DRITTER TEIL Das Feste Land über den Wassern

1

Das Schiff glitt wie auf Öl dahin und zog steuerlos seine Bahn um die Welt. Unter den Füßen spürte Lawler die weite rollende Dünung des Weltmeeres, das gewaltige Wogen des Planeten, die Wassermasse, auf der sie lagen und die sie unwiderstehlich mit sich forttrug. Sie waren nichts als Treibgut. Ein vereinzeltes Atom, das durch die Leere taumelt. Sie waren ein Nichts, und die Unermeßlichkeit der rasenden See war Alles.


* * *

Mittschiffs hatte er eine Stelle gefunden, wo er sich niederkauern und sich mit einem dicken Polster aus Decken gegen ein Schott verkeilen konnte. Aber er rechnete eigentlich nicht damit, daß er es überleben werde. Die Mauer aus Wasser war zu riesig gewesen; die See zu stürmisch, und ihr Schiff allzu zerbrechlich.

Einzig aus Geräuschen und Bewegungen versuchte er zu erraten, was jetzt auf Deck geschah.

Die Queen of Hydros schlitterte mit der Bewegung der Woge, in der sie gefangen war, hilflos über die See dahin, fest im Griff der tieferen Krümmung der Wasseraufstülpung. Selbst wenn es Delagard gelungen war, sein Magnetron rechtzeitig in Gang zu setzen, so hatte es doch offenbar wenig oder gar keine Wirkung gezeitigt und das Schiff nicht vor dem heranrollenden Aufprall geschützt, auch nicht dagegen, daß es einfach davon gepackt und fortgerissen wurde. Wie schnell oder langsam die WOGE dahinzog, Ihre Geschwindigkeit war nun zwangsläufig auch die Bewegung des Schiffes, das von dem gewaltigen Wasserberg vorwärtsgeschoben wurde. Lawler hatte noch nie eine dermaßen gigantische WOGE erlebt. Und vielleicht hatte dies auch sonst keiner in der kurzen hundertfünfzigjährigen Geschichte menschlicher Niederlassungen auf Hydros.

Eine einzigartige Verkettung in den Positionen der drei Monde und der Schwesterwelt höchstwahrscheinlich: das teuflische Zusammenwirken von Gravitationskräften. Ja, das mußte diese unvorstellbare Wasserbeule hervorgerufen und sie um den Bauch des Planeten in Kreisbewegung gebracht haben.

Aber irgendwie schwamm das Schiff noch immer. Lawler konnte sich nicht vorstellen, wieso. Aber er war ziemlich sicher, daß es immer noch wie ein Korken auf dem Wasser tanzte, denn er konnte die stetige Geschwindigkeit wahrnehmen, mit der die WOGE weiterzog. Diese unerbittliche Kraft rammte ihn gegen das Schott und drückte ihn dort so fest, daß er zu keiner Bewegung fähig war. Wenn sie bereits gekentert wären, rechnete er sich aus, hätte die WOGE inzwischen langst davongezogen sein müssen und sie wären sang- und klanglos auf der Rückseite am Absaufen. Doch nein. Nein. Das Schiff fuhr. Mitten in der WOGE steckten sie und wurden herumgewirbelt, kielober, kielunter, und alles im Schiff, was nicht festgemacht war, flog krachend umher. Er konnte das hören, Scheppern und Rasseln, als schüttelte ein Riese das Schiff in seiner Faust, und so war es ja wahrlich auch. Nach oben und unten und oben und unten. Er rang nach Luft, er keuchte, als wäre es er selber, nicht das Hauptdeck, der da unentwegt untergetaucht wurde und dann wieder auftauchen durfte. Hinab und wieder empor, und runter und rauf und runter. In seiner Brust hämmerte es. Benommenheit überkam ihn, aber auch eine Art betrunkener Leichtigkeit und Leere im Gehirn, die es ihm unmöglich machten, irgendwie Panik zu empfinden. Er wurde derart wild umhergewirbelt, daß er keine Furcht mehr empfinden konnte, es war dafür einfach keine Stelle in seinem Kopf frei.

Wann sacken wir endlich ab? Jetzt? Jetzt? Oder jetzt?

Oder würde die WOGE sie niemals loslassen, sondern sie ohne Ende um den Globus tragen, ewig kreisend wie ein von seiner schrecklichen Eigenkraft bewegtes Rad?

Aber dann kam der Zeitpunkt, an dem alles wieder stabil wurde. Wir sind davon frei, dachte er, wir treiben wie der aus eigenem. Doch, nein, nein. Es war nur eine Illusion. Nach ein, zwei Augenblicken fing das Wirbeln erneut an, und heftiger als zuvor. Lawler spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf in die Beine schoß und umgekehrt und wieder umgekehrt. Seine Lungen schmerzten. Bei jedem Atemzug brannte es wie Feuer in seinen Nasenlöchern.

Es gab ein Krachen und Gepolter, das aus dem Schiffsinnern zu kommen schien, und lauteres Getöse, das von draußen zu kommen schien. Er hörte ferne Stimmen rufen, gelegentliche Schreie . Da war das Brüllen des Windes — oder doch jedenfalls die akustische Einbildung, als hörte er den Wind brüllen. Und da war dieses dunklere Dröhnen der WOGE selbst. Und ein helles knisterndes Zischen, das in scharfes Fauchen überging und das Lawler überhaupt nicht einordnen konnte: vielleicht der wütende Zusammenstoß von Wasser und Himmel an ihrem Kontaktpunkt. Oder vielleicht auch war die WOGE von unterschiedlicher Dichte, und ihre eigenen hydratischen Komponenten — nur flüchtig gebunden durch das Moment der übergeordneten Kraft — waren in Widerstreit zueinander geraten.

Und dann endlich trat erneut eine Weile Stille ein, und diesmal schien sie zu dauern und zu dauern und kein Ende finden zu wollen. Also, jetzt versinken wir, dachte Lawler. Wir sind fünfzig Meter tief unten, und wir sinken weiter. Gleich werden wir ertrinken. Jeden Moment kann der Druck des uns umgebenden Wassers unsere kleine Blase von einem Schiff zerquetschen, und die See bricht herein, und dann haben wir es überstanden.

Er wartete, daß diese Wasserimplosion endlich komme. Ein rascher Tod — sollte es eigentlich sein. Die Faust des Wassers gegen die Brust würde den Blutstrom zum Gehirn abwürgen; er würde im Nu bewußtlos sein. Und er würde nie erfahren, wie die Geschichte endete: das langsame Tiefersinken, die berstenden Balken und Planken, die Geschöpfe der Tiefe, die neugierig hereinkommen, glotzen und überlegen und schließlich fressen würden.

Aber es geschah nichts. Alles blieb still. Sie schwebten treibend in einer Zeit außerhalb der Zeit, ruhig und still. Lawler kam der Gedanke, daß sie wohl bereits tot sein müsse, sein müßten, daß dies hier das nächste Leben sein müsse, an das er nie hatte glauben können, und er schaute sich lachend um, weil er hoffte, Father Quillan irgendwo zu entdecken, damit er ihm sagen konnte: »Hattest du dir das so vorgestellt? Als ein endloses Dahintreiben im Schwebezustand? Genau an der Stelle, wo du gestorben bist, immer noch mit Bewußtsein behaftet, und um dich herum nichts weiter als eine maßlose Stille?«

Er mußte über seine Torheit lächeln. Wenn es das Leben danach gab, dann war es bestimmt nicht die bloße Fortsetzung des augenblicklichen. Nein, er befand sich durchaus noch in seinem alten gewohnten Leben. Und dort waren seine ihm vertrauten alten Füße, die vertrauten alten Hände mit den blasser gewordenen Narben in den Handflächen. Und das war das Geräusch seines eigenen Atems. Er lebte noch. Und das Schiff mußte demzufolge noch schwimmen. Die WOGE war also doch vorbeigezogen.

»Val?« fragte eine Stimme. »Bist du okay?«

»Sundira?«

Sie kam durch den engen, durch alles mögliche losgebrochene Zeug verstopften Gang auf ihn zugekrochen. Ihr Gesicht war sehr blaß, und sie wirkte wie betäubt. In den Augen stand ein starres Funkeln. Lawler regte sich, befreite sich von einer Planke, die von irgendwoher herabgestürzt und auf seiner Brust gelandet war, ohne daß er davon etwas gemerkt hätte, und dann wand er sich aus seinem gemütlichen Schlupfwinkel heraus. Sie trafen sich auf halber Strecke.

»Himmel«, sagte sie leise. »Oh, du mein Gott im Himmel!«

Dann begann sie zu weinen. Lawler griff nach ihr, um sie zu trösten, und merkte, daß auch er weinte. Und so hielten sie sich aneinander fest in dieser gespenstischen traumartigen Stille und weinten.


* * *

Eine der Luken war geöffnet, und durch sie fiel ein Lichtstrahl herein. Hand in Hand stiegen sie ins Freie.

Das Schiff schwamm aufrecht, saß ganz normal im Wasser, als sei überhaupt nichts gewesen. Das Deck war naß und schimmerte, wie Lawler es nie zuvor hatte blitzen sehen. Es sah aus, als ob eine Million Deckgasten es eine Million Jahre lang geschrubbt hätten. Das Ruderhaus war noch, das Kompaßhaus, das Quarterdeck, auch die Brücke. Verblüffenderweise standen auch die Masten noch, allerdings hatte der Vormast eine seiner Rahen verloren.

Kinverson stand bereits wieder auf Deck bei seinem Hebebaum, und Lawler sah Delagard vorn am Bug, breitbeinig und reglos aufgepflanzt und vom Schock wie verblödet. Es sah aus, als hätte er Wurzeln durch die Decksplanken getrieben, als wäre er dort an dieser Stelle die ganze Zeit über gestanden, während das Schiff von der WOGE davongerissen wurde. Weiter drüben nach steuerbord zu stand Onyos Felk in genau der gleichen reglosen Erstarrtheit.

Nach und nach kamen die übrigen aus ihren Schlupfwinkeln: Neyana Golghoz, Dann Henders, Leo Martello, Pilya Braun. Dann auch Gharkid, der von einem Mißgeschick unter Deck ein bißchen hinkte, und Lis Nikiaus, und dann Father Quillan. Sie wanderten mit vorsichtig schiebenden Schritten umher wie Schlafwandler, als vergewisserten sie sich zögerlich, ob das Schiff auch wirklich noch intakt war; sie berührten die Reling, die Mastblöcke, das Dach der Back. Der einzige, der fehlte, war Dag Tharp. Lawler nahm an, er sei unter Deck geblieben, um mit den anderen Schiffen Funkkontakt aufzunehmen.

Die anderen Schiffe? Es war nirgendwo etwas von ihnen zu sehen.

»Sieh nur, wie still es ist«, flüsterte Sundira.

»Still. Ja, und leer.«

Es sah so aus, wie man sich wohl den Ersten Tag der Schöpfung vorstellen konnte. Nach allen Seiten hin erstreckte sich eine völlig gestalt- und gesichtslose Wasserfläche, die See, graublau und ruhig, glatt und ohne die geringste Dünung, ohne Woge, ohne eine einzige Schaumkrone, ohne die kleinste Kräuselung: eine träge gleichmäßige horizontale Leere. Der Durchzug der WOGE schien alle Energie mit sich fortgerissen zu haben.

Auch der Himmel war glatt und grau und nahezu leer. Im fernen Westen hing eine vereinzelte breite Wolke, hinter der die Sonne unterging. Von jenseits des Horizontes stieg eine fahle Helligkeit auf. Von dem Sturm, der der WOGE vorausgeeilt war, war keine Spur mehr zu sehen. Er war genauso restlos verschwunden wie die WOGE selbst.

Aber die anderen Schiffe? Die anderen?

Lawler wanderte langsam von einer Seite des Schiffes zur anderen und wieder zurück. Seine Augen suchten das Wasser nach Auffälligem ab, nach Zeichen, nach Hinweisen: treibenden Balken, Fetzen von Segeln, Kleidungsstücken, um ihr Leben kämpfenden Schiffbrüchigen. Schon einmal hatte er auf dieser Reise — nach dem großen dreitägigen Orkan — so auf die See hinausgestarrt, auf der kein anderes Schiff sich zeigte. Damals war die Flotte nur von den Winden zerstreut worden und hatte sich wenige Stunden später neu formiert. Diesmal, fürchtete er, würde es nicht so kommen.

»Da ist Dag«, murmelte Sundira. »Mein Gott, sein Gesicht!«

Tharp kam durch die Heckluke herauf. Er war bleich, die Augen leer, die Schultern eingezogen, und seine Arme baumelten schlaff herab. Delagard löste sich aus seiner Starre, fuhr herum und fragte beißend: »Also? Wie sieht es aus?«

»Nichts. Es gibt keine Meldungen.« Tharps Stimme war nur ein hohles Geflüster. »Kein Ton! Ich hab’s immer wieder versucht: Meldet euch, Goddess, meldet euch, Star, meldet euch, Moons, meldet euch, Cross! Hier ist die Queen. Meldet euch! Meldet euch! Meldet euch!« Er klang fast, als hätte er den Verstand verloren. »Nicht ein Laut. Nichts!«

Delagards feistes Gesicht nahm eine bleigraue Färbung an und wurde ganz schlaff.

»Kein einziger von allen?«

»Nichts, Nid. Sie kommen nicht rüber. Sie sind nicht mehr da.«

»Dann ist dein Radio kaputt.«

»Aber ich habe Inselstationen empfangen. Ich hab Kentrup reingekriegt. Und Kaggeram. Das war ’ne schlimme WOGE, Nid. ’ne ganz böse.«

»Aber meine Schiffe…«

»Nichts.«

»Meine Schiffe, Dag!«

Delagards Augen rollten wild. Er stürzte vorwärts, als wollte er Tharp bei den Schultern packen und bessere Nachrichten aus ihm herausschütteln. Kinverson tauchte aus dem Nichts auf und trat zwischen die beiden. Er hielt Delagard zurück, der zitterte und auf den Beinen schwankte.

»Geh wieder runter!« befahl Delagard dem Funker. »Versuch es weiter!«

»Das hat keinen Zweck«, sagte Tharp.

»Meine Schiffe! Meine Schiffe!« Delagard fuhr auf dem Absatz herum und rannte an die Reling. Einen Moment lang fürchtete Lawler, er werde sich über Bord stürzen. Doch er wollte nur auf irgend etwas einschlagen. Er machte Keulen aus seinen Fäusten und schmetterte sie wieder und wieder auf die Reling, und das mit einer dermaßen verblüffenden Kraft, daß das Geländer sich bog, einknickte und unter der Wucht seiner Schläge brach. »Meine Schiffe!« winselte Delagard.

Auch Lawler merkte, daß er zu zittern begonnen hatte. Die Schiffe, ja. Und alle, die auf ihnen waren. Er wandte sich Sundira zu und sah in ihren Augen, daß sie mit ihm litt. Sie wußte, welchen Schmerz er fühlte. Doch wie konnte sie das wirklich mitfühlen? Für sie waren diese Menschen allesamt Fremde gewesen. Für ihn bedeuteten sie seine ganze Vergangenheit, die Substanz seines ganzen Lebens, im guten wie im schlimmsten Sinne. Nicko Thalheim, Sandor, Nickos alter Vater, Bamber Cadrell, die Sweyners, die Tanaminds, Brondo, diese armen verrückten Schwestern, Volkin, Yanez, Stayvol, alle, jeder einzelne von ihnen, die er gekannt hatte, alles, seine Kindheit, die Jugendzeit, seine Mannesjahre, die Garanten gemeinsamer Erinnerungen aus einem ganzen Leben… allesamt und alles auf einmal fort und ihm entrissen. Wie sollte Sundira das begreifen? War sie je Teil einer über lange Zeit hin gewachsenen Gemeinschaft gewesen? Hatte sie so etwas ja erlebt? Sie hatte ihre Geburtsinsel verlassen, ohne weiter noch einen Gedanken an sie zu verschwenden, und war dann von Ort zu Ort gewandert, ohne je zurückzuschauen. Niemand kann nachvollziehen, wie es ist, etwas zu verlieren, das man selbst nie gehabt hat.

»Val…« Sie sagte es ganz leise.

»Laß mich in Ruhe. Bitte!«

»Wenn ich dir doch nur irgendwie helfen könnte…«

»Aber das kannst du nicht.«


* * *

Und dann senkte sich Dunkelheit über sie. Das Kreuz begann am Himmel aufzuziehen, aber es hing merkwürdig schief, schräg von Südwest nach Nordost. Es ging kein Wind. Die Queen of Hydros dümpelte träge auf der stillen See. Sie waren alle noch immer auf Deck. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, wieder Segel zu setzen, obwohl es schon Stunden her war, daß die WOGE davongezogen war. Doch das spielte in dieser Reglosigkeit, in dieser Flaute kaum eine Rolle.

Delagard wandte sich an Onyos Felk und fragte mit tonloser Stimme: »Was meinst du, wo wir sind?«

»Grob geschätzt, oder willst du, daß ich meine Instrumente hole?«

»Bloß deine Vermutung, Onyos, verdammt noch mal!«

»Im Meer der Leere.«

»Darauf bin ich auch selber schon gekommen. Gib mir eine Gradbestimmung!«

»Denkst du, ich bin ein Zauberer, Nid?«

»Ich denke, daß du ein vernagelter Arsch bist. Aber du kannst mir doch wenigstens eine Längenposition bestimmen. Schau dir das beschissene Kreuz an!«

»Ich seh das beschissene Kreuz«, sagte Felk giftig. »Und es sagt mir, daß wir südlich vom Äquator stehen, und ziemlich viel tiefer westlich als bevor die WOGE uns erwischt hat. Wenn du’s genauer haben willst, dann laß mich runtergehen und versuchen, meine Instrumente zu finden.«

»Viel weiter westlich?« fragte Delagard.

»Ja, ziemlich. Ein dickes Stück weit. Da haben wir wirklich mal tolle Fahrt gemacht.«

»Also geh und such deine Instrumente.«

Als Felk nach längerem Suchen in dem Chaos unter Deck mit seinem Handwerkszeug wieder auftauchte, sah Lawler, ohne viel zu begreifen, zu, was er mit den ungeschlachten, grobkonstruierten Navigationsinstrumenten anstellte, die wahrscheinlich einem Seefahrer des 16. Jahrhunderts auf der ERDE nur ein verächtliches Lachen abgenötigt hätten. Felk arbeitete ruhig, brummte nur ab und zu vor sich hin, während er das Kreuz anpeilte, überlegte, erneut visierte und überlegte. Nach einer Weile blickte er zu Delagard auf und sagte: »Wir sind noch weiter westlich, als mir angenehm ist.«

»Und unsere Position?«

Felk sagte es ihm. Delagard wirkte überrascht. Er stieg seinerseits unter Deck, blieb lange dort und tauchte schließlich mit seinem Globus wieder auf. Lawler trat zu ihm, als Delagard mit dem Finger die Längengrade entlangzufahren begann. »Aha. Da. Da.«

Sundira fragte: »Kannst du erkennen, wohin er zeigt?«

»Wir sind mitten im Herzen des Leeren Meeres. Wir liegen fast in gleicher Distanz zu diesem ›Antlitz‹ wie zu den bewohnten Inseln hinter uns. Wir sind mitten im Nirgendwo, ganz klar, und wir sind ganz allein hier.«

2

Dahin war nun jegliche Hoffnung darauf, eine Versammlung der Schiffe einzuberufen, um den geballten Gemeinschaftswillen der Sorve- Kolonie gegen Delagard ins Spiel zu bringen. Die gesamte Sorve- Gemeinschaft war auf genau dreizehn Personen zusammengeschrumpft. Inzwischen wußten alle auf dem einzigen geretteten Schiff, wohin die Reise wirklich gehen sollte. Manchen — wie Kinverson oder Gharkid — schien dies nichts auszumachen; für Männer wie sie war ein Ziel so gut wie ein anderes. Aber andere — Neyana, Pilya, Lis -würden kaum bereit sein, gegen irgend etwas zu opponieren, was Delagard beabsichtigte, und sei es noch so abwegig. Und wenigstens einer, Father Quillan, war Delagards geschworener Weggenosse auf der Suche nach diesem Land über den Wassern.

Damit blieben noch Dag Tharp und Dann Henders, Leo Martello, Sundira, Onyos Felk. Onyos verabscheute Delagard. Gut, einer für meine Seite, sagte sich Lawler. Und Tharp und Henders, die hatten mit Delagard bereits Knatsch gehabt wegen der Zielrichtung; sie würden auch vor weiteren Auseinandersetzungen nicht zurückschrecken. Martello hingegen war ein Delagardist, und Lawler war nicht sicher, wie er sich bei einem Entscheidungskampf mit dem. Reeder verhalten würde. Sogar Sundira war eine unbekannte Größe. Lawler hatte kein Recht zu erwarten, daß sie sich auf seine Seite schlagen werde, wie eng auch ihre Beziehungen inzwischen zu werden schienen. Vielleicht war sie sogar neugierig auf dieses neue Land und wartete begierig darauf, zu erfahren, worum es sich dabei wirklich handelte. Schließlich hatte sie sich ja als Beruf die Erforschung der Welt der Kiemlinge gewählt.

Also blieben vier gegen den Rest, oder bestenfalls sechs. Nicht einmal die Hälfte der Besatzung. Es wird nicht reichen, dachte Lawler.

Mehr und mehr verstärkte sich seine Überzeugung, daß es ein vergeblicher Versuch sein würde, Delagard unter Kontrolle zu bringen. Der Mann war dazu einfach eine zu bedeutende Größe. Fast so etwas wie die WOGE: Es paßte einem zwar nicht, wohin sie einen schleppte, aber man konnte nicht viel dagegen unternehmen. Wirklich nicht.

Im Gefolge der Katastrophe schwirrte Delagard mit scheinbar unerschöpflicher Energie auf Deck umher, um das Schiff für die Fortsetzung der Reise wieder tauglich zu machen. Die Masten wurden ausgebessert, die Segel gehißt. Und wenn Delagard schon früher voller Antrieb und Zielstrebigkeit war, so wirkte er jetzt geradezu wie von Dämonen besessen, wie eine erbarmungslose Naturgewalt. Ja, dachte Lawler, der Vergleich mit der WOGE scheint wirklich passend. Der Verlust seiner kostbaren Schiffe schien Delagard über eine Willensschwelle hinaus und in einen ganz neuen Bereich von zielstrebigem Aktionismus getrieben zu haben. Voller Wut und wechselnder Launen, geradezu knisternd vor Energieüberladung, fungierte er jetzt als Zentrum in einem kinetischen Energiewirbel, der es nahezu unmöglich machte, ihn anzusprechen. Mach das! Du machst das da! Bring das in Ordnung! Schaff das da weg! Es blieb einfach um ihn kein Raum, als daß einer (wie Lawler) da hätte ankommen und sagen können: »Wir werden es dir nicht erlauben, Nid, das Schiff dahin zu führen, wohin du willst!«

Am Morgen nach der WOGE hatte Lis Nikiaus frische Prellungen und Platzwunden im Gesicht. »Ich hab gar nichts zu ihm gesagt«, erzählte sie Lawler, während dieser den Schaden zu beheben versuchte. »Er ist einfach ausgerastet und wild geworden, sobald wir in der Kabine waren, ging auf mich los und hat mich geschlagen.«

»Ist so was früher schon passiert?«

»So wie jetzt? Nein. Jetzt ist er wirklich verrückt geworden. Vielleicht hat er auch Angst gehabt, daß ich was sagen könnte, was ihm nicht paßt. Aber er, er kann an nichts anderes denken als an dieses ›Antlitz‹, dieses Land-über-den-Wassern. Er redet sogar im Schlaf davon. Er verhandelt über Abmachungen, bedroht Konkurrenten, verspricht Wunder — ach, ich weiß nicht, was sonst noch.« Stämmig, groß, ein Vollweib, wirkte Lis auf einmal ganz in sich zusammengefallen und schwächlich, als würde Delagard ihre Lebenskraft aus ihr in sich herübersaugen. »Je länger ich mit dem zusammen bin, desto mehr macht er mir Angst. Da denkst du, der ist ja bloß ein reicher Reeder, der hat nichts weiter im Sinn als Fressen und Saufen und Ficken und wie er noch reicher werden kann, weiß der Himmel, wozu. Und dann, ganz selten mal, erlaubt er dir, ein bißchen tiefer in ihn hineinzuschauen, und dann siehst du die Teufel.«

»Teufel?«

»Ja. Teufel, Visionen, Wahnvorstellungen, Wunschträume. Ich weiß nicht. Er glaubt, daß diese große Insel da ihn zu einem Herrscher machen wird, oder so was, oder vielleicht zu einem Gott… daß ihm alle anderen Untertan und gehorsam sein werden, nicht nur wir hier, sondern auch die anderen Leute auf den Inseln und auch die Gillies. Und Leute auf anderen Welten: Hast du gewußt, daß er vorhat, einen Raumflughafen zu bauen?«

»Ja. Er hat es mir selbst erzählt«, sagte Lawler. »Und er wird es auch schaffen! Er bekommt immer, was er haben will, dieser Mann. Er gönnt sich und niemand Ruhe, er gibt nie auf. Der denkt noch im Schlaf. Ich mein das ganz ernst.« Lis betastete vorsichtig eine blaurote Stelle zwischen ihrem Wangenbein und dem linken Auge. »Meinst du wirklich, du kannst versuchen und ihn bremsen?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Sei vorsichtig. Er bringt dich um, wenn du dich ihm in den Weg stellst. Sogar dich, Doc. Er würde dich töten, wie er einen Fisch tötet.«


* * *

Das leere Meer schien ein treffender Name zu sein. Es war leer und gestaltlos, ohne Inseln, ohne Korallenriffe, ohne Stürme und kaum je ein Wölkchen am Himmel. Die heiße Sonne schüttete lange orangehelle Lichtbahnen über die matte, glasig-blaugraue Dünung. Der Horizont schien eine Million Kilometer weit in der Ferne zu liegen. Der Wind wehte schlaff und unstet. Höhere Dünung kam nun nur noch selten auf und war unbedeutend, kaum mehr als eine Kräuselung auf der Fläche des Wassers. Das Schiff durchschnitt sie mühelos.

Aber es gab hier auch wenig maritime Lebensformen. Kinverson warf seine Treibangeln und -netze vergeblich aus; Gharkid holte in seinen Netzen kaum irgendwelche brauchbaren Tanggewächse herauf. Hin und wieder zog ein Schwarm glitzernder Fische vorbei, oder man sah in der Ferne sich größere Meeresgeschöpfe tummeln, doch selten genug kam etwas nahe genug an das Schiff heran und ließ sich fangen. Die an Bord vorhandenen Vorräte — getrockneter Tang und Fisch — nahmen rapide ab. Delagard befahl die Kürzung der Tagesrationen. Es sah so aus, als werde die weitere Reise zu einem Hungertrip werden. Und eine Durststrecke noch dazu. Während des grandiosen Wolkenbruchs kurz vor dem Erscheinen der WOGE war nicht genug Zeit geblieben, die gewöhnlichen Auffangbehältnisse aufzustellen. Und so sank der Wasserspiegel in den Fässern nun unter diesem heiteren wolkenleeren Himmel von Tag zu Tag drastischer.

Lawler bat Onyos Felk, ihm auf der Karte zu zeigen, wo sie sich befanden. Der Kartograph äußerte sich vage wie gewöhnlich über seine Geographie, zeigte aber schließlich auf einen Punkt weit draußen im Leeren Meer zwischen Äquator und der vermuteten Position des Landes über den Wassern.

»Kann das korrekt sein?« fragte Lawler. »Ist es wirklich möglich, daß wir so weit gekommen sind?«

»Die WOGE raste mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin und hat uns den ganzen Tag lang mitgetragen. Das wirkliche Wunder ist, daß das Schiff dabei nicht einfach zerspellt ist.«

Lawler betrachtete die Karte. »Wir sind zu weit, als daß wir noch umkehren könnten, wie?«

»Wer spricht denn von Umkehren? Du? Ich? Delagard ganz bestimmt nicht!«

»Wenn wir es wollten«, sagte Lawler. »Nur so, falls.«

»Wir wären besser dran, wenn wir einfach so weiterfahren«, sagte Felk düster. »Aber eigentlich bleibt uns auch gar keine andere Möglichkeit. Da liegt diese ganze Leere hinter uns. Wenn wir wenden und in bekannte Gewässer zurückzufahren versuchen, sind wir wahrscheinlich verhungert, bevor wir an einen Ort kommen, wo es was gibt. Das Feste Land über dem Wasser zu finden, das ist so ziemlich die einzige Chance, die wir noch haben. Dort gibt es vielleicht was zu essen und Trinkwasser.«

»Meinst du?«

»Was weiß denn ich?« sagte Felk.


* * *

Leo martello sagte: »Hast du ’ne Minute Zeit für mich, Doc? Ich möchte dir was zeigen.«

Lawler war in seiner Kabine und sortierte seine Papiere. Er hatte drei Kästen mit Krankengeschichten für vierundsechzig ehemalige Sorve- Bürger, die vermutlich auf See zugrundegegangen waren. Lawler hatte erbittert mit Delagard darum gestritten, diese Unterlagen mitnehmen zu dürfen, als sie von der Insel aufgebrochen waren, und dieses eine Mal hatte er gewonnen. Und nun? Sie weiter aufbewahren? Wozu? In der vagen Hoffnung, daß es eine Chance gab, daß die fünf verschwundenen Schiffe wieder auftauchen könnten, alle Mann gesund an Bord? Sie bewahren, damit irgendein künftiger Inselhistoriker sie auswerten könne?

Martello kam der Funktion eines Inselhistorikers noch am nächsten von allen. Vielleicht würde er diese jetzt nutzlosen Dokumente gern in die späteren ›Cantos‹ seines epischen Werks einarbeiten wollen.

»Was gibt’s denn, Leo?«

»Ich habe über die WOGE geschrieben«, sagte Martello. »Was uns geschehen ist, wo wir jetzt sind, wohin wir vielleicht gehen. Über all dies. Ich dachte mir, du möchtest vielleicht lesen, was wir bisher getan haben.«

Sein Grinsen war einladend. Die feuchten braunen Augen blitzten vor Aufregung. Lawler begriff, daß Martello maßlos stolz war auf sich und nach Beifall hungerte. Er beneidete ihn ein wenig um diesen Überschwang, diese Offenheit, diesen ungebremsten Enthusiasmus. Hier, inmitten dieser verzweifelten Reise ins wahrscheinliche Verderben, war der Junge fähig, Worte zu finden und zu Poesie zu machen. Es war erstaunlich!

»Bist du damit nicht ein bißchen vorschnell?« fragte er Martello. »Beim letztenmal warst du, glaub ich, gerade bis zur Emigration von der ERDE und zur Kolonisation der erste Sternwelten gekommen.«

»Genau. Aber ich denk mir, ich komme irgendwann in meinem Gedicht an den Punkt, wo ich von unserem Leben auf Hydros berichten muß, und diese Reise hier wird dabei eine bedeutende Rolle spielen. Also habe ich mir gedacht, warum soll ich das nicht gleich jetzt niederschreiben, wo alles noch frisch in meinem Kopf ist, anstatt zu warten, bis ich so in vierzig, fünfzig Jahren ein alter Mann bin?«

Ja, warum eigentlich? dachte Lawle r.

Während der letzten Wochen hatte Leo das Haar auf seinem kahlgeschorenen Schädel wachsen lassen; da war inzwischen kräftiges braunes Haar nachgesprossen. Er sah damit zehn Jahre jünger aus. Martello würde wahrscheinlich noch fünfzig Jahre länger leben (sofern irgend jemand auf diesem Schiff überhaupt überlebte). Vielleicht sogar siebzig weitere Jahre. Viel Zeit, um Gedichte zu schreiben. Doch ja, es war vielleicht richtig, daß er seine dichterischen Eindrücke gleich schriftlich festhielt.

Lawler streckte die Hand aus. »Fein. Dann laß mich mal sehen.«

Er las einige Zeilen und tat, als überfliege er den Rest. Es war ein langatmiger Erguß von der gleichen ungekonnten, kitschtriefenden Art wie jenes andere Bruchstück seines ›großen Epos‹, das Martello ihm zu lesen erlaubt hatte; allerdings hatte dieses Fragment hier wenigstens den Vorzug, daß es dank der persönlichen Erfahrung etwas mehr Leben zeigte.

Aus der Höhe stürzte die Flut der Finsternis

Drang tief in uns ein, bis ins Mark der Knochen.

Schwer kämpften wir und mühten uns,

Um nicht zu kentern, als der neue Feind, gewaltiger

Noch als der erste kam: Die WOGE war es!

Und brachte große Angst, erstickend

In der Kehle und eisig in der Brust.

Die WOGE! Schreckensfeind, der mächtigste von allen,

Erhob sich wie ein Wall aus Tod im Angesicht der

See… Wir aber zitterten und zagten und fielen

Verzweifelt nieder auf die Knie…

Lawler blickte auf. »Ziemlich stark, Leo.«

»Ich glaube, ich habe eine völlig neue Ebene damit erreicht. Bei den ganzen historischen Passagen mußte ich mich von außen herantasten, aber dies hier, das war ganz nah’…« Er streckte die Hände flach aus. »Ich brauchte es nur niederzuschreiben, so schnell ich die Worte aufs Papier bringen konnte.«

»Du warst eben inspiriert.«

»Ja, genau, das ist das richtige Wort.« Scheu griff Martello nach dem Manuskriptblatt. »Ich könnte es dir auch hierlassen, Doc, wenn du es vielleicht noch genauer lesen möchtest.«

»Nein, nein, danke. Ich möchte lieber warten, bis du den ganzen Gesang fertig hast. Du hast noch nichts darüber geschrieben, wie wir hinterher wieder auf Deck kommen und feststellen, daß wir tief mitten im Leeren Meer stecken.«

»Ich hab gedacht, ich warte damit, bis wir wirklich das Feste Land über den Wassern erreicht haben. Derzeit ist unsere Reise ja nicht besonders interessant, nicht? Es passiert überhaupt nichts. Aber wenn wir dort ankommen…« Er brach bedeutungsvoll ab.

»Ja?« fragte Lawler. »Was glaubst du, wird dann dort geschehen?«

»Wundersames, Doc! Phantastische Wunder und nie gehörte Zauberdinge!« Martellos Augen leuchteten. »Ich kann’s kaum erwarten. Ich will darüber einen Canto dichten, auf den Homer selbst stolz hätte sein können. Homer!«

»Ich bin sicher, du wirst das schaffen«, versicherte Lawler.


* * *

Aus der Leere der See tauchten plötzlich wieder Hexenfische auf, zu Hunderten, zu Tausenden. Es bestand kein Grund, daß man hier mit ihnen hätte rechnen müssen; alles in allem wirkte das Meer hier sogar noch leerer als zu Beginn.

Doch an diesem glühenden Mittag tat sich das Meer auf und belagerte das Schiff mit Schleimaalen. Sie hoben sich alle zugleich aus den Fluten und wirbelten in dicken Wolken über das Mittschiff. Lawler war an Deck. Er hörte ein Schwirren und duckte sich automatisch in den Schutz des Vormasts. Die Hexenfische waren einen halben Meter lang und so dick wie sein Arm, und sie flogen durch die Luft wie blitzschnelle tödliche Geschosse. Die eckigen ledrigen Schwingen waren weitgespreizt, die nadelscharfen Stachelreihen auf dem Rücken aufgerichtet.

Manche überflogen das Deck in einem einzigen weiten Bogen und landeten klatschend auf der anderen Seite wieder im Wasser. Andere prallten gegen die Masten oder das Dach der Back, oder sie türmten sich in den schlaffen Segeln, oder aber ihre Flugkraft war einfach mitten auf Deck erschöpft und sie knallten mit wütenden Zuckungen auf die Planken. Lawler sah zwei von ihnen verbissen Seite an Seite dicht an sich vorbeifliegen: ein bösartiges Glitzern in den Augen. Danach kamen drei, die noch enger beisammen flogen, als wären sie durch ein Joch gehalten; und dann so viele, daß er nicht mehr zählen konnte. Er hatte keine Chance, bis zum Luk und in Sicherheit zu gelangen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu verstecken, sic h zu ducken und zu warten.

Er hörte einen Schrei von weiter hinten, und aus einer anderen Richtung kam ein verärgertes Grunzen. Er blickte auf und sah Pilya Braun droben in der Takelung hängen, wo sie sich mühsam festhielt; während sie versuchte, einen ganzen Schwarm abzuwehren. An einer Wange hatte sie einen blutenden Riß.

Ein dicker Hexenfisch streifte Lawler am Arm, richtete jedoch keinen Schaden an, da die Stacheln zur anderen Seite gewandt waren. Und gerade als Delagard aus der Decksluke kam, streifte ihn ein weiterer an der Brust, wo im Hemd ein Riß entstand, der sich sogleich blutig färbte. Der Fisch fiel Delagard vor die Füße, der ihn in rasendem Zorn unter dem Stiefelabsatz zermalmte.

Drei, vier Minuten lang war der Angriff wie ein Hagel von Wurfspeeren. Dann war alles vorbei. Die Luft war wieder still, die See ruhig und glatt, wie eine Fläche aus zerstoßenem Glas, die sich bis in die Unendlichkeit erstreckte.

»Mistviecher«, sagte Dela gard mit schwerer Zunge. »Die werd ich vernichten. Ausrotten werd ich die, jeden einzelnen verdammten Satanskerl von denen!«

Wann? Wenn er das Feste Land über den Wassern in Besitz genommen und sich zum Allerhöchsten Herrscher über den ganzen Planeten aufgeschwungen hat?

»Laß mich den Schnitt mal anschauen, Nid«, sagte Lawler zu ihm.

Delagard schüttelte ihn ab. »Weiter nichts als ein Kratzer. Ich spür ihn schon nicht mehr.«

»Schön, wie du willst.«

Neyana Golghoz und Natim Gharkid kamen von drunten und begannen die toten und sterbenden Fische zu einem Haufen zusammenzukehren. Martello hatte eine üble Rißwunde am Arm und eine Reihe Hexenfischstacheln im Rücken stecken und kam zu Lawler, um sich verarzten zu lassen. Lawler befahl ihm, runter in die Sanitätsstation zu gehen und dort auf ihn zu warten. Pilya kam aus der Takelung und zeigte ihm gleichfalls ihre Verletzungen: ein blutender Schnitt quer über die Wange, ein weiterer direkt unter den Brüsten. »Dafür werden wir ein paar Nähte brauchen fürchte ich«, erklärte er ihr. »Tut es sehr weh?«

»Es sticht ein bißchen. Es brennt. Es brennt ziemlich stark. Aber ich werd schon wieder.«

Sie lächelte. Lawler erkannte, daß sie immer noch in ihn verliebt war, die Sehnsucht (oder was immer es war) nach ihm schimmerte noch immer in ihren Augen. Sie wußte wohl, daß er mit Sundira Thane schlief, doch dadurch schien sich für sie nichts geändert zu haben. Möglicherweise war es ihr ja nur recht, daß die Hexenfische sie so verletzt hatten, denn sie zog damit seine Aufmerksamkeit auf sich, und sie würde die Berührung seiner Hände auf ihrer Haut fühlen. Sie tat Lawler leid, und ihre dulderische Hingabe machte ihn traurig.

Delagard kam, noch immer blutend, hinzu, als Neyana und Gharkid sich anschickten, den Haufen Hexenfische über Bord zu schaufeln. »Halt! Wartet mal!« befahl er barsch: »Wir hatten seit Tagen keinen frischen Fisch mehr.«

Gharkid starrte ihn völlig verdutzt an. »Du willst doch nicht Hexenfisch essen, Käptn-Sir?«

»Wir können’s ja mal versuchen, oder?«

Es stellte sich heraus, daß gebackener Hexenfisch ungefähr so schmeckte wie alte Stoffreste, die man ein paar Wochen lang in Urin mariniert hat. Lawler würgte drei Bissen hinunter, ehe er aufgab. Kinverson und Gharkid weigerten sich, das Zeug überhaupt nur zu probieren. Auch Dag Tharp, Henders und Pilya verzichteten auf ihre Portionen. Leo Martello bezwang mutig einen halben Fisch. Der Priester stocherte an dem seinen mit offenkundigem Widerwillen, aber frettchenhafter Verbissenheit herum, als hätte er seiner Heiligen Jungfrau das Gelübde abgelegt, alles brav zu essen, was man ihm vorsetzen würde, und sei es noch so eklig.

Delagard dagegen fraß seine ganze Portion auf und verlangte nach mehr.

»Sag bloß, du magst dieses Zeug?« fragte Lawler.

»Der Mensch muß essen, oder? Ein Mann muß bei Kräften bleiben, Doc. Oder bist du anderer Meinung? Protein ist Protein. Oder, was sagst du, Doc? Da, iß doch auch noch was.«

»Nein, danke«, knurrte Lawler. »Ich werd versuchen, ohne solches Zeug über die Runden zu kommen.«


* * *

An Sundira fiel ihm eine Verwandlung auf. Die Änderung der Ziel- und Zweckbestimmung ihrer Seefahrt schien sie von irgendeiner selbstauferlegten Zurückhaltung im Intimbereich befreit zu haben; ihr Liebesspiel war nicht länger gekennzeichnet von langen Perioden eines stachligen Schweigens zwischen Ausbrüchen von seichtem Geschwätz. Wenn sie nun in der dunklen, moderduftenden Ecke im Frachtdeck beisammen lagen die sie zu ihrem Lieblings-Liebesnest erkoren hatten öffnete sie sich ihm nun auch überraschend seelisch in heftigen autobiographischen Monologen.

»Ich war schon als kleines Mädchen immer sehr neugierig. Viel zu neugierig, als gut für mich war, glaub ich. Andauernd watete ich in der Bucht herum, sammelte alles mögliche Zeug im Flachwasser, wurde gekniffen und gebissen. Als ich so an die vier war, hab ich mir einen kleinen Krebs da unten in mein Schlitzchen gesteckt.« Sie lachte, als Lawler entsetzt aufstöhnte »Ich weiß nicht mehr, ob ich herausfinden wollte, was mit der Krabbe passieren würde, oder was mit meiner Schlitzchen. Dem Tier machte es anscheinend wenig aus. Meinen Eltern schon.«

Ihr Vater war der ›Bürgermeister‹ auf der Insel Khamsilaine gewesen, was anscheinend eine Art Regierungschef bei den Insulanern des Azurmeeres darstellte. Die Humankolonie auf Khamsilaine war recht groß, an die fünfhundert Personen. Für Lawlers Begriffe war das eine enorme Zahl und eine unvorstellbar komplexe Masse von Individualitäten. Über ihre Mutter äußerte Sundira sich nur vage: irgendwie war sie eine Gelehrte, vielleicht Historikerin, mit der Erforschung der Galaktischen Migrationsstadien der Humanspezies, doch sie war sehr früh gestorben, und Sundira konnte sich kaum noch an sie erinnern. Anscheinend aber hatte sie einiges vom suchenden Geist ihrer Mutter geerbt. Ganz besonders faszinierten sie die Kiemlinge, die Gillies — die Sassen, wie sie nie müde wurde, sie korrekt zu bezeichnen, obwohl Lawler diesen formellen Terminus etwas altmodisch und bombastisch fand. Mit vierzehn Jahren hatte sie mit einem älteren Jungen zusammen begonnen, die Gillies auf Khamsilaine bei ihren Geheimzeremonien zu belauschen. Sie hatten auch selbst ein bißchen sexuell herumexperimentiert, Sundiras erste Erfahrungen, wie sie beiläufig zu Lawler sagte, der zu seinem eigenen Erstaunen diesen Jungen bitterlich beneidete. Ein derart berückendes Geschöpf wie Sundira lieben zu dürfen, in so jungen Jahren? Was für ein himmlisches Privileg das gewesen wäre! Gewiß, auch in seinen Jungmännerjahren hatte es nicht an Mädchen gemangelt, eher im Gegenteil, wann immer er es irgendwie arrangieren konnte, sich von den Medizinstudien wegzustehlen, die ihn im Vaargh seines Vaters festhielten. Allerdings war es nicht gerade ihr suchender forschender Geist gewesen, der ihn zu diesen Mädchen hingezogen hatte. Er fragte sich flüchtig, wie wohl sein Leben verlaufen wäre, wenn es damals, in seiner Jugend, auf Sorve eine Sundira gegeben hätte. Wenn er sie geheiratet hätte, statt Mireyl? Es war eine bestürzende hypothetische Vorstellung: Jahre und Jahrzehnte in enger Partnerschaft mit dieser außergewöhnlichen Frau, anstatt des einsamen Außenseiterlebens, das er sich schließlich erwählte. Eine Familie. Eine tiefe Dauerhaftigkeit.

Er stieß diese ablenkenden Erwägungen von sich. Weiter nichts als nutzlose Phantastereien, das waren sie. Er und Sundira waren Tausende von Kilometern voneinander entfernt und durch viele Jahre getrennt aufgewachsen. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, was immer sie auf Sorve an Dauerhaftem aufzubauen versucht hätten, es wäre ja doch auf jeden Fall durch die Vertreibung zerstört worden. Alle Pfade hatten zu dieser driftenden Exil-Existenz geführt, auf dieses winzige tanzende Schiff in der Mitte des Leeren Meeres.

Sundira hatte sich von ihrem neugierigen forschenden Verstand schließlich in einen schweren Skandal verstricken lassen. Sie war Anfang zwanzig, der Vater noch immer der Inselbürgermeister; sie lebte allein am Rande der Humansiedlung von Khamsilaine und verbrachte soviel Zeit bei den Sassen, wie diese es zuließen. »Es war eine intellektuelle Herausforderung für mich. Ich wollte soviel wie möglich über die Welt lernen. Und diese Welt begreifen, das bedeutete, daß ich die Sassen begreifen lernen mußte. Ich war mir sicher, daß etwas im Gange war; etwas, das keiner von uns erkannte.«

Sie erlernte ihre Sprache fließend — was auf Khamsilaine offenbar recht ungewöhnlich war. Ihr Vater ernannte sie zur Diplomatischen Abgesandten der Humanpopulation bei den Sassen, und sämtliche Wechselbeziehungen liefen nur über sie. Sie verbrachte ebensoviel von ihrer Zeit im Dorf der Sassen am Südende der Insel wie in ihrer eigenen Siedlung. Die meisten duldeten ihre Anwesenheit nur einfach, wie dies bei den Sassen allgemein Brauch ist; einige begegneten ihr mit offener Ablehnung, und auch dies war eher die Regel. Doch gab es einige, die schon fast freundlich zu ihr waren. Sundira gewann das Gefühl, daß sie allmählich einige von diesen als echte Individuen kennenlernte, daß sie nicht mehr nur die unheimlichen, bedrohlich großen ununterscheidbaren Fremdwesen waren, die diese Sassen offensichtlich für die meisten Menschen stets blieben.

»Und das war mein Fehler — und ihrer auch, daß wir uns zu stark annäherten. Ich mißbrauchte unsere Vertrautheit und ihr Vertrauen. Ich erinnerte mich an bestimmte Dinge, die ich als Mädchen gesehen hatte, als Tomas und ich an Orten herumspionierten, an denen wir nicht hätten sein dürfen. Und ich stellte Fragen. Und erhielt nur ausweichende Antworten. Quälend vage Antworten. Also beschloß ich, wieder zu spionieren.«

Aber was Sundira in den geheimen Kammern der Gillies gesehen haben mochte, sie schien nicht in der Lage, es Lawler mitzuteilen. Vielleicht wollte sie ihn nicht einweihen, vielleicht aber hatte sie auch nicht genug gesehen, um irgend etwas zu begreifen. Sie machte Andeutungen bezüglich irgendwelcher Zeremonien, Vereinigungen, Rituale, Mysterien, aber die Unbestimmtheit der Beschreibungen schien eher auf ihr mangelndes Verständnis zurückzuführen zu sein als auf ihre Weigerung, ihr Wissen mit ihm zu teilen. »Ich schlich mich an die selben Orte wie vor Jahren zusammen mit Tomas. Aber diesmal wurde ich dabei ertappt. Ich dachte schon, sie bringen mich um. Statt dessen führten sie mich vor meinen Vater und befahlen ihm, er solle mich töten. Er versprach ihnen, daß er mich ertränken werde, und das schien ihnen zu genügen. Wir fuhren in einem Fischerboot hinaus, und ich sprang über Bord. Doch er hatte mit einem Bootsmann aus Simbalimak ausgemacht, daß der mich auf der Rückseite der Insel aufnehmen würde. Ich schwamm drei Stunden bis dorthin. Und ich bin nie nach Khamsilaine zurückgekehrt. Und ich habe meinen Vater niemals wiedergesehen und auch nicht mit ihm gesprochen.«

Lawler fuhr ihr sacht über die Wange. »Also verstehst du auch etwas davon, im Exil zu leben.«

»Ein wenig, ja.«

»Aber du hast bisher nie ein Wort darüber verloren.«

Sie zuckte die Achseln. »Was machte das schon? Du hast dermaßen gelitten. Hättest du dich irgendwie leichter gefühlt, wenn ich dir gesagt hätte, daß auch ich meine Heimatinsel verlassen mußte?«

»Vielleicht.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie.


* * *

Ein paar Tage später, sie waren wieder im Frachtraum, und wieder sprach sie zu Lawler von dem Leben, das sie hinter sich gelassen hatte. Ein Jahr auf Simbalimak — und eine ernste Liebesgeschichte dort, auf die sie bereits einmal angespielt hatte, und weitere Versuche, in die Geheimnisse der Gillies einzudringen, was beinahe ebenso katastrophal endete wie ihre Schnüffelei auf Khamsilaine — und dann war sie weitergezogen, ganz fort aus dem Azurblauen Meer und nach Shaktan. Ob dies auf den Druck der Gillies hin geschah, oder weil ihre Liebesbeziehung zerbrochen war, wurde Lawler nicht so recht klar, aber er mochte auch nicht danach fragen.

Von Shaktan nach Velmise, von dort nach Kentrup, und danach schließlich von dort nach Sorve… ein ruheloses und allem Anschein nach nicht übermäßig glückliches Leben. Hinter der letzten Antwort wartete stets immer schon die neue Frage. Weitere Versuche, die Geheimnisse der Gillies zu enträtseln, und als Folge davon immer neue Schwierigkeiten. Weitere Liebesgeschichten, die zum Scheitern verurteilt waren. Ein im Grunde einsames, brüchiges und unstetes Leben. Und warum war sie nach Sorve gekommen? »Warum sollte ich nicht nach Sorve gehen? Ich wollte weg von Kentrup. Und Sorve bot sich da an. Es war gerade in der Nähe, und es gab dort einen Platz für mich. Ich hatte vor, dort einige Zeit zu bleiben und dann wieder weiterzuziehen.«

»Und hast du dir das für dein ganzes Leben so vorgestellt gehabt? An einem Ort eine Weile bleiben, dann woanders hin ziehen, und immer so weiter?«

»Ja, wahrscheinlich«, sagte sie.

»Aber wonach hast du denn gesucht?«

»Nach der Wahrheit.«

Lawler sagte nichts dazu, sondern wartete.

»Ich glaube immer noch, daß hier etwas vorgeht, wovon wir kaum etwas ahnen. Die Sassen bilden eine global einheitliche Gesellschaft. Sie ist nicht von Insel zu Insel verschieden. Es besteht eine Verbindung zwischen den einzelnen Sassen-Gruppen, zwischen den Sassen und den Tauchern, den Sassen und den Plattformen, den Sassen und den Mäulern. Und wenn ich mich nicht irre, auch zwischen den Sassen und den Hexenfischen. Und ich will herausfinden, was diese Verbindung ist.«

»Warum sorgst du dich deswegen so?«

»Auf Hydros werde ich den Rest meines Lebens verbringen müssen. Ist es da nicht sinnvoll, wenn ich soviel wie möglich darüber lerne?«

»Also beunruhigt es dich gar nicht so sehr, daß Delagard uns gekidnappt hat und uns jetzt wie Gefangene herumschleppt?«

»Nein. Je mehr ich von diesem Planeten sehe, desto größer sind meine Chancen, ihn zu verstehen.«

»Und du hast keine Angst, daß wir zu diesem Land über den Wassern segeln? Uns in unerforschte Gewässer vorwagen?«

»Nein.« Und nach einer Pause: »Doch. Ein bißchen vielleicht schon. Sicher hab auch ich Angst. Aber nicht sehr.«

»Und wenn einige von uns Delagard daran hindern wollten, seinen Plan auszuführen, würdest du mitmachen?«

»Nein.« Sie sagte es ohne Zögern.

3

An manchen Tagen wehte nicht das leiseste Lüftchen, und das Schiff lag wie tot auf der völlig glatten See unter einer prallen Sonne, die immer mehr anschwoll. Die Luft hier tief in den Tropen war heiß und trocken, und manchmal machte es schon Mühe, auch nur zu atmen. Delagard vollbrachte Wunder am Ruder, befahl diese oder jene Segelsetzung, um die schwächste Brise aufzufangen, und irgendwie kamen sie meistens weiter voran und zogen stetig nach Südwest und immer in diese leblose Wasserwüste hinein. Doch es gab auch andere Tage, die schrecklichen Tage, an denen man das Gefühl bekam, daß nie wieder ein voller Wind die Segel blähen werde, niemals mehr, und daß sie alle für immer hier festliegen würden, bis sie zu Skeletten verdorrt waren. »So nutzlos wie ein gemaltes Schiff auf einem gemalten Meer«, sagte Lawler.

»Wie war das?« fragte Father Quillan.

»Ein Gedicht. Ein sehr altes, von der ERDE. Eins meiner Lieblingsgedichte.«

»Du hast schon früher daraus zitiert, nicht wahr? Ich erinnre mich noch an einen Vers. Irgendwas mit ›Wasser, Wasser, ringsumher…‹«

»Ja, ›und doch kein Schluck zu trinken‹«, sagte Lawler.


* * *

Das Trinkwasser war inzwischen fast aufgebraucht. Auf dem Boden der Fässer war nur noch ein klebriger dunkler Rest, und Lis verteilte die Rationen tröpfchenweise.

Lawler hatte Anspruch auf eine Extraration, wenn er sie für medizinische Zwecke benötigte. Er überle gte sich, wie er mit seiner Tagesdosis von Taubkraut zurechtkommen solle. Das Destillat mußte in starker Verdünnung eingenommen werden, oder es war schädlich; aber er durfte sich kaum den Luxus gestatten, soviel Wasser nur für sein kleines privates Laster zu vergeuden. Also, was tun? Die Tinktur mit Seewasser mischen? Damit konnte er — wenigstens eine Zeitlang — hinkommen; es würden sich allerdings akkumulative Nebenwirkungen in den Nieren zeigen, wenn er das über längere Zeit praktizierte, aber schließlich durfte man ja immer noch auf etwas Regen hoffen, morgen oder in ein paar Tagen, und dann konnte er sich wieder innerlich sauberspülen.

Es bestand natürlich auch die Möglichkeit, die Droge ganz einfach nicht mehr zu nehmen.

Er versuchte das eines Morgens — als ein reines Experiment. Gegen Mittag setzte ein merkwürdiges Kopfjucken ein. Am Spätnachmittag juckte seine ganze Haut, als hätte er eine Schuppenflechte. Und als es dämmerte, hatte er einen Tremor und schwitzte vor Verlangen nach der Droge.

Sieben Tropfen — und seine Übererregtheit machte wieder der alten vertrauten und geliebten Abstumpfung Platz. Aber sein Vorrat nahm immer mehr ab. Und dieses Problem war für Lawler gravierender als die Trinkwasserknappheit. Schließlich, hoffen durfte man ja immer noch, daß es bald einmal wieder regnen werde. Aber das Taubkraut schien in diesen Gewässern nicht zu wachsen.

Er hatte eigentlich damit gerechnet, die Pflanze zu finden, wenn sie in Grayvard landeten. Aber das Schiff würde nun nie mehr nach Grayvard kommen: Er hatte gerade noch genug Taubkraut für ein paar Wochen, schätzte er. Vielleicht nicht einmal soviel. Und bald würde es aufgebraucht sein, restlos.

Und dann? Was dann?

Versuch einfach, es bis dahin mit etwas Meerwasser zu mischen.


* * *

Sundira erzählte ihm noch mehr aus ihrer Kindheit auf Khamsilaine, ihren turbulenten Jugendjahren, von den späteren Wanderungen von Insel zu Insel, von ihren ehrgeizigen Erwartungen und Hoffnungen, den heftigen Bemühungen und den Fehlschlägen. Sie saßen stundenlang in der dumpfen Dunkelheit, die Beine zwischen die Packkisten ausgestreckt, Hand in Hand wie Jungverliebte, während das Schiff ruhig durch die tropische See glitt. Sie fragte ihn auch nach seinem Leben aus, und er erzählte ihr die kleinen Episödchen aus seiner ereignislosen Knabenzeit und aus den gleichmäßig ruhigen, sorgsam bewußt so gestalteten Erwachsenenjahren auf der einen Insel, die er gekannt hatte.

Dann stieg er eines Nachmittags hinunter, um sich aus seinen Vorratskisten frische Medikamente zu holen, und hörte Keuchen und Gestöhn aus einem dunklen Winkel des Frachtraums dringen. Und es war ihr besonderes Versteck, das Liebesnest… und es war die Stimme einer Frau. Neyana war in der Takelung, Lis in ihrer Kombüse, Pilya hatte Freiwache und aalte sich auf Deck. Die einzige andere Frau an Bord war Sundira. Wo war Kinverson? Er war mit Pilya in der Ersten Wache, also hatte auch er jetzt frei. Also war es wohl Kinverson, dort hinter diesen Kisten, der Sundiras bereitwilligem Körper diese keuchenden Lustlaute entlockte.

Also hatte die Beziehung zwischen den beiden — und Lawler wußte nur zu gut, von welcher Art sie war — ganz und gar nicht aufgehört; auch jetzt nicht, trotz der neuen Intimität zwischen ihr und ihm, der anvertrauten privaten Dinge aus ihrem Leben und des zuckersüßen Händchenhaltens.

Acht Tropfen Taubkrautextrakt halfen ihm, das zu verkraften. Mehr oder weniger.

Er prüfte nach, was von seinem Vorrat noch übrig war. Nicht viel. Gar nicht mehr viel.


* * *

Auch das Essen wurde allmählich zum Problem. Es war schon so lange her, daß sie Frischfisch gefangen hatten, daß ein neuerlicher Angriff eines Schwarms von Hexenfischen schon beinahe als etwas Erwünschtes erschien. Sie zehrten von ihrem immer knapper werdenden Vorrat von Dörrfisch und Algenpulver, ganz als wären sie mitten in einem tiefen arktischen Winter. Manchmal gelang es ihnen, eine Ladung Plankton an Bord zu holen, indem sie eine Stoffbahn hinter dem Heck herzogen; aber Plankton schmeckte, als äße man groben Sand, und war außerdem bitter und schwer verdaulich. Es traten erste Mangelsymptome auf. Wohin Lawler blickte, er sah rissige Lippen, glanzloses Haar, fleckige Haut, fahle ausgemergelte Gesichter.

»Es ist Wahnsinn«, brabbelte Dag Tharp. »Wir müssen umkehren, oder wir werden alle sterben.«

»Und wie?« fragte Onyos Felk. »Riechst du irgendwo Wind? Wenn hier irgendwas weht, dann nur von Ost.«

»Das macht doch nichts«, sagte Tharp. »Wir werden schon einen Weg finden. Warum schmeißen wir nicht diesen Scheißkerl Delagard über Bord und wenden. Was meinst du dazu, Doc?«

»Ich meine, daß wir sehr bald Regen brauchen und einen dicken Schwarm Fische.«

»Ach, du bist also nicht mehr auf unserer Seite? Ich hab gedacht, du brennst genauso drauf, daß wir kehrtmachen, wie wir.«

»Onyos hat da einen stichhaltigen Punkt erwähnt«, sagte Lawler zurückhaltend. »Der Wind steht hier gegen uns. Und möglicherweise würden wir es nicht schaffen, wieder ostwärts zurückzukreuzen, ob mit oder ohne Delagard.«

»Was sagst du da, Doc? Daß wir glatt um die ganze Welt herumfahren müssen, bis wir auf der anderen Seite wieder in unsere Heimatsee kommen?«

»Vergeßt bloß nicht das Land«, mischte Dann Henders sich ein. »Erst kommen wir mal dahin, bevor wir auf der anderen Seite der Welt wieder rauffahren können.«

»Das Land«, sagte Tharp dumpf. »Dieses Land, Land, Land! Ich scheiß drauf, auf dieses Land!«

»Ich wollte, es würde dazu kommen«, sagte Henders.


* * *

Endlich kam eine frische Brise auf und sprang von Nordost auf Ostsüdost, wehte mit erstaunlicher Kühle und Kraft, und die See ging hoch und unstet und warf häufig Brecher über das Heck. Und plötzlich gab es wieder Fische, große silbrig-schimmernde Mengen, und Kinverson holte einen schweren Fang ein.

»Immer langsam!« mahnte Delagard, als sie bei Tisch saßen. »Stopft euch nicht gleich so voll, sonst platzt ihr!«

Lis übertraf sich selbst in der Zubereitung und zauberte sozusagen aus dem Nichts ein Dutzend verschiedene Tunken. Leider gab es noch immer kein frisches Wasser, und das machte den Genuß beim Essen mühselig. Erneut riet Kinverson, sie sollten den Fisch roh verzehren, wegen der in ihm enthaltenen Feuchtigkeit. Wenn man die blutigen frischen Stücke in Meerwasser tauchte, wurden sie etwas genießbarer, obwohl es das Durstproblem nur verschlimmerte.

»Was passiert, wenn wir Meerwasser trinken, Doc?« fragte Neyana Golghoz. »Stirbt man davon? Wird man verrückt?«

»Verrückt sind wir doch schon«, sagte Dag Tharp leise.

»Wir können ein gewisses Quantum Salzwasser aushalten«, dozierte Lawler und dachte dabei an die Menge, die er selbst in jüngster Zeit zu sich genommen hatte; allerdings gedachte er darüber nicht zu sprechen. »Wenn wir Trinkwasser hätten, könnten wir in der Tat die Menge durch eine Beimischung von zehn—, fünfzehn Prozent Salzwasser strecken, und es würde uns nicht schaden. Tatsächlich könnten wir dadurch den Salzverlust ausgleichen, den wir durch ständiges Schwitzen in diesem heißen Klima erleiden. Aber mit reinem Meerwasser können wir nicht lange überleben. Zwar könnten wir es im Körper zu reinem Wasser ausfiltern, aber unsere Nieren würden die Akkumulation der Salze nicht abbauen können, ohne dem übrigen Körpergewebe Flüssigkeit zu entziehen. Wir würden also ziemlich rasch austrocknen. Und dann: Fieber, Erbrechen, Delirium, der Tod.«

Dann Henders stellte eine Reihe kleiner Destillierapparate auf, indem er klare Plastikfolie über die Öffnung von Gefäßen spannte, die etwas Seewasser enthielten. In jedem Topf war sorgfältig ein Becher plaziert, um die Tropfen aufzufangen, die an der Unterseite der Plastikfolie kondensierten. Es war allerdings eine mühselige Prozedur. Es war irgendwie unmöglich, auf diese Weise genug Trinkwasser für ihre Bedürfnisse zu gewinnen.

»Und wenn es weiter nicht regnet?« fragte Pilya Braun. »Was werden wir dann machen?«

Lawler wies mit der Hand auf Father Quillan. »Wir könnten es ja mal mit Beten versuchen.«


* * *

Am folgenden Abend klebte die Hitze an ihnen wie ein Handschuh, und das Schiff lag fast völlig reglos in der See. Als Lawler zu seiner Kabine ging, um sich schlafen zu legen, hörte er Henders und Tharp im Funkraum flüstern. Ihre Stimmen klangen aufreizend rauh und krächzend.

Als Lawler kurz im Gang innehielt, kam Onyos Felk durch den Niedergang herunter, nickte ihm kurz grüßend zu und trat dann in den Funkraum. Und als Lawler vor der Tür zu seiner Kabine zögerte, hörte er Felk sagen: »Der Doc ist da draußen. Soll ich ihn reinholen?«

Die Antwort konnte er nicht hören, doch sie war wohl bejahend, denn Felk machte kehrt und winkte ihm. »Würdest du wohl ’ne Minute herkommen, Doc?«

»Es ist spät, Onyos. Was gibt’s denn?«

»Nur eine Minute.«

Tharp und Henders hockten fast Knie an Knie in dem winzigen Kabuff, eine spuckende Trankerze verbreitete trübes Licht. Eine Flasche Traubenschnaps und zwei Becher standen auf dem Tisch. Tharp trank gewöhnlich nicht, erinnerte sich Lawler.

Henders fragte: »Einen Schluck, Doc?«

»Nein, ich glaub, lieber nicht. Danke.«

»Läuft alles klar?«

»Ich bin müde«, sagte Lawler mit recht wenig Geduld. »Also, was gibt’s, Dann?«

»Wir, Dag und ich, haben über Delagard geredet. Und Onyos. Und darüber, wie der uns in diese idiotische beschissene Scheiße von ’ner Reise reingetrieben hat. Was hältst du von ihm, Doc?«

»Delagard?« Lawler zuckte die Achseln. »Ich wißt doch, was ich von ihm halte.«

»Wir wissen alle, was wir alle denken. Wir kennen uns schon so verdammt lange. Aber sag es uns trotzdem.«

»Ein Mann von sehr starker Entschlußkraft. Stur, Halsstarrig, stark, völlig skrupellos. Seiner selbst absolut sicher.«

»Verrückt?«

»Das kann nicht sagen.«

»Ich möchte wetten, du kannst!« warf Dag Tharp ein. »Weil du nämlich denkst, daß er völlig irre ist.«

»Das ist sehr gut möglich. Oder aber auch nicht. Manchmal ist es nicht so leicht, zwischen besessener Zielstrebigkeit und Wahnsinn zu unterscheiden. Viele geniale Menschen haben in ihrer Zeit als wahnsinnig gegolten.«

»Ach, du meinst, er ist ein Genie?« fragte Henders grinsend.

»Nicht unbedingt. Aber er ist ein außergewöhnlicher Mensch, das wenigstens. Ich bin nicht qualifiziert, über seine Denkvorgänge zu urteilen. Es ist durchaus möglich, daß er verrückt ist. Aber er kann vollkommen vernünftige Gründe für sein Verhalten vorlegen, darauf möchte ich wetten. Diese ganze Geschichte mit diesem ›Antlitz‹, dem Festen Land über dem Wasser, kann für ihn durchaus logisch, sinnvoll und konsequent sein.«

Felk sagte: »Tu doch nicht so unschuldig, Doc! Jeder Irre glaubt doch, daß sein Wahnsinn völlig sinnvoll ist. In der ganzen Welt hat’s noch nie ’nen Irren gegeben, der geglaubt hat, daß er irre ist.«

»Du bewunderst ihn, den Delagard?« fragte Henders.

»Eigentlich nicht«, erwiderte Lawler achselzuckend. »Aber er hat beachtliche Qualitäten, wie ihr zugeben müßt. Und er ist ein Mann mit Visionen. Auch wenn ich nicht unbedingt glaube, daß seine Visionen besonders wundervoll sind.«

»Aber du magst ihn?«

»Nein. Nein, ganz und nicht.«

»Na, wenigstens in dem Punkt redest du ja mal offen.«

»Sagt mal, was soll eigentlich das Ganze?« fragte Lawler. »Wenn ihr nämlich bloß so ein bißchen Spaß haben und euch bei ’ner Flasche nett die Zeit vertreiben möchtet, um einander vorzubeten, was für ein miserabler Schweinehund Delagard ist, dann würde ich nämlich wirklich lieber in meine Falle gehen. Klar?«

»Wir wollen bloß rauskriegen, wo du stehst, Doc«, sagte Dann Henders. »Sag uns bloß eins, willst du, daß unsere Reise so weitergeht wie bisher?«

»Nein.«

»Und? Wozu bist du bereit, um das zu ändern?«

»Gibt es denn etwas, das wir tun können?«

»Ich hab dich was gefragt. Eine Gegenfrage reicht mir nicht als Antwort.«

»Ihr plant zu meutern, ja?«

»Hab ich davon was gesagt? Ich kann mich nicht erinnern, Doc.«

»Ein tauber Blinder hätte es dir an den Lippen ablesen können!«

»Meuterei«, sagte Henders. »Also, wenn nun tatsächlich ein paar von uns beschließen, daß sie aktiv in die Entscheidung eingreifen wollen, wohin unser Schiff fahren soll… was würdest du dazu sagen, Doc, wenn das wirklich der Fall wäre? Und was würdest du tun?«

»Es ist ein arg dummer Plan, Dann.«

»Ach meinst du, Doc?

»Früher mal, da war ein Zeitpunkt, wo ich genauso scharf drauf war, Delagard zur Umkehr zu bewegen. Dag weiß das. Ich hab mit ihm drüber gesprochen. Man muß Delagard Einhalt gebieten, sagte ich damals. Das weißt du doch noch, Dag, oder? Aber das war, bevor die WOGE uns bis hierher verschlagen hatte. Und seitdem hatte ich ausreichend Zeit zum Nachdenken, und ich hab meine Meinung geändert.«

»Wieso denn das?«

»Aus drei Gründen. Erstens gehört das Schiff Delagard, ob es uns paßt oder nicht, und mir gefällt der Gedanke nicht besonders, es ihm wegzunehmen. Ein moralisch strittiger Punkt, könntet ihr sagen. Und ihr könntet eine Rechtfertigung darin finden, daß er unser aller Leben aufs Spiel setzt, ohne unsere ausdrückliche Einwilligung, denke ich mir. Aber dennoch halte ich es für keine besonders gescheite Idee. Delagard ist zu raffiniert. Er ist zu gefährlich. Zu stark. Er ist ständig auf der Hut. Und viele der übrigen an Bord sind ihm treu ergeben — oder haben Angst vor ihm, was so ziemlich auf das gleiche hinausläuft. Sie würden uns nicht helfen. Aber wahrscheinlich würden sie ihm helfen. Wenn ihr was Schräges gegen Delagard versucht, könntet ihr das ziemlich sicher schwer bereuen.«

Henders‹ Gesichtsausdruck war ausgesprochen eisig:

»Du hast gesagt, du hast drei Gründe. Bisher haben wir nur zwei gehört.«

Lawler fuhr fort: »Drittens ist da die Sache, über die Onyos neulich gesprochen hat. Selbst wenn ihr das Schiff in eure Gewalt bringen könnt, wie wollt ihr sicherstellen, daß es uns ins Mare Nostrum zurückbringt? Denkt doch mal realistisch drüber nach! Es geht kein Wind. Unsere Proviant- und Wasservorräte gehen rascher zu Ende, als ich mir auch nur klarmachen möchte. Und wenn wir nicht irgendwie einen Westwind finden, dann bleibt uns doch zu diesem Zeitpunkt als einzige Hoffnung nur, daß wir eben mehr oder weniger in Richtung auf dieses Feste Land über den Wassern zusegeln, als unserer einzigen Chance, uns dort eventuell frisch zu verproviantieren.«

Henders warf dem Kartographen einen fragenden Blick zu. »Denkst du noch immer so, Onyos?«

»Wir stecken ziemlich tief drin, ja. Und in der letzten Zeit haben wir auch meistens Flaute. Also schätze ich, daß uns wirklich kaum viel andere Chancen bleiben, ehrlich, als den jetzigen Kurs fortzusetzen.«

»Deine ehrliche Meinung?« fragte Henders.

»Ja, ich glaub schon«, sagte Felk.

»Wir sollen also weiter den Befehlen eines wahnsinnigen Führers folgen, der uns an ein Ziel treibt, von dem wir nichts wissen? Einem Ort, an dem so unendliche Gefahren auf uns lauern, daß wir sie uns gar nicht vorstellen können?«

»Die Idee gefällt mir ebensowenig wie dir. Aber wie unser Doc hier gesagt hat, wir müssen realistisch sein. Allerdings — sollte der Wind drehen…«

»Schön, Onyos. Oder wenn Engel vom Himmel herabschweben und uns mit schönem kühlen Wasser vollpissen!« Danach herrschte in dem kleinen stickigen Gelaß ein etwas feindseliges Schweigen. Schließlich blickte Henders auf und sagte: »Also schön, Doc. Damit kommen wir nicht weiter. Und ich möchte auch deine Zeit nicht weiter beanspruchen. Wir haben dich auch bloß zu ’nem kleinen Schluck unter Freunden hereingebeten, aber ich sehe ja, wie müde du bist. Also, gute Nacht, Doc. Und — schlaf gut!«

»Und ihr werdet es versuchen, Dann?«

»Ich seh nicht, daß dich das so oder so was angeht, Doc!«

»Also schön«, sagte Lawler. »Dann gute Nacht.«

»Onyos, du bleibst doch noch ’ne Weile?« fragte Henders.

»Wenn du gern möchtest, Dann«, antwortete Felk.

Es hörte sich an, als zögere der Kartograph kaum noch, sich überzeugen zu lassen.

Ein Haufen Narren, dachte Lawler, als er sich zu seiner Koje begab. Spielen da Meuterei! Er zweifelte sehr daran, daß dabei irgendwas herauskommen werde. Felk und Tharp waren Schwächlinge, und Henders allein konnte nicht mit Delagard fertigwerden. Am Ende würde gar nichts erreicht sein und das Schiff würde weiter Kurs auf das ›Antlitz‹ nehmen. Das erschien ihm als das wahrscheinlichste Ergebnis der ganzen Verschwörungspläne.


* * *

Irgendwann in der Nacht hörte Lawler Lärm von oben, Rufe, heftiges Stampfen, rennende Füße auf dem Oberdeck. Ein wütender Schrei, gedämpft zwar durch die Planken, aber unverkennbar ein in rasender Wut ausgestoßenes Brüllen, und er begriff, daß er sich geirrt hatte. Sie hatten es trotz allem doch gewagt. Er richtete sich auf und blinzelte. Ohne sich etwas anzuziehen tappte er in den Gang und die Leiter hinauf.

Es war schon fast Morgen. Der Himmel war schwarzgrau, das Kreuz hing, wie in diesen Breiten inzwischen gewohnt, in seltsam gekippter Position am Firmament. Auf dem Deck spielte sich in der Nähe des Vorschiffluks ein Drama ab. Oder war es eine Farce?

Zwei zuckende Gestalten jagten sich wild gestikulierend und schreiend um die offenstehende Luke. Nach einer Weile sahen seine schlafverklebten Augen klarer und er erkannte Dann Henders und Nid Delagard. Henders war der Jäger, Delagard der Gejagte.

Henders hielt eine von Kinversons Gaffeln wie einen Speer umklammert. Und wie er so hinter Delagard rund um das Luk herumlief, stieß er damit immer und immer wieder in die Luft, offenbar in der klaren Absicht, die Waffe dem Reeder in den Rücken zu treiben. Einmal mußte er ihn wenigstens bereits getroffen haben, denn Delagards Hemd war zerfetzt, und Lawler sah in Schulterhöhe eine dünne gezackte Blutspur, die aussah wie ein eingewebter roter Faden im Stoff, und das Rot wurde immer breiter.

Aber Henders betrieb die Jagd ganz allein. Dag Tharp stand bei der Reling, glotzäugig und starr wie eine Statue. Onyos Felk ganz in seiner Nähe. In der Takelung hingen Leo Martello und Pilya Braun, gleichfalls wie erstarrt, und schauten verblüfft und benommen zu.

»Dag!« brüllte Henders. »Um des Erlösers willen, Dag! Wo bist du denn? Hilf mir doch, den Kerl fertigzumachen, Mann!«

»Hier! Hier bin ich — hier drüben«, flüsterte der Funker heiser mit einer Stimme, die keine fünf Meter weit zu hören war. Und rührte sich nicht von der Stelle.

»Um Christi willen!« sagte Henders noch einmal, diesmal angewidert. Er drohte Tharp mit der Faust und sprang erneut in einem verzweifelten Satz auf Delagard zu, um ihn zu erwischen. Doch es gelang Delagard wieder — wenn auch nur knapp —, der scharfen Gaffelspitze auszuweichen. Er warf einen Blick über die Schulter zurück und fluchte. Sein Gesicht glänzte von Schweiß, seine Augen funkelten in heller Wut.

Als er auf seiner im Kreis laufenden Flucht am Vormast vorbeikam, blickte Delagard nach oben und rief mit peitschender Stimme zu Pilya hinauf, die direkt über ihm auf der Rah hing: »Hilf mir! Schnell! Dein Messer!«

Hastig löste Pilya den Leibgurt von der Taille, in dem sie stets ihre scharfe Knochenklinge trug, und warf alles zusammen zu Delagard hinunter. Er fing es in der Luft auf, riß die Klinge aus der Halterung und packte sie am Griff. Dann wuchtete er sich überraschend um seine eigene Achse und ging direkt auf den überraschten Henders los, der hinter ihm her in solch heftigem Tempo herankam, daß er nicht mehr bremsen konnte. Henders lief direkt in Delagard hinein. Der stieß mit einer brüsken, festen Unterarmbewegung den Spieß beiseite, unterlief seinen Gegner und stieß Henderson die Klinge bis zum Heft in den Hals.

Henderson stieß ein keuchendes Grunzen aus und warf die Arme in die Höhe. Auf seinem Gesicht lag ein erstaunter Ausdruck: Die Gaffel flog davon. Delagard umarmte nun Henders, als wären sie Liebende, und griff mit der anderen Hand fest nach seinem Nacken, und preßte den Mann mit einer gräßlichen Zärtlichkeit an sich, und das Messer saß immer noch tief in Henders Kehle.

Seine Augen waren weit aufgerissen und traten hervor, und sie schimmerten wie Vollmonde im Grau der Dämmerung. Dann gab er einen gurgelnden Laut von sich, und aus seinem Mund schoß sprudelnd dunkles Blut. Die Zunge quoll heraus. Und Delagard hielt ihn weiter in fester Umarmung aufrecht.

Endlich kam Lawler die Stimme wieder.

»Nid — um Gottes willen! Nid, was hast du getan…?«

»Möchtest du gern der nächste sein, Doc?« fragte Delagard gelassen. Er zog mit einer brutalen Drehung das Messer heraus und wich zurück. Sofort schoß ein dicker heftiger Blutstrahl aus Henders‹ Hals. Sein Gesicht war dunkel geworden. Unsicher machte er einen Schritt nach vorn, und noch einen, wie einer, der im Schlaf geht. Die Verblüffung schimmerte noch immer in den weit aufgerissenen Augen.

Dann torkelte er und fiel hin. Lawler wußte, daß er tot war, ehe er auf das Deck auftraf.

Pilya war aus der Takelung heruntergestiegen. Delagard kickte das Messer über die Decksplanken, direkt vor ihre Füße. »Danke«, sagte er beiläufig. »Dafür schulde ich dir was.« Dann hob er den toten Henders auf, als hätte der überhaupt kein Gewicht, einen Arm um die Schultern des Toten, den anderen in den Kniekehlen, schritt an die Reling, hievte die Leiche über seinen Kopf und warf sie ins Meer, als wäre es eine Ladung Abfall.

Tharp hatte keine einzige Bewegung gemacht. Delagard ging zu ihm hinüber an die Reling und schlug ihn so heftig ins Gesicht, daß sein Kopf wegprallte.

»Du hinterhältiger feiger kleiner Hund du, Dag!« sagte Delagard. »Du hast noch nicht mal Mumm genug gehabt, bei deinem eigenen miesen Komplott mitzumachen. Ich sollte dich auch gleich über Bord schmeißen, aber es lohnt die Mühe nic ht.«

»Nid — um Himmels willen, Nid…«

»Hält’s Maul und verzieh dich aus meinen Augen!« Delagard wirbelte herum und funkelte Onyos Felk an: »Und du, Onyos? Was ist mit dir? Hast du auch was damit zu tun?«

»Aber ich doch nicht, Nid. Ich würde doch nie — das weißt du doch!«

»Ich doch nicht, Nid!« äffte Delagard ihn wütend nach. »Klar hättest mitgemacht, du armselige Schwuchtel, wenn du genug Saft in deinem Dings hättest! Und wie isses mit dir, Lawler? Wirst du mich zusammenflicken, oder gehörst auch du zu der verdammten Verschwörung? Du warst ja noch nicht mal dabei. Was hast du getrieben? Deine eigene Meuterei verschlafen?«

»Ich war nicht daran beteiligt«, sagte Lawler ruhig. »Es war eine blödsinnige Idee, und das habe ich ihnen auch gesagt.«

»Du hast es also gewußt — und mich nicht gewarnt?«

»So ist es, Nid.«

»Wenn du dich aber nicht an einer Meuterei beteiligst, dann ist es deine Pflicht, den Kapitän zu unterrichten, was da vorgeht. So lautet das Seegesetz. Du hast das nicht getan.«

»Sehr richtig«, sagte Lawler. »Das hab ich nicht.«

Delagard überdachte das eine Weile. Dann zuckte er die Achseln und nickte. »Also schön, Doc. Ich denke, ich habe kapiert.« Er blickte in die Runde. »Jemand soll das Deck saubermachen! Ich hasse es, wenn das Deck nicht klar und das Schiff dreckig ist!« Er zeigte auf Felk, der wie behämmert aussah. »Onyos, du übernimmst das Ruder, solang du noch irgendwie halb wach bist. Ich muß mir den blöden Kratzer da verarzten lassen. Also, los, komm schon, Doc! Ich denke, ich kann mich dir anvertrauen, jedenfalls um mich zu nähen.«


* * *

Um mittag kam Wind auf. Von einem Augenblick zum anderen, als wäre Henders‹ Tod auf irgendeine Art ein Beschwichtigungsopfer gewesen für die wie immer beschaffenen Götter, die auf Hydros das Wetter beherrschten. In der weiten Stille der langanhaltenden Kalmenperiode erklang auf einmal das Brausen von Windstößen, die von weither kamen: bis vom Pol herauf. Und es waren wirklich starke südliche Luftmassen und beißend kalt.

Die See ging hoch. Das so lange ruhig treibende Schiff torkelte in Wellentäler, richtete sich wieder auf und sackte in neue Tiefen. Dann verfinsterte sich der Himmel mit einer Plötzlichkeit, die fast bestürzend war. Und der Wind trug Regen heran.

»Eimer!« brüllte Delagard. »Fässer!«

Keiner brauchte angetrieben zu werden. Auch die Freiwache unter Deck war sofort hellwach, und es wimmelte an Deck von eifrigen Gasten. Alles, worin sich Wasser halten würde, wurde herangeschleppt, um den Regen aufzufangen, nicht bloß wie gewöhnlich die Kummen, Fässer und Töpfe, sondern auch saubere Lappen, Decken, Kleidungsstücke… alles wasserabsorbierende Material, das man nach dem Regen auswringen konnte. Der letzte Regen lag Wochen zurück. Und es konnte sehr wohl wieder Wochen bis zum nächsten dauern.

Dieser Regen kam aber auch als eine Ablenkung und wirkte wie ein Balsam gegen den Schock nach Henders‹ fehlgeschlagener Meuterei und seinem gewaltsamen Tod. Lawler, der nackend durch den kühlen Regen rannte wie alle anderen, um die kleineren Gefäße in die größeren Vorratsbehälter zu leeren, empfand dafür Dankbarkeit. Die gespenstische Alptraumszene auf eben diesem Deck hier hatte ihn auf ganz unerwartete Weise mitgenommen und etliche seiner mühsam angelegten Schutzschichten absplittern lassen. Es war lange her, daß er sich dermaßen unbedarft, laienhaft und verletzlich gefühlt hatte. Spritzendes Blut, klaffendes, zerfetztes, rohes Fleisch, sogar der plötzliche Tod waren Routineerfahrungen für ihn, sozusagen Berufsalltag, und er war daran gewöhnt und ließ sie sachlich an sich abgleiten. Aber ein glatter Mord? Noch zuvor aber hatte er mitangesehen, wie ein Mensch glatt ermordet wurde. Er hatte sich so etwas auch noch nie als eine potentielle Erfahrung vorgestellt gehabt. Bei dem ganzen bravourösen Geschwätz von Dag Tharp während der letzten paar Wochen, daß man Delagard über Bord ins Meer werfen wolle, war Lawler wirklich kein einziges Mal der Gedanke gekommen, daß ein Mensch tatsächlich dazu fähig sein könnte, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, und er konnte es immer noch kaum glauben. Aber es war nun einmal zweifelsfrei so, daß Delagard Henders in Notwehr getötet hatte. Nur — er hatte es kaltblütig getan, skrupellos, ganz beiläufig und routinemäßig. Lawler kam sich auf eine erniedrigende Weise naiv und dumm vor angesichts dieser harten häßlichen realen Tatsachen. Der weise alte Doc Lawler, der Mann, dem nichts fremd ist, kriegt kalte Füße wegen eines kleinen Vorfalls von archaischer Gewalttätigkeit? Es war absurd. Und doch war es so und war absolut real. Es hatte ihn zutiefst getroffen, und das Zusehen hatte seine innere Sicherheit zerstört.

Doch, ja, archaisch war schon das treffende Wort dafür. Die Unbekümmertheit und Kaltblütigkeit, mit der Delagard sich seines Verfolgers entledigte, hatte etwas durchaus Archaisches gehabt, wenn nicht gar etwas Urzeitlich-Prähistorisch-Primitves: Da war eine Hand aus der dunklen Vergangenheit aufgetaucht und hatte getötet, in einem finsteren Akt wie aus dem Frühzeitgrauen der Menschheit, der an diesem Morgen auf dem Deck der Queen of Hydros erneut inszeniert worden war. Und es hätte Lawler auch kaum noch überrascht, wäre die ERDE selbst als Bühnenkulisse über ihnen aufgezogen, dicht über den Masten lastend, und von all den übervölkerten Kontinenten troff in Strömen das Blut… Soviel also blieb zu sagen zu der allgemeinen, im Brustton der Selbstgerechtigkeit verkündeten Überzeugung, daß alle derartigen primitiven Urinstinkte ausgestorben seien, daß eine derartige urtümliche blutrünstige Gewalttätigkeit im Laufe der Evolution aus der menschlichen Rasse ausgemendelt worden sei…

Ja, der heftige Regen bot eine willkommene Ablenkung davon, lieferte das langersehnte und dringend nötige Trinkwasser, und überdies wusch er die Makel der Sünde vom Deck. Denn das, was da im Morgengrauen geschehen war, wollte Lawler doch eigentlich liebend gern so rasch wie möglich vergessen.

4

In dieser Nacht suchten ihn beunruhigende Träume heim. Nicht Träume voll Mord, sondern erfüllt von heftigen erotischen Leidenschaften.

Schattenhafte weibliche Gestalten umtanzten ihn im Schlaf, gesichtslose Frauen, bloße sich drehende und windende Leiber, bloße Sexualgefäße, um das Verlangen in sie zu ergießen. Sie hätten jede und alle sein können, waren das anonyme Mysterium Weib schlechthin, ohne Individualität, charakterlos, nichts als ein Schwarm schwingender Brüste, breiter Hüften, fülliger Hintern, dichtwuchernder Schamhaardreiecke. Manchmal glaubte er, der Tanz bestehe einzig aus losgelösten Brüsten oder aus einer Folge sich unablässig öffnender Schenkel, oder aus feuchtschimmernden Lippen, oder flatternden Fingern, oder zuckenden Zungen.

Unruhig warf er sich auf dem Lager herum, driftete fast ins Erwachen hinauf, sank aber stets wieder in den Schlaf zurück, der neue sinnliche Fieberschauder brachte. Wolken von Weiblichkeit umlagerten seine Koje mit Augen wie lüsterne Spalte, geblähten Nüstern, nackten Leibern. Die Körper hatten jetzt auch Gesichter — die Gesichter der Frauen von Sorve, die er gekannt und geliebt und nahezu restlos vergessen hatte, eine große, große Schar von Weibern, alle die Bockssprünge, die beiläufigen Ausbrüche seiner prallvollen Jugendjahre waren neu zum Leben erwacht und drängten sich nun um ihn, die unausgeformten Gesichter der noch halbkindlichen Mädchen, die Lüsternheit in den Gesichtern der älteren Frauen, die mit einem Jungen, der halb so alt war wie sie, herumspielten; der spähende Blick in den Gesichtern von Frauen, die mit einer Liebe geschlagen waren, von der sie wußten, daß sie ohne Erfüllung bleiben mußte. Eine nach der anderen zogen sie dicht an Lawler vorbei, ließen sich von ihm berühren, sich näherziehen — und lösten sich dann in wolkigen Rauch auf, um fast sogleich einer anderen Platz zu machen. Sundira — Anya Braun — Boda Thalheim (die noch nicht ›Schwester Boda‹ geworden war) — Mariam Sawtelle — Mireyl — wieder Sundira — Meela — Moira — Sundira — Sundira — Anya — Mireyl — Sundira…

Lawler fühlte alle Qualen sexuellen Verlangens, dem keine Hoffnung auf Erfüllung beschert ist. Sein Glied war ein riesiger Schmerzensbaum. Die Hoden zerrten wie Eisengewichte. Ein zum Wahnsinn reizender, unwiderstehlicher heißschwüler weiblicher Geschlechtsduft wogte ihm um Nase und Mund wie eine feuchte erstickende Decke, drang tief in seine Kehle und erfüllte seine Lungen. Er keuchte und rang nach Luft, bis alles in ihm brannte und nach Erlösung schrie.

Und hinter diesen Phantasiegebilden, hinter dem schmerzenden Gefühl von Not und Frustration lauerte etwas anderes: Da war etwas Unbekanntes, Vibrierendes, vielleicht ein Geräusch, jedenfalls aber ein beständig breiter werdender Strahl von starkem sensorischem Input, der sich schneidendscharf von den Lenden bis in seinen Schädel hinaufbohrte. Er spürte, wie das Etwas in ihn eindrang, dicht hinter seinen Hoden, wie ein Speer aus Eis, und wie es durch alle die dampfenden Windungen seiner Eingeweide heraufdrang, durch das Zwerchfell, das Herz, wie es ihm die Kehle durchstieß und immer weiterstieß bis in sein Gehirn. Er war gepfählt und kreiste langsam wie ein aufgespießter Fisch überm Grillfeuer; und während er rotierte, wuchs und wuchs und wuchs die Intensität der erotischen Empfindungen, bis ihm schien, als existiere nichts anderes im ganzen Universum als dieses sein zwanghaftes Bedürfnis nach sofortiger sexueller Vereinigung.

Dann wälzte er sich von seinem schmalen Lager. Er war nicht sicher, ob er wach war oder noch träumte, als er auf den Gang trat, die Leiter hinaufstieg, durch das Luk hinaus aufs Deck.

Es war eine milde mondlose Nacht. Das Kreuz hing schräg am unteren Himmelsrand wie eine Handvoll Juwelen, die jemand weggeworfen hat. Die See war still mit einer kleinen im Licht der Sterne schimmernden Kräuselung. Es ging ein glatter Wind. Die Segel waren gesetzt und prall.

Gestalten wanderten umher, Schlafwandler, Träumer.

Lawler kamen sie ebenso unbestimmt vor wie die Erscheinungen aus seinen Träumen. Er begriff, daß er sie kannte, mehr aber auch nicht. In diesem Moment waren sie ohne Namen, ohne Identität. Er sah eine kurze dickle ibige Mannsgestalt und einen anderen mit einem knochigen kantigen Körper, und einen ausgemergelten Zwerg mit lappiger Kinnwamme. Doch es war kein Mann, den Lawler suchte… Aber weit hinten am Heck stand eine schlanke große dunkelhaarige Frau. Auf sie strebte er zu. Doch ehe er bei ihr angelangt war, tauchte ein anderer Mann auf, ein hochgewachsener strammer Kerl mit großen funkelnden Augen gleitend aus dem Schatten und ergriff sie am Handgelenk. Und die beiden sanken zusammen aufs Deck nieder.

Lawler machte kehrt. Es gab schließlich noch andere Frauen auf dem Schiff, und er würde sich eine suchen. Er mußte einfach.

Das schmerzhafte Pulsen zwischen seinen Beinen war nicht mehr auszuhalten. Er war noch immer von dieser neuen unvertrauten vibrierenden Empfindung wie gepfählt. Sie besaß die kaltbrennende Schärfe und messerstarre Unerbittlichkeit eines Eiszapfens.

Er stieg über ein Paar hinweg, das sich kopulierend auf dem Deck wälzte: ein grauhaariger älterer Mann mit einem gedrungenen massigen Leib und eine große kompakte Frau mit dunkler Haut und goldenen Haaren. Lawler dachte flüchtig, daß er die beiden einst gekannt habe, doch wie zuvor fielen ihm keine Namen ein. Danach flitzte ein helläugiger kleiner Mann an ihm vorüber, und dann lag da wieder ein engumschlungenes Paar, der Mann gewaltig und muskulös, die Frau geschmeidig, stark, jung.

»Du!« sagte eine Stimme aus dem Schatten. »Komnt her!«

Sie lag einladend unter der Brücke und lockte ihn, ein untersetztes breitleibiges Weib mit einem platten Gesicht, orangefarbenem Haar und zahllosen Sommersprossen auf Gesicht und Brüsten. Ihre Haut schimmerte vom Schweiß, und sie atmete heftig. Lawler kniete vor ihr nieder, und sie zog ihn auf sich und umklammerte ihn mit den Schenkeln.

»Gib’s mir! Gib’s mir!«

Er glitt mühelos in sie. Sie war warm und weich und glatt. Ihre Arme umfingen ihn, und sie riß ihn heftig zu ihren schweren Brüsten nieder. Sein Becken bewegte sich in zwanghaften Stößen. Es ging alles sehr rasch, wild und wütend vor sich, ein Moment brutaler grunzender, schnaubender Brunst. Kaum hatte Lawler zu stoßen begonnen, spürte er, wie die feuchte Öffnung zu beben begann und sich dann in tiefen gleichmäßigen Spasmen um sein Glied schloß. Er fühlte, wie die Lustimpulse durch ihre Nervenbahnen liefen. Und das war verwirrend, daß er fühlen konnte, was sie empfand. Und gleich danach erfolgte seine stoßweise Entladung als Reaktion, und auch dies konnte er doppelt empfinden, nämlich nicht nur als seine eigenen sensuellen Empfindungen, sondern auch die ihren, als sie sein Sperma in sich aufnahm. Und auch dies war seltsam. Es war kaum zu unterscheiden, wo ihr Bewußtsein aufhörte und wo seines begann.

Dann rollte er von ihr. Sie griff nach ihm, wollte ihn wieder an sich, in sich ziehen, aber er war schon fort: Ihn verlangte nach einer neuen Partnerin. Der eine kurze Augenblick der Explosion war bei weitem nicht ausreichend gewesen, um seinen zwanghaften Drang zu lindern. Vielleicht konnte nichts ihn stillen. Aber vielleicht konnte er als nächste die große Schlanke finden, oder aber auch diese kräftige junge Feingliedrige, die vor Lebenskraft überzuschäumen schien. Oder sogar jene üppige Dunkelhäutige mit den Goldhaaren. Es spielte keine Rolle, welche. Er war unersättlich, unerschöpflich.

Da war die Schlanke, und sie war alle in. Lawler setzte sich in Bewegung. Zu spät! Der zottige, breitschultrige Mann mit den fleischigen Weiberbrüsten ergriff von ihr Besitz und zog sie mit sich ins Dunkel.

Nun, dann eben die Dicke…

Oder die Junge…

»Lawler?« Eine Männerstimme.

»Wer ist das?«

»Quillan. Hier! Hier drüben!«

Es war dieser hagere kantige Mann an dessen Leib kein Fleisch zu sitzen schien. Er kam auf Lawler zu und griff nach seinem Arm. Lawler schüttelte ihn ab. »Nein, nicht mit dir… ich such keinen Mann…«

»Ich auch nicht. Und im übrigen auch keine Frau. Gütiger Gott, Lawler! Seid ihr denn allesamt wahnsinnig geworden?«

»Wie?«

»Komm her zu mir und stell dich neben mich und schau dir an, was da geschieht! Diese infame verrückte Orgie!«

Lawler schüttelte benommen den Kopf. »Was? Wie? Orgie?«

»Siehst du nicht, wie es Sundira Thane und Delagard dort drüben miteinander treiben? Und Kinverson und Pilya? Und schau, schau dorthin, dort ist Neyana und winselt wie eine Irre. Dabei hast du sie doch grad erst bestiegen. Und schon gierst du nach mehr. So etwas hab ich noch nie gesehen.«

Lawler griff sich an die Lenden. »Ich spüre — Schmerz — hier…«

»Es ist etwas aus dem Meer, das uns dies antut. Es befällt unseren Verstand. Auch ich spüre es. Aber ich kann mich beherrschen. Ihr aber… euer ganzer wahnsinnig gewordener Haufen…« Es fiel Lawler sehr schwer zu begreifen, wovon der Knochige redete. Er stolperte weiter. Er sah die große goldhaarige Frau übers Deck streifen, auf der Suche nach ihrem nächsten Partner.

»Lawler! Komm zurück!«

»Laß! Warte! Später… wir können später reden…«

Während er noch auf die Frau zutaumelte, glitt eine schlanke dunkle Männergestalt an ihm vorüber und rief: »Father, Sir! Doktor! Sir! Ich seh es! Hier drüben! Außenbords!«

»Was siehst du, Gharkid?« fragte der Quillan genannte Knochenmann.

»Eine große Napfschnecke, Father-Sir. Sie klebt am Schiffsrumpf. Die sondert irgendwie was Chemisches ab — irgendwie ’ne Droge…«

»Lawler! Komm dir anschauen, was Gharkid entdeckt hat!«

»Ja… später… später…«

Aber sie blieben erbarmungslos und kamen zu ihm und drangen auf ihn ein und packten ihn, jeder auf einer Seite, und zogen ihn zur Reling. Lawler spähte hinüber und hinab. Die Empfindungen waren hier noch weit intensiver als irgendwo sonst an Bord: Lawler spürte ein tiefes rhythmisches Trommeln im Kreuzbein, ein betäubendes Pochen im Schoß. Seine Hoden wummerten wie Glocken. Der Penis stand steif und zitterte und zuckte in die Höhe, den Sternen zu.

Er mühte sich, den Kopf klarzukriegen. Er begriff kaum, was vorging.

Ein Etwas, das ins Schiff eindrang? Alle mit wilder geschlechtlicher Lust zum Irrsinn trieb?

Namen fanden sich wieder in seinem Kopf ein, und er überlagerte sie mit Gesichtern und Gestalten. Quillan, Gharkid. Widersetzten sich der Kraft. Und die anderen, die ihr unterlegen waren: Er selbst und Neyana, Sundira und Martello, Sundira und Delagard, Kinverson und Pilya, Felk und Lis… Und weiter und weiter in endlosem Partnerwechsel, einem fiebernder Reigen tanzender zuckender Schwänze und Mösen. Wo war Lis? Er wollte Lis haben. Nie zuvor hatte er nach ihr Verlangen verspürt. Auch nicht nach Neyana. Aber jetzt — ja! Ja, Lis. Ja. Und dann schließlich Pilya. Um ihr zu geben, endlich, wonach sie sich diese ganze Reise über gesehnt hatte. Und nach ihr dann Sundira… Nimm sie dem Scheißkerl Delagard weg! Ja, Sundira, und dann wieder Neyana, und dann Lis und Pilya — und Sundira, Neyana, Pilya, Lis — und ficke bis zum Morgen — ficke bis Mittag — ficke bis zum Ende aller Zeit…

»Ich will es töten!« sagte Quillan. »Gib mir mal die Gaffelstange rüber, Natim.«

»Ja, aber spürst du denn nicht, wie stark das ist?« fragte Lawler. »Bist du immun dagegen?«

»Selbstverständlich bin ich nicht immun«, erwiderte der Priester.

»Also bewirkt dein Zölibatgelübde…«

»Nein! Nicht mein Gelübde zur Abstinenz hält mich zurück, Lawler, sondern pure Angst.« Und zu Gharkin sagte er: »Die Stange sollte knapp reichen. Halt mich an den Beinen fest, damit ich nicht über Bord gehe.«

»Laß mich«, sagte Lawler. »Ich hab längere Arme als du.«

»Bleib, wo du bist!«

Dann zog sich der Priester über die Bordwand und beugte sich vorsichtig auf der anderen Seite nach unten. Gharkid packte ihn an den Beinen, und Lawler hielt Gharkid fest. Als Lawler sich vorbeugte und über Bord spähte, erblickte er etwas, das wie eine grellgelbe Platte von etwa einem Meter Durchmesser aussah, die dicht über der Wasserlinie am Schiffskörper klebte. Sie war flach und rund und wies im Zentrum eine kleine runzelig-knotige Wölbung auf. Quillan langte so weit wie möglich nach unten und stieß zu. Wieder und wieder. Vom Rücken des Geschöpfes sprühte ein dünner blauer Strahl wie ein Springbrunnen nach oben. Und noch ein Stoß, und das Ding bebte konvulsivisch.

Lawler fühlte, wie der Schmerz in seinen Lenden schwächer wurde.

»So haltet mich doch richtig fest!« rief der Priester. »Ich verlier den Halt!«

»Aber nicht doch, Father! Keine Spur!«

Lawler umklammerte mit den Händen die nach oben ragenden Fußknöchel des Mannes. Er spürte, wie dessen Körper sich spannte, als er sich vom Schiff fortbog, nach unten zielte und die Stange mit einem festen harten Stoß abwärts trieb. Der fleischige Leib des Klebewesens wellte sich heftig. Die Farbe wechselte zu dunklem Grün, dann zu kränklichem Schwarz; in den fleischigen Weichpartien bildeten sich plötzlich zuckende Erhebungen; das Ding bäumte sich hoch, fiel in die See zurück und wurde in der Heckwelle des Schiffes davongetragen.

Augenblicklich fühlte Lawler, wie sein Gehirn sich von den letzten Dunstschwaden befreite.

»Mein Gott…«, sagte er. »Was war das?«

»Gharkid hat es als Napfschnecke bezeichnet«, sagte Father Quillan. »Etwas, das sich an uns festgesaugt hat und uns allesamt mit wüsten Pheromonen beschoß.« Er bebte am ganzen Leib, als ob eine unerträgliche Spannung von ihm gewichen sein. »Einige unter uns waren fähig, dem zu widerstehen, andere nicht.«

Lawler blickte über das Deck. Überall wanderten nackte Gestalten herum, benommen, als wären sie gerade aus tiefstem Schlaf erwacht. Leo Martello erhob sich von Neyana und stierte sie an, als hätte er sie in seinem Leben nie gesehen. Kinverson löste sich von Lis Nikiaus. Lawler fing den Blick aus Sundiras Augen auf. Sie wirkte wie betäubt. Sie fuhr sich wieder mit einer schmerzlichen reibenden Geste über den nackten Bauch, als wollte sie damit den Abdruck von Delagards Fleisch von sich abwischen.


* * *

Das Erscheinen der Napfschnecke war eine Art Vorzeichen. Denn in diesen tiefen Breiten schien das Leere Meer nämlich zunehmend weniger leer zu sein.

Es zeigte sich eine neue Drakken-Art, sozusagen die südliche Abart der Spezies. Sie sah zwar der nördlichen recht ähnlich, war aber größer und wirkte irgendwie gerissener und hatte etwas Heiter-Planmäßiges an sich. Statt in Schwärmen von Hunderten von Exemplaren zu wandern, bewegten sich diese Drakken in einem Rudel von wenigen Dutzend, und wenn ihre langen Tubusköpfe sich über die Wasserfläche hoben, waren sie weit verstreut, als beanspruchte jeder zum Trupp Gehörende eine gewisse großzügige Distanz zu seinen Gefährten, die allseits auch respektiert zu werden schien. Sie begleiteten das Schiff über Stunden hin und paddelten unermüdlich, die Nasen hoch in die Luft gereckt, neben ihnen her. Die schimmernden Augen schlossen sich nie. Es fiel gar nicht schwer, sich einzureden, daß sie nur auf die Dunkelheit warteten und auf die Gelegenheit, um massenweise an Bord zu kommen. Delagard befahl die Freiwachen früher an Deck, wo sie mit Gaffeln patrouillieren sollten.

Doch in der Dämmerung tauchten die Drakken unter, und zwar allesamt gleichzeitig in der für sie charakteristischen Simultanaktion, als wären sie alle von einer übergeordneten Größe drunten verschluckt worden. Delagard war allerdings nicht überzeugt, daß sie fort waren, und ließ das Deck die ganze Nacht hindurch patrouillieren. Doch es erfolgte kein Angriff, und am nächsten Morgen war von den Drakken nirgendwo etwas zu sehen.


* * *

Später am selben Nachmittag, als bereits die Dämmerung hereinbrach, trieb eine gewaltige amorphe, irgendwie fahle und viskose Masse von Luv am Schiff vorbei. Sie erstreckte sich viele hundert Meter weit, vielleicht mehr. Es hätte fast so etwas wie eine ›Insel‹ von unbekannter Struktur sein können, so groß war das Ding: eine kolossale schwabbelige Insel, ganz aus Mukosa, eine gewaltige Ansammlung von Schleim und Rotz. Als sie näher kamen, stellten sie fest, daß das gewaltige runzlige Blasending effektiv lebendig war, oder doch jedenfalls partiell. Die fahlgelbe eipuddingähnliche Oberfläche erzitterte sacht in stoßhafter Rhythmik, trieb kleine kugelige Protuberanzen hoch, die fast sofort wieder in die Gesamtmasse zurücksackten.

Dag Tharp spielte den Clown. »Endlich! Ladies and Gentlemen! Hier seht ihr es: Das Antlitz — Die Feste — Das Land über dem Wasser — Endlich!«

Kinverson lachte. »Also wenn ihr mich fragt — für mich sieht das eher aus wie das Gegenteil von ’nem Gesicht — eher wie das andere Ende.«

»Aber seht doch!« sagte Martello. »Es schweben Lichtzungen davon auf und flackern in der Luft umher. Wie wunderschön das ist!«

»Wie Glühwürmchen«,sagte Quillan.

»Glühwürmchen?« fragte Lawler.

»Die gibt es auf Sunrise. Insekten mit Leuchtorganen. Du weißt doch, was das ist, Insekten? Auf dem Land lebende sechsbeinige Arthropoden, die auf den me isten Welten ungemein verbreitet sind. Diese Glühwürmer, Leuchtkäfer, Feuerfliegen sind Insekten, die in der Dämmerung ausschwärmen und dann ihre Lichtlein an- und ausblinken. Ein sehr hübscher, sehr romantischer Effekt. So ähnlich wie dies hier.«

Lawler betrachtete sich das Ganze. Doch, ja, es war ein schöner Anblick: Fragmente der gewaltigen trägschwappenden treibenden Masse lösten sich ab, hoben sich, wurden von der leichten Brise aufwärts getragen, begannen zu glühen und scharfe gelbe Leuchtblitze abzugeben wie flirrende Miniatursönnchen. Die ganze Luft war von ihnen erfüllt, es waren viele Dutzende, Hunderte. Sie segelten auf dem Wind, hoben sich, sanken nieder, hoben sich erneut, stürzten und stiegen wieder auf. Und dabei blinkten sie unablässig: An-aus-an-aus-an-aus…

Aber auf dem Planeten Hydros bedeutete Schönheit fast immer, daß Anlaß bestand zu Vorsicht und Argwohn. Und bei dem Tanz dieser ›Feuerfliegen‹ verspürte Lawler mehr und mehr ein starkes Unbehagen.

Da kreischte plötzlich Lis Nikiaus: »Das Segel brennt!«

Lawler sah nach oben. Einige der Glühwürmchen waren über das Schiff getrieben, und wo sie gegen eins der Segel stießen, hatten sie sich festgesetzt und durch ihr stetiges Glühen das dichte Seebambusgewebe entzündet. An einem Dutzend Stellen kräuselten dünne Rauchspiralen nach oben; kleine rote Brandsäume im Gewebe wurden sichtbar. Kurz: Das Schiff stand unter Beschuß.

Delagard brüllte Befehle, um den Kurs zu wechseln. Die Queen setzte sich so rasch wie möglich von der feindlichen Geschwulst an ihrer Flanke ab. Alle, die nicht für die Segelmanöver benötigt wurden, wurden hinaufgeschickt, um das Tuch zu schützen. Lawler kletterte neben den anderen in der Takelung umher und schlug auf die Fünkchen ein, wenn die sich in den Segeln festfressen wollten, und kratzte jene fort, die dort bereits saßen. Sie waren nicht besonders heiß, aber ausdauernd, und die konstante Abgabe von Wärmeenergie war es denn auch, welche das Material in Brand setzte. Lawler sah die verkohlten Stellen, an denen man sie noch rechtzeitig beseitigen konnte, und an anderen Stellen blinkte Sternenlicht durch die kleinen Löcher — und hoch droben im Topp am Vormast eine grellrote Flammenzunge mit einer schwarzen Rauchspur, dort brannte der Stoff bereits.

Kinverson kletterte behende dorthin und hieb mit den Pranken auf die Brandstelle ein, um die Flamme zu ersticken. Und die hellen Flämmchen erstickten unter seinen Fäusten, als benutzte er einen Zaubertrick. Kurz darauf war nichts weiter als ein müdes Glimmen sichtbar, und dann erlosch auch dies. Der Glühwurm, die Feuerfliege, die den Brand verursacht hatte, war längst fort und aufs Deck gesunken, als das Segeltuch um es herum löcherig wurde. Das zurückbleibende Loch war etwa kopfgroß.

Dann kam das Schiff in den Wind und fuhr rasch nach Südwest davon. Der häßliche Feind vermochte nicht mit dem gleichen Tempo zu folgen und war bald hinter; ihnen außer Sicht. Aber seine niedlichen Absprengsel, die flirrenden schwebenden Glühwürmchen, folgten ihnen im Wind in immer geringerer Zahl mit der Brise stundenlang, und es dämmerte bereits, als Delagard es für sicher genug hielt, die Feuerbrigade aus der Takelung zurück an Deck zu beordern.

Sundira war die nächsten drei Tage hindurch damit beschäftigt, die Segel zu flicken, und Kinverson, Pilya und Neyana halfen dabei. Das Schiff machte keine Fahrt, solange die Spieren nackt waren. Die Luft war reglos; die Sonne war unangenehm stark; die See blieb ruhig. Hin und wieder blinkte in der Ferne eine Finne über dem Wasser auf. Und Lawler hatte das Gefühl, daß sie mittlerweile ständig unter Beobachtung waren.

Und er rechnete sich aus, daß er noch einen Wochenvorrat von Taubkrauttinktur hatte. Im Idealfall.


* * *

Und wieder kam eine im Meer treibende Kreatur vorbei, und sie war weder so gigantisch, noch so abstoßend wie die vorherige, noch so feindselig: Es war ein großes Ei, völlig ohne Oberflächenstruktur, völlig glatt, aber von einem angenehm strahlenden smaragdgrünen Leuchten erfüllt. Es ragte zur Hälfte aus dem Wasser, doch die See war hier dermaßen durchsichtig, daß man auch die schimmernde untere Hälfte deutlich sehen konnte. Das Objekt hatte schätzungsweise zwanzig Meter Umfang und ungefähr zehn, fünfzehn Meter Länge von dem untergetauchten Hinterende bis zur gerundeten Spitze.

Delagard war unruhig und rechnete anscheinend mit allem möglichen; jedenfalls befahl er alle Mann an Deck und an die Reling, wo sie mit Spießen und Gaffeln bewaffnet warten mußten. Aber das Ei-Ding glitt so harmlos wie eine Frucht vorbei. Wahrscheinlich war es ja auch gar nichts weiter als ein Ei. Am selben Tag kamen zwei weitere dieser Eier vorbei. Davon war das erste rundlich-kugeliger als das allererste, das zweite etwas mehr länglich, aber ansonsten sahen sie aus, als wären sie von der gleichen Art. Und außerdem schienen sie die Queen überhaupt nicht zu bemerken. Was diesen Eiern fehlt, dachte Lawler, sind riesige glitzernde Glubschaugen, damit sie das Schiff besser sehen können, während sie vorbeitreiben. Aber die ›Gesichter‹ waren blind, glatt, rätselhaft und ärgerlich ausdruckslos. Doch es haftete ihnen etwas seltsam Feierliches an, eine ruhige Schwere. Father Quillan sagte, sie erinnerten ihn an einen Bischof, den er einst gekannt hatte. Und dann mußte er der gesamten Crew erklären, was denn ein ›Bischof‹ sei.

Und nach den Eiern kam eine Spezies von Fliegenden Fischen, die jedoch weder Verwandte von den eleganten regenbogenfarbig schimmernden heimischen Spezies des Mare Nostrum waren, noch irgendwie den gräßlichen Hexenfischen der offenen Ozeane glichen. Diese hier waren zerbrechlich wirkende, etwa fünfzehn Zentimeter lange schimmernde Geschöpfe mit graziösen durchsichtigen Schwingen, die sie zu unglaublichen Höhen emportrugen. Man konnte sie aus der Ferne schon sehen, wie sie nahezu senkrecht aus dem Wasser aufstiegen und ungewöhnlich weit flogen, ehe sie erneut ins Meer tauchten, und dies nahezu, ohne daß das Wasser aufspritzte. Und Augenblicks darauf waren sie wieder in den Lüften und tauchten hinab und flogen wieder hinauf und wieder hinab, und kamen mit jedem Bewegungszyklus näher an das Schiff heran, bis sie schließlich dicht steuerbord waren.

Diese Fliegenden Fische schienen ebenso ungefährlich zu sein wie die driftenden Smaragdeier. Sie flogen dermaßen hoch, daß kaum Gefahr bestand, auf Deck mit ihnen zusammenzustoßen, also brauchte man sich auch nicht zu ducken oder in Deckung zu gehen, wie dies bei einem Flugangriff der Hexenfische unumgänglich gewesen wäre. Diese Fische waren so wunderschön und funkelten so prachtvoll unter dem grellen harten Lichterdom des Himmels, daß nahezu die gesamte Schiffsbesatzung sich an Deck einfand, um sie vorbeiziehen zu sehen.

Die Leiber der Wesen waren fast durchsichtig. Mit Leichtigkeit konnte man die zarten drahtfeinen Gräten ausmachen, die runden pumpenden rot-violetten Herzen, die fadenfeinen blauen Adern. Die blutroten Augen waren fein facettiert und blinkten je nach Lichteinfall.

Wunderschön, ja. Doch während sie hoch über das Schiff hinwegsetzten, regnete aus ihnen eine seltsame Flüssigkeit herab, ein schwacher schimmernder Schauer von dunkelblinkenden Tröpfchen, die scharf und beißend brannten, wo immer sie auftrafen.

Zuerst begriff niemand, was los war, denn die ersten flüchtigen Treffer der Exkrete dieser Flugwesen waren weiter nichts als eine kaum fühlbare Unannehmlichkeit. Aber die Reizwirkung war kumulativ, die Säure drang langsam tiefer, und aus einem leichten Jucken wurde bald heftiger Schmerz.

Lawler, der im Windschatten der Vorsegel gestanden hatte, war weitgehend gegen den Beschuß abgeschirmt gewesen. Ein paar Spritzer trafen seinen Unterarm, nicht genug, als daß ihm dies mehr als ein ärgerliches Stirnrunzeln abgenötigt hätte. Dann jedoch sah er, daß sich auf den blankgeschrubbten Decksplanken gelbe knotige Sterne abzuzeichnen begannen, und als er aufblickte, sah er seine Gefährten wild fuchteln und herumtanzen, schreien und sich auf die Arme klatschen und die Wangen reiben.

»Runter! Alle unter Deck!« brüllte er. »Geht in Deckung! Das kommt von den Fischen!«

Die Angreifer aus der Luft waren mittlerweile über das Schiff hinweggezogen und auf der anderen Seite verschwunden. Doch schon erhob sich steuerbords eine zweite Angriffswelle aus den Fluten.

Die Attacke dauerte insgesamt fast eine Stunde lang und kam in einem halben Dutzend von Angriffswellen. Hinterher fanden sich die Opfer nacheinander in Lawlers Sanitätsraum ein, um sich die Verätzungen behandeln zu lassen.

Sundira, die beim Angriff der Fische in der Takelung gearbeitet hatte, kam zuletzt. Sie hatte droben weiter nichts als ein Lendentuch getragen, und ihr ganzer Körper war blasenübersät. Stumm tupfte Lawler die Heilsalbe auf. Sie stand nackend vor ihm, und seine Hände glitten über ihre Haut und trugen das Medikament auf, um ihre Brustwarzen, auf den Schenkeln bis knapp unterhalb ihrer Lenden. Sie hatten sich seit der Nacht vor dem Ereignis mit der Napfschnecke nicht mehr geliebt. Doch Lawler fühlte nun bei der Berührung keinerlei Verlangen nach ihr, auch nicht wenn er die intimsten Stellen bestrich.

Auch Sundira war dies nicht entgangen. Das konnte er unter den tastenden Fingern an ihren Muskeln fühlen, die sich verspannten. Ärgerlich reckte sie sich. »Du faßt mich an, als wäre ich ein Klumpen Fleisch, Val.«

»Ich bin Arzt, der eine Patientin versorgt, die auf dem ganzen Körper ziemlich eklige Blasen hat.«

»Und mehr bin ich jetzt für dich nicht mehr?«

»In diesem Moment, nein. Hältst du es für nützlich, wenn ein Arzt jedesmal zu schwitzen und zu schnaufen anfängt, wenn er einen attraktiven Körper berühren muß?«

»Ja, aber ich bin doch nicht bloß irgendein Patient, oder?«

»Nein, nicht ein x-beliebiger.«

»Und doch gehst du mir schon tagelang aus dem Weg. Und jetzt behandelst du mich wie eine Fremde. Was ist denn los?«

»Los?« Er blickte sie bekümmert an. Dann klopfte er ihr sacht auf die Hüfte. »Dreh dich um, ich hab die Blasen in deinem Kreuz noch nicht behandelt. Was meinst du damit, Sundira?«

»Du willst mich nicht mehr, hab ich recht?«

Er tauchte die Fingerspitzen in das Salbengefäß und rieb sie dicht über den Pobacken ein.

»Ich wußte nicht, daß wir einen speziellen Terminplan hätten. Haben wir den?«

»Natürlich nicht. Aber sieh doch nur, wie du mich jetzt berührst.«

»Ich hab es dir doch grad gesagt. Ich wiederhole es noch einmal. Ich denke, du bist hier, weil du dich von einem Arzt medizinisch behandeln lassen willst, nicht um zu bumsen. Ärzte lernen es frühzeitig, daß es immer schlecht ist, wenn man beides verbindet. Aber es könnte mir natürlich auch in den Sinn gekommen sein — nicht aus Gründen der ärztlichen Ethik, sondern als schlichtes Ergebnis gesunden Menschenverstandes —, daß es dir vielleicht nicht ganz so angenehm sein könnte, wenn ich mich jetzt auf dich stürze, in einem Augenblick, wo du am ganzen Körper von schmerzhaften Blasen bedeckt bist. Klar jetzt?« Nie zuvor hatten sie Worte dieser beinahe zänkischen Art gewechselt. »Also, erscheint dir das nicht als vernünftig, Sundira?«

Sie fuhr herum und schaute ihm ins Gesicht. »Es ist wegen dem, was ich mit Delagard gemacht hab, ja?«

»Was?«

»Die Vorstellung ist dir zuwider, daß er mich mit seinen Händen berührt hat — und mehr als das. Und jetzt willst du nichts mehr mit mir zu tun haben.«

»Sprichst du im Ernst?«

»Ja, und ich hab auch recht. Wenn du dein Gesicht sehen könntest…«

Lawler sagte: »Wir waren alle von Sinnen, als sich dieses Ding ans Schiff geheftet hatte. Nie mand ist verantwortlich für etwas, das er in jener Nacht getan hat. Denkst du im Ernst, ich hätte es mit Neyana treiben wollen? Wenn du die Wahrheit hören willst, Sundira, ich hab dich gesucht, als ich an Deck kam. Ich konnte mich zwar nicht einmal an deinen Namen erinnern oder an meinen eignen, in dem Zustand, in dem ich war. Aber ich habe dich gesehen und dich begehrt und bin auf dich losgezogen, nur ist mir Leo Martello zuvorgekommen. Und dann hat Neyana mich erwischt, also ging ich mit ihr. Ich war unter Fremdbeeinflussung, genau wie du, wie alle anderen. Alle — außer Father Quillan, meine ich, ja und Gharkid. Unsere zwei Heiligen.« Lawlers Wangen waren erhitzt. Er merkte, daß sein Herzschlag sich beschleunigte. »Himmel, Sundira, ich weiß doch schon die ganze Zeit, daß du dich regelmäßig von Kinverson vögeln läßt, und das hat mich nicht daran gehindert, oder? Und in jener Nacht der Schnecke warst du doch zuerst mit Martello zusammen, vor Delagard. Warum sollte das, was du mit Delagard getrieben hast, mir irgendwie mehr ausmachen als das mit all den anderen?«

»Weil Delagard was anderes ist. Du haßt ihn. Und er widert dich an.«

»Wirklich?«

»Ja. Er ist ein Mörder und ein brutaler Unterdrücker. Er ist dafür verantwortlich, daß wir alle aus Sorve vertrieben wurden. Und die ganze Zeit hat er sich auf dieser Expedition aufgeführt wie ein Tyrann: Er prügelt Lis. Er hat Henders umgebracht. Er lügt, er betrügt, er tut, was ihm grad in den Sinn kommt, um seinen Willen durchzusetzen. Alles an ihm und um ihn ist dir ein Greuel, und der Gedanke, daß er jetzt auch noch mit mir fickt, egal ob ich bei Verstand war, als ich es zuließ, oder nicht, ist für dich unerträglich. Also — läßt du deinen Groll an mir aus. Du willst nicht deine Lippen dorthin drücken, wo Delagards Mund gewesen ist, schon gar nicht zu reden von deinem Schwanz. Ist das nicht die Wahrheit, Val?«

»Plötzlich kannst du so gut Gedanken lesen. Ich hab ja keine Ahnung gehabt, daß du psi-begabt bist, Sundira.«

»Spiel nicht den Klu gscheißer! Ist es so, oder nicht?«

»Schau mal, Sundira…«

»Es ist so, ja?« Der Ton ihrer Stimme, bisher hart und kalt, wurde auf einmal weich, und Sundira blickte ihn mit einem zärtlichen Verlangen an, das ihn überraschte. »Val, ach Val, glaubst du denn nicht, daß es auch mich vor Ekel würgt, wenn ich daran denke, daß dieser Mann in meinem Leib war? Ob du’s glaubst oder nicht, ich versuche die ganze Zeit schon, mich von ihm reinzuwaschen. Aber das soll nicht dein Problem sein. Ich habe keine Pestbeulen, wo er mich berührt hat. Und du hast nicht das Recht, mich so wegwerfend zu behandeln, nur weil irgendein fremdes Ding sich an unser Schiff geheftet hat und uns dazu veranlaßte, in einer Nacht etwas zu tun, das uns normalerweise nie in den Sinn kommen würde.« Und dann flammte erneut Zorn in ihren Augen auf. »Aber wenn es nicht Delagard ist, was dann? Sag es mir!«

Mit einer vor Beschämung heiseren Stimme sagte Lawler: »Also ja, ich geb es zu. Es ist wegen Delagard.«

»Oh, verflucht noch mal, Val!«

»Tut mir leid.«

»Wirklich?«

»Ich glaube, mir ist gar nicht richtig klar geworden, was mich derart gewurmt hat. Erst jetzt, wo du es mir mitten ins Gesicht geschleudert hast. Aber, ja, ja, ich glaube, das hat irgendwo tief drin in mir seit jener Nacht herumgefressen. Die ser Anblick, wie Delagards Pfote zwischen deinen Schenkeln herumwühlt. Wie er mit seinen Lippen deine Brüste besabbert.« Lawler schloß kurz die Augen. »Es war ja nicht deine Schuld. Ich führ mich auf wie ein blöder unreifer Junge!«

»Da geb ich dir in allen Punkten recht. Du warst ziemlich dumm. Und ich möchte dir nur nachdrücklich sagen, daß ich unter normalen Umständen mich in einer Million Jahren nicht von Delagard hätte aufs Kreuz legen lassen. Nicht mal wenn er der letzte Mann in der ganzen Galaxis gewesen wäre!«

Lawler lächelte. »Ja, der Teufel hat dich dazu getrieben.«

»Nein, diese Napfschnecke.«

»Das kommt aufs gleiche raus.«

»Wenn du meinst… Aber es ist nie wirklich geschehen. Jedenfalls nicht durch einen bewußten Akt meinerseits. Und ich bemühe mich mit allen meinen Kräften, es ungeschehen zu machen. Versuch du das doch bitte auch, Val. Ich liebe dich.«

Er starrte sie verblüfft an. Einen solchen Ausdruck von Gefühl hatte es bisher zwischen ihnen noch nie gegeben. Und er hätte sich auch nie träumen lassen, daß dieses Wort je zwischen ihnen gesagt werden würde. Es war so lange her, daß jemand zu ihm gesagt hatte ›ich liebe dich‹, daß er sich nicht mehr zu erinnern vermochte, wer es gewesen war.

Und was jetzt? Erwartete sie, daß er dieses Wort auch zu ihr sagte?

Sie lächelte ihn breit an. Sie erwartete nicht, daß er überhaupt etwas sagte. Sie kannte ihn einfach zu gut.

»Komm her, Doktor«, sagte sie. »Ich brauch ein bißchen mehr von deiner gründlichen Untersuchung.«

Lawler warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob die Tür des Sanitätsraumes verschlossen war. Dann griff er nach ihr.

»Gib acht auf meine Brandblasen«, sagte sie.

5

Objekte wie riesige Periskope erhoben sich aus der See, blitzende zwanzig Meter hohe Halme, an deren Spitze blaue fünfseitige Polygone saßen. Stundenlang beobachteten sie aus einer Entfernung von etwa fünfhundert Metern das Schiff mit kühler Unbeirrbarkeit. Es handelte sich offensichtlich um Stielaugen. Aber zu welchem Geschöpf gehörten sie?

Dann glitten diese Periskope ins Wasser zurück und kamen nicht wieder herauf. Als nächstes erschienen große gähnende Mäuler, riesenhafte Geschöpfe, die jenen des Heimatmeeres ähnelten, aber viel größer waren; groß genug, so schien es, die Queen of Hydros auf einmal zu verschlucken. Auch sie hielten sich auf Distanz und erhellten die See Tag und Nacht mit ihrer grünlichen Phosphoreszenz. Zwar hatte man noch nie gehört, daß Mäuler auf Hydros Schiffen irgendwie Schwierigkeiten gemacht hätten, doch hier handelte es sich um die Mäuler des Leeren Meeres, und hier war schließlich alles möglich. Auf jeden Fall waren diese dunklen Schlünde ein beunruhigender und bedrohlicher Anblick.

Auch das Wasser wies hier mehr und mehr Phosphoreszenz auf. Die Wirkung war anfangs schwach, nur ein leises Zittern von Farbe, ein schwaches bezauberndes Glühen. Dann nahm die Intensität zu. Das Heckwasser des Schiffs lag nachts wie eine Feuerspur auf dem Wasser. Selbst am Tage wirkten die Wellen nun wie Feuer. Die Gischt, die hin und wieder überkam, glitzerte hell.

Ein Regen stechender Quallen ging auf sie nieder. Es folgte eine Show von verrückt umhertollenden Tauchern, die aus dem Meer schossen und sich so hoch in die Luft schleuderten, als wollten sie zu fliegen versuchen. Dann kam etwas, das aussah wie von zerfaserten Stricken zusammengebündelte hölzerne Pfosten, über die Wasserfläche gewandert, und obenauf saß in der Mitte in einer geöffneten Kapsel ein winziges kugeliges vieläugiges Geschöpf; es sah aus, als bewegte es sich auf Stelzen.

Dann, eines Morgens, als Delagard über die Reling spähte — er war jetzt beständig auf der Hut vor Angriffen aus allen erdenklichen Richtungen —, zuckte er hastig zurück und brüllte: »Ja, verdammt noch mal, Kinverson, Gharkid, her zu mir, schaut euch das da mal an!«

Lawler gesellte sich zu ihnen. Delagard deutete senkrecht nach unten. Zuerst sah Lawler nichts Ungewöhnliches, doch dann bemerkte er, daß das Schiff etwa zwanzig Zentimeter unter der Wasseroberfläche eine Art Unterrock mit sich schleppte, eine Wucherung von irgendeinem gelblichen faserigen Zeug, das sich rings um den ganzen Schiffskörper etwa einen Meter weit ausbreitete. Nein, nicht so sehr ein Unterrock, entschied Lawler, es sah mehr aus wie ein Sims oder ein Schelf von etwas Holzähnlichem.

Delagard wandte sich zu Kinverson: »Hast du so was schon je zuvor gesehen?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Und du, Gharkid?«

»Nein, Capt’n-Sir, noch nie.«

»Irgendein Tang, der sich an uns festgesetzt hat und auf uns wächst? Was meinst du, Gharkid?«

Gharkid zuckte die Achseln. »Es is mir ’n Rätsel, Sir.«

Delagard ließ ein Fallreep überbringen und stieg über die Reling, um die Sache zu inspizieren. Er hielt sich mit einer Hand an der Strickleiter dicht überm Wasser fest und beugte sich dann weit nach draußen und unten. Mit einem langstieligen Entenmuschelschaber stocherte er an der unbekannten Wucherung herum. Fluchend und rot im Gesicht kam er wieder an Bord.

Das Problem, sagte er, liege an diesem Unkraut, der Seehirse, die wie ein sich beständig erneuerndes schützendes Netz an der Außenwandung des Schiffes wachse und so die Außenplanken schütze. »Und da hat sich jetzt irgend so ein einheimisches Gewächs mit reingehängt. Vielleicht eine verwandte Art. Oder ein Symbiont. Egal was, es wuchert jedenfalls um diese Fingerhirse herum, setzt sich so schnell wie möglich fest und wuchert dann wie wahnsinnig. Der Schelf ist jetzt schon so groß, daß er unsere Fahrt merklich bremst. Aber wenn das Zeug ebenso rasch weiterwächst, dann werden wir in ein paar Tagen endgültig festsitzen.«

»Und was machen wir dagegen?« fragte Kinverson.

»Hast du einen Vorschlag?«

»Daß jemand im Wassergleiter rausgeht und das verdammte Zeug wegschneidet, solang es noch geht.«

Delagard nickte. »Gute Idee. Ich übernehm freiwillig die erste Schicht. Kommst du mit?«

»Klar, wieso nicht?« sagte Kinverson.

Die beiden kletterten in den Wassergleiter. Martello bediente die Davits, hievte das Fahrzeug hoch und weit über die Reling hinaus, weit genug jedenfalls über den Rand des Wucherungsschelfs, ehe er es aufs Wasser niederließ.

Die Kunst oder der Trick bestand darin, so schnell zu treten, daß der Wassergleiter schwamm, aber eben nicht so schnell, daß der Mann mit dem Muschelschaber daran gehindert wurde, die unerwünschten Wucherungen wegzuschneiden. Anfangs fiel es ihnen schwer. Kinverson, der den Schaber hielt, nutzte die Länge des Stiels und seiner Arme so gut wie möglich und beugte sich hinüber, um auf das Gewächs einzuhacken; doch er konnte nur ein paar Hiebe ausführen, und schon war der Gleiter an der Stelle vorbeigeschossen, an der er arbeitete, und wenn sie wieder Tempo wegnahmen, an die Stelle zurückkehrten und versuchten, das Gefährt länger dort zu stabilisieren, verlor es an Auftrieb und begann zu sinken.

Aber nach einer Weile bekamen sie die Sache in den Griff. Delagard strampelte, Kinverson hackte. Als dieser sichtlich langsamer wurde, wechselten sie die Plätze. Ein riskantes Manöver auf dem tanzenden Fahrzeug, bis sie aneinander vorbeigestiegen und Delagard vorn und Kinverson an den Pedalen war.

»Also, nächste Schicht!« rief Delagard schließlich. Er hatte sich mit seinem üblichen besessenen Eifer in die Arbeit gestürzt und wirkte jetzt erschöpft. »Zwei neue Freiwillige! Leo, hab ich da grad gehört, du übernimmst die nächste Schicht? Und du, Lawler?«

Pilya Braun bediente die Davits, als Martello und Lawler über Bord gingen. Die See war ziemlich ruhig, aber dennoch hüpfte und tanzte der leichte Gleiter unentwegt. Lawler malte sich bereits aus, wie er von einer stärkeren Welle ins Wasser geschleudert wurde. Er schaute nach unten und sah, wie die einzelnen Stränge des dicht an den Rändern des bereits geformten Schelfs in der Dünung schwangen. Und als sie näher an die Schiffswand getrieben wurden, glaubte er sogar, ganz genau zu sehen, wie einige dieser Stränge sich anhefteten.

Er konnte auch kleine, schimmernde bandförmige, sich windende, zuckende Organismen im Wasser erkennen. Würmer, Schlangen, vielleicht Aale? Sie sahen flink aus und sehr beweglich. Hofften sie auf eine Mahlzeit?

Der Sims widersetzte sich seinen Hackversuchen. Er mußte den Muschelschaber fest mit beiden Händen packen und mit ganzer Kraft abwärts rammen. Oft rutschte das Werkzeug wirkungslos an dem fremdartigen Bewuchs ab, mehrmals wäre es ihm fast aus den Händen geprallt.

»He, ihr da!« brüllte Delagard von oben. »Wir haben nicht genug von den Dingern, daß wir eins verlieren dürfen!«

Dann entdeckte Lawler eine Methode, wie er leicht schräg den Schaber zwischen die einzelnen Stränge der Wucherung bringen konnte. Er hackte das Zeug in großen Brocken ab, und es trieb davon. Er fand bald den richtigen Rhythmus und säbelte und säbelte. Der Schweiß perlte ihm über die Haut. Seine Handgelenke und Arme fingen an zu protestieren. Schmerz breitete sich bis zu seinen Achseln, in der Brust in den Schultern aus. Das Herz hämmerte wild.

»Mir reicht es«, sagte er zu Martello. »Jetzt übernimm du, Leo.«

Martello schien unermüdlich zu sein. Er hackte mit einer fröhlichen starken Unbekümmertheit und Kraft drauflos, die Lawler als demütigend empfand. Er hatte gedacht, daß er sein Teil recht gut geschafft hätte; doch Martello hackte in den ersten fünf Minuten soviel Zeug weg, wie Lawler in der ganzen Zeit geschafft hatte. Und während er da so wütet, dachte Lawler, baut er sich im Kopf bereits den ›Chopper-Gesang‹ seines Großepos zusammen.

Mit wilder Wut sodann und mühevoll

Mähten wir die Feinde nieder,

Doch sie wuchsen unentwegt. Mit Todesmut

Zerschlugen wir die üble Brut

Und grimmig hackten wir und schnitten…

Onyos Felk und Lis Nikiaus stiegen sodann in die Tiefe. Und danach waren Neyana und Sundira und dann Pilya und Gharkid an der Reihe.

»Das Teufelszeug wächst so schnell, wie wir es abschneiden«, sagte Delagard ärgerlich.

Aber dennoch machten sie Fortschritte. Große Teile der Überwucherung waren verschwunden. An einigen Stellen hatten sie den Bewuchs tatsächlich bis auf die ursprüngliche Seehirseschicht wegschneiden können.

Dann waren wieder Delagard und Kinverson an der Reihe. Sie hieben und hackten in teuflischer Wut drauflos. Als sie wieder an Bord waren, sahen die beiden Männer aus, als glühten sie vor Erschöpfung; sie waren über den Punkt bloßer Müdigkeit in eine Art transzendenten Zustand hinübergewachsen, und sie glühten vor Exaltation.

»Gehen wir, Doc«, sagte Martello. »Jetzt sind wir wieder dran.«

Martello schien entschlossen zu sein, sogar Kinverson zu übertreffen. Während Lawler sich abmühte, den Gleiter durch stetes, mühsames, betäubendes Treten stabil zu halten, fuhr Martello wie ein rächender Gott auf den vegetabilen Feind los. Wamm! Wamm! Er hob den Schaber hoch über den Kopf und ließ ihn beidhändig tief niederfahren. Wamm! Wamm! Gewaltige Teile der Wucherung splitterten ab und trieben davon. Und wamm! Jeder Hieb schien gewaltiger als der vorher. Der Gleiter schwankte heftig von Seite zu Seite, und Lawler kämpfte schwer, um das Kentern zu verhindern. Und wamm! Wamm!

Schließlich richtete sich Martello noch höher auf und ließ den Entenmuschelschaber mit entsetzlicher Kraft niedersausen. Er trennte einen gewaltigen Brocken ab, fast bis dicht an die Wandung des Rumpfes der Queen. Und das Stück löste sich wohl leichter, als Martello erwartet hatte. Denn er verlor erstens die Balance und zweitens den Schaber aus dem Griff. Er grapschte danach, verfehlte ihn, rollte nach vorn und hechtete mit einem großen Klatschen ins Wasser.

Lawler paddelte weiter und beugte sich hinaus, um ihm eine Hand hinzustrecken. Martello war inzwischen bereits etliche Meter vom Gleiter entfernt und schlug wild mit Armen und Beinen. Aber entweder sah er die helfende Hand nicht, oder seine Panik war dermaßen übermächtig und er begriff nicht, was er tun sollte.

»Schwimm auf mich zu!« rief Lawler. »Hierher! Leo, hierher!«

Aber Martello schlug nur weiter wild mit Armen und Beinen um sich. Sein Blick war glasig vor Schock. Dann wurde er plötzlich steif, als hätte ihn von unten her ein Dolch getroffen. Und dann begann er krampfhaft zu zucken.

Die Davits waren inzwischen wieder übers Wasser ausgeschwenkt. An ihnen baumelte Kinverson. »Runter!« befahl er. »Noch ein bißchen! So, das reicht! Nach links. Gut… Gut so!«

Er faßte den strampelnden Martello unter den Achseln und holte ihn heraus, als wäre der ein kleines Kind. »Und jetzt du, Doc!« sagte Kinverson.

»Du kannst uns doch nicht beide rausheben!«

»Los, mach schon! Hier!«

Kinversons anderer Arm klammerte sich um Lawlers Brust. Die Davits hoben sich, schwangen zurück an Deck. Taumelnd schwankte Lawler umher, als Kinverson ihn aus seiner Umarmung freigab, stürzte und landete schmerzhaft auf den Knien. Sundira war sofort bei ihm und half ihm hoch.

Martello lag als triefendes Fleischbündel schlaff und bewegungslos auf dem Rücken.

»Zurück!« befahl Lawler. Und winkte auch Kinverson beiseite. »Du auch, Gabe.«

»Man müßte ihn umdrehen und das Seewasser aus ihm rauspumpen, Doc.«

»Das Wasser macht mir keine Sorgen. Mach Platz, Gabe!« Lawler wandte sich an Sundira. »Du weißt doch, wo meine Instrumententasche ist? Das Skalpell und so? Hol es mir bitte rasch rauf an Deck, ja?«

Dann kniete er bei Martello nieder und machte seinen Oberkörper frei. Der junge Mann atmete, schien aber nicht bei Bewußtsein. Die Augen standen weit offen, waren aber ohne Ausdruck, blicklos. Immer wieder zogen sich seine Lippen zu einer scheußlichen Grimasse des Schmerzes zurück, und der ganze Körper wurde starr und zuckte, als schieße ein elektrischer Strom durch ihn hindurch. Dann wurde er wieder ganz schlaff.

Lawler legte die Hand auf Martellos Bauch und drückte fest. Er spürte eine Bewegung unter der Bauchdecke: ein Zucken, ein seltsames, unerwartetes Zittern unter dem straffen Muskelgewebe des Abdomens.

Ist da was Fremdes drin? Ja. Dieser verfluchte Ozean, dieses Ungeheuer schlich sich überall ein, wo man ihm nur die geringste Blöße bot. Aber vielleicht war es ja noch nicht zu spät, den Jungen zu retten, dachte Lawler. Ihn purgieren durch und durch, die Wunde verschließen, das war es, und so dafür sorgen, daß die Gemeinschaft nicht noch einen weiteren Verlust erleiden mußte.

Schatten beugten sich über ihn nieder. Alle drängten heran und glotzten. Sie sahen zugleich abgestoßen und fasziniert aus.

Lawler sagte scharf: »Verschwindet hier, ihr alle. So was wollt ihr bestimmt nicht mitansehen. Und ich will nicht, daß ihr mir dabei zuschaut!«

Keiner rührte sich.

»Ihr habt gehört, was der Doktor gesagt hat«, schnauzte Delagard. »Also weg da! Laßt ihn seine Arbeit tun.«

Sundira stellte seine Instrumententasche neben ihn.

Lawler betastete den Unterleib von Martello erneut. Ja. Da war eine Bewegung. Ein unverkennbares Zurückweichen. Ein Zucken, Zittern. Martellos Gesicht war hochrot, die Pupillen erweitert, und die Augen starrten in eine fremde Welt. Aus allen Poren lief fiebriger Schweiß.

Lawler holte sein feinstes Skalpell aus der Tasche und legte es aufs Deck. Dann legte er Martello beide Hände dicht unterhalb des Zwerchfells auf den Bauch und begann nach oben zu pressen. Martello stieß einen dumpfen Seufzer aus, und über seine Lippen sickerten dünn Seewasser und Erbrochenes. Nichts sonst. Lawler versuchte es erneut. Nichts. Aber unter seinen Fingern fühlte er wieder diese Bewegung, weitere Krampfbewegungen, erneutes gleitendes Ausweichen.

Und noch ein Versuch. Er drehte Martello auf den Bauch und rammte die beiden verschränkten Hände mit aller verfügbaren Kraft dem Jungen in die Mitte des Rückens. Martello rülpste und spuckte noch einmal eine dünne Flüssigkeit aus. Mehr kam nicht.

Lawler hockte sich hin und dachte einen Moment lang nach, so gut es eben ging.

Dann wälzte er Martello wieder auf den Rücken und nahm sein Skalpell.

»Das wird euch nicht gefallen, wenn ihr da jetzt zuschaut«, murmelte er vor sich hin, an alle gerichtet, die vielleicht immer noch zuschauten. Er blickte dabei nicht auf. Dann schnitt er mit der dünnen Klinge eine rote Linie von links nach rechts quer über Martellos Unterleib. Martello schien es kaum zu spüren. Er gab einen weichen unverständlichen Laut von sich.

Die Haut, das Muskelgewebe. Das Messer schien die Schnitte zu kennen. Geschickt legte Lawler die Gewebschichten frei. Dann durchschnitt er das Peritoneum. Er hatte sich dazu erzogen, sich in einen anderen Bewußtseinszustand zu versetzen, wenn er operierte, in dem er sich einbildete, er sei ein Bildhauer und der Patient etwas Unbeseeltes, etwa ein Holzblock, und nicht ein leidendes menschliches Wesen. Durch diesen Trick allein vermochte er die Prozedur überhaupt durchzustehen.

Tiefer. Jetzt hatte er die innere Bauchdecke durchschnitten. Blut mischte sich in die Pfütze aus Seewasser um Martello auf den Decksplanken.

Nun mußte das Gekröse der Eingeweide hervorquellen und sichtbar werden…

Ja. Da waren sie.

Jemand schrie. Jemand knurrte angeekelt.

Doch es war nicht wegen des Anblicks der Gedärme. Aus Martellos Bauch schob sich noch etwas anderes herauf, etwas Helles, Schlankes, das sich langsam entrollte und sich aufrichtete: Es waren etwa sechs Zentimeter sichtbar: augenlos, anscheinend auch ohne Kopf, nichts weiter als ein glatter, glitschiger rosa Streifen undifferenzierter lebender Materie. Am oberen Ende befand sich eine Öffnung, irgendwie mundähnlich, durch die eine kleine rote raspelscharfe Zunge sichtbar wurde. Das schlanke schimmernde Geschöpf bewegte sich mit unirdischer Grazie und schwang in gleitenden hypnotisierenden Bewegungen von einer Seite zur anderen. Das Kreischen in Lawlers Rücken setzte sich hemmungslos fort.

Er fuhr auf das Ding mit einer raschen sicheren Bewegung aus dem Handgelenk los, und sein Skalpell zerschnitt es säuberlich in zwei Hälften. Der obere Teil landete zuckend neben Martello und begann sich sofort auf Lawler zuzubewegen. Kinversons schwerer Stiefel krachte nieder und zermalmte das Ding zu Schleim.

»Danke«, sagte Lawler ruhig.

Aber die andere Hälfte steckte noch in Martello. Lawler versuchte, sie mit der Spitze des Skalpells hervorzulocken. Daß es zerteilt worden war, schien dem Ding nichts auszumachen: es tanzte weiter, genauso graziös wie zuvor. Lawler stocherte hinter der schweren Wölbung der Eingeweide herum, um das Ding loszubekommen. Er drückte hier und zerrte dort. Dann glaubte er, das andere Ende entdeckt zu haben und schnitt zu, aber da war noch immer etwas übrig und etliche Zentimeter mehr entzogen sich ihm gemeinerweise immer wieder. Er schnitt erneut, und diesmal hatte er es zur Gänze erwischt. Er schleuderte es fort, und Kinverson zertrat es.

Inzwischen waren alle hinter Lawler verstummt.

Er begann damit, den Einschnitt wieder zu schließen, doch eine neuerliche zuckende Bewegung ließ ihn innehalten. Noch einer? Ja. Ja, mindestens noch einer. Vielleicht mehr. Martello stöhnte und bewegte sich geringfügig. Dann bäumte er sich plötzlich heftig und schnellte sogar ein Stück vom Deck in die Höhe. Lawler hatte das Skalpell gerade noch rechtzeitig weggerissen, damit er Martello nicht verletzte. Und dann hob sich ein zweiter Aalwurm ans Licht und ein dritter, und sie tanzten den gleichen unheimlichen Tanz wie der erste; dann zog sich der eine in sich selber zurück, verschwand wieder in Martellos Bauchhöhle und schien sich aufwärts in Richtung auf die Lungen durchzuwinden.

Lawler lockte den anderen heraus, halbierte ihn und dann noch einmal und riß das Endstück heraus. Er wartete darauf, daß der andere, der sich zurückgezogen hatte, sich wieder zeige. Dann, kurz darauf, erblickte er ihn flüchtig, gelb und schimmernd in Martellos blutiger Leibesmitte. Aber es war nicht der einzige Aalwurm. Lawler sah jetzt auch die schlanken Schlingen anderer, die geschäftig herumschlängelten und ein Fest feierten. Wie viele waren denn da noch? Zwei, drei? Dreißig?

Lawler hob den Kopf. Sein Gesichtsausdruck war grimmig-ernst. Delagard starrte ihn seinerseits an. In seinen Augen stand ein Ausdruck von Schock, Bekümmerung und Ekel.

»Kannst du die alle rausholen?«

»Nicht die geringste Chance. Er steckt voll davon. Sie fressen sich durch ihn hindurch. Ich könnte schneiden und weiterschneiden, und bis ich sie alle gefunden habe, hätte ich ihn völlig zerschnitten, und auch dann würde ich sie nicht alle entdeckt haben.«

»O Gott!« murmelte Delagard. »Wie lang kann er damit leben?«

»Bis einer von ihnen das Herz erreicht, vermute ich. Und das wird nicht lang dauern.«

»Meinst du, er spürt was?«

»Ich hoffe, nein«, sagte Lawler.


* * *

Martellos Agonie dauerte noch fünf Minuten. Noch nie waren Lawler fünf Minuten derart endlos vorgekommen. Hin und wieder zuckte Martello und bäumte sich auf, wenn ein größeres Nervenbündel attackiert wurde; einmal sah es sogar aus, als wollte er vom Deck auffliegen. Danach gab er ein leises Seufzen von sich, sank zurück, und das Licht in seinen Augen erlosch.

»Es ist vorbei«, murmelte Lawler. Er fühlte sich benommen, ausgehöhlt, erschöpft. Er war über alle Betrübnis, über allen Schock hinaus.

Wahrscheinlich, dachte er, war da sowieso nicht die geringste Chance, Martello zu retten. Es müssen mindestens zehn, zwölf von diesen Aalen in ihn eingedrungen sein, höchstwahrscheinlich viel mehr, ein ganzer Schwärm, die blitzschnell durch seinen Mund oder den Anus hineinglitten und sich zielstrebig durch Fleisch- und Muskelgewebe bis ins Zentrum seines Unterleibes vorarbeiteten. Lawler hatte neun Teile von diesen Wurmaalen extrahiert; aber die übrigen waren noch da und am Werk in Martellos Bauchspeicheldrüse, der Milz, der Leber, den Nieren. Und wenn sie mit diesen Organen, den ›Delikatessen‹, fertig sind, dann machen sie sich mit ihren rötlichen Raspelzungen über den Rest seines Körpers her. Nein, kein chirurgischer Eingriff — und wäre er noch so schnell und fehlerfrei durchgeführt worden — hätte ihn rechtzeitig von diesen Parasiten befreien können.

Neyana brachte eine Decke, und sie wickelten Leo Martello hinein. Kinverson nahm die Leiche in die Arme und ging damit auf die Bordwand zu.

»Warte!« sagte Pilya. »Gib ihm das mit.«

Sie hielt ein Bündel Papierblätter in der Hand. Sie hatte sie wahrscheinlich aus Martellos Kajüte heraufgebracht. Sein berühmtes Gedicht. Sie schob das gefaltete zerfledderte Manuskriptbündel unter die Decke und zog die Falten wieder glatt. Lawler dachte flüchtig daran, Einwände dagegen zu erheben, tat es aber dann nicht. Soll es doch mit ihm dahingehen. Es ist sein Gedicht.

Father Quillan sprach: »Und nun übergeben wir den Leib unseres innig geliebten Leo dem Meer, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes…«

Schon wieder dieser ›heilige Geist‹? Jedesmal wenn er diese Phrasen aus Quillans Mund hörte, fühlte Lawler sich aufs neue gereizt. Es war eine derart absurde Vorstellung, und so sehr er sich auch bemühte, er konnte einfach nicht begreifen, was ein ›heiliger Geist‹ sein mochte. Er schüttelte den Gedanken ab. Für derlei spirituelle Spekulationen war er im Moment sowieso viel zu erschöpft.

Kinverson trug den Leichnam zur Reling und hob ihn hoch. Dann versetzte er dem Kokon einen kleinen Schubs, und er flog hinüber und klatschte in die See.

Sofort erschienen unbekannte Kreaturen wie durch einen Zauberspruch aus der Tiefe. Langgestreckte, schlanke mit Finnen ausgerüstete Wasserwesen, die von einem dichten, seidigschwarzen Fell bedeckt waren. Es waren ihrer insgesamt fünf. Geschmeidige Tiere, sanftäugig, mit dunklen flachen Schnauzen, die von zuckenden schwarzen Schnurrbarthaaren bedeckt waren. Sacht und behutsam umringten sie den treibenden Martello, hoben ihn hoch und begannen ihn aus der umhüllenden Decke zu wickeln. Behutsam, fast zärtlich entblößten sie ihn. Und dann — sanft und beinahe zärtlich — scharten sie sich um den bereits erstarrenden Körper und machten sich daran, ihn zu verzehren.

Es geschah ganz still und gelassen, ganz ohne irgendwelche wütende, unappetitliche Freßgier. Es war entsetzlich und doch zugleich in einer gewissen unheimlichen Weise schön. Ihre Bewegungen wirbelten die See zu einer außergewöhnlich starken Phosphoreszenz auf. Es sah aus, als werde Martello von einem kühlen scharlachroten Flammenregen aufgezehrt. Und langsam explodierte sein Leib in Licht. Diese Geschöpfe demonstrierten eine Anatomiestunde: Sie schälten ihm die Haut mit höchster Sorgfalt ab, legten die Gelenke, Bänder, Muskeln und Nerven bloß. Dann drangen sie tiefer vor. Der Anblick war bestürzend, selbst für Lawler, für den auch die tieferen Bereiche des menschlichen Körpers kein Geheimnis waren; doch die Arbeit wurde dermaßen säuberlich, gelassen und — ehrerbietig ausgeführt, daß es unmöglich war, dabei nicht zuzusehen — oder zu erkennen, wie wunderschön sie ihre Arbeit verrichteten. Schicht um Schicht enthüllten sie den Kern von Martello, bis schließlich nur noch das weiße Knochengitter übrig war. Dann blickten sie zu den Zuschauern an der Reling herauf, als erwarteten sie Beifall. In den Augen strahlte unverkennbar Intelligenz. Lawler sah sie mit den Köpfen nicken, was eigentlich gar nichts anderes als ein Gruß sein konnte, und dann verschwanden sie so lautlos, wie sie erschienen waren. Auch Martellos blankgeputztes Skelett war bereits verschwunden und auf dem Weg in unbekannte Tiefen, wo zweifellos andere Organismen darauf warteten, das darin enthaltene Kalzium einer neuen nützlichen Verwendung zuzuführen. Und nun war von dem lebenstrotzenden jungen Mann, der einmal Leo Martello gewesen war, nichts weiter übriggeblieben als einige Seiten eines Manuskripts, die auf dem Wasser trieben. Und nach einer Weile waren auch sie verschwunden.

Als er später wieder allein und in seiner Kabine war, überprüfte Lawler, wieviel Taubkrautextrakt er noch hatte. Noch etwa für zwei Tage, schätzte er. Er goß die Hälfte in ein Meßglas und kippte sie hinunter.

Ach, zum Teufel, dachte er.

Und er trank auch den Rest.

Zum Teufel, warum nicht?

6

Die ersten Entzugssymptome traten am übernächsten Morgen kurz vor dem Mittag auf: Schweißausbrüche, Schüttelfrost, Übelkeit. Lawler war darauf vorbereitet, oder glaubte doch, es zu sein. Aber sie nahmen sehr rasch an Stärke zu, wurden weit schlimmer, als er erwartet hätte, wurden zu einer derart schweren Prüfung, daß er zweifelte, ob er sie durchstehen konnte. Die Intensität der Schmerzen, die in gewaltigen Schüben über ihn hereinbrachen, erschreckte ihn. Er bildete sich ein, daß er fühlen könne, wie sein Gehirn aufquoll und sich gegen die Schädelwände preßte.

Automatisch suchte er nach seinem Fläschchen, doch das war natürlich leer. Dann hockte er zitternd, fiebernd und elend zusammengekrümmt auf seiner Koje.

Am Nachmittag kam Sundira zu ihm.

»Ist es wegen neulich?« fragte sie.

»Martello? Nein, das ist es nicht.«

»Ja, bist du denn krank?«

Er deutete auf die leere Flasche.

Sie brauchte einen Augenblick, dann verstand sie. »Gibt es irgendwas, das ich tun kann, Val?«

»Halt mich fest.«

Sie bettete seinen Kopf mit beiden Armen an ihrer Brust. Lawler bebte einige Zeitlang ziemlich heftig. Dann wurde er ruhiger, aber er fühlte sich immer noch entsetzlich.

»Sieht aus, als ginge es dir besser«, sagte sie.

»Ein bißchen. Nein, geh nicht weg.«

»Ich bin ja noch da. Möchtest du Wasser?«

»Ja — nein. Nein, bleib da, wo du bist.« Er schmiegte sich fest an sie. Er fühlte, wie das Fieber wieder anstieg, abflachte, erneut anstieg, in plötzlichen übermächtig raschem Wechsel. Die Droge war stärker, als er selbst vermutet hatte, und seine Abhängigkeit, die Suchtbindung an sie war sehr stark gewesen. Und dennoch — der Schmerz kam und ging in Wellen; im Lauf von Stunden gab es immer wieder Momente, in denen er sich beinahe normal fühlte. Das war seltsam. Aber es ließ ihn hoffen. Er scheute nicht vor dem Kampf zurück, wenn es denn sein mußte, doch er wollte am Ende siegen.

Sundira blieb den ganzen Nachmittag bei ihm. Er schlief ein, und als er wieder erwachte, war sie noch immer bei ihm. Seine Zunge war geschwollen. Er war so schwach, daß er nicht aufstehen konnte.

»Hast du gewußt, daß es so sein würde?« fragte sie.

»Ja, ich glaub schon. Vielleicht nicht ganz so schlimm.«

»Wie fühlst du dich jetzt?«

»Mal so, mal so.«

Er hörte eine Stimme draußen. Delagard. »Wie geht’s ihm?«

»Er macht sich Sorgen um dich«, sagte Sundira zu Lawler.

»Wie edel von ihm.«

»Ich sagte ihm, daß du krank bist.«

»Hoffentlich ohne genauere Details?«

»Bestimmt nicht, nein.«


* * *

Die Nacht war entsetzlich. Lawler glaubte eine Zeitlang, er sei dabei, den Verstand zu verlieren. Aber dann kam in den frühen Morgenstunden wieder eine dieser unerklärlichen, unerwarteten Erholungsperioden; als greife etwas aus der Ferne in sein Gehirn und dämpfte das gierige Verlangen nach der Droge. In der Morgendämmerung spürte er, daß sein Appetit zurückkehrte, und als er aufstand — es war das erste Mal seit dem Einsetzen des Fiebers, daß er sich aus seiner Koje erhob —, gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben.

»Du siehst wieder okay aus«, informierte ihn Sundira. »Bist du es auch?«

»Mehr oder weniger, ja. Aber die schlimmen Phasen werden wiederkommen. Das wird ein langes Ringen werden.« Doch als der Schub dann wieder einsetzte, war er weniger heftig als vorher. Lawler fand keine Erklärung dafür. Er hatte mit drei, vier, fünf Tagen sogar von äußerst entsetzlichen Qualen gerechnet, auf die dann — vielleicht — eine stufenweise Linderung der Tortur folgen würde, während sein Metabolismus sich mehr und mehr von der Sucht entwöhnte. Aber dies war ja erst der zweite Tag.

Und wieder dieses Gefühl eines Eingreifens von außerhalb, des Geführtseins, Gestütztseins, als zöge ihn etwas aus seinem Morast.

Dann wieder die Anfälle von Tremor und Schwitzen. Und danach eine neuerliche Periode der Erholung, die fast einen halben Tag anhielt. Er wagte sich an Deck und genoß die frische Luft und wanderte langsam auf und ab. Zu Sundira sagte er, daß er glaube, allzu leicht davonzukommen.

»Sei dankbar«, sagte sie.

Als die Nacht kam, litt er wieder. Auf und ab, an und aus. Aber insgesamt sah der Verlauf günstig aus. Er schien auf dem Wege der Erholung zu sein. Und am Ende der Woche traten nur noch ab und zu kurze Momente des Unwohlseins auf. Er betrachtete die leere Drogenflasche — und grinste.


* * *

Die Luft war klar, der Wind wehte kräftig. Die Queen of Hydros zog rasch weiter auf ihrem Südwestkurs um die Wasserkugel.

Tag für Tag, ja beinahe Stunde um Stunde, nahm die Phosphoreszenz im Meer zu. Die ganze Welt begann zu leuchten. Wasser und Himmel schimmerten Tag und Nacht. Alptraumhafte Geschöpfe von einem Halbdutzend unvertrauter Spezies brachen aus dem Wasser, segelten kurz über sie hinweg und landeten unter gewaltigem Spritzen in der Ferne. Riesige Mäuler gähnten in der Tiefe.

Die meiste Zeit herrschte Schweigen an Bord der Queen. Alle gingen ruhig und tüchtig ihren Pflichten nach. Und es gab viel zu tun, denn es waren jetzt ja nur noch elf Mann übrig, um die Arbeit der vierzehn zu tun, die beim Start an Bord gewesen waren. Der übermütige, fröhliche, optimistische Leo Martello hatte den übrigen weitgehend den Ton angegeben; mit seinem Tod änderten sich unvermeidlicherweise die Dinge.

Außerdem kam dieses ›Antlitz‹ näher (oder sie ihm). Auch dies mußte etwas mit der zunehmend düsteren Stimmung zu tun haben, dachte Lawler.

Noch konnte man nichts von dem Land hinter dem Horizont entdecken, aber alle wußten, daß es dort, nicht weit entfernt, wartete. Jeder spürte das. Es lag wie ein fühlbares Numen über dem Schiff. Seine Wirkungen waren unbestimmbar, aber unverkennbar. Hier ist etwas, dachte Lawler immer wieder, und es ist mehr als eine bloße Insel. Es ist etwas mit einem wachsamen Bewußtsein. Und wartet auf uns.

Er schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können. Unsinnige Phantastereien, Spuk aus Fieberträumen, törichte substanzlose Gedanken. Ich leide immer noch unter Entzugserscheinungen, sagte er sich. Und er war sehr wackelig, energielos und fühlte sich verwundbar.

Aber sein Kopf beschäftigte sich weiter mit dem ›Antlitz‹. Er mühte sich, aus seiner Erinnerung zu graben, was Jolly ihm vor langer, langer Zeit über »das Feste über den Wassern« erzählt hatte; doch alles blieb undeutlich und verschwommen unter den dreißigjährigen Erinnerungsschichten. Ein wildes Wunderland, hatte Jolly. gesagt. Voll von Pflanzen, die ganz anders waren als jene, die im Meer wuchsen. Aber Pflanzen. Unbekannte Farben, helles Licht, das Tag und Nacht schien, ein fremdartiges Reich, fern am Ende der Welt, wunderschön und unheimlich. Hatte Jolly etwas über Tiere gesagt? Irgendwelche landbewohnende Wesen? Nein, nichts, woran Lawler sich erinnern konnte. Kein tierisches Leben, nur dichter Dschungel.

Aber da war doch noch etwas gewesen, etwas über eine Stadt…

Nicht auf dem Land. Sondern in der Nähe.

Wo? Im Ozean? Das vermochte er sich nicht vorzustellen. Er versuchte sich an die Tage zu erinnern, die er mit Jolly am Wasser verbracht hatte, an den ledergesichtigen sonnenverbrannten alten Mann, der mit wiegendem Oberkörper unermüdlich die Angelhaken auswarf und unermüdlich redete und redete…

Eine Stadt. Eine Stadt im Meer. Unter dem Meer…

Lawler bekam ein Endchen der Erinnerung zu fassen, es entglitt ihm wieder, er stürzte sich darauf, bekam es nicht in den Griff, er griff erneut zu…

Eine Stadt unter dem Meer. Ja. Ein Tor im Ozean, das sich einem Gang öffnet, irgendeine Art von Schwerkraftschacht, der hinab zu einer grandiosen Unterwasserstadt führt, die von Gillies bewohnt wird, eine verborgene Stadt von Gillies, die über die inselbewohnenden Gillies ebenso hoch erhaben waren, wie es Könige über Bauern sind… Gillies, die lebten wie die Götter, die niemals an die Oberfläche stiegen, die abgeschottet in druckstabilen Gewölben in erhabener Majestät und unübertrefflichem Luxus lebten…

Lawler mußte lächeln. So war das also, ja. Eine großartige Fabel, ein Märchen von Pracht und Reichtum. Das raffinierteste, schillerndste von allen Seemannsgarnen, die Jolly gesponnen hatte. Er erinnerte sich nun, wie er damals sich vorzustellen versucht hatte, wie diese Stadt aussah, wie er sich ausmalte, daß hochgewachsene, unendlich majestätische Gillies würdevoll durch hohe Torbögen in schimmernde Palasthallen schritten. Und jetzt, in der Erinnerung, kam er sich wieder vor wie der Junge von damals, der zu den Füßen des alten Seemanns kauerte und mit großen Augen die Wunder zu verstehen suchte, von denen die rauhe grobe Stimme ihm erzählte.


* * *

Auch Father Quillan hatte lange über das Problem dieses ›Antlitzes‹ nachgedacht.

»Ich habe eine neue Theorie darüber«, verkündete er.

Der Priester hatte den ganzen Vormittag damit zugebracht, in der Nähe von Gharkids Kranbrücke zu hocken und gemeinsam mit ihm zu meditieren. Lawler, der an ihnen vorbeiwanderte, hatte sie verblüfft angestarrt. Beide schienen in Trance versunken zu sein. Ihre Seelen konnten durchaus auf einer völlig anderen Bewußtseinsebene weilen.

»Ich habe meine Ansicht geändert«, erklärte Quillan. »Du erinnerst dich vielleicht, daß ich dir früher gesagt habe, ich sei überzeugt, daß dieses Land über den Wassern das Paradies sein muß, daß GOTT in EIGNER PERSON dort umherwandle, die Prima Causa, der SCHÖPFER. Er, zu dem alle unsere Gebete sich richten. Nun, das glaube ich jetzt nicht mehr.«

»Schön und gut«, sagte Lawler gleichgültig. »Dann ist eben das ›Antlitz‹ nicht Gottes persönlicher Vaargh. Wenn du das meinst. Du verstehst von dem Zeug mehr als ich.«

»Nicht GOTTES Vaargh, nein. Aber eindeutig die Behausung irgendeines Gottes. Das ist das exakte Gegenteil meiner ursprünglichen Ansicht über die Insel, wie du siehst. Und von allem, was ich jemals über die Natur des Göttlichen geglaubt habe. Ich stehe im Begriff, in abgrundtiefe Häresie zu verfallen. In diesen meinen späten Lebensjahren werde ich zum Polytheisten. Zu einem Heiden! Das kommt sogar mir selbst absurd vor. Und dennoch glaube ich aus ganzem Herzen daran.«

»Ich versteh dich nicht. Ein Gott, der Gott — was macht das schon für einen Unterschied? Wenn du an einen Gott glauben kannst, dann kannst du ebenso leicht an eine x-beliebige Zahl von ›Göttern‹ glauben, soweit ich die Sache kapiere. Der Trick dabei ist, daß man erst mal an einen glaubt, und ich kann mich nicht mal soweit bringen.«

Der Priester strahlte ihn mit einem liebevollen Lächeln an. »Du verstehst es wirklich nicht, nicht wahr? Die klassische christliche Tradition, die aus dem jüdischen und, soweit wir wissen, aus uralten ägyptischen Glaubenskonzepten entsprungen ist, lehrt, daß Gott eine einzige unteilbare Einheit ist. Daran habe ich nie gezweifelt. Ich habe noch nicht einmal je daran gedacht, daran zu zweifeln. Wir Christen sprechen zwar von IHM als einer Trinität, einer Dreifaltigkeit, doch wir glauben, daß dies eine Drei-Einigkeit ist. Für einen Ungläubigen mag das verwirrend klingen, aber wir wissen, was es bedeutet. Es gibt da keinerlei Disput: Es gibt nur einen Gott… Aber während der letzten paar Tage — nein, sogar in den letzten paar Stunden…« Der Priester verstummte. Dann sprach er weiter: »Laß mich eine Analogie aus der Mathematik zuhilfe nehmen. Weißt du, was das ›Gödelsche Theorem‹ ist?«

»Nein.«

»Also, ich auch nicht, nicht so genau jedenfalls. Aber ich kann es dir ungefähr erklären. Ich glaube, es ist ein Lehrsatz aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Gödel stellt die Behauptung auf — und es ist bisher niemandem gelungen, sie zu widerlegen — daß dem rationalen Bereich der Mathematik fundamentale Grenzen gesetzt sind. Wir können sämtliche Annahmen im mathematischen Denken beweisen — bis zu einem bestimmten fundamentalen Punkt, und dort stoßen wir an eine Grenze, wo wir einfach nicht mehr weitergehen können. Letztlich stellen wir fest, daß wir über das Verfahren des mathematisch Beweisbaren in einen Bereich unbeweisbarer Axiome hinabgestiegen sind, wo wir die Dinge einfach gutgläubig akzeptieren müssen, wenn unser Universum einen Sinn für uns ergeben soll. Und was wir dabei erreichen, sind die Grenzen der Vernunft. Wollen wir darüber hinausgehen — ja überhaupt wirklich weiterdenken —, so sind wir gezwungen, unsere Definitionsaxiome als wahr zu akzeptieren, obwohl wir sie nicht beweisen können. Kannst du mir folgen?«

»Ich denke schon.«

»Also gut. Ich stelle die These auf, daß mit dem Gödelschen Theorem die Trennlinie zwischen den Göttern und den Sterblichen gekennzeichnet ist.«

»Ach, wirklich«, sagte Lawler.

»Ja, das meine ich. Damit ist die Grenze für menschliches Denken gesteckt. Die Götter leben jenseits dieser Grenze. Götter sind per definitionem demnach Wesen, die nicht durch die Gödelschen Grenzen eingeschränkt sind. Wir Menschlichen leben in einer Welt, in der die Realität letztendlich zu irrationalen Annahmen und Vermutungen immer feiner zerspellt, oder doch zumindest zu Annahmen, die nicht-rational, da unbeweisbar sind. Götter leben in einem Bereich des Absoluten, in dem das Real-Existente nicht nur festgelegt und erfahrbar ist, bis weit über das uns denkmögliche axiomatische Niveau hinaus, sondern wo auch göttliche Steuerung es neu bestimmen und umgestalten kann.«

Hier nun fühlte Lawler in diesem Gespräch zum erstenmal so etwas wie Interesse in sich aufflackern. »Die Galaxis wimmelt von Wesen, die nichtmenschlich sind, aber ihre Mathematik ist auch nicht besser als unsere, oder? Wie passen die denn in dein Schema?«

»Laß uns doch alle mit Intelligenz behafteten Wesen, die in den Bereich der Gödelschen Beschränkung fallen, einfach als menschlich bezeichnen, ungeachtet ihrer wirklichen biologischen Gattungsbezeichnung. Dann sind alle Wesen, gleich welcher Art, die in ultra-gödelianischen Bereichen der Logik denken können, eben Götter.«

Lawler nickte. »Weiter.«

»Laß mich dir nun mein Konzept unterbreiten, das mir heute morgen zukam, während ich dort oben saß und über dieses Land über den Wassern nachdachte. Ich gebe zu, es ist die schwärzeste Häresie. Aber ich hatte auch früher schon abweichlerische Gedanken — und hab es überlebt. Allerdings ging ich nie so weit wie jetzt.« Und wieder lächelte Father Quillan seelenvoll-verzückt und milde. »Nehmen wir einmal an, daß diese Götter nun ihrerseits an eine Gödelsche Grenze stoßen müssen, einen Punkt, an dem ihr Ratio-Potential — also ihre ihnen eigenen Kräfte des Schöpferischen, beziehungsweise Neuschöpferischen — ebenfalls gegen eine Barriere läuft. So wie es bei uns ist, nur auf einem qualitativ verschiedenen Niveau, gelangen sie dann eventuell an einen Punkt, an dem es heißt, bis hierher und nicht weiter.«

»Die äußerste Grenze des Universums«, sagte Lawler.

»Nein! Nur ihre äußerste Grenze. Es kann doch durchaus sein, daß es über ihnen noch größere Götter gibt. Die Götter, von denen wir hier reden, sind genau wie wir Sterblichen in einer umfangreicheren Realität eingekapselt, die von einer anderen Mathematik bestimmt ist, zu der sie keinen Zugang haben. Sie blicken aufwärts zu der nächsthöheren Realität und der übergeordneten Schar von Göttern. Und die wiederum — also die Bewohner jener höheren weiteren Realität — haben gleichfalls wieder eine Gödelsche Begrenzungsmauer um sich, außerhalb derer sogar noch größere Götter als sie hausen. Und so geht es weiter und weiter und weiter.«

Lawler war ganz benommen. »Und das geht so weiter bis ins Unendliche?«

»Ja.«

»Aber definierst du nicht einen Gott als etwas Unendliches? Wie kann dann ein Unendliches kleiner sein als die Unendlichkeit?«

»Ein bestehendes Unendliches kann in einem anderen bestehenden Unendlichen enthalten sein. Ein bestehendes Unendliches kann eine unendliche Zahl von Untergruppen des Unendlichen enthalten.«

»Wenn du meinst«, sagte Lawler. Er wurde allmählich etwas unruhig. »Aber was hat das alles mit diesem ›Antlitz‹ zu tun?«

»Wenn dieses Land ein wahres Paradies ist, unverderbt, jungfräulich — eine Heimstatt des Heiligen Geists —, dann ist es sehr wohl möglich, daß es von höheren Wesenheiten bewohnt ist, die von hoher Reinheit und Macht sind. Wir von der Kirche nannten das einst ›Engel‹. Oder ›Götter‹, wie die Vertreter älterer Religionen gesagt haben mögen.«

Verlier nicht die Geduld, befahl sich Lawler. Der meint diesen Quatsch offensichtlich ganz ernst. »Und diese höheren Wesen oder Engel oder Götter, egal, welchen Namen wir ihnen geben wollen — die sind dann jeweils die post-gödelianischen Lokal-Genien, hab ich das so richtig begriffen? Götter für uns. Götter für die Gillies ebenfalls, denn das ›Antlitz‹ scheint ja so was wie ein Heiliger Ort für sie zu sein. Aber nicht für GOTT-PERSÖNLICH, den ALLMÄCHTIGEN, deinen Gott, den deine Kirche verehrt, den Ur-Schöpfer der Gillies und Menschen und alles sonstigen im Universum. Den wirst du hier aber nicht finden, jedenfalls nicht sehr oft. Dieser Gott steht auf der Realitätsskala ein bißchen weiter oben. Und er lebt bestimmt nicht auf irgendeinem bestimmten Planeten. Der ist irgendwo weiter droben in viel Höheren Bezirken, in einem größeren Universum. Aber vielleicht schaut er gelegentlich mal runter, um zu überprüfen, wie sich die Sache hier so anläßt.«

»Genau.«

»Und sogar der ist nicht ganz oben an der Spitze?«

»Es gibt keine Spitze«, beschied ihm Father Quillan. »Es gibt nur eine immer höher aufsteigende, sich entfernende Leiter, eine Stufung von Göttlichkeit, und sie reicht vom Wenig-mehr-als-ein-Sterblicher ins äußerst Unfaßbare. Ich weiß nicht, welchen Rang die Bewohner des ›Antlitzes‹ auf dieser Stufenleiter einnehmen, aber höchstwahrscheinlich stehen sie ein wenig höher als wir. Und — GOTT — der — ALLMÄCHTIGE ist diese ganze Leiter. Denn Gott ist unendlich, also kann es kein festbestimmtes einzelnes Niveau des Göttlichen geben, sondern nur eine ewiglich sich fortsetzende Reihe… es gibt keinen Höchsten Gott, sondern nur Höhere und Höhere und Noch Höhere — ad infinitum. Und dieses ›Antlitz‹ da, das hat wohl nur einen mittleren Platz auf dieser Skala.«

»Ich verstehe«, sagte Lawler zweifelnd.

»Und durch die Meditation über derartige Dinge kann man sich dem Verständnis der höheren Unendlichkeiten annähern, auch wenn wir natürlich definitionsgemäß niemals die Allerhöchste von ihnen werden erfassen können, denn um dies zu tun, müßte man ja größer als die größte der Unendlichkeiten sein.« Quillan blickte zum Himmel auf und breitete die Arme auf beinahe selbstparodistische Weise aus. Dann wandte er sich wieder Lawler zu und sprach mit völlig veränderter Stimme weiter. »Endlich, mein lieber Doktor, habe ich erkannt, warum ich als Priester versagt habe. Es muß mir irgendwie die ganze Zeit hindurch bewußt gewesen sein, daß der Gott, nach dem ich suchte, die Eine Höchste Wesenheit, die uns behütet und bewacht, aufs äußerste unerreichbar ist. Was unser kleines Leben angeht, so gibt es IHN gar nicht. Oder wenn es IHN gibt, dann in einer Gegend, die von unserem Leben dermaßen weit entfernt ist, daß es IHN auch gleich ganz und gar nicht zu geben brauchte. Jetzt, endlich, begreife ich, daß ich mich auf die Suche nach einem kleineren, weniger erhabenen und enthobenen Gott machen muß, einem Gott, der unserem Bewußtseinsniveau näher ist. Lawler, begreifst du, zum erstenmal in diesem meinem Leben sehe ich eine Möglichkeit für mich, ein wenig Ruhe zu finden!«

»Was quasselt ihr zwei denn da für ’n Scheiß?« sagte Delagard, der unbemerkt hinter ihnen aufgetaucht war.

»Theologischen Scheiß«, sagte Father Quillan.

»Aha — aha! Wohl wieder ’ne neue Offenbarung?«

»Setz dich«, sagte der Priester. »Dann erkläre ich dir alles.«


* * *

Im Feuer der Begeisterung über die Logik seiner neuesten Offenbarung strich Quillan auf dem Schiff umher und erbot sich, sie jedem zuteil werden zu lassen, der ihm zuhören wollte. Doch er stieß meist auf taube Ohren.

Einzig Gharkid zeigte gesteigertes Interesse. Lawler hatte stets vermutet, daß das seltsame Männchen einen tiefen Hang zum Mystizismus in sich trug; und jetzt konnte man Gharkid in höchster Konzentration dasitzen und mit leuchtenden Augen in sich hineintrinken sehen, was der Priester absonderte. Aber wie gewohnt, bot Gharkid auch jetzt keine eigenen Kommentare, sondern stellte nur ab und zu leise eine Frage.

Sundira verbrachte eine Stunde unter Quillans Suada, und als Lawler sie dann traf, wirkte sie nachdenklich und verwirrt. »Der arme Mann«, sagte sie. »Ein Paradies… und heilige Gespenster, die durchs Unterholz ziehen und den Pilgern ihre Segnungen anbieten… Diese vielen Wochen auf See müssen ihn um den Verstand gebracht haben.«

»Falls er je so was besessen haben sollte.«

»Er sehnt sich so stark danach, sich an etwas ausliefern zu können, das größer und weiser ist als er. Er hetzt schon sein ganzes Leben lang hinter seinem Gott her. Aber ich glaube, er sucht einfach nach einem Weg, wie er wieder zurück in den Schoß seiner Mami kriechen kann.«

»Wie scheußlich zynisch, so was zu sagen.«

»Aber stimmt es denn nicht?« Sundira bettete den Kopf in Lawlers Schoß. »Was hältst du denn davon? Ergibt irgendwas von seinem mathematischen Hokuspokus irgendeinen Sinn für dich? Oder seine Theologie? Das Paradies? Eine Insel der Heiligen Geister?«

Er strich ihr über das dichte dunkle Haar. Die Wochen und Monate der Reise hatten es gröber werden lassen, und es sah brüchig und kraus aus, war aber noch immer wunderschön.

»Teilweise schon. Jedenfalls begreife ich seine Metaphorik. Aber es ist bedeutungslos, verstehst du? Für mich. Meinetwegen soll es eine Unendlichkeit von klar abgestuften Schichten von Göttern im Universum geben, und jeder davon genau sechzehnmal mehr Augen haben als die im Rang unter ihm, und Quillan könnte mir den absoluten unwiderlegbaren Beweis für die tatsächliche Existenz des ganzen höchst raffinierten Zaubers liefern, und es würde mir noch immer nichts bedeuten. Ich lebe in dieser Welt — und nur hier —, und hier gibt es keine Götter. Und was möglicherweise in höheren Rängen passiert, falls es die gibt, dann kratzt mich das nicht.«

»Das bedeutet aber nicht, daß es keine höheren Ränge gibt.«

»Nein. Da hast du wahrscheinlich recht. Aber wer kann das schon wissen? Der alte Seebär, der uns als erster von dem Land über den Wassern berichtet hat, der hatte auch ein Märchen, eine wilde Geschichte von einer großen Stadt unter der See, dicht an der Küste, die von Super-Sassen bewohnt war. Nun, das könnte ich ebenso leicht glauben, nehme ich an, wie Quillans theologisches Potpourri. Aber tatsächlich glaube ich gar nichts davon. Kann einfach nicht. Für mich ist die eine Vorstellung ebenso unsinnig wie die andere.«

Sie bog den Kopf zu ihm hoch und blickte ihn an. »Aber nehmen wir doch nur mal hypothetisch an, es gibt wirklich in der Nähe von diesem ›Antlitz‹ eine unterseeische Stadt, und dort lebt wirklich eine besondere Art von Sassen. Wenn das so wäre, dann würde sich damit erklären, warum die uns bekannten Sassen dieses ›Antlitz‹ als eine heilige Insel ansehen und sich davor fürchten, sie zu betreten oder auch nur in ihre Nähe zu gehen. Und wenn das nun götter-ähnliche Wesen sind, die dort wohnen?«

»Warten wir doch ab und sehen, was dort ist, wenn wir dort sind, dann gebe ich dir darauf eine Antwort, gut so?«

»Ja, gut so«, sagte Sundira.


* * *

Um die Mitte der Nacht fand sich Lawler plötzlich hellwach, und es war jene Art von Wachheit, die mit Gewißheit bis zur Dämmerung anhalten würde. Er richtete sich auf, rieb sich die schmerzende Stirn und hatte auf einmal das Gefühl, daß jemand ihm den Schädel aufgeklappt habe, während er schlief, und ihn mit einer Million blitzender dünner, glühender Drähtchen vollstopfte, die nun mit jedem seiner Atemzüge sich gegenläufig aneinander rieben.

Außerdem war da jemand in seiner Kabine. Im schwachen Sternenlicht, das durch das eine Bullauge drang, erblickte er vor der Wand eine große breitschultrige Gestalt, die ihn still zu betrachten schien. Kinverson? Nein, nicht ganz wuchtig genug für Kinverson, und wozu sollte auch Kinverson bei ihm mitten in der Nacht in die Kabine kommen? Aber kein anderer Mann an Bord war auch nur annähernd so groß.

»Wer ist da?« fragte Lawler.

»Erkennst du mich denn nicht, Valben?« Eine dunkle Stimme, wundervoll ruhig und selbstsicher.

»Wer bist du?«

»Schau nur genau her, Junge.« Der Eindringling drehte sich zur Seite, so daß sein Profil ins Licht kam. Lawler erblickte ein kräftiges Kinn mit einem dichten schwarzen Krausbart, eine gerade Herrschernase. Vom Bart abgesehen, hätte es sein eigenes Gesicht sein können. Nein, die Augen waren anders. In ihnen lag ein starkes Leuchten, und der Ausdruck darin war zugleich strenger und mitleidvoller, als dies bei Lawler der Fall war. Er kannte diesen Ausdruck. Ein Schaudern lief ihm über den Rücken.

»Ich hab gedacht, ich bin wach«, sagte er ruhig. »Aber jetzt merke ich, daß ich noch immer träume. Hallo, Vater. Schön, dich mal wieder zu sehen. Es ist schon so lang her.«

»Ach ja? Nicht für mich.« Der große Mann trat ein paar Schritte auf ihn zu. In der engen Kabine brachte ihn das fast an die Kante der Koje. Er trug ein dunkles altmodisches zerknittertes Oberkleid, an das Lawler sich gut erinnerte. »Es muß aber doch schon eine Weile her sein. Du bist jetzt ja ganz erwachsen, Sohn. Älter als ich, nicht wahr?«

»So ungefähr gleichaltrig inzwischen.«

»Und bist ein Doktor. Ein guter, wie ich höre.«

»Nein, nicht wirklich. Ich geb mein Bestes. Aber das ist nicht gut genug.«

»Dein Bestes ist immer gut genug, Valben, wenn es wirklich dein Bestes ist. Das habe ich dir doch oft genug gesagt, aber wahrscheinlich hast du mir nicht geglaubt. Solange du dich nicht schonst und dich drückst, solange dir wirklich was an deiner Arbeit liegt. Ein Arzt, Junge, der kann im Privaten ein absoluter Schweinehund sein, aber solange er sich um seine Patienten sorgt, ist er in Ordnung. Solang er begreift, daß er da ist, um zu beschützen, zu heilen, zu lieben. Und ich glaube, du hast das begriffen.« Er setzte sich ans Ende der Koje. Er schien sich hier durchaus nicht fremd zu fühlen. »Du hattest keine Familie, nicht wahr?«

»Nein, Herr… Vater.«

»Schlimm-schlimm. Du wärst auch ein guter Vater geworden.«

»Wär ich das?«

»Es hätte dich natürlich verändert. Aber ich denke, zum Besseren. Bereust du es nicht?«

»Ich weiß nicht so recht. Vielleicht. Ich bereue eine ganze Menge. Ich bedaure, daß meine Ehe schiefgegangen ist. Daß ich nie wieder geheiratet habe. Ich bedaure, daß du so schrecklich früh gestorben bist, Vater.«

»War es denn so früh?«

»Für mich schon.«

»Ja. Ja, wahrscheinlich hast du recht.«

»Ich hab dich geliebt, Vater.«

»Auch ich hab dich geliebt, Junge. Ich liebe dich immer noch. Ich liebe dich sehr. Und ich bin sehr stolz auf dich.«

»Du redest, als lebtest du noch. Aber das alles ist bloß ein Traum. Also kannst du sagen, was du willst, ja?«

Die Gestalt erhob sich und trat wieder ins Dunkel zurück. Es sah aus, als umhüllte sie sich mit Schatten.

»Es ist kein Traum, Valben.«

»Nein? Ja also dann… Du bist doch trotzdem tot, Vater. Schon seit fünfundzwanzig Jahren. Wenn das kein Traum ist, wieso bist du dann hier? Wenn du ein Gespenst bist, ein Geist, wieso hast du dir so lange Zeit gelassen, bevor du mich heimsuchst?«

»Weil du niemals zuvor dem ›Antlitz‹ so nahe gewesen bist.«

»Was hat denn das mit dir oder mir zu tun?«

»Ich lebe dort, Valben.«

Lawler mußte unwillkürlich lachen. »Sowas könnte ein Gillie sagen. Nicht du.«

»Nicht nur Gillies werden dorthin versetzt und wohnen dort, mein Sohn.«

Die ruhige, sachliche und bestürzende Behauptung hing in der Luft wie eine Wolke voll ansteckender Giftkeime. Er begann allmählich zu begreifen, und in ihm stieg Verärgerung auf.

Er fuchtelte mit den Händen wütend gegen das Phantom. »Verschwinde von hier. Laß mich schlafen!«

»Ist das eine Art, mit deinem Vater zu sprechen?«

»Du bist nicht mein Vater. Du bist entweder ein besonders übler Traum oder eine trügerische Illusion, die von irgendeinem telepathischen Seeigel oder Drachenfisch da draußen im Ozean ausgelöst wird. Mein Vater würde niemals so was gesagt haben. Nicht mal wenn er als Gespenst wiederkommen würde — was er übrigens ebenfalls nicht getan hätte. Herumspuken, das hätte nicht zu seinem Stil gepaßt. Also, verschwinde und laß mich in Ruhe!«

»Valben, Valben, Valben!«

»Was willst du denn noch? Wieso läßt du mich denn nicht in Frieden?«

»Valben, mein Junge…«

Lawler merkte plötzlich, daß er die hohe Schattengestalt nicht mehr sehen konnte.

»Wo bist du?«

»Überall um dich herum und nirgendwo.«

Lawler schwirrte der Kopf. In seinem Magen drehte sich etwas. Im Dunkel tastete er nach seiner Taubkrautflasche. Dann fiel ihm ein, daß sie leer war.

»Was bist du?«

»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, und wäre er auch tot, soll das Leben haben.«

»Nein!«

»Gott schütz dich, alter Seemann! Vor deinen bösen Feinden, die dich so quälen…«

»Das ist Wahnsinn! Hör auf! Schluß damit! Verschwinde von hier! Raus!« Er zitterte jetzt, als er nach seiner Lampe tastete. Das Licht würde diesen Spuk vertreiben. Doch noch ehe er die Lampe fand, spürte er mit großer Schärfe, daß er wieder allein war, und begriff, daß die Vision (oder was sonst es gewesen war) ihn freiwillig verlassen hatte.

Dieses Verschwinden hinterließ eine unerwartete, sirrende Leere.

Lawler empfand das wie einen Schock, wie nach einer Amputation. Dann hockte er eine Weile auf der Kante seines Lagers, schweißüberströmt und frierend wie in den scheußlichsten Momenten seiner Entzugsphasen.

Dann stand er auf. An Schlaf war wahrscheinlich jetzt nicht mehr zu denken. Er stieg an Deck. Am Himmel hingen ein paar Monde, die durch die aus der See aufsteigende Lumineszenz eine ungewohnte blauviolette und grüne Tönung hatten, einer Lumineszenz, die vom westlichen Horizont heraufquoll und nun die ganze Zeit in der Luft zu hängen schien. Das ›Hydros-Kreuz‹ selbst, schief wie ein weggeworfenes Stück Filigranschmuck an einem Himmelswinkel hängend, pulste von Farbe, was Lawler noch nie vorher erlebt hatte: Von den zwei großen Armen strömten starke verwirrende türkis- und bernsteinfarben, scharlachrote und ultramarinfarbene Schlieren.

Niemand schien Deckdienst zu machen. Die Segel standen, das Schiff zog gefügig in der leichten steten Brise dahin, aber an Deck schien niemand zu sein. Das versetzte Lawler für einen Moment einen scharfen Stich der Angst. Eigentlich hätte die Erste Wache Dienst tun müssen: Pilya, Kinverson, Gharkid, Felk, Tharp. Wo steckten die denn? Sogar am Ruder stand keiner. Steuerte das Schiff sich etwa selber?

Anscheinend ja. Und ab vom Kurs noch dazu. In der letzten Nacht, erinnerte er sich, war das KREUZ steuerbords vom Bug gestanden. Jetzt stand es querschiff. Sie zogen nicht länger nach West-Südwest, sondern waren in scharfem Winkel vom Kurs abgewichen.

Benommen schlich er sich übers Deck. Als er zum Heckmast kam, sah er dort Pilya auf einer Taurolle schlafen, und gleich daneben schnarchte Tharp. Wenn Delagard das wüßte, er würde sie auspeitschen. Und nicht weit davon saß Kinverson mit dem Rücken gegen die Reling. Seine Augen standen offen, aber auch er schien zu schlafen.

»Gabe?« sagte Lawler leise. Er kniete nieder und fuhr mit den Fingern vor Kinversons Gesicht hin und her. Keine Reaktion. »Gabe, was ist denn los? Bist du hypnotisiert?«

»Er erholt sich«, kam überraschend von hinten die Stimme von Onyos Felk. »Stör ihn nicht. Es war eine harte Nacht. Wir haben stundenlang in der Takelung geschuftet. Aber schau mal jetzt: Da — da direkt vor uns liegt das LAND. Und wir machen gute Fahrt darauf zu.«

Land? Wann hatte je einer auf Hydros von Land gesprochen?

»Was quasselst du da?« fragte Lawler.

»Dort. Siehst du es nicht?«

Felk zeigte unbestimmt in Richtung Bug. Lalwer schaute hin und sah — nichts, nur die Weite der leuchtenden See und einen klaren Horizont, der sich einzig durch ein paar tiefstehende Sterne und eine sich in mittlerer Höhe ausbreitende dichte Wolke auszeichnete. Und der schwarze Vorhang hinter dem Firmament schien unheimlich in einer wilden brennenden Aurora zu lodern. Überall Farben, ungewohnte Farben, eine Phantasia niegesehenen Lichts. Aber kein Land.

»Während der Nacht«, sagte Felk, »hat sich der Wind gedreht und uns da drauf zugetrieben. Was für ein unglaublicher Anblick das ist! Diese Berge! Diese grandiosen Täler! Hättest du es je für möglich gehalten, Doc? Das Feste über den Wassern!« Felk klang, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Mein ganzes Leben lang hab ich auf meine nautischen Karten gestarrt und diesen dunklen Flecken auf der anderen Halbkugel gesehen — und jetzt — jetzt schauen wir ihn direkt — von Angesicht zu Angesicht, Doc! Das ›Antlitz‹ selbst!«

Lawler preßte die Arme eng an die Flanken. In der tropisch-heißen Nacht überlief ihn plötzlich ein Frostschauder. Er sah noch immer ganz und gar nichts, nur die unendlich sich breitende rollende See.

»Hör mal, Onyos, falls Delagard verfrüht an Deck kommt und eure ganze Wache da schlafend vorfindet, dann weißt du doch, was passiert. Um Himmels willen, wenn du sie schon nicht wecken willst, dann tu ich es!«

»Laß sie schlafen. Bis zum Morgen haben wir das ›Antlitz‹ erreicht.«

»Welches Antlitz? Wo?«

»Na dort, Mann! Dort!«

Lawler sah noch immer nichts. Er eilte nach vorn. Am Bug entdeckte er Gharkid, den letzten dieser Wache, der ihm noch gefehlt hatte, mit überkreuzten Beinen wie eine Statue oben auf dem Vordeck thronen. Den Kopf hatte er in den Nacken geworfen, und die Augen standen weit offen und waren starr wie zwei Murmeln. Genau wie Kinverson befand er sich ganz und gar in einem entrückten Zustand.

Verwirrt spähte Lawler in die Nacht hinaus. Das bestürzende labyrinthische Farbenspiel tanzte weiter vor ihm, aber sonst sah er immer noch nur leere See und einen leeren Himmel voraus. Dann veränderte sich auf einmal etwas. Als wäre sein Sehvermögen getrübt gewesen und als könnte er auf einmal endlich wieder klar sehen. Er gewann den Eindruck, als hätte sich ein Teil des Himmels abgelöst und sich auf die Fläche des Wassers niedergesenkt und bewegte sich nun dort auf höchst komplizierte Weise, als ballte sich dieses Etwas in sich zusammen und noch einmal, bis es wie ein zerknautschter Papierbogen aussah, und dann wie ein Bündel von Stäben, und dann wie ein Gewirr von wütenden Schlangen, und dann wie Kolben, die von einer unsichtbaren Maschinerie bewegt werden. Über dem Horizont war in ganzer Breite ein zuckendes in sich verschlungenes Netzgeflecht von unerahnbarer Beschaffenheit aufgetaucht. Die Augen schmerzten ihn vom Hinschauen.

Felk kam zu ihm.

»Na, siehst du es jetzt? Ja?«

Lawler merkte, daß er ziemlich lange den Atem angehalten hatte. Er stieß ihn langsam aus.

Etwas wie eine Luftbrise, aber es war etwas anderes, wehte ihm ins Gesicht. Er wußte, es konnte kein Wind sein, denn diesen konnte er ebenfalls fühlen, und er wehte vom Heck her, und als er in die Masten schaute, sah er, daß die Segel sich nach vorn bauschten. Also keine Brise. Eine — Ausstrahlung. Eine Kraft. Strahlung. Auf ihn gerichtet. Er spürte es sacht durch die Luft knistern, fühlte, wie es ihm gegen die Wangen schlug wie feine Eiskristalle in einem Wintersturm. Er stand bewegungslos da, von Furcht und Ehrfurcht wie gelähmt.

»Siehst du?« fragte Felk noch einmal.

»Ja. Ja, jetzt sehe ich es.« Er wandte sich dem Kartographen zu. In dem seltsamen Licht, das von Westen her über sie hereinströmte, sah Felks Gesicht aus wie eine gemalte Trollmaske. »Trotzdem weckst du wohl lieber die Leute von deiner Deckswache. Ich gehe runter und wecke Delagard. Wie immer man es ansieht, er hat uns schließlich bis hierher gebracht. Und wie auch immer, er hat es nicht verdient, den Augenblick unserer Ankunft zu verpassen.«

7

In der ersten Dämmerung bildete Lawler sich ein, daß die vor ihnen liegende See rasch dahinschwinde, als ob sie zurückweiche, wie weggeschält, so daß zwischen Himmel und dem Schiff und dem ANTLITZ eine bestürzend kahle Sandwüste blieb. Doch als er blinzelnd wieder hinschaute, sah er die blitzende See, so wie sie immer gewesen war.

Wenig später zog dann die Dämmerung herauf und brachte fremdartige neue akustische und visuelle Eindrücke: die sichtbaren Brecher der Brandung, das helle Klatschen der kleinen Wellen am Bug, einen Gischtstreifen in der Ferne. In diesem frühen grauen Licht war es Lawler unmöglich, weitere Einzelheiten auszumachen. Gewiß, vor ihnen lag Land, und gar nicht so weit entfernt, aber er konnte es nicht sehen. Alles hier war so vage und unbestimmt. Die Luft schien erfüllt von dichtem Dunst, den wohl auch nicht die weiter heraufsteigende Sonne wegbrennen würde. Aber dann erkannte Lawler auf einmal die gewaltige dunkle Barriere, die sich über den Horizont breitete — ein niederer Buckel, der beinahe die Küstenkontur einer Gillie -Insel hätte sein können, nur, daß es eben auf Hydros keine Gillie -Inseln von derartigen Ausmaßen gab. Die Fläche erstreckte sich vor ihnen von einem Horizont bis zum anderen, ein Wall gegen die See, ein Bollwerk, und die See donnerte und schäumte in der Ferne dagegen, konnte es aber mit ihrer Gewalt nicht überwältigen.

Delagard kam an Deck. Er stand von Beben geschüttelt auf der Brücke, das Gesicht vorgestreckt, die Hände in unheimlicher Anspannung an das Geländer geklammert.

»Da ist es!« brüllte er. »Und habt ihr mir geglaubt? Dir? Da ist es doch, das ANTLITZ , das Feste Land! Endlich! So seht doch! Schaut es euch an!«

Es war unmöglich, in diesem Augenblick nicht von einem Gefühl der Erschütterung und Ehrfurcht ergriffen zu werden. Selbst die dumpfsten und schlichtesten Gemüter unter ihnen — etwa Neyana, oder Pilya, oder Gharkid — wirkten berührt von der gewaltigen sich nähernden Masse und Fremdartigkeit des Landes da vor ihnen, gestreift von der unerklärlichen psychischen Kraftausstrahlung, die von dem ANTLITZ ausging. Alle elf standen sie Seite an Seite auf Deck, keiner kümmerte sich um das Ruder oder die Segel, alle starrten in benommenem Schweigen nach vorn, während das Schiff auf die Insel zutrieb, als werde es von einer mächtigen magnetischen Kraft angezogen.

Einzig Kinverson machte den Eindruck der, wenn schon nicht Ungerührtheit, so doch der Unerschütterlichkeit. Er war aus seiner Trance erwacht, und nun starrte auch er fest auf die sich nahende Küstenlinie. Über das zerfurchte Gesicht glitt der Ausdruck irgendwelcher seltsamer Gefühle. Aber als Dag Tharp sich an ihn wandte und ihn fragte, ob er denn gar keine Angst habe, reagierte Kinverson mit ausdruckslosem Gesicht, als sei eine solche Frage für ihn sinnlos, und dann starrte er den Fragenden hochmütig an, als sehe er auch keine Veranlassung zu einer weiteren Erklärung.

»Angst?« sagte er gleichmütig. »Nein. Sollte ich denn welche haben?«

Daß alles auf der ›Insel‹ sich ständig bewegte, erschien Lawler als das Bestürzendste an der ganzen neuen Erfahrung. Nichts stand da still. Was sich da längs der Küstenlinie an Vegetation ausbreitete (sollte es tatsächlich pflanzliches Wachstum sein!), sah aus, als befände es sich in einem beständigen unaufhaltsamen Prozeß intensiven, kraftvollen, sich umschichtenden Wachstums. Nirgends sah er Ruhe, Stille, Stagnation. Und es waren nirgendwo erkennbare topographische Strukturen zu sehen… alles wogte und peitschte und wand sich zu einem schimmernden wirren Gewebe einer glitzernden Substanz zusammen, und entwebte sich wieder, und peitschte in einem endlosen irren Tanz übersprudelnder Energieverschwendung um sich, wie es durchaus vom Beginn der Zeit an so gewesen sein mochte.

Sundira trat neben ihn und legte ihm sanft die Hand auf die nackte Schulter. Und so standen sie und spähten nach vorn und wagten kaum zu atmen.

»Diese Farben«, sagte sie leise. »Die elektrische Energie.«

Und es war ein phantastisches Schauspiel. Aus jedem Millimeter Fläche entströmte unablässig Licht. Jetzt war es rein weißes, dann leuchtend rotes, dann das allerdunkelste Viole tt, das in undurchdringliches Schwarz hinüberglitt. Und dann kamen Farben, die Lawler kaum zu benennen gewußt hätte. Und sie waren wieder verschwunden, bevor er sie richtig wahrnehmen konnte, und andere, ebenso gewaltige, traten an ihre Stelle.

Es war ein Licht, das die Qualität eines gewaltigen Geräusches besaß: Es war eine Explosion, ein schreckliches Getöse, ein scharfes, wirres Hämmern. Der überwältigende Energieschwall hatte etwas Perverses, etwas Gewalttätiges und Irres: Denn eine derartige wütende Wucht konnte ja wohl kaum vernunftgesteuert sein. Gespenstische Eruptionen eisiger Flammen tanzten herauf und loderten und verschwanden und machten neuen Platz. Es war unmöglich, das Auge zu lange auf einen Punkt zu fixieren; die Ausbrüche von Farbexplosionen zwangen immer wieder zum Wegsehen. Und auch wenn du nicht direkt hinsiehst, dachte Lawler, hämmert das beständig auf dein Gehirn ein, ob du willst oder nicht. Dieses — Ding da drüben war so etwas wie ein gigantischer Radiosender, der unerbittlich seine Programme auf den biosensorischen Wellenlängen ausstrahlte. Lawler spürte, die tastenden, bohrenden Ausstrahlungen, die ihn erforschten, in seinem Gehirn und Bewußtsein herumtasteten wie gleitende unsichtbare Finger, die seine Seele streichelten.

Er stand da, zu keiner Bewegung fähig, zitternd, und hatte einen Arm um Sundiras Hüfte geschlungen. Sämtliche Muskeln von der Kopfhaut bis zu den Zehen waren angespannt.

Dann brach durch das irre Lichtgeflirre etwas anderes, etwas ebenso Irres und Gewaltsames, aber dennoch viel vertrauter: Nid Delagards Stimme, verzerrt zu einem rohen, scharfen und brüchigen Krächzen, aber dennoch immer noch als seine Stimme erkennbar. »Also! Alle Mann zurück auf ihre Posten! Alle! Wir haben zu tun!«

Delagard keuchte schwer, was eine ungewohnte Erregtheit verriet. Sein Gesicht blickte finster und sturmverheißend, als brodle in ihm ein heimliches Gewitter. Mit ungewohnt verzweifelter Hektik rannte er zwischen den Leuten auf dem Deck umher, packte sie sich einen nach dem anderen mit festem Griff und drehte sie herum, so daß ihre Augen vom ANTLITZ abgewandt waren.

»Dreht euch um! Schaut nicht hin! Das verrückte Licht hypnotisiert euch, wenn ihr da ’ne Weile reinglotzt!«

Lawler merkte, wie Delagards Finger sich ihm heftig in die Muskeln der Oberarme bohrten. Er gab dem Zug nach und ließ sich von dem unerhörten Schauspiel wegzerren, das da über dem Wasser stattfand.

»Du mußt dich zwingen, das nicht anzuschauen!« sagte Delagard. »Onyos — ans Ruder! Neyana, Pilya, Lawler, los! Wir müssen die Segel in den Wind setzen! Wir müssen einen Hafen für uns finden!«


* * *

Sie segelten mit zu Schlitzen verkniffenen Augen und mühsam abgewandtem Blick, um nicht das unbegreifliche Schauspiel zu sehen, das sich vor ihnen entlud, und kreuzten längs der turbulenten Küste, auf der Suche nach einem Einschnitt oder einer Bucht, die ihnen Schutz bieten könnte. Anfangs schien es, als gebe es nichts derartiger; das ANTLITZ erwies sich als langgestrecktes unerreichbares und abweisendes festes Land.

Dann schoß das Schiff urplötzlich durch die Brandungslinie und geriet in ruhiges Wasser: eine heitere Bucht zwischen zwei vorstrebenden von steilen Bergzinnen gekrönten Landzungen. Der heitere erste Eindruck war jedoch trügerisch und von kurzer Dauer. Augenblicke nach ihrer Ankunft begann das Wasser zu steigen und zu brodeln. In dem mahlenden Strudel stiegen dichte schwarze Stränge eines Gewächses auf, das aussah wie Riementang, herauf und peitschten das Meer wie die düstren Extremitäten von Ungeheuern, und zwischen ihnen schoben sich bedrohliche speerähnliche Auswüchse hervor, die Wolken eines unheimlichen grellgelben Rauchs ausstießen. Und am Ufer schien das Terrain sich in Krämpfen zu winden.

Lawler war erschöpft. In ihm begannen wirre Bildimaginationen, quälend rätselhafte, abstrakte Eindrücke. In seinem Hirn tanzten unbekannte Konturen. Er spürte hinter dem Stirnbein ein ärgerliches ungreifbares Jucken und preßte die Hände an die Schläfen. Es half nicht.

Delagard stapfte brabbelnd und in Gedanken versunken übers Deck. Nach einer Weile befahl er, das Schiff zu wenden, und steuerte es durch die Brecher wieder aus der Bucht hinaus. Sobald sie im freien Wasser waren, wurde es in der Bucht wieder still, und sie sah wieder genauso einladend aus wie zuvor.

»Versuchen wir’s nochmal?« fragte Felk.

»Nicht hier«, knurrte Delagard mürrisch. Seine Augen blitzten vor kalter Wut. »Vielleicht ist das keine gute Stelle. Wir fahren westwärts weiter.«

Aber die Küste weiter westlich erwies sich als wenig einladend, sie war steil, rauh und wild. Der Wind trug einen scharfen stechenden Brandgeruch heran. Vom Land stiegen feurige Funken auf. Es war, als brenne die Luft selber. Hin und wieder prallten ihnen Wogen einer überwältigenden telepathischen Kraft von der Insel her entgegen, kurze plötzliche Stöße, die mentale Verwirrung und Diskoordination auslösten. Die Mittagssonne wirkte ausgeblichen und geschwollen. Und nirgendwo schien es eine Bucht zu geben oder einen Einschnitt. Nach einiger Zeit kam Delagard, der sich unter Deck begeben hatte, zurück und verkündete mit gepreßtem, bitterem Ton, daß er — vorläufig — davon Abstand nehmen werde, näher an Land zu kommen.

Sie zogen sich an eine Stelle weit außerhalb der mahlenden Brandung zurück, wo das Wasser flach und seicht war und von Farbbändern durchzogen, die von einem schimmernden Sandbett heraufgespiegelt wurden. Hier warfen sie Anker aus, zum erstenmal seit Beginn der Reise.

Lawler gesellte sich zu Delagard, der an der Reling lehnte und in die Ferne starrte.

»Na? Was hältst du jetzt von deinem Paradies, Nid? Von deinem Land, in dem Milch und Honig fließen?«

»Es wird uns gelingen, einen Weg hinein zu finden. Wir sind einfach von der falschen Seite her rangekommen, das ist alles.«

»Du willst also tatsächlich da an Land?«

Delagard wandte sich ihm zu und sah ihn an. Die blutunterlaufenen Augen wirkten in dem flirrenden Licht ringsum seltsam verändert und sahen vollkommen ausdruckslos und wie tot aus. Als er dann aber sprach, war die Stimme so fest wie eh und je. »Nichts, was ic h bisher gesehen habe, hat im geringsten meine Meinung über irgendwas verändert, Doc. Hier ist das Land, wo ich sein will. Es ist Jolly gelungen, hier an Land zu gehen, also wird es auch uns gelingen.«

Lawler antwortete nichts darauf. Es fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können, was nicht bei Delagard einen wahnsinnigen Tobsuchtsanfall ausgelöst hätte.

Dann aber grinste der Reeder, beugte sich zu ihm her und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Doc! Ach, Doktorchen! Schau doch nicht so begräbnisernst drein! Klar, es sieht hier ziemlich wüst aus. Natürlich. Wieso hätten sich die Kiemlinge sonst die ganze Zeit von hier ferngehalten? Und natürlich kommt uns das Zeug, das von da drüben zu uns rüberweht, fremd vor. Wir sind es halt einfach nicht gewohnt. Aber das bedeutet ja nicht, daß wir uns davor fürchten müßten. Es handelt sich um nichts weiter als um ziemlich ausgefallene optische Effekte. Bloßer dekorativer Verpackungszauber: Völlig bedeutungslos. Hat nicht das geringste zu sagen.«

»Es freut mich; daß du dir deiner Sache so sicher bist.«

»Ja. Ich freu mich auch. Hör zu, Doc, hab doch endlich Vertrauen. Wir sind doch fast da. Wir sind bis hierher gekommen, und wir werden auch den Rest des Weges schaffen. Es besteht kein Anlaß, sich Sorgen zu machen.« Und wieder das breite Grinsen. »Hör mal, Doc, entspann dich, laß los, ja? Gestern abend ist mir zufällig ein Tropfen Brandy in die Finger gekommen, den Gospo versteckt hatte. Komm doch in einer Stunde oder so zu mir in die Kabine runter. Es werden alle da sein. Und wir feiern eine Party. Wir werden auf unsere Ankunft anstoßen.«


* * *

Lawler kam als Letzter zur Party. Die anderen hockten alle schon bei Kerzenlicht mehr oder weniger im Halbkreis in der dunklen, engen dumpf riechenden Kabine um Delagard herum. Sundira links von ihm, Kinverson dicht bei ihr, Neyana und Pilya daneben, dann Gharkid, der Priester, Tharp, Felk und Lis. Alle hatten einen Becher mit Schnaps vor sich. Auf dem Tisch standen eine leere und zwei volle Flaschen. Delagard stand gegen die Wandung gedrückt, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, was zugleich irgendwie aggressiv und defensiv wirkte. Er sah aus, als wäre er besessen. Die Augen glitzerten beinahe fiebrig. Das Gesicht, voll von einem Stachelbart und schorfig von einer Art Hautausschlag, war gerötet und schweißfeucht. Und plötzlich begriff Lawler, daß der Mann sich am Rande einer Krise befinden müsse, eines innerlichen Ausbruchs, einer heftigen Explosion und Freisetzung aufgestauter Gefühle, die allzu lange unterdrückt worden waren.

»Los, trink auch was, Doc«, rief Delagard.

»Danke. Gern. Ich dachte, wir haben nichts mehr von dem Zeug.«

»Hab ich auch gedacht«, erwiderte Delagard. »Hab mich eben geirrt.« Er schenkte ein, bis die Kumme überfloß, dann schob er sie über den Tisch auf Lawler zu. »Also hast du dich doch an Jollys Geschichte von der Unterwasserstadt erinnert, was?«

Lawler trank einen tiefen Schluck Brandy und wartete, bis sich die Wirkung im Bauch ausbreitete.

»Woher weißt du was davon?«

»Sundira hat es mir erzählt. Sie sagt, du hast mit ihr darüber geredet.«

Achselzuckend antwortete Lawler: »Ja, gestern ist das auf einmal wieder aus dem Nichts in meiner Erinnerung aufgetaucht. Ich hab seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Der tollste Teil von Jollys Geschichte — und ich hatte es vergessen.«

»Aber ich nicht«, sagte Delagard. »Ich hab es grad den anderen erzählt, während wir auf dich gewartet haben. Na, was meinst du jetzt, Doc? Hat Jolly bloß ’nen Haufen Scheiße verzapft, oder nicht?«

»Eine Stadt unter dem Wasser? Wie sollte so was möglich sein?«

»Also, ich erinnere mich, daß Jolly was von einem Schwerkrafttrichter oder so sagte. Hochüberlegene Super-Technologie. Von Super-Gillies gebaut.« Delagard ließ seinen Becher und den Brandy darin kreisen. Es fehlte nicht mehr viel, und er würde betrunken sein, erkannte Lawler. »Diese Geschichte vom Jolly hab ich immer am liebsten gehört. Genau wie du. Wie die Kiemlinge vor ’ner halben Million Jahren beschlossen haben, auf dem Ozeangrund zu leben. Weißt du noch, es gab damals auf diesem Planeten noch feste Landmassen, das hatten sie dem Jolly gesagt. Inseln von anständigen Ausmaßen, kleinere Kontinente sogar, und dann haben sie das großenteils abgetragen und die Rohstoffe dazu verwendet, in der Tiefe, am Ende ihres Gravitationsschachtes abgeschottete, versiegelte Kammern zu bauen. Und als sie damit fertig waren, haben sie sich dort hinunter zurückgezogen und die Schotts hinter sich dichtgemacht.«

»Und das glaubst du also?« fragte Lawler.

»Ach, vielleicht auch nicht. Es ist eine ziemlich wilde Geschichte. Aber eben eine recht angenehme, gibst du mir nicht recht, Doc? Daß da drunten eine überlegene Gillie -Rasse lebt, die über den Planeten herrscht. Die ihre provinziellen Verwandten auf den schwimmenden Inseln zurücklassen, als Sklaven und Bauerntrottel, die für sie die Oberwelt als Farmer bearbeiten und sie mit Nahrung versorgen. Und alle Formen von Leben auf Hydros — die Insel-Gillies, und die Mäuler und die Plattformen und Taucher, und die Hexenfische und alles andere, bis hinunter zu den Kriechaustern und Rasplern — hängen in einem großen übergeordneten ökologischen Abhängigkeitsgeflecht zusammen, dessen ausschließliche Aufgabe es ist, den Bedürfnissen der Wesen zu dienen, die in dieser Unterwasserstadt leben. Die insularen Gillies glauben, daß sie nach ihrem Tod auf das ›Antlitz‹ versetzt und dort weiterleben werden. Frag doch Sundira, wenn du mir nicht glaubst. Und das muß einfach bedeuten, daß sie dann nach unten gehen und ein feines Leben in der Verborgenen Stadt führen dürfen. Vielleicht glauben ja auch die Taucher was ähnliches. Oder die Kriechaustern.«

»Die wirren Fabelgespinste eines alten, halbverrückten Mannes, diese Stadt«, sagte Lawler. »Ein Märchen.«

»Vielleicht. Oder auch nicht.« Delagard lächelte Lawler kühl und etwas verkniffen an. Es war bestürzend, wie stark, wie irreal, ja wie unheimlich seine Selbstbeherrrschung unter diesen Umständen war. »Aber sagen wir doch einfach mal, es ist kein Märchen. Was wir alle heute morgen gesehen haben — dieser ganze unglaubliche faule Hokuspokus von herumtanzendem Wer-weiß-was-Zeugs — könnte doch durchaus nichts weiter sein als eine riesige Bio-Maschine, die den Energiebedarf für die verborgene Gillie -Stadt deckt. Die Pflanzen, die da drüben wachsen, sind — metallisch. Darauf geh ic h ’ne Wette ein! Sie sind Teile der Maschine. Ihre Wurzeln sind im Meer, und sie entziehen ihm Mineralien und verwandeln sie in neue Stoffe. Und sie erfüllen alle möglichen mechanischen Funktionen. Und irgendwo auf dieser Insel gibt es vielleicht ein gigantisches elektrisches Gitter. Genau in der Mitte, möchte ich wetten, ist ein Sonnenkollektor, eine Akkumulatorplatte, welche die Energie einsammelt, die von dem ganzen halbbiotischen Netz da drüben in die unterseeische Stadt gespeist wird. Und was wir gespürt haben, ist nichts als der Energie -Überschuß bei dem Ganzen. Der knistert durch die Luft und wirbelt uns den Kopf voll Hirngespinste. Oder täte es, wenn wir das zulassen. Aber wir werden es nicht zulassen! Wir sind schlau und halten uns außerhalb der Reichweite. Wir werden in sicherer Entfernung ganz einfach weiter die Küste entlangsegeln, bis wir den Eingang der verborgenen Stadt gefunden haben, und dann…«

»Da segelst du mir ein bißchen zu schnell, Nid«, sagte Lawler. »Zuerst sagst du mir, du glaubst, diese Stadt auf dem Meeresgrund ist deiner Meinung nach nichts weiter als die Spinnerei eines alten Mannes, und auf einmal bist du schon an ihren Pforten.«

Delagard blieb unbeeindruckt von der Ironie. »Ich nehme das nur einfach als real gegeben an. Nur so für unser Gespräch. Trink doch noch ’nen Schluck, Doc. Das ist nämlich diesmal wirklich mit Sicherheit der letzte Rest. Also können wir ihn auch richtig genießen und auf einmal.«

»Angenommen, die Stadt ist Realität«, sprach Lawler weiter, »wie sollen wir dann unsere große Stadt errichten, von der du geredet hast, wenn die Position bereits von einem Haufen von Super-Gillies besetzt ist? Könnten die nicht ein wenig ärgerlich reagieren? Vorausgesetzt, es gibt sie, natürlich…«

»Doch, ich denke, das werden sie . Falls es sie gibt.«

»Und werden sie dann nicht ganze Armadas von Rammhörnern, Säblern, Seeleoparden und Drakken losschicken, damit die uns eine Lektion erteilen und uns klarmachen, wir sollten sie lieber nicht noch einmal stören?«

»Dazu werden sie gar keine Chance bekommen«, erklärte Delagard fröhlich-erhaben. »Sollten die da sein, dann gehn wir einfach runter zu ihnen und erobern sie ein bißchen und zerquetschen sie zu Scheiße!«

»Wir tun — was?«

»Die Sache ist kinderleicht, du kannst es dir kaum vorstellen. Die sind verweichlicht, dekadent und alt. Wenn sie da drunten sind, Doc… wenn! Vom Beginn der Zeit an ist denen alles nach ihrem Wunsch und Willen gegangen auf diesem Planeten, und in ihrem Kopf existiert gar kein Begriffskonzept für Feind oder Aggressor. Alles auf Hydros existiert einzig, um ihnen zu dienen. Und sie stecken da drunten in ihrer Meereshöhle seit einer halben Million Jahre in einem bequemen Luxus, wie wir uns das nicht mal erträumen könnten. Und wenn wir zu ihnen runtergehen, werden wir entdecken, daß sie völlig wehrlos und schutzlos sind. Wozu hätten sie das auch gebraucht? Schutz — gegen wen? Wir marschieren da einfach rein und erklären ihnen, daß von jetzt an wir das Sagen haben. Und die werden umfallen und sich ergeben.«

»Elf halbnackte Männer und Frauen, bewaffnet mit Gaffeln und Beleghökern erobern also die Hauptstadt einer unendlich fortschrittlichen überlegenen fremden Zivilisation, ja?«

»Hast du dich je damit befaßt, Lawler, wie die Geschichte auf der ERDE verlaufen ist? Da gab es dort mal eine Gegend, die hieß Peru, und die Leute dort beherrschten einen halben Kontinent — was immer das sein mag — und errichteten Tempel aus Gold. Und dann kam ein Kerl namens Pizarro dorthin, hatte so an die zweihundert Haudegen bei sich, mit mittelalterlichen Waffen, die überhaupt nichts taugten, ein, zwei Kanonen und ein paar Gewehren, die du für absurd halten würdest, eroberte das Land und nahm den Kaiser gefangen, einfach so. Ungefähr zur gleichen Zeit machte ein anderer Kerl namens Hernando Cortez genau das gleiche in einem Reich, das Mechico hieß und ebenfalls enorm reich war… Man kommt überraschend über sie, du denkst nicht mal an so was wie eine Möglichkeit der Niederlage, du marschierst einfach rein und schnappst dir, was sie dort so an Bonzen in Autoritätspositionen haben, und die fallen vor dir auf die Knie. Und dann gehört alles, was sie besitzen, dir!«

Lawler starrte Delagard sprachlos an.

»Nid, wir haben keinen Finger gerührt, um uns zu verteidigen, als wir von der Insel verjagt wurden, auf der wir hundertfünfzig Jahre lang gelebt haben, als uns die primitiven Hinterwäldlervettern deiner Super- Gillies vertrieben haben, weil wir wußten, daß wir keine Chance in einem Kampf gegen sie hatten. Und jetzt erklärst du mir, ohne schamrot zu werden, daß du die Absicht hast, mit bloßen Händen eine ganze hochüberlegene Zivilisation umzustürzen, und du lieferst mir dafür als Beispiel irgendwelche Volksmärchen aus dem ERDMittelalter über sagenhafte Königreiche, die von Heldengestalten irgendwelcher uralter Kulturkreise erobert wurden, bloß um mir zu beweisen, daß so was möglich ist? Nid! Gerechter Himmel!«

»Du wirst es sehen, Doc! Ich verspreche es dir!«

Lawler blickte in die Runde, ob einer ihn unterstützen wollte. Aber alle hockten mit glasigen Augen stumm da, als schliefen sie.

»Also, wieso verschwenden wir denn überhaupt unsere Zeit dafür?« fragte er. »Es gibt keine solche Stadt. Die Vorstellung schon ist unmöglich. Und du glaubst ja nicht eine Minute dran, Nid, oder? Oder? Glaubst du dran?«

»Das hab ich dir doch schon gesagt, vielleicht ja, vielleicht nicht. Jolly hat dran geglaubt.«

»Ja. Und Jolly war senil und verrückt.«

»Ach, eigentlich nicht, als er zum erstenmal wieder heim nach Sorve gekommen ist. Verrückt wurde er erst viel später, nachdem ihn die Leute jahrelang ausgelacht haben…«

Aber inzwischen hatte Lawler die Schnauze voll. Delagard sabberte und sabberte, und immer im Kreis, und nichts davon ergab irgendwie einen Sinn. Auf einmal war die stickige muffige Luft in der engen Kapitänskabine so dick wie Wasser und nicht mehr zu atmen. Erstickend. Lawler fühlte sich von einem würgenden klaustrophobischen Ekel und Schwindel gepackt. Er sehnte sich heftig nach seiner Taubkrauttinktur.

Er hatte jetzt begriffen, daß Delagard nicht bloß unter einer gefährlichen Zwangsvorstellung litt, sondern tatsächlich absolut wahnsinnig war.

Und wir alle sitzen hier am Ende der Welt, dachte Lawler, ohne Chance, da wieder wegzukommen, und noch nicht mal einen Ort, an den wir uns flüchten könnten — wenn wir irgendwohin flüchten könnten.

»Ich kann mir dieses Geseire einfach nicht mehr anhören«, sagte er, und seine Stimme klang halberstickt vor Zorn und Angewidertheit. Er stand auf und stürzte aus dem Raum.

»Doc!« rief Delagarde hinter ihm her. »Komm doch zurück! Verdammt noch mal! Doc! Komm zurück!«

Aber Lawler knallte die Tür hinter sich zu und stolperte weiter.


* * *

Als er dann allein auf dem Deck stand, brauchte er sich gar nicht erst umzuwenden, er wußte einfach, daß Father Quillan ihm gefolgt war. Eine seltsame Erfahrung: Zu wissen, ohne daß man hinschauen mußte. Wahrscheinlich eine Nebenwirkung der wütenden Strahlungen, die vom ›Antlitz‹ über sie niedergingen.

»Delagard hat mich gebeten, daß ich dir folgen und mit dir reden soll«, sagte der Priester.

»Und worüber?«

»Über deinen Ausbruch da unten.«

»Mein Ausbruch?« fragte Lawler verblüfft. Er wandte sich dem Priester zu. In dem vielfarbigen Lichtergewirr, das rings um sie herum zuckte, wirkte Quillan noch hagerer als sonst, und sein schmales Gesicht schien aus einer Myriade von Flächen zusammengesetzt zu sein, die Haut schimmerte bräunlich und wie geölt, und die Augen blinkten wie Leuchtfeuer. »Was ist denn mit dem Ausbruch, den Delagard sich geleistet hat? Verschwundene Städte unter dem Meer! Aberwitzige Eroberungskriege, die sich auf irgendwelche dunkle Mythen und Märchen aus der fernsten Vergangenheit stützen!«

»Aber das waren keine erfundenen Lügengeschichten. Cortez und Pizarro sind kein Mythos, sie haben wirklich gelebt, und sie haben wirklich mit einer Handvoll Soldaten riesige Reiche erobert. Und das erst vor tausend Jahren. Es ist die Wahrheit. Und es gehört zur Geschichte der ERDE.«

Lawler schob das achselzuckend beiseite. »Was vor langer Zeit auf einem fernen Planeten passiert ist, das spielt doch hier und heute keine Rolle.«

»Und so was sagst du? Der Mann, der in seinen Träumen immer wieder die ERDE besucht?«

»Cortez und Pizarro hatten es aber nicht mit Gillies zu tun. Delagard ist einfach verrückt, und alles, was er uns da heute gesagt hat, ist schlechterdings absolut wahnsinnig.« Aber dann, auf einmal vorsichtig geworden, fügte Lawler betont hinzu: »Oder findest du das nicht auch?«

»Er ist ein schwer zu erfassender Mann, theatralisch, voller Feuer und Furor. Aber ich glaube nicht, daß er geistesgestört ist.«

»Eine Stadt im Meer am unteren Ende eines Schwerkrafttrichters? Meinst du im Ernst, daß es so was geben kann? Wo es ums Glauben geht, glaubst du wohl alles, wie? Doch, du würdest so was tatsächlich glauben. Schließlich glaubst du ja auch an so was wie Vater-Sohn- Heiliger-Geist! Also wieso nicht an eine Stadt auf dem Grund des Meeres?«

»Ja, warum eigentlich nicht«, erwiderte der Priester. »Man hat schon viel seltsamere Sachen auf fremden Welten gefunden.«

»Davon hab ich keine Ahnung«, entgegnete Lawler.

»Und es liefert eine plausible Erklärung für die Beschaffenheit von Hydros. Ich habe wirklich lange darüber nachgedacht, Lawler. Es gibt nämlich keine echten Wasserplaneten in der Galaxis, mußt du wissen. Alle übrigen, die hydros-ähnlich sind, besitzen zumindest natürliche Inselketten, Archipele, die Spitzen versunkener Berge, die über die Wasseroberfläche emporragen. Aber Hydros ist eine einzige große Wasserkugel. Wenn du nun aber unterstellst, daß es auch hier einst gewisse Landmassen waren, die abgetragen wurden, um eine oder mehrere gewaltige Unterwasserstädte zu errichten, bis am Ende die gesamte feste Fläche über dem Wasser ins Meer verschwunden war und obenauf nichts war als Wasser…«

»Möglich. Vielleicht auch nicht.«

»Aber es ist denkbar. Warum sind die Gillies eine Spezies von Inselbauern? Weil sie sich von einer aquatischen Lebensform zu einer terrestrischen entwickeln und Land brauchen, um darauf zu wohnen? Eine plausible Theorie. Was aber, wenn die Sache sich ganz umgekehrt verhielte? Daß sie nämlich ursprünglich Landbewohner waren und daß jene, die bei der Migration ins Meer zurückblieben, sich zu einer semi- aquatischen, einer amphibischen Form entwickelten, der man das Land mehr und mehr wegnahm? Das würde erklären…«

»Deine wissenschaftliche Argumentation ist ebenso fragwürdig wie deine theologische«, sagte Lawler müde. »Beginne mit einer irrationalen Idee und staffiere sie dann mit allen erdenklichen Hypothesen und Spekulationen aus, in der Hoffnung, daß das am Ende irgendeinen Sinn ergibt. Es beliebt dir zu glauben, daß die Gillies plötzlich vom Leben im Freien genug hatten, also haben sie sich einen Zufluchtsort im Meer gesucht, dabei das ganze feste Land des Planeten abgetragen und droben eine amphibische Unterart ihrer selbst zurückgelassen… schön, wenn du das, verdammt noch mal, glauben willst, dann glaub es von mir aus. Es stört mich nicht. Aber glaubst du auch, Delagard kann da so einfach reinmarschieren und Eroberer spielen, wie er das verkündet hat?«

»Nun…«

»Hör zu«, sagte Lawler, »ich glaub nicht einen Moment lang dran, daß es diese Zauberstadt gibt. Ich hab nämlich diesem Jolly ebenfalls zugehört und mit ihm gesprochen, und mir kam er immer ziemlich bescheppert vor. Aber sogar falls es diesen Ort gleich da vorn um die nächste Küstenbiegung geben sollte, könnten wir ihn unmöglich erobern. Die Gillies würden uns in fünf Minuten vernichten.« Er neigte sich dichter zu dem Priester. »Hör mir zu, Father. Was wir wirklich tun müßten, wäre Delagard unter Kuratel stellen und einschließen und von hier verschwinden. Ich hab schon vor Wochen so gedacht, dann hab ich meine Meinung geändert, aber jetzt erkenne ich, daß ich damals recht hatte. Der Mann ist geistesgestört — und wir haben an diesem Ort hier nichts verloren.«

»Nein«, sagte der Priester.

»Nein?«

»Delagard mag so verwirrt sein, wie du sagst, und seine Pläne der reinste Wahnsinn. Aber ich werde dich nicht dabei unterstützen, wenn du dich gegen ihn stellst. Ganz im Gegenteil.«

»Du willst also weiter an dem Land da herumschnüffeln — ungeachtet der Risiken?«

»Ja.«

»Warum?«

»Du weißt, warum.«

Ein, zwei Herzschläge lang schwieg Lawler. »Ja richtig«, sagte er dann. »Es war mir für den Moment nicht mehr gegenwärtig. Die Engel, das Paradies… Wie habe ich nur vergessen können, daß ja du es warst, der Delagard überhaupt erst dazu ermuntert hat, hierher zu segeln. Und zwar aus puren egoistischen Gründen, die überhaupt nichts mit den seinen zu tun haben!« Lawler wies mit einer verächtlichen Handbewegung auf das wilde Kreisen und Brodeln der Vegetation über der Meerenge auf der Küste. »Hältst du das da drüben immer noch für das Land der Engel? Der Götter?«

»Gewissermaßen, ja.«

»Und du glaubst auch immer noch, du kannst dir da drüben irgendwie so was wie deine persönliche Erlösung ergattern?«

»Ja.«

»Erlöst durch das da? Blitze und Donner? Lichtspiele und Lärm?«

»Ja.«

»Du bist ja noch verrückter als Delagard.«

»Ich kann verstehen, warum du das denken mußt«, sagte der Priester.

Lawler lachte scharf auf. »Ich seh euch beide schon Seite an Seite in die unterseeische Stadt der Super-Gillies einmarschieren. Er schwingt eine Gaffel, du ein Kreuz, und ihr singt Litaneien, du in einer Tonart, er in einer anderen. Und die Gillies kommen lammfromm an und knien vor euch nieder, und du taufst sie einen nach dem anderen, und dann erklärst du ihnen, daß Delagard von nun an ihr König ist…«

»Lawler, ich bitte dich!«

»Bittest — um was? Soll ich dir den Kopf tätscheln und dir sagen, wie ungeheuer beeindruckt ich von deinen abgründigen, abgefeimten Ideen bin? Und danach soll ich dann wohl runtergehen und Delagard danken für seine göttlich inspirierte Führerschaft? Nein, lieber Father, ich befinde mich auf einem Schiff, das unter dem Kommando eines Geisteskranken steht, der mit deinem sträflichen Zutun uns alle an den aberwitzigsten und gefährlichsten Ort auf diesem Planeten gebracht hat, und mir gefällt das nicht, und ich will weg von hier.«

»Wenn du doch nur willens sein könntest, zu erkennen, was das ANTLITZ uns zu bieten hat…«

»Ich weiß, was es zu bieten hat. Den Tod, Father Quillan. Tod durch Verhungern. Verdursten. Oder schlimmer. Siehst du die Lichter da drüben blitzen? Spürst du das ungewöhnliche elektrische Prickeln? Mir kommt das nicht sehr freundlich vor. Eher todbringend. Ist das deine Vorstellung von der Erlösung? Das Sterben?«

Quillan warf ihm aus glühenden Augen einen überraschten Blick zu.

»Aber stimmt es nicht, daß deine Kirche den Selbstmord für eine der allerschwersten Sünden hält?«

»Du sprichst von Selbstmord, nicht ich.«

»Ja. Aber du bist derjenige, der den seinigen plant.«

»Du begreifst ja gar nicht, was du damit sagst, Lawler. Und in deiner Unwissenheit verzerrst und verdrehst du alles.«

»Ach? Ich?« fragte Lawler. »Tu ich das wirklich?«

8

Am späten Nachmittag desselben Tages gab Delagard Order, den Anker zu lichten, und sie fuhren weiter gen Westen die Küste entlang. Es ging ein heißer steter Wind landwärts, als versuchte die riesige Insel sie zu sich zu holen.

»Val?« rief Sundira von oben. Sie hing direkt über ihm in der Takelung und machte die Stagen an der Vorderrah fest.

Er schaute zu ihr hinauf.

»Wo sind wir, Val? Was wird mit uns passieren?« Sie fröstelte in der tropischen Wärme. Beklommen spähte sie zur Insel hinüber. »Es sieht so aus, als wäre meine Vermutung von irgendeiner nuklearen Verwüstung falsch gewesen. Trotzdem sieht es da drüben zum Fürchten aus.«

»Ja.«

»Und dennoch zieht es mich da irgendwie hin. Ich will noch immer wissen, was da wirklich ist.«

»Etwas Übles, das ist es«, sagte Lawler. »Und das kannst du schon von hier aus erkennen.«

»Es war doch so einfach für uns zwei, das Schiff an die Küste laufen zu lassen. Du und ich, Val, wir könnten es gleich jetzt machen, nur zu zweit…«

»Nein!«

»Aber warum denn nicht?« Ihre Frage klang allerdings nicht sehr bestimmt. Sie schien gegenüber der Insel ebenso mißtrauisch zu sein wie er. Ihre Hände zitterten so stark, daß sie ihren hölzernen Hammer fallen ließ. Lawler fing ihn und warf ihn ihr wieder hinauf. »Was würde mit uns passieren, was meinst du, wenn wir dichter an die Küste gingen?« fragte sie. »Rauf auf das Flache selber?«

»Das laß jemand anders für uns rausfinden«, sagte Lawler grob. »Soll doch Gabe Kinverson da rübergehen, wenn er den Mut hat. Oder unser Father Quillan. Oder Delagard. Das hier ist Delagards Picknick — also soll er doch das Vergnügen haben und als erster an Land steigen. Ich bleib hier und schau mir an, was geschieht.«

»Klingt vernünftig, denk ich. Und trotzdem… trotzdem…«

»Du fühlst dich verlockt.«

»Ja.«

»Es geht ein Sog aus, nicht? Ich spüre ihn auch. Ich höre in meinem Innen etwas sagen wie: Nur zu, komm rüber, schau es dir an, was es da gibt. Es gibt auf der ganzen Welt nichts Vergleichbares. Das mußt du dir anschauen. Aber es ist ein verrückter Gedanke.«

»Ja«, sagte Sundira leise. »Du hast recht. Es ist verrückt.«

Dann schwieg sie und konzentrierte sich auf die Ausbesserungsarbeiten. Dann kam sie auf seine Höhe heruntergeklettert. Lawler berührte ihre nackte Schulter sacht mit den Fingerspitzen. Sie gab einen weichen Laut des Wohlbehagens von sich und kuschelte sich an ihn. So schauten sie zusammen auf die farbensprühende See hinaus, auf die verquollene untergehende Sonne und den bestürzenden Lichterdunst, der von der Insel drüben aufstieg.

»Val, kann ich heut nacht bei dir in deiner Kabine bleiben?« bat sie.

So etwas war noch nicht oft und nun schon seit längerem nicht mehr geschehen. Zu zweit waren sie einfach für den engen Raum und die schmale Koje zuviel.

»Aber gern.«

»Ich lieb dich, Val.«

Lawler ließ die Hände über ihre kräftigen Schulterblätter gleiten bis hinauf in den Nacken. Er fühlte sich stärker zu ihr hingezogen als je zuvor: Fast als wären sie zwei getrennte Hälften eines zerteilten Organismus und nicht bloß zwei Halbfremde, die der Zufall auf einer seltsamen Reise zu einem gefährlichen Ort zueinander getrieben hatte. War es diese Gefahr, überlegte er, die uns einander näherbrachte? War es — Gott behüte — die aufgezwungene Nähe mitten auf dem Ozean, die mich ihr gegenüber so schutzlos macht und so begierig darauf, sie dicht bei mir zu haben?

»Ich lieb dich«, flüsterte er.

Sie stürzten zu seiner Kabine hinunter. Noch nie hatte er sich Sundira so nahe gefühlt… noch nie irgendeinem Menschen sonst. Sie waren Verbündete, nur sie und er, allein gegen ein wirbelndes, verwirrend rätselhaftes Universum. Und sie hatten nur einander als Halt gegen dieses rätselhafte ›Antlitz‹, das sie in seinen Bann zu ziehen drohte.

Die Nacht war kurz; ineinander verschlungene Arme und Beine, schweißnasse nackte Haut, Körper die glitschig in- und umeinander glitten; immer wieder die Augen, die sich suchten, das Lächeln, das im Gesicht des anderen die lächelnde Antwort auslöste; die Atemströme, die sich mischten, leise gehauchte Worte, ihr Name aus seinem Mund, seiner von ihren Lippen; dann der Tausch von Erinnerungen; und die neuen Erinnerungen, die sie sich schufen. Sie schliefen keine Minute. Aber das macht gar nichts, sagte sich Lawler. Der Schlaf kann leicht neue Spukträume heraufbeschwören. Besser wir bringen diese Nacht wachend zu. Und in leidenschaftlicher Lust. Vielleicht ist morgen unser letzter Tag.


* * *

Im Morgengrauen stieg er an Deck. In den letzten Tagen war er zur Frühwache eingeteilt gewesen. Im Verlauf der Nacht, erkannte Lawler, war das Schiff wieder durch die Brecher landwärts vorgedrungen und ankerte nun in einer Bucht, die der ersten ziemlich ähnlich sah; allerdings wies die Küste keine Berge auf, nur flache Matten voll dicht wachsender dunkler Vegetation.

Diesmal schien die Bucht nichts gegen ihre Anwesenheit zu haben, ja sie sogar zu begrüßen. Die Wasserfläche war still, kein leichtes Kräuseln zeigte sich, keine Spur von dem peitschenden Kelp, dem wirbelnden Riementang, der sie fast sogleich aus der vorherigen Bucht vertrieben hatte.

Aber das Wasser war auch hier wie überall sonst lumineszent, und goldne und rosa und scharlachrote und saphirblaue Lichtkaskaden stiegen auf, und an Land setzte sich mit gewohnter Wildheit der unendliche Schleifentanz des Lebens fort. Purpurne Funken stiegen sprühend vom Land auf. Wieder war es, als brennte die Luft. Überall helle grelle Farben. Die wahnsinnige unerschöpfliche Großartigkeit und Pracht des Landes war schwer zu ertragen — als erste Eindrücke frühmorgens nach einer schlaflosen Nacht…

Delagard war auf der Brücke. Und er war allein und stand seltsam in sich verkrochen mit über der Brust gekreuzten Armen da.

»Komm doch her und red ein bißchen mit mir, Doc«, bat er.

Die Augen des Mannes waren trübe und gerötet. Er sah aus, als habe auch er keinen Schlaf gehabt, und nicht bloß in der letzten Nacht, sondern schon seit etlichen. Die Kinnbacken waren grau und hingen schlaff herab, und sein Kopf schien sich irgendwie in den dicken Hals und Nacken zurückgefaltet zu haben. Auf der einen Wange fiel Lawler ein nervöser Tic auf. Die Dämonen, von denen er tags zuvor bei der ersten Annäherung an die Küste besessen gewesen sein mochte, waren anscheinend während der vergangenen Nacht zu ihm zurückgekehrt.

Mit heiserem Ton sagte er: »Ich höre, daß du mich für übergeschnappt hältst.«

»Spielt es für dich die geringste Rolle, wenn ich das glaube?«

»Und wärst du vielleicht eine Spur glücklicher, wenn ich dir sag, daß ich fast schon selber anfange zu glauben, du hast recht? Fast. Fast.«

Lawler suchte nach einer Spur von Ironie in Delagards Worten, nach einem Hauch von Humor oder Spott. Doch da war nichts davon zu spüren. Die Stimme war schwer und heiser und klang brüchig.

»Da, schau dir die beschissene Gegend an«, krächzte er und fuhr mit den Armen in weiten Schwüngen durch die Luft. »Sieh es dir an, dieses Scheißland, Doc! Es ist eine Wüstenei! Eine Ödnis! Ein Alptraum! Warum nur bin ich bloß je hierher gefahren?« Er zitterte, und die Haut unter seinem Bart war bleich: Er wirkte furchterregend abgehärmt und zerknirscht. Mit leiser krächzender Stimme sagte er: »Bloß ein Irrer kann es soweit kommen lassen. Ich erkenne das ganz überdeutlich. Jetzt. Ich hab es gestern bereits begriffen, als wir in dieser Bucht da ankern wollten, aber ich hab das einfach weggeschoben und getan, als war es nicht so. Das war falsch. Aber immerhin, ich bin stark genug, das einzugestehen. Himmel, Doc, was war bloß in meinem Kopf los, daß ich uns hierher bringen konnte? Das ist kein Platz für uns!« Er wackelte mit dem Kopf. Als er dann weitersprach, war seine Stimme nichts weiter als ein angsterfülltes Krächzen. »Doc! Wir müssen weg von hier! Sofort!«

Redete der Mann im Ernst? Oder sollte das eine Art grotesker Loyalitätstest sein?

»Meinst du das im Ernst?« fragte Lawler.

»Verdammt, ja, das tu ich.«

Tatsächlich. Er meinte es ernst. Er hatte scheußliche Angst. Er bebte. Er schien sich vor Lawlers Augen aufzulösen. Es war eine bestürzende charakterliche Umpolung, und Delagard wäre der letzte Mensch gewesen, von dem er so etwas erwartet hätte. Er gab sich Mühe, das erst einmal zu verarbeiten.

Schließlich sagte er: »Und die Versunkene Stadt? Was ist damit?«

»Du glaubst, es gibt da eine?« fragte Delagard.

»Nicht eine Sekunde lang. Aber du glaubst es.«

»Quatsch, tu ich das! Ich hab einfach zuviel Schnaps gesoffen, das ist alles. Wir haben dieses Ding da, dieses Land zu etwa einem Drittel umrundet, schätze ich, und nirgendwo auch nur einen Hinweis gesehen. Man müßte doch mit einer heftigen Küstenströmung rechnen können, wenn es da irgendwo einen Gravitationstrichter gäbe, der die See offenhält. Aber wo, verdammt, ist er?«

»Das erklärst lieber du mir, Nid. Du hast schließlich geglaubt, daß es hier irgendwo so was gibt.«

»Nein, das war Jolly, der das geglaubt hat.«

»Jolly war meschugge. Dem ist das Hirn zu Brei geworden, als er seinen Roundtrip hier um dieses Ding gemacht hat.«

Delagard nickte düster Zustimmung. Langsam sanken seine Lider über die blutunterlaufenen Augen. Einen Moment lang dachte Lawler, er sei im Stehen eingeschlafen. Dann sagte er mit geschlossenen Augen: »Doc! Ich war die ganze Nacht allein hier draußen. Wollte mir über das alles in meinem Hirn klarwerden. Die Lage sachlich und nach den praktikablen Möglichkeiten bewerten. Das klingt für dic h wahrscheinlich komisch, weil du mich ja für irre hältst. Aber ich bin nicht verrückt, Doc. Nicht richtig. Ich mach zwar Sachen, die vielleicht anderen verrückt erscheinen, aber ich selber bin nicht verrückt. Ich bin nur anders als du. Du, du bist nüchtern, du bist vorsichtig, du willst absolut kein Risiko eingehen, du willst bloß immer so weiter mitlaufen und mitmachen und dabeisein. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es gibt im Universum solche wie dich und solche wie mich, und wir können uns gegenseitig eigentlich nie richtig verständigen, aber manchmal passiert’s dann eben, daß wir durch die Umstände aufeinanderprallen und dann trotzdem zusammenarbeiten müssen. Doc, ich habe mich danach gesehnt, diesen Ort hier zu erreichen, mehr als ich je irgendwas in meinem Leben gewünscht habe. Für mich war das das Allerwichtigste. Verlang nicht von mir, daß ich dir das erkläre. Du könntest es sowieso nie begreifen. Aber da steh ich jetzt, und ich muß einsehen, daß ich mich geirrt hab. Für uns gibt es hier nichts. Nichts.«

»Pizarro — Cortez«, sagte Lawler, »die hätten doch wenigstens zu landen versucht, bevor sie den Schwanz einziehen und sich verpissen.«

»Komm mir jetzt nicht mit so was, Mann!« sagte Delagard. »Ich versuch doch, fair mit dir zu reden.«

»Du hast mir Pizarro und Cortez aufgetischt, als ich versucht habe, fair mit dir zu reden, Nid.«

Delagard klappte die Augenlider wieder auf. Die Augen wirkten erschreckend: hell wie glühende Kohlen, flackernd vor Schmerz. Er verzog einen Mundwinkel, vielleicht versuchte er zu lächeln. »Mach mal halblang, Doc. Ich war besoffen.«

»Das weiß ich.«

»Weißt du, was mein Fehler war, Doc? Daß ich an meine eigene Scheiße geglaubt hab. Und an die Scheiße von Jolly. Und die von Father Quillan. Quillan, der hat mich mit ’ner Menge Zeugs vollgestopft über das Feste Land über den Wassern. Ein Ort war das, wo mir göttliche Macht zuteil werden würde, ich brauchte sie mir nur zu nehmen — so habe ich jedenfalls verstanden, was er mir gesagt hat. Und jetzt sind wir da! Da liegen wir! Ruhen in Frieden! Ich war die ganze Nacht hier auf Deck, hab so dagestanden und mir gedacht: Wie willst du hier einen Raumflughafen bauen? Und mit was? Wie soll jemand in diesem Chaos dort drüben leben, ohne daß er nach einem halben Tag den Verstand verliert? Wie sollen wir uns ernähren? Werden wir überhaupt dort atmen können? Kein Wunder, daß die Gillies hier nicht hergehen wollen. Dieses Elendsland ist unbewohnbar. Und plötzlich ist mir dann alles klargeworden, und da stand ich — ganz allein und mit mir selbst konfrontiert — und fing an, über mich zu lachen. Zu lachen, Doc! Aber der Jux ging auf meine Kosten, und es war nicht besonders komisch. Diese ganze Fahrt war der reine Wahnsinn, nicht wahr, Doc?«

Delagard schwankte inzwischen auf den Fußballen vor und zurück. Lawler begriff plötzlich, daß er noch immer betrunken sein müsse. Anscheinend ab es an Bord doch noch einen weiteren versteckten Brandyvorrat, und vielleicht hatte Delagard die ganze Nacht hindurch weitergetrunken. Vielleicht soff er schon seit Tagen. Er war dermaßen alkoholisiert, daß er sich einbildete, nüchtern zu sein.

»Du solltest dich hinlegen. Ich kann dir ein Beruhigungsmittel geben.«

»Ich scheiß auf dein Beruhigungsmittel. Mich würde nur beruhigen, wenn du mir zustimmst! Es war eine Irrsinnsreise. Oder, Doc?«

»Du weißt doch, daß ich so denke, Nid.«

»Und du denkst, ich bin ebenfalls irrsinnig.«

»Ich weiß nicht, ob du das bist oder nicht. Aber ich weiß, daß du kurz vor einem Zusammenbruch stehst.«

»Na und, wenn schon?« fragte Delagard. »Ich bin noch immer Kapitän auf diesem Schiff. Ich hab uns in die Scheiße reingeritten. Alle die Menschen, die sterben mußten — sie sind durch meine Schuld tot. Ich darf nicht zulassen, daß noch jemand stirbt. Ich bin dafür verantwortlich, daß wir von hier wieder fortkommen.«

»Und was ist dann dein Plan?«

»Was wir jetzt tun müssen…« — Delagard sprach schleppend und betont deutlich, wie aus einer abgrundtiefen Erschöpfung heraus —, »ist, einen Kurs bestimmen, der uns wieder in bewohnte Gegenden zurückbringt, und dort laufen wir die erste erreichbare Insel an und betteln, verdammt noch mal, daß sie uns aufnehmen. Elf Menschen — für elf Menschen werden sie immer noch Platz finden, egal was sie uns über ihre beengten Verhältnisse sagen werden.«

»Das klingt mir sehr vernünftig.«

»Das hab ich mir gedacht.«

»Also, gut dann. Zuerst aber ruhst du dich mal aus, Nid. Wir übrigen machen uns sofort daran, von hier wegzukommen. Felk kann die Navigation übernehmen, wir legen die Segel um, und bis zum halben Nachmittag sind wir hundert Kilometer weit von hier fort und steuern so schnell wie möglich auf Grayvard oder so zu.« Lawler schob Delagard mit leichtem Drängen zu den Stufen, die von der Brücke hinabführten. »Nun geh schon. Ehe du umkippst.«

»Nein«, sagte Delagard störrisch. »Ich hab dir doch gesagt, noch bin ich der Kapitän. Und wenn wir hier rausmüssen, dann nur mit mir am Ruder.«

»Schon gut. Wie du gern möchtest.«

»Es geht nicht darum, was ich gern möchte, sondern was ich zu tun habe. Was ich tun muß. Und noch etwas brauche ich von dir, ehe wir starten.«

»Und was wäre das?«

»Etwas, das es mir möglich macht, mit der veränderten Sachlage fertigzuwerden. Schließlich, es war doch eine totale Pleite, oder? Ein absoluter Reinfall. Ich hab in meinem ganzen Leben noch nie zuvor bei etwas versagt. Erst jetzt. Aber diese Katastrophe, dieser… dieses Unheil…« — plötzlich schoß Delagards Hand vor und klammerte sich an Lawlers Arm. »Ich brauch was, um damit weiterleben zu können, Doc. Diese Schmach und Schande! Die Schuldgefühle! Du denkst wahrscheinlich, ich bin zu so was gar nicht fähig, aber was, zum Teufel, hast du überhaupt je von mir gewußt? Wenn wir diese Reise überleben, werden alle auf Hydros, wohin ich auch komme, mich angaffen und sagen: ›Da geht der Mann, der Anführer der Reise, bei der er sechs Schiffe voll mit Menschen direkt in die Höllenscheiße geführt hat.‹ Und die ständigen Mahnungen die ganze Zeit. Jedesmal wenn ich von nun an dich sehe, oder Dag, Felk, Kinverson…« Delagards Augen blickten starr und wild: »Du hast da doch eine Medizin, stimmt’s, die das Gefühl in einem abstumpft und betäubt und auslöscht? Ich bitte dich um das Zeug. Ich möchte mich damit betäuben, und zwar tüchtig, und das will ich von jetzt an bis zum Schluß bleiben. Weil mir nämlich sonst nur noch eins übrigbleibt, nämlich mich umzubringen, und dazu fehlt’s mir einfach an Phantasie.«

»Drogen sind auch eine Methode, sich umzubringen, Nid.«

»Verschon mich mit solchem frömmelnden Geseich, Doktor, ja?«

»Es ist mir völlig ernst. Glaub mir, ich hab mich schließlich jahrelang selbst mit diesem Zeug vergiftet. Es ist, als wäre man ein lebender Leichnam.«

»Das ist immer noch erträglicher als ein toter Leichnam.«

»Vielleicht. Aber trotzdem kann ich dir nichts geben. Ich hab die letzten Tropfen meines Vorrats aufgebraucht, bevor wir hier ankamen.«

Delagards Griff an Lawlers Arm verschärfte sich heftig. »Lüg mich nicht an!«

»Tu ich das?«

»Ich weiß, daß du lügst! Du kannst ohne die Droge nicht leben. Du brauchst sie jeden Tag. Denkst du, ich weiß das nicht? Meinst du, das wissen wir nicht alle?«

»Nid, es ist wirklich nichts mehr da. Weißt du noch, letzte Woche, als es mir so schlecht ging? Was wirklich mit mir los war? — Ich litt unter Entzug. Es ist nicht ein Tropfen mehr übrig. Du kannst gern meine Vorräte durchsuchen, aber du wirst nichts finden.«

»Du lügst!«

»Geh und sieh nach. Du kannst gern alles haben, was du findest. Das ist ein verbindliches Versprechen.« Damit schob Lawler behutsam Delagards Klammerhand von seinem Arm. »Hör mir zu, Nid, leg dich jetzt erst mal hin und gönn dir ein wenig Erholung. Wenn du wieder aufwachst, sind wir weit weg von hier, du fühlst dich dann besser, glaub es mir, und dann kannst du auch besser mit dir selber umgehen und diesen ganzen Prozeß deiner Selbst-Entsühnung leisten. Du bist ein zäher Bursche, Nid, hast Stehvermögen. Du weißt bestimmt, wie man mit so was wie Schuld und Schuldgefühlen umgeht — glaub es mir, du weißt das. Aber im Moment bist du dermaßen erschöpft und niedergeschlagen, daß du nicht einmal die nächsten fünf Minuten im Griff hast. Aber sobald wir wieder in der offenen See sind…«

»Wart mal ’nen Moment!« sagte Delagard und stierte über Lawlers Schulter. Er zeigte zum Krandeck am Heck. »Was, zum Teufel, ist da los?«

Lawler drehte sich um. Dort kämpften zwei Gestalten, ein großer und ein viel schmalerer Mann: Kinverson und Quillan, eine ziemlich unpassende Paarung von Gegnern. Kinverson hatte dem Priester seine Pranken auf die hageren Schultern gelegt und hielt ihn auf Armeslänge fest im Griff, während Quillan sich zu befreien versuchte.

Lawler stolperte über die Treppe und rannte zum Heck. Delagard kam taumelnd hinter ihm her.

»Was machst du denn da?« rief Lawler. »Laß ihn los!«

»Wenn ich den loslaß, dann haut der ab, rüber aufs Land. Sagt er jedenfalls, daß er das will. Möchtest du, daß er das macht, Doc?«

Quillan hatte einen absonderlichen Ausdruck der Entrückung im Gesicht. Die Augen waren glasig-starr wie bei einem Schlafwandler. Die Pupillen unnatürlich geweitet. Und seine Haut wirkte dermaßen bleich, als hätte er keinen Tropfen Blut mehr im Leib. Die Lippen waren zu einem erstarrten Grinsen verzerrt.

Kinverson erklärte: »Er ist da so rumgewandert wie einer, der den Kopf verloren hat. Zu ihm, zu ihm, in sein ›Antlitz‹, hat er die ganze Zeit gebrabbelt. Dann fing er an und wollte über Bord klettern, also hab ich ihn mir gegriffen, und der haut doch glatt wie irre auf mich los. Himmel, ich hätt mir nie träumen lassen, daß der Zahnstocher ein derart zäher Fighter ist! Aber ich denke, allmählich wird er wohl ’n bißchen ruhiger.«

»Versuch mal, ihn loszulassen. Mal sehen, was er dann macht«, sagte Lawler.

Kinverson ließ Quillan mit einem Achselzucken los. Der Priester drängte sofort wieder auf die Reling zu. Seine Augen schienen wie von einem inneren Feuer zu glühen.

»Na? Seht ihr?« fragte der Fischer.

Delagard kam nun mit schwankenden Schultern heran. Er wirkte schwer angeschlagen, aber entschlossen. Auf seinem Schiff hatte Ordnung zu herrschen. Er packte sich den Priester am Handgelenk. »Was soll das? Was hast du vor? Was versuchst du da?«

»Ich will an Land gehen — das ANTLITZ … die FLÄCHE… zu IHM…« Das traumverlorene idiotische Grinsen in Quillans Gesicht wurde breiter, bis es fast schien, als würden sich ihm die Wangen spalten. »Der Gott verlangt nach mir… der Gott dort drüben…«

»Gütiger Himmel«, stammelte Delagard mit einem vor ärgerlicher Hilflosigkeit und Zorn rot und bleich gefleckten Gesicht. »Was quasselst du denn da? Wenn du da rübergehst, stirbst du. Kapierst du das nicht? Da drüben kann man nicht leben. Schau doch nur, das ganze Licht, das von allem strahlt. Der ganze Ort ist Gift. Also, laß den Quatsch, ja? Komm zu dir!«

»Der Gott im Antlitz…«

Quillan versuchte Delagards Griff abzuschütteln, was ihm auch kurz gelang. Er tat gleitend zwei Schritte auf die Reling zu. Dann hatte Delagard ihn wieder im Griff, riß ihn heftig an sich und schlug ihn dermaßen hart ins Gesicht, daß die Lippe aufplatzte und zu bluten begann. Benommen starrte der Priester ihn an. Delagard hob erneut die Hand.

»Nicht!« sagte Lawler. »Er kommt schon wieder zurück.«

Tatsächlich ging eine Veränderung in Quillans Augen vor. Das Glühen verschwand, auch der starre Ausdruck der Trance. Er wirkte nun benommen, aber doch bei vollem Bewußtsein und bemüht, seine Verwirrung abzuschütteln. Bedächtig rieb er über die Stelle, an der Delagard ihn ins Gesicht geschlagen hatte. Dann schüttelte er den Kopf. Die Bewegung breitete sich aus, und der ganze hagere Leib wurde von einem krampfartigen Zucken erfaßt. Dann begann er zu zittern. In seinen Augen standen Tränen.

»Mein Gott! Ich wollte wirklich dort hinübergehen. Das hab ich doch versucht, ja? Es hat mich gezogen. Ich habe es gefühlt, wie es an mir zerrte.«

Lawler nickte. Auch er glaubte plötzlich, daß er dieses Zerren verspürte. Eine Schwingung im Bewußtsein, ein pochendes Pulsieren. Etwas weit Stärkeres als ein verlockender Drang oder das sachte Zupfen der Neugier, wie Sundira und er es in der letzten Nacht wahrgenommen hatten. Nein, dies hier war ein starker mentaler Druck, ein Zwang, der ihn an sich zog, ihn an die wilde Küste hinter der Brandungslinie zu locken suchte.

Ärgerlich schob er den Gedanken beiseite. Er war schon fast so verrückt wie Quillan.

Der Priester redete noch immer von dem Sog, den er gespürt hatte. »Ich konnte mich einfach nicht dagegen wehren. Es bot mir das an, wonach ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Gott sei gepriesen, daß Kinverson mich rechtzeitig festgehalten hat.« Er schaute Lawler mit einer Mischung von Entsetzen und Erstaunen an. »Du hattest recht, Doktor, mit dem, was du gestern gesagt hast. Es wäre Selbstmord gewesen. Ich habe da vorhin nur geglaubt, ich würde GOTT nahen, irgendeiner Art von Gott. Aber es war vielleicht der Teufel, was weiß ich. Das da drüben ist die Hölle. Ich hab geglaubt, es ist das Paradies, aber es ist die Hölle.« Seine Stimme war fast zu einem Flüstern abgesunken. Dann sprach er wieder deutlicher zu Delagard: »Ich verlange, daß du uns von hier wegbringst. Hier sind unsere Seelen in Gefahr, und wenn du nicht an die menschliche Seele glaubst, dann bedenke wenigstens, daß unser Leben hier auf dem Spiel steht. Wenn wir noch länger hier verweilen…«

»Beruhige dich«, sagte Delagard. »:Wir werden nicht bleiben. Wir verschwinden von hier, so schnell wie möglich.«

Quillans Lippen bildeten ein erstauntes O.

Schleppend sprach Delagard weiter: »Auch ich hab meine eigene kleine Offenbarung gehabt, Father, und sie stimmt mit deiner überein. Diese ganze Fahrt war eine einzige gigantische, beschissene, gottverdammte Fehlplanung, tut mir leid. Wir haben hier nichts zu suchen, und ich will von hier ebenso eilig weg wie du.«

»Ich versteh nicht… ich dachte, daß du…«

»Denk nicht mehr so viel«, sagte Delagard. »Wenn einer zuviel denkt, kann das verdammt schlimm für ihn werden.«

»Hast du gesagt, wir drehen ab?« fragte Kinverson.

»Stimmt.« Delagard starrte herausfordernd zu dem Riesen hinauf. Sein Gesicht war vor Scham und Verdruß gerötet. Aber dabei wirkte er beinahe sogar irgendwie belustigt über das Ausmaß der Katastrophe, die über ihn hereingebrochen war. Allmählich wirkte er wieder wie sein früheres Selbst. Über sein Gesicht huschte der Artflug eines Lächelns. »Ja, wir ziehen ab.«

»Mir ist es recht«, sagte Kinverson. »Jederzeit, wann du willst.«

Lawlers Aufmerksamkeit wurde plötzlich durch etwas sehr Seltsames abgelenkt, und er schaute weg. Hastig fragte er dann: »Habt ihr das gehört? Grad eben? Da spricht jemand von drüben zu uns.«

»Was? Wo?«

»Seid mal ganz still und horcht. Es kommt von drüben, vom Land: Doctor-sir, Captain -sir, Father-sir…« Lawler imitierte höchst genau die helle, dünne weiche Stimme. »Hört ihr es nicht? Ich bin jetzt im Antlitz, Captain -sir, Doctor-sir, Father-sir. Als ob er direkt hier bei uns wäre.«

»Gharkid!« rief der Priester. »Aber wie…? Wo…?«

Nun kamen auch die anderen an Deck: Sundira, Neyana, Pilya Braun, und ein paar Meter dahinter Dag Tharp und Onyos Felk. Alle wirkten verblüfft über das, was sie gehört hatten. Zuletzt kam Lis Nikiaus merkwürdig taumelnd und stolpernd. Sie stieß mit dem Zeigefinger immer wieder zum Himmel hinauf, als wollte sie ein Loch hineinbohren.

Lawler wandte sich um und blickte in die Höhe. Und darin sah er, worauf Lis deutete. Die wirbelnden Farben da droben begannen zu erstarren und eine Gestalt anzunehmen — die Form des dunklen unergründlichen Gesichts von Natim Gharkid. Auf unerklärliche, bedrängend unausweichliche Weise schwebte da auf einmal das gigantische Abbild des rätselhaften Kerlchens über ihnen.

»Wo ist er?« brüllte Delagard mit heiserer verquollener Stimme. »Wie macht er das? Holt ihn runter! Gharkid! Gharkid!« Er fuchtelte wild mit den Armen. »Sucht ihn! Alle! Durchsucht das Schiff! Gharkid!«

»Er ist im Himmel«, sagte Neyana Golghoz benommen, als wäre damit die Sache restlos erklärt.

»Nein«, entgegnete Kinverson. »Er ist drüben auf dem Land. Da, seht doch, der Wassergleiter ist weg. Er muß damit rübergefahren sein, als wir hier mit Father Quillan beschäftigt waren.«

Und tatsächlich, die Befestigungen des Gleiters baumelten leer. Gharkid mußte ihn ganz allein gewassert und sich dann quer über die kleine Bucht zur Küste begeben haben. Und dort hatte er das ›Antlitz‹ betreten, war von ihm absorbiert und verwandelt worden. Lawler starrte bestürzt und entsetzt das riesige Angesicht im Himmel an. Gharkids Gesicht, ganz ohne Zweifel. Aber wie? Wie war das möglich?

Sundira trat neben ihn und schob ihm den Arm unter. Sie bebte vor Furcht. Lawler hätte sie gern getröstet, aber er fand keine Worte.

Delagard konnte als erster wieder sprechen. »Alle auf ihre Posten! Holt Anker auf! Ich will Segel sehen! Wir hauen hier ab, und zwar höllisch schnell!«

»Warte noch einen Augenblick«, sagte Quillan leise und wies mit dem Kopf zur Küste. »Gharkid kommt zu uns zurück.«


* * *

Es schien ewig zu dauern, bis der kleine Mann wieder zum Schiff zurückkehrte. Keiner wagte sich von der Stelle zu rühren. Sie standen alle steif und bedrückt nebeneinander an der Reling und schauten zu.

Gharkids Abbild im Himmel war in dem Moment verschwunden, als der reale Gharkid in Sicht kam. Doch die unverkennbare Stimmfärbung Gharkids schwang irgendwie noch immer als Teil der unbegreiflichen psychischen Emanation mit, die konstant vom Land herüberstrahlte. Die sichtbare Inkarnation, seine physische Gestalt, mochte ja zurückkehren, doch irgend etwas war dort drüben geblieben.

Er hatte den Wassergleiter zurückgelassen — Lawler erblickte das Gefährt jetzt am Strand zwischen den Pflanzen, und frische Vegetationstriebe begannen es bereits zu umschlingen — und kam durch die kleine Bucht herausgeschwommen, oder eher gewatet. Seine Bewegungen waren gelassen, er schien sich offenbar vor keiner Gefahr seitens irgendwelcher im Wasser hausender Geschöpfe zu fürchten. Natürlich nicht, dachte Lawler dann, er gehört ja jetzt zu ihnen.

Als er dann bereits näher am Schiff in tieferes Wasser kam, senkte Gharkid den Kopf und begann zu schwimmen. Seine Schläge waren langsam und gelassen, und er kam mühelos und glatt voran.

Kinverson ging zum Fangdeck und kam mit einer Harpune zurück. In seiner Wange zuckte es vor kaum unterdrückter Angespanntheit. Er schwang das scharfe Werkzeug hoch wie einen Speer.

»Wenn — das da versucht, an Bord zu kommen…«

»Nein!« sagte der Priester. »Das darfst du nicht! Er gehört ebenso zum Schiff wie du.«

»Wer sagt das? Was ist das denn da drunten? Wer sagt, das ist Gharkid? Ich bring ihn um, wenn er uns nahekommt.«

Doch wie es schien, hatte Gharkid gar nicht die Absicht, an Bord zu kommen. Er trieb gemächlich in einiger Entfernung längsseits und hielt sich durch leichte Handbewegungen an Ort und Stelle.

Und er schaute zu ihnen herauf.

Und lächelte dieses weiche, unergründliche Gharkid-Lächeln.

Und winkte einladend.

»Ich schieß ihn ab!« brüllte Kinverson. »Den Hund! Diesen dreckigen kleinen Hund!«

»Nein!« sagte Father Quillan erneut ruhig, als der Klotz den Zackenspeer hob. »Hab doch keine Furcht! Er tut uns nichts.« Der Priester hob die Hand und berührte Kinverson sacht an der Brust, und Kinverson schien unter dieser Berührung zu schmelzen. Benommen ließ er den zum Wurf erhobenen Arm sinken. Sundira glitt neben ihn und nahm ihm die Harpune ab. Er schien es kaum zu merken.

Lawler schaute zu dem Mann im Wasser hinab. Gharkid — oder war es das ›Antlitz‹, das durch das sprach, was Gharkid gewesen war? — rief ihnen zu, befahl sie auf die Insel. Und jetzt verspürte Lawler wahrhaftig die anziehende Kraft; sie war unbezweifelbar, und es handelte sich auch nicht um eine Sinnestäuschung, sondern war eine unüberhörbare, starke Aufforderung, die in geba lltem pulsierenden Rhythmus herandrang; es erinnerte ihn an die starken Sogströme, denen er zuweilen beim Schwimmen in der Sorve-Bucht begegnet war. Damals war es ihm ziemlich leichtgefallen, sich dem zu widersetzen. Jetzt aber fragte er sich, ob er hier stark genug sein werde, denn dieser Sog zerrte direkt an den Wurzeln seiner Seele.

Dann drang das heftige abgehackte Atmen Sundiras in seine Sinneswahrnehmungen. Sie stand an seiner Seite, ihr Gesicht war bleich, und die Augen flackerten vor Furcht. Aber ihre Zähne waren zusammengebissen, und sie sah aus, als sei sie fest entschlossen, dem unheimlichen Rufen nicht zu folgen.

Kommt her zu mir, sagte ›Gharkid‹ immer wieder. Kommt! Kommt zu mir…

Es war seine weiche leise Stimme. Aber durch ihn sprach das ›Antlitz‹. Lawler war sich jetzt sicher: Da war eine sprechende Insel, und sie versprach verlockend jedem alles mit einem einzigen Wort: Komm, du brauchst nur zu kommen.

»Ich komme!« schrie Lis Nikiaus plötzlich. »Wart auf mich! Warte! Ich komme!«

Sie stand etwas weiter hinten beim Topmast mit leerem Blick und tranceentrücktem Gesicht, und begann nun mit flachen schlurfenden Schritten auf die Reling zuzustreben. Delagard wirbelte herum und brüllte sie an, sie solle stehenbleiben. Lis ging weiter. Delagard fluchte und rannte zu ihr hin. Er erreichte sie in dem Moment, in dem sie an der Reling ankam, und griff nach ihrem Arm.

Mit kalter, scharfer Stimme, die Lawler fast nicht als die ihr erkannte, sagte Lis: »Nein, du Schwein! Nein! Rühr mich nicht an!« Sie versetzte Delagard einen Stoß, der ihn aufs Deck stürzen ließ. Er prallte schwer auf die Planken und lag dann da auf dem Rücken und glotzte Lis ungläubig an. Er schien zu keiner Bewegung fähig zu sein. Eine Sekunde später war Lis auf die Reling gestiegen und kopfüber ins Wasser gesprungen und mit einer lichtersprühenden Spritzfontäne eingetaucht.

Dann schwammen sie und Gharkid nebeneinander an Land.


* * *

In der heissen wirbelnden Luft über der Insel hingen jetzt tiefe, dunkle Wolken. Oben waren sie gelbbraun, weiter unten dunkler… Die Färbung von Lis. Sie hatte ihr Ziel erreicht.

»Es wird uns alle holen«, sagte Sundira keuchend. »Wir müssen weg von hier!«

»Ja, und zwar schnell«, stimmte Lawler ihr zu. Hastig schaute er sich um. Delagard lag immer noch platt auf dem Deck, wohl eher benommen als verletzt, aber anscheinend unwillig oder unfähig, sich zu erheben. Onyos Felk kauerte am Vordermast und brabbelte leise wirres Zeug vor sich hin. Der Priester lag auf den Knien, schlug unablässig das Kreuzzeichen und murmelte Gebete. Dag Tharp, gelbäugig vor Angst, hatte die Hände in den Bauch verkrallt und krümmte sich in trockenen Brechanfällen. Lawler fragte kopfschüttelnd: »Und wer soll die Navigation machen?«

»Kommt’s darauf noch an? Wir müssen nur fort von dem Ding da und weiterfahren. Weg! Solang wir genug Leute für die Segelmanöver haben…«

Sundira musterte das Deck. »Pilya! Neyana! Schnappt euch die Taue da! Val, kannst du mit dem Steuerruder umgehen? Himmel! Der Anker ist ja noch drunten… Gabe! Gabe, hol um Himmels willen den Anker ein!«

»Lis kommt grad zu uns zurück«, bemerkte Lawler.

»Kümmere dich nicht darum. Hilf lieber Gabe mit dem Anker!«

Doch es war schon zu spät. Lis hatte bereits die halbe Distanz mit kräftigen leichten Schwimmstößen hinter sich gebracht. Und Gharkid kam direkt hinter ihr her. Sie machte im Wasser halt und schaute zu ihnen herauf, und ihre Augen waren nicht mehr die ihren, sondern neue Augen, fremd und unmenschlich.

»Gott erbarme sich unser aller Seelen«, murmelte Father Quillan. »Jetzt zerren sie alle beide an uns!« In seinen Augen stand Entsetzen. Er bebte krampfartig am ganzen Leib. »Ich fürchte mich, Lawler. Hier ist, wonach ich mein Leben lang gestrebt habe, und jetzt, wo es — greifbar nahe ist, fürchte ich mich. Ich fürchte mich schrecklich!« Flehentlich streckte er Lawler die Hände entgegen. »Hilf mir! Bring mich unter Deck! Sonst werde ich schwach und geh da hinüber. Ich kann nicht mehr dagegen ankämpfen.«

Lawler ging auf ihn zu. »Laß ihn doch gehen!« rief Sundira heftig. »Uns bleibt keine Zeit. Und er nutzt uns sowieso nichts.«

»Hilf mir!« winselte der Priester. Er schob sich mit den gleichen schlurfenden gleitenden trancehaften Schritten wie Lis auf die Reling zu. »Mein GOTT ruft mich und ich schrecke davor zurück, zu IHM zu gehen!«

»Das ist nicht dein Gott, der dich da ruft«, sagte Sundira scharf. Inzwischen rannte sie herum und war überall zugleich, versuchte die anderen mit ihrer Energie sozusagen zur Aktivität zu galvanisieren, doch schien es nichts zu bewirken. Pilya starrte in die Takelung hinauf, als hätte sie noch nie zuvor so etwas wie ein Segel gesehen. Neyana war allein auf dem Vordeck und sang monoton leise vor sich hin. Kinverson hatte überhaupt nicht auf die Aufforderung reagiert, sich um den Anker zu kümmern, sondern stand stocksteif und mit weitgeöffneten leeren Augen mittschiffs, wie in einer für ihn ganz atypischen spirituellen Kontemplation gefangen.

Kommt zu uns, sagten Gharkid und Lis. Kommt doch, kommt zu uns! Kommt!

Lawler zitterte am ganzen Leib. Der Sog war inzwischen viel stärker geworden als zuvor, als Gharkid allein sie zu locken versucht hatte. Lawler hörte ein klatschendes Geräusch im Wasser. Wieder war jemand über Bord gesprungen. Felk? Tharp? Nein. Tharp kauerte noch immer da drüben wie eine kleine Stinkmorchel. Aber Felk war weg. Und dann sah Lawler, wie auch Neyana über die Bordwand stieg und ins Wasser sprang.

Einer nach dem anderen werden wir alle so verschwinden, dachte er. Einer nach dem anderen. Und aufgehen in der fremdartigen Entität da drüben.

Er kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Er rief die Sturheit und Hartnäckigkeit seines Wesens auf den Plan, seine leidenschaftliche Liebe zur Abgeschirmtheit und Unberührtheit, die heftige, arrogant streitlustige Beharrlichkeit, mit der er seinen ganz persönlichen, ganz eigenen Weg gehen wollte, und formte sich daraus eine Waffe gegen das, was ihn da forderte. Er wickelte sich in seine lebenslange Einsamkeit und Isolation zurück und schlug sie um sich, als wäre es ein unsichtbar machender Mantel.

Und es schien zu funktionieren. Der Sog war stark — und er wurde immer stärker, doch er vermochte Lawler nicht über die Reling zu ziehen. Der Außenseiter bis zum Ende, dachte er, der ewige Einzelgänger, ich spiele nicht einmal bei der Vereinigung mit, die dieses mächtige gefräßige Ding da drüben überm Wasser uns anbietet.

»Bitte«, flehte Father Quillan fast winselnd. »Wo ist die Deckluke? Ich kann sie nicht finden!«

»Komm mit«, sagte Lawler. »Ich bring dich runter.«

Er sah Sundira verzweifelt am Ankerspill kurbeln, wo sie allein versuchte, den Anker zu lichten. Aber dafür war sie nicht kräftig genug; einzig Kinverson von ihnen allen vermochte das alleine. Lawler zögerte. Da war Quillans Hilfsbedürftigkeit, und dagegen stand die dringlichere Aufgabe, das Schiff freizubekommen.

Delagard war endlich wieder auf den Beinen und kam auf ihn zugetaumelt wie einer, der einen Schlaganfall erlitten hat. Lawler schob ihm den Priester in die Arme.

»Da! Halt ihn fest, sonst geht er uns über Bord.«

Dann lief er zu Sundira. Doch plötzlich stellte sich ihm Kinverson in den Weg und schleuderte ihn mit einem Stoß seiner Pranke gegen die Brust zurück.

»Der Anker…«, hustete Lawler. »Wir müssen den Anker einholen…«

»Nein. Laß das!«

Kinversons Augen waren sehr eigenartig und wie nach oben verdreht.

»Also du auch?« fragte Lawler.

Er hörte hinter sich ein Grunzen und dann wieder ein Aufklatschen. Er drehte sich um. Delagard stand allein an der Reling und schaute auf seine Hände, als fragte er sich, wozu sie taugten. Quillan war verschwunden. Lawler sah ihn drunten mit erhabener Unbeirrbarkeit durchs Wasser schwimmen. Er war im Endspurt auf seinem Weg zu ›Gott‹ — oder was immer dort drüben war. Endlich.

»Val!« Sundira mühte sich noch immer am Ankerspill ab.

»Hat keinen Zweck«, rief er zurück. »Sie gehen alle über Bord!«

Am Ufer konnte er Gestalten sehen, die stetig tiefer in die wogenden Vegetationsdschungel eindrangen. Neyana, Felk. Und nun auch Quillan, der an Land kroch und ihnen folgte. Gharkid und Lis waren bereits verschwunden.

Lawler zählte im Geist ab, wer noch an Bord verblieben war: Kinverson, Pilya, Tharp, Delagard, Sundira. Machte mit ihm selbst sechs Personen. Aber Tharp sprang in eben diesem Moment ins Wasser. Also fünf. Ganze fünf Menschen von allen, die aus Sorve aufgebrochen waren.

Kinverson sagte: »Dieses elendige beschissene Leben: Und wie hab ich jeden einzelnen scheißestinkenden Tag davon gehaßt! Und mir gewünscht, ich war nie geboren. Das hast du nicht gewußt? Aber was hast du überhaupt je gewußt? Was weiß überhaupt jemals einer vom anderen? Ihr alle habt gedacht, ich bin zu groß und stark, mir kann nichts was anhaben, mir tut nie was weh. Weil ich nie was gesagt habe, ist keiner auf die Idee gekommen. Aber ich hab gelitten… in jeder gottverfluchten Minute. Tag für Tag. Und keiner hat es gemerkt. Keiner.«

»Gabe!« rief Sundira.

»Und du, geh mir, verdammt noch mal, aus dem Weg, oder ich zerreiß dich in zwei Teile.«

Lawler sprang hinüber und schlang die Arme um ihn. Kinverson wischte ihn von sich, als wäre er ein Strohhalm, sprang mit einem geschmeidigen Satz auf den Handlauf der Reling und hechtete ins Meer.

Vier.

Aber wo war Pilya? Lawler blickte sich um und sah sie — nackt und schimmernd im Sonnenglast — droben in der Takelung immer höher in die Toppen steigen. Wollte sie etwa von dort oben…? Sie wollte und tat es.

Drei.


* * *

Sundira sagte: »Jetzt sind nur noch wir übrig.« Sie sah Lawler an und schaute dann zu Delagard, der wie ein Haufen Elend am Fuß des Hauptmasts hockte und das Gesicht in die Hände vergraben hatte. »Ich nehme an, uns will das da drüben nicht haben.«

»Nein«, widersprach Lawler. »Wir sind die einzigen, die stark genug sind, uns dagegen zu wehren.«

»Na dann, hurra für uns«, sagte Delagard düster, ohne aufzublicken.

»Können wir zu dritt das Schiff manövrieren?« fragte sie. »Was meinst du, Val?«

»Wir können es wenigstens versuchen, denke ich.«

»Red keinen Schwachsinn!« sagte Delagard. »Es ist unmöglich, ein solches Schiff mit drei Mann zu fahren.«

»Wir könnten doch die Segel in den Hauptwind setzen und einfach mit der Strömung fahren«, sagte Lawler. »Vielleicht kommen wir auf die Weise irgendwie früher oder später zu einer bewohnten Insel. Es ist auf jeden Fall besser, als hie rzubleiben. Was meinst du dazu, Nid?«

Delagard zuckte die Achseln.

Sundira schaute zur Insel hinüber.

»Siehst du noch einen von ihnen?« fragte Lawler.

»Keinen mehr. Aber ich hör was. Spür was. Ich glaub, Father Quillan kehrt zu uns zurück.«

Lawler spähte zur Küste hinüber. »Wo?« Der Priester war nirgends zu sehen. Und trotzdem, trotzdem — jetzt spürte auch Lawler eine quillanähnliche Nähe, ohne Zweifel. Es war, als befände sich der Priester dicht neben ihnen hier auf dem Schiffsdeck. Ein neuer Trick von da drüben, sagte sich Lawler.

»Nein«, sagte Quillan, »es ist kein Trick. Ich bin hier.«

»Das stimmt nicht. Du bist noch immer auf dem Land«, erwiderte Lawler mit heiserer Stimme.

»Ich bin auf dem Land und hier bei euch zur selben Zeit.«

Delagard stieß einen dumpfen ärgerlichen Laut aus. »Verdammt noch mal, wieso kann uns das Mistding nicht in Ruhe lassen?«

»Es liebt euch«, antwortete Quillan. »Es sehnt sich nach euch. Wir sehnen uns nach euch. Kommt und vereinigt euch mit uns.«

Lawler begriff, daß ihr Sieg nur vorläufig war. Der Sog bestand trotzdem weiter — allerdings sanfter, als erlegte sich jemand Zurückhaltung auf —, doch bereit, sie zu packen, sobald sie nicht mehr auf der Hut waren. Und das Quillan-Phantom war als Ablenkung gedacht — als Verführung und Ablenkung.

Lawler fragte: »Bist du der Priester Quillan, oder spricht das ›Antlitz‹ da drüben durch dich?«

»Beides. Ich bin jetzt Teil davon.«

»Aber trotzdem begreifst du dich noch als den Priester, den katholischen Father Quillan, als Individuum in der überindividuellen Einheit dieses — Dings da — dieser Feste über dem Wasser?«

»Ja. Ja. Ganz genau so ist es.«

»Und wie kann so was sein?«

»Komm her und sieh«, sagte Quillan. »Du bleibst du selbst. Und trotzdem wirst du zu etwas unendlich Größerem.«

»Unendlich?«

»Ja — unendlich.«

»Das ist wie ein Traum«, sagte Sundira. »Da redest du mit etwas, das du nicht sehen kannst, und es antwortet dir mit der Stimme von jemand, den du kennst.« Sie wirkte sehr gelassen. Wie Delagard machte sie nun den Eindruck, als sei sie inzwischen jenseits von aller Furcht, als wäre alle Besorgnis von ihr abgefallen. Entweder würde das ›Antlitz‹ sie kriegen oder nicht, doch das war fast schon gänzlich ihrer Kontrolle entzogen. »Father, kannst du auch mich hören?«

»Aber gewiß doch, Sundira.«

»Weißt du, was das ›Antlitz‹ ist? Ist es Gott? Kannst du uns das sagen?«

»Das ›Antlitz‹ ist Hydros. Und Hydros ist das ›Antlitz‹«, sprach die gelassene Stimme des Priesters. »Hydros ist ein gewaltiges Kollektiv- Bewußtsein, ein zusammengesetzter Organismus und eine singuläre Intelligenz, die den gesamten Planeten umfaßt. Die Insel, zu der wir vorgestoßen sind, ist etwas Lebendiges — sie ist das Gehirn des Planeten. Und sie ist mehr als ein Gehirn: Sie ist zugleich auch der zentrale Mutterschoß für alles Existierende. Die All- und Ur-Mutter, aus der alles, was auf Hydros lebt, hervorströmt.«

»Ist das der Grund, warum die Sassen nicht hierher gehen wollen?« fragte Sundira. »Weil es ein Sakrileg wäre, an den Ort des Ursprungs zurückzukehren?«

»Ja, so ungefähr.«

»Und diese Vielfalt intelligenter Lebensformen auf Hydros«, sagte Lawler, der auf einmal die Verbindung begriff. »Die hat sich entwickelt, weil alles mit dem da drüben verbunden ist, ja? Die Gillies und die Taucher und die Rammhörner und überhaupt alles? Ein einziges gigantisches globales Bewußtseinskonglomerat?«

»Ja. So ist es: eine Universalintelligenz.«

Lawler nickte, schloß die Augen und versuchte sich vorzustellen, was es bedeutete, Teil einer solchen übergeordneten Entität zu sein: Die Welt als ein einziges riesenhaftes Uhrwerk, ein Riesenmechanismus, der vor sich hin tickte und tickte, und alles, was lebte, tanzt im Rhythmus dieses Takts.

Und Quillan war jetzt ein Teil davon geworden. Und Gharkid. Und Lis, Pilya, Neyana, Tharp und Felk. Und der arme Leidenskoloß Kinverson. Verschluckt vom Göttlichen. Eingegangen ins unendlich Göttliche.

Delagard, immer noch in der Stellung finsterster Depression kauernd und ohne das Gesicht zu heben, sagte auf einmal: »Quillan? Sag mir eins, Quillan: Was ist mit der Stadt unterm Meer? Gibt es sie — oder nicht?«

»Ein Mythos, ein Märchen«, erwiderte die Stimme des unsichtbaren Quillan.

»Aha«, sagte Delagard bitter. »Ach so.«

»Oder genauer, eine Metapher. Euer alter Seefahrer hatte schon einen Teil der Grundidee zu fassen bekommen, aber dann alles durcheinandergebracht. Die große Stadt von Hydros ist überall auf dem Planeten, auf dem Meeresboden, im Wasser und auf seiner Oberfläche. Der ganze Planet ist eine einzige große Civitas, eine Gemeinde, und jedes Lebewesen hier ist Bürger von ihr.«

Delagard hob den Kopf. Seine Augen waren stumpf von Erschöpfung.

Quillan sprach weiter: »Die Geschöpfe hier haben stets im Wasser gewohnt. Gesteuert vom ›Antlitz‹ und eins mit ihm. Anfangs waren sie rein aquatische Geschöpfe, aber dann lehrte das ›Antlitz‹ sie, ihre schwimmenden Inseln zu bauen, um sie auf die ferne Zukunft vorzubereiten, wenn festes Land aus den Tiefen heraufsteigen würde. Aber eine verborgene Stadt unter dem Meer hat es nie gegeben. Der Planet ist eine Wasserwelt und sonst nichts. Und alles, was hier existiert, ist harmonisch eingebunden in die Macht und Stärke des ›Antlitzes‹.«

»Alles — außer uns«, sagte Sundira.

»Alles, außer den paar streunenden Menschen, die es auf diese Welt hier verschlagen hat, ja«, antwortete Quillan. »Die Exilanten. Die aus purer Unwissenheit darauf beharrten, weiter Exilanten zu bleiben. Sogar noch stolz darauf waren, Fremde und Andersartige zu sein und abgesondert und ausgeklammert aus der Hydros-Harmonie zu leben.«

»Weil es nicht ihre Sache ist, Teil von dieser Harmonie zu sein«, sagte Lawler.

»Falsch. Ganz falsch! Hydros heißt alle willkommen.«

»Aber nur zu seinen Bedingungen.«

»Ebenfalls falsch«, sagte Quillan.

»Aber sobald man aufhört, man selbst zu sein, ein Individuum…«, fuhr Lawler fort. »Sobald man Teil einer größeren Wesenheit wird…«

Er runzelte die Stirn. In eben diesem Augenblick hatte etwas sich verändert. Er spürte deutlich die Stille um sich herum. Die Aura, die Gedankendecke, die sie während ihres kurzen Hydros-Kolloquiums mit Quillan umhüllt hatte, sie war verschwunden.

»Ich glaube, er ist fort«, sagte Sundira.

»Ja. Er hat sich von uns zurückgezogen«, sagte Lawler. »Es hat sich zurückgezogen.« Auch das ›Antlitz‹ selbst und das damit verbundene Gefühl von etwas Gewaltigem in der Nähe schienen fort zu sein. Für den Augenblick jedenfalls.

»Wie merkwürdig, dieses Gefühl, wieder allein zu sein.«

»Also ich würde sagen, es ist angenehm. Bloß wir drei, und jeder mit seinem eigenen Kopf und Verstand, und keiner predigt uns vom Himmel hoch herab. Solang es dauert, bis das wieder losgeht.«

»Und wird es wieder losgehen?« fragte Sundira.

»Ich vermute es«, erwiderte Lawler. »Und wir werden wieder von vorn anfangen müssen und uns dagegen zur Wehr setzen müssen. Wir dürfen nicht zulassen, daß wir von dem da einfach verschluckt werden. Menschliche Wesen sollen sich nicht in einer außermenschlichen Welt integrieren. Wir sind nicht dafür bestimmt.«

Delagard sagte mit seltsam weicher, beinahe sehnsüchtiger Stimme: »Aber er klang doch ganz glücklich, oder?«

»Glaubst du?« fragte Lawler.

»Ja, tu ich. Die ganze Zeit über war er so seltsam, so traurig, so abweisend. Hat nach seinem Gott gesucht und sich gefragt, wo der ist. Nun, jetzt weiß er’s und ist endlich bei ihm.«

Lawler warf ihm einen fragenden Blick zu. »Ich hatte nicht vermutet, daß du an einen Gott glaubst, Nid. Denkst du jetzt etwa, daß dieses ›Antlitz‹ da drüben Gott ist?«

»Quillan glaubt es. Und Quillan ist glücklich. Zum erstenmal in seinem Leben.«

»Quillan ist tot, Nid. Was immer da grad zu uns geredet hat, war nicht Quillan!«

»Er klang aber ganz wie Quillan. Also ja, Quillan und noch wer anderes, aber eben doch Quillan.«

»Wenn du das gern glauben willst…«

»Will ich«, sagte Delagard und stand plötzlich auf, ein wenig schwankend, als mache ihn die Anstrengung schwindelig. »Ich geh auch da rüber — und melde mich als Freiwilliger.«

Lawler starrte ihn stumm an. »Also auch du?« sagte er dann benommen.

»Ja, auch ich. Und versuch nicht, mich daran zu hindern. Ich bring dich um, wenn du das versuchen solltest. Weißt du noch, was Lis mit mir gemacht hat, als ich sie aufhalten wollte? Uns hält man nicht auf, Doc!«

Lawler starrte ihn noch immer verwirrt an. Der meint das ernst, dachte er. Der meint das wirklich ernst! Und er will tatsächlich da rüber. Das kann doch nicht der echte Delagard sein? Doch, natürlich war es der alte echte Delagard! Aber natürlich! Delagard war schon immer ganz groß darin, jeweils das zu tun, was für Delagard am vorteilhaftesten war, gleichgültig was für Auswirkungen das auf seine Umwelt haben mochte…

Ach, zum Teufel mit dem Kerl! Mit Handkuß und je eher, desto besser!

»Dich aufhalten?« sagte Lawler. »Das würde mir nicht im Traum in den Kopf kommen. Geh nur, Nid. Wenn du meinst, du bist da glücklich, dann geh. Geh! Wieso sollte ich dich aufhalten wollen? Was macht das jetzt schon für einen Unterschied, das alles?«

Delagard lächelte. »Für dich vielleicht nicht. Aber für mich ist er immens. Doc, ich bin dermaßen beschissen müde. Ich war ein Sack voller großer Träume. Ich hab es mit dem Trick versucht und dann mit einem neuen, und eine ganze Weile hat alles geklappt. Und dann bin ich hier gelandet, und alles ist zerbrochen und zerstoben. Ich bin zu Bruch gegangen! Na ja, also jedenfalls ich scheiß drauf. Ich will jetzt endlich meine Ruhe finden.«

»Du willst dich umbringen, meinst du?«

»Ach, du denkst, das hätte ich damit gemeint? Aber so was würde ich nie machen. Ich hab bloß die Schnauze voll, ich bin es leid, der Kapitän sein zu müssen. Auf dem Schiff und überhaupt. Es kotzt mich an, daß ich Menschen befehlen muß, was sie tun sollen, besonders jetzt, wo ich erkenne, daß ich selber auch bloß ein verdammter beschissener Arsch bin und keine Ahnung habe, was ich tue. Nein, Doc, ich hab die Schnauze voll. Ich wechsle über.« Delagards Augen leuchteten in einer frischen, ihm gerade zugeströmten Energie. »Vielleicht bin ich ja überhaupt nur dafür den ganzen Weg bis hierher gegangen, und hab es bis zu diesem Moment nicht begriffen. Vielleicht hat das ›Antlitz‹ uns damals Jolly geschickt, um auch uns versprengten Rest heim in seinen Bereich zu holen — aber dann vergingen vierzig Jahre, und dann kamen nur einige wenige von uns.« Inzwischen wirkte Delagard beinahe fröhlich und kess unbekümmert. »Ciao. Doc! Ciao, Sundira! Es war nett mit euch. Kommt mich doch mal besuchen.«

Sie schauten ihm nach.

»So, also jetzt gibt’s nur noch dich und mich, Kleines«, sagte Lawler zu Sundira. Und dann lachten sie. Was sonst hätten sie auch tun können, als zu lachen?


* * *

Die Nacht kam. Eine Nacht der Kometen und Wunder, voll vielfarbiger funkelnder Lichter. Nach Einbruch der Dunkelheit waren Sundira und Lawler an Deck geblieben, hatten still am Hauptmast gesessen und nur hin und wieder ein Wort gewechselt. Lawler fühlte sich wie betäubt, wie ausgebrannt von den Ereignissen des Tages. Und Sundira schien ebenfalls erschöpft und blieb stumm.

Droben fanden gewaltige Farbexplosionen im Himmel statt. Zur Feier der neuen Konvertiten, dachte Lawler. Die Aurae seiner einstigen Schiffsgefährten schienen am Himme l zu leuchten und zu funkeln. Der große stürmisch-blaue Schwall da drüben, war das Delagard? Und dieses warme Bernsteinglühen? — Quillan? Und konnte diese scharlachrote Säule da Kinverson sein? Und dieser Spritzer geschmolzenen Goldes überm Horizont — Pilya Braun? Und Felk — und Tharp — Neyana — Lis — Gharkid…

Der emotionale Eindruck war, als wären sie allesamt ganz dicht in seiner Nähe, jeder einzelne von ihnen.

Das Firmament kochte und brodelte von pulsierenden Farben. Aber wenn Lawler sich mühte, ihre Stimmen auszumachen, konnte er sie nicht hören. Da war nur ein warmes harmonisches undifferenziertes Tönen.

Am Ende der kleinen Bucht setzte sich über dem dunkler werdenden Horizont das wildwuchernde Wachstum der Vegetation auf der Insel ungehemmt fort: Es sproßte und zuckte und bebte vor dem dunkleren Himmel und sprühte Funkenregen leuchtender Energie empor. In Wellen strömte das Licht in den Himmel. Unablässig, ohne Pause ging das so weiter dort drüben. Lawler und Sundira saßen da bis tief in die Nacht und betrachteten sich das Schauspiel. Irgendwann stand Lawler auf und sagte: »Hast du denn keinen Hunger?«

»Überhaupt keinen.«

»Ich auch nicht. Aber — laß uns dann wenigstens ein bißchen schlafen.«

»Ja, du hast recht.«

Sie streckte ihm die Hand hin, und er zog sie auf die Füße. Dann standen sie eng beisammen an der Reling und starrten zur Insel hinüber.

»Spürst du irgendwas von diesem Sog?« fragte sie.

»Ja. Er ist immer da — wartet bloß auf seine Chance, nehme ich an. Auf den Moment, wo es uns unvorbereitet und schutzlos erwischen kann.«

»Ja. Ich spür es auch. Es ist nicht mehr so stark wie vorher, aber ich weiß, das ist nur ein Trick, um uns einzulullen. Ich muß meinen Kopf die ganze Zeit zusammenhalten wie eine geballte Faust, um mich dagegen zu wehren.«

»Ich überlege mir schon die ganze Zeit, wieso ausgerechnet wir zwei als einzige diesem Zwang widerstehen konnten, ebenfalls rüberzugehen«, sagte Lawler. »Sind wir stärker und gesünder als die anderen, besser ausgerüstet für ein Leben als Monade in den Grenzen der eigenen Individualität? Oder ganz schlicht dermaßen darauf konditioniert, uns als anders und abgehoben von der uns umgebenden Gesellschaft zu fühlen, daß es uns einfach unmöglich ist, uns selber mal loszulassen und in ein Gruppenfeeling einzutauchen.«

»Bist du dir in deinem Leben auf Sorve wirklich so isoliert vorgekommen, Val, so nicht dazugehörend?«

Er dachte darüber nach. »Vielleicht ist ›nicht dazugehörend‹ ein zu starkes Wort. Ich war durchaus Teil der Sorve-Gemeinde, und sie betrachteten mich als zu ihnen gehörig. Aber ich gehörte eben nicht so dazu, wie die meisten anderen Menschen dort. Ich stand immer ein bißchen abseits.«

»So war das auch bei mir, auf Khamsilaine. Aber ich glaube, ich war noch nie besonders gut, wo es um feste Bindungen an Gruppen oder so geht.«

»Ich ebenfalls nicht.«

»Und im Grunde hab ich so was auch nie gewollt. Manche wollen das und können es dann nicht. Gabe — Gabe Kinverson war mindestens so stark ein Einzelgänger wie wir beide das sind. Mehr noch, wahrscheinlich. Und dann hat er einen Punkt in seinem Leben erreicht, wo er das nicht mehr ertragen wollte. Und da ist er jetzt dort drüben — und lebt — im ›Antlitz‹. Aber ich krieg einfach Gänsehaut bei der Vorstellung, daß ich mein ganzes Selbst aufgeben soll, wenn ich da rübergeh, und daß ich mich einem fremden Bewußtsein ausliefern und eingliedern soll.«

»Ich hab ihn nie begriffen. Kinverson, meine ich«, sagte Lawler.

»Ich auch nicht. Ich hab’s versucht. Aber der war die ganze Zeit dermaßen fest in sich verkapselt. Verkrustet. Verkrampft. Sogar wenn wir uns liebten.«

»Darüber möchte ich lieber nichts hören.«

»Tut mir leid.«

»Ja, ist ja schon gut.«

Sie drückte sich fester an ihn.

»Und jetzt gibt es bloß noch uns zwei«, sagte sie.

»Gestrandet am popligen Ende der Welt im Nirgendwo. Und ganz allein in einem aufgegebenen Schiff. Unglaublich romantisch. Solang es dauern kann. Was sollen wir tun, Val?«

»Wir gehen jetzt runter und veranstalten eine wilde Liebesorgie. Heut nacht können wir nämlich das breite Bett von Delagard besteigen.«

»Und dann?«

»Über das dann machen wir uns dann Sorgen. Später!« sagte Lawler.

9

Er wachte kurz vor dem Morgen auf. Sundira schlief weiter — mit einem Gesicht, so glatt und unbekümmert wie das eines Kindes. Er schlich sich aus der Kabine und stieg an Deck. Die Sonne kam über den Horizont, und das verwirrende Farbenspiel, das unentwegt vom ›Antlitz‹ aufstieg, wirkte an diesem Morgen gedämpfter als tags zuvor und viel weniger spektakulär. Er konnte noch immer den lockenden Sog als leises Kitzeln am Rand seines Bewußtseins spüren, aber mehr war es nun auch nicht, eben nur ein sanftes Kitzeln.

Die Gestalten der früheren Schiffsgefährten wanderten am Strand umher. Er beobachtete sie. Auch über die Entfernung hin vermochte er sie ganz leicht zu identifizieren: Kinverson, den Riesen, den kleinen Tharp, den vierschrötigen Delagard, den säbelbeinigen Felk und Father Quillan, ganz Haut und Knochen. Gharkid, dunkelhäutiger als die übrigen und schwebendleicht wie ein Geist. Und die drei Frauen, die vollbusige Lis und die kräftige breitschultrige Neyana und die hübsche biegsame Pilya. Was taten die dort? Wateten sie den Strand entlang? Nein! Sie wateten in die Bucht heraus, sie kamen hierher, sie kehrten zum Schiff zurück! Alle. Gelassen und mühelos kamen sie durch das seichte Wasser auf die Queen of Hydros zugeschwommen.

Lawler überlief ein Angstschauder. Es war wie eine Totenprozession, die da übers Wasser auf ihn zukam. Er eilte hinunter und weckte Sundira.

»Sie kommen zurück«, sagte er brutal.

»Was? Wer? Oh! Oh!«

»Alle, die ganze Besatzung kommt aufs Schiff zugeschwommen.«

Sie nickte, als bereite es ihr weiter keine Mühe zu akzeptieren, daß die früheren leiblichen Hüllen ihrer ehemaligen Schiffskameraden von jener unerläßlichen Wesenheit wiederkehrten, die ihre Seelen verschlungen hatte. Vielleicht ist sie ja noch nicht ganz wach, dachte Lawler. Doch sie erhob sich sogleich und eilte mit ihm an Deck. Überall rings um das Schiff schwammen jetzt ihre Gestalten, dicht unter der Reling, und Lawler rief zu ihnen hinab.

»Was wollt ihr denn?«

»Wirf die Strickleiter aus«, erwiderte die Kinverson-Gestalt mit erkennbar Kinversons Stimme. »Wir kommen an Bord.«

»O Gott«, flüsterte Lawler und warf Sundira einen entsetzten Blick zu.

»Tu’s!« befahl sie.

»Aber sobald die mal hier oben sind…«

»Was spielt das noch für eine Rolle? Wenn das ›Antlitz‹ beschließen wollte, seine ganze Energiestärke auf uns loszulassen, wären wir wahrscheinlich sowieso machtlos dagegen. Wenn sie an Bord kommen wollen, dann laß sie doch. Wir haben sowieso nicht mehr besonders viel zu verlieren, oder?«

Achselzuckend warf Lawler die Strickleiter aus. Kinverson kam zuerst an Bord gestiegen, dann Delagard, Pilya und Tharp. Die übrigen folgten. Sie waren alle splitternackt, und es fehlte ihnen an Leben und Leibhaftigkeit, sie wirkten wie Schlafwandler, wie Gespenster. Aber sie sind ja Gespenster, sagte Lawler sich.

»Also?« fragte er schließlich.

»Wir sind gekommen, um euch das Schiff segeln zu helfen«, sagte Delagard.

»Das Schiff? Wohin?« fragte er verblüfft.

»Dorthin, woher ihr gekommen seid. Es ist euch doch klar, daß ihr hier nicht bleiben könnt. Wir bringen euch nach Grayvard, damit ihr dort um Asyl bitten könnt.«

Delagards Stimme klang sachlich und ruhig, und seine Augen waren klar und gelassen, völlig ohne das gewohnte fiebrige Funkeln. Wer oder was immer dieses Geschöpf da war, es war etwas anderes als der Nid Delagard, den Lawler über so viele Jahre hin gekannt hatte. Seine Dämonen waren exorziert und gebannt. Er hatte eine tiefgreifende Verwandlung erfahren — vielleicht tatsächlich so etwas wie eine Erlösung und Befreiung. All sein Pläneschmieden und Ränkespiel war nun beendet. Und seine Seele schien Ruhe gefunden zu haben. Und so wirkten auch die übrigen: sie hatten ihren Frieden, waren im Frieden. Sie hatten sich dem Ding da, diesem ›Antlitz‹ überantwortet, hatten ihm ihre Individualität, ihr Selbst preisgegeben, etwas für Lawler geradezu Ungeheuerliches und Unvorstellbares; aber er mußte sich andererseits zugeben, daß die Rückkehrer anscheinend so etwas wie ihre Glückseligkeit gefunden hatten.

Mit einer Stimme, die leicht wie Luft klang, sagte die Quillan-Gestalt: »Ehe wir segeln, eine letzte Chance. Möchtet ihr nicht vielleicht doch auf die Insel? Doktor? Sundira?«

»Du weißt doch, daß wir nicht wollen«, sagte Lawler.

»Das liegt bei euch selbst. Aber wenn ihr erst einmal wieder zurück in eurem heimatlichen Meer seid, wird es nicht mehr ganz so leicht für euch sein, hierher zurückzukommen, falls ihr eure Ansicht ändert.«

»Damit kann ich leben.«

»Sundira?« fragte Quillan.

»Ich auch.«

Die Priesterhülle lächelte betrübt. »Die Entscheidung liegt bei euch. Aber ich wünschte, ich könnte euch begreiflich machen, was ihr für einen Fehler begeht. Begreift ihr eigentlich, warum wir auf der ganzen Seereise so unablässig angegriffen wurden? Warum die Rammhörner kamen und die Napfschnecke, die Hexenfische und alles übrige? Doch nicht, weil das bösartige Geschöpfe wären. Es gibt auf Hydros keine bösen Lebewesen. Sie haben nichts weiter versucht als eine Verletzung ihrer Welt zu heilen, mehr nicht.«

»Die Welt heilen?« fragte Lawler.

»Ja. Sie säubern. Sie von einer Verunreinigung befreien. Für sie — und für jede andere Lebensform auf Hydros — sind die hier hausenden Erdlinge Eindringlinge, Fremdkörper, weil sie nicht Teil der Harmonie sind, die das ›Antlitz‹ darstellt. Für sie sind wir Abkömmlinge von der Erde so etwas wie Viren oder Bakterien, die in einen gesunden Organismus eingedrungen sind. Die Angriffe gegen uns waren nichts weiter als der Versuch, den Körper von Krankheitserregern zu befreien.«

»Oder wie wenn man Sand aus dem Getriebe einer Maschine entfernt«, sagte Delagard.

Lawler wandte sich ab. Er merkte, wie in ihm Zorn und Ekel heraufquollen.

Sundira sagte leise zu ihm: »Sie sind wirklich schrecklich. Wie Gespenster. Nein, schlimmer: wie Zombies! Wir hatten Glück, daß wir genug Kraft hatten, uns dem zu widersetzen.«

»Hatten wir wirklich Glück?« fragte Lawler.

Ihre Augen weiteten sich. »Was meinst du damit?«

»Ich bin mir nicht sicher. Sie sehen so zufrieden aus, Sundira. Vielleicht sind sie ja in was anderes verwandelt worden, etwas Fremdes, aber wenigstens sieht es so aus, als hätten sie ihren Frieden.«

Ihre Nasenflügel blähten sich verächtlich. »Du sehnst dich nach diesem Frieden? Na, dann geh doch! Geh rüber! Du brauchst bloß ein kleines Stück weit zu schwimmen.«

»Aber nein. Nein!«

»Bist du sicher, Val?«

»Komm zu mir. Halt mich fest.«

»Ach, Val… Val…«

»Ich liebe dich.«

»Und ich liebe dich, Val.« Sie umarmten und küßten sich, als wären die Rückkehrer um sie herum gar nicht da. Dicht an seinem Ohr flüsterte sie: »Ich geh da nicht rüber, wenn du nicht auch gehst.«

»Ich werde nicht gehen, hab keine Angst.«

»Aber wenn doch, dann gehen wir gemeinsam.«

»Was?«

»Ja glaubst du denn, ich will die einzige auf diesem Schiff sein, die noch ein real existierender Mensch ist, und mit zehn Zombies, zehn lebenden Toten fahren? Das ist ein echtes Paktangebot, Val: Entweder wir gehen gemeinsam, oder ganz und gar nicht.«

»Wir gehen nicht.«

»Aber wenn…«

»Dann gehen wir gemeinsam«, sagte Lawler. »Aber wir werden nicht gehen.«


* * *

Als hätte sich nichts von außergewöhnlicher Bedeutung vor und auf der Insel ereignet, machte sich die Besatzung der Queen of Hydros daran, die Vorbereitungen zur Rückreise zu treffen. Kinverson legte seine Netze aus, und sie füllten sich prompt mit Fischen. Gharkid schob sich gemächlich durch das hüfthohe Wasser und sammelte verwertbare Algen ein. Neyana, Pilya und Lis zogen zwischen dem Schiff und der Insel hin und her und füllten die Behältnisse mit Trinkwasser; das sie aus einer Quelle am Ufer holten. Onyos Felk brütete über seinen Navigationskarten. Dag Tharp bastelte an seinen Funkgeräten herum und stellte sie neu ein. Delagard überwachte die Checks in den Masten und Segeln, am Ruder und am Schiffsrumpf und bestimmte, wo Ausbesserungsarbeiten nötig waren, und ansonsten griff er — wie Sundira und Lawler und sogar Father Quillan — mit zu, wo es nötig war.

Es wurde kaum gesprochen. Alle erledigten ihre Aufgaben, als wären sie Teile einer gutdurchdachten Maschinerie. Die Rückkehrer gingen behutsam mit den beiden ›Fremdkörpern‹ um und behandelten sie fast so, als wären sie entwicklungsgestörte Kinder, die besonders viel zärtliche Zuwendung brauchen; doch Lawler verspürte nicht, daß sich zwischen ihm und denen ein echter Kontakt ergab.

Immer wieder starrte er beklommen und fragend zum Land hinüber. Das farbige Lichterschauspiel, das von dort ausging, setzte sich ununterbrochen fort. Und diese konstante berserkerhaft wilde Kraftabstrahlung faszinierte ihn ebenso, wie sie ihn abstieß. Er versuchte sich vorzustellen, wie das für die anderen gewesen sein mußte, als sie an Land gegangen waren, wie sie sich durch diese Dschungel fremdartigen kochenden Lebens bewegten. Doch er wußte auch, daß derlei Spekulationen gefährlich waren. Immer wieder einmal verspürte er — und zuweilen unerwartet stark — den Sog, der von der Insel ausging. Und dann war die Versuchung sehr stark. Es würde doch so einfach sein, sich über Bord gleiten zu lassen wie die anderen, durchs warme einladende Wasser der Bucht zu schwimmen und diesen fremden Strand hinaufzugehen…

Aber es gelang ihm noch immer, Widerstand zu leisten. Er hatte sich so lange gegen den Sog der Insel gewehrt; er war nicht bereit, sich jetzt geschlagen zu geben. Die Vorbereitungen zur Abfahrt gingen weiter, und er blieb weiter beharrlich an Bord, und Sundira gleichfalls, während die anderen unbekümmert zwischen Schiff und Land hin und her pendelten. Es war irgendwie absurd und seltsam, aber keineswegs unangenehm. Als wäre das Leben irgendwie zwischen zwei Polen im Suspensionszustand. In gewisser Weise empfand Lawler das sogar als seltsam beglückend: Er hatte überlebt, hatte sich allen möglichen Widerwärtigkeiten mutig widersetzt und sie gemeistert; er war in den Schmelztiegel von Hydros geworfen worden und nur desto stärker und gestählter soeben dabei, daraus hervorzutauchen. Es hatte sich der Glücksfall ergeben, daß er Sundira liebte, und er fühlte, daß auch sie ihn liebte. Alles ganz neue Erfahrungen für ihn. Wie immer, wenn überhaupt, das neue Leben sein mochte, das ihm vielleicht nach dem Ende dieser Reise beschieden sein mochte, er würde gewiß besser befähigt sein als früher, mit den Untiefen und Trübstellen seiner Seele umzugehen.

Inzwischen war das Schiff fast startklar.

Es war nun später Nachmittag. Delagard hatte verkündet, man werde bei Sonnenuntergang aufbrechen. Daß sie im Dunkel aus dem Umkreis der Insel abfahren würden, schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. Der Lichtschein würde das Schiff eine ganze Weile lang begleiten und lenken, und danach konnten sie sich an den Gestirnen orientieren. Von der See war nichts zu befürchten, jetzt nicht mehr. Sie würde ihnen von nun an freundlich begegnen. Alles auf Hydros würde freundlich sein.

Auf einmal merkte Lawler, daß er allein an Deck war.

Die anderen waren wo an Land gegangen; zu einem Abschiedsbesuch, vielleicht. Aber wo war Sundira?

Er rief ihren Namen.

Es kam keine Antwort.

Einen panischen Augenblick lang dachte er, ob sie vielleicht mit hinübergegangen sein könnte. Dann sah er sie am Heck am Ladedeck. Und Kinverson stand neben ihr. Anscheinend waren die beiden tief im Gespräch.

Verstohlen schlich Lawler sich näher an sie heran. Und dann hörte er Kinverson auf sie einreden: »Du kannst doch überhaupt nicht beurteilen, wie das ist, solang du nicht selber drüben warst. Es ist so anders, völlig verschieden von dem gewöhnlichen Menschsein — wie es lebendig sein vom tot sein ist.«

»Ich fühl mich aber eigentlich ziemlich lebendig, so wie ich jetzt bin.«

»Aber du hast ja keine Ahnung! Du kannst es dir nicht vorstellen. Komm doch mit mir, jetzt gleich, Sundira. Es dauert nur einen Moment. Und dann wird dir alles aufgehen. Ich bin doch auch nicht mehr der Mann, der ich früher war, oder?«

»Eigentlich kaum noch…«

»Und trotzdem bin ich’s. Aber ich bin darüber hinaus so viel mehr geworden. Komm doch mit mir!«

»Bitte, Gabe. Laß mich!«

»Du willst doch rübergehen. Ich weiß, daß du es willst. Du willst doch nur wegen diesem Lawler bleiben.«

»Ich bleibe hier, weil ich es so will!« sagte Sundira.

»Das ist nicht wahr. Ich weiß es. Der armselige, müde, erbärmliche Hund. Du willst ihn bloß nicht im Stich lassen.«

»Nein, Gabe!«

»Du wärst mir dann aber dankbar.«

»Nein!«

»Komm doch mit mir!«

»Gabe — bitte!«

Aber auf einmal schwang ein zweifelnder Ton in ihrer Stimme mit, eine Klangfärbung, als gerate ihr fester Entschluß in Schwanken. Und Lawler empfand das wie einen schmerzhaften Schlag. Er sprang zu den beiden auf das Krandeck. Sundira wich mit einem entsetzten Keuchen zurück. Kinverson blieb, wo er war, und blickte Lawler gelassen entgegen.

Die Gaffeln und Harpunen lagen in ihren Halterungen. Lawler packte sich einen der Speere und richtete ihn auf Kinversons Gesicht.

»Du läßt sie in Ruhe!«

Der Riese besah sich die scharfe Waffe mit einem Ausdruck der Belustigung, vielleicht auch der Verachtung.

»Aber, Doc, ich tu ihr doch gar nichts.«

»Du versuchst sie zu verführen.«

Kinverson lachte. »Na, dazu braucht es ja wohl bei ihr nicht viel, oder?«

In Lawlers Ohren dröhnte plötzlich ein wütendes Getöse. Es kostete ihn große Mühe sich zu beherrschen. Am liebsten hätte er Kinverson den Speer in den Hals gerammt.

Und dann sagte Sundira: »Val, bitte. Wir haben doch bloß miteinander geredet.«

»Ja, das hab ich gehört. Über was ihr da — geredet habt. Der will dich beschwatzen, daß du mit ihm rübergehst, oder?«

»Das leugne ich ja nicht«, sagte Kinverson leichthin.

Lawler fuchtelte erneut mit der Gaffel. Ihm war bewußt, wie drollig, wie kindisch und dumm seine Erregtheit auf Kinverson wirken mußte. Schließlich überragte ihn Kinverson — trotz all seiner neugewonnenen heiligmäßigen Sanftheit — beträchtlich und bedrohlich und sah geradezu unverletzbar und unbesiegbar aus.

Doch Lawler mußte dem ein Ende machen. Mit gepreßter Stimme sagte er: »Ich will nicht, daß du noch einmal mit ihr sprichst, ehe wir losfahren.«

Kinverson lächelte freundlich. »Ich hab ihr doch nichts Böses getan.«

»Ich weiß, was du versucht hast. Und ich werde es nicht zulassen.«

»Sollte sie das nicht lieber selbst entscheiden, Doc?«

Lawler warf Sundira einen fragenden Blick zu. Sie sagte sanft: »Es ist schon gut, Val. Ich kann schon auf mich selber achtgeben.«

»Ja. Ja, natürlich.«

»Gib mir die Gaffel, Doc«, sagte Kinverson. »Sonst tust du dir damit noch weh.«

»Bleib, wo du bist!«

»Es ist meine Harpune, ja? Es steht dir nicht zu, damit herumzufuchteln.«

»Paß auf!« sagte Lawler. »Los, verschwinde! Verzieh dich vom Schiff! Los! Geh zurück zur Insel! Los, Gabe! Du gehörst nicht mehr hierher. Keiner von euch hat mehr hier was verloren… Das ist ein Schiff für Menschen!«

»Val!« rief Sundira.

Lawler packte den Speer fest und hielt ihn, wie er ein Skalpell halten würde, dann ging er ein, zwei Schrit te auf Kinverson los. Der Fischer richtete sich zu seiner ganzen gewaltigen Größe auf. Lawler holte tief Luft. »Los, hau ab!«, schrie er. »Geh zurück auf die Insel! Spring, Gabe! Gleich jetzt, da rüber!«

»Ach, Doc, Doc, Doc…«

Lawler stieß die Harpune scharf und heftig von unten her gegen Kinversons Zwerchfell. Der Stoß hätte ihn direkt ins Herz treffen müssen, doch Kinversons Arm bewegte sich mit unglaublicher Gewandtheit. Die Hand faßte den Speerschaft und drehte ihn, und Lawler fuhr ein stechender Schmerz durch den ganzen Arm. Und dann war die Harpune in Kinversons Hand.

Automatisch kreuzte Lawler die Arme vor dem Bauch, um sich gegen den zu erwartenden Stoß zu schützen. Kinverson betrachtete ihn, als tastete er ihn nach der richtigen Stelle für den Stoß ab. Bring’s schon hinter dich, Mistkerl, dachte Lawler. Jetzt und rasch! Er glaubte schon fast, den Stoß zu spüren, das brennende Eindringen der Zacken, das Zerreißen des Gewebes, die scharfe Spitze, die im Brustkorb zum Herzen vorstieß.

Doch es kam kein Stoß. Kinverson beugte sich nur gelassen nach vorn und klemmte die Gaffel wieder in ihre Halterung.

»Du solltest nicht so mit dem Werkzeug herumhantieren, Doc«, sagte er sanft. »Und jetzt entschuldige mich, bitte. Ich laß dich und die Lady jetzt allein.«

Er wandte sich ab, ging an Lawler vorbei und stieg aufs Hauptdeck hinab.


* * *

»Ich hab wohl recht blöd ausgesehen, da vorhin?« fragte er Sundira.

Sie lächelte, aber fast unmerklich. »Du hast in ihm immer schon eine Bedrohung gesehen, ja?«

»Er hat dich überreden wollen, da rüberzugehen — die Seiten zu wechseln. Ist das eine Bedrohung oder nicht?«

»Wenn er mich gepackt und körperlich von Bord geschleppt hätte, das hätte den Tatbestand der körperlichen Bedrohung erfüllt, Val.«

»Ja, schon gut, schon gut.«

»Aber ich verstehe, warum du dich aufgeregt hast. Sogar dermaßen, daß du glatt mit einer Waffe auf ihn losgegangen bist.«

»Das war blödsinnig. Pubertäres Verhalten…«

»Ja, das war es.«

Er hatte nicht erwartet, daß sie ihm so rasch und ohne Zögern zustimmen werde. Bestürzt sah er sie an und erblickte etwas in ihren Augen, das ihn sogar noch tiefer überraschte und bedrückte.

Etwas war anders. Zwischen ihnen lag jetzt eine Distanz, wie es sie schon seit langem nicht mehr gegeben hatte.

»Was ist mit dir, Sundira? Was geht da vor?«

»Ach, Val, Val…«

»Sag’s mir doch!«

»Es hat nichts mit dem zu tun, was Kinverson zu mir gesagt hat. Mich kann man nicht so leicht beschwatzen. Es ist ganz und gar mein eigener Entschluß.«

»Was ist dein eigener Entschluß? Um Himmels willen, wovon redest du denn?«

»Vom ›Antlitz‹.«

»Was?«

»Geh mit mir rüber, Val.«

Und das traf, als hätte Kinverson ihn tatsächlich harpuniert.

»Himmel!« Er wich ein paar Schritte vor ihr zurück. »Himmel, Sundira! Was redest du denn?«

»Daß wir gehen sollten.«

Er starrte sie an und hatte das Gefühl, als werde er mehr und mehr zu Stein.

»Es ist falsch, wenn du versuchst, dich dagegen zu wehren«, sagte sie. »Wir hätten es gleich zulassen sollen, uns dem ausliefern sollen, wie alle die anderen. Sie hatten es begriffen. Und wir waren blind.«

»Sundira?«

»Ich hab es gesehen und erkannt, Val. Alles in einem Nu, einem blitzhaften Augenblick. Während du mich vor Gabe zu schützen versucht hast. Wie töricht es doch ist, wenn wir uns mühen, unser kleines individuelles Selbst zu bewahren, all die kleinen Ängste und Eifersüchteleien und erbärmlichen Tricks und Spielchen. Wieviel besser wäre es, das alles einfach abzuwerfen und in die große Harmonie überzugehen, die hier herrscht. Zu den anderen gehören. Dazugehören. Zu Hydros gehören.«

»Nein! Nein!«

»Hier ist unsere einmalige Chance, die ganze Last, die uns so bedrückt, von uns abzuschütteln.«

»Ich kann einfach nicht glauben, daß du so was sagst, Sundira!«

»Aber ich sage es. Ich!«

»Er hat dich hypnotisiert, ja? Er hat dich mit irgendeinem Zauber verhext. Das Ding da drüben hat es getan.«

»Nein«, sagte sie und lächelte. Und dann streckte sie ihm die Hände entgegen. »Du hast mir einmal gesagt, du hast dich auf Hydros nie richtig heimisch gefühlt, obwohl du hier geboren bist. Weißt du noch, Val?«

»Also…«

»Erinnerst du dich noch? Du hast gesagt, Taucher und Speisefisch könnten sich hier zuhause fühlen, aber nicht du, und du hättest es auch nie getan… Du erinnerst dich. Ich seh doch, daß du es tust. Also: Hier bietet sich dir jetzt die Chance, endlich eine Heimat für dich zu finden. Teil des Planeten Hydros zu werden. Die alte ERDE gibt es nicht mehr. Wir sind jetzt Hydraner, und Hydraner gehören nun eben der Insel. Du hast dich lange genug dagegen gesträubt. Ich auch. Aber ich, ich gebe auf. Jetzt. Denn auf einmal sieht das alles ganz anders aus für mich. Willst du mit mir gehen?«

»Nein! Denn es ist Wahnsinn, Sundira. Ich werde dich vielmehr jetzt unter Deck bringen und dich drunten festbinden, bis du wieder zur Vernunft kommst.«

»Rühr mich nicht an«, sagte sie sehr leise. »Ich sag es dir, Val, versuch nicht, mich zu berühren.« Sie ließ die Augen seitwärts zu der Harpunenbatterie gleiten.

»Schön. Ich hab dich verstanden.«

»Ich werde gehen. Was ist mit dir?«

»Du weißt doch meine Antwort.«

»Du hast versprochen, wir würden gemeinsam gehen oder überhaupt nicht.«

»Dann eben überhaupt nicht, so war unsere Abmachung.«

»Aber ich will gehen, Val. Wirklich.«

Plötzlich schoß in ihm kalte Wut hoch und ließ seinen Kampfesmut erstarren. Mit diesem letzten, endgültigen Verrat hatte er nicht gerechnet. Also sagte er bitter: »Na, dann geh doch, wenn du das wirklich so meinst.«

»Und du kommst mit mir?«

»Nein. Nein. NEIN!«

»Du hast es versprochen!«

»Dann nehme ich hiermit mein Versprechen zurück«, sagte Lawler. »Ich hatte niemals vor, so was zu tun. Wenn ich dir tatsächlich versprochen haben sollte, ich würde mit dir gehen, wenn du gehst, dann habe ich dich eben belogen. Ich werde nie da rübergehen!«

»Das tut mir leid, Val.«

»Mir auch.«

Und wieder verspürte er den Drang, sie zu packen, sie unter Deck zu zerren und in seiner Kabine festzubinden, bis das Schiff in sicherer Entfernung draußen auf See war. Doch er wußte, daß er so etwas niemals würde tun können. Er konnte überhaupt nic hts tun. Gar nichts.

»Also, geh schon«, sagte er. »Hör auf, davon zu reden, und tu es endlich. Mein Gott, das Ganze ist ja zum Kotzen!«

»Komm mit mir«, bat sie noch einmal. »Es geht ganz rasch.«

»Niemals!«

»Also gut, Val«, sagte sie traurig. »Du weißt doch, ich liebe dich. Vergiß das nie. Ich bitte dich aus Liebe, und wenn du trotzdem nicht willst, nun, ich werde dich auch danach noch immer lieben. Und ich hoffe, daß auch du mich weiter liebst.«

»Wie könnte ich das?«

»Also, adieu, Val! Aber wir werden uns dann wiedersehen.«

Und Lawler schaute ungläubig zu, als sie die Leiter des Krandecks hinabstieg und übers Hauptdeck an die Reling ging, hinaufstieg und mit einem Sprung ins Wasser tauchte. Dann schwamm sie schnell und mit kräftigen Schlägen durch das dunkle Naß der Küste zu. Er sah ihr nach, wie er es schon einmal getan hatte — vor einer Million von Jahren, als sie durch die Sorve-Bucht geschwommen war. Dann aber wandte er sich ab, er wollte einfach nicht mehr zusehen, als sie noch nicht einmal die halbe Distanz zum Ufer durchschwömmen hatte. Er taumelte unter Deck und in seine Kabine, und dort verriegelte er die Tür hinter sich und saß zusammengekrümmt auf seinem Lager, während die Finsternis immer tiefer wurde. Jetzt wäre der rechte Augenblick gewesen für ein Tröpfchen Taubkraut-Elixier, für eine Kumme voll, für einen ganzen Zuber voll… und runter damit in einem einzigen gewaltigen Zug. Dann wären alle Qual und Schmerzen fortgespült! Aber leider war ja nichts mehr davon übrig. Also blieb ihm nichts, als still dazuhocken und zu warten, wie die Zeit verging. Und sie verging langsam, es schienen Stunden zu sein, Jahre. Dann hörte er droben Delagards Stimme auf Deck. Er gab den Befehl zum Aufbruch.


* * *

Selten war der Himmel ihm so klar erschienen, oder dieses ›Hydros-Kreuz‹ so leuchtend wie in dieser Nacht. Die Luft war vollkommen reglos, die See ruhig. Wie konnte das Schiff in dieser glasklaren See Fahrt machen, in solch einer vollkommen ruhigen Nacht? Und dennoch fuhr es. Wie von Zauberkräften bewegt, glitt es sanft durch die Dunkelheit. Sie waren bereits seit Stunden unterwegs. Das helle Leuchten der Insel war nach und nach schwächer geworden, bis es nur noch ein dunkles rötliches Glühen über dem Horizont war, und dann noch schwächer geworden, und nun konnte man fast gar nichts mehr davon sehen. Bis zum Morgen würden sie tief im Leeren Meer sein.


* * *

Lawler war allein. Er lag auf einem Haufen Schleppnetze am Heck.

Nie zuvor war er sich in seinem Leben so allein und verlassen vorgekommen.

Die anderen glitten stumm übers Deck, hantierten an den Segeln, den Tauen, den Backstagen, den Spieren und dem ganzen übrigen zur Segelung eines Schiffes nötigen nautischen Kram herum, den er nie so recht begriffen und mittlerweile völlig aus seinem Denken verdrängt hatte. Ihn brauchten sie dabei nicht; und er hatte nicht das geringste Verlangen, irgend etwas mit ihnen zu tun zu haben. Sie waren für ihn Maschinen, Teile einer gewaltigen Großmaschine. Tick-tick-Klack.

Kurz nachdem sie aufgebrochen waren, hatte sich Sundira zu ihm gesellt. »Es ist alles in Ordnung«, hatte sie gesagt. »Nichts hat sich geändert.«

Aber ihn überlief ein Schauder, und er wandte sich von ihr ab. Er brachte es nicht über sich, sie anzusehen.

»Du irrst dich«, erwiderte er. »Alles ist anders. Du bist jetzt ein Teil der Maschine. Und du möchtest, daß auch ich da mitspiele wie du. Es macht ›klick‹, und du tanzt dazu.«

»Aber so ist es doch überhaupt nicht, Val. Du selber würdest doch die Maschine sein. Und das, was da ›klick‹ macht, ebenfalls. Und du wärst der Tanz…«

»Das verstehe ich nicht.«

»Selbstverständlich nicht. Wie könntest du das auch?« Sie langte zärtlich nach ihm, und er schreckte zurück, als könnte sie ihn durch ihre Berührung verwandeln. Sie sah ihn bedauernd an. »Na gut«, sagte sie leise. »Wie du willst.«

Das war nun auch schon wieder Stunden her. Er war nicht mit den anderen zum Abendessen in die Kombüse gegangen. Aber er verspürte auch keinen Hunger. Und wenn er nie wieder einen Bissen essen würde, so war ihm auch das recht. Aber sich mit denen an einen Tisch zu setzen und zu essen, die Vorstellung war ihm unerträglich, war unmöglich. Er, der einzige echte, nicht-pervertierte Mensch auf diesem Schiff voller Zombies, voller Lebendig-Toter — die einzige noch existente reale Menschhaftigkeit…

Alone, alone, all, all alone

Alone on a wide wide sea!

And never a saint took pity on

My soul in agony.[6]

Worte. Fragmentarische Erinnerungsbruchstücke aus einer uralten, unwiederbringlich verlorenen Welt. Zeilen eines Gedichts…

The Sun’s rim dips; the stars rush out:

At one stride comes the dark;

With far-heard whisper o’er the sea

Offshot the spectre-bark.[7]

Lawler blickte zu dem fernen Licht der Sterne auf. Eine unverhoffte Ruhe war über ihn gekommen. Es überraschte ihn, wie gelassen er blieb, als habe er den Bereich überschritten, bis in den Stürme noch vordringen konnten. Sogar in den Tagen, da ihm sein Taubkraut-Extrakt als Tröstung zur Verfügung gestanden hatte und jederzeit griffbereit, hatte er kein derartiges Gefühl von ungetrübtem Frieden erfahren. Jedenfalls kaum jemals so wie jetzt.

Wie kam das? Hatte das Inselland ihn mit einem Zauber belegt wie Sundira, der selbst über die Entfernung hin wirksam wurde?

Das konnte er nicht glauben. Und außerdem würde ihn eine solche Magiermogelei jetzt nicht mehr beeinflussen können. Er war doch inzwischen bestimmt weit außerhalb der Reichweite. Nichts hier draußen vermochte jetzt mehr sein Denken zu beeinflussen — außer dem dunklen Himmelsgewölbe und der gemächlich rollenden See und dem scharfen kantigen Licht der Gestirne. Dort drüben breitete sich das Kreuz über den Südhimmel, der gewaltige Doppelbogen von Sonnen — Milliarden von Sonnen, hatte ihm einmal jemand gesagt. Abermilliarden von Sonnen! Und zehnmal so viele Planetenwelten! Sein Kopf begann unter der Vorstellung schwirren: Diese unendliche Zahl von zu wimmelnden Welten — und voll von Städten, Kontinenten und von tausenderlei verschiedenen Geschöpfen…

Und er starrte zu all diesen Welten und Geschöpfen hinauf in den Himmel, und während er so kosmisch fixiert war, entstand langsam in ihm eine neue Vision, gestaltlos und träge zunächst, dann wurde sie in einem mächtigen Ausbruch klar und deutlich, bis sie schließlich sein Bewußtsein fast völlig erfüllte. Er sah die Sterne als ein einziges weitgespanntes Gewebe, als ein unermeßliches metaphysisches Konstrukt, eine geheimnisvoll in sich verknüpfte galaktische Einheit, so wie auch alle die einzelnen Teilchen hier auf dieser Wasserwelt eine Einheit bildeten.

Kraftlinien pulsierten durch die Leere, flossen wie Blutadern durch das Firmament und verbanden jedes mit allem. Zwischen den Welten eine unendliche schwingende Vernetzung. Er konnte den Atem des Universums fühlen wie den einer einzelnen von unauslöschbarer Lebenskraft brennenden Einheit.

Und Hydros war Teil des himmlischen Kosmos, und der Kosmos war ein einziges gewaltiges lebensglühendes beseeltes Ding. Geh ein in Hydros, und du wirst zum Teil des ALLS. So stand das Angebot. Und einzig er allein, er, Lawler, aus dem ganzen Universum, verweigerte die Vereinigung mit dem Großen Einen.

Er allein. Er als einziger.

War es das, was er wirklich und wahrhaftig wollte? Diese Abgesondertheit, die Einsamkeit der furchtbaren geistigen Unabhängigkeit?

Das ›Antlitz‹ bot die Unsterblichkeit — sogar die Gotthaftigkeit — innerhalb eines gewaltigen geschlossenen Organismus. Und dennoch hatte er es vorgezogen, Valben Lawler zu bleiben und nichts sonst zu werden. Stolz hatte er zurückgewiesen, was den Teilnehmern dieser Reise angeboten wurde. Mochte der arme skrupelzerquälte Quillan sich freudig einem Gott ausliefern, nach dem er sein Leben lang gesucht hatte; sollte doch der kleine Dag Tharp gern alle Tröstung finden, die er brauchte; sollte der geheimnisumwitterte Gharkid, der nach etwas Höherem als er selbst war gesucht hatte, sich aufgeben… Aber ich, Lawler, ich nicht! Ich bin nicht wie sie!

Und er dachte an Kinverson. Sogar er, dieser grobschlächtige einsame Bär, war am Ende übergelaufen. Und Delagard. Und Sundira.

Nun, so soll es denn sein, wie es ist, sagte er sich. Ich bin, der ich bin. So oder so. Und so bleibe ich!

Er lehnte sich zurück und starrte zu den Sternen hinauf und vertiefte sich ganz in das feurige Funkeln des ›Kreuzes‹, bis es ihn ganz erfüllte. Wie friedvoll es jetzt hier ist, dachte er. Wie still.

I woke, and we were sailing on

As in a gentle weather:

’Twas night, calm night, the Moon was high;

The dead men stood together.[8]

»Val? Ich bin’s.« Er blickte auf. Ein Schatten schob sich zwischen sein Gesicht und die Sterne. Sundira stand dicht bei ihm.

»Darf ich mich zu dir setzen?« fragte sie.

»Wenn du willst.«

Sie ließ sich neben ihm nieder. »Ich hab dich beim Essen vermißt. Wieso bist du nicht gekommen? Du mußt was essen.«

»Ich war nicht hungrig. Aber ihr, ihr eßt noch immer, obwohl ihr verwandelt worden seid?«

»Selbstverständlich. Es ist eine andere Art von Veränderung.«

»Ja, wahrscheinlich. Woher sollte ich das wissen?«

»Ja, wie könntest du das auch wissen.« Sie strich sacht mit der Hand über seinen Arm. Und diesmal zuckte er nicht zurück. »Es hat sich mit uns nicht so viel verändert, wie du vielleicht meinst. Ich lieb dich immer noch, Val. Ich hab dir gesagt, daß ich dich weiter lieben würde, und es ist wahr.«

Er nickte. Es gab nichts, was er hätte sagen können.

Liebte auch er sie noch? War so etwas überhaupt auch nur vorstellbar?

Er ließ den Arm um ihre Schulter gleiten. Die Haut war weich und kühl und so vertraut. So angenehm. Sie kuschelte sich an ihn. Sie hätten die einzigen Menschen auf der Welt sein können. Und sie fühlte sich für Lawler noch immer sehr menschlich an. Er beugte sich zu ihr und küßte sie sacht in die Kuhle zwischen Hals und Schulter. Sie kicherte.

»Val!« sagte sie. »Ach, Val…«

Das war alles, nur sein Name. Was dachte sie? Was hatte sie ungesagt gelassen? Daß sie sich wünschte, er wäre mit ihr gemeinsam zur Insel gegangen? Daß sie noch immer hoffte, er werde es tun? Daß sie betete, er möge zu Delagard gehen und ihn bitten, das Schiff zu wenden und zur Insel zurückzusegeln, auf daß auch er die Verwandlung erleben könne?

Und hätte ich nicht vielleicht doch mit ihr gehen sollen? War es falsch, daß ich mich verweigert habe?

Einen Augenblick lang sah er sich selbst im Innern, als Teil der Maschine, als Teil des ALLS — endlich preisgegeben, aufgegeben, überantwortet und tanzend mit allem übr igen.

Nein. Nein. Nein und Nein! Ich bin, der ich bin. Und ich habe getan, was ich tat, weil ich bin, der ich bin!

Er lehnte sich wieder zurück, und Sundira kuschelte sich an ihn. Er blickte wieder zu den Sternen auf. Und wieder eine neue Vision überkam ihn: Die ALTE ERDE von einst, das Verlorene Paradies.

Seine große romantische Träumerei von dem alten zerstörten Planeten, diesem blauschimmernden Juwel, der verlorenen, vergewaltigten, vernichteten Mutterwelt der menschlichen Rasse, erfüllte seine Seele aufs neue. Er sah sie, wie er sich wünschte, daß sie gewesen sei: eine friedvolle harmonische Welt, wimmelnd von liebevollen friedlichen Menschen, ein Heiligtum und eine Zufluchtsstätte, die perfekte geschlossene Einheit. Aber war es auf der ALTEN ERDE wirklich jemals so gewesen? Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, dachte er. Nein, höchstwahrscheinlich nicht. Es war ein Planet wie jeder andere gewesen, und Böses und Übles kamen auch dort reichlich vor, und Unzulänglichkeit und Fehlschläge… Und außerdem und überhaupt war dieser Planet aus dem Universum verschwunden. Ausgelöscht durch einen bösen Unstern, ein übles Verhängnis.

Und da sind wir jetzt. Da liegen wir. Requiescant in pace! Friede ihrem Staub!

Lawler blinzelte in die Nacht hinauf. Er stellte sich vor, er schaue zu der Stelle im Kosmos, an der sich die Mutterwelt einst befunden hatte. Aber er wußte ja, daß es für die im Universum verstreuten Nachkommen der überlebenden Erdenmenschen keine Hoffnung gab, jemals die verlorene Heimat der Vorväter wieder in Besitz zu nehmen.

Nein, sie mußten weiterziehen, mußten in diesem gewaltigen Universum eine neue Heimstatt finden, in das sie als Flüchtlinge und Exilanten geworfen worden waren. Sie mußten sich ändern, sich transformieren. Die Metamorphose wagen. Die Transfiguration!

Abrupt richtete er sich auf, als hätte ihn ein Blitzstrahl gestreift. Auf einmal war ihm alles so erstaunlich klar. Die Menschen, die er gekannt hatte und die ihr alltägliches kleines Leben gelebt hatten, als ob es nie so etwas wie die ALTE ERDE gegeben hätte, hatten recht gehabt damit, und er, der sich in hoffnungslose Träumereien verstrickt hatte, in Dinge, die einmal vor langer Zeit und in weiter Ferne gewesen waren, er hatte unrecht gehabt. Es würde nie mehr eine ERDE geben, für keinen Erdabkömmling. Und für die auf Hydros lebenden Menschen gab es schlicht und klar nur Hydros. Jetzt und für immer und ewig. Es war einfach Wahnsinn, wollte man versuchen, sich abzusondern, sich für sich zu halten, sich verzweifelt an eine Erblast und ERD-Identität zu klammern, während man inmitten der alteingesessenen heimischen Lebensformen der Gastwelt zu leben versuchte. In welcher Welt man sich auch befinden mochte, dachte Lawler, man hat die Pflicht und Verpflichtung, sich zu einem vollfunktionierenden, integrierten Teil dieser Lebenswelt zu machen. Wenn du das nicht tust, wirst du immer der Außenseiter bleiben, der Fremdling, der Befremden auslöst und isoliert bleibt.

Ja. Das war es. Und hier bin ich jetzt, und ich bin noch mehr allein, als ich es jemals vorher war. Und Hydros hatte ihm die Eingliederung angeboten, hatte ihn aufnehmen wollen, aber er hatte das zurückgewiesen, und zwar nachdrücklich und unwiderruflich, und nun war alles zu spät.

Er schloß die Augen und sah noch einmal die ALTE ERDE vor sich in den Himmeln schweben: Hell und wunderbar. Die Vision seines verlorenen Paradieses, die er so viele Jahre mit sich herumgeschleppt hatte, loderte noch einmal — und leibhaftiger als je zuvor in seinem Gehirn auf. Der blaue Planet ERDE — so bezaubernd und so fremd — und die goldnen und grünen Landmassen, die im Lichte einer Sonne leuchteten, die er niemals gesehen hatte. Aber während er hinsah, begannen die weiten blauen Meere zu kochen. Dampf brodelte von ihnen auf. Das feste Land wurde von Flammen zerfressen. Die golden- grünen Weiten wurden braun und dann schwarz, und in ihnen taten sich tiefe scharfe Brüche auf, schwärzer als die Nacht.

Und nach dem Feuer — Eis, Tod, Finsternis. Ein Regen von kleinen toten Dingen rieselte durch den Weltraum. Eine Münze, das Fragment einer kleinen Statue, ein Tonscherben, eine Karte, eine verrostete Waffe, ein Steinsplitter. Und das torkelte und stürzte ziellos und wirr durch die weiten stillen Wüsten der Galaxie. Lawler verfolgte ihre Fugbahnen mit dem Blick.

Und alles dahin, dachte er. Gib’s auf! Laß es los! Fang ein neues Leben an!

Die Plötzlichkeit, mit der diese Idee ihm kam, überraschte ihn.

Wie? Was war das? Was hast du da grad gesagt? fragte er sich selber.

Aufgeben? Sich aufgeben? Preisgeben und mitmachen? War es das? Lawler begann zu zittern, und ihm brach der Schweiß am ganzen Körper aus. Er setzte sich auf und schaute hinaus auf die See, zurück zu der fernen Insel und dem ›Antlitz‹.

Und nun hatte er den Eindruck, als spüre er diese Kraft von drüben trotz allem, als könne sie ihn trotz der Entfernung erreichen, in sein Denken eindringen, ihre Tentakel um seine Seele schlingen und ihn mitreißen, ihn an sich ziehen.

Er wehrte sich dagegen. Wild und heftig und voller Wut kämpfte er und biß gegen dieses Fremde an, gegen diese Potenz, die sich seiner bemächtigen wollte. Stumm kämpfte er einen endlosen Augenblick lang dagegen an und versuchte, die in ihn vordringenden Energien wieder aus sich herauszufiltern. In seinem Geist tauchte das Bild Gospo Struvins auf, wie der damals, ganz zu Beginn der Reise, vergeblich gegen dieses dumpfigfeuchte gelbliche Faserngewächs angekämpft hatte, das aus der See heraufgestiegen war und ihn zu umstricken und einzuwickeln versuchte. Und wie Struvin in der Luft gezappelt hatte, wie er den Fuß geschleudert hatte in dem vergeblichen Versuch, sich von diesem klebrigen hartnäckigen Zeug zu befreien, das ihn umwickelte. Und so war es auch jetzt. Lawler wußte, daß er jetzt genauso um sein Leben kämpfte wie damals Gospo. Und Gospo hatte verloren.

Geh — weg — von — mir!

Er raffte alle seine inneren Kräfte zu einem großen reinigenden Befreiungsschlag zusammen und stieß zu.

Und stieß gegen — nichts. Da war nichts. Keine Netze oder Fesseln banden ihn. Keine unerklärliche Macht packte ihn in irgendeiner Würgeschlinge. Und er verstand es, begriff es über jeden Zweifel erhaben. Er kämpfte gegen SCHATTEN an, rang mit sich selbst, gegen sich selbst und gegen niemanden und nichts sonst.

Also — willst du jetzt doch überlaufen? fragte er sich dumpf. Trotz allem, jetzt willst auch du gehen? Sogar du? Und willst du es wirklich? Aber was willst du eigentlich im Leben wirklich?

Und wieder sah er die blaue ERDE, und in seiner Vorstellung leuchtete und schimmerte sie wie früher. Und dann begann sie wieder zu kochen und zu brodeln und brandgeschwärzt zu werden. Und wieder sah er das Eis, den Tod, die Finsternis und die winzigen Fragmente durchs Universum stürzen.

Und dann zwang sich ihm die Antwort auf: Ich will nicht allein sein. Will nie mehr allein sein. O mein Gott, hilf mir! Ich will nicht der letzte Erdenmensch sein, wenn es die Erde nicht mehr gibt!

Da machte Sundira, die warm an ihn geschmiegt lag, eine Bewegung. »Val? Woran denkst du denn?«

»Daß ich dich liebe«, sagte er.

»Wirklich? Auch so, wie ich jetzt bin?«

Er atmete tief durch. Und atmete die Luft von Hydros so heftig und gründlich ein wie nie zuvor in seinem Leben.

»Ja«, sagte er dann.


* * *

Da, wo einst in seinem Bewußtsein das Bild der ERDE gewesen war, schwebte nun nur noch eine makellose schimmernde Wasserkugel. Die zerspellten winzigen Objekte, die von der sterbenden Welt fortgefallen waren, schwebten einige Augenblicke über der Oberfläche der gewaltigen Wassersee. Dann stürzten sie ab und verschwanden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Lawler spürte eine gewaltige Erleichterung, einen plötzlichen Einbruch von mildem Tauwetter. Etwas in ihm zerbarst und brach auf wie das Treibeis zum Ende des Winters. Und strömte in Schollen fort und fort und weg von ihm.


* * *

Lawler richtete sich auf und wandte sich Sundira zu, um ihr zu sagen, was ihm soeben geschehen war. Aber das war nicht nötig. Lächelnd schaute sie ihn an. Sie wußte. Und dann spürte er, wie das Schiff unter ihnen einen weiten Bogen zog, wendete und durch die leuchtende See wieder auf die Insel, das ›Antlitz‹, das Land über den Wassern zustrebte.

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