augen vor Wut blitzten, während seine Stimme auf einmal überraschend gleichmütig war, richtig ruhig. »Und warum verschweigen sie diesen Teil der Geschichte, Sir Robert? Nun, weil die ganze, trauervolle Geschichte voller Schurken ist, nicht wahr? Und nicht nur der ewig verteufelte Benedikt.«

Er drehte sich langsam um und fingerte am Rand des Wandbehangs herum. Es war ein ansprechendes Jagdbild, fünf Ritter zu Pferd, die alle erkennbar das Profil der di Caelas trugen.

Mit einem schnellen Schritt stellte sich Androctus an die Mitte des Wandbehangs und zeigte auf die erste, berittene Gestalt. »Gabriel di Caela der Ältere hat einen Sohn enterbt, der von Rechts wegen in der nächsten Generation der Erbe des di Caelas hätte sein sollen.«

Die Gestalt auf dem Wandbehang verschmorte. Langsam und ohne Rauch verbrannte sie. Wir alle standen sprachlos und mit offenem Mund da und überlegten, welche Chancen wir noch hatten. Sir Robert trat auf Gabriel zu, dann überlegte er es sich anders. Bayard legte eine Hand auf sein Schwert, doch er wartete, daß Gabriel zuerst zog.

Gabriels Hand fuhr zum hintersten Reiter, als ob der Teppich eine Karte und er ein Geschichtslehrer wäre. »Dann stellte Gabriel di Caela der Jüngere eine Armee gegen seinen enterbten Bruder auf, besiegte diesen Bruder in der Schlacht auf der Trotylhalde und hetzte ihn dann nach Westen auf die Ebenen von Neraka, bis sie beide Chaktamir, den hohen Paß, erreichten und dort…«

Die Gestalt von Gabriel dem Jüngeren fing genauso langsam Feuer.

»Genug!« schrie Sir Robert di Caela, um dann leise hinzuzufügen: »Und woher kennt Ihr diese Geschichte, Sir Gabriel?«

»Oh, Allgemeinbildung«, lächelte Sir Gabriel. »Und das da sind auch ganz normale Edelsteine, auch wenn es weiße Opale aus Estwilde sind. Ich meine, die Würfel des Jungen sind auch aus Estwilde, und kein Einbrecher – «

»Was für Würfel denn, Sir Gabriel?« warf Bayard ein. »Wie kommt es, daß Ihr Galen noch nie begegnet seid und dennoch den Inhalt seiner Taschen kennt?«

Androctus hielt inne und starrte mich an.

In den schwarzen Pupillen seiner Augen glomm ein rotes Feuer. Noch war es gezähmt, doch es war unverkennbar da – mit all dem Bösen und all den bösen Absichten. Das Feuer erlosch und wurde schwarz, und der finstere Ritter wandte sich ruhig an Bayard.

»Sein Bruder«, erklärte Androctus. »Wie heißt er noch… Alfrik Pfadwächter? Der hat mir gestern nacht, als er beim Bankett herumgeprahlt hat, von Galens Aberglauben erzählt. Unangenehmer kleiner Kerl.«

»Reichlich schwach, Sir Gabriel«, stellte Sir Robert trocken fest. »Das räumt unsere Zweifel nicht aus. Anscheinend haben wir keine andere Wahl, als die Hochzeit eine Woche zu verschieben. Ich bedauere die Unannehmlichkeiten, die allen Gästen dadurch entstehen, aber der Aufschub ist unvermeidbar, wenn wir die Wahrheit in dieser verworrenen Angelegenheit herausfinden wollen.«

»Die Wahrheit?« hakte Sir Gabriel wütend nach. »Was versteht Ihr schon unter Wahrheit?« Er drehte sich am Wandteppich um und verschränkte die Arme vor sich.

»Die Wahrheit ist schlichtweg, daß ich Euch nicht mag, Sir Gabriel Androctus«, fauchte Sir Robert, dessen Gesicht unter seinem silbernen Schnurrbart knallrot angelaufen war. »Und ich bin immer noch sehr lebendig und Herr dieses Schlosses, das ich verdammt noch mal dem geben kann, der mir gefällt. Ich verliere dabei vielleicht ein wenig an Ansehen, aber wenn Ihr Benedikt di Caela seid, dann ist es mir das wert. Selbst wenn Ihr es nicht seid, wäre allein der Ausdruck auf Eurem Gesicht es vielleicht schon wert, mein Wort zurückzunehmen!«

Ein kalter Windstoß fuhr durch das Zimmer. Nebel quoll aus dem Boden, und der Wandbehang wehte hoch. Sir Gabriel wurde immer größer, bis er Bayard und Sir Robert zu überragen schien, die beide überrascht vor der seltsamen, sich vor ihnen verwandelnden Gestalt zurücktraten.

Die mit lauter Stimme sprach, so daß das Glas im Fenster zersprang und ich mich unter meinen Decken verkroch.

In der Dunkelheit hörte ich ein Schlurfen, das Geräusch von zerreißendem Stoff, den scheußlichen Klang von noch mehr zerbrechendem Glas. Und alles wurde übertönt von der Stimme des Skorpions.

»Die Wahrheit ist, Sir Robert, daß Ihr mich erneut um mein Geburtsrecht bringen wollt! Und das, nachdem ich alle Regeln befolgt habe! Nachdem ich fair gekämpft habe und mit all Euren Prinzen und Gecken im Turnier herumgetanzt bin, mein Visier hochgeklappt und auf das Kommando einer scheppernden, solamnischen Trompete meine Lanze abgelegt habe!

Oh, ihr Ritter seid ja so verliebt in eure angebliche Ehre, die Worte und Gesten der alten Schule, aber trotz all diesem Getue reißt Ihr an Euch, was rechtmäßig mir gehört.

Ihr habt mir ein großes Unrecht angetan, Robert di Caela!« schrie er, und ich hörte, wie noch etwas zu Bruch ging.

»Aber nichts…«

Seine Stimme senkte sich zu einem ruhigen Tonfall, der weitaus furchterregender war als das Geschrei von eben.

»Nichts im Vergleich zu dem Unrecht, das ich Euch antun werde.«

Sir Robert schrie wütend auf. Ich hörte, wie ein Möbelstück umkippte, grub mich ans Licht und spähte gerade rechtzeitig aus den Decken, um zu sehen, wie der Skorpion dem angreifenden Sir Robert auswich und zur Tür sprang, die mein Bruder Brithelm versperrte. Auf halbem Wege zur Tür blieb er stehen, warf sich wieder herum und sprang schnell mit merkwürdig linkischen Sprüngen wie ein gefangener Raubvogel zum zerbrochenen Fenster und nach draußen, wobei sein Mantel an einer zackigen Scherbe am Fensterbrett hängenblieb und zerriß.

Bayard sprang zum Fenster und sah nach draußen und nach unten. Er drehte sich achselzuckend zu uns um.

»Wie vom Erdboden verschluckt«, erklärte er schlicht.

Sir Robert zog sein Schwert und spaltete dem letzten Stuhl, der im Zimmer noch stand, die Rückenlehne.

Brithelm saß auf der Bettkante und plauderte, während ich am Kamin stand und die Laute stimmte, die er mir mitgebracht hatte.

»Was für eine glückliche Fügung des Schicksals, nicht wahr, daß der, der dich während deiner Krankheit am besten versorgen konnte, ausgerechnet dein langvermißter Bruder war, den du erst eine Stunde oder so, bevor du ihn so dringend brauchtest, wieder getroffen hattest?«

»Ja, Brithelm«, erwiderte ich höflich und taktvoll. »Ich muß schon sagen, daß es bei dieser Angelegenheit jede Menge glückliche Fügungen gegeben hat. Ist sie«, ich meinte die Laute, »jetzt gestimmt?«

»Ich denke, daß sie durchaus mit irgend etwas übereinstimmt. Aber wohl nicht mit sich selbst.«

Ich seufzte und fing wieder an, wobei ich der alten Gnomenregel folgte: »Wenn die Tonlage nicht ganz stimmt, Saite fester ziehen.«

»Wieso bist du eigentlich noch hier, Brithelm?« fragte ich. »Ich dachte, du hättest dich freiwillig zurückgezogen, um so eine Art Sumpfheiliger zu werden.«

Er stand vom Bett auf und kam zum Kamin, wo er sich neben mir die Hände an den roten Kohlen wärmte.

»Ich wollte mich schon zurückziehen, Brüderchen, aber ich mußte in die Welt zurückkehren, um meinem Bruder in Not beizustehen. Ich diene hier als Referenz für Alfriks Charakter, der sich um die Hand der Lady Enid di Caela bewirbt«, verkündete Brithelm ernsthaft.

Eine Saite riß, weil ich sie zu fest angezogen hatte. Sie summte, federte und sprang peitschend gegen meine Hand. Brithelm zuckte bei dem Geräusch zusammen.

»Referenz für seinen Charakter? Um Humas willen, Brithelm, es ist nahezu unmöglich, Charakter bei unserem Bruder zu finden, geschweige denn dafür zu bürgen. Wie um alles in der Welt hat er dich da reinziehen können?«

Ich starrte Brithelm durchdringend an.

»Tja, ich verstand ja, daß sein ganzes Gerede von Heldentaten nur Gerede war, aber schließlich hatte Vater ihn geschickt. Alfrik hat mir erzählt, daß er Tag und Nacht davon träumt, Lady Enid zu heiraten. Er hat Vater gebeten, ihm den ›Notritterschlag‹ zu erteilen, der ihm natürlich gestattet hätte, am Turnier teilzunehmen – «

»Moment mal, Brithelm. Den ›Notritterschlag‹?«

»Darüber weißt du sicher mehr als ich, Galen. Du hast den Kodex von Solamnia studiert, während ich mich der Theologie zugewandt habe.

Aber ist das nicht diese Ersatzzeremonie, die der Orden vor einem Turnier gewährt, bei dem der Ehemann für eine Tochter aus alter Familie gewählt wird? Jungen Burschen, die noch keine Knappen sind, dies aber beabsichtigen, wird gestattet, die Knappschaft als solches zu überspringen. Man geht sofort zum Ritterschlag über, den Vater in unserer Abwesenheit in der Wasserburg vollzogen hat, so daß Alfrik ein Ritter ist und daher Enid di Caela heiraten dürfte.«

»Das hat dir Alfrik über diese Zeremonie erzählt, Brithelm?«

Das war einfach die dreisteste Lüge, die ich je gehört hatte – nicht die grausamste, die einfachste oder die verschlagenste, sondern gewiß die dümmste. Es gab ein Dutzend Stellen hier im Schloß – so viele, wie Ritter da waren –, wo Brithelm leicht erfahren konnte, daß es nichts dergleichen wie einen ›Notritterschlag‹ gab. Etwas Seltsames in Alfriks Hirn mußte diese halbtrunkene Idee ausgebrütet haben.


Da alle meine Feinde unterwegs waren, war es vielleicht dämlich, nachts draußen herumzulaufen, aber genau das tat ich. Es war kein Problem, den Burgfried des Schlosses zu umgehen, nachdem ich einen Diener nach einem Plätzchen gefragt hatte, wo ich in Ruhe nachdenken konnte. Nachdem der Skorpion aus dem Fenster gesprungen und verschwunden war, glaubte natürlich keiner von uns, daß wir aus dem Schneider wären, besonders als Bayard und ich uns die verschiedenen Begegnungen mit dem Skorpion ins Gedächtnis riefen – wie er jedesmal auf geheimnisvolle Weise verschwunden war, nur um in neuer und ebenso tödlicher Gestalt zurückzukehren.

Als ich Sir Robert von den Drohungen des Skorpions bezüglich Enids Leben erzählt hatte, überflutete der alte Mann den Hof von Kastell di Caela mit bewaffneten Wachen.

Man konnte nirgends im Mondschein Spazierengehen, sitzen oder herumstehen, ohne gleich von übereifrigen Beschützern angesprochen zu werden – sofort kam das »Wer da?«, dem ein Schwall von Fragen folgte, was man im Schloß zu suchen hatte und warum man noch bei Nacht unterwegs war; Fragen, die den Familienstammbaum auf fünf Generationen prüften, wobei durchaus die Möglichkeit bestand, daß irgendein entfernter unsolamnischer Vorfahre einem eine Nacht im Wachhaus einbringen konnte.

Deshalb war der Obstgarten eine willkommene Abwechslung. Dort hatte ich mir zwischen den Pfirsich- und Birnbäumen unter Lady Enids Fenster ein Lager eingerichtet.

Die Wachen umkreisten den Obstgarten in einiger Entfernung, und hin und wieder riefen sie einander etwas zu. Doch Lady Enids Garten war anscheinend ihr ganz privates Refugium, und nachdem die Wachen ihn am frühen Abend sorgfältig durchsucht hatten, ließen sie ihn in Ruhe. Schon eine Stunde nach Anbruch der Nacht war er voller Nachtigallen und Eulen, die in den Bäumen ihren alten Wettstreit austrugen.

Es waren nicht nur echte Vögel da, sondern auch Vögel aus immergrünen Gehölzen. Der Obstgarten war auch ein Ziergarten, in dem Büsche in vielerlei Formen zu kleinen Tieren und Vögeln zurechtgestutzt waren. Es gab Eulen und Nachtigallen und Eichhörnchen und Kaninchen, die aus Wacholder, Ewigkeitsbaum und anderen Gewächsen geschnitten waren.

Eine Zeitlang stand ich da, starrte zu dem schwachen, flackernden Licht aus Enids Fenster empor und atmete die starken, frischen Düfte des Obstes und der Büsche ein. Dieser Ort war der Traum jedes Romantikers und wurde nur durch den gelegentlichen, entfernten Ruf einer Wache gestört. Ich wich gegen eine Wacholdereule zurück, wo ich in Ruhe die Düfte, die Lieder der Vögel und das weiche Licht genießen wollte.

Plötzlich schlossen sich Hände um meine Kehle, und eine rauhe, bekannte Stimme zischte mir ins Ohr.

»Ich habe dir einiges heimzuzahlen, Brüderchen. Und damit fangen wir jetzt an.«

Anscheinend war Alfrik mir aus dem Tor um den Burgfried herum gefolgt und hatte sich unter den Zweigen und in den Schatten der Mauern versteckt gehalten. Mein Gesicht war halb im Rücken der Ziereule vergraben.

»Bitte laß mich hoch«, stammelte ich, denn mein Mund wurde gegen Nadeln und hartes Holz gedrückt.

»Wie du mir damals im Sumpf rausgeholfen hast? Oh… ich hätte Lust, dich zu erwürgen, Wiesel, und dein Gesicht da unten in dem Grünzeug zu begraben. Wie schmecken die Nadeln, Brüderchen? Wo versteckt sich deine Weisheit jetzt?«

Dennoch lockerte sich sein Griff, und ich konnte besser reden.

Mich reden zu lassen, war schon immer Alfriks Fehler gewesen.

»Ich habe gesagt, laß mich lieber hoch. Wenn du dieses vertraute Gesicht zu Brei schlägst oder anderweitig veränderst, wird Sir Bayard dich nicht als Knappe nehmen. Und auch keiner von den anderen Herren hier, falls irgend etwas meine hinreißende Nase verunstaltet.«

»Was ich nicht so schlimm finde, Galen, in Anbetracht der Tatsache, daß ich vorhabe, Lady Enids Hand festzuhalten«, erklärte Alfrik stolz, während er mich noch tiefer in den Busch drückte.

»Es heißt, ›um die Hand anhalten‹, und ich fürchte, da hast du Pech. Das Turnier ist schließlich vorbei, wie du weißt.«

Nach einem letzten Schubs in die dicken Nadeln ließ Alfrik mich hochkommen.

»Möglich, daß ich Pech habe, aber dann gibt es da ja noch dieses Wieselglück von dir, durch das du immer auf die Füße fällst.«

»Das heißt?«

»Das heißt, daß du hier bist, um meinem Anliegen Nachdruck zu verleihen. So ist das nämlich«, knurrte Alfrik. Er legte mir die Hand auf den Mund, um meine Hilferufe zu dämpfen. Dann ergriff er meinen rechten Arm und verdrehte ihn so weit, bis mein Ellbogen mein Rückgrat berührte und mein Daumen meinen Nacken. Ich suchte nach einer schlauen Antwort, aber bei dem Schmerz, der meine Schulter durchraste und den Verstand betäubte, alles außer dem Schmerzempfinden betäubte, fiel mir nichts ein. Ich japste nach Luft.

»Warum sollte ich, Bruderherz?« keuchte ich und sah mich schon ohnmächtig werden.

»Der Sumpf«, sagte Alfrik. »Erinnerst du dich an den Sumpf?«

»Oh.«

»Ich habe von deinem Geständnis gehört, Wiesel, aber rein zufällig – ganz sicher absichtlich – hast du wohl den Teil ausgelassen, wo du deinen älteren Bruder im tödlichen Treibsand stecken ließest. Eine sehr praktische Lücke, denn es weiß ja jeder, daß Gewalt gegen Blutsverwandte die schlimmste Verletzung des Kodex von Solamnia ist. Ich glaube nicht, daß Sir Bayard und Sir Robert ein so, sagen wir mal, ungezogenes Verhalten übersehen könnten? Was meinst du, Bruderherz?«

Quälende Pause. »Zu – deinen – Diensten«, stammelte ich, während ich um Atem rang. Alfrik lockerte seinen Griff. Luft und Denkvermögen kehrten zurück, als mein Bruder sich über mich beugte und flüsterte:

»Gut. Ich habe die Laute mitgebracht. Was machen wir jetzt, Galen? Du bist doch gut in solchen Sachen.«

Er wirbelte mich herum, zog mich zu seinem Gesicht hoch und zückte seinen Dolch, und ich erinnerte mich an den Geruch meines Bruders. An den Geruch von Wein und halbverdautem Essen und von etwas, das hinter diesen anderen Gerüchen immer am Rande des Wahnsinns entlangkroch.

Alfrik drückte mir die Messerspitze unter das Kinn, wodurch er einen leichten, aber einschüchternden Schmerz verursachte. Dann setzte er mich ab und versteckte sich, wobei er mich grob hinter sich her an die Brust der Buscheule zerrte.

»Alles ist nahezu perfekt«, krächzte Alfrik. »Ich bin zum Turnier zu spät gekommen, so daß ich nicht an den Kämpfen teilnehmen mußte, wo mich jeder gleich beim ersten Schlag umgehauen hätte. Jetzt stellt sich heraus, daß der Ritter, der gewonnen hat und dessen Knappe ich werden wollte, ein Hochstapler ist und überhaupt nicht gewonnen hat. Darum war ich eine Zeitlang noch wütender auf dich, weil du es wieder vermasselt hast, daß ich Knappe werde. Aber inzwischen finde ich, daß es so sogar noch besser steht, weil das Turnier nichts mehr zählt, und Lady Enid und ihr Erbe sind eine fette Beute.«

»Eine fette Beute? Das klingt aber sehr romantisch, Alfrik.«

»Romantik ist jetzt deine Sache«, zischte mein Bruder. »Du bist in solchen Dingen besser als ich. Sag du mir vor, was ich unter Lady Enids Fenster sagen soll. Du spielst die Laute und singst, als wenn ich es wäre. Wenn nicht«, sagte Alfrik trocken und gefühllos, »bringe ich dich um.«

Damals, als wir in den Gängen und Zimmern der Wasserburg aufgewachsen waren, hatten wir beide oft davon geträumt, den anderen umzubringen, da bin ich mir sicher. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß ich laufend von Alfriks vorzeitigem Ableben geträumt hatte. Nachts stellte ich es mir vor, wenn ich in meinem Zimmer lag, oder tagsüber, während ich in meinem Geheimversteck hinter dem Kamin des großen Saals saß.

Normalerweise waren große, hungrige Raubtiere daran beteiligt.

Aber wir waren beide zu alt für die alten Drohungen, für das wütende »Ich bring dich um, ich bring dich um!«, das unsere militante Kindheit begleitet hatte. Diesmal meinte Alfrik es vielleicht ernst.

»Mach deine Sache lieber gut, Wiesel«, flüsterte Alfrik. Er ließ mich los und schubste mich gegen den Bauch der Eule. Dann klopfte er sich ab, leckte sich die Finger und fuhr sich damit wie mit einem grotesken Kamm durch die Haare. Er trat auf eine Lichtung des Obstgartens, die leicht von Sternen und von dem Feuerschein aus Enids Fenster und den anderen Fenstern auf dieser Seite der Burg erhellt wurde. Ich durfte ihr den Hof machen, aber nur für ihn. »Hallo, Lady Enid«, rief Alfrik zum Fenster hoch. Er sah gleich beifallheischend oder ratsuchend zu mir hinüber. »Prima!« flüsterte ich aus dem Bauch der Eule. Alfrik lächelte dämlich und freite weiter. Ein leises Geräusch erklang vom Fenster – ein unterdrückter Laut, den ich für Lachen hielt, doch Alfrik, der von seiner so beredten Zunge ganz berauscht war, nahm ihn zweifellos als Zeichen der Bewunderung.

Aber er hatte keine Ahnung, was er als nächstes sagen sollte. Deshalb trat er vom Fenster zurück und sah mich entsetzt an. Ich krabbelte unter dem Eulenflügel hervor, weil ich hoffte, Schatten zwischen mich und meinen Bruder zu bringen – Schatten, über die ich entwischen und in mein Zimmer zurückkehren konnte. So würde ich meine Ruhe haben, und Alfrik – nun, Alfrik konnte mit seinen eigenen Talenten den Flirt seines Lebens durchführen. Wenn er seinen eigenen Charme und seine Möglichkeiten einsetzte, konnte mein Bruder vielleicht sogar einen vierhundert Jahre alten Fluch attraktiv erscheinen lassen.

Über uns trieben schiefergraue Wolken vor den Monden vorbei und änderten ständig das Licht um uns herum.

Alfrik verfolgte mich und verlor mich nur für einen Moment unter den hellblauen Nadeln eines gigantischen Ewigkeitsbaums. Er fand mich schnell genug wieder, denn er sah mich, als ich losrannte, und konnte mich deshalb schließlich zwischen ein paar Spatzenbüschen in die Enge treiben, die raschelnd ihre Beeren fallen ließen, als Alfrik mich an den Schultern packte und mich flehend schüttelte.

»Du weißt nicht, wie schwer es ist, der Älteste zu sein, Wiesel. So viel Verantwortung fällt dir zu, bloß weil du der erste bist. Man muß mit allem fertig werden, was jüngere Brüder anstellen – Mystizismus, Diebstahl, üble Nachrede –, und das auch noch lächelnd, weil man eben der Älteste ist und es darum selbstverständlich ist, daß man damit fertig wird.«

»Hör auf, mich zu schütteln, Alfrik.«

»Klappe. Ich habe dir lange und oft zugehört. Aber hat sich jemals jemand um Alfrik gekümmert? Hat jemals jemand gefragt, was Alfrik gefallen würde?«

»Nun, ich…«

»Klappe.« Seine Stimme war etwas zu laut. Er hielt inne und sah sich um. »Ich habe es satt, mich immer um andere zu kümmern, immer der besorgte ältere Bruder zu sein. Was ich viel lieber möchte, ist, etwas Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, damit ich einmal etwas für mich und nur für mich allein tun kann.«

Ein Hauch von Schmerz und Angst glitt über sein Gesicht. Die Szene hätte mitleiderweckend sein können, wenn ich nicht gewußt hätte, daß Alfrik in jedem wachen Moment seit seiner Kindheit darauf aus gewesen war, etwas für sich und nur für sich allein zu tun.

»Und du wirst mir dabei helfen, kleiner Bruder. Du und deine Worte und deine Dreistigkeit«, grollte Alfrik, wobei er einen Zweig vom Busch brach und ihn irritierend vor meiner Nase herumschwenkte. Der scharfe, minzeartige Geruch der roten Nadeln brachte mich fast zum Niesen.

»Sieh mal«, fuhr Alfrik fort, »ich werde jetzt wieder da auf die Lichtung an der Burgmauer gehen, wo Lady Enid mich genau im Blick hat. Von da aus kann ich ihr den Hof machen. Du versorgst mich mit Versen für sie, Wiesel.«

Unvermittelt zerrte er mich am Kragen unter Enids Fenster zurück, wo er mich auf Armeslänge hochhielt und mitten in eine Wacholdernachtigall hängte. Ein ziemlich buschiges, überwachsenes Ding, das unter einem der höheren Birnbäume saß.

Ich versteckte mich, während Alfrik teilweise sichtbar und sehr romantisch zwischen Mondschein und Schatten auf der Lichtung stand. Er stand – und ich baumelte – eine gute Minute lang schweigend da, bis mir klar wurde, daß er darauf wartete, daß Enid ans Fenster trat.

»Sie wird sich nicht zeigen, Alfrik, wenn du sie nicht wissen läßt, daß du hier draußen bist.«

Ich hustete und würgte, weil mein Kragen sich fester zuzog. Er ließ mich trotzdem am Baum hängen.

»Kehrt ans Fenster zurück, schöne Dame«, flüsterte ich.

»Was?«

»›Kehrt ans Fenster zurück, schöne Dame.‹ Das ist deine erste Zeile.« Ich fand einen Zweig mitten im Busch, auf den ich einen Teil meines Gewichts verlegen konnte, wodurch ich etwas den Druck von meinem Hals nahm.

»Verstehe ich nicht«, murmelte Alfrik. Eine Hand drückte mich noch tiefer in die Nadeln und Zweige, während er sich mit der anderen am Kopf kratzte.

»Du wolltest ein Gedicht, Alfrik. Ich gebe dir gerade die erste Zeile.«

»Hab ich schon wieder vergessen.«

»›Kehrt zum Fenster zurück, schöne Dame‹, verdammt noch mal!«

»Kehrt zum Fenster zurück, schöne Dame, verdammt noch mal!« schrie er laut unter Enids Fenster. Stille. Hinten im Zimmer flackerte ein Lichtschein, der von den obersten Zweigen des Baumes reflektierte. Alfrik sah zu mir, weil er die nächste Zeile erwartete. Ich reimte, so schnell ich konnte.

»Solange im Garten die Lichter tanzen.«

»Was?«

»Deine zweite Zeile«, erklärte ich. »›Solange im Garten die Lichter tanzen.‹«

»Ganz sicher, daß sie was über einen Garten hören will?« flüsterte Alfrik. »Wollen Mädchen nicht lieber etwas über sich selbst hören?«

»Gleich, Bruder«, erwiderte ich, während ich mich seiner Hand entzog und in die Zweige der Nachtigall kroch. »Zuerst sorgst du für die richtige Stimmung. Die Dichter nennen das ›Atmosphäre erzeugen‹.«

Alfrik starrte in den Vögelbusch und suchte ihn lange und mißtrauisch nach mir ab. Schließlich gab er auf, drehte sich wieder zum Fenster um und deklamierte laut:

»Solange im Garten die Lichter tanzen.«

Ein erstickter Ton kam vom Fenster herunter.

Lachen? Wer konnte das sagen?

Ich dichtete einen Moment schweigend, um dann meinem Bruder vorzusprechen. »Solang’ der Mond tief am Abendhimmel schwebt, getragen von den Schwingen der Nacht.«

»Was?«

»Um Humas willen, Alfrik, sperr die Ohren auf und hör zu, was du sagen sollst! Es ist nicht gerade Quivalen Soth, aber für eine Romanze im Garten reicht es!«

Er drehte sich zum Fenster um und sprach laut:

»Solang’ der Mond am Abend tief steht und irgendwas bei Nacht passiert.«

Ich fand meine Zeile gar nicht so schlecht, aber so wie Alfrik sie auslegte, war sie schauderhaft.

»Toll, Alfrik«, schimpfte ich. »Einfach großartig. Mit so einem Lobgesang könntest du nicht einmal Lexine, die Tochter des Kochs, für dich gewinnen.«

Auf einmal hörten wir über uns aus Enids Zimmer einen lauten, verzweifelten Angstschrei. Nachdem der Schrei verklungen war, war es im Schloß und im Obstgarten furchtbar still.

Verwundert zog Alfrik mich aus der Nachtigall. Wir starrten einander an – der dumme Kinderblick, wenn man etwas kaputtgemacht hat und dann dasteht und versucht, den anderen einzuschätzen: »Kann ich ihm soweit vertrauen, daß wir Stillschweigen verabreden?« oder »Ist er dumm genug, daß ich ihm die ganze Schuld dafür zuschieben kann?«

Während wir uns anstarrten, senkte sich Stille über die Büsche und Schatten um uns herum. Die Vögel, die bei Alfriks Dichtkünsten unbeeindruckt weitergesungen hatten, schwiegen jetzt bei den Schreien von oben.

Denn über uns hörten wir Bewegungen, Durcheinander und unablässige Schreie.

Ich wollte zur Burgmauer rennen, weil ich irgendwie daran hochklettern und durch Enids Fenster stürmen wollte…

Doch Alfriks Hand hielt mich zurück. Mein Bruder warf sich in den Nachtigallbusch zurück und zog mich mit.

Es war dieser Vogel, der uns verschluckte – meinen Bruder und mich –, als in Enids Fenster Schatten auftauchten. Wie gelähmt beobachteten wir aus dem Busch heraus, wie sich ein finsterer Kegel aus dem großen Burgfenster hob und dieser Schemen rasch die Wand hinunter kletterte.

Im Mondlicht bewegte er sich rasch über den Hof. Doch weder das rote, noch das weiße Licht konnten die dichte Undurchsichtigkeit durchdringen. Die Oberfläche war pockennarbig und getupft wie geschmolzenes Wachs, das mit kaltem Wasser abgelöscht worden war.

Von drinnen glaubte ich Schreie zu hören.

Ich kämpfte mit den duftenden, grünen Zweigen um mich herum. Noch einmal versuchte ich, mich von meinem Bruder loszureißen, um die Burg zu erstürmen und die bedrängte Maid zu retten, wie das jeder gute Ritter in jeder alten Geschichte tun würde. Doch Alfrik hielt mich nur noch fester, zog wieder sein Messer und drückte es mir unangenehm in die Rippen. Es war erfrischend, nicht der feigste Pfadwächter zu sein.

Im unsteten Mondlicht sah ich den Schatten rasch auf das Tor zuhuschen. Zwei brüllende Wachen liefen fast gleich schnell, als sie verzweifelt versuchten, ihm den Weg abzuschneiden.

Der Schatten legte an Tempo zu, als wenn ihn etwas von innen lenkte und mit wachsendem Willen und Dringlichkeit antrieb. Er traf sie mit einem scharfen, klatschenden Geräusch, wobei sie umfielen.

Ihre Schreie waren unbeschreiblich.

Da hörte ich wieder die Schreie aus dem Fenster über mir dringen. Sie waren nicht mehr erstickt, sondern nur irgendwie gedämpft, als wenn die, die schrie, weit weg war, und als wenn der Ton mich aus der Ferne und viel zu spät erreichte.

Der Schatten wurde immer kleiner, als er durch das Tor in den Außenmauern des Schlosses verschwand und von da aus irgendwo in den Ebenen verschwand. Die Richtung war mir nicht klar.

»Alfrik!« rief ich laut. Hinter mir war nichts zu hören, außer brechenden Zweigen, Schluchzen und dem Geräusch, wie etwas Großes und Trampliges in der Finsternis verschwand.

»Verdammt!« murmelte ich und wollte meinem Bruder folgen. Die Schreie über mir hielten mich davon ab.

Wenn ich heute daran denke, scheint es das Dümmste zu sein, was ich je getan hatte, zumindest bis dahin. Na ja, dem Skorpion beim Diebstahl der Rüstung zu helfen, war vielleicht fast genauso genial.

Ich hielt mich an dem Weinspalier an der Turmwand fest und kletterte so zu Lady Enids Fenster hoch, wo ich mich über die Fensterbank hievte und hineinkippte.

Danielle di Caela lag gefesselt auf dem Bett und schrie mit panisch verzerrtem Gesicht. Jetzt war mir klar, daß Lady Enid in den Schatten von Kastell di Caela zu irgendeinem dunklen Ziel verschleppt wurde. Den Zweck konnten nur die Götter kennen.

Aber ich wußte, daß der Skorpion irgendwo in den nächsten Tagen seine schlimmste Drohung wahr machen würde.

Eigentlich konnte ich nur noch ins Erdgeschoß des Südostturms gelangen, aber nicht mehr die Treppen hoch laufen, die außen an ihm hochführten. Dennoch rannte ich die Stufen hoch, wobei ich zwei oder drei Mal anhielt, um Luft zu holen, und mich fragte, wie Muriel di Caela je all diese Katzen dort hochgeschafft hatte. In mir wuchs das Gefühl der Verzweiflung, weil ich – obwohl ich diesen ewig hohen Turm hoch lief – bestimmt nicht mehr sehen würde, was ich so dringend sehen wollte.

Ich war fast an der Spitze des Südostturms, als ein Fenster mir einen Blick auf die Ebenen im Osten des Schlosses gewährte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, blinzelte und schaute zum Horizont hin.

Wo das rote Licht von Lunitari einen dunklen Schatten anstrahlte, der sich eilig auf die Trotylhalde zu bewegte. Den Weg dahinter kannten nur die Götter.

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