Die Wirtin

Ende 1950 hatten meine Frau und ich uns widerstrebend mit der Tatsache abgefunden, daß wir keine Kinder bekommen könnten. Meine Frau entschloß sich, unser Leben der Kinderlosigkeit anzupassen und bereitete sich darauf vor, eine größere Rolle in meiner schriftstellerischen Laufbahn zu spielen. Es schien uns, daß wir mehr leisten konnten, wenn wir als Team arbeiteten. Ich sollte meine Erzählungen diktieren, und sie würde sie auf der Schreibmaschine tippen.

Ich war etwas skeptisch. In der Theorie hörte sich das zwar gut an, aber ich hatte noch nie zuvor eine Erzählung diktiert. Ich war daran gewöhnt, meine Werke selbst zu tippen und jedes Wort, jeden Satz vor meinen Augen entstehen zu sehen. Deshalb weigerte ich mich auch, sofort ein Diktiergerät zu kaufen. Ich sagte dem Händler, ich wolle es dreißig Tage lang zur Probe haben.

Im Lauf des nächsten Monats diktierte ich drei Erzählungen in das Gerät, deren eine »Die Wirtin« war. Es war eine beängstigende Erfahrung, die mich einiges lehrte. Zum Beispiel entdeckte ich, daß ich an meinen Erzählungen viel stärkeren Anteil nahm, als ich dachte. Meine Frau kam mit dem kleinen Tonband zu mir und sagte: »Das kann ich nicht tippen.«

Ich hörte mir die betreffende Passage an, in der zwei meiner Gestalten in einen immer heftigeren Streit gerieten. Ich merkte, daß ich immer wütender geworden war, je mehr die Erregung der beiden wuchs, und als der Streit auf dem Höhepunkt angelangt war, hatte ich nur noch unzusammenhängende Wutschreie von mir gegeben. Ich mußte diesen Teil nochmals diktieren. Du lieber Himmel! Als ich noch selbst getippt hatte, war mir das nie passiert.

Aber mit der Zeit klappte es ganz gut. Als die Erzählungen getippt waren, klangen sie ganz so, wie wenn ich sie selbst geschrieben hätte. (Wenigstens schien mir das so. Der geneigte Leser kann sich ein eigenes Urteil bilden, wenn er »Die Wirtin« liest.)

Natürlich war ich sehr erfreut. Ich sagte dem Händler, ich würde das Diktiergerät kaufen, und ich bezahlte die ganze hohe Summe auf einmal.

Nach einer Woche stellte sich heraus, daß wir ein Kind bekommen würden. Als jeder Irrtum diesbezüglich ausgeschlossen war, führten wir ein langes Gespräch, zu dem ich nur immer wieder denselben Satz beisteuerte: »Du hast mich hereingelegt.«

Jedenfalls benutzten wir das Diktiergerät nie wieder, obwohl wir es noch immer besitzen. Vier Monate nach dem Erscheinen der »Wirtin« kam mein Sohn David auf die Welt.


Rose Smollett war sehr glücklich. Sie triumphierte beinahe. Sie zog die Handschuhe aus, nahm den Hut ab und sah ihren Ehemann aus glänzenden Augen an.

»Drake, wir werden ihn hier bei uns haben.«

Ärgerlich blickte er sie an.

»Du hast das Abendessen versäumt. Ich dachte, du würdest um sieben Uhr hier sein.«

»Aber das macht doch nichts. Ich habe auf dem Heimweg eine Kleinigkeit gegessen. Drake, er wird hier bei uns sein!«

»Wer? Wovon sprichst du überhaupt?«

»Der Doktor vom Hawkin-Planeten! Weißt du nicht, daß sich die Konferenz heute mit diesem Thema befaßte? Den ganzen Tag lang haben wir davon gesprochen. Es war wahnsinnig aufregend.«

Drake Smollett nahm die Pfeife aus dem Mund, starrte sie an und starrte dann seine Frau an.

»Jetzt wollen wir einmal folgendes klarstellen. Wenn du von dem Doktor vom Hawkin-Planeten sprichst, meinst du da den Burschen, der dir vom Institut zugeteilt worden ist?«

»Natürlich. Wen sonst?«

»Und darf ich fragen, was das zum Teufel heißen soll, daß er hier bei uns sein wird?«

»Drake, verstehst du denn nicht?«

»Was ist da zu verstehen? Dein Institut mag sich ja für die Sache interessieren, aber ich nicht. Was haben wir persönlich denn damit zu tun? Das ist doch Angelegenheit des Instituts, nicht wahr?«

»Aber Darling«, sagte Rose geduldig. »Der Hawkin-Doktor will in einem privaten Haus wohnen, wo er von keinen offiziellen Zeremonien behelligt wird und seinen eigenen Neigungen nachgehen kann. Ich finde das nur verständlich.«

»Warum in unserem Haus?«

»Weil unser Haus eben für diesen Zweck geeignet ist, nehme ich an. Man fragte mich, ob ich damit einverstanden sei, und offen gesagt ...« Etwas steif fügte sie hinzu: »Ich betrachte das als eine Auszeichnung.«

»Sieh mal.« Er fuhr sich mit allen Fingern durch seine braunen Haare, die er erfolgreich zerzauste. »Wir haben uns ein angenehmes kleines Heim errichtet, zugegeben. Hier ist vielleicht die schönste Stelle von der ganzen Welt. Aber es ist gerade groß genug für uns. Jedenfalls sehe ich nicht ein, warum wir außerirdische Gäste bei uns aufnehmen sollen.«

Rose sah besorgt aus. Sie nahm ihre Brille ab und steckte sie in das Etui.

»Er kann in dem kleinen Extrazimmer wohnen. Er wird für sich selbst sorgen. Ich habe bereits mit ihm gesprochen, und er ist wirklich sehr freundlich. Ehrlich, alles, was wir tun müssen, ist ein gewisses Entgegenkommen zu zeigen.«

»Sicher, nur etwas Entgegenkommen«, sagte Drake. »Die Hawkin-Bewohner atmen Zyanid. Wir müssen uns eben nur anpassen, nehme ich an.«

»Er trägt Zyanid in einem kleinen Behälter bei sich. Du wirst es nicht einmal bemerken.«

»Und was werde ich sonst noch nicht bemerken?«

»Nichts sonst. Er ist völlig harmlos. Du lieber Gott, die Hawkin-Bewohner sind sogar Vegetarier.«

»Und was bedeutet das? Müssen wir ihn mittags mit einem Heuballen füttern?«

Roses Unterlippe zitterte.

»Drake, du bist wirklich gehässig. Es gibt viele Vegetarier auf der Erde. Und die essen auch kein Heu.«

»Und wir? Dürfen wir Fleisch essen, oder denkt er sonst, wir sind Kannibalen? Ich werde ihm zuliebe nicht nur von Salat leben. Ich warne dich.«

»Du benimmst dich einfach lächerlich.«

Rose kam sich ziemlich hilflos vor. Sie hatte verhältnismäßig spät geheiratet. Ihre Karriere war ihr wichtiger gewesen, und sie hatte stets Erfolg gehabt. Sie war Mitglied der biologischen Abteilung am Jenkins-Institut für Naturwissenschaften und hatte bereits mehr als zwanzig wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Ihr Lebensweg war klar vorgezeichnet gewesen. Sie hatte nur für ihren Beruf leben und ledig bleiben wollen. Und jetzt, mit fünfunddreißig, erstaunte es sie noch immer ein wenig, daß sie vor nicht ganz einem Jahr geheiratet hatte.

Sie blickte ihm gerade in die Augen und sagte einfach: »Es bedeutet mir sehr viel.«

»Warum?«

»Sieh mal, Drake. Wenn er längere Zeit bei uns bleibt, kann ich ihn aus nächster Nähe beobachten. Biologie und Psyche der Hawkin-Bewohner sind noch ziemlich unerforscht, wie das bei den meisten extraterrestrischen Wesen der Fall ist. Wir wissen zwar einiges über ihre Gesellschaftsordnungen und ihre Geschichte, natürlich. Das ist aber auch alles. Du mußt doch einsehen, wie notwendig es ist, daß er bei uns wohnt. Wir können ihn beobachten, mit ihm sprechen, seine Angewohnheiten studieren .«

»Das interessiert mich nicht.«

»Oh, Drake, ich verstehe dich nicht.«

»Du willst sagen, daß ich sonst anders bin, nicht wahr?«

»Ja, sonst bist du anders.«

Drake schwieg eine Weile. Er schien sich in sich selbst zurückzuziehen, und in seinem Gesicht mit den hohen Backenknochen und dem breiten Kinn arbeitete es. Endlich sagte er: »Auf Grund meiner eigenen Arbeit weiß ich einiges über die Hawkin-Bewohner. Du sagst, ihre Gesellschaftsordnung sei zwar erforscht, nicht aber ihre Biologie. Sicher. Die Hawkin-Bewohner können es nämlich bestimmt nicht leiden, als Spezies studiert zu werden, uns wäre das ebenso unangenehm. Ich habe mit einigen Männern gesprochen, die im Auftrag des Sicherheitsdiensts verschiedene Hawkin-Missionen auf der Erde beobachteten. Die Teilnehmer der Mission verließen die ihnen zugeteilten Räume nur, wenn es sich um wichtige offizielle Angelegenheiten handelte. Sie kamen in keinen näheren Kontakt mit den Erdbewohnern. Offensichtlich finden sie uns genauso abstoßend wie ich sie.

Und ich kann tatsächlich nicht verstehen, warum dieser Hawkin-Doktor anders sein soll als die anderen. Es scheint mir höchst merkwürdig und völlig gegen ihre Gewohnheiten, daß dieser Doktor im Haus eines Erdbewohners leben will.«

»Diesmal ist es etwas anderes«, sagte Rose müde. »Es überrascht mich wirklich, daß du überhaupt kein Verständnis dafür hast. Er ist Arzt, und er ist auf der Erde, um medizinische Forschungen zu betreiben. Und ich garantiere dir, daß es ihm vielleicht höchst unangenehm ist, mit Menschen zusammenzuleben, daß er uns wahrscheinlich schrecklich finden wird. Und trotzdem wird er bei uns bleiben wollen! Glaubst du denn, daß die menschlichen Ärzte gern in die Tropen gegangen sind? Oder daß es ihnen besonderen Spaß gemacht hat, sich von Moskitos anstecken zu lassen?«

»Wie kommst du auf Moskitos?« fragte Drake scharf. »Was haben sie damit zu tun?«

»Warum? Nichts«, antwortete Rose überrascht. »Es kam mir nur so in den Sinn, das ist alles. Ich dachte gerade an Reed und seine Experimente mit dem Gelbfieber.«

Drake zuckte mit den Schultern.

»Nun, tu, was du willst.«

Rose zögerte sekundenlang.

»Aber du bist nicht böse, nicht wahr?« Ihre Stimme klang wie die eines kleinen Mädchens.

»Nein.«

Aber Rose wußte, daß er trotzdem böse war.

Drake kam an diesem Abend spät nach Hause. Er würde erst in einer halben Stunde eintreffen. Rose glaubte fast, er hätte sich das absichtlich so eingeteilt, um sie mit ihrem Problem allein zu lassen. Und sie merkte, daß sie sich darüber ärgerte.

Er hatte sie kurz vor Mittag im Institut angerufen und hatte schroff gefragt: »Wann bringst du ihn zu uns?«

»In etwa drei Stunden«, hatte sie kurz geantwortet.

»Gut. Wie heißt er?«

»Warum willst du das wissen?« Sie konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme eisig klang.

»Nun, ich brauche den Namen für eine kleine Untersuchung, die ich auf eigene Faust durchführe. Immerhin wird das Ding in meinem Haus sein.«

»Um Himmels willen, Drake, bleib mir mit deinem Job vom Leib!«

Seine Stimme klang unangenehm in ihren Ohren.

»Aber warum denn, Rose? Verschonst du mich etwa mit deinem Job?«

Darauf hatte sie natürlich keine Entgegnung, und so teilte sie ihm den Namen mit.

Es passierte zum erstenmal in ihrer Ehe, daß sie einen kleinen Streit hatten, und als sie jetzt vor dem großen Spiegel saß,

fragte sie sich, ob sie nicht doch versuchen sollte, seinen Standpunkt zu verstehen. Wesentlich war, daß sie einen Polizisten geheiratet hatte. Natürlich war er kein gewöhnlicher Polizist. Er war Mitglied des Weltsicherheitsdiensts.

Harg Tholan stand ruhig in der Mitte des Wohnzimmers, als sie die Treppe herabstieg. Er saß nicht, denn auf Grund seiner anatomischen Beschaffenheit konnte er nicht sitzen. Er stand auf zwei Paaren von Gliedmaßen, die dicht nebeneinander aus seinem Leib ragten, während ein drittes Paar, das ganz anders konstruiert war, von einer Körperregion herabhing, die man bei einem menschlichen Wesen als Brust bezeichnet hätte. Seine Körperhaut war grün, schimmernd und durchfurcht, und sein Gesicht ähnelte entfernt einem etwas fremdartigen Ochsen.

Er wirkte keineswegs so abstoßend, wie sie erwartet hatte. Seine unteren Körperteile waren bekleidet, wahrscheinlich, um die Gefühle seiner menschlichen Gastgeber nicht zu verletzen.

»Mrs. Smollett«, sagte er, »ich schätze Ihre Gastfreundschaft mehr, als ich es in Ihrer Sprache auszudrücken imstande bin.« Er verbeugte sich, und seine vorderen Gliedmaßen berührten kurz den Boden.

Rose wußte, daß diese Geste bei den Bewohnern des Haw-kin-Planeten Dankbarkeit zum Ausdruck bringen sollte. Sie war erleichtert, weil er so gut englisch sprach. Die Beschaffenheit seines Mundes und das Fehlen von Schneidezähnen verliehen den Silben einen pfeifenden Unterton. Aber davon abgesehen hätte er genausogut auf der Erde geboren sein können, so akzentfrei war seine Aussprache.

»Mein Mann wird bald heimkommen«, sagte sie. »Dann können wir essen.«

»Ihr Mann?« Er schwieg sekundenlang, dann fügte er hinzu: »Ja, natürlich.«

Sie ließ es dabei bewenden. Wenn irgend etwas zwischen den fünf intelligenten Rassen der bekannten Galaxis Verwirrung stiftete, dann lag es in den verschiedenen Betrachtungsweisen von Geschlechtsleben und gesellschaftlicher Ordnung. Der Begriff der Ehe existierte zum Beispiel nur auf der Erde. Die anderen Rassen konnten die Bedeutung dieses Begriffs zwar verstandesmäßig erfassen, aber niemals gefühlsmäßig.

»Ich habe mich im Institut erkundigt, wie ich Ihr Menü vorbereiten soll«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie werden mit dem Essen zufrieden sein.«

Der Hawkin-Bewohner blinzelte unglaublich schnell, und Rose erinnerte sich, daß das Erheiterung ausdrücken sollte.

»Proteine sind Proteine, meine liebe Mrs. Smollett. Aber da die Spurenelemente, die ich benötige, in Ihrer Nahrung nicht enthalten sind, habe ich sie in konzentrierter Form von meinem Heimatplaneten mitgebracht.«

Sie hörte Drakes Schlüssel, der sich im Türschloß drehte, und sie versteifte sich vor Angst.

Sie mußte zugeben, daß er seine Sache gut machte. Er trat ein, und ohne Zögern streckte er dem Hawkin-Doktor seine Hand entgegen.

»Guten Abend, Dr. Tholan«, sagte er mit fester Stimme.

Der Hawkin-Bewohner hob eine seiner vorderen großen und ziemlich plumpen Gliedmaßen, und sozusagen schüttelten sich die beiden die Hand. Rose hatte diese Prozedur bereits erlebt und wußte, wie seltsam die Hawkin-Hand sich anfühlte: rauh, heiß und trocken. Sie konnte sich vorstellen, daß Tholan ihre und Drakes Hände kalt und schleimig vorkamen.

Bei der offiziellen Begrüßung im Institut hatte sie die Gelegenheit ergriffen, die Hand des Fremden genau zu betrachten. Es handelte sich um ein hervorragendes Beispiel für eine konvergierende Entwicklung. Die morphologische Entwicklung unterschied sich völlig von der der menschlichen Hand, obwohl die Hawkin-Hand der menschlichen annähernd ähnlich war. Sie hatte vier Finger, aber keinen Daumen. Jeder der

Finger hatte fünf voneinander unabhängige Kugelgelenke. So konnten die Finger trotz des fehlenden Daumens gut greifen. Aber was sie als Biologin noch mehr interessierte, war die Tatsache, daß jeder Hawkin-Finger an der Spitze Spuren eines Hufes zeigte, sehr klein und für den Laien kaum zu erkennen. Aber es war offensichtlich, daß die Hawkin-Bewohner sich aus laufenden Kreaturen entwickelt hatten, wie die Menschen aus kletternden Geschöpfen.

»Fühlen Sie sich wohl, Sir?« fragte Drake freundlich.

»Sicher«, erwiderte der Hawkin-Doktor. »Ihre Frau gibt sich sehr viel Mühe.«

»Möchten Sie einen Drink?«

Tholan antwortete nicht, aber er blickte Rose an und verzog das Gesicht. Offensichtlich wollte er irgendwelche Gefühle zum Ausdruck bringen, die Rose unglücklicherweise nicht interpretieren konnte. Nervös sagte sie: »Auf der Erde herrscht die Sitte, Flüssigkeiten zu trinken, die mit Äthylalkohol verstärkt wurden. Wir finden diese Getränke sehr anregend.«

»Oh, ja. Aber ich fürchte, ich muß ablehnen. Äthylalkohol würde meinen Stoffwechsel in recht unangenehmer Weise durcheinanderbringen.«

»Den Erdenbewohnern geht es genauso, aber ich verstehe natürlich Ihren Standpunkt, Dr. Tholan«, sagte Drake. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich trinke?«

»Natürlich nicht.«

Drake ging dicht an Rose vorbei zum Büfett.

»Du lieber Gott!« flüsterte er kaum hörbar. Aber es gelang ihm trotzdem, drei Ausrufungszeichen dahinter zu setzen.

Der Hawkin-Bewohner stand am Tisch. Gewandt hantierte er mit dem Tafelsilber. Rose bemühte sich, ihm nicht beim Essen zuzusehen. Der große, lippenlose Mund spaltete das Gesicht in beinahe erschreckender Weise, als er das Essen hinunterschlang, und als er kaute, bewegten sich seine großen Kinn-

backen mahlend hin und her. Auch das wies darauf hin, daß seine Ahnen Huftiere waren. Rose fragte sich, ob er später, in der Stille seines Zimmers, wiederkäuen würde, und plötzlich hatte sie panische Angst, daß Drake auf dieselbe Idee kommen und den Tisch ekelerfüllt verlassen könnte. Aber Drake nahm das alles recht gelassen hin.

»Ich denke, Dr. Tholan«, sagte er, »der zylindrische Behälter an Ihrer Seite enthält Zyanid.«

Den Hawkin-Bewohner schien diese Frage keineswegs aus der Fassung zu bringen.

»Ganz recht«, sagte er, und seine behuften Finger hielten einen dünnen, flexiblen Schlauch hoch, der seinen Körper entlanglief. Die Farbe des Schlauches hob sich kaum von der gelblichen Haut ab, und sein Ende führte in eine Ecke des großen Mundes. Rose war etwas verwirrt, so als ob hier intime Kleidungsstücke vorgezeigt würden.

»Und diese Flasche enthält pures Zyanid?« fragte Drake.

Der Hawkin-Doktor blinzelte amüsiert.

»Ich hoffe, Sie fürchten nicht, daß das Zyanid für die Erdbewohner gefährlich werden könnte. Ich weiß, daß dieses Gas Gift für Sie ist, aber ich brauche keine großen Mengen davon. Das Gas in diesem Behälter ist zu fünf Prozent Wasserstoff-Zyanid, der Rest ist Sauerstoff. Nichts davon kann entströmen, wenn ich nicht an der Röhre sauge. Und das muß ich nicht oft tun.«

»Ich verstehe. Und Sie brauchen dieses Gas wirklich zum Leben?

Rose erschrak. Solche Fragen stellte man doch nicht ohne sorgfältige Einleitung. Man konnte unmöglich ahnen, wo die wunden Punkte einer fremden Psyche lagen. Drake mußte das absichtlich tun, denn er konnte sich doch denken, daß sie ihm diese Fragen ebenso beantworten konnte. Oder zog er es vor, sie nicht zu fragen?

Der Hawkin-Bewohner wirkte überhaupt nicht verstört.

»Sind Sie Biologe, Mr. Smollett?«

»Nein, Dr. Tholan.«

»Aber Sie stehen in einer sehr engen Bindung zu Mrs. Dr. Smollett.«

Drake lächelte.

»Ja, ich bin mit ihr verheiratet, mit einer Mrs. Doktor. Aber ich bin trotzdem kein Biologe, sondern nur ein niedriger Regierungsbeamter. Die Freunde meiner Frau«, fügte er hinzu, »nennen mich einen Polizisten.«

Rose biß sich in die Innenseite ihrer Wange. Diesmal war es der Hawkin-Bewohner gewesen, der den wunden Punkt in einer fremden Psyche getroffen hatte.

Auf dem Hawkin-Planeten herrschte ein sehr strenges Kastensystem, und Kontakte zwischen verschiedenen Kasten waren verboten. Aber das wußte Drake natürlich nicht.

Der Hawkin-Doktor wandte sich zu ihr.

»Erlauben Sie, Mrs. Smollett, daß ich Ihrem Mann ein bißchen die Zusammenhänge unserer Biochemie erkläre? Sie wird das natürlich langweilen, denn ich bin sicher, daß Sie das alles bereits wissen.«

»Lassen Sie sich nicht abhalten, Dr. Tholan.«

»Sehen Sie, Mr. Smollett«, begann der Hawkin-Bewohner, »das Atemsystem in Ihrem Körper und in den Körpern aller luftatmenden Geschöpfe auf der Erde wird durch gewisse metallhaltige Enzyme kontrolliert, soviel ich weiß. Das Metall ist gewöhnlich Eisen, manchmal auch Kupfer. In jedem Fall würden sich geringe Zyanidspuren mit diesen Metallen verbinden und das Atemsystem der irdischen Zellen unbeweglich machen. Die Oxygenzufuhr würde gestoppt werden, und die Zellen würden innerhalb weniger Minuten sterben.

Das Leben auf meinem Planeten ist etwas anders eingerichtet. Die Zusammensetzung, die unser Atemsystem regelt, enthält weder Eisen noch Kupfer. Deshalb ist unser Blut farblos. Unsere Zusammensetzung enthält gewisse organische Gruppen, die lebensnotwendig für uns sind, und diese Gruppen können nur intakt bleiben, wenn in geringen Mengen konzentriertes Zyanid zugeführt wird. Zweifellos hat sich dieser Proteintyp im Lauf von Millionen Jahren nur auf einer Welt entwickeln können, in deren Atmosphäre wenige Zehntel von einem Prozent Hydrogen-Zyanid natürlich vorkommen. Durch einen biologischen Kreislauf bleibt diese Menge konstant. Viele unserer eingeborenen Mikro-Organismen geben dieses Gas ab.«

»Sie haben das sehr deutlich ausgedrückt, Dr. Tholan, und es ist sehr interessant«, sagte Drake. »Was geschieht aber, wenn Sie das Zyanid nicht einatmen? Ist es dann aus mit Ihnen? Ganz einfach so?« Er schnippte mit den Fingern.

»Nicht ganz. Es ist nicht so schlimm, als wenn Sie mit Zya-nid in Berührung kämen. In unserem Fall bewirkt der Mangel von Zyanid ein Gefühl, als ob wir langsam erdrosselt würden. Es passiert manchmal in schlecht ventilierten Räumen auf meinem Planeten, daß das Zyanid allmählich verbraucht wird, und die Sättigung der Luft mit Zyanid unter den mindestnotwendigen Wert sinkt. Das ist dann sehr schmerzhaft für uns und kaum zu ertragen.«

Rose bat Drake im stillen um Verzeihung. Er schien wirklich interessiert zu sein. Und dem Fremden machte die Fragerei Gott sei Dank nichts aus.

Drake saß mit gekreuzten Beinen da und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände. Angespannt beobachtete er den Hawkin-Bewohner. Tholan betrachtete ihn und stand immer noch auf seinen vier Beinen am Tisch.«

»Es ist sehr schwierig für mich, Sie mir als Arzt vorzustellen.«

Der Hawkin-Bewohner lachte blinzelnd.

»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte er. »Und mir fällt es schwer, daß ich Sie mir als Polizist vorstelle. In meiner Welt sind die Polizeibeamten sehr gut ausgebildete Männer mit Spezialkenntnissen.«

»Tatsächlich?« sagte Drake trocken und wechselte dann das Thema. »Ich nehme an, Sie sind nicht nur zu Ihrem Vergnügen auf der Erde.«

»Im Gegenteil. Ich habe hier beruflich zu tun. Ich habe vor, diesen sonderbaren Planeten, den Sie Erde nennen, so genau zu studieren, wie dies noch kein Hawkin-Bewohner vor mir getan hat.«

»Sonderbar?« fragte Drake. »In welcher Beziehung?«

Der Hawkin-Doktor sah Rose an.

»Weiß er über die tödliche Hemmung Bescheid?«

»Seine Arbeit nimmt ihn sehr in Anspruch«, erwiderte Rose leicht verwirrt. »Ich fürchte, mein Mann hat wenig Zeit, um sich mit Details aus meinem Fachgebiet zu befassen.« Sie wußte, daß das nicht ganz stimmte, und sie fühlte wieder einmal, wie schwierig es war, die Emotionen des Hawkin-Bewohners zu interpretieren.

Die außerirdische Kreatur wandte sich wieder Drake zu.

»Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig ihr Erdenmenschen über eure eigenen ungewöhnlichen Eigenschaften wißt. Sehen Sie, da gibt es fünf intelligente Rassen in der Galaxis. Sie alle haben sich unabhängig voneinander entwickelt, aber sie konvergieren doch in bemerkenswerter Weise. Intelligente Rassen brauchen eine gewisse körperliche Beschaffenheit, um gedeihen zu können. Dieses Problem möchte ich aber lieber den Philosophen überlassen. Aber ich muß den Hauptpunkt wohl nicht genau umreißen, da er Ihnen geläufig sein wird.

Als man nun die Unterschiede zwischen den intelligenten Rassen immer wieder untersuchte, entdeckte man, daß die Erdenbewohner eine Sonderstellung einnehmen. Zum Beispiel baut sich nur auf der Erde das Atemsystem auf metallhaltigen Enzymen auf. Ihr Erdenmenschen seid die einzigen, auf die

Hydrogen-Zyanid giftig wirkt. Ihr seid die einzige intelligente Rasse, deren Nahrung auch Fleisch enthält. Ihre Lebensform ist die einzige, die sich nicht aus grasenden Tieren entwickelt hat. Und das Interessanteste ist, daß Sie die einzige Rasse sind, die zu wachsen aufhört, wenn sie die geistige Reife erlangt hat.«

Drake grinste ihn an, und Rose fühlte, wie ihr Herz plötzlich heftiger schlug. Das war das Netteste an ihm, dieses Grinsen. Er wirkte völlig natürlich, offen und ungezwungen. Er stellte sich auf diese fremde Kreatur ein, er war freundlich zu ihr -und sie war sicher, daß er das ihr zuliebe tat. Dieser Gedanke gefiel ihr, und sie wiederholte ihn im Geist. Er tat es für sie, ihr zuliebe war er nett zu diesem Hawkin-Bewohner.

»Sie sehen nicht sehr groß aus, Dr. Tholan«, sagte Drake grinsend. »Sie sind vielleicht einen Zoll größer als ich, also messen Sie etwa sechs Fuß und zwei Zoll. Sind Sie noch so jung, oder sind die Leute auf Ihrem Planeten im allgemeinen ziemlich klein?«

»Weder noch«, sagte der Hawkin-Bewohner. »Mit den Jahren wachsen wir immer langsamer. In meinem Alter dauert es fünfzehn Jahre, bis ich um einen Zoll größer werde. Aber, und das ist das Wichtigste, wir hören nie auf, zu wachsen. Und daraus erfolgt, daß wir auch nie ganz sterben.«

Drake schnappte nach Luft, und Rose saß starr da. Das war etwas Neues. Das hatten, soviel sie wußte, die vier Expeditionen auf den Hawkin-Planeten nicht in Erfahrung bringen können. Sie fühlte, wie ihre Muskeln sich erregt anspannten, unterdrückte aber einen erstaunten Ausruf und ließ Drake sprechen.

»Sie sterben nie ganz?« fragte er. »Wollen Sie etwa behaupten, daß die Leute auf den Hawkin-Planeten unsterblich sind?«

»Niemand ist wirklich unsterblich. Wenn man nicht auf natürliche Weise stirbt, geschieht es durch Unfälle oder durch tödliche Langeweile. Wenige Bewohner unseres Planeten leben mehrere Jahrhunderte Ihrer Zeitrechnung. Trotzdem ist es ein sehr unangenehmer Gedanke, unfreiwillig sterben zu müssen. Uns jedenfalls erscheint das entsetzlich. Sogar jetzt, wenn ich daran denke, erschreckt mich der Gedanke, daß gegen meinen Willen und trotz meiner Vorsicht der Tod über mich kommen kann.«

»Nun«, sagte Drake grimmig. »Wir haben uns ganz gut daran gewöhnt.«

»Ihr Erdenmenschen lebt mit diesem Gedanken. Wir nicht. Und deshalb stört es uns, daß die tödliche Hemmung sich innerhalb der letzten Jahren immer stärker verbreitet hat.«

»Sie haben bis jetzt noch nicht erklärt, was diese tödliche Hemmung ist«, sagte Drake. »Handelt es sich vielleicht um einen pathologischen Stillstand des Wachstums?«

»Genau.«

»Und wie lange dauerte es nach dem Stillstand des Wachstums, bis der Tod eintritt?«

»Etwa ein Jahr. Es ist eine sehr tragische, verzehrende Krankheit, und sie ist absolut unheilbar.«

»Wodurch wird sie verursacht?«

Der Hawkin-Doktor schwieg lange, bevor er antwortete, und als er endlich sprach, klang seine Stimme angestrengt und unbehaglich.

»Mr. Smollett, wir wissen nichts über die Ursache dieser Krankheit.«

Drake nickte nachdenklich, und Rose verfolgte die Konversation, als würde sie bei einem Tennismatch zusehen.

»Und warum kommen Sie auf die Erde, um diese Krankheit zu studieren?«

»Weil auch hier die Erdenmenschen wieder einzigartig dastehen. Sie sind die einzigen intelligenten Wesen, die gegen diese Krankheit immun sind. Alle anderen Rassen werden von der tödlichen Hemmung befallen. Wissen das die Biologen auf der Erde, Mrs. Smollett?«

Er hatte sich so abrupt an sie gewandt, daß sie auffuhr.

»Nein, das wissen wir nicht.«

»Das überrascht mich nicht. Es handelt sich dabei um eine verhältnismäßig neue wissenschaftliche Erkenntnis. Die tödliche Hemmung kann leicht falsch diagnostiziert werden, und sie kommt auf den anderen Planeten viel seltener vor. Es ist tatsächlich sehr seltsam, fast ein philosophisches Problem, daß diese Krankheit gerade auf meinem Planeten, der der Erde am nächsten ist, viel häufiger zum Tod führt als auf andern Welten. Und es ist doch sonderbar, daß diese Krankheit auf Tempora, dem Planeten, der am weitesten von der Erde entfernt ist, fast nie auftritt, während die Erde völlig immun gegen die tödliche Hemmung ist. Irgendwo in der Biochemie der Erde liegt das Geheimnis dieser Immunität. Und es wäre höchst interessant, dieses Geheimnis zu entdecken.«

»Aber Sie können doch nicht sagen, daß die Erde immun gegen diese Krankheit ist. Wir werden sogar zu hundert Prozent davon befallen. Alle Erdenmenschen hören auf zu wachsen, und alle sterben. Wir alle werden von der tödlichen Hemmung befallen.«

»Keineswegs. Die Erdenbewohner leben noch siebzig Jahre nach dem Wachstumsstillstand weiter. Ihr Tod ist anders als unserer. Die gleichwertige Krankheit auf der Erde wird durch unbeschwertes Wachstum hervorgerufen. Sie nennen es Krebs. Aber ich glaube, ich langweile Sie.«

Rose protestierte, und Drake schloß sich ihr mit noch größerer Heftigkeit an. Aber der Hawkin-Bewohner war entschlossen, das Thema zu wechseln. In diesem Augenblick kam Rose zum erstenmal der Verdacht, daß Drake Harg Tholan mit diesem Gespräch einzukreisen versuchte, ihn quälte und anstachelte und immer wieder versuchte, die Unterhaltung zu dem Punkt zurückzuführen, an dem der Hawkin-Bewohner mit seinen Erläuterungen aufgehört hatte. Er machte das nicht plump, nicht ungeschickt, aber Rose kannte ihn, und sie wußte, was er im Schilde führte. Er konnte nur einen beruflichen

Zweck damit verfolgen. Und wie um ihre Gedanken zu beantworten, griff der Hawkin-Bewohner den Satz auf, der sich wie eine gebrochene Schallplatte auf einem ewigkreisenden Plattenteller drehte.

»Sie sagten doch, Sie seien Polizist.«

»Ja«, erwiderte Drake kurz.

»Dann würde ich Sie gern um einen Gefallen bitten. Ich wollte es schon den ganzen Abend lang tun, seit ich erfahren habe, welchem Beruf Sie nachgehen, und trotzdem habe ich immer wieder gezögert. Ich will meinen Gastgebern nicht lästigfallen.«

»Was können wir für Sie tun?«

»Ich bin unsagbar neugierig zu erfahren, wie die Erdenbewohner leben. Im allgemeinen herrscht diese Neugierde auf meinem Heimatplaneten nicht. Ich möchte Sie bitten, ob Sie mir ein Polizeidepartment zeigen könnten.«

»Ich gehöre keinem Polizeidepartment an, wie Sie es sich vielleicht vorstellen«, sagte Drake vorsichtig. »Aber man kennt mich im Polizeidepartment von New York, und ich kann Sie ohne Schwierigkeiten dort herumführen. Sagen wir morgen?«

»Das wäre mir sehr angenehm. Könnten Sie mir auch die Vermißtenabteilung zeigen?«

»Die was?«

Der Hawkin-Bewohner stellte seine vier Beine enger zusammen, und es sah aus, als würde er sich innerlich stark anspannen.

»Das ist ein Hobby von mir, ein wunderliches Interesse, das ich schon lange hege. Ich nehme an, es gibt bei Ihnen einige Polizeibeamte, deren einzige Pflicht darin besteht, nach vermißten Männern zu suchen.«

»Und nach Frauen und Kindern«, fügte Drake hinzu. »Aber warum interessiert Sie das so besonders?«

»Weil die Erdenbewohner auch in dieser Hinsicht einen Einzelfall darstellen. Auf unserem Planeten werden nie Personen vermißt. Ich kann Ihnen das natürlich nicht genau erklären, aber auf anderen Welten sind sich die Bewohner der Gegenwart ihrer Mitbewohner immer bewußt, besonders, wenn eine starke persönliche Neigung zwischen den einzelnen besteht. Wir wissen immer genau, wo die anderen sich gerade befinden, und es spielt keine Rolle, an welchem Ort auf dem Planeten sie sich gerade aufhalten.«

Roses Erregung wuchs immer mehr. Die wissenschaftlichen Expeditionen auf den Hawkin-Planeten hatten immer große Schwierigkeiten, in die Gefühlswelt der Eingeborenen einzudringen, und jetzt saß sie einem Hawkin-Bewohner gegenüber, der ganz offen sprach, der alles erklären konnte. Sie vergaß ihren Verdacht auf Drake und mischte sich in das Gespräch ein.

»Können Sie auch von der Erde aus feststellen, wo Ihre Gefährten sich gerade befinden?«

»Über den Raum hinweg? Ich fürchte, nein. Aber Sie verstehen, wie wichtig diese Sache ist. Alle Besonderheiten der Erde müssen miteinander in Verbindung gebracht werden. Wenn das Fehlen dieses Wissens um den Aufenthaltsort der Mitbewohner erklärt werden kann, kann vielleicht auch die Immunität gegenüber der tödlichen Hemmung geklärt werden. Außerdem kommt es mir sehr seltsam vor, daß ein Gemeinschaftsleben zwischen intelligenten Wesen entstehen kann, die nicht über diesen ganz besonderen Gemeinschaftssinn verfügen, der auf den anderen Planeten herrscht. Wie kann ein Erdenbewohner feststellen, daß er sich eine ideale Familie geschaffen hat? Wie können Sie beide wissen, daß ein wirklich festes Band zwischen Ihnen besteht?«

Rose nickte. Wie sehr vermißte sie einen solchen Gemeinschaftssinn!

Aber Drake lächelte nur.

»Wir haben eben unsere eigenen Gefühle. Es ist wohl genauso schwer, Ihnen zu erklären, was wir unter dem Begriff >Liebe< verstehen wie für Sie, uns die Bedeutung Ihres speziellen Gemeinschaftssinns auseinanderzusetzen.«

»Ich nehme es an. Aber sagen Sie mir ehrlich, Mr. Smollett -wenn Mrs. Smollett diesen Raum verläßt und einen anderen betritt, ohne daß Sie es sehen, würden Sie wirklich nicht fühlen, wo sie sich befindet?«

»Nein. Wirklich nicht.«

»Erstaunlich«, sagte der Hawkin-Bewohner. Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Bitte, fühlen Sie sich nicht durch die Feststellung beleidigt, daß ich das abstoßend finde.«

Nachdem sie das Licht im Schlafzimmer gelöscht hatte, ging Rose dreimal zur Tür, öffnete sie einen Spalt und starrte hinaus. Sie fühlte, daß Drake sie beobachtete. Mühsam unterdrückte Heiterkeit schwang in seiner Stimme mit, als er fragte: »Was ist los?«

»Ich möchte mit dir sprechen«, flüsterte sie.

»Hast du Angst, daß unser Freund uns belauscht?«

Rose kehrte ins Bett zurück, legte den Kopf auf sein Kissen und wisperte ihm ins Ohr: »Warum hast du Dr. Tholan über die tödliche Hemmung ausgefragt?«

»Ich interessiere mich für dein Fachgebiet, Rose. Das hast du dir doch immer gewünscht.«

»Sei nicht so sarkastisch«, zischte sie wütend und senkte dann ihre Stimme wieder zu einem Flüstern herab. »Ich weiß genau, daß es da irgend etwas gibt, was dich als Polizist interessiert. Was ist es?«

»Ich sage es dir morgen«, erwiderte er.

»Nein, jetzt.«

Er legte seine Hand unter ihren Kopf und hob ihn an. Sekundenlang dachte sie, er würde sie küssen, sie so leidenschaftlich küssen, wie das andere Ehemänner manchmal taten. Zumindest stellte sie sich vor, daß sie das manchmal taten. Aber Drake tat das nie, und er tat es auch jetzt nicht.

Er hielt ihren Kopf nur ganz nahe an den seinen und flüsterte: »Warum interessiert dich das so?«

Fast brutal umspannte seine Hand ihren Nacken. Sie versteifte sich und versuchte, sich ihm zu entziehen. Ihre Stimme wurde lauter.

»Hör auf, Drake.«

»Ich will nicht, daß du Fragen stellst und dich in meine Angelegenheiten einmischst. Du hast deinen Job und ich meinen.«

»Aber mein Job birgt keine Geheimnisse.«

»Mein Job schon«, gab er zurück. »Aber eines sage ich dir. Unser sechsbeiniger Freund ist aus einem ganz bestimmten Grund in diesem Haus. Es ist kein Zufall, daß man ausgerechnet eine Biologin gewählt hat. Weißt du, daß er vor zwei Tagen bei der Kommission Informationen über mich eingeholt hat?«

»Soll das ein Witz sein?«

»Keineswegs. Es gibt Abgründe, von denen du keine Ahnung hast. Aber das ist mein Job, und ich diskutiere mit dir nicht weiter darüber. Verstehst du das?«

»Nein, aber ich werde keine Fragen mehr stellen, wenn du es nicht willst.«

»Dann wollen wir schlafen.«

Es war bereits Mittag, als Rose sich an den Schreibtisch setzte. Sie hatte gewartet, bis Drake und Tholan das Haus verlassen hatten, denn in ihrer Gegenwart konnte sie das Tonbandgerät nicht entfernen, das am gestrigen Abend an der Rückseite von Drakes Lehnstuhl die Unterhaltung aufgezeichnet hatte. Sie hatte ursprünglich nicht vorgehabt, es ihm zu verheimlichen, aber er war so spät gekommen, und in Tholans Gegenwart konnte sie natürlich nichts sagen. Und dann hatten sich die Dinge verändert ...

Es war für sie eine reine Routinesache gewesen, das Gerät aufzustellen. Die Aussagen des Hawkin-Bewohners mußten für künftige Studien bewahrt werden, und für verschiedene Spezia-listen am Institut würden sie sehr wertvoll sein. Sie hatte das Gerät versteckt, um zu verhindern, daß Tholan befangen war und dadurch vielleicht nicht offen sprach. Aber jetzt war sie entschlossen, das Band den Mitgliedern des Instituts nicht zur Verfügung zu stellen. Jetzt hatte es eine andere Funktion bekommen. Eine häßliche Funktion.

Sie spionierte hinter Drake her.

Sie strich mit dem Finger über das Gerät und fragte sich flüchtig, was dieser Tag für Drake wohl bringen würde. Gesellschaftliche Kontakte zwischen bewohnten Welten waren noch nicht so häufig, daß die Erscheinung des Hawkin-Bewohners auf den Straßen keine Menschenaufläufe hervorrufen würde. Aber Drake würde schon damit fertig werden. Er wurde immer mit allem fertig.

Noch einmal lauschte sie dem Gespräch von gestern abend, wiederholte die interessantesten Passagen. Drakes Behauptung, Tholan hätte über ihn Erkundigungen eingezogen, beunruhigte sie, und sie konnte es nicht glauben. Warum sollte der Hawkin-Doktor gerade an ihnen beiden besonders interessiert sein? Aber Drake log nie. Sie hätte gern beim Sicherheitsdienst nachgefragt, aber sie wußte, daß sie das nicht tun konnte. Außerdem wäre das unfair. Drake log wirklich nie.

Und warum sollte Harg Tholan sich nicht über sie erkundigen? Wahrscheinlich hatte er sich über die Familien der anderen Biologen in ähnlicher Weise informieren lassen. Und es war nur natürlich, daß er sich auf diese Art die Wohnung aussuchte, die ihm am angenehmsten erschien.

Und wenn er sich wirklich nur über die Smolletts erkundigt hatte, wie konnte das bewirken, daß Drakes anfängliche unverhohlene Feindseligkeit sich in ein so intensives Interesse verwandelt hatte? Drake wußte zweifellos irgend etwas, das er für sich behielt. Nur der Himmel mochte wissen, über welche Informationen Drake verfügte.

War es möglich, daß interstellare Intrigen gesponnen wur-den? Soviel sie wußte, gab es keinerlei Anzeichen für irgendwelche Mißstimmungen zwischen den fünf intelligenten Rassen der Galaxis. Sie waren zu weit von einander entfernt, als daß feindliche Gesinnungen aufkommen könnten. Außerdem gab es weder in politischer noch in ökonomischer Hinsicht Streitfragen.

Aber das war nur ihre Meinung, und sie war kein Mitglied des Sicherheitsdiensts. Wenn es tatsächlich Konflikte gab, dann drohte Gefahr. Und dann hatte man allen Grund anzunehmen, daß Tholans Mission auf der Erde alles andere als friedlich war. Drake würde das wissen.

Aber hatte Drake innerhalb des Rates im Sicherheitsdienst eine so hohe Stellung, daß er sofort wußte, welche Gefahren sich mit dem Besuch eines Hawkin-Doktors verbinden könnten? Sie hatte immer geglaubt, er verrichte nur eine untergeordnete Tätigkeit in der Kommission. Er hatte nie mehr aus sich gemacht. Und doch .

War er mehr?

Sie zuckte mit den Schultern. Dieser Gedanke erinnerte sie an die Spionageromane und Verkleidungsdramen aus dem zwanzigsten Jahrhundert, als es noch das Geheimnis der Atombombe gegeben hatte. Sie entschied sich für das Verkleidungsdrama. Sie war natürlich kein Polizist wie Drake, und sie wußte nicht, wie wirkliche Polizisten in solchen Angelegenheiten vorgingen. Aber sie wußte, was in den alten Dramen passiert war.

Sie nahm ein Blatt Papier und unterteilte es mit einem Bleistift in zwei Spalten. Über die eine schrieb sie »Harg Tholan«, über die andere »Drake«. Unter Harg Tholan schrieb sie »ehrlich« und setzte nachdenklich drei Fragezeichen dahinter. War er ein Arzt oder ein interstellarer Agent? Welche Informationen hatte das Institut außer seinen eigenen Behauptungen? Hatte ihn Drake deshalb so unerbittlich über die tödliche Hemmung ausgefragt. Hatte er versucht, den Hawkin-Bewohner dazu zu treiben, sich in Widersprüche zu verwikeln?

Ein paar Minuten blieb sie unentschlossen sitzen, dann sprang sie auf, faltete das Papier zusammen, steckte es in die Tasche ihrer kurzen Jacke und verließ ihr Arbeitszimmer. Sie sagte nichts zu den Kollegen, die ihr auf den Korridoren des Instituts begegneten, und sie hinterließ keine Nachricht in der Rezeption, wohin sie ging und wann sie wieder zurückkommen würde.

Sie eilte in den dritten Untergrundbahnschacht hinunter und wartete, bis eine leere Kabine vorbeikam. Die zwei Minuten, die verstrichen, schienen ihr unerträglich lang.

»Medizinische Akademie der Stadt New York«, sagte sie in das Sprachrohr oberhalb des Sitzes. Die Tür der kleinen Kabine schloß sich, und zischend strich die Luft am Fenster vorbei, als das Abteil nach oben jagte.

Die medizinische Akademie der Stadt New York hatte sich innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte in die Höhe und in die Breite ausgedehnt. Die Bibliothek allein nahm einen ganzen Flügel in der dritten Etage ein. Wenn sie all die Bücher, Broschüren und Periodika in der Originalform beherbergen würde und nicht von einigen Mikrofilme angefertigt worden wären, würde selbst das ganze riesige Gebäude nicht genug Platz bieten. Wie Rose wußte, sprach man bereits davon, sich nur auf die Druckwerke der letzten fünf Jahre zu beschränken und nicht auf die des letzten Jahrzehnts, wie es zur Zeit der Fall war.

Rose hatte als Mitglied der Akademie freien Zugang zur Bibliothek. Sie eilte in die Nische, die die Werke über extraterrestrische Medizin enthielt und stellte erleichtert fest, daß gerade niemand anderer dort arbeitete.

Es wäre vielleicht klüger gewesen, die Hilfe eines Bibliothekars in Anspruch zu nehmen, aber sie entschloß sich, darauf zu verzichten. Je geringer die Spur war, die sie hinterließ, desto geringer war die Gefahr, daß Drake sie aufspürte.

Und so ging sie ohne Führer an den Regalen entlang und strich mit dem Finger über die Titel. Die meisten Bücher waren in englisch geschrieben, einige auch in deutsch und russisch. Ironischerweise gab es keine, die in extraterrestrischen Symbolen verfaßt waren. Die Originale befanden sich in einem anderen Raum und waren nur für amtliche Übersetzer zugänglich.

Ihr Finger hielt inne. Sie hatte gefunden, was sie gesucht hatte.

Sie nahm ein halbes Dutzend Bände aus dem Regal und breitete sie auf einem kleinen dunklen Tisch aus. Sie drückte auf den Lichtschalter und schlug den ersten Band auf. Er trug den Titel »Studien über die Hemmung«. Sie blätterte ihn durch und widmete sich dann dem Verzeichnis der Autoren.

Sie las den Namen Harg Tholan.

Sie prägte sich alle Angaben ein, die sie über ihn finden konnte, dann kehrte sie zu den Regalen zurück, um nach Übersetzungen von Originalwerken Tholans zu suchen.

Sie verbrachte mehr als zwei Stunden in der Akademie. Als sie fertig war, wußte sie, daß es einen Hawkin-Doktor namens Harg Tholan gab und daß er ein Experte auf dem Gebiet der tödlichen Hemmung war. Er stand in Verbindung mit der Hawkin-Forschungsorganisation, mit der das Institut Kontakt aufgenommen hatte. Natürlich konnte der Harg Tholan, den sie kannte, sich ganz einfach als Arzt ausgeben. Aber warum sollte er das tun?

Sie nahm das Blatt Papier aus der Tasche und schrieb hinter das Wort »ehrlich« mit den drei Fragezeichen ein »ja« in Großbuchstaben. Danach kehrte sie in das Institut zurück und saß um vier Uhr nachmittags wieder an ihrem Schreibtisch. Sie teilte der Telefonistin mit, daß sie keine Anrufe beantworten würde, und schloß die Tür ab.

In die Spalte »Harg Tholan« trug sie nun zwei Fragen ein: »Warum kam Harg Tholan allein auf die Erde?« Sie ließ genug Platz nach dieser Frage. Und dann: »Warum interessiert er sich für den Vermißtensuchdienst?«

Sicher war es glaubhaft, daß der Hawkin-Doktor in erster Linie auf die Erde gekommen war, um Studien über die tödliche Hemmung zu betreiben. Sie hatte in der Akademie gelesen, daß die Bekämpfung dieser Krankheit die wichtigste medizinische Aufgabe auf dem Hawkin-Planeten war. Sie wurde dort mehr gefürchtet als der Krebs auf der Erde. Aber wenn die Hawkin-Ärzte glaubten, die Antwort auf ihre ungelösten Fragen auf der Erde zu finden, warum schickten sie dann nicht eine ganze Forschungsexpedition? War es Argwohn und Mißtrauen ihrerseits, daß sie nur einen einzigen Forscher entsandten?

Was hatte Harg Tholan gestern abend gesagt? Die Todesfälle traten am häufigsten auf dem Hawkin-Planeten auf, der der Erde am nächsten lag, und am seltensten auf der Welt, die am weitesten von der Erde entfernt war. Und wenn man die Tatsache hinzufügte, die Tholan gestern angedeutet und die sie selbst heute in der Bibliothek bestätigt gefunden hatte, daß nämlich die Zahl der Todesfälle enorm angestiegen war, seit die Hawkin-Bewohner in interstellaren Kontakt mit der Erde getreten waren ...

Langsam und widerstrebend gelangte sie zu der einen Schlußfolgerung: Die Bewohner des Hawkin-Planeten glaubten, daß die Erdmenschen irgendwie die Ursache der tödlichen Hemmung entdeckt hatten und absichtlich die anderen Rassen der Galaxis damit infizierten, um vielleicht dereinst die Sterne beherrschen zu können.

Sie wies diesen Gedanken mit fast panischer Angst von sich. Es konnte nicht sein. Es war unmöglich. Erstens würden die Erdenbewohner nie so etwas Entsetzliches tun, zweitens konnten sie es gar nicht.

Wie die Forschung ergeben hatte, waren die Wesen auf dem Hawkin-Planeten den Erdenmenschen gleich. Seit Jahrtausenden hatten sie auf ihrem Stern den Tod mitangesehen, und doch befand sich ihre gesamte medizinische Wissenschaft auf einem Irrweg. Natürlich konnte die Erde in ihren Untersuchungen fremder Biochemie aus so großer Distanz noch nicht allzu große Erfolge aufweisen. Und soviel sie wußte, besaß man auf der Erde noch keine nennenswerten Kenntnisse über die Hawkin-Pathologie.

Die Anzeichen mehrten sich jedenfalls, daß Harg Tholan voll Mißtrauen auf der Erde eingetroffen und hier mit ebensolchem Mißtrauen empfangen worden war. Sorgfältig schrieb sie unter die Frage: »Warum kam Harg Tholan allein auf die Erde?« die Antwort: »Der Hawkin-Planet glaubt, daß die Erde die Ursache für die tödliche Hemmung ist.«

Aber warum interessierte er sich für den Vermißtensuchdienst? Als Wissenschaftlerin war sie sehr genau mit den Theorien, die sie entwickelte. Alle Fakten mußten in eine Theorie passen, nicht nur einige.

Vermißtensuchdienst! Wenn das eine falsche Spur war, auf die der Hawkin-Doktor Drake absichtlich hatte führen wollen, dann war dies sehr plump geschehen. Denn er hatte kaum eine Stunde nach der Diskussion über die tödliche Hemmung davon gesprochen.

Oder suchte er eine Gelegenheit, Drake zu beobachten, indem er sich von ihm durch die Büros des Vermißtensuch-diensts führen ließ? Wenn es so war, warum? War das vielleicht der springende Punkt? Der Hawkin-Bewohner hatte sich über Drake erkundigt, bevor er zu ihnen gekommen war. War er gekommen, weil Drake Polizeibeamter war, der Zugang zu den Räumen des Vermißtensuchdiensts hatte?

Aber warum? Warum?

Sie gab es auf und wandte sich der Spalte zu, die sie mit

»Drake« überschrieben hatte.

Und da war eine Frage, die sich selbst schrieb, nicht mit Bleistift und Tinte auf einem Blatt Papier, sondern in viel sichtbareren Buchstaben in ihren Gedanken. Warum hat er mich geheiratet? Sie bedeckte die Augen mit der Hand, wie um sie vor einem unangenehmen Licht zu schützen.

Sie waren sich ganz zufällig vor mehr als einem Jahr begegnet, als sie das Apartmenthaus betreten hatte, in dem sie damals gewohnt hatte. Zuerst hatten sie sich nur freundlich gegrüßt, dann hatten sie sich miteinander unterhalten, und bald danach lud Drake sie gelegentlich zum Essen in ein Restaurant in der Nachbarschaft ein. Es war alles ganz normal und schön, und für sie war es eine erregende neue Erfahrung: Sie verliebte sich.

Als er sie fragte, ob sie ihn heiraten wolle, war sie hingerissen und geradezu überwältigt. Damals hatte sie viele Gründe für den Antrag angeben können. Er schätzte sicher ihre Intelligenz und ihre Liebenswürdigkeit. Und gewiß dachte er, sie würde eine gute Ehefrau und Gefährtin sein.

Aber mit der Zeit begann sie an diesen Gründen zu zweifeln, glaubte nurmehr halb daran. Und ein halber Glaube war nicht genug.

Sie konnte keinen bestimmten Fehler an ihrem Ehemann finden. Drake war aufmerksam und freundlich. Er benahm sich wie ein Gentleman. Ihr Liebesleben verlief nicht sehr leidenschaftlich, aber es konnte die verblassenden Gefühlswellen einer Frau um fünfunddreißig durchaus befriedigen. Sie war nicht mehr neunzehn. Was erwartete sie eigentlich?

Das war es. Sie war nicht mehr neunzehn. Sie war weder schön noch charmant, noch reizvoll. Konnte sie erwarten, daß der gutaussehende, starke Drake, der sich sehr wenig für intellektuelle Probleme interessierte, der sie in all den Monaten ihrer Ehe weder nach ihrer Arbeit gefragt noch mit ihr über die seine gesprochen hatte, konnte sie erwarten, daß er sie so liebte, wie sie es sich wünschte? Aber warum hatte er sie dann geheiratet?

Sie entdeckte, daß die Spitze ihres Bleistifts abgebrochen war, und nahm einen neuen. In die Spalte, die mit »Drake« überschrieben war, trug sie die Frage ein: »Warum mißtraut Drake Harg Tholan?« Und darunter setzte sie einen Pfeil, der in die andere Spalte wies.

Dort hatte sie bereits brauchbare Erklärungen eingetragen. Wenn die Erde die tödliche Hemmung verbreitete oder wenn die Erde wußte, daß sie einer solchen Tat verdächtigt wurde, dann bereitete sie sich sicher auf eventuelle Vergeltungsmaßnahmen von seiten der fremden Rassen vor. Das bedeutete, daß man sich bereits mitten im Vorspiel zum ersten interstellaren Krieg der Geschichte befand. Das war eine angemessene, wenn auch schreckliche Erklärung.

Und dann erhob sich eine zweite Frage, die sie nicht beantworten konnte. Langsam schrieb sie: »Was verursachte Drakes Reaktion auf Tholans Worte: >Sie sind wirklich eine sehr charmante Wirtin

Sie versuchte, sich die Szene genau in die Erinnerung zurückzurufen. Der Hawkin-Bewohner hatte das ganz harmlos, beiläufig und höflich gesagt. Und Drake war erstarrt. Immer wieder hatte sie diese Worte auf dem Tonband abgehört. Ein Erdenmann könnte das in genau demselben Ton gesagt haben, nachdem er routinemäßig eine Cocktailparty absolviert hatte. Das Tonband zeigte ihr Drakes Gesicht nicht. Sie konnte sich lediglich daran erinnern. Drakes Augen waren voll Furcht und Haß gewesen. Und er war doch ein Mann, der sich vor nichts fürchtete. Was lag so Schreckliches in dem Satz: »Sie sind wirklich eine charmante Wirtin«? Was konnte ihn so in Erregung versetzt haben? Eifersucht? Das war absurd. Oder das Gefühl, Tholan könnte es sarkastisch gemeint haben? Vielleicht, aber das war unwahrscheinlich. Sie war sicher, daß Tholan es ernst gemeint hatte.

Sie gab es auf und setzte ein großes Fragezeichen unter diese zweite Frage. Jetzt standen zwei solcher Fragezeichen auf dem Blatt Papier, eines in der Spalte »Harg Tholan«, eines in der Spalte »Drake«. Gab es eine Verbindung zwischen Tholans Interesse für den Vermißtensuchdienst und Drakes Reaktion auf Tholans höfliche Phrase? Sie konnte es sich nicht vorstellen.

Sie legte den Kopf auf die Arme. Es wurde dunkel in ihrem Arbeitszimmer, und sie war sehr müde. Eine Zeitlang mußte sie in dem wunderlichen Land zwischen Wachen und Schlaf umhergetappt sein. Die Gedanken verloren die Kontrolle des Bewußtseins und irrten ziellos und unwirklich durch den Kopf. Aber gleichgültig, wohin sie auch tanzten, sie kehrten immer wieder zu dem einen Satz zurück: »Sie sind wirklich eine charmante Wirtin.« Manchmal hörte sie die Worte von der kultivierten, leblosen Stimme Tholans ausgesprochen, manchmal sagte sie Drake, zart und einschmeichelnd. Wenn Drake den Satz aussprach, dann klang er sehr liebevoll. Noch nie hatte er so liebevoll mit ihr gesprochen. Lächelnd lauschte sie, und sie mochte den Klang seiner Stimme.

Sie zwang sich, aufzuwachen. Jetzt war es schon ganz dunkel in ihrem Zimmer, und sie knipste die Schreibtischlampe an. Sie blinzelte, dann runzelte sie ein wenig die Stirn. Ein anderer Gedanke mußte ihr in diesem Halbschlaf gekommen sein. Da war doch noch ein anderer Satz, der Drake in Erregung versetzt hatte. Aber welcher? Angestrengt dachte sie nach. Es war nicht am letzten Abend gewesen. Der Satz war nicht in der Tonbandaufzeichnung zu hören gewesen, also mußte er vorher gesagt worden sein. Aber er fiel ihr nicht ein, und sie wurde unruhig.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr und erschrak. Es war fast acht Uhr. Sicher wurde sie zu Hause schon erwartet.

Aber sie wollte nicht nach Hause. Sie wollte weder Drake noch Tholan sehen. Langsam zerriß sie das Blatt Papier, auf dem sie die Gedanken des heutigen Nachmittags notiert hatte, in kleine Stücke und ließ sie in den kleinen AtomblitzAschenbecher auf ihrem Schreibtisch flattern. Sie verschwanden in einer Flamme, und nichts blieb von ihnen übrig.

Wenn nur auch von den Gedanken selbst nichts übrigbliebe!

Es nützte nichts. Sie mußte nach Hause.

Sie hatten sie noch nicht erwartet. Gerade als Roses U-BahnKabine aus der Tiefe tauchte, sah sie die beiden aus einem Gyro-Auto steigen. Der Fahrer starrte eine Weile hinter seinen Fahrgästen her, dann glitt der Wagen davon. In schweigendem Einverständnis warteten die drei, bis die Tür des Apartments sich hinter ihnen geschlossen hatte, bevor sie zu sprechen begannen.

»Ich hoffe, Sie waren mit dem heutigen Tag zufrieden, Dr. Tholan«, sagte Rose uninteressiert.

»Sehr. Es war ebenso faszinierend wie ergiebig.«

»Haben Sie gegessen?« Obwohl Rose selbst nichts gegessen hatte, fühlte sie keinen Hunger.

»Ja, sicher.«

»Ich habe uns zu Mittag und zu Abend etwas zu essen bringen lassen«, erklärte Drake. »Sandwiches.« Seine Stimme klang müde.

»Hallo, Drake«, sagte Rose. Es war das erstemal, daß sie sich an ihn wandte.

Er blickte sie kaum an.

»Hallo.«

»Ihre Tomaten sind wirklich ein bemerkenswertes Gemüse«, sagte der Hawkin-Bewohner. »Auf meinem Planeten gibt es nichts, das auch nur so ähnlich schmeckt. Ich habe zwei Dutzend verspeist. Und eine ganze Flasche Tomatenkonzentrat.«

»Ketchup«, erklärte Drake kurz.

»Und Ihr Besuch beim Vermißtensuchdienst?« fragte Rose.

»Hat er sich gelohnt?«

»Ja, das kann man sagen.«

Rose wandte ihm den Rücken zu und ließ sich auf die Couch fallen.

»In welcher Beziehung?«

»Ich fand es sehr interessant, daß die meisten vermißten Personen Männer sind. Am häufigsten erstatten Frauen Anzeige, daß sie ihre Männer vermissen. Der umgekehrte Fall kommt fast nie vor.«

»Oh, das ist nicht schwer zu verstehen, Dr. Tholan«, sagte Rose. »Denken Sie doch nur an die ökonomische Einrichtung auf der Erde. In der Regel ist der Mann das Familienmitglied, der die Familie als ökonomische Einheit erhält. Er arbeitet, und dafür wird er regelmäßig bezahlt. Die Ehefrau versorgt im allgemeinen nur die Kinder und den Haushalt.«

»Das ist natürlich nicht viel.«

»Es gibt aber auch Ausnahmen«, mischte sich Drake ein. »In meiner Frau sehen Sie ein Beispiel für die Minderheit der Frauen, die fähig sind, ihren eigenen Weg zu gehen.«

Rose warf ihm einen schnellen Blick zu. Hatte er das ironisch gemeint?

»Und Sie folgern daraus, Mrs. Smollett«, begann der Haw-kin-Bewohner, »daß die Frauen, die ökonomisch von ihren Ehemännern abhängig sind, es für unrentabel halten, plötzlich zu verschwinden?«

»Das war ziemlich milde ausgedrückt«, erwiderte Rose, »aber es trifft zu.«

»Und würden Sie den Vermißtensuchdienst von New York als ungefähres Muster für ähnliche Ämter in anderen Teilen des Planeten bezeichnen?«

»Warum? Ich denke schon.«

Abrupt fragte der Hawkin-Doktor: »Und haben Sie auch eine ökonomische Erklärung für die Tatsache, daß seit Beginn der interstellaren Reisen der Prozentsatz der jungen Männer unter den Vermißten gestiegen ist?«

Es war Drake der antwortete.

»Das ist keineswegs mysteriös. Heutzutage haben die Ausreißer den ganzen Weltraum zur Verfügung, um darin zu verschwinden. Jeder, der seinen irdischen Sorgen entgehen will, muß nur an Bord des nächsten Raumschiffs gehen. Es werden immer wieder Leute für die Besatzungen gesucht. Dabei werden keine Fragen gestellt, und es ist ziemlich unmöglich, den Aufenthaltsort eines Ausreißers festzustellen, wenn er die Erde verlassen hat.«

»Und fast immer verschwinden junge Männer in ihrem ersten Ehejahr.«

Rose lachte plötzlich auf.

»Weil sich in den Flitterwochen die größten Schwierigkeiten ergeben. Wenn ein junger Mann das erste Ehejahr überstanden hat, ist es in der Regel nicht mehr notwendig, daß er entflieht.«

Drake amüsierte dieses Thema offensichtlich weniger. Wieder fiel es Rose auf, daß er müde und unglücklich wirkte. Warum nur bestand er darauf, allein mit seinen Sorgen fertig zu werden? Und dann dachte sie, daß er vielleicht nicht anders konnte.

Plötzlich fragte Tholan: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich für kurze Zeit zurückziehe?«

»Aber keineswegs. Ich hoffe, der Tag war nicht zu anstrengend für Sie. Da Sie von einem Planeten kommen, dessen Schwerkraft größer ist als die der Erde, haben wir vielleicht zu leichtsinnig vermutet, daß Sie ausdauernder sind als wir.«

»Ich bin nicht müde im physischen Sinn.« Er blickte kurz auf ihre Beine und blinzelte rasch, zum Zeichen, daß er sich amüsierte. »Wissen Sie, ich denke immer noch, die Erdenmenschen müssen jeden Augenblick entweder nach vorn oder nach rückwärts fallen, weil sie so dürftig mit Standbeinen ausgerüstet sind. Verzeihen Sie, wenn meine Bemerkung etwas zu vertraulich klingen sollte, aber Ihre Erwähnung von der gerin-geren Schwerkraft der Erde brachte mich auf den Gedanken. Auf meinem Planeten würden zwei Beine ganz einfach nicht genügen. Aber das alles tut jetzt nichts zur Sache. Sehen Sie, weil ich heute so viel Neues in mich aufgenommen habe, sehne ich mich nach einer kleinen Ruhepause.«

Rose zuckte in Gedanken die Schultern. Sie konnte den Fremden gut verstehen. Wie sie aus den Forschungsberichten der Hawkin-Expedition wußte, hatten die Einwohner dieses Planeten die Fähigkeit, ihr Bewußtsein völlig von allen körperlichen Funktionen loszulösen und ungestört in eine meditative Periode zu versinken, die mehrere Tage dauerte. Die Hawkin-Bewohner empfanden diese Periode als sehr angenehm, manchmal geradezu als notwendig. Bis jetzt konnte leider kein Erdenmensch sagen, wie diese Meditation zustande kam.

Auf der anderen Seite war es bisher auch noch nicht möglich gewesen, den Hawkin-Bewohnern oder anderen extraterrestrischen Wesen zu erklären, was Schlaf ist. Was die Erdenmenschen Schlaf oder Traum nennen, würden die Hawkin-Bewohner als ein alarmierendes Vorzeichen geistigen Verfalls betrachten.

Wieder ein Beispiel für die Einzigartigkeit der Erdenmenschen, dachte Rose unbehaglich.

Tholan trat zurück, dann ließ er seinen Körper nach vorn sinken, so daß seine oberen Gliedmaßen zum höflichen Abschiedsgruß den Boden streiften. Drake nickte ihm kurz zu, und der Hawkin-Bewohner verschwand um die Biegung des Korridors. Sie hörten, wie die Tür seines Zimmers sich öffnete und wieder schloß, dann herrschte Stille.

Nach Minuten, in denen das Schweigen zwischen ihnen immer dichter wurde, knarrte Drakes Stuhl, als er nervös die Beine übereinanderschlug. Mit leisem Schrecken sah Rose, daß seine Lippen blutiggebissen waren. Er hat Sorgen, dachte sie. Ich muß mit ihm sprechen. Ich kann nicht zulassen, daß das so weitergeht.

»Drake!« sagte sie.

Drake sah sie an, und er schien aus weiter Ferne zurückzukehren.

»Was ist? Bist du auch schon müde?«

»Nein, ich fange erst an. Gestern hast du von morgen gesprochen. Willst du nicht jetzt mit mir reden?«

»Wie bitte?«

»Gestern nacht sagtest du, du würdest morgen mir mir sprechen. Ich bin bereit.«

Drake runzelte die Stirn, und Rose fühlte, wie ihre Entschlossenheit sie zu verlassen drohte.

»Ich dachte, wir hätten ausgemacht, daß du mir über meine beruflichen Angelegenheiten keine Fragen stellst. Zumindest was diese Angelegenheit betrifft.«

»Das geht jetzt nicht mehr. Ich weiß mittlerweile zuviel von dieser Angelegenheit.«

»Was meinst du?« rief er und sprang auf. Er unterdrückte seine Erregung, trat zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Was meinst du?« wiederholte er mit leiser Stimme.

Rose hielt den Kopf gesenkt und betrachtete ihre Hände, die schlaff in ihrem Schoß lagen. Geduldig ertrug sie den schmerzhaften Druck seiner Finger, die sich in ihre Schultern gruben, und sagte langsam: »Dr. Tholan glaubt, daß die Erde die tödliche Hemmung absichtlich in der Galaxis verbreitet, nicht wahr?«

Sie wartete. Langsam lockerte sich sein Griff. Dann stand er da, und seine Arme hingen zu beiden Seiten kraftlos herab. Sein Gesicht sah verwirrt und unglücklich aus.

»Woher weißt du das?«

»Ist es wahr?«

Atemlos erwiderte er: »Ich will genau wissen, warum du das sagst. Halte mich nicht zum Narren, Rose. Ich warne dich ein für allemal.« »Wenn ich es dir sage, wirst du dann meine Frage beantworten?«

»Welche Frage?«

»Ob die Erde diese Krankheit absichtlich verbreitet.«

Drake warf die Arme hoch.

»Ach, du lieber Himmel!« Dann kniete er vor ihr nieder, nahm ihre Hände in die seinen, und sie fühlte, wie er zitterte. Er zwang sich, seine Stimme sanft und einschmeichelnd klingen zu lassen.

»Rose, Liebes, sieh mal, du hast irgendein heißes Eisen am verkehrten Ende angepackt, und jetzt glaubst du, du kannst es als Waffe gegen mich in einem kleinen Ehekrach verwenden. Ich frage gar nicht viel. Ich will nur wissen, wieso du dazu kommst, zu sagen - nun, das, was du gesagt hast.« Sein Gesicht war ernst.

»Ich war heute nachmittag in der medizinischen Akademie und habe da ein bißchen gelesen.«

»Warum? Was brachte dich auf diese Idee?«

»Erstens hast du dich so außerordentlich für die tödliche Hemmung interessiert. Und zweitens machte Dr. Tholan eine Andeutung, daß sich die Todesfälle seit Beginn der interstellaren Reisen vermehrt hätten, besonders auf dem Planeten, der der Erde am nächsten liegt.«

»Und was hast du gelesen?«

»Ich fand Dr. Tholans Behauptungen bestätigt«, erwiderte Rose. »Ich konnte die Berichte über die Forschungen der letzten Jahrzehnte natürlich nur überfliegen. Aber es schien mir offensichtlich, daß zumindest einige der Einwohner vom Hawkin-Planeten die Möglichkeit in Erwägung ziehen, daß der Ursprung der tödlichen Hemmung auf der Erde zu finden ist.«

»Haben sie das ausdrücklich festgestellt?«

»Nein. Wenigstens habe ich das nicht bemerkt.« Sie starrte ihn überrascht an. In diesem Fall hätte die Regierung doch sicher intensive Untersuchungen angeordnet. Sie sagte sanft: »Weißt du nichts über die Hawkin-Forschung in dieser Angelegenheit, Drake? Die Regierung.«

»Lassen wir das.« Er hatte sich von ihr abgewandt, trat jetzt aber wieder auf sie zu. Seine Augen glänzten, als ob er soeben eine wunderbare Entdeckung gemacht hätte. »Du bist doch eine Expertin auf diesem Gebiet!«

Warum sie? Hatte er erst jetzt erkannt, daß er sie brauchte? Ihre Nasenlöcher zuckten, und sie sagte knapp: »Ich bin Biologin.«

»Ja, das weiß ich. Aber ich wollte damit sagen, daß du dich doch besonders auf dem Gebiet des Wachstums spezialisiert hast. Hast du nicht einige Arbeiten über dieses Thema geschrieben?«

»Ich habe zwanzig Aufsätze über die Beziehung zwischen verwickelt aufgebauten Nukleoproteid-Molekülen und dem embryonalen Wachstum als Beiträge für die Blätter der Gesellschaft für Krebsforschung veröffentlicht.«

»Natürlich. Ich hätte daran denken sollen.« Erregt ging er im Zimmer auf und ab. »Sag mir Rose ... Sieh mal, es tut mir leid, daß ich vorhin meine Beherrschung verloren habe. Du bist doch so kompetent wie irgendein anderer Wissenschaftler, um die Erkenntnisse dieser Forschungen zu verstehen, wenn du die Studien der Hawkin-Leute liest, nicht wahr?«

»Ich nehme es an.«

»Dann sage mir, wie ihrer Meinung nach diese Krankheit verbreitet wird. Aber bitte detailliert.«

»Aber Drake, das ist ein bißchen zuviel verlangt. Ich habe ein paar Stunden in der Akademie verbracht. Ich würde viel mehr Zeit brauchen, um deine Frage beantworten zu können.«

»Kannst du mir nicht wenigstens eine vernünftige Hypothese sagen? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wichtig das wäre.«

Skeptisch sagte sie: »Natürlich sind die >Studien über die tödliche Hemmung< eine hervorragende Abhandlung über dieses Thema. Sie faßt alle verfügbaren Forschungsergebnisse zusammen.«

»Ja? Und wann wurde sie herausgegeben?«

»Sie erscheinen periodisch. Die letzte Ausgabe ist etwa ein Jahr alt.«

»War seine Arbeit auch darin erwähnt?« Er zeigte mit dem Daumen in die Richtung von Harg Tholans Zimmer.

»Mehr als jede andere. Er ist eine Autorität auf diesem Gebiet. Ich habe mich in erster Linie mit seinen Aufsätzen beschäftigt.«

»Und welche Theorien hat er über den Ursprung der Krankheit entwickelt? Bitte versuche dich zu erinnern, Rose.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich könnte schwören, daß er die Erde dafür verantwortlich macht, aber er gibt zu, daß sie nicht wissen, wie die Krankheit sich ausbreitet. Auch das könnte ich beschwören.«

Steif stand er vor ihr, mit geballten Händen, und seine Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken.

»Er könnte sich natürlich völlig überschätzen. Wer weiß das ...?« Er wandte sich abrupt ab. »Aber ich will es jetzt ganz genau wissen. Vielen Dank für deine Hilfe Rose.« Er rannte in sein Zimmer, und hastig folgte sie ihm.

»Was willst du tun?«

Er durchwühlte die Schubladen seines Schreibtisches. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er einen Nadelrevolver in der Rechten.

»Nein, Drake!« schrie sie.

Er schob sie grob beiseite und lief den Korridor entlang zum Zimmer des Hawkin-Bewohners.

Drake stieß die Tür auf und trat ein. Rose folgte ihm auf den Fersen. Sie hatte vergeblich versucht, ihn zurückzuhalten.

Der Hawkin-Bewohner stand bewegungslos da. Seine Augen starrten ins Leere, seine vier Standbeine spreizten sich, so weit es ging, in vier Richtungen auseinander. Rose schämte sich, daß sie hier eingedrungen war. Sie hatte das Gefühl, als würde sie unerlaubt ein intimes Ritual beobachten.

Aber Drake, der offensichtlich unbeeindruckt war, näherte sich der Kreatur bis auf vier Fuß. Von Angesicht zu Angesicht standen die beiden sich gegenüber. Drake hob die Waffe, so daß die Mündung auf die Mitte von Tholans Körper zeigte.

»Bleib ruhig«, sagte er zu Rose. »Allmählich wird er sich unserer Anwesenheit bewußt werden.«

»Wie willst du das wissen?«

»Ich weiß es«, lautete die Antwort. »Gehe jetzt, Rose.«

Aber sie rührte sich nicht, und Drake war zu sehr in Anspruch genommen, um ihr weitere Aufmerksamkeit zu schenken.

Verschiedene Hautpartien im Gesicht des Hawkin-Bewohners begannen leicht zu zittern. Es sah ziemlich abstoßend aus, und Rose wandte den Blick ab.

»Das genügt, Dr. Tholan«, sagte Drake. »Versuchen Sie nicht, auch mit Ihren Gliedmaßen in Verbindung zu treten. Es reicht, wenn Sie über Ihre Sinnesorgane und über Ihre Stimme verfügen können.«

»Warum dringen Sie in mein Zimmer ein?« fragte der Hawkin-Doktor dumpf. Dann setzte er mit fester Stimme hinzu: »Und warum sind Sie bewaffnet?« Sein Kopf schwankte leicht auf dem immer noch starren Körper. Offensichtlich hatte er Drakes Befehl, sich nicht mit seinen Gliedmaßen zu verbinden, befolgt. Rose fragte sich, wieso Drake wußte, daß eine solche teilweise Wiederbelebung möglich war. Sie selbst hatte es nicht gewußt.

»Was wollen Sie?« fragte Tholan.

»Ich möchte, daß Sie mir einige Fragen beantworten«, sagte Drake.

»Mit einem Revolver in der Hand? Wenn Sie so unhöflich sind, werde ich auf Ihre Fragen nicht reagieren.«

»Sie werden nicht nur reagieren, Sie werden sogar Ihr Leben retten müssen.«

»Das ist mir unter diesen Umständen gleichgültig. Es tut mir leid, Mr. Smollett, daß man auf der Erde nicht weiß, wie man sich einem Gast gegenüber zu benehmen hat.«

»Sie sind nicht mein Gast, Dr. Tholan«, erwiderte Drake. »Denn Sie haben mein Haus unter Vorspiegelung falscher Tatsachen betreten. Sie hatten natürlich Ihre Gründe dafür. Sie hatten vor, mich für Ihre Zwecke zu benutzen. Und ich mache mir keine Gewissensbisse daraus, den Spieß jetzt umzudrehen.«

»Sie hätten besser gleich schießen sollen. Sie verschwenden nur Ihre Zeit.«

»Sind Sie so überzeugt davon, daß Sie meine Fragen nicht beantworten werden? Das allein ist schon verdächtig. Anscheinend verlieren Sie lieber Ihr Leben, bevor Sie gewisse Geheimnisse verraten.«

»Ich halte die Prinzipien der Höflichkeit für sehr wichtig. Sie als Erdenmensch verstehen das vielleicht nicht.«

»Möglicherweise nicht. Aber eines weiß ich. Obwohl ich ein Erdenbewohner bin.« Plötzlich sprang Drake vor, schneller, als Rose aufschreien konnte, schneller, als der Hawkin-Bewohner mit seinen Gliedmaßen in Verbindung treten konnte. Als Drake zurückwich, hielt er den Schlauch von Tholans Zyanidbehälter in der Hand. Im Winkel von Tholans großem Mund, wo das Ende des Schlauches befestigt gewesen war, glitzerte ein Tropfen farbloser Flüssigkeit, sickerte langsam in einer Furche der groben Haut herab und verdichtete sich zu einem braunen, gallertartigen Kügelchen, als er oxydierte.

Drake riß an dem Schlauch, und der zylindrische Behälter löste sich von der Hüfte des Hawkin-Bewohners. Er schob den Hebel zurück, der das nadellochgroße Ventil des Behälters regulierte, und das leise Zischen verstummte.

»Ich bezweifle, daß genug Zyanid entwichen ist, um uns in

Gefahr zu bringen«, sagte Drake. »Und ich hoffe, Sie wissen, was mit Ihnen passiert, wenn Sie meine Fragen nicht beantworten. Und ich rate Ihnen, mich zu überzeugen, daß Sie die Wahrheit sagen.«

»Geben Sie mir meinen Zylinder zurück«, sagte Tholan langsam. »Wenn Sie das nicht tun, werde ich Sie angreifen, und dann werden Sie mich töten.«

Drake trat einen Schritt zurück.

»Keineswegs. Wenn Sie mich angreifen, schieße ich Sie in die Beine. Wenn es notwendig ist, werden Sie alle vier verlieren. Aber Sie werden noch immer leben, und es wird schrecklich für Sie sein. Sie werden leben, um an Zyanidmangel zu sterben. Das wird ein sehr unangenehmer Tod sein. Ich bin ein Erdenbewohner, und ich kann mir nicht genau vorstellen, wie grauenvoll das sein wird. Aber Sie wissen es, nicht wahr?«

Der Mund des Hawkin-Bewohners stand weit offen. Etwas Gelbgrünliches zitterte auf seiner Zunge. Rose wollte nach vorn stürzen, wollte schreien: Gib ihm den Zylinder zurück! Aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie konnte nicht einmal den Kopf bewegen.

»Sie haben etwa eine Stunde Zeit, bevor die Wirkung unwiderruflich sein wird«, sagte Drake. »Sprechen Sie schnell, Dr. Tholan, dann bekommen Sie Ihren Zylinder zurück.«

»Und danach ...?« fragte der Hawkin-Bewohner.

»Was kümmert Sie das? Wenn ich Sie auch töten sollte, so wird es ein schöner Tod sein. Jedenfalls werden Sie nicht an Zyanidmangel sterben.«

Langsam schien die Kraft aus Tholans Körper zu strömen. Seine Stimme wurde kehlig, und die Worte platzten heraus, als hätte er nicht mehr die Energie, akzentfrei englisch zu sprechen.

»Was wollen Sie wissen?« fragte er, und seine Blicke hingen an dem Zylinder in Drakes Hand.

Drake schwang den Behälter absichtlich hin und her, quälend langsam, und die Augen der Kreatur folgten jeder Bewegung. Hin und her .

»Welche Theorien haben Sie über die Entstehung der tödlichen Hemmung entwickelt?« fragte Drake. »Warum kamen Sie wirklich auf die Erde? Warum interessieren Sie sich für den Vermißtensuchdienst?«

Rose hielt den Atem an. Diese Fragen hätte auch sie gestellt. Natürlich nicht auf diese Weise, aber in Drakes Beruf mußten Freundlichkeit und Menschlichkeit hinter der Notwendigkeit zurückstehen. Immer wieder redete sie sich das ein, um Drake nicht hassen zu müssen, weil er Tholan zu grausam behandelte.

»Es würde länger als die eine Stunde, die mir noch bleibt, dauern, um Ihre Fragen exakt zu beantworten«, sagte der Hawkin-Bewohner. »Sie beschämen mich bitter, indem Sie mich zwingen, unter Druck zu antworten. Auf meinem Planeten wäre Ihnen das unter keinen Umständen gelungen. Nur hier, auf diesem schrecklichen Stern, konnte es geschehen, daß man mir mein Zyanid raubte.«

»Sie verschwenden Ihre kostbare Stunde, Dr. Tholan.«

»Vielleicht hätte ich Ihnen alles freiwillig gesagt, Mr. Smol-lett. Denn ich brauchte Ihre Hilfe. Deshalb bin ich in Ihr Haus gekommen.«

»Sie beantworten immer noch nicht meine Fragen.«

»Ich werde sie jetzt beantworten. Schon seit Jahren habe ich zusätzlich zu meiner regulären wissenschaftlichen Arbeit privat die Zellen meiner Patienten untersucht, die an tödlicher Hemmung litten. Ich war gezwungen, heimlich und ohne Assistenten zu arbeiten, da meine Methode, die Körper meiner Patienten zu untersuchen, von meinen Leuten nicht gebilligt wurde. Ihre Gesellschaft würde zum Beispiel in ähnlicher Weise die Vivisektion ablehnen. Aus diesem Grund konnte ich die Ergebnisse meiner Untersuchungen meinen Kollegen nicht mitteilen, bevor ich die Bestätigung meiner Theorie auf der Erde gefunden hatte.«

»Wie lauten Ihre Theorien?« fragte Drake. Seine Augen glühten wie im Fieber.

»Je weiter meine Studien fortschritten, desto klarer wurde mir, daß die bisherige Forschung auf dem Gebiet der tödlichen Hemmung einen falschen Weg gegangen war. Das Geheimnis ließ sich nicht physisch lösen. Die tödliche Hemmung ist eine Geisteskrankheit.«

»Sicher, Dr. Tholan«, unterbrach ihn Rose. »Sie ist nicht psychosomatisch.«

Ein dünner, grauer, durchscheinender Film hatte sich auf Tholans Augäpfeln gebildet. Er sah Drake und Rose nicht mehr an.

»Nein, Mrs. Smollett«, sagte er. »Sie ist nicht psychosomatisch. Es handelt sich um eine echte Geisteskrankheit, eine Infektion des Geistes. Der Geist meiner Patienten war gespalten. Neben dem Geist, der offensichtlich zu ihnen gehörte, wirkte ein anderer, ein fremder Geist. Ich habe auch Patienten anderer Rassen, die an tödlicher Hemmung erkrankt waren, untersucht und konnte dasselbe feststellen. Kurz gesagt, es gibt nicht nur fünf intelligente Wesen in der Galaxis, sondern sechs. Und die sechsten sind Parasiten.«

»Das ist doch verrückt - das ist unmöglich«, sagte Rose. »Sie müssen sich irren, Dr. Tholan.«

»Ich irre mich nicht. Bevor ich auf die Erde kam, dachte ich, ich könnte mich vielleicht geirrt haben. Aber mein Aufenthalt im Institut und meine Nachforschungen im Büro des Vermiß-tensuchdiensts überzeugten mich, daß kein Irrtum möglich ist. Warum sollen keine intelligenten Parasiten existieren? Solche Intelligenzen würden im Zustand eines Fossils oder sogar eines künstlichen Produkts verbleiben, denn ihre einzige Funktion ist es, auf irgendeine Weise ihre Nahrung aus den geistigen Aktivitäten anderer Wesen zu beziehen. Man kann sich vorstellen, daß ein solcher Parasit im Lauf von Millionen Jahren vielleicht alle körperlichen Teile bis auf die absolut notwendi-gen abgelegt hat, wie der Bandwurm, einer der körperlichen Parasiten auf der Erde, alle Funktionen bis auf die der Fortpflanzung verloren hat. Im Fall der parasitären Intelligenzen können vielleicht alle körperlichen Attribute abgelegt worden sein. Nichts als reiner Geist bleibt übrig, der in einer Weise, die wir uns nicht vorstellen können, in einem fremden Geist lebt. Vielleicht im Geist der Erdenbewohner.«

»Warum gerade im Geist der Erdenbewohner?« fragte Rose.

Drake stand nur daneben und stellte keine weiteren Fragen. Er war offensichtlich zufrieden, daß Tholan sprach.

»Ahnen Sie denn noch nicht, daß die sechste Intelligenz auf der Erde entstanden sein muß? Die Menschheit hat von allem Anbeginn an mit ihr gelebt, hat sich ihr angepaßt, ohne sich ihrer bewußt zu werden. Deshalb wachsen die höheren Formen terrestrischer Tiere, der Mensch eingeschlossen, nach Erlangung der Reife nicht weiter und sterben den sogenannten natürlichen Tod. Dieser Tod ist das Ergebnis der Heimsuchung durch die universalen Parasiten. Deshalb schlafen und träumen sie. Während der Mensch schläft und träumt, nährt sich der Parasit von seinem Geist, und der Mensch wird sich dessen vielleicht etwas bewußter als im Wachzustand. Und deshalb ist der menschliche Geist als einziger der galaktischen Intelligenz so labil. Wo sonst in der Galaxis finden sich gespaltene Persönlichkeiten und ähnliche Erscheinungen? Immer wieder findet man menschliche Geisteskranke, die sichtbar von einem Parasiten befallen sind.

Irgendwie gelingt es diesen Parasiten, den Raum zu durchqueren. Sie kennen keine physischen Grenzen. Sie schweifen zwischen den Sternen umher, wie Ihre Zugvögel von Erdteil zu Erdteil fliegen, um da den Sommer zu verleben, dort zu überwintern. Ich weiß nicht, wann die ersten Parasiten auf die anderen Planeten kamen. Vielleicht wird das niemand je erfahren. Aber als diese ersten Parasiten entdeckt hatten, daß auch auf den anderen Sternen der Galaxis Intelligenzen exi-stierten, setzte ein kleiner, aber ständiger Strom von parasitären Intelligenzen ein, die ihren Weg durch den Raum machten. Wir auf den anderen Welten mußten ein besonderer Leckerbissen gewesen sein, denn sonst hätten sie nicht solche Anstrengungen unternommen, um zu uns zu gelangen. Ich kann mir vorstellen, daß viele auf der Strecke geblieben sind, aber für die, die uns erreichten, hat sich die Mühe wohl gelohnt.

Aber wir auf den anderen Planeten leben nicht seit Millionen Jahren mit den Parasiten, wie es beim Menschen und seinen Ahnen der Fall ist. Wir haben uns nicht an sie anpassen können. Unsere schwache Gegenwehr ist nicht wie auf der Erde durch Generationen hindurch langsam abgetötet worden, bis nur die Widerstandsfähigen übriggeblieben waren. Während also die Erdenmenschen die Infektion jahrzehntelang mit geringem Schaden überstehen können, sterben wir anderen einen schnellen Tod innerhalb eines Jahres.«

»Und deshalb stieg die Zahl der Todesfälle seit Beginn der interstellaren Raumfahrt zwischen der Erde und den anderen Planeten so stark an?«

»Ja.« Sekundenlang herrschte Schweigen, dann sagte der Hawkin-Bewohner mit neuer Energie: »Geben Sie mir meinen Zylinder wieder, ich habe Ihre Fragen beantwortet.«

»Was ist mit dem Vermißtensuchdienst?« fragte Drake kalt. Wieder schwang er den Zyanidbehälter hin und her, aber Tholans Blicke folgten den Bewegungen nicht mehr. Der graue Film auf seinen Augäpfeln hatte sich verstärkt, und Rose fragte sich, ob das nur auf einfache Müdigkeit oder auf den Zyanid-mangel zurückzuführen war.

»So wenig, wie wir uns an die fremden Intelligenzen anpassen konnten«, fuhr Tholan fort, »so wenig konnten sie sich an uns gewöhnen. Sie leben mit uns, und offensichtlich mit Vergnügen, aber mit uns allein als Lebensquelle können sie sich nicht fortpflanzen. Deshalb ist die tödliche Hemmung unter den Hawkin-Bewohnern nicht direkt ansteckend.«

Rose starrte ihn mit wachsendem Entsetzen an.

»Was wollen Sie damit sagen, Dr. Tholan?«

»Die primären Wirte für die Parasiten sind und bleiben die Erdenmenschen. Ein Erdenmensch, der unter uns lebt, kann einen Hawkin-Bewohner anstecken. Aber irgendwie muß der Parasit, der mit einem intelligenten Wesen auf einem anderen Stern lebt, wieder zu einem Menschen zurückkehren, wenn er sich fortpflanzen will. Vor dem Einsatz der interstellaren Raumfahrt war das nur möglich, durch eine neuerliche Durchquerung des Weltraums, und deshalb blieb die Zahl der Infektionen verhältnismäßig klein. Jetzt werden wir immer wieder angesteckt. Die Parasiten kommen zu uns und kehren zurück zur Erde im Geist eines jeden Menschen, der durch den Raum zu uns fliegt.«

»Und die vermißten Personen?« fragte Rose schwach.

»Sie sind die Zwischenträger. Wie das genau funktioniert, weiß ich nicht. Der männliche terrestrische Geist scheint sich besser für die Zwecke der Parasiten zu eignen als der weibliche, und deshalb suchen sie sich meist Männer als Wirte aus. Im Institut wurde mir gesagt, daß die durchschnittliche Lebenserwartung der menschlichen Frau um etwa dreißig Jahre höher ist als die des Mannes. Nachdem die Fortpflanzung vollzogen ist, verläßt der Wirt die Erde. Im Raumschiff fliegt er zu fremden Sternen. Er verschwindet.«

»Aber das ist unmöglich«, sagte Rose mit fester Stimme. »Ihre Behauptungen implizieren die Möglichkeit, daß die Parasiten die Handlungen ihrer Wirte kontrollieren und leiten können. Das kann nicht sein. Wir Erdenmenschen hätten doch längst die Gegenwart der Parasiten bemerken müssen.«

»Diese Kontrolle wird vielleicht sehr klug und unmerklich durchgeführt, Mrs. Smollett. Es kann sein, daß sie nur während der Periode der Fortpflanzung auftritt. Sehen Sie sich doch nur die Akten des Vermißtensuchdiensts an. Warum verschwinden so viele junge Männer? Sie haben dafür ökonomische und psychologische Erklärungen abgegeben, aber sie sind nicht ausreichend ... Aber ich fühle mich jetzt schon sehr schlecht. Ich kann nicht mehr sprechen. Nur eines will ich noch sagen. Im Geistesparasiten haben Sie und ich einen gemeinsamen Feind. Auch die Menschen müßten nicht unfreiwillig sterben, wenn dieser Feind vernichtet würde. Ich dachte, wenn es mir unmöglich sein sollte, mit meinen Informationen auf meinen Heimatplaneten zurückzukehren, weil man mir das wegen der unorthodoxen Methode, mit denen ich meine Kenntnisse erlangt habe, verwehren könnte, so würde ich mich an die Oberhäupter der Erde wenden. Ich wollte sie um ihre Hilfe bitten. Gemeinsam mit ihnen wollte ich die Parasitenplage bekämpfen. Stellen Sie sich nur meine Freude vor, als ich entdeckte, daß der Ehemann einer Biologin des Instituts ein Mitglied einer der bedeutendsten Sicherheitskommissionen der Erde ist. Natürlich tat ich alles, was ich konnte, um in Ihrem Haus als Gast aufgenommen zu werden, um mit Ihnen, Mr. Smollett, in privaten Kontakt zu kommen. Ich wollte Sie von der schrecklichen Wahrheit überzeugen, Ihre Position nutzen, um einen wirksamen Angriff auf die Parasiten zu starten.

Das ist jetzt natürlich nicht mehr möglich. Ich kann Ihnen keine allzu großen Vorwürfe machen. Da Sie ein Erdenmann sind, kann man nicht von Ihnen erwarten, daß Sie die Psyche der Hawkin-Bewohner verstehen. Aber trotzdem werden Sie wenigstens dies verstehen: Ich will weder mit Ihnen noch mit Ihrer Frau jemals wieder etwas zu tun haben. Ich kann es nicht einmal mehr ertragen, noch länger auf der Erde zu bleiben.«

»Sind Sie der einzige Hawkin-Bewohner, der die ParasitenTheorie kennt?« fragte Drake.

»Ja.«

Drake hielt ihm den Zylinder hin.

»Ihr Zyanid, Dr. Tholan.«

Gierig griff der Hawkin-Bewohner danach. Seine geschmeidigen Finger manipulierten geschickt mit dem Schlauch und dem Ventil, und in zehn Sekunden befand sich alles wieder am rechten Platz. In tiefen Atemzügen inhalierte Tholan das Gas, und seine Augen wurden wieder klar.

Drake wartete, bis die Atemzüge des Hawkin-Bewohners sich völlig normalisiert hatten. Dann hob er mit ausdruckslosem Gesicht den Nadelrevolver und feuerte. Rose schrie auf.

Tholan blieb stehen, denn seine vier Standbeine konnten nicht einknicken, aber sein Kopf fiel zur Seite, und das Schlauchende glitt aus seinem plötzlich schlaffen Mund. Wieder schloß Drake das Ventil des Zyanidbehälters und warf ihn beiseite. Ernst stand er da und betrachtete die tote Kreatur. Kein äußerliches Anzeichen ließ erkennen, daß Tholan getötet worden war. Die Kugel aus dem Nadelrevolver war schmaler als die Nähnadel, die dieser Waffe den Namen gegeben hatte. Leicht und lautlos schlug sie in den Körper und explodierte erst in der Bauchhöhle mit vernichtender Wucht.

Immer noch schreiend rannte Rose aus dem Zimmer. Drake folgte ihr und packte sie am Arm. Sie hörte die klatschenden Geräusche, als er ihr mit der flachen Hand rechts und links ins Gesicht schlug, aber sie spürte nichts. Endlich beruhigte sie sich, und ihre Schreie gingen in Schluchzen über.

»Ich habe dir gesagt, du sollst dich in diese Sache nicht einmischen«, sagte Drake. »Was willst du jetzt tun?«

»Laß mich! Ich will gehen, ich will weg von hier.«

»Nur weil ich meine Pflicht erfüllt habe? Du hast gehört, was die Kreatur gesagt hat. Sollte ich ihn auf seine Welt zurückkehren und diese Lügen verbreiten lassen? Sie würden ihm glauben. Und was meinst du, würde dann geschehen? Kannst du dir vorstellen, was ein interstellarer Krieg ist? Die Hawkin-Leute wären davon überzeugt, daß sie uns alle töten müßten, um dieser Krankheit Einhalt zu gebieten.«

Mit einer Kraftanstrengung, die aus ihrem tiefsten Innern zu kommen schien, straffte sich Rose. Fest blickte sie Drake in die Augen.

»Was Dr. Tholan sagte, waren keine Lügen, Drake.«

»Werde bitte nicht hysterisch. Du bist übermüdet. Du brauchst Schlaf.«

»Ich weiß, daß er die Wahrheit sagte, weil der Sicherheitsdienst das auch weiß und diese Theorie genau kennt.«

»Wie kannst du nur so etwas Lächerliches sagen!«

»Weil du dich zweimal verraten hast.«

»Setz dich«, sagte Drake. Sie gehorchte, und er musterte sie neugierig. »Du hast heute einen anstrengenden Tag gehabt, da du doch so viele Entdeckungen gemacht hast. Du hast viele Facetten, meine Liebe, die du sorgfältig verbirgst.« Er setzte sich ebenfalls und schlug die Beine übereinander.

Ja, dachte Rose, der Tag war wirklich anstrengend gewesen. Sie konnte von ihrem Stuhl aus die elektrische Küchenuhr sehen. Es war bereits zwei Uhr nachts. Harg Tholan hatte ihr Haus vor fünfunddreißig Stunden betreten, und jetzt war er ermordet worden.

»Nun, willst du mir nicht sagen, wann ich meine beiden Fehler gemacht habe?« fragte Drake.

»Du wurdest blaß, als Harg Tholan mich als charmante Wirtin bezeichnete. Wie du weißt, hat das Wort >Wirtin< eine doppelte Bedeutung. Ein Wirt ist eine Person, die einen Parasiten beherbergt.«

»Nummer eins«, sagte Drake. »Und Nummer zwei?«

»Das sagtest du schon, bevor Tholan zu uns kam. Ich habe stundenlang versucht, mich daran zu erinnern. Weißt du es noch, Drake? Du sprachst davon, wie unangenehm es für die Hawkin-Bewohner sei, mit uns Menschen in gesellschaftlichen Kontakt zu treten, und ich erwiderte, Tholan sei Arzt und müsse das tun, ob er wolle oder nicht. Ich fragte dich, ob du denkst, daß menschliche Ärzte besonders gern in die Tropen gehen oder sich von Moskitos stechen lassen. Kannst du dich erinnern, wie aufgeregt du plötzlich wurdest?«

Drake lachte.

»Ich hätte nicht geglaubt, daß man mich so leicht durchschauen kann. Moskitos sind Wirte für die Malaria und die Gelbfieber-Parasiten.« Er seufzte. »Ich habe mein Bestes getan, um dich aus dieser Sache herauszuhalten. Ich wollte den Hawkin-Burschen fernhalten. Ich versuchte, dir zu drohen. Jetzt bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als dir die Wahrheit zu sagen. Ich muß es tun, denn nur die Wahrheit - oder der Tod - wird dich zum Schweigen bringen. Und ich will dich nicht töten.«

Sie schauderte, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

»Die Sicherheitskommission kennt die Wahrheit«, sagte Drake. »Und diese Wahrheit ist nicht gut für uns. Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um zu verhindern, daß die anderen Sterne die Wahrheit herausfinden.«

»Aber ihr könnt die Wahrheit nicht für immer vor ihnen verbergen! Harg Tholan hat sie herausgefunden. Du hast ihn getötet. Aber ein anderes extraterrestrisches Wesen wird dieselben Entdeckungen machen - immer und immer wieder. Du kannst sie nicht alle töten.«

»Wir wissen das auch«, sagte Drake zustimmend. »Wir haben keine andere Wahl.«

»Warum nicht?« schrie Rose. »Harg Tholan hat dir die Lösung des Rätsels verraten. Er hat weder Andeutungen noch Drohungen bezüglich eines bevorstehenden interstellaren Kriegs verlauten lassen. Er schlug vor, daß wir uns mit den anderen intelligenten Rassen verbünden sollten, um gemeinsam die Parasiten zu vernichten. Und das können wir tun! Wenn wir mit vereinten Kräften .«

»Du glaubst, wir können ihm trauen? Hat er für seine Regierung gesprochen? Oder für die eines anderen Planeten?«

»Können wir es wagen, dieses Risiko zu vermeiden?«

»Du verstehst das nicht.« Drake beugte sich zu ihr und ergriff ihre kalten, widerstandslosen Hände. »Es hört sich zwar dumm an, wenn ich dir etwas über Biologie beibringen will, aber ich bitte dich, mir in diesem Fall zu glauben. Harg Tholan hatte recht. Die Menschen und ihre prähistorischen Ahnen leben seit ungezählten Zeitaltern mit parasitären Intelligenzen zusammen. Sicher schon seit längerer Zeit, als der Homo sapiens existiert. In dieser langen Periode haben wir uns nicht nur den Parasiten angepaßt, sondern wir wurden sogar abhängig von ihnen. Es ist kein Parasitismus mehr, sondern eine Lebensgemeinschaft mit gegenseitigen Nutzen. Ihr Biologen habt einen Namen dafür.«

Sie entzog ihm ihre Hände.

»Wovon redest du? Von Symbiose?«

»Genau. Wie du weißt, haben wir eine eigene Krankheit. Sie trägt die umgekehrten Vorzeichen. Sie wird durch unbeschränktes Wachstum hervorgerufen. Tholan hat sie bereits als das Gegenteil der tödlichen Hemmung erwähnt. Was ist die Ursache des Krebses? Wie lange haben Biologen, Physiologen, Biochemiker und all die anderen geforscht, um das herauszufinden? Und welchen Erfolg hatten sie? Kannst du diese Fragen beantworten?«

»Nein, ich kann es nicht«, erwiderte sie langsam. »Wovon redest du?«

»Es klingt natürlich sehr schön, daß wir ewiges Wachstum und Leben erreichen würden, wenn wir die Parasiten vernichten. Wenn wir das überhaupt wollen. Zuletzt würde es uns ermüden, immer größer und immer älter zu werden, und wir würden unserem Leben mit Vergnügen selbst ein Ende setzen. Aber seit wieviel Millionen Jahren hat der menschliche Körper die Möglichkeit, in so unbegrenztem Maß zu wachsen? Kann er es überhaupt? Ist sein chemischer Aufbau darauf eingestellt? Hat er die richtigen Ich-weiß-nicht-was?«

»Enzyme«, flüsterte Rose.

»Ja, Enzyme. Es ist unmöglich für uns. Wenn die parasitären Intelligenzen, wie Harg Tholan sie bezeichnete, aus irgendeinem Grund die Körper der Menschen verlassen oder wenn ihre Verbindung mit dem menschlichen Geist sich auflöst, wird ein unbegrenztes Wachstum einsetzen, aber es wird in ungeregelten Bahnen verlaufen. Wir nennen dieses Wachstum Krebs. Und da liegt der springende Punkt. Wir können auf die Parasiten nicht verzichten. Wir müssen für alle Ewigkeit zusammenbleiben. Um ihre tödliche Hemmung loszuwerden, müssen die extraterrestrischen Wesen erst einmal alles Leben auf der Erde vernichten. Es gibt keinen anderen Weg für sie. Verstehst du jetzt, warum wir unser Wissen für immer vor ihnen verbergen müssen?«

Ihr Mund war trocken, und es fiel ihr schwer, zu sprechen.

»Ich verstehe es, Drake.« Sie bemerkte, daß seine Stirn feucht war und daß kleine Schweißbahnen an jeder Wange herabliefen. »Und jetzt mußt du ihn aus dem Apartment entfernen.«

»Es ist schon sehr spät, und es wird leicht sein, den Körper aus dem Haus zu schaffen. Und danach ...« Er sah sie an. »Ich weiß nicht, wann ich zurückkommen werde.«

»Ich verstehe, Drake«, sagte sie noch einmal.

Harg Tholan war schwer. Drake mußte ihn durch das Apartment schleifen. Rose wandte sich ab. Ihr Magen drehte sich um. Sie bedeckte die Augen mit der Hand, bis sie hörte, wie die Wohnungstür ins Schloß fiel.

»Ich verstehe, Drake«, flüsterte sie.

Es war drei Uhr nachts. Eine Stunde war vergangen, seit die Tür mit sanftem Klicken ins Schloß gefallen war, hinter Drake und seiner Bürde. Sie wußte nicht, wohin er ging, was er vorhatte .

Benommen saß sie auf der Couch. Sie hatte weder den Wunsch, zu schlafen, noch sich zu bewegen. Sie versuchte, ihre Gedanken in engen Kreisen zu halten, sie nicht zu den Dingen schweifen zu lassen, die sie nicht wissen sollte oder wollte.

Parasitärer Geist! War es Zufall, oder war es eine wunderliche Erinnerung alter Rassen, ein dünnes immerwährendes Raunen von Tradition und innerer Sicht, das unendliche Millionen Jahre zurückreicht, das für ewig den seltsamen Beginn der Menschheit umgeben wird? Rose dachte, daß zwei Intelligenzen das Leben auf der Erde begonnen hatten. Da waren Menschen im Garten Eden, und da war die Schlange, »die klüger war als jedes andere Tier im Garten«. Die Schlange steckte den Menschen an, und das Ergebnis war, daß sie ihre Gliedmaßen verlor. Diese körperlichen Attribute waren nicht mehr notwendig für sie. Und der Mensch wurde aus dem Garten des ewigen Lebens vertrieben. Der Tod betrat die Welt.

Doch trotz ihres Bemühens verließen ihre Gedanken die engen Kreise und flogen zu Drake. Sie holte sie zurück, sie begann zu zählen, die Namen der Dinge aufzusagen, die sich in ihrem Gesichtskreis befanden, sie schrie: »Nein, nein«, aber vergebens. Immer wieder erschien Drake vor ihrem geistigen Auge.

Drake hatte sie belogen. Es war eine sehr plausible Geschichte, und unter anderen Umständen hätte sie sie wahrscheinlich auch geglaubt. Aber Drake war kein Biologe. Krebs ist keine Krankheit, die durch die verlorene Fähigkeit zu normalem Wachstum entsteht, wie Drake sagte. Krebs befällt auch Kinder, während sie noch wachsen. Er kann sogar Embryos befallen. Er befällt Fische, die wie die extraterrestrischen Wesen nicht aufhören zu wachsen, solange sie leben, und die nur durch eine Krankheit oder einen Unfall sterben. Er befällt Pflanzen, die keinen Verstand haben und nicht von intelligenten Parasiten befallen werden können. Krebs hat nichts mit normalem oder abnormem Wachstum zu tun. Es ist die allgemeine Krankheit des menschlichen Lebens, gegen die kein Körper und kein multizellularer Organismus wirklich immun sind.

Er hätte sie nicht belügen sollen. Er hätte nicht dieser dunk-len, sentimentalen Schwäche nachgeben dürfen, die ihn daran gehindert hatte, sie zu töten. Sie würde alles ihren Kollegen im Institut erzählen. Ja, die Parasiten konnten nicht vernichtet werden. Ihr Verschwinden würde den Krebs nicht verursachen. Aber wer würde ihr glauben?

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Die jungen Männer verschwanden gewöhnlich in ihrem ersten Ehejahr. Wie immer die Fortpflanzung der Parasiten vor sich gehen mußte, auf jeden Fall war es notwendig, daß ein Parasit in engen Kontakt zu einem anderen trat. Und das war nur möglich, wenn auch ihre Wirte sich eng miteinander verbanden, wie Mann und Frau in einer jungen Ehe.

Sie fühlte, wie die Gedanken ihr langsam entglitten. Sie würden zu ihr kommen. Sie würden sie fragen: »Wo ist Harg Tholan?« Und sie würde antworten: »Bei meinem Mann.« Dann würden sie fragen »Wo ist Ihr Mann?«, denn auch er war verschwunden. Er brauchte sie nicht mehr. Er würde nie mehr zurückkehren. Sie würden ihn nie finden, denn er war draußen im Weltraum. Sie würde beide, Drake Smollett und Harg Tholan, als vermißt melden.

Sie wollte weinen, aber sie konnte es nicht. Ihre Augen waren trocken und schmerzten.

Und dann begann sie plötzlich zu kichern und konnte nicht aufhören. Es war wirklich komisch. Auf so viele Fragen hatte sie Antworten gesucht und hatte sie gefunden. Jetzt konnte sie sogar die Frage beantworten, von der sie gedacht hatte, sie gehöre gar nicht zur Sache. Sie wußte endlich, warum Drake sie geheiratet hatte.

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