ZWEITER TEIL Das Meer der Leere

1

Die ersten vier Tage der Fahrt waren geruhsam verlaufen, was beinahe verdächtig war. »Richtig gruslig, das ist es«, sagte Gabe Kinverson und wackelte feierlich mit dem Kopf. »Eigentlich müßte es hier draußen, mitten im Nirgendwo, Ärger geben.« Er blickte auf die langsame, gleichmäßige graublaue Dünung hinaus. Der Wind blieb fest. Die Segel waren voll. Die Schiffe blieben dicht beisammen und zogen über die glasige See nach Nordwesten, auf Grayvard zu. Die neue Heimat, das neue Leben; für die achtundsiebzig Reisenden, die Verbannten, die Ausgestoßene n, war dies wie eine zweite Geburt. Aber konnte eine Geburt — sei es die erste oder die zweite — so leicht vonstatten gehen? Und wie lange noch, bevor es aufhörte, so leicht zu sein?


* * *

Am ersten Tag, während sie noch durch die Bucht segelten, hatte Lawler sich dabei ertappt, daß er immer wieder nach achtern wanderte und zur Insel Sorve zurückblickte, bis sie immer mehr entschwand und unsichtbar wurde.

Während dieser ersten Stunden der Reise hatte Sorve sich noch hinter ihm erhoben wie ein langgestreckter gelbbrauner Hügel. Es schien immer noch real und greifbar geblieben. Er hatte den vertrauten Mittelkamm und die sich breitenden Schenkel ausmachen können, die grauen Spitzen der Vaarghs, das Kraftwerk, die verstreuten Gebäude der Delagard-Werft. Er bildete sich sogar ein, er könne die Reihen düsterer Gillies ausmachen, die sich zum Strand begeben hatten, um die Abfahrt der sechs Schiffe zu überwachen.

Dann nahm das Wasser eine neue Färbung an; das leuchtende Dunkelgrün der seichten Bucht wurde von der Farbe des Ozeans abgelöst, die hier ein dunkles Blau war, mit Grau vermischt. Hier war wirklich der Punkt der Trennung vom Land, wenn die Bucht hinter einem lag. Lawler empfand dies, als wäre eine Falltür unter ihm aufgegangen und er ohne Rettungsleine ins Bodenlose gestürzt worden. Sobald der künstliche Meeresboden hinter ihnen zurückgeblieben war, begann Sorve rapide zu schrumpfen, wurde immer weniger, schließlich nur mehr eine dunkle Linie überm Horizont, und dann war es verschwunden.

Weiter draußen würde der Ozean wieder andere Färbungen aufweisen, je nach den Mikroorganismen, die in ihm lebten, je nach dem Klimaumfeld, je nach den Stoffen, die aus der Tiefe heraufgewälzt wurden. Die einzelnen Meeresgebiete des Großozeans waren nach der in ihnen vorherrschenden Färbung benannt worden: das Rote Meer, das Gelbe, Azurblaue, Schwarze Meer. Fürchten mußte man das ›Leere Meer‹, eine Seegegend wie fahlblaues Eis, eine Wasserödnis. Gewaltige Teile des Ozeans waren von dieser Art, und es gab beinahe nichts Lebendiges in ihnen. Allerdings führte der geplante Kurs der Expedition nirgendwo in die Nähe eines dieser Leeren Meere.

Die Flottille zog in enggeschlossener Keilformation dahin, und es war beabsichtigt, dies Tag und Nacht durchzuhalten. Jedes Schiff des Konvois stand unter dem Kommando eines der Fährschiffkapitäne Delagards, mit einer Ausnahme: Das Schiff mit den elf Frauen der ›Schwesternschaft‹ wurde von ihnen selber gesteuert. Delagard hatte innen einen seiner Männer angeboten, doch sie hatten, wie er es erwartet hatte, ein Männerkommando abgelehnt. »Ein Boot zu segeln, das ist doch kein Problem«, wies ihn Schwester Halla zurecht. »Wir werden einfach darauf achten, wie ihr das macht, und genau das gleiche tun.«

Die Queen of Hydros, Delagards Flaggschiff mit Gospo Struvin als Kapitän, lag an der Spitze der Keilformation. Danach folgten die Black Sea Star unter Poitin Stayvol und die Sorve Goddess unter Bamber Cadrell; dahinter die restlichen drei Schiffe in breiterer Linie, die übrigen Schiffe, in der Mitte die Hydroskreuz mit den Konventschwestern, flankiert von den Three Moons unter Martin Yanez und der Golden Sun mit Käptn Damis Sawtelle.

Nun war nichts mehr zu sehen als der Himmel und die See, der weite flache Horizont und die sanfte Dünung des Ozeans. Über Lawler senkte sich ein merkwürdiges friedliches Gefühl; er fand es erstaunlich leicht, in die überdimensionale Weite einzutauchen und sich darin zu verlieren. Die See ging ruhig, und es sah so aus, als werde sie in alle Ewigkeit so bleiben. Sorve war nicht mehr sichtbar, gewiß, Sorve war fort. Doch was machte das? Sorve war nicht mehr von Bedeutung.

Er ging auf dem Deck nach vorn und genoß dabei den Wind in seinem Rücken, der das Schiff voranschob und ihn Augenblick um Augenblick von allem, was er je gekannt hatte, immer weiter entfernte.

Father Quillan stand beim Fockmast. Der Geistliche trug eine dunkelgraue Hülle aus irgendeinem ungewöhnlichen Webstoff, der weich und luftig aussah, ein Kleidungsstück, das er von einer fremden Welt mitgebracht haben mußte. Auf Hydros gab es derartige Stoffe nicht.

Lawler blieb bei ihm stehen. Quillan deutete mit weit ausholender Armbewegung über das Wasser. Das Meer sah aus wie ein gewaltiger, wild funkelnder blauer Edelstein, der sich überallhin ausdehnte, als wäre der ganze Planet eine einzige glatte schimmernde Kugel. »Wenn man sich das so betrachtet, käme man doch nie auf den Gedanken, daß es in der Welt noch etwas anderes geben könnte als Wasser, nicht wahr?«

»Hier jedenfalls.«

»Ein derartig riesiger Ozean. Und diese Leere überall.«

»Das zwingt einem die Vermutung auf, daß es Gott geben muß, wie? Diese scheinbare Unendlichkeit.«

Der Priester blickte Lawler bestürzt an.

»Tut es das?«

»Ich weiß es nicht, ich habe dich gefragt.«

»Glaubst du an Gott, Lawler?«

»Mein Vater glaubte.«

»Aber wie ist es mit dir?«

Lawler zuckte die Achseln. »Mein Vater hatte mal eine Bibel. Er las uns daraus vor. Irgendwie ging das Buch dann vor langer Zeit verloren. Oder man hat es gestohlen. Ich erinnere mich daran, aber nur wenig. Und Gott sprach, es werde ein Festes zwischen den Wassern und es scheide die Wasser von den Wassern. Und Gott nannte dies Feste Himmel… Da, diesen Himmel dort oben, richtig, Father Quillan? Hinter unserem Himmel? Und die Gewässer jenseits davon, sofern es sie gibt, die sind der Ozean des Raumes?« Der Priester starrte ihn verblüfft an. »Und Gott sprach, es sammle sich das Wasser unter der Feste an einem Orte, daß man das Trockene sehe. Und also geschah es. Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer.«

Quillan fragte: »Sie kennen die ganze Bibel auswendig?«

»Nein, nur eine Winzigkeit. Die erste Seite. Das ganze übrige Zeug ergab für mich einfach keinen Sinn… diese ganzen Propheten und Könige und Schlachten und so.«

»Und Jesus?«

»Die Geschichten mit dem waren weiter hinten. Ich bin nie bis dorthin gekommen mit Lesen.« Lawler blickte zu dem stetig davongleitenden Horizont: Blau, das sich unter anderem Blau ins Unmeßbare weiterkrümmte. »Aber da es hier kein trockenes Land gibt auf Hydros, hat Gott anscheinend für hier eine andere Schöpfungsabsicht verfolgt als bei der Erschaffung der ERDE. Meinen Sie nicht auch? Gott nannte das trockene Land ERDE. Und das nasse Land nannte er dann wohl Hydros, vermute ich. Das muß eine fürchterliche Arbeit gewesen sein, die Erschaffung all dieser verschiedenen Welten. Nicht bloß die ERDE, sondern auch jede einzelne andere Welt in der Galaxis. Iriarte, Fenix, Megalo Kastro, Darma Barma, Mentirosa, Copperfield, Nabomba Zorn, den ganzen Sack voll, die Abermillionen Planeten. Mit einer bestimmten speziellen Absicht für jede einzelne Welt, oder wozu hätte er sonst dermaßen viele schaffen sollen? Und es war doch wohl der eine gleiche Gott, oder, der sie erschaffen hat?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Quillan.

»Aber du bist doch — Priester!«

»Das bedeutet nicht, daß ich alles weiß. Es bedeutet nicht einmal, daß ich überhaupt etwas weiß.«

»Glaubst du an Gott?« fragte Lawler.

»Ich weiß es nicht.«

»Glaubst du an überhaupt irgend etwas?«

Quillan schwieg lange. Sein Gesicht war völlig ohne Ausdruck, als wäre momentan seine Seele aus dem Körper gewichen.

»Nein, ich glaub nicht«, sagte er dann.


* * *

Die See wirkte aus irgendeinem unerfindlichen Grund jetzt auf einmal flacher, als es von der Insel aus der Fall gewesen war. Die Nacht brach hier plötzlicher herein, fast schlagartig. Die Sonne sackte durch den westlichen Himmel, schwebte einen kurzen Augenblick über der Kimmung des Meeres und tauchte unter. Und praktisch gleichzeitig wurde es hinter ihnen dunkel, und das KREUZ begann aufzuleuchten.

»Erste Wache, Essenfassen!« brüllte Natim Gharkid und trommelte auf einen Topfboden.

Die Bootsmannschaft der Queen of Hydros war in zwei Wachen eingeteilt, die sich im Vierstundenrhythmus abwechselten. Die zu einer Wache gehörenden Exilanten nahmen ihre Mahlzeiten gemeinsam ein. Zur ersten Wache gehörten Leo Martello, Gabe Kinverson, Pilya Braun, Gharkid, Dag Tharp und Gospo Struvin; die zweite Wache setzte sich aus Neyana Golghoz, Sundira Thane, Dann Henders, Delagard, Onyos Felk, Lis Nikiaus und Father Quillan zusammen. Es gab keine gesonderte Offiziersmesse; Delagard, der Reeder, und Struvin, sein Kapitän, aßen mit den übrigen in der Kombüse. Lawler, der keine festen Arbeitszeiten hatte, sondern ununterbrochen im Dienst war, unterlag als einziger nicht dieser Einteilung. Das kam seinem persönlichen Biorhythmus entgegen: Er konnte seine Morgenmahlzeit in der Dämmerung mit der zweiten Wache, das Abendessen mit der ersten bei Sonnenuntergang einnehmen. Aber es verlieh ihm auch ein seltsames Gefühl der Ungebundenheit, so als gehörte er nicht wirklich dazu. Bereits jetzt, in den ersten Tagen der Reise, begannen die zu den zwei Wachen gehörigen Passagiere so etwas wie Teamgeist zu entwickeln, und Lawler gehörte zu keinem der beiden Teams.

»Grünkraut-Eintopf heut abend«, Lis Nikiaus, als die Leute in die Kombüse kamen. »Gebackene Pilotfischflossen, Fischgrütze- Pfannkuchen und Weichbeersalat.« Es war der dritte Abend der Reise. Die Speisenfolge war bisher jedesmal dieselbe gewesen, und jedesmal hatte Lis mit fröhlicher Stimme dieses Menü angekündigt, als erwarte sie Stürme der Begeisterung. Sie übernahm vorwiegend das Kochen, und Gharkid und gelegentlich Delagard halfen dabei. Es waren karge Mahlzeiten, und es bestand wenig Aussicht, daß sie im weiteren Verlauf der Fahrt besser werden würden: Getrockneter Fisch, Pfannkuchen aus Fischmehl, Trockenalgen, Brot aus Algenmehl, ergänzt durch Gharkids jüngsten Fang von frischen Algen oder was sonst an Lebendigem am Tag ins Netz gegangen war. Bislang waren das stets nur Pilotfische gewesen. Seit der Abfahrt von Sorve waren diese geschwinden, neugierigen und gierigen speernasigen Geschöpfe in ganzen Schwärmen hinter dem Konvoi hergeschwommen. Kinverson, Pilya Braun und Henders waren die Fänger; sie arbeiteten von dem Fischplateau am Heck aus mit einer Rollenwinsch.

Struvin bemerkte: »War’n leichter Tag heut.«

»Zu leicht«, grunzte Kinverson und beugte sich über seinen Teller.

»Was willste? Willste Stürme? Die Tidenwoge?«

Kinverson zuckte die Achseln. »Eine leichte See macht mich mißtrauisch.«

Dag Tharp spießte eine zweite Fischmehlfrikadelle auf und sagte: »Wie steht’s mit dem Wasser heut abend, Lis?«

»Noch ein Schuß für jeden, mehr gibt’s nicht für diesmal.«

»Shit! Der Fraß macht durstig, weißte?«

»Wir werden noch viel durstiger sein, wenn wir schon in der ersten Woche unseren ganzen Wasservorrat saufen«, sagte Struvin. »Ihr wißt das ebensogut wie ich. Lis, hol ein paar rohe Fischfilets raus für den Funker und bring sie ihm.«

Vor der Abfahrt von Sorve hatten die Dorfbewohner so viele Trinkwasserbehälter an Bord genommen, wie die Schiffe nur tragen wollten. Dennoch hatten sie zum Zeitpunkt der Ausfahrt nur etwa ausreichend Vorräte für drei Wochen, berechnet auf rationierten Verbrauch. Sie würden sich unterwegs auf Regenfälle verlassen müssen; und wenn es nicht regnen sollte, würden sie andere Wege finden müssen, an Trinkwasser zu gelangen. Rohen Fisch zu essen, das war eine Möglichkeit. Jedermann wußte das. Doch Tharp mochte das nicht. Er blickte finster von seinem Teller auf. »Laß das! Ich kann rohen Pilotfisch nicht ausstehen!«

»Das nimmt aber den Durst«, sagte Kinverson ruhig.

»Es nimmt einem den Appetit«, sagte Tharp. »Ach, scheiß doch drauf, da bleib ich lieber durstig.«

Kinverson zuckte die Achseln. »Wie du willst. In ein, zwei Wochen denkst du bestimmt anders darüber.«

Lis setzte eine Schüssel mit bläßlichgrünen Fleischstücken auf den Tisch. Die rohen nassen Fischstücke waren in Streifen von frischgeernteten Gelbalgenblättern gewickelt. Tharp stierte trübselig auf die Schüssel. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Nach einem kurzen Zögern nahm Lawler sich von dem Gericht, auch Struvin und Kinverson. Der rohe Fisch war für Lawler angenehm kühl auf der Zunge, irgendwie besänftigend, beinahe durststillend. Beinahe.

»Was hältst denn du davon, Doc?« fragte Tharp nach einer geraumen Weile.

»Also — gar nicht so übel.«

»Wenn ich vielleicht bloß so dran lecken würde…« sagte der Funker.

Kinverson lachte vor sich hin und auf seinen Teller hinunter. »Du Arsch.«

»Was hast grad gesagt, Gabe?«

»Willst du wirklich, daß ich es wiederhole?«

»Verzieht euch auf Deck, ihr zwei, wenn ihr ’nen Krach haben müßt«, sagte Lis Nikiaus verärgert.

»Krach? Ich und der Dag?« fragte Kinverson erstaunt. Er hätte Tharp mit einer Hand in der Luft verhungern lassen können. »Red keinen Stuß, Lis!«

»Ach, du willst Knatsch?« schrie Tharp und sein kleines scharfes Rotfuchsgesicht wurde womöglich noch röter. »Na, dann komm, Kinverson. Komm raus! Denkste, ich hab Angst vor dir?«

»Das solltest du aber«, sagte Lawler leise. »Er ist viermal so schwer wie du.« Er grinste und wandte sich dann an Struvin. »Wenn wir unsere Wasserration für heute abend aufgebraucht haben, wie wäre es dann mit einer Runde Schnaps, Gospo? Gegen den Durst.«

»Aber klar!« brüllte Struvin. »Schnaps! Schnaps!«

Lis reichte ihm die Flasche. Struvin betrachtete sie mit verkniffenem Gesicht. »Das ist ein Sorve-Brandy. Den heben wir uns besser auf, bis wir wirklich verzweifelt sind. Gib mir das Zeug von Khuviar, bitte. Der Branntwein von Sorve ist die reinste Pisse.« Aus einem Schrank holte Lis ein anderes Gefäß, ein länglich gerundetes, dunkel schimmerndes. Struvin fuhr mit der Hand zärtlich über die Flasche und grinste genüßlich. »Khuviar, genau! Auf der Insel verstehen sie wirklich was von Schnaps. Und vom Wein. War da mal einer unter euch bei denen? Nein, ich merk schon, ihr habt keine Ahnung. Die trinken dort den ganzen Tag und die ganze Nacht. Es sind die glücklichsten Leute auf dem ganzen Planeten.«

»Ich war einmal dort«, sagte Kinverson. »Sie waren die ganze Zeit über besoffen. Sie taten die ganze Zeit nichts weiter als saufen und kotzen, und dann soffen sie weiter.«

»Jaaa, aber was die trinken«, sagte Struvin. »Aaach, was für köstliches Gesöff!«

»Und wer macht bei denen die Arbeit, wie kommen sie weiter«, fragte Lawler, »wenn sie nie nüchtern sind? Wer fängt den Fisch? Wer bessert die Netze aus?«

»Niemand«, sagte Struvin. »Es ist ein erbärmliches Drecksnest. Sie werden manchmal grad soweit wieder nüchtern, daß sie in die Bucht rausfahren können, um sich ’ne Ladung Beerenkraut zu holen, und das vergären sie dann zu Wein oder destillieren es zur Schnaps… und dann sind sie wieder betrunken. Ihr würdet es nicht glauben, wie die leben. Am Leib tragen sie nur Lumpen. Und sie hausen in Tanghütten, genau wie die Gillies. In ihrer Zisterne ist brackiges Wasser. Es ist ein scheußlich widerlicher Ort. Aber wer hat behauptet, daß alle Inseln gleich sein müßten? Keine Insel ist wie die andere. Ganz und gar nicht. So hab ich es jedenfalls immer gesehen: Jede Insel war ’ne Sache für sich und wollte gar nicht sein wie andere. Und auf Khuviar, da verstanden sie halt nun mal was vom Saufen. Da, Tharp, du sagst, du hast Durst? Na, dann nimm einen Schluck von meinem köstlichen Khuviar-Brandy. Ich lad dich ein. Trink!«

»Ich mag aber keinen Brandy«, maulte Tharp, »Und das weißt du verdammt gut, Gospo. Und außerdem macht das Gesöff dich bloß noch durstiger, klar? Es trocknet dir die ganze Haut drinnen im Maul aus. Stimmt’s, Doc? Da drüber solltest du dir mal klarwerden.« Er stieß einen explosiven Seufzer aus. »Ach, was soll’s… also her mit dem rohen Fisch!«

Lawler reichte ihm die Schüssel. Tharp spießte sich einen Brocken mit der Gabel auf, drehte es prüfend hin und her, als habe er nie zuvor ein Stück von einem ungekochten Fisch gesehen, und biß vorsichtig ein wenig davon ab. Er wälzte es mit der Zunge im Mund herum, dann schluckte er und überlegte. Und dann nahm er ein zweites Stück.

»He, Leute«, sagte er. »Das geht ja. Das ist in Ordnung. Das schmeckt ja gar nicht mal schlecht.«

»Arschloch«, sagte Kinverson noch einmal. Diesmal aber lächelte er dabei.


* * *

Nach dem Essen begaben sich alle an Deck zur Wachablösung. Henders, Golghoz und Delagard, die in der Takelung herumgeklettert waren, kamen herab, und Martello, Pilya Braun und Kinverson übernahmen ihre Positionen.

Das Strahlen des Kreuzes teilte den schwarzen Himmel in vier Quadranten. Die See war dermaßen glatt, daß man die Spiegelung als weiße starre Feuerlinie auf dem Wasser ruhen sah, die sich bis in rätselhafte Fernen erstreckte, wo sie verschwamm und sich auflöste. Lawler stand an der Reling und blickte auf die schwachen zuckenden Lichtpunkte zurück, welche die Positionen der anderen fünf Schiffe markierten, die gleichmäßig in ruhiger Keilformation hinter ihnen hergezogen kamen. Da war Sorve, die gesamte kleine Inselgemeinschaft, zusammengepfercht in die paar Schiffe. Die Thalheims und Tanaminds, die Katzins, die Yanez‹ und Sweyners und Sawtelles und der Rest, die vertrauten, die alten, alten Namen. Nach Einbruch der Nacht setzten alle Schiffe Positionslichter an die Reling, hohe schmauchende Fackeln aus getrockneten Algen, die ein rauchiges orangerotes Licht gaben. Delagard war von geradezu fanatischer Sorge beherrscht, daß die Flottille beisammenbleiben müsse, daß kein Schiff je aus der Formation ausbreche. Alle verfügten über eine eigene Funkstelle, die miteinander die ganze Nacht hindurch in Kontakt blieben, damit kein Schiff sich verliere.

»Leichter Wind kommt auf!« rief jemand. »Fockhals los!«

Lawler bewunderte, mit welcher Kunstfertigkeit die Segel in den Wind gesetzt wurden. Er wünschte sich, daß er ein wenig mehr davon begriffe. Segeln, das erschie n ihm als etwas beinahe Zauberisches, als ein geheimnisvolles, verwirrendes Mysterium. Auf diesen Schiffen Delagards, die imposanter waren als die kleinen Fischerkähne, mit denen die Insulaner in der Bucht umhergeschippert waren oder zu zaghaften Vorstößen ein Stück weit darüber hinaus, trug jeder der zwei Masten ein großes Dreieckssegel aus dichtgeknüpften Bambusstreifen und darüber an einer Rah ein kleineres rechteckiges Segel. Zwischen den Masten war ein weiteres kleineres Dreieckssegel befestigt. Die Hauptsegel waren an schwere hölzerne Spieren gebunden; Anordnungen von Seilen mit darauf laufenden Wülsten und Gaffelklampen hielten sie in Position, und sie wurden durch Falleinen und Flaschenzüge bedient.

Unter normalen Bedingungen bedurfte es eines Teams von drei Mann, um die Segel herumzuwerfen, und eines vierten am Ruder, der die Kommandos gab. Das Team Martello/Kinverson/Braun stand unter dem Kommando von Gospo Struvin; die andere Wachmannschaft bestand aus Neyana Golghoz, Dann Henders und Delagard selbst an den Segeln, und Onyos Felk, der Kartograph und Navigator übernahm Struvins Stelle am Ruder. Sundira Thane war Ablösung bei Struvins Wache, Lis Nikiaus bei der von Felk. Lawler hielt sich dann immer abseits und sah zu, während sie unverständliches Zeug brüllten wie »Vierkant brassen!« — »Wind achtern Baum!« — »Hart lee! Hart lee!« Immer aufs neue holten sie die Segel ein, wenn die Windrichtung sich änderte, schwangen sie herum und zogen sie in ihrer neuen Stellung wieder hoch. Und irgendwie — ungeachtet der Tatsache, ob der Wind gegen das Schiff stand oder von achtern kam — gelang es ihnen stets, die gleiche Richtung beizubehalten.

Die einzigen, die sich an diesen Arbeiten nie beteiligten, waren Dag Tharp, Father Quillan, Natim Gharkid und Lawler. Tharp war viel zu leicht und spillerig, als daß er an den Seilen viel hätte ausrichten können; außerdem war er sowieso die meiste Zeit unter Deck und damit beschäftigt, das Kommunikationsnetz zwischen den Schiffen aufrecht zu erhalten. Der Priester galt generell als von sämtlichen Bordarbeiten entbunden; Natim Gharkids Aufgaben beschränkten sich auf die Kombüse und das Schleppnetz für den Frischalgenvorrat. Und Lawler, der zwar gern beim Takeln mit zugegriffen hätte, war zu scheu, um zu bitten, man solle ihm die se Kunst beibringen, und hielt sich zurück; er hoffte auf eine Einladung, mitzuhelfen, aber sie erfolgte nicht.

Während er so an der Reling stand und der Decksmannschaft bei der Arbeit in der Takelung zusah, kam aus der dunklen See etwas emporgeschwirrt und traf ihn im Gesicht. Er fühlte ein heftiges Stechen in der Wange, ein heißes sengendes Gefühl, als peitschten ihm rauhe Schuppen über die Haut. Und um ihn herum breitete sich ein intensiver scharfsaurer Seegeruch aus, der bitter und stechend wurde, als er ihm tiefer in die Nase drang. Zu seinen Füßen hörte er etwas feucht klatschen.

Er sah hinunter. Auf dem Deck zappelte ein geflügeltes Wesen, etwa so lang wie seine Hand, umher. Im ersten Moment des Aufpralls hatte Lawler gedacht, es könnte ein Luftgleiter sein, doch diese waren graziöse, elegante Geschöpfe, regenbogenbunt, schmal und optimal aerodynamisch gestaltet, um möglichst großen Auftrieb zu erreichen; und sie zeigten sich nie nach Einbruch der Dunkelheit. Diese kleine nachtschwirrende Monstrosität dagegen sah mehr wie ein Wurm mit Flügeln aus und war bleich, schlaff und häßlich, hatte kleine schwarze Knopfaugen und auf dem oberen Rückenteil einen zuckenden Kamm kurzer, steifer roter Borsten. Diese Borsten hatten Lawler bei ihrem Zusammenstoß getroffen.

Die runzeligen kantigen Flügel, die aus den Flanken ragten, bewegten sich in unangenehm pulsender Weise immer langsamer. Das Geschöpf ließ hinter sich eine schwärzliche Schleimschicht zurück, während es auf den Decksplanken umherzuckte. So abstoßend es aussah, es wirkte jetzt harmlos, ja mitleiderregend in seinem Todeskampf.

Aber die Häßlichkeit der Kreatur faszinierte Lawler. Er kniete nieder, um sie sich genauer anzusehen. Doch eine Sekunde später war Delagarde aus der Takelung neben ihm und schob die Spitze seines Stiefels unter den Leib des Wurms. Mit einem einzigen geschickten Schwung hob er ihn auf und schleuderte ihn in hohem Bogen über die Reling ins Meer.

»Wozu tust du das?« fragte Lawler.

»Damit das Biest nicht hochspringt und dir deine dumme Nase abbeißt, Doc. Erkennst du ’ne Meerhexe nicht, wenn du eine siehst? ’nen Schleimaal?«

»Hexenfisch? Schleimaal?«

»Na ja, noch ein ganz junger. Sie werden ungefähr so lang, wenn sie erwachsen sind, und es sind ganz gemeine Biester.« Delagard breitete die Hände etwa einen halben Meter weit aus. »Wenn du nicht weißt, was hier draußen was ist, Doc, dann läßt du es besser nicht auf Bißnähe an dich rankommen. Ist ’ne gute Überlebensregel, hier draußen.«

»Ich werde sie mir zu Herzen nehmen.«

Delagarde lehnte sich an die Reling und schenkte ihm ein zähnefletschendes Grinsen, das wahrscheinlich ermunternd sein sollte. »Und wie gefällt dir das Leben auf See bisher?« Er war verschwitzt von der Arbeit in der Takelung, atmete heftig, war irgendwie aufgedreht. »Ist der Ozean nicht wundervoll?«

»Er hat bestimmt seine Reize, vermute ich. Und ich gebe mir große Mühe, sie zu entdecken.«

»Nicht gerade glücklich, was? Nicht genug Platz in der Kabine? Die Gesellschaft nicht anregend genug? Die Aussicht langweilig?«

Lawler fand das nicht komisch.

»Nid, tu mir ’nen Gefallen und verpiß dich!«

Delagard scheuerte an einem Flecken Hexenfischschleim auf seinem Stiefel herum.

»Mann, ich wollte doch bloß einen netten kleinen Schwatz mit dir halten.«


* * *

Lawler begab sich unter Deck und bahnte sich einen Weg zu seiner Kabine am Heck. Hier unten gab es einen engen dumpfigen Gang längsschiffs, der nur von dem fettigen spuckenden Lichtschein der Fischtranfunzeln erhellt wurde, die in knöchernen Wandhaltern brannten. Die schwere rauchgeschwängerte Luft brannte ihm in den Augen. Er hörte die Oberflächenwellen gegen die Bordwand schwappen und das dumpfe verzerrte Echo in den Spanten. Von droben drang das schwere Knirschen der Masten in den Krampen.

Als Schiffsarzt stand Lawler eine der drei kleinen Einzelkabinen am Heck zu: Struvin hatte die daneben gelegene Backbordkabine. Delagard und Lis Nikiaus bewohnten zusammen die größte von den dreien weiter drüben am Steuerbordschott. Alle übrigen hausten zusammengedrängt im Vorschiff in zwei langen Abteilen, die als Aufenthaltsräume für Passagiere benutzt worden waren, als das Schiff als Fähre zwischen den Inseln eingesetzt war. Die erste Wache hatte das Abteil backbord, die zweite das steuerbord bezogen und dort ihren Kram verstaut.

Kinverson und Sundira waren in verschiedenen Wachen gelandet, hatten demzufolge also ihre Kojen nicht im selben Abteil. Lawler war darüber erstaunt. Nicht daß es so wichtig gewesen wäre, wirklich, wer wo schlief; es gab in diesen überfüllten Räumen sowieso kaum eine Möglichkeit zu ungestörter Intimität, so daß alle, die Lust auf ein paar lustvolle Momente hatten, sowieso ein Deck tiefer kriechen mußten, in den Frachtraum, um dort, zwischen Packkisten gequetscht, ihre Kopulationsbedürfnisse zu stillen. Aber waren die zwei überhaupt ein Paar, wie Delagard gesagt hatte, oder nicht? Dem Anschein nach nicht, das wurde Lawler mehr und mehr klar. Oder, falls doch, dann war es wohl eine recht lockere Beziehung. Seit Beginn der Fahrt schienen sie einander ja kaum überhaupt beachtet zu haben. Vielleicht war ihre Beziehung auf Sorve, was immer und wie immer und ob überhaupt da etwas war, weiter nichts gewesen als eine kurze Eskapade ohne Bedeutung, ein zufälliges Zusammenprallen körperlicher Bedürfnisse, ein angenehmer Zeitvertreib.

Lawler stieß mit der Schulter die Tür zu seiner Kabine auf und trat ein. Der Raum war nicht viel größer als ein Schrank und enthielt nichts weiter als eine Koje, eine Waschschüssel und eine kleine Holzkiste, in der er seine spärlichen persönlichen Besitztümer aufbewahrte, die er von Sorve mitgenommen hatte. Delagard hatte niemandem viel persönliches Gepäck erlaubt. Lawler hatte einige Kleidungsstücke gewählt, sein Angelzeug, ein paar Töpfe, Tiegel und Teller, einen Spiegel. Natürlich hatte er auch die Artefakte von der ERDE mitgenommen. Sie lagen auf einem Bord, seiner Koje gegenüber.

Den Rest seiner Habe, wenn man es als solche bezeichnen konnte, seine bescheidenen Möbel und Lampen und einige Ziergegenstände, die er aus Strandgut selbst gefertigt hatte, hatte er den Gillies vererbt. Seine Praxisausrüstung, die meisten seiner Medikamente und die schmale Bibliothek handschriftlicher Fachtexte befanden sich vorn neben der Kombüse in einer Kabine, die als Krankenstation diente. Der Großteil der Arzneivorräte lagerte drunten im Frachtdeck.

Er entzündete einen Wachsstock und besah sich im Spiegel seine Wange. Der ›Spiegel‹ war ein klobiges grobes Stück Seeglas, das Sweyner vor Jahren für ihn gefertigt hatte, und das dabei gewonnene Abbild war grob, verquollen und wolkenhaft undeutlich. Glas von hoher Qualität war auf Hydros eine Seltenheit, wo die einzige Rohstoffquelle für Quarz die Diatomeenbänke, die Kieselalgenablagerungen, auf dem Boden der Bucht waren. Doch Lawler hing an diesem Spiegel, so voller Blasen und so trüb er sein mochte.

Die heftige Begegnung mit dem Schleimaal schien keinen ernstlichen Schaden angerichtet zu haben. Über dem linken Wangenknochen war eine leichte Abschürfung zu erkennen, eine geringe Schmerzempfindung, wo ein paar der rötlichen Borsten in der Haut abgebrochen waren, weiter nichts. Lawler tupfte die Stelle mit einigen Tropfen von Delagards Beerenkraut-Brandy ab, gegen eine eventuelle Infektion. Sein sechster Sinn als Arzt sagte ihm, er brauche sich weiter keine Sorgen zu machen.

Seine Taubkrautflasche stand neben der mit dem Brandy. Er betrachtete sie nachdenklich einige Sekunden lang.

Er hatte seine normale Tagesration bereits genommen, vor dem Frühstück. Er brauchte keine weitere Dosis. Noch nicht.

Aber, zum Teufel, warum eigentlich nicht, dachte er. Was soll’s!


* * *

Später ertappte er sich dabei, daß er zu den Mannschaftsquartieren wanderte, auf der Suche nach Gesellschaft; er hatte keine Ahnung, wen er suchte.

Es war bereits wieder Wachablösung. Die zweite Schicht tat jetzt Dienst, der Gemeinschaftsschlafraum steuerbord war leer. Lawler spähte in den anderen Raum und sah dort Kinverson in seiner Koje schlafen. Natim Gharkid saß mit geschlossenen Augen im Schneidersitz da, als befinde er sich in Trance oder irgendeiner Meditation. Und Leo Martello kauerte über einer niedrigen Holztruhe und kritzelte im dünnen Lampenschein eifrig in ausgebreiteten Papieren herum. Wahrscheinlich, dachte Lawler, arbeitet er an seinem unendlichen Epos.

Martello war um die dreißig, kräftig, voller Energie; meist schoß er umher, als hätte er Sprungfedern im Hintern. Große braune Augen, ein freimütig-offenes Gesicht. Er ging gern mit kahlgeschorenem Kopf. Sein Vater war als Freiwilliger nach Hydros gekommen, ein Selbstexilierter, ein Landekapselmann. Er war auf Sorve aufgetaucht, als Lawler noch ein Junge war, und hatte Jinna Sawtelle, die ältere Schwester von Damis, geheiratet. Beide waren jetzt schon tot, hinweggerissen von der WOGE, als sie in einem kleinen Boot zu unguter Zeit draußen waren.

So etwa ab seinem vierzehnten Lebensjahr hatte Martello auf der Delagard-Werft gearbeitet; aber sein Hauptanspruch, etwas Besonderes zu sein, basierte auf dem gewaltigen Gedicht, das zu schreiben er behauptete: eine gewaltige Nacherzählung der grandiosen Auswanderung von der dem Untergang geweihten ERDE zu den Neuen Welten der Galaxis. Seit Jahren arbeitete er daran (behauptete er). Niemand hatte mehr als ein paar Zeilen davon gesehen.

Lawler blieb im Türluk stehen, da er nicht stören wollte.

»Ah, Doktor«, sagte Martello. »Sie kommen mir gerade recht. Ich brauche was gegen Sonnenbrand. Ich hab es heute wahrhaftig arg übertrieben.«

»Na, dann wollen wir uns das mal ansehen.«

Martello ließ das Hemd von den Schultern gleiten. Trotz seiner dunklen Bräunung sah man die Rötung unter den Epidermalschichten. Die Sonne von Hydros war stärker als jene, in deren Strahlen die Evolution der menschlichen Urahnenrasse erfolgt war. Lawler hatte stets alle Hände voll zu tun gehabt, um Hautkrebse, UV-Überbelastungsvergiftungen und alle nur erdenklichen dermatologischen Probleme zu behandeln.

»Na, es sieht ja nicht allzu bös aus«, beruhigte Lawler den Mann. »Komm morgen früh bei mir vorbei, dann kümmere ich mich darum. Wenn du glaubst, du wirst heut nicht schlafen können, kann ic h dir aber auch gleich was geben.«

»Nein, nein. Es geht schon. Ich schlaf eben auf dem Bauch.«

Lawler nickte erleichtert. »Was macht das berühmte Epos?«

»Es geht zäh voran. Ich habe den Fünften Gesang umzuschreiben begonnen.«

Lawler war nur milde überrascht, als er sich selbst auf einmal sagen hörte: »Darf ich mal reinschauen?«

Martello war noch mehr überrascht. Dann schob er ihm eines der sich rollenden Algenpapierblätter zu. Lawler hielt es mit beiden Händen offen, um lesen zu können. Martellos Schrift war knabenhaft-linkisch und unelegant, voller gewaltiger Schleifen und Schnörkel.

Nun schossen die Langschiffe hinaus

Ins dunkle Herz der Finsternis

Goldwelten, schimmernde, riefen

und unsere Väter folgten dem Ruf.

»Und unsere Mütter auch«, bemerkte Lawler.

»Jaja, die auch«, erwiderte Martello, leicht verärgert. »Sie bekommen einen eigenen Gesang, ein bißchen später.«

»Gut so«, sagte Lawler. »Sehr stark, die Poesie. Aber natürlich, ich verstehe nicht genug davon. Du schätzt es nicht, wenn sich Gedichtzeile n reimen?«

»Doktor! Der Endreim ist schon seit Hunderten von Jahren aus der Mode!«

»Ach, wirklich? Das habe ich gar nicht gewußt. Mein Vater hat uns manchmal Gedichte vorgesagt, alte Sachen von der ERDE. Die scheinen dort damals aber gern gereimt zu haben. It is an ancien Mariner / And he stoppeth one of three. / ›By thy long grey beard and glittering eye, / Now where-fore stopp’st thou me?‹« [2]

»Was für ein Gedicht ist das?« fragte Martello.

»Es hieß The Rime of the Ancient Mariner. Und es handelt von einer Fahrt übers Meer — einer sehr unseligen Reise. The very deep did rot; / O Christ! / That ever this should be! / Yea, slimy things did crawl with legs / Upon the slimy sea.«[3]

»Stark. Kannst du noch mehr davon auswendig?«

»Nur ein paar verstreute Zeilen«, gestand Lawler.

»Wir sollten uns mal zusammensetzen und über Poesie reden, Doc. Ich hab ja gar nicht gewußt, daß du Gedichte kennst.« Über Martellos sonniges Gesicht flog flüchtig ein Schatten. »Auch mein Vater liebte diese alten Gedichte. Von dem Planeten, auf dem er lebte, bevor er hierherkam, hatte er ein Buch mit Gedichten von der ERDE mitgebracht. Wußtest du das?«

»Nein«,sagte Lawler aufgeregt. »Wo ist es?«

»Fort. Er hatte es dabei, als er und Mutter ertrunken sind.«

»Das hätte ich gern gelesen«, sagte Lawler betrübt.

»Manchmal hab ich Momente, da glaube ich, daß ich dieses Buch genauso schmerzlich vermisse wie meine Eltern«, sagte Martello. Dann setzte er naiv hinzu: »Ist es abscheulich, so was zu sagen, Doktor?«

»Ich glaub nicht. Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.« Water, water, every where, dachte er. And all the boards did shrink. »Hör zu, Leo, komm nach deiner Schicht am Morgen sofort zu mir, ja? Dann behandle ich dir den verbrannten Rücken.«

Water, water every where! Nor any drop to drink.[4]


* * *

Und noch ein wenig später stand Lawler wieder an Deck, allein unter dem pulsierenden Schwarz des nächtlichen Himmels in der kühlen, steten Brise aus dem Norden. Es war nach Mitternacht. Delagard, Henders und Sundira hingen in der Takelung und riefen sich ihm unverständliche Worte zu. Das Kreuz stand genau im Zenit über dem Schiff.

Lawler schaute hinauf, zu der säuberlichen Zackenformation, zu den Tausenden unvorstellbar großen explodierenden Wasserstoffkugeln, die da so exakt am Himmel aufgereiht standen… eine Linie in der Richtung, die zweite Linie quer dazu angeordnet. Ihm gingen noch Martellos ungeschliffene Verse im Kopf herum: Nun schossen die Langschiffe hinaus / Ins dunkle Herz der Finsternis… Konnte einer der Sonnensterne in dieser eindrucksvollen Konstellation dort oben die Sonne der ERDE sein? Nein. Nein! Man sagte, daß dieser Stern von Hydros aus nicht sichtbar sei. Nein, die Gestirne, die das Kreuz bildeten, waren andere. Doch irgendwo, tiefer drinnen in der Dunkelheit, verborgen hinter dem gewaltigen Lichtgalgen des Kreuzes, mußte diese eher kleine gelbe Sonne sich befinden, unter deren milden Strahlen die ganze Menschheitssaga begonnen hatte. Goldwelten, schimmernde, riefen / Und unsre Väter folgten dem Ruf. Ja, und unsere Mütter ebenfalls! Diese Sonne der ERDE hatte in wenigen Minuten wilder kosmischer Wut ihr vorheriges Geschenk, das Leben, zunichte gemacht. Hatte sich am Ende gegen das von ihr Geschaffene gewandt und es erbarmungslos mit harter Strahlung ausgetilgt, die in einem Augenblick den Mutterplaneten der Menschheit zu einem Klumpen schwarzer Kohle verbrannt hatte.

Lawler hatte sein ganzes Leben lang von der ERDE geträumt; von den frühen Tagen an, als ihm sein Großvater die ersten Geschichten aus der Welt der Vorfahren erzählt hatte, aber dennoch war sie ihm noch immer rätselhaft geblieben, ein Geheimnis. Und er wußte, dies würde immer so bleiben. Der Planet Hydros lag zu fernab, war zu rückständig, viel zu weit weg von irgendwelchen möglicherweise noch existierenden Zentren der Gelehrsamkeit. Es gab hier niemanden, der ihn hätte lehren können, wie es auf der ERDE einmal gewesen war. Er hatte wirklich kaum eine Ahnung davon, von der Musik , der Literatur, den bildenden Künsten, der Geschichte. Ihn hatten nur sporadische Tröpfchen von Daten erreicht, und da auch noch meistens nur die äußere Verpackung, nicht die Sache selbst. Lawler wußte beispielsweise, daß es einmal etwas gegeben hatte, das als ›Oper‹ bezeichnet worden war, doch er vermochte sich einfach nicht vorzustellen, wie das gewesen sein mochte: Leute, die eine Geschichte sangen? Und hundert Musikanten, die alle zugleich spielten? Er hatte noch nie hundert Menschen gleichzeitig an einem Ort versammelt gesehen. Und die ›Kathedralen‹? die ›Symphonien‹? die ›Hängebrücken‹? ›Autobahnen‹? Er hatte die Namen von diesen Dingen gehört, aber was diese Dinge waren, das blieb ihm ein Rätsel. Geheimnisse über Geheimnisse. Die verlorenen Geheimnisse der ERDE.

Diese kleine Kugel — beträchtlich kleiner als Hydros, so sagten sie jedenfalls — hatte Großreiche und Herrscherdynastien hervorgebracht, Könige und Generäle, Helden und Halunken, Märchen und Mythen, Dichter, Barden, große Meister ihrer Künste und Koryphäen der Wissenschaft, Tempel und Türme, Statuen und ummauerte Städte. Lauter grandiose und wundersame Dinge, deren Wesen er, der sein ganzes Leben auf dem erbärmlich armseligen Wasserplaneten Hydros zugebracht hatte, kaum erahnen konnte. Die ERDE, die uns hervorgebracht hat und uns nach jahrhundertelangem Bemühen hinaussandte ins Herz der Dunkelheit, zu den fernen Welten einer uns gleichgültig gegenüberstehenden Galaxie. Und dann war die Tür hinter uns mit einem Knall zugeschlagen. Einem Inferno von Strahlung. Und hier waren wir nun, Schiffbrüchige zwischen den Sternen.

Goldwelten, schimmernde, riefen…

Und da hocken wir jetzt, an Bord eines winzigen weiß en Klackses, und treiben durch das gewaltige Meer auf einem Planeten, der selber nichts weiter ist als ein Klacks in der schwarzen See der Unendlichkeit, die uns alle verschlingt.

Alone, alone, all, all alone. / Alone on a wide wide sea! [5]

An die folgende Zeile konnte Lawler sich nicht mehr erinnern. Aber das machte auch nichts, dachte er, eher im Gegenteil. Er stieg wieder unter Deck. Er wollte versuchen, ein wenig Schlaf zu finden.


* * *

Er hatte einen anderen Traum, einen Traum von der ERDE; doch er war verschieden von denen, die ihn über so viele Jahre heimgesucht hatten. Diesmal träumte er nicht vom Sterben der ERDE, sondern von dem Abschied von ihr, von der Großen Diaspora, der Zerstreuung, der Aussaat, dem Fluchtflug zu den Sternen. Und wieder schwebte er über der vertrauten blaugrünen Kugel seiner Träume; und wie er so hinabschaute, sah er, wie von ihr tausend blitzende schlanke Nadeln sich erhoben, oder vielleicht eine Million, jedenfalls viel zu viele, als daß er sie hätte zählen können. Und alle stiegen sie ihm entgegen, strebten nach draußen, oben, stießen langsam in den Raum vor, ein beständiger nach außen gerichteter Strom, Myriaden winziger Lichtpunkte, die in die Schwärze vorstießen, die den blaugrünen Planeten umgab. Er wußte, das waren die Schiffe der Raumfahrer, die unter den Menschen, die sich entschlossen hatten, die ERDE zu verlassen, die Forscher, die Wanderer, die Siedler, die in das Große Unbekannte vorstießen, die sich vom Mutterplaneten einen Weg suchten zwischen den unzähligen Sternen der Galaxis. Lawler verfolgte ihre Bahnen durch die Himmel, spürte hinter ihnen her bis an ihr Ziel, zu den vielen Welten, deren Namen er einmal gehört hatte, Welten, die für ihn ebenso geheimnisvoll, zauberhaft und — unerreichbar waren wie die ERDE selbst: Nabomba Zorn, wo das Meer scharlachrot und die Sonne blau ist. Alta Hannalanna, wo sich die großen Schleimwürmer mit Perlen von gelbem Jade in der Stirn durch den schwammigen Grund graben. Und Galgala, den Goldenen Planeten. Und Xamur, wo die Luft wie ein Meer von Wohlgerüchen ist und die elektrisch aufgeladene Atmosphäre knisternd in Schönheit wabert. Und Marajo mit seinem funkelnden Sand. Und Iriarte. Und Mentiroso. Und Mulano mit seinen Doppelsonnen. Und Ragnarek. Und Olympos. Und Malebolge. Und Sunrise…

Und sogar Hydros, dieser Planet am Arsch der Welten, von dem es kein Entrinnen gab…

Die Sternenschiffe von der ERDE flogen in jede nur erdenkliche Richtung, nur fort und weg. Und irgendwann unterwegs erlosch hinter ihnen der leuchtende Punkt, der einst die ERDE gewesen war. Lawler wälzte sich unruhig im Schlaf umher. Und wieder sah er diesen entsetzlichen Feuerball und dann die endgültige Finsternis, die über die ERDE hereinbrach, und er stöhnte im Schlaf vor Schmerz, Bedauern und Verlangen… diese ERDE gab es nicht mehr. Aber keiner sonst schien zu begreifen, daß sie in Trümmer fiel… alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, vorwärts zu streben, zu expandieren, immer höher und immer weiter zu gelangen. Wohin?


* * *

Tags darauf wanderte Gospo Struvin übers Deck und stieß mit den Füßen gegen etwas, das wie ein achtlos hingeworfener Haufen gelblicher nasser Taue aussah. Und er sagte: »He, wer hat denn das Netz da rumliegen lassen?«

Und Kinverson sagte an dem Tag dutzendmal: »Ich hab es euch ja gesagt… ich trau ’ner glatten See nicht.«

Und der Priester, Father Quillan, sagte: »Oh — yeah, mag ich auch durch die Schatten im Tale des Todes schreiten, es soll mich kein Unheil schrecken…«

2

Der tod struvins war zu plötzlich eingetreten, und zu einem zu frühen Punkt der Reise, als daß sie ihn irgendwie hätten akzeptieren, ja auch nur begreifen können. Auf Sorve war der Tod immer nahe: Einer fuhr mit dem Fischboot zu weit in die Bucht hinaus, und ein Sturm erhob sich aus dem Nichts, oder man wanderte gemütlich über den Hafendeich, und die WOGE brach ohne Vorwarnung herein und spülte dich fort, oder du entdecktest im Flachwasser ein paar köstlich aussehende Muscheln, und dann erwiesen sie sich als gar nicht so gesund. Aber das Leben an Bord des Schiffes schien ein Bereich relativer Unverletzlichkeit zu sein. Vielleicht gerade weil es so zerbrechlich war, nichts weiter als eine winzige Holzschale, ein bloßer Klacks, der inmitten der unvorstellbaren Unermeßlichkeit dahintrieb, hatten sich alle verführen lassen zu glauben, daß sie an Bord sicher seien. Lawler hatte damit gerechnet, daß es Schwierigkeiten geben werde und Spannungen und Entbehrungen, vielleicht auch die eine oder andere schwerere Verle tzung unterwegs nach Grayvard, Herausforderungen an seine in manchem dürftigen medizinischen Fähigkeiten. Aber ein Todesfall? In diesen friedlichen Gewässern? Und dann noch der Tod des Kapitäns? Und dies nach fünf Tagen seit der Abreise von Sorve. Und wie die ersten paar Tage dieser geisterhaften Ruhe beunruhigend und verdächtig waren, so erschien Struvins Tod ihm nun um so mehr als ein böses Omen, eine schreckliche Warnung vor unweigerlich auf sie zukommenden weiteren Kalamitäten.

Die Reisenden wuchsen enger zusammen, so wie sich rosa neue Haut um eine Wunde bildet. Jeder betrug sich entschlossen positiv, betont hoffnungsvoll und demonstrativ taktvoll, bemüht, der sowieso überstrapazierten Psyche der anderen nicht zu nahe zu treten. Delagard verkündete, daß er das Schiffskommando selbst übernehmen werde. Um die Teams der Deckswachen auszugleichen, wurde Onyos Felk der ersten Wache zugeteilt: Er sollte das Team Martello/Kinverson/Braun in den Wanten leiten, Delagard selbst übernahm das neue Team Golghoz/Henders/Thane.

Nach dem kurzen Verlust seiner Kontrolle, als er von Struvins Tod hörte, zeigte Delagard nun äußerlich das Bild von Kompetenz und höchster Unerschrockenheit. Er stand starr und hochgereckt auf der Brücke und überwachte die Arbeit des Tagesteams in der Takelung. Der Wind stand klar aus dem Osten. Die Fahrt ging weiter.


* * *

Vier Tage später schmerzten Lawlers Hände noch immer von der Berührung mit dem Netztier, seine Finger blieben weiterhin steif und taub. Das deutliche rote Linienmuster war mittlerweile zu einem trüben Braun verblichen, doch vielleicht würde Pilya recht behalten, und es würden Narben zurückbleiben. Aber das störte ihn kaum; an seinem Körper befanden sich zahlreiche Narben, die er sich über die Jahre hin durch die eine oder andere Achtlosigkeit zugezogen hatte. Aber die Fingersteifheit beunruhigte ihn. Er brauchte die Sensitivität seiner Finger, und nicht nur für chirurgische Eingriffe, die er hin und wieder ausführen mußte, sondern für die subtilen Palpitationen und Sondierungen am Körper seiner Patienten, die er für seine Diagnose unbedingt brauchte. Er konnte mit steckenstumpfen Fingern die Botschaften nicht entziffern, die ihr Körper aussandte.

Auch Pilya schien sich wegen seiner Hände Sorgen zu machen. Als sie zu ihrer Wache an Deck kam, trat sie zu ihm und ergriff behutsam seine Hände, genau wie sie dies kurz nach Gospo Struvins Tod getan hatte.

»Sieht nicht gut aus«, sagte sie. »Tust du auch deine Salbe drauf?«

»Aber ganz brav. Nur, sie sind inzwischen soweit wieder geheilt, daß die Salbe nicht mehr viel nützen kann.«

»Und die andere Medizin? Die rosa Tropfen? Der Schmerzstiller?«

»O ja. Ja. Ohne die würde ich es wohl kaum aushalten.«

Sie streichelte sacht mit ihren Fingern über die seinen. »Du bist ein so guter Mann, ein so ernsthafter Mann. Wenn dir etwas zustoßen würde, es würde mir das Herz brechen. Ich hab gesehen, wie du mit dem — Ding gekämpft hast, das den Käptn umgebracht hat, und ich hab eine fürchterliche Angst um dich gehabt. Und auch dann, als ich merkte, daß deine Hände verletzt waren.«

Auf dem kantigen stumpfnasigen Gesicht lag ein Ausdruck strahlender reinster Hingabe. Pilya war grobschlächtig und wenig schön, nur ihre Augen waren warm und voller Licht. Und der Kontrast zwischen ihrem Goldhaar und der glatten olivdunklen Haut war höchst reizend. Sie war eine starke, eine unkomplizierte junge Frau, und der Emotionsstrom, den sie jetzt projizierte, war starke und unkomplizierte, bedingungslose Liebe. Lawler wollte sie nicht zu grausam zurückweisen und entzog ihr behutsam seine Hände, lächelte sie dabei aber die ganze Zeit wohlwollend und unverbindlich an. Es wäre so leicht gewesen, das Angebot anzunehmen, einen stillen Winkel im Frachtdeck zu finden, sich die kleine harmlose Lust zu gönnen, die er sich so lange Zeit versagt hatte. Ich bin schließlich weder Priester noch sonst Zwangseunuch, erinnerte er sich. Ich habe schließlich weder ein Zölibats- noch ein Keuschheitsgelübde abgelegt… Aber irgendwie hatte er das Vertrauen zu seinen eigenen Gefühlen eingebüßt. Er war nicht bereit, sich sogar auf ein so unbedrohliches Abenteuer einzulassen, wie dieses es wahrscheinlich sein würde, weil er sich seiner selber nicht mehr sicher war.

»Meinst du, wir werden es überstehen?« fragte sie auf einmal unerwartet.

»Überstehen? Aber sic her werden wir!«

»Nein«, sprach sie weiter. »Ich hab immer noch Angst, daß wir alle hier auf See zugrunde gehen werden. Alle. Gospo war nur der erste.«

»Aber nein, es wird schon klappen«, sagte Lawler. »Das hab ich dir doch neulich schon gesagt, und ich sag es dir jetzt noch einmal. Gospo hatte einfach Pech. Mehr steckt da nicht dahinter. Es gibt immer mal jemand, der kein Glück hat.«

»Aber ich will leben. Ich will nach Grayvard kommen. Auf Grayvard wartet ein Ehemann auf mich. Das hat mir Schwester Thecla gesagt, als sie vor unserer Abreise mein Schicksal gelesen hat. Sie hat gesagt, wenn ich am Ende der Reise ankomme, werde ich meinen Gemahl finden.«

»Diese Schwester Thecla hat einer Menge Menschen eine ganze Menge verrücktes Zeug prophezeit, was uns am Ende unserer Reise widerfahren soll. Du solltest nichts auf das Geschwätz von Prophetinnen geben. Aber wenn du dir einen festen ehelichen Partner wünschst, Pilya, dann hoffe ich, daß in deinem Fall Schwester Thecla ausnahmsweise mal die Wahrheit prognostiziert hat.«

»Ich brauche einen älteren Mann. Jemanden der gescheit ist und stark, einen, der mich nicht nur liebt, sondern mir auch etwas beibringt. Keiner hat mir je was beigebracht, weißt du. Nur die Arbeit an Bord, eines Schiffs, also arbeite ich eben auf Schiffen und bin für Delagard hierhin und dorthin und überallhin gefahren, und ich hab nie einen festen Mann gehabt. Aber jetzt, jetzt will ich einen. Es ist Zeit für mich. Ich seh doch hübsch aus, oder nicht?«

»Sehr hübsch«, sagte Lawler.

Arme Pilya, dachte er, und er und fühlte fast so etwas wie Schuldgefühle, daß er sie nicht lieben konnte.

Sie wandte sich von ihm weg, als begreife sie, daß das Gespräch nicht in die von ihr gewünschte Richtung führte, und nach einer Pause sagte sie: »Ich denke immer an die kleinen Sachen von der ERDE, die du mir gezeigt hast, die du jetzt bei dir in der Kabine aufbewahrst, diese wunderschönen Fragmente. Wie bezaubernd sie sind. Ich hab dir gesagt, ich möchte gern eins davon haben, aber du hast es abgelehnt und gesagt, du kannst mir nicht eines davon geben, aber jetzt habe ich es mir sowieso anders überlegt, und ich will gar keins mehr. Sie sind Vergangenheit, mich interessiert nur noch die Zukunft. Du lebst zu stark in der Vergangenheit, Doktor.«

»Für mich gibt es da mehr Platz als in der Zukunft. Mehr Raum, sich umzusehen.«

»Nein nein, die Zukunft ist sehr gewaltig. Die Zukunft setzt sich immer weiter und weiter fort. Warte nur ab und sieh, ob ich nicht recht habe. Du solltest dieses alte Zeug wegwerfen. Ich weiß, das wirst du niemals tun, aber du solltest es.« Sie lächelte ihn schüchtern und zärtlich an. »Ich muß jetzt rauf«, sagte sie dann. »Du bist ein sehr feiner Mensch, ich dachte, ich muß dir das sagen. Und ich möchte auch, daß du weißt, daß du in mir einen Freund hast, wenn du einen brauchst.« Und damit wandte sie sich um und eilte davon.

Lawler sah ihr nach, als sie ins Tauwerk kletterte. Arme Pilya, dachte er noch einmal. Was bist du doch für ein liebes Kind. Aber ich könnte dich nie richtig lieben, wie ich es müßte. Trotzdem, du bist ein feiner Mensch.

Sie kletterte leicht und geschmeidig und war Augenblicke später hoch droben. Sie kletterte wie einer von den Affen, an die er sich aus den Geschichtenbüchern seiner Kindheit erinnerte; diese Bücher, die so voller unverständlicher Berichte aus der Landmassenwelt ERDE waren, einem Ort, an dem es Dschungel gab, Wüsten, Gletscher, und Affen und Tiger, Kamele und schnelle Pferde, Eisbären, Walrosse, Geißen, die von Bergzacke zu Bergzacke sprangen. Was waren Bergzacken? Und was Geißen? Er hatte sich selbst eine Vorstellung von ihnen erfinden müssen — aus den spärlichen Hinweisen in den Geschichten. Geißen waren irgendwie hager und zottig, mit enorm langen Beinen mit stählerner Sprungkraft in den Muskeln. Und Felszacken waren rauhe nach oben gestemmte Gesteinsblöcke, so ähnlich wie Holzkelpquader, nur unvorstellbar viel härter. Affen waren häßliche kleine Menschen, braun und ganz behaart und sehr schlau, und sie huschten hurtig unter Geschwätz und Gekreische durch Baumwipfel. Nun, Pilya war ganz und gar anders. Doch sie schwang sich dort oben in der Takelung her und hin, als wäre sie in ihrer natürlichen Umgebung.

Und dann merkte Lawler mit Bestürzung, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, wie das damals war, als er Anya, Pilyas Mutter, geliebt hatte… vor zwanzig Jahren. Er wußte nur noch, daß er es getan hatte. Alles andere, die Laute, die Anya dabei von sich gegeben hatte, wie sie sich bewegte, die Form ihrer Brüste — alles dahin. So vergangen wie die ERDE selbst war ihr Stöhnen. Ganz so, als wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen. Anya hatte ebensolche goldene Haare und diese olivdunkle Haut gehabt wie Pilya, daran erinnerte er sich noch, aber jetzt glaubte er auf einmal, ihre Augen wären blau gewesen. Nach Mireyls Verschwinden war Lawler in einem elenden Zustand gewesen, als blutete er aus tausend Wunden, und Anya war einfach dahergekommen und hatte ihm ein wenig Trost geschenkt. Und wie die Mutter, so die Tochter. Waren Mütter und Töchter auch im Liebesakt gleich? Trieb sie eine ihnen unbewußte Kraft der Gene? Würde Pilya sich in seinen Armen winden, verschwimmen, sich unter seinen Augen in ihre eigene Mutter verwandeln? Und würde er in ihrer Umarmung die verlorene Erinnerung an Anya wiederfinden? Lawler erwog diese Gedanken. Er überlegte, ob das Experiment sich lohnte. Nein, entschied er dann. Nein.

»Studierst du die Wasserblumen, Doktor?« fragte Father Quillan, der auf einmal neben ihm stand.

Lawler blickte zu ihm hin. Der Priester hatte eine merkwürdig gleitende Art, sich einem zu nähern; er materialisierte sich quasi aus der Luft, als bestünde er irgendwie aus Ektoplasma, und kam scheinbar ohne Bewegung zu ihm an der Reling geschwebt. Und dann stand er plötzlich neben ihm in metaphysisch wabernder Unbestimmtheit.

»Wasserblumen?« fragte Lawler geistesabwesend und ein wenig amüsiert darüber, daß der Geistliche ihn mitten in recht lasziven Spekulationen ertappt hatte. »Oh. Ach ja, dort. Ja, ich sehe sie.«

Und wie hätte er sie auch nicht sehen können? An diesem strahlenden sonnigen Morgen war die Fläche des Meeres mit Blüten des Wassers allüberall bedeckt. Es waren hochgereckte fleischige Stengel von etwa einem Meter Länge mit leuchtenden, faustgroßen, sporenförmigen Gebilden am anderen Ende, höchst bunt und grellfarbig, hell scharlachrote mit gelben, grüngestreiften Fetalen, darunter seltsame pralle schwarze Luftsäcke. Diese Luftsäcke hingen dicht unter der Wasseroberfläche und hielten die Wasserblüten in schwimmender Stellung. Sogar wenn ein mal eine größere Woge heranrollte, trieben die Blüten sofort danach wieder zurück in ihre senkrechte Position — wie nimmermüde Stehaufmännchen, die immer und immer wieder umgeworfen werden konnten, aber unweigerlich immer wieder in ihre Vertikalstellung zurückfanden.

»Welch wundersame Elastizität«, sagte Quillan. »Wahrhaftig — eine mahnende Lektion für uns alle«, sagte Lawler, der sich auf einmal veranlaßt fühlte, eine Laienpredigt zu halten. »Wir müssen uns immer bemühen, ihrem Beispiel nachzueifern. Wir bekommen in diesem Leben unentwegt Schläge versetzt, immer wieder, und jedesmal müssen wir uns wieder aufrichten und weitermachen. Wir sollten uns die Wasserblüte zum Vorbild nehmen: Flexibel allen Verletzungen ausweichend, völlig resistent, fähig, allen Schicksalsschlägen zu widerstehen. Leider aber sind wir nicht so widerstandsfähig wie Wasserblumen, nicht wahr, Father?«

»Ich würde sagen, du bist es, Doktor!«

»Ach, wirklich?«

»Man schätzt dich wirklich, weißt du das nicht? Jeder, mit dem ich gesprochen habe, äußerte sich voll des Lobes über deine Geduld, deine Toleranz, dein Wissen und deine Charakterstärke. Die Menschen sagen mir, du bist eine der stabilsten, stärksten und geschmeidigsten Personen der Gemeinschaft. Besonders was deine Charakterstärke angeht.«

Das klang wie die Beschreibung eines völlig Fremden, der weit weniger starr und unbeugsam war als Valben Lawler. Er lachte glucksend. »Äußerlich erwecke ich vielleicht diesen Eindruck. Das könnte sein. Aber wie falsch das alles ist.«

»Ich war stets davon überzeugt, daß eine Person das ist, als was sie anderen erscheint«, erklärte der Priester. »Was einer von sich selber denkt und hält, das ist ungenau und absolut irrelevant. Der wahre Wert einer Person läßt sich nur an der Wertschätzung durch andere wirklich bemessen.«

Lawler warf dem Mann einen verblüfften Blick zu. Aber dessen schmales Asketengesicht sah vollkommen ernst und fest aus.

»Und das ist es, woran du glaubst?« fragte Lawler und merkte, daß seine Stimme etwas gereizt klang. »Sowas Absurdes hab ich schon seit langem nicht mehr gehört. Aber natürlich, nein, nein, du spielst nur so ein bißchen mit mir herum, ja? Solche Spielchen spielt ihr doch gern.«

Der Geistliche gab darauf keine Antwort. Dann schwiegen sie beide im kühlen Frühsonnenschein. Lawler starrte in die weite Leere hinaus, bis sich sein Blick verlor, und er nur noch ein großes tanzendes Farbengemisch sah, ein Ballet der Wasserblüten.

Nach ein paar Sekunden schaute er genauer hin, was sich da draußen abspielte.

»Ich hege die Vermutung, daß nicht einmal die Wasserblüten völlig unverletzbar sind, wie?« sagte er und streckte den Arm hinaus. Das Maul eines riesenhaften Unterwassertieres war am jenseitigen Rand des Meeresblütenfeldes aufgetaucht und zog nun dicht unter der Oberfläche zwischen ihnen dahin, ein gewaltiger dunkler Schlund, in dem die farbigen Blütenköpfe dutzendweise verschwanden. »Man kann so flexibel sein, wie nur möglich, aber es kommt irgendwann immer was daher, macht dir einen Strich durch die Rechnung und frißt dich. Stimmt es nicht, Father Quillan?«

Die Antwort des Priesters ging in einem plötzlichen heftigen Windstoß verloren.

Wieder trat ein langes, recht unterkühltes Schweigen ein. In Lawlers Kopf hallten noch Quillans Worte nach: Eine Person ist stets das, als was sie anderen erscheint… Was einer so über sich selber denkt und von sich glaubt, ist ungenau und absolut irrelevant. Das war doch absoluter Unsinn, oder? Oder doch nicht? Nein, selbstverständlich war es Quatsch.

Und dann hörte er seine eigene Stimme plö tzlich und zu seiner völligen Verblüffung fragen: »Father Quillan, was hat dich eigentlich zu dem Entschluß gebracht, überhaupt nach Hydros zu kommen?«

»Der Grund?«

»Ja, der Grund. Das hier ist ein verdammt ungastlicher Planet, wenn man zufällig ein Mensch ist. Er ist nicht für uns geschaffen, und es gelingt uns hier nur so knapp, trotz der unwirtlichen Bedingungen zu leben, und sobald einer mal hier ist, kommt er nie wieder fort. Was veranlaßte dich dazu, dich hier freiwillig auf Lebenszeit zu verbannen?«

Die Augen Quillans verloren auf merkwürdige Weise ihre Stumpfheit. Mit bemerkenswertem Feuer sagte er: »Ich bin gekommen, weil mich Hydros unwiderstehlich anzieht.«

»Das ist keine befriedigende Antwort.«

»Nun, dann…« Die Stimme des Priesters war auf einmal scharf geworden, als merke er, daß Lawler ihn bedrängte, etwas preiszugeben, das er lieber für sich behalten wollte. »Nehmen wir an, ich bin hierher gekommen, weil hier der Ort ist, an dem sich zuletzt der ganze Müll der Galaxis einfindet. Das hier ist doch eine Welt, die ausschließlich bevölkert ist von Aussteigern, Ausgestoßenen, den Überflüssigen und Unangepaßten aus dem Kosmos. Ist es nicht so?«

»Aber keineswegs!«

»Ihr alle seid Abkömmlinge von Kriminellen. In der übrigen Galaxis gibt es heute keine Kriminellen mehr. Auf den übrigen Welten gibt es heutzutage keine Soziopathen mehr. Alle Menschen sind geistig gesund.«

»Das bezweifle ich allerdings stark!« Lawler vermochte nicht zu glauben, daß der Priester das ernstgemeint haben könne. »Sicher, wir sind Abkömmlinge von verurteilten Straftätern, einige von uns. Und das ist kein Geheimnis. Von Menschen, die jedenfalls irgendwann einmal als Verbrecher galten. Mein eigener Ururgroßvater beispielsweise wurde hierher deportiert, weil er einfach Pech hatte, weiter nichts. Er hat unabsichtlich einen Menschen getötet. Doch nehmen wir mal an, du hast recht, und wir sind hier alle nichts weiter als Abschaum und Menschheitsmüll und die Abkömmlinge von Menschheitsmüll. Damit wäre meine Frage immer noch nicht befriedigend beantwortet: Warum kommst du dann hierher zu uns?«

Die frostigen blauen Augen des Geistlichen leuchteten. »Ist das denn nicht offensichtlich? Weil ich genau hierher gehöre!«

»Damit du deinen himmlischen Auftrag bei uns erfüllen und uns zum Heil führen kannst?«

»Aber keineswegs. Ich bin um meinetwillen gekommen, nicht euretwegen.«

»Ach? Also bist du aus reinem Masochismus hier eingewandert? Getrieben von einem Zwang zur Selbstbestrafung? Ist es das, Father Quillan?« Der Geistliche schwieg. Aber Lawler wußte, er hatte das Richtige getroffen. »Eine Bestrafung wofür? Für ein Verbrechen? Du hast mir soeben gesagt, es gibt keine Verbrecher mehr.«

»Meine Verbrechen richteten sich gegen GOTT. Und somit bin ich grundsätzlich einer von eurer Art. Zu einem Auswurf und Verworfenen, wegen meiner mir angeborenen Natur.«

»Ein Verbrechen gegen Gott…«, sagte Lawler nachdenklich. ›Gott‹, das war für ihn ein ebenso ferner und unklarer Begriff wie ›Affen‹, ›Dschungel‹, ›Felszinnen‹ und ›Berggeißen‹. »Was für ein Verbrechen könnte man denn überhaupt gegen Gott begehen? Wenn er angeblich allmächtig ist, muß er höchstwahrscheinlich auch völlig unverletzlich sein, und wenn er nicht allmächtig ist, wie könnte es dann Gott sein? Aber davon mal abgesehen, es ist erst ein, zwei Wochen her, daß du mir gesagt hast, du wüßtest nicht, ob du an Gott glaubst oder nicht.«

»Und auch dies ist bereits ein Verbrechen wider IHN.«

»Ja, aber nur, wenn man an ihn glaubt. Wenn es ihn nämlich nicht gibt, kann es ja kaum eine Sünde oder ein Verbrechen gegen ihn sein, nicht an ihn zu glauben.«

»Du argumentierst so raffiniert wie ein Theologe«, sagte Quillan anerkennend.

»Hast du das neulich wirklich ernst gemeint, als du sagtest, daß du dir in deinem Glauben nicht sicher bist?«

»Ja.«

»Und du hast doch nicht etwa so neckische Verbalspielchen mit mir getrieben? Nicht so einen raschen Klacks Zynikersenf auf meinen Teller, weil es dich momentan grad überkam, witzig zu sein?«

»Nein. Ganz gewiß nicht. Ich schwöre es dir.« Quillan streckte die Hand aus und legte sie auf Lawlers Handgelenk; es war eine unerwartet intime und vertrauliche Berührung, die Lawler unter anderen Umständen möglicherweise als unannehmbare Zudringlichkeit hätte empfinden können, die jedoch in diesem Moment beinahe als liebenswert erschie n. Mit dunkler, aber klarer Stimme sagte der Priester: »Ich habe mein Leben dem Dienst Gottes geweiht, als ich noch sehr jung war. Das hört sich ziemlich bombastisch an, ich weiß. Aber in der praktischen Wirklichkeit bedeutete es eine Riesenmenge schwerer und unangenehmer Arbeit, nicht bloß lange Gebetsstunden in kalten, zugigen Räumen zu unmöglich frühen oder späten Zeiten, morgens und nachts, sondern auch Arbeiten, die so ekelhaft sind, daß wahrscheinlich nur ein Arzt begreifen kann, was ich meine. Sozusagen die ständige Waschung der dreckigen Füße der Armut. Schön und gut, ich hatte es mir gewählt. Und ich wußte vorher, daß ich mich freiwillig dazu entschließen mußte, und ich erwartete auch keine Orden dafür. Was ich aber nicht wußte, Lawler, was ich mir im Anfang nicht einmal im entferntesten hätte träumen lassen, das war folgendes: Je tiefer ich mich darauf einließ, meinem Gott zu dienen, indem ich der leidenden Menschheit zu dienen versuchte, desto stärker und häufiger verletzbar wurde ich und desto häufiger überkamen mich Perioden absoluter seelischer Abgestumpftheit. Über lange Perioden hin fühlte ich mich von dem Universum um mich herum vollkommen abgeschnitten, die Menschen wurden mir so fremd, als wären sie Außergalaktische, und ich besaß nicht mehr einen Funken von Glauben und Zutrauen in die Höhere Macht, in deren Dienst ich feierlich mein ganzes Leben überantwortet hatte. Es gab Zeiten, da fühlte ich mich so absolut allein und verlassen, daß ich es dir wirklich nicht beschreiben könnte. Und je wütender ich mich in die Arbeit stürzte, desto sinnloser wurde das alles. Es war ein höchst grausamer Jux: Ich plagte mich ab, nehme ich heute an, um mir Gottes Gnade zu erwirken. Und statt dessen verpaßte ER mir ein paar deftige Löffel voll von Seiner Gnädigen Abwesenheit. Kommst du noch mit, Lawler?«

»Und was glaubst du, was diesen Zustand seelischer Abgestumpftheit in dir bewirkt hat?«

»Um das herauszufinden, bin ich hierher gekommen.«

»Und wieso gerade hierher?«

»Weil es hier keine organisierte Kirche gibt. Und nur höchst fragmentarische Humangemeinschaften. Weil dieser Planet als solcher uns Menschen feindlich ist. Und weil es ein Endpunkt ist, von dem aus es keine Rückkehr gibt, keine Umkehr. Genau wie das Leben selber auch.« In den Augen des Geistlichen tanzte nun etwas, das sich dem Begreifen Lawlers entzog, etwas so Verwirrendes wie eine Kerzenflamme, die statt nach oben, nach unten brennt. Er schien Lawler aus einer tiefen Ferne der Negation heraus anzustarren, einer Ewigkeit, die er erreicht wußte und in die er sehnlichst zurückzukehren wünschte. »Ich wollte mich hier bei euch selbst loswerden, verstehst du? Um mich dabei vielleicht selber wiederzufinden. Oder doch — Gott.«

»Gott? Wo denn? Irgendwo da drunten auf dem Grund dieses unermeßlichen Ozeans?«

»Warum nicht? Sonstwo ist ER doch nirgends zu finden, oder?«

»Ich weiß das wirklich nicht«, begann Lawler. Doch dann ertönte von hoch über ihnen ein durchdringender Schrei.

»Land in Sicht!« rief Pilya Braun. Sie war in den vordersten Toppen und stand auf der Rah. »Insel im Norden! Insel im Norden!«


* * *

Aber es gab keine Inseln in diesen Gewässern. Weder nördlich noch südlich, noch östlich oder westlich! Wenn so etwas bekannt gewesen wäre, dann hätten ja alle an Bord seit Tagen danach Ausschau gehalten. Aber noch nie hatte jemand etwas von Inseln in dieser Gegend berichtet.

Onyos Felk, der im Ruderhaus stand, stieß ein ungläubiges Grunzen aus. Kopfschüttelnd stapfte der Kartograph auf seinen kurzen Säbelbeinen auf Pilya zu. »Was schnatterst du da, Mädchen? Was für ’ne Insel? Was hätte ’ne Insel in dieser See verloren?«

»Woher soll ich das wissen?« rief Pilya zurück. Sie klammerte sich mit einer Hand an ein Tau und beugte sich weit über das Deck hinaus. »Hab ich das da vielleicht hingespuckt?«

»Aber da kann keine Insel sein!«

»Na, dann komm doch rauf und schau es dir selber an, du alter vertrockneter Stockfisch!«

»Was? Wie?«

Lawler hob die Hand über die Augen und spähte in die Ferne. Doch er sah nichts als hüpfende Wasserblüten. Aber Father Quillan zerrte ihn aufgeregt am Arm. »Da! Siehst du es nicht?«

Sah er da etwas? Doch, ja, er glaubte, daß da etwas war: Eine dünne gelblich-braune Linie am nördlichen Horizont. Vielleicht. Aber — eine Insel? Wie hätte er das entscheiden können?

Inzwischen waren alle an Deck und rannten aufgeregt herum. Mittendrin Delagard, der in einem Arm sorgsam den Meeresglobus schützte und in der anderen ein kurzes, dickes Spähglas aus einem gelblichen Metall hielt. Onyos Felk watschelte eilig zu ihm und wollte nach dem Globus greifen. Delagard blitzte ihn giftig an und stieß ihn mit einem Zischen zurück.

»Aber ich muß mir anschauen, was…«

»Laß deine Pfoten davon, ja!«

»Das Mädchen sagt, da ist eine Insel. Und ich will ihr beweisen, daß das unmöglich sein kann.«

»Aber sie sieht doch was, oder? Vielleicht ist es eine Insel. Du weißt auch nicht alles, Onyos. Nicht alles.« Und mit wilder, fast besessener Energie schob sich Delagard an dem Kartographen vorbei, der mit offenem Mund dastand, und begann mit Hilfe seiner Ellbogen und seiner Zähne in die Takelung hinaufzuklettern. Dabei umklammerte er noch immer den Globus und das Fernglas mit den Händen. Irgendwie erreichte er die Rah, quetschte sich irgendwie zurecht und hielt sich den Spähtubus vors Auge. Unten auf Deck breitete sich ein lastendes Schweigen aus. Und nach einer unendlich langen Pause blickte Delagard wieder zu den Leuten hinab und rief: »Verdammt, wenn das keine Insel ist!« Er reichte Pilya das Suchglas und begann fieberhaft auf dem Globus zu suchen, wobei er die Ellbogen weit spreizte und übertrieben mit den Fingern herumfuhr. »Nicht Velmise, nein. Auch nicht Salimil. Kaggeram? Nein. Nein. Kentrup?« Er schüttelte den Kopf. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Eine recht gute schauspielerische Leistung, dachte Lawler. Delagard reichte Pilya den Globus und nahm das Fernglas wieder an sich und versetzte ihr einen leichten Klaps auf das Hinterteil. Dann spähte er wieder hinaus. »Ja, da soll uns alle doch gleich der liebe Gott in den Arsch beißen! Es ist wahrhaftig eine neue Insel! Genau! Sie sind noch mitten im Bau! Das muß man gesehen haben! Die Balken! Die Gerüste! Also, gottverflixt nochmal!« Und er warf das Suchglas aufs Deck hinab, wo Dann Henders es geschickt auffing, ehe es auf den Deckplanken zerbersten konnte. Er hielt es ans Auge, und alle anderen drängten sich um ihn. Delagarde kam aus der Takelung wieder herabgeklettert und brabbelte dabei andauernd vor sich hin: »Also, der soll uns doch innen Arsch beißen, soll er, der liebe Gott!«

Das Spähglas ging von Hand zu Hand. Doch wenige Minuten später war das Schiff der neuen Insel nahe genug gekommen, daß man sie mit bloßem Auge ausmachen konnte. Und Lawler starrte ehrfürchtig und fasziniert auf die Erscheinung.

Es war eine schmale Konstruktion, vielleicht so zwanzig bis dreißig Meter breit und hundert Meter lang. Der höchste Punkt lag nur wenige Meter über dem Meeresspiegel, eine Erhebung, die wie der Buckelrücken eines gigantischen Seegetiers aussah, das dicht unter der Oberfläche dahinschwamm. Etwa ein Dutzend Gillies waren schwerfällig darum herum beschäftigt, zerrten und schoben Balken zurecht, kanteten sie aufrecht, schnitten mit seltsamen Gillie — Werkzeugen Kerben und Verzahnungen, umwickelten sie mit Seilen und Schnüren.

Die See in der Nähe brodelte von Leben und Aktivität. Einige der sich tummelnden Geschöpfe waren Gillies, erkannte Lawler, zahllose Gillies. Ihre kleinen Schädelkuppen tanzten in den gemächlichen Wellen auf und ab wie die Köpfe von Seeblumen. Aber er sah auch die langen schimmernden geschmeidigen Gestalten von Tauchern zwischen ihnen. Sie holten Kelpholzbalken vom Meeresgrund herauf, so sah es aus, übergaben sie im Wasser den Gillies, die ihrerseits sie zurechtschnitten, kanteten und über eine Unterwasserkette an die Küste der neuen Insel weiterreichten, wo andere Arbeitsgillies sie an die Luft heraufholten und sie für den Einbau zurechtmachten.

Die Black Sea Star war steuerbord längsgegangen. Auf dem Deck bewegten sich Gestalten und gestikulierten und winkten. Backbord kam die Sorve Goddess rasch auf, und die Three Moons lag nicht weit zurück.

»Da drüben ist eine Plattform«, sagte Gabe Kinverson. »An der Nordseite der Insel, links.«

»Heiliges Jesulein, ja!« rief Delagard. »Und schaut euch nur mal die Maße an!«

Jenseits der Insel schwamm bewegungslos wie vertäut etwas, das wie eine zweite Insel aussah, was sich jedoch als gigantisches Seegeschöpf erwies, so wie die Insel selbst ihnen zunächst erschienen war. Diese ›Plattformen‹ waren die größte animalische Lebensform auf Hydros, von der je ein Mensch gehört hatte, und sie war sogar noch gewaltiger als die alles-verschlingenden walähnlichen Tiere, die man als ›Mäuler‹ bezeichnete: gewaltige flache, vage kastenartige klobige Formen, die dermaßen unbeweglich waren, daß man sie leicht für Inseln halten konnte. Sie trieben erratisch in allen Meeren umher und ernährten sich, vielmehr ließen sich passiv ernähren durch den Strom von Meeresmikroorganismen, die durch peripher an ihrem Körper angelegte Filterschlitze in sie einströmten. Wie sie es bewerkstelligten, selbst bei unentwegter Nahrungsaufnahme Tag und Nacht, genug zu fressen, um nicht zugrunde zu gehen, das überstieg das menschliche Begriffsvermögen. Lawler stellte sich vor, diese Geschöpfe müßten wohl etwa so träge sein wie Treibholz, was ihren Metabolismus anging — bloße gigantische, kaum empfindungsbegabte Fleischklumpen. Und dennoch, die großen purpurnen Augen, die zu je sechs in Dreierreihen auf ihrem Rücken angeordnet und deren jedes einzelne einen Durchmesser von der Schulterbreite eines Mannes hatte, schienen eine Art dumpfer Intelligenz zu verraten. Gelegentlich hatte sich ein solches Plattformtier in die Sorve-Bucht verirrt und war dort umhergetrieben, der Bauch kaum ein Stück oberhalb der Unterwasserplanken des Buchtbodens. Einmal war Lawler in einem Fischerkahn, ohne etwas zu merken, direkt über eine solche Kreatur hinweggerudert und hatte plötzlich höchst verwirrt in eine Reihe von diesen großen traurigen Augen geblickt, die durch das klare Wasser mit einer fast göttlichen Gleichgültigkeit, ja, wie er sich damals eingebildet hatte, mit seltsam mitleidigem Ausdruck zu ihm zurückgeschaut hatten.

Diese jetzige Plattform schien nichts mehr und nichts weniger zu sein als eine Art Werkbank. Auf ihrem Rücken schufteten ganze Teams von Gillies. Sie bewegten sich knietief im Wasser und rollten und flochten lange Algenstränge zusammen, die von schimmernden grünen Tentakeln aus der Tiefe auf die Plattform geschoben wurden. Diese Tentakeln waren armdick, sehr beweglich und trugen am Ende fingerähnliche Ausstülpungen. Keiner — nicht einmal Kinverson — hatte die geringste Ahnung, zu welchem Geschöpf diese Extremitäten gehören könnten.

Der Priester sagte: »Ist es nicht wundervoll, wie sie alle zusammenwirken, diese verschiedenen Tiere!«

Lawler wandte sich Quillan zu. »Niemand hat bisher gesehen, wie eine Insel gebaut wurde, jedenfalls soweit ich weiß. Unserer Kenntnis nach sind alle Inseln Hunderte, ja Tausende von Jahren alt. Also so machen sie das! Was für ein Anblick!«

»Eines Tages«, sagte der Priester, »wird es auf diesem Planeten echtes festes Land geben wie auf anderen Welten. Der Boden des Meeres wird sich in Millionen Jahren heben. Und indem sie sich diese künstlichen Eilande bauen und aus dem Meer herauskommen, um auf ihnen zu leben, bereiten sich die Gillies auf ihre nächstfolgende Evolutionsphase vor.«

Lawler mußte blinzeln. »Woher weißt du das?«

»Ich habe auf Sunrise Seminare über Geologie und Evolutionstheorie besucht. Ihr glaubt wohl immer noch, daß man uns Geistlichen nichts weiter beibringt als die Liturgie und Bibelzitate? Oder daß wir die Bibel wortwörtlich nehmen müßten? Dieser Planet hier hat eine sehr geruhsame geohistorische Entwicklung, weißt du. Es gab keine dynamischen Krustenbewegungen, durch die Gebirgsketten oder ganze Kontinente aus dem frühzeitlichen Ozean nach oben getrieben wurden, wie dies auf Welten mit Landmassen der Fall war, darum blieb alles auf ungefähr dem gleichen Niveau und vorwiegend unter Wasser. Im Lauf der Zeit konnte das Meer jede Landformation erodieren, die über den Wasserspiegel hinausgeragt hatte. Doch das wird sich ändern. Im Kern des Planeten baut sich zunehmend Druck auf. Gravitationsspannungen im Innern schaffen nach und nach Turbulenz, und in dreißig Millionen Jahren, oder in vierzig, fünfzig…«

»Moment mal«, sagte Lawler. »Was ist denn dort los?«

Delagar und Dag Tharp brüllten sich gegenseitig wüst an. Auch Dann Henderson war in den Streit verwickelt. Er war knallr ot im Gesicht, auf seiner Stirn stand dick eine Ader. Tharp war ein nervöser, leicht erregbarer Mann, der immer irgendeinen Krach mit irgendwem über irgendwas hatte; doch der Anblick des gewöhnlich zurückhaltenden, eher leisen Henders, anscheinend in höchster Erregung, erzwang Lawlers sofortige Aufmerksamkeit.

Er ging zu den Männern hinüber.

»Was ist denn los?«

Delagard antwortete: »Ach, nur ein bißchen Gehorsamsverweigerung, Doc, ich komme schon damit zurecht.«

Tharps schnabelartige Nase war tiefrot angela ufen, der wulstige Kehlsack an seinem Hals bebte.

»Henders und ich haben vorgeschlagen, wir sollten rüber zu der Insel segeln und die Gillies da um Asyl und Zuflucht bitten«, sagte er zu Lawler. »Wir könnten in der Nähe Anker werfen und ihnen beim Bau ihrer Insel helfen. Das war doch gleich von Anfang an eine Art Partnerschaft. Aber Delagard hier, der sagt, nein nein, wir fahren weiter bis Grayvard. Habt ihr ’ne Ahnung, wie lang wir brauchen, um nach Grayvard zu kommen? Wie viele von diesen hinterhältigen Netzdingern an Bord kriechen können, bevor wir da hinkommen? Oder wer weiß, was sonst noch da draußen auf uns lauert? Und Kinverson sagt, wir haben bisher verdammtes Glück gehabt, daß wir bisher noch nicht auf was richtig Bösartiges gestoßen sind; aber wie lange noch können wir damit rechnen…«

»Wir segeln nach Grayvard«, sagte Delagard eisig.

»Siehst du? Da habt ihr’s!«

Henders sagte: »Wir sollten aber zumindest darüber abstimmen, was meinst du, Doc? Je länger wir unterwegs sind, desto höher wird das Risiko, daß wir in die WOGE geraten oder auf irgendwelche ekligen Kreaturen treffen, wie sie Gabe uns beschrieben hat, oder in ’nen mörderischen Sturm oder all so was. Hier haben wir ’ne echte Insel vor uns, noch dazu grad im Bau. Und wenn die Gillies schon Taucher und was-weiß-ich-sonst als Helfer beim Bau einsetzen, sogar ’ne Plattform, wieso sollten sie dann nicht daneben auch die Hilfe von uns Menschen annehmen? Und dankbar dafür sein? Aber der da weigert sich ja, drüber auch nur mal nachzudenken!«

Delagard warf dem Schiffsingenieur einen giftigen Blick zu. »Seit wann haben die Gillies jemals unsere Hilfe haben wollen? Du weißt doch, wie das daheim auf Sorve war, Henders.«

»Aber hier ist nicht Sorve.«

»Die Dinge sind überall die gleichen.«

»Und woher willst du das so genau wissen?« schnauzte Henders zurück. »Jetzt hör mir mal zu, Nid, wir müssen mit denen von den anderen Schiffen reden, und damit hat sich’s dann. Dag, du gehst und rufst Yanez und Sawtelle und die anderen, und dann…«

»Du bleibst genau da, wo du jetzt bist, Dag«, sagte Delagard.

Tharp blickte von Delagard zu Henders und wieder zu dem Reeder zurück. Er bewegte sich nicht, aber seine Kinnwammen bebten vor Wut.

Delagard sagte: »So, und jetzt hört mir mal zu! Wollt ihr wirklich auf ’nem erbärmlichen winzigen Inselchen leben, das erst in Monaten oder gar Jahren fertiggebaut sein wird? Und worin wollt ihr leben? In Tanghütten? Seht ihr da irgendwo einen Vaargh? Gibt es da eine Bucht, aus der wir brauchbare Rohstoffe heraufholen könnten? Und — die würden uns sowieso nicht aufnehmen. Die wissen, daß man uns mit einem Tritt in den Arsch aus Sorve rausgeschmissen hat. Jeder einzelne Gillie auf diesem ganzen Planeten weißt das, glaubt mir!«

»Aber wenn diese Gillies da uns nicht haben wollen«, sagte Tharp, »wie kannst du dann dermaßen sicher behaupten, daß die auf Grayvard uns aufnehmen wollen?«

Delagards Gesicht lief rot an. Momentan sah es so aus, als hätte der Stich gesessen. Lawler fiel ein, daß Delagard bisher noch kein Wort darüber verloren hatte, daß und ob er ihre Ankunft und Landung auf Grayvard mit den dortigen wirklichen Inselbesitzern arrangiert habe. Einzig die Humankolonie nämlich hatte sich zur Aufnahme der Ausgestoßenen bereiterklärt.

Doch Delagard faßte sich sehr rasch wieder. »Dag, du hast nicht einen Furz von Ahnung, wovon du quasselst. Seit wann müssen wir die Gillies um die Erlaubnis für die Emigration und Migration von Insel zu Insel bitten? Sobald die mal Menschen auf ihre Inseln lassen, ist es ihnen schietegal, was für Menschen das sind. Sie können sowieso kaum Männlein und Weiblein bei uns unterscheiden. Solang wir nicht in ihren Inselsektor auf Grayvard vordringen, gibt’s bestimmt keine Probleme.«

»Du tust aber verdammt sicher«, sagte Henders. »Aber wozu müssen wir bis nach Grayvard fahren, wenn das gar nicht nötig ist? Wir wissen bisher immer noch nicht, ob es nicht möglich ist, daß wir uns auf einer etwas näher gelegenen Insel festsetzen, auf der es noch keine Humankolonie gibt. Diese Gillies da drüben wären vielleicht bereit, uns aufzunehmen. Und außerdem… ja, vielleicht wären sie sogar froh darüber, wenn wir ihnen ein bißchen beim Bau helfen würden.«

»Klar«, sagte Delagard. »Sie wären ganz besonders glücklich, wenn sie einen Funkexperten und einen Schiffsingenieur bekämen. Die haben ihnen nämlich grad noch gefehlt. Also schön: Ihr zwei wollt da drüben auf dieser Insel leben? Fein. Dann schwimmt rüber. Na los! Alle beide, verschwindet von Bord, und zwar gleich!« Er packte Tharp am Arm und begann ihn zur Reling zu zerren. Tharp glotzte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Na los! Bewegt euch!«

»Einen Moment«, sagte Lawler ruhig.

Delagard ließ Tharp los und beugte sich auf den Fußballen balancierend vor. »Hast du was zu sagen, Doc?«

»Ja. Wenn die beiden über Bord gehen, dann gehe ich mit.«

Delagard lachte. »Mach dir nicht in die Hose, Doc! Hier wird keiner über Bord geworfen. Was glaubst du denn, wer ich bin?«

»Möchtest du darauf wirklich eine Antwort, Nid?«

»Also, jetzt schau mal«, sagte Delagard, »das Ganze läßt sich auf einen ganz einfachen Nenner bringen. Dies hier sind alles meine Schiffe, und ich bin jetzt der Kapitän auf diesem Schiff und außerdem der Leiter der ganzen Expedition, und keiner wird mir das streitig machen. Aus reiner Seelengröße und Herzensgüte habe ich jedermann aus der ehemaligen Humankolonie auf Sorve eingeladen, mit uns zu unserer neuen Heimat auf der Insel Grayvard zu fahren. Und die ist unser Ziel. Und eine Volksabstimmung darüber, ob wir versuchen sollten, uns auf diesem winzigen Splitterchen einer neu entstehenden Insel niederzulassen, kommt überhaupt nicht in Frage. Wenn Dag und Dann gern dort leben möchten, schön. Ich werde sie sogar höchstpersönlich im Gleiter rüberbringen. Aber es wird hier keine Abstimmungen geben — und es wird keine Abweichung vom Grundplan dieses Unternehmens geben. Ist das klar? Dann? Dag? Ist das klar, Doktor?«

Delagard hatte die Fäuste geballt. Der Mann war wirklich ein Kämpfer.

Henders sagte: »Wenn ich mich recht erinnere, warst schließlich du es, der uns in diese Scheiße überhaupt erst reingebracht hat, Nid. Das kam wohl auch aus deiner Seelengröße und Herzensgüte, ja?«

»Halt mal den Rand, Dann!« sagte Lawler. »Ich muß nachdenken.«

Er warf einen Blick zu der jungen Insel hinüber. Sie waren inzwischen so nahe herangekommen, daß er den gelblichen Schimmer in den Augen der Gillies sehen konnte. Sie schienen ihrer Arbeit nachzugehen, ohne sich im geringsten um die näherziehende Flottille der Menschenschiffe zu kümmern.

Und plötzlich begriff Lawler, daß Delagard recht hatte und daß Henders und Tharp sich irrten. So glücklich er gewesen wäre, wenn die Reise hier und jetzt ein Ende hätte finden können, wußte er doch, daß es eine völlig absurde und nicht in Betracht kommende Idee war, daß sie sich hier niederlassen sollten. Die Insel war winzig, ein bloßer Splitter Holz in der See, der sich kaum über die Wellen erhob. Und selbst wenn die Gillies bereit sein sollten, sie aufzunehmen, war da einfach nicht ausreichend Platz für sie.

Ruhig sagte er also. »Gut also, Nid. Ausnahmsweise gebe ich dir recht. Dieses Inselchen ist nicht der rechte Ort für uns.«

»Fein, fein. Sehr gescheit von dir. Man kann sich doch wahrhaftig immer darauf verlassen, daß du den Standpunkt der Vernunft vertrittst, Doc, wie?« Dann legte Delagard die hohle Hand an den Mund und brüllte zu Pilya in der Takelung hinauf: »Scharf in den Wind! Verschwinden wir von hier!«

»Wir hätten trotzdem abstimmen müssen«, brummte Dag Tharp mürrisch und rieb sich den Arm.

»Das laß mal besser«, sagte Lawler zu ihm. »Das hier ist Delagards persönliche Party. Wir sind bloß seine Gäste.«

3

Vom beginn der folgenden Woche an schlug das Wetter von Grund auf um. Der nordwestliche Kurs Richtung Grayvard führte die Flottille immer mehr aus den tropischen Gewässern und der starken Sonne und den klarblauen Himmeln des immerwährenden Sommers heraus, die in diesen mittleren Breiten vorherrschten. Nun waren sie in gemäßigtere Breiten vorgedrungen, und die See war hier kühl, und dumpfkalte Nebeldünste stiegen von ihr auf, wenn die warmen Winde vom Äquator heraufbliesen. Mittags war der Dunst verschwunden, aber das weite Himmelsgewölbe war oft die ganze Zeit häufig von Flockengewölk oder gar einer trüben lastenden Wolkendecke überzogen. Nur eines blieb unverändert: Es regnete noch immer nicht. Das war schon seit der Abfahrt des kleinen Konvois von Sorve so; und allmählich bot dieses Ausbleiben Anlaß zur Besorgnis.

Die See selbst zeigte hier ebenfalls ein anderes Gesicht. Die vertrauten Gewässer der Heimatsee, ihres Mare Nostrum, lagen nun weit hinter ihnen, und sie berühren die Gelbe See, die durch eine scharfe Demarkationslinie von den blauen Wassern im Osten abgegrenzt war. Ein dicker ekliger Schaumteppich von kotzgelben Mikro-Algen mit rötlichen Streifen darin, die aussahen wie koaguliertes Blut, bedeckte das Wasser bis zum Horizont.

Es war häßliches Zeug, aber fruchtbar. Es wimmelte im Wasser von Leben, und die meisten Lebensformen waren ihnen neu und unbekannt. Gewichtige schwerfällige Fische von Manneslänge, mit breiten Köpfen, stumpfblauen Schuppen und schwarzen, blind wirkenden Augen schnüffelten um die Schiffe herum; sie sahen aus wie treibende Balken. Ab und zu tauchte mit bestürzender Schnelligkeit ein wunderschöner samtiger Seeleopard aus den Tiefen herauf und verschlang eins von diesen Tieren als Ganzes. An einem Nachmittag tauchte aus dem Nichts zwischen dem Flaggschiff und dem Bug von Bamber Cadrells Schiff ein untersetztes röhrenförmiges Ding auf, mindestens zwanzig Meter lang und mit Kiefern wie ein Beil, durchkreuzte wuchtig die Heckwellen des Flaggschiffs, hob sich hoch und schlug wild mit dem Kinn aufs Wasser, und nachdem das Monster weitergezogen war, trieben in den gelben Wogen überall Stücke von den breitköpfigen Blaufischen umher. Und dann tauchten kleinere dieser Beilköpfe herauf und begannen zu fressen. Es gab hier auch reichlich Speisefisch, die in wirbelnden Zügen die Flottille umkreisten, wobei die scharfspitzigen Tentakeln wie Messer ins Wasser fuhren; doch sie hielten sich gemeinerweise immer von Kinversons Treibangeln fern.

Ganze Armeen von Millionen kleiner vielbeiniger Geschöpfe mit glitzernden durchsichtigen Leibern fuhren wie Sensen durch den gelben Meeresschaum und schnitten breite Schneisen, die sich hinter ihnen sogleich wieder schlossen. Gharkid holte ein volles Netz von ihnen hoch — sie zappelten und warfen sich heftig gegen die Maschen, wohl von Panik im freien Tageslicht erfaßt, und versuchten zurück ins Meer zu gelangen — und als dann Dag Tharp (keineswegs in vollem Ernst) vorschlug, man solle doch mal herausfinden, ob sie nicht vielleicht gut schmeckten, dünstete Gharkid prompt eine Portion von dem Zeug in ihrem eignen pissegelben Meerwasser und verzehrte sie mit demonstrativer Ungerührtheit.

»Gar nicht so übel«, sagte er. »Probiert doch mal.« Auch zwei Stunden danach schien er noch immer kregel und gesund zu sein. Also riskierten es auch andere. Darunter Lawler. Sie aßen das Getier mitsamt der Beine ganz und gar. Die kleinen Krustentiere waren knackig, schmeckten leicht süßlich und waren offenbar nahrhaft. Bei niemandem zeigten sich negative Reaktionen. Gharkid verbrachte den Tag an seinem Kran und zog die Beinlinge zu Tausenden in seinem Treibnetz herauf, und an diesem Abend feierten sie ein großes Fest.

Aber andere Lebensformen des Gelben Meeres waren weniger befriedigend. Kriechfähige grüne Quallenfische, die zwar harmlos, aber eklig waren, krochen in großer Zahl irgendwie an Deck, wo sie in wenigen Minuten zu verwesen begannen. Man mußte sie alle wieder über Bord fegen, und das beanspruchte beinahe einen vollen Tag. In einem anderen Teil der See ragten die starren schwarzen Fruchttürme einer Riesenalge morgens sieben, acht Meter über die Wasserfläche und explodierten in der mittäglichen Wärme, wobei sie Tausende kleiner harter Körner gegen die Schiffe schleuderten, daß jedermann Deckung suchen mußte. Auch Hexenfische gab es hier. In Trupps von zehn, zwanzig Stück flogen die wurmählichen Dinger zischend und sausend so hundert Meter weit übers Wasser, und ihre scharfkantigen lederartigen Schwingen flatterten mit einer verzweifelten Zielstrebigkeit, bis sie wieder ins Wasser platschten. Manchmal zogen sie so nahe am Schiff vorbei, daß Lawler die scharfen roten Borstenkämme auf ihrem Rücken erkennen konnte, und dann fuhr er sich mit der Hand an die linke Wange, wo immer noch eine rauhe Stelle an seine persönliche Begegnung mit einem der Tiere gemahnte.

»Wieso fliegen die so?« fragte er Kinverson. »Wollen sie etwas aus der Luft fangen?«

»Nee, ist nicht so, daß was in der Luft ist«, sagte Kinverson. »Ist was im Wasser, das sie fangen will. Die sehen hinter sich ein großes Maul aufklappen und versuchen wegzukommen. Ist ’ne ziemlich brauchbare Art der Flucht. Sonst gehen sie bloß in die Luft, wenn sie sich paaren. Die Weibchen fliegen voraus, und die Männchen kommen hinter ihnen her. Und die Kerle, die am schnellsten und längsten fliegen, kriegen sie dann, die Weiber.«

»Kein schlechtes Auswahlsystem. Sofern man Geschwindigkeit und Ausdauer heranzüchten will.«

»Hoffen wir, daß wir das nicht aktuell miterleben müssen. Die scharfen Biester kommen zu Tausenden rauf. So daß wirklich die ganze Luft voll ist von ihnen. Und sie sind ganz und gar verrückt vor Geilheit.«

Lawler deutete auf die Stelle auf seiner Wange. »Ich kann’s mir vorstellen. Letzte Woche hat mich eins ihrer Kleinen genau hier erwischt.«

»Wie klein?« fragte Kinverson ohne besonderes Interesse.

»So um die fünfzehn Zentimeter.«

»Na, da haste ja Glück gehabt, daß es so klein war. Da draußen treiben sich ’ne Menge wirklich gemeiner Dinger rum.«


* * *

Du lebst zu sehr in der Vergangenheit, hatte Pilya zu ihm gesagt. Doch wie sollte er denn nicht? Die Vergangenheit lebte in ihm. Nicht nur die ERDE, dieser ferne mythische Ort, sondern auch Sorve, ganz besonders Sorve, wo sein Fleisch und Blut, sein Geist und seine Seele entstanden waren. Die Vergangenheit stieg zu allen Zeiten immer wieder in ihm herauf. So auch jetzt, hier an der Reling, während er auf diese fremdartige Gelbe See hinausblickte.


* * *

Er war zehn Jahre alt, und sein Großvater hatte ihn zu sich in seinen Vaargh gerufen. Er hatte sich drei Jahre vorher aus der Doktorpraxis zurückgezogen und verbrachte seine Tage nun damit, über die Ufermauer zu spazieren; er war zusammengeschrumpft und sah gelblich aus, und es war klar, daß er nicht mehr sehr lange zu leben haben würde. Er war ein sehr alter Mann, so alt, daß er sich sogar noch an einige der Siedler der ersten Generation erinnern konnte, sogar noch an seinen eigenen Großvater, an Harry Lawler, den ›Gründer-Harry‹.

»Ich hab da etwas für dich, Junge«, sagte der Großvater. »Da komm her. Näher! Siehst du das Bord da, Valben? Mit den Dingen von der ERDE drauf? Bring sie mir her.«

Es gab da vier ERD-Dinge, zwei flache, runde aus Metall, ein großes aus rostigem Metall und ein Stück bemalter Tonscherben. Es waren einmal sechs Stücke gewesen. Aber die kleine Statuette und das rohe Steinstück befanden sich damals bereits im Vaargh von Valbens Vater. Der Großvater hatte schon damit begonnen, seinen Besitz weiterzugeben.

»Da, Junge«, sagte der alte Mann. »Ich möchte, daß das dir gehört. Es ist von meinem Großvater Harry, und der hat es von seinem Großvater, der es von der ERDE mitnahm, als er in den Raum ging. Und nun gehört es dir.« Und er reichte ihm den orange und schwarz bemalten Tonscherben.

»Nicht für meinen Vater? Für meinen Bruder?«

»Nein, dies ist für dich«, sagte der Großvater. »Damit es dich an die ERDE erinnert. Du wirst aber gut darauf achtgeben und es nicht verlieren, ja? Denn wir besitzen nur sechs Dinge von der ERDE, und wenn sie uns verlorengehen, können wir sie nie mehr ersetzen. Da, nimm. Nimm!« Und er drückte Valben das Tonstück in die Hand. »Das stammt aus Griechenland. Vielleicht hat es einmal Sokrates gehört. Oder Platon. Und nun gehört es dir.«

Dies war das letzte Mal, daß er mit seinem Großvater gesprochen hatte.

Danach trug er monatelang den bemalten Scherben überall mit sich herum. Und wenn er mit den Fingern über die gezackte Bruchstelle strich, schien es ihm, als werde die ERDE in seiner Hand wieder lebendig, als spräche aus diesem Stückchen gebrannten Tons Sokrates persönlich zu ihm, oder Platon. Wer immer sie gewesen sein mochten.


* * *

Er war fünfzehn. Sein Bruder Coirey, der davongelaufen war, um zur See zu fahren, war zu Besuch heimgekommen. Er war neun Jahre älter, der älteste von den einst drei Brüdern, doch der mittlere, der junge Bernat, war schon vor so langer Zeit gestorben, daß Valben sich kaum noch an ihn erinnern konnte. Coirey hatte eines Tages der nächste Inseldoktor werden sollen, hatte aber dafür kein Interesse aufbringen mögen. Das Amt eines Doktors hätte ihn an eine einzige Insel gebunden. Aber Coirey sehnte sich nach dem Meer, dem Meer, dem weiten Meer. Und so war er fortgegangen — aufs Meer; und Briefe waren von ihm eingetroffen, von Orten, die für Valben nur Namen bedeuteten: Velmise und Sembilor und Thetopal und Meisa Meisanda; und nun war Coirey selbst zurückgekommen, nur für einen kurzen Zwischenstop auf Sorve auf der Fahrt nach einem Ort namens Sumbalimak, der in einem Azur-See genannten Meer lag, so weit weg, daß es fast wie auf einer anderen Welt erschien.

Valben hatte seinen Bruder vier Jahre nicht mehr gesehen. Und er wußte nicht, was er erwarten sollte. Der Mann, der dann eintrat, hatte das Gesicht seines Vaters, das Gesicht, das auch er allmählich bekam, mit kräftigen Zügen, starker Kieferpartie, langer gerader Nase, doch er war dermaßen von Sonne und Wind gebräunt, daß seine Haut aussah wie ein Stück alter Fischhautteppich, und über die eine Wange lief eine scharfe Narbe, rötlichblau vom Auge bis zum Mundwinkel. »Da hat mich ein Fleischfisch erwischt«, sagte er. »Aber ich hab ihn auch erwischt.« Und er knuffte Valbens Oberarmmuskel. »He, Junge, du bist gewachsen. Du bist genauso lang wie ich, Mann, wahrhaftig. Aber leichter bist du. Was du brauchst, das ist ein bißchen mehr Fleisch auf die Knochen.« Coirey zwinkerte ihm zu. »Willste nicht irgendwann mal mit mir nach Meisa Meisanda mitkommen? Die kennen sich dort aus mit dem Essen. Jeder Tag ein Festtag. Und die Weiber, Junge! Die Weiber!« Er runzelte die Stirn und sagte: »Du stehst doch auf Weiber, oder? Klar tuste das. Richtig? Also, wie wär’s damit, Val? Wenn ich von Simbalimak zurückkomme, machst du dann ’nen Trip nach Meisa Meisanda mit mir?«

»Aber du weißt doch, ich kann hier nicht weg, Coirey. Ich muß doch studieren.«

»Studieren?«

»Vater bringt mir die Medizin bei.«

»Ah ja, richtig. Das hatte ich doch glatt vergessen. Du wirst ja der nächste Doktor Lawler sein. Aber deswegen kannst du doch vorher mal ’ne kleine Seereise mit mir machen, oder was spricht dagegen?«

»Nein«, sagte Valben. »Nein, das kann ich nicht.«

Und dann verstand er, warum der Großvater ihm den kleinen Tonscherben von der ERDE geschenkt hatte und nicht seinem älteren Bruder Coirey.

Sein Bruder war nie wieder nach Sorve zurückgekehrt.


* * *

Dann war er siebzehn und steckte ganz tief in seinem Studium der Heilkunst.

»Es wird höchste Zeit, daß du mal mit mir zusammen eine Autopsie durchführst, Valben«, sagte sein Vater. »Bislang war ja alles reine Theorie bei dir. Aber früher oder später mußt du den Sack mal aufmachen und sehen, was drinsteckt.«

»Sollten wir nicht besser damit warten, bis ich mit meiner Anatomie durch bin?« sagte Valben. »Dann hätte ich ein klareres Bild von dem, was ich sehe.«

»Aber das ist der beste Anatomie -Unterricht, den es gibt«, sagte sein Vater.

Und dann zog er ihn mit nach drinnen in das Operationszimmer. Auf dem Tisch lag jemand unter einer leichten Decke oder einem Wasserlattich-Tuch. Er zog das Tuch weg. Valben sah eine alte Frau mit grauen Haaren und schlaffen Brüsten, die flach zur Seite hingen, und einen Moment danach wurde ihm klar, daß er die Frau ja kannte, daß er da Bamber Cadrells Mutter anschaute, Samara, die Ehefrau von Marinus. Und natürlich mußte er sie kennen: Es gab auf der Insel nur sechzig Menschen, also wie hätte da einer von ihnen ein Fremder sein können? Aber trotzdem — die Frau von Marinus, die Mutter von Bamber — nackt hier vor ihm auf dem Operationstisch…

»Sie ist heute früh gestorben, sehr plötzlich, fiel einfach in ihrem Vaargh um. Marinus hat sie hergebracht. Höchstwahrscheinlich das Herz, aber ich wollte mich vergewissern, und auch du mußt so was irgendwann mal zum erstenmal sehen.« Sein Vater nahm den Kasten mit den chirurgischen Instrumenten. Dann sagte er leise: »Mir hat meine erste Autopsie auch nicht gefallen. Aber so etwas ist nun einmal nötig, Valben. Du mußt wissen, wie eine Leber aussieht, eine Milz, die Lungen, ein Herz, und du kannst das nicht richtig begreifen, nur indem du darüber nachliest. Du mußt den Unterschied erkennen lernen zwischen gesunden Organen und beschädigten. Außerdem — wir bekommen hier nicht allzu viele Leichen, an denen wir arbeiten könnten. Diese Gelegenheit hier — ich darf sie dich einfach nicht verpassen lassen.«

Er wählte ein Skalpell, demonstrierte Valben, wie man es richtig in die Hand nahm, und machte den ersten Schnitt. Dann legte er nach und nach die Geheimnisse bloß, die der tote Körper von Samara Cadrell noch enthielt.

Anfangs war es schlimm, sehr schlimm.

Dann stellte er fest, daß er es ertragen konnte, daß er sich an die Scheußlichkeit gewöhnte, Teil zu sein bei einer derartigen blutigen Entweihung des Heiligtums eines Körpers.

Und nach einiger Zeit faszinierte es ihn sogar, nachdem es ihm gelungen war zu verdrängen, daß das hier vor ihm einmal eine Frau gewesen war, die er Zeit seines Lebens gekannt hatte, und er sah nur noch ein Gefüge innerer Körperorgane von unterschiedlicher Färbung, Textur und Gestalt.

Doch in dieser Nacht, nachdem er sein Studienpensum erfüllt hatte und allein mit Boda Thalheim hinter der Wasserzisterne war und als seine Hände über ihren flachen seidenglatten Bauch glitten, mußte er unablässig daran denken, daß unter dieser bezaubernden festgespannten Trommel weicher Haut gleichfalls nur ein Gefüge innerer Organe von unterschiedlicher Färbung, Textur und Gestalt ruhten, so ziemlich jenen ähnlich, die er am Nachmittag gesehen hatte, diese schimmernden Darmwindungen und all das übrige, und daß diese festen runden Brüste komplizierte Drüsen waren, die sich nur wenig von denen in den schlaffen Brüsten Samara Cadrells unterschieden, die ihm sein Vater vor ein paar Stunden mit geschickten Skalpellschnitten bloßgelegt hatte. Und er zog seine Hände von dem glatten Leib Bodas zurück, als hätte der sich unter seiner Zärtlichkeit in den schlaffen Körper Samaras verwandelt.

»Was ist denn, Val?«

»Ach, nichts. Nichts.«

»Willst du denn nicht?«

»Aber sicher will ich. Aber… ich weiß nicht…«

»Komm, laß mich dir helfen.«

»Ja. Oh, Boda! Oh, ja! Ja!«

Und wenig später klappte alles wunderbar. Aber er fragte sich trotzdem, ob er jemals wieder bei einem Mädchen liegen würde, ohne daß ihn die lebhaften Bilder ihres Pancreas, ihrer Nieren und Eileiter ungewollt und unerwünscht überfallen würden, und es kam ihm der Gedanke, daß der Beruf eines Arztes wahrlich eine recht komplizierte Sache sei.


* * *

Bilder aus vergangenen Tagen. Phantome, Spukerscheinungen, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten würden.


* * *

Drei Tage später stieg Lawler in den Frachtraum des Schiffs hinab, um seinen Arzneivorrat zu ergänzen. Er trug nur einen kleinen Wachsstock zur Beleuchtung mit sich. In dem Halbdunkel wäre er beinahe in Kinverson und Sundira hineingelaufen, die zwischen den Packkisten hervorkamen. Sie sahen verschwitzt und zerzaust aus, auch ein wenig verlegen, als sie ihn erblickten, und es konnte kaum Zweifel geben, was sie da unten getrieben hatten.

Kinverson schaute ihm keck direkt in die Augen und sagte: »Morgen, Doc.«

Sundira sagte nichts. Sie schlug nur das klaffende Wickelkleid zusammen, ging mit ausdruckslosem Gesicht vorbei und streifte Lawler nur mit einem kurzen Blick und schaute dann sofort beiseite. Sie schien weniger verlegen zu sein, als daß sie sich vielmehr in eine Hülle von Selbstzufriedenheit zurückzog. Pikiert nickte Lawler, als handelte es sich um eine völlig neutrale Begegnung in einem völlig unverfänglichen Teil des Schiffes, und ging weiter zu dem Winkel des Frachtraums, wo seine Vorräte lagerten.

Es war das erste richtige Indiz, das ihm je begegnet war, daß Kinverson und Thane ein Liebespaar waren, und die Erkenntnis traf ihn tiefer, als er erwartet hätte. Kinversons Rede über das Paarungsverhalten bei den Schleimaalen, den Hexenfischen, erst vor ein paar Tagen war das, fiel ihm wieder ein, und er überlegte, ob das in irgendwie doppeldeutiger, spöttischer Weise auf ihn gezielt hatte. Die Kerle, die am schnellsten fliegen, kriegen sie, die Weiber.

Nein. Nein. Lawler wußte, daß er daheim auf der Insel ausreichend Gelegenheit gehabt hatte, etwas mit Sundira anzufangen. Aber er hatte sich aus Gründen, die ihm damals als vernünftig erschienen waren, anders entschieden.

Also, weshalb war er jetzt dermaßen gekränkt?

Du begehrst sie heftiger, als du dir selbst eingestehen magst, wie?

Ja. Das war es. Und ganz besonders in diesem Augenblick.

Warum? Weil sie was mit einem anderen hat?

Aber, was spielte das schon für eine Rolle. Er begehrte sie. Das wußte er auch vorher schon, aber er hatte nichts unternommen. Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, sich einmal etwas intensiver mit der Frage zu beschäftigten, warum er nichts getan hatte.


* * *

Er sah die beiden später an diesem Tag wieder zusammen, am Heck bei der Winschbrücke. Wie es aussah, hatte Kinverson etwas Ungewöhnliches gefangen, und er zeigte es ihr — ganz der stolze Jäger, der mit seiner Beute vor seinem Weibchen prahlt.

»Doc?« rief Kinverson und schob den Kopf über den Rand der Brücke, und er lächelte auf eine Weise, die entweder offene Herzlichkeit, oder aber gedankenlose Herablassung verriet. Lawler konnte nicht erkennen, was von beidem es war. »Komm doch mal eben ’nen Moment rauf, Doc, ja? Wir haben hier was, das dich vielleicht interessiert.«

Sein erster Impuls war, den Kopf zu schütteln und einfach weiterzugehen. Andererseits wollte er den beiden aber nicht die Genugtuung verschaffen, daß er ihnen aus dem Weg gehe. Schließlich, wovor fürchtete er sich? Daß er die Abdrücke von Kinversons Pfoten auf ihrem ganzen Körper demonstriert bekommen sollte? Er befahl sich, kein Trottel zu sein, und kletterte über die kleine Leiter zum Krandeck hinauf.

Kinverson hatte hier alle möglichen Fischfanggeräte in den Planken verschraubt, Gaffeln und Haken und Schnüre und dergleichen. Und hier befanden sich auch die Schleppnetze, die Gharkid für seinen Algenfang benutzte.

In einer gelben Pfütze lag schlaff ein graziöses grünliches Geschöpf, das wie ein Taucher aussah, nur kleiner. Es sah so aus, als hätte Kinverson es soeben an Bord gehievt. Lawler konnte es nicht einordnen; höchstwahrscheinlich ein Säugetier, Lungenatmer, wie so viele andere Bewohner des hydrotischen Ozeans.

»Was habt ihr denn da?« fragte er Kinverson.

»Also ehrlich, Doc, da sind wir uns gar nicht sicher.«

Das Geschöpf hatte eine niedrige flache Stirn und eine verlängerte Schnauze mit stoppligen grauen Borstenhaaren sowie einen schlanken Stromlinienleib, der in einem dreigefächerten Schwanz endete, und hatte einen deutlich hervortretenden Rückgratkamm. Die vorderen Gliedmaßen waren zu flachen Flippern ausgebildet, die denen der Gillies recht ähnlich sahen. Scharfe kurze Krummkrallen traten aus ihnen hervor. Die Augen waren schwarz, rund und schimmerten, und sie waren geöffnet.

Es sah nicht so aus, als atme das Tier. Aber es wirkte auch nicht tot. In den Augen lag ein Ausdruck — von Furcht? Verwirrtheit? Wer hätte es sagen können? Es waren Alienaugen. Doch schienen sie irgendwie besorgt zu sein.

Kinverson sagte: »Das da hatte sich in einem von Gharkids Netzen verheddert, und ich hab es reingeholt, um das Netz wieder klar zu kriegen. Weißt du, da kannste dein ganzes Leben hier draußen auf diesem Ozean zubringen und es kommen dir immer wieder neue Viecher vor die Augen.« Er stupste das Tier in die Flanke, und es reagierte mit einer kaum merklichen schwachen Bewegung des Schwanzes. »Das da ist erledigt, meinst du nicht auch? So ein hübsches kleines Ding.«

»Ich will es mir mal näher anschauen«, sagte Lawler spontan.

Er kniete sich zu dem Tier und legte ihm behutsam die Hand auf die Flanke. Die Haut war feucht, warm, vielleicht fiebrig. Und jetzt konnte er auch die schwachen Atemgeräusche ausmachen. Das Tier rollte die Augen, um zu sehen, was Lawler machte, aber ohne besonders großes Interesse. Dann sank das Maul schlapp nach unten und öffnete sich klaffend, und Lawler sah mit Bestürzung ein seltsames holzartiges Gewirr; etwas Kugeliges aus lose verwobenen weißen Fasersträngen, das den ganzen Mund- und Gurgelbereich des Tieres blockierte. Und die Faserstränge gliederten sich zu einem dicklichen Stengel, der im tieferen Schlund des Tieres verschwand.

Dann tastete Lawler mit den Händen den Abdominalbereich ab und spürte im Innern starren Widerstand, Knoten und Klumpen, wo eigentlich alles weich und geschmeidig hätte sein müssen. Seine Hände hatten inzwischen endlich ihre Stumpfheit wieder verloren, und er vermochte die Topographie im Leib des Geschöpfes zu entziffern, als hätte er es mit dem Skalpell aufgeschnitten. Wo immer er hintastete, er konnte die Symptome eines inneren Wucherwuchses ertasten. Er rollte das Geschöpf auf den Rücken und sah, daß Strähnen des gleichen holzartigen Geflechts direkt über dem Schwanzansatz auch aus dem Anus hervorragten.

Plötzlich stieß das Tier einen trocknen, keuchenden Schnarrlaut aus. Das Maul öffnete sich weiter, als Lawler es für möglich gehalten hätte. Das faserige Holzgeflecht darin wurde sichtbar, schob sich aus dem Tiermaul, als säße es auf einer Plattform, und begann von einer Seite zur anderen zu schwingen. Lawler stand rasch auf und trat zurück. Etwas, das wie eine kleine rosa Zunge aussah, trat aus der Faserkugel hervor und zuckte wild über die Decksplanken, zog sich zurück und schoß wieder hervor, wie von einer irren Kraft angetrieben. Lawler trat gerade noch rechtzeitig mit dem Stiefel zu, ehe die Zunge an ihm vorbei auf Sundira zufuhr. Aus der Kugel trat eine zweite unabhängige Zunge hervor. Auch diese zertrat er. Die Kugel wackelte träge, wie um neue Energie zu sammeln, um noch ein paar weitere dieser Zungen hervorzustülpen.

Er zischte Kinverson zu: »Schmeiß das Ding ins Meer, und schnell!«

»Waas?«

»Heb’s schon auf und schaff es rüber. Schnell!«

Kinverson hatte der ärztlichen Untersuchung verblüfft und ein wenig überheblich zugesehen. Doch Lawlers scharfer Befehlston drang zu ihm durch. Er schob seine breite Pranke unter die Mittelpartie des Tieres, hob es hoch und warf es in einer einzigen raschen Bewegung in die Luft. Das Tier fiel klatschend ins Wasser wie ein lebloser Sack. Aber im letzten Moment gelang es ihm, sich zu strecken, und es tauchte mit dem Kopf voraus glatt ins Wasser, als ob angeborene Reflexe noch immer partiell funktionierten. Es folgte ein geglückter heftiger Schlag des Schwanzes, dann glitt das Geschöpf sekundenschnell unter Wasser und außer Sicht.

»Was hat denn das, verdammt, alles bedeuten sollen?« fragte Kinverson.

»Parasitenbefall. Das Tier da war von der Schnauze bis zum Schwanz von irgendeinem pflanzlichen Gewächs durchwuchert, das Maul war ganz voll davon, hast du das nicht gesehen? Und so war es durch den ganzen Leib hindurch bis zum anderen Ende. Es war völlig durchwachsen davon. Und diese kleinen rosa Zungen — also, ich vermute, das waren Ableger, die nach einem neuen Wirtsorganismus suchten.«

Sundira schauderte zusammen. »So etwas wie die Killerfungi?«

»Sowas ähnliches, ja.«

»Und du glaubst, es hätte uns befallen können?«

»Na, es hat es ja ziemlich deutlich versucht«, sagte Lawler trocken. »Außerdem, in einem Ozean von dieser Größe können es sich Parasiten nicht leisten, wirtsspezifische Vorlieben zu pflegen. Sie müssen sich festsetzen, wo immer es nur geht.« Er schaute starr über Bord, als rechne er fast damit, daß unzählige von Parasiten befallene Tiere hilflos überall um das Schiff herumschwimmen könnten. Doch da drunten war nur der gelbliche, rotgestreifte Schaum. Er wandte sich wieder Kinverson zu. »Ich wünsche, daß vorläufig jeglicher Fischfang eingestellt wird, bis wir aus diesem Seebereich raus sind. Ich geh jetzt zu Dag Tharp und sage ihm, er soll den gleichen Befehl an die übrigen Schiffe senden.«

»Aber wir brauchen frisches Fleisch, Doc.«

»Möchtest du persönlich die Verantwortung übernehmen und jeden Fang dahingehend untersuchen, ob er von diesem Pflanzenparasiten frei ist?«

»Verdammt, nein!«

»Schön, dann wird vorläufig hier nicht mehr gefischt. So einfach ist das. Ich lebe wirklich lieber eine Weile von Trockenfisch, als daß mir so was im Bauch wächst. Du nicht?«

Kinverson nickte ernst.

»Und dabei war es so ein hübsches kleines Ding.«


* * *

Einen Tag später, sie segelten noch immer durch das Gelbe Meer, liefen sie in die erste große Tidenwoge. Dabei war eigentlich nur überraschend, daß sie so lange auf sich hatte warten lassen, wenn man bedachte, daß sie nun schon wochenlang übers Meer fuhren.

Es war unmöglich, diesen ozeanischen Flutwellen ganz zu entgehen. Die drei kleinen, rasch kreisenden Monde des Planeten zogen in komplizierten, sich überschneidenden Orbits unablässig um den Planeten, und in regelmäßigen Zeitabständen lagen sie auf Positionen, durch die sie eine starke Gravitationswirkung auf den gewaltigen Wasserglobus ausübten, den sie umkreisten. Dadurch wurde eine große mächtige Gezeiten-‚Beule‹ ausgelöst, die kontinuierlich mit der Umdrehung des Planeten um dessen Mittelbereich wanderte. Kleinere Gezeitenwirkungen, die von den Gravitationsfeldern der einzelnen Monde ausgelöst wurden, liefen im Winkel dazu. Die Gillies hatten ihre Inseln in einer Weise konstruiert, daß sie den unausweichlichen Tidenwogen standhalten konnten, wenn diese auf sie zurollten. Manchmal, selten allerdings, gerieten die kleineren Tidenbewegungen auf den Weg der Großen Tide, und dann entstand diese gewaltige Turbulenz, die als die ›Woge‹ bekannt war. Die Inseln der Gillies waren so gebaut, daß sie auch der Großen Woge standhalten konnten, doch kleine einzelne Boote oder auch Schiffe waren ihr hilflos ausgeliefert. Darum fürchtete jeder Seefahrer sie mehr als irgend etwas sonst.

Die erste Tidenschwellung war eher eine von der milderen Art. Der Tag war irgendwie bleiern und dumpfig, die Sonne sah fahl, verschwommen, kraftlos aus. Das erste Team hatte Wache, Martello, Kinverson, Gharkid, Pilya Braun. »Kabbelsee voraus!« rief Kinverson vom Auslug. Onyos Felk am Ruder griff nach seinem Fernglas. Nach seiner Morgenvisite (über Funk) auf den anderen Schiffen war Lawler gerade auf Deck gekommen und spürte, wie die Planken unter seinen Füßen stießen und bockten, als hinge das Schiff mit seinen Wurzeln an irgendwas Festem. Gelbe Gischt flog ihm wirbelnd ins Gesicht.

Er blickte zum Ruderhaus. Felk dort signalisierte ihm mit brüsken Armbewegungen etwas.

»Die Sturzsee kommt«, brüllte der Kartograph. »Geh unter Deck!«

Lawler sah, daß Pilya und Leo Martello die Taue festmachten, die das Segelwerk hielten. Und im nächsten Augenblick kamen sie aus der Takelung herab. Gharkid war schon unter Deck. Kinverson kam vorbeigetrabt und nickte ihm zu. »Komm runter, Doc. Gleich geht’s hier draußen los.«

»Ja«, sagte Lawler, blieb aber doch noch einen Augenblick an der Reling. Jetzt sah er es. Sie kam aus dem Nordwesten wie ein kleiner Gruß des fernen Grayvard auf sie zugelaufen — eine dicke graue Wasserwand, die im scharfen Winkel über den Horizont zog und mit beeindruckender Geschwindigkeit auf sie zurollte. Lawler stellte sich vor, daß eine Art Stange dicht unter der Oberfläche durch die See fuhr und diesen langen unausweichlichen Wall hochdrückte. Vor ihm her kam ein kalter salziger Wind, ein freudloser Vorbote.

»Doc!« rief Kinverson noch einmal von der Deckluke her. »Manchmal fegen die glatt das ganze Deck sauber, wenn sie aufprallen!«

»Ich weiß«, sagte Lawler. Doch die Wucht der heranbrausenden Flutwelle hielt ihn wie gebannt fest. Mit einem Achselzucken verschwand Kinverson nach unten. Lawler war nun allein auf Deck. Er begriff, daß die anderen möglicherweise die Luke dichtmachen und ihn hier allein lassen würden. Er warf noch einen letzten Blick auf die Flutwelle, dann rannte er schnell zum Einstiegsloch. Drunten waren alle, außer Henders und Delagard, im Kajütsniedergang versammelt und machten sich auf den bevorstehenden Zusammenprall bereit. Kinverson knallte den Lukendeckel hinter Lawler zu und sicherte ihn mit Krampen.

Aus der Tiefe des Schiffs, irgendwo auf das Heck zu, drang ein eigenartiges mahlendes Knirschen.

»Das Magnetron läuft an«, sagte Sundira Thane.

Lawler wandte sich ihr zu. »Du hast so was schon mal erlebt?«

»Zu oft. Aber diesmal wird es nicht arg sein.«

Das mahlende Geräusch wurde lauter. Das ›Magnetron‹ schickte einen Kraftstrahl nach unten, der gegen den schmelzflüssigen Eisenball im Kern des Planeten drückte und so eine Hebelwirkung bekam, durch die das Schiff ein, zwei Meter aus dem Wasser gehoben wurde, oder auch etwas mehr, wenn nötig, gerade ausreichend, um es über den stärksten Anprall der Flutwelle hinwegzutragen. Diese Magnetfeldverschiebung war die einzige Supertechnologie, welche die Menschen von anderen Welten der Galaxis mit nach Hydros hatten bringen können. Dann Henders hatte einmal gesagt, ein derart starker Apparat wie das Magnetron müsse doch weit mehr Nutzanwendungsmöglichkeiten für die Kolonisten haben als nur die, Delagards Fährboote in stürmischer See vor dem Kentern zu bewahren, und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Henders damit recht; doch Delagard hielt die Magnetrons unter Schloß und Riegel auf seinen Schiffen. Sie waren sein Privateigentum, die Kronjuwelen des Delagardischen See-Imperiums und der Grundstock für den Wohlstand seiner Familie.

»Sind wir schon hoch?« fragte Nikiaus ängstlich.

»Wenn das Mahlen aufhört«, antwortete Neyana Golghoz. »Da. Na also.«

Alles war still.

Das Schiff schwebte direkt über dem Kamm der Flutwelle.

Aber nur kurz: So stark das Magnetron auch war, es hatte seine Grenzen. Doch ein Moment reichte durchaus. Die Flutwelle strich unter ihnen durch, und das Schiff hob sich sanft über sie hinweg und glitt auf der Rückseite sacht in das Wellental dahinter. Beim Wiedereintritt ins Wasser schwankte und zitterte und bebte das Schiff. Die Wucht des Aufsetzens war größer, als Lawler erwartet hatte, und er mußte sich anstrengen, um nicht zu Boden geworfen zu werden.

Und dann war es vorbei. Sie schwammen wieder auf ebenem Kiel.

Delagard erschien im Luk, das zum Frachtdeck führte und grinste fröhlich und selbstgefällig. Dann Henders kam gleich danach.

»So, das war’s, Leute«, verkündete der Reeder. »Alles zurück auf die Posten. Die Fahrt geht weiter.«

Die See hinter der Flutwelle war mäßig aufgewühlt und schaukelte wie eine Wiege. Als Lawler wieder an Deck war, sah er, wie die Welle nach Südost abzog, eine immer kleiner werdende Falte quer durch die Weite der schäumenden See. Er erblickte die gelbe Flagge der Golden Sun, die rote der Three Moons, die grün-schwarze der Sorve Goddess. Weiter in der Ferne konnte er die anderen zwei Schiffe ausmachen, sicher und anscheinend unbeschädigt.

»Nun, das war ja gar nicht so schlimm«, sagte er zu Dag Tharp, der direkt nach ihm an Deck gestiegen war.

»Wart’s ab«, sagte Tharp. »Wart es nur ab.«

4

Und wieder wandelte sich die See. Ein rascher kalter Meeresstrom von Süden her durchzog sie hier und mähte eine Schneise durch die Gelbalgenfelder. Anfangs war da nur ein schmaler Streifen klaren Wassers durch die Algengischt sichtbar, dann wurde er breiter, und als der Konvoi den Meeresstrom selbst erreicht hatte, war ringsum wieder nur reines, klarblaues Wasser.

Kinverson fragte Lawler, ob er glaube, daß die Meeresbewohner hier frei von diesen pflanzlichen Parasiten seien. Die Fahrenden hatten seit Tagen keinen frischen Fisch mehr geschmeckt. »Holt halt was rauf«, erwiderte Lawler, »dann werden wir es uns anschauen. Aber seid vorsichtig, wenn ihr es an Deck bringt.«

Doch es gab keinen Fang, mit dem Kinverson hätte vorsichtig sein müssen. Die Netze kamen leer wieder herauf, und nichts biß an seinen Haken an. Und doch lebten in diesen Wassern Fische, massenhaft sogar. Doch sie hielten sich vom Schiff fern. Ab und zu sah man ganze Schwärme hastig davonschießen. Die übrigen Schiffe berichteten das gleiche. Man hätte genauso gut durch Totwasser segeln können.

Bei den Mahlzeiten erhob sich Murren in der Messe.

»Ich kann kein‹ Fisch nich kochen, wenn keiner einen fängt«, sagte Lis Nikiaus. »Beschwert euch bei Gabe.«

Kinverson blieb ungerührt. »Ich kann sie nicht fangen, wenn sie nicht in unsere Nähe kommen wollen. Wem das nicht paßt, der kann ja selber rausgehen und hinter ihnen dreinschwimmen und sie mit der Hand fangen. Klar?«


* * *

Die Fische blieben weiterhin fern, doch nun gelangten die Schiffe in eine Zone, in der es unbekannte neue Algen im Überfluß gab, die massenweise als eine rote dichtverflochtene Variante und eine breitblättrige, höchst saftige blaugrüne Art mitten darunter auftraten. Gharkid jubelte. »Die werden prima schmecken«, verkündete er. »Das weiß ich einfach. Und wir kriegen reichlich Nährstoffe von denen.«

»Aber wenn du diese Sorte noch nie vorher gesehen hast…?« hielt Leo Martello dagegen.

»Sowas sehe ich. Die da sind eßbar — und gut dazu.«

Gharkid testete sie höchstpersönlich, in der furchtlosen, arglosen Weise, die Lawler an ihm für so außergewöhnlich hielt. Die roten Algen, berichtete der Tester, waren für Salate geeignet. Die blaugrüne Spezies, entschied er, sollte man am besten in etwas Fischtran dünsten. Er hing fast den ganzen Tag lang auf der Winschbrücke und holte Ladung um Ladung an Bord, bis das halbe Schiffsdeck von nassen Algenhaufen übersät war.

Lawler begab sich zu ihm. Er hockte da und sortierte den glitschigen triefenden Matsch. Zwischen dem Tang wanderten kleinere Meerestiere umher: kleine Schnecken und Kräbbchen und winzige Krustentierchen mit hellroten Panzern, die wie Märchenschlösser aussahen. Gharkid schien sich keine Sorgen darüber zu machen, daß möglicherweise einige dieser winzigen blinden Passagiere giftige Stacheln, kleine Beißkiefer- chen besitzen könnten, mit denen sie eklig kneifen könnten, oder toxische Absonderungen, oder sonstige unbekannte Gefahren bergen könnten. Er kämmte sie mit einem Schilfkamm von seinen Algensträngen fort, und, wenn es so rascher ging, benutzte er ganz einfach die Finger. Als er Lawler herankommen sah, strahlte Gharkid ihn mit breitem Lächeln an, die weißen Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht, und er sagte: »Die See war uns heute gnädig, sie hat uns eine reiche Ernte beschert.«

»Natim? Wo hast du das alles gelernt, was du über Meerespflanzen weißt?«

Gharkid sah verwirrt drein. »Im Meer, wo denn sonst? Aus dem Meer kommt unser Leben. Und du gehst einfach rein, und dann findest du, was gut ist. Du versuchst das und dann suchst du das. Und das behältst du im Kopf.« Er zupfte etwas aus einem Klumpen Rotalgen und hielt es entzückt Lawler zum Betrachten hin. »Das ist so zart, so schön, so zerbrechlich.« Es war so etwas wie eine Meeresschnecke, gelb mit kleinen rötlichen Pünktchen, fast wie ein Bröckchen des gelben Meerschaums, der nun hinter ihnen lag. Auf stummeligen Stengeln wogte ein Dutzend bemerkenswert intensiv wirkender schwarzer Augen von etwa der Größe menschlicher Fingerkuppen auf und ab. Lawler entdeckte weder Schönheit noch Zartheit in dem klumpigen gelben Wesen, aber Gharkid war ganz bezaubert davon. Er hob es dicht vor die Augen und lächelte es an. Dann warf er es sanft über Bord in die See zurück.

»Das gesegnete Geschöpf der See«, sagte Gharkid in einem Ton von solch allumfassender liebevoller Güte, daß Lawler gereizt wurde und ärgerlich sagte: »Du willst wissen, wozu es geschaffen wurde.«

»O nein, Doktor — Sir. Nein, ich frage nie. Wer bin ich denn, daß ich die See fragen dürfte, warum sie tut, was sie tut?«

Seine Stimme klang dermaßen ehrfürchtig, daß man fast den Eindruck gewann, als betrachte er das Meer als seinen Gott. Vielleicht tat er das ja wirklich. Auf jeden Fall war keine Antwort nötig; es war eine unmögliche Frage für einen Menschen von Lawlers Denkweise, und er kam mit derlei nicht zurecht. Es lag ihm fern, Gharkid überheblich zu behandeln, und schon gar nicht, ihn zu verletzen, und er kam sich angesichts des unschuldigen Entzückens des Mannes beinahe unrein vor. Also lächelte er hastig und ging weiter. Weiter drüben sah er den Father Quillan auf dem Deck stehen, der sie aus der Entfernung beobachtete.

»Ich hab ihm bei der Arbeit zugeschaut«, sagte der Priester, als Lawler zu ihm trat. »Wie er den ganzen Seetang sortiert und auf Haufen teilt. Er arbeitet unablässig. Er wirkt so weich und mild, doch irgendwo trägt der Mann tief im Innern eine tiefe Wut mit sich herum. Was weißt du übrigens von ihm?«

»Von Gharkid? Nicht viel. Ein Einzelgänger, spricht nicht viel. Ich habe keine Ahnung, wo er lebte, ehe er vor ein paar Jahren in Sorve auftauchte. Anscheinend interessiert er sich für nichts außer für Algen.«

»Ein rätselhafter Mensch.«

»Ja. Ein Rätsel. Früher dachte ich, er ist vielleicht ein Denker, der weiß-der-Himmel-was für ein philosophisches Problem in der Abgeschiedenheit seines Kopfes zu lösen versucht. Doch inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob in seinem Schädel außer der Kon- templation der verschiedenen Algenarten noch was anderes vor sich geht. Man verwechselt leicht Wortlosigkeit mit Gedankentiefe, aber das weißt du ja. Inzwischen neige ich mehr und mehr zu der Überzeugung, daß der Mann ganz und gar so einfältig ist, wie er es zu sein scheint.«

»Ja, so könnte es sein«, sagte der Priester. »Allerdings würde mich das sehr wundern. Mir ist nämlich noch nie ein wahrhaft einfältiger Mensch begegnet.«

»Meinst du das im Ernst?«

»Du hältst sie vielleicht dafür, aber es stimmt nie. In meiner Arbeit bekommt man hin und wieder die Möglichkeit, in die Seele der Menschen zu schauen, wenn sie einem endlich ihr Vertrauen schenken können, oder wenn sie endlich davon überzeugt sind, daß ein Priester nichts weiter ist als ein Schutzschleier zwischen ihnen und Gott. Und dabei entdeckst du dann, daß sogar die einfachen Seelen keineswegs einfältig sind. Schuldlos vielleicht, aber niemals simpel. Das menschliche Bewußtsein, selbst das minimal entwickelte, ist viel zu komplex, als daß es je simplex sein könnte. Verzeih also, Doktor, wenn ich dir vorschlage, deine erste Gharkid-Hypothese wieder aufzugreifen. Ich bin überzeugt, daß er denkt. Ich bin überzeugt, er ist ein Gottsucher — genau wie wir anderen alle auch.«

Lawler lächelte. An Gott glauben, schön, das war eine Sache, aber Gott suchen, das war doch wohl etwas ganz anderes. Gharkid mochte ja, dachte Lawler, gut und gern auf irgendeiner primitiven, unkritischen Ebene ›gläubig‹ sein. Aber der Gott-Sucher, das war dieser Quillan hier. Es amüsierte Lawler stets aufs neue, wie die Menschen ihre eigenen Sehnsüchte und Nöte auf ihre Umwelt projizierten und sie dabei in den Rang allgemeingültiger Gesetze des Universums erhoben.

Aber wollten sie wirklich alle ›Gott finden‹? Jeder einzelne dieser Sucher? Quillan, ja, doch, der schon. Für ihn bestand da sozusagen ein beruflicher Zwang. Aber Gharkid? Kinverson? Delagard? Und Lawler selbst?

Er schaute Quillan lange eindringlich an. Mittlerweile hatte er gelernt, im Gesicht des Geistlichen zu lesen. Es gab da zwei Ausdrucksmodi. Der eine war sozusagen das aufrichtige, gottesfromme Gesicht. Das andere war kalt, zynisch und gottesleer. Er wechselte von dem einen zum anderen, je nach den seelischen Stürmen, die in ihm toben mochten. Im Augenblick, argwöhnte Lawler, bekam er den frommen, den aufrechten Quillan vorgesetzt.

Er fragte ihn: »Du hältst also auch mich für einen der nach Gott sucht?«

»Selbstverständlich tust du das!«

»Weil ich ein paar Bibelzitate kenne?«

»Weil du meinst, du kannst dein Leben in SEINEM Schatten verbringen, ohne auch nur einen Augenblick die Tatsache SEINER Existenz zu akzeptieren. So etwas ist eine Situation, die automatisch ihr Gegenteil erzeugt. Leugne GOTT, und du bist dazu verurteilt, dein Leben lang nach IHM zu suchen, und sei es nur, um herauszufinden, ob du recht hattest, IHN für nichtexistent zu halten.«

»Und das ist genau deine Situation, Father.«

»Aber gewiß doch!«

Lawler blickte übers Deck zu Gharkid, der geduldig den jüngsten Algenfang sortierte, abgestorbene Stränge wegschnitt und sie über Bord warf. Er sang leise tonlos vor sich hin.

»Und wenn du Gott weder leugnest noch ihn akzeptierst, was dann?« fragte Lawler. »Wärst du dann nicht der wahrhaft Einfältige?«

»Wahrscheinlich, ja. Aber ich müßte einen solchen Menschen erst noch finden.«

»Dann schlage ich vor, du unterhältst dich mal mit unserem Freund Gharkid.«

»Oh, das habe ich bereits getan.«


* * *

Noch immer Fiel kein Regen. Die Fische beschlossen, sich wieder in die Nähe von Kinversons Fanggeräten zu begeben, doch die Himmel blieben unergiebig. Die Fahrt dauerte nun schon die dritte Woche, und die Trinkwasservorräte, die sie aus Sorve mitgenommen hatten, gingen bedenklich zur Neige. Außerdem hatte das Wasser einen dumpfen brackigen Geruch angenommen. Rationierung war ihnen allen zur zweiten Natur geworden, aber die Aussichten, eventuell die ganzen acht Wochen der Reise nach Grayvard mit dem auskommen zu müssen, was sich in den Vorratsbottichen befand, waren bedrückend.

Noch war es nicht so weit, daß sie den Flüssigkeitsbedarf aus den Augen, dem Blut und dem Rückenmark von Seetieren decken mußten — Kinverson hatte von derartigen Überlebenstechniken berichtet —, die er auf langen, einsamen Seereisen ohne Regen angewandt hatte —, und die Lage war noch nicht so verzweifelt, daß man den Apparat hervorholen mußte, mit dem aus Meerwasser Trinkwasser destilliert werden konnte. Das war der letzte Ausweg, aber die Methode war wenig effizient und mühselig, das Trinkwasser sammelte sich nur tropfenweise und reichte auch nur für die Minimalversorgung.

Aber es blieben ihnen einige andere Möglichkeiten. Roher Fisch steckte voller Feuchtigkeit, bei relativ niedrigem Salzgehalt, und so gehörte er inzwischen zu jedermanns täglichem Proviant. Lis Nikiaus wirkte wahre Wunder, wenn sie den Fisch säuberte und in hübsche kleine Appetithappen zurechtschnitt, aber selbst so wurde es mehr und mehr zu einer langweiligen, manchmal sogar widerwärtigen Ernährungsweise. Sich die Haut und die Kleidung mit Seewasser zu benetzen, half auch etwas. Es verminderte die Körperwärme und reduzierte dadurch das innere Flüssigkeitsbedürfnis. Außerdem war es die einzige Möglichkeit, sich zu säubern, da die Wasservorräte an Bord dafür zu knapp und zu kostbar waren.

Aber dann verdunkelte sich unerwartet eines Nachmittags der Himmel, und es fiel ein Wolkenbruch auf sie nieder. »Eimer!« brüllte Delagard. »Flaschen, Fässer, Becher, alles, was ihr habt, raus an Deck!«

Wie von Dämonen gehetzt rannten sie auf und ab und zerrten alles hervor, womit sich Wasser auffangen ließ, bis das ganze Deck übersät war von aller Art Gefäßen. Dann zogen sie sich allesamt aus und tanzten nackend wie die Irren im Regen herum und wuschen die Salzkrusten von den Leibern und aus den Kleidern. Delagard hüpfte auf der Brücke herum, ein untersetzter Satyr mit behaarten üppigen Brüsten. Lis tanzte mit ihm und lachte und schrie und stampfte, die langen gelben Haare klebten ihr auf den Schultern, und die deftigen Kugelbrüste sprangen wie Planeten, die aus der Bahn zu geraten drohten. Der hagere, ausgemergelte Dag Tharp tanzte mit der stämmigen Neyana Golghoz, die kräftig genug aussah, als könnte sie ihn sich mit Leichtigkeit über die Schulter schleudern. Lawler genoß den Regen allein für sich am hinteren Mast, als Pilya Braun vorbeigetanzt kam. Ihre Augen blitzten, die Lippen waren in einem auffordernden Grinsen geöffnet. Die olivdunkle Haut schimmerte wundervoll unter dem Regen. Lawler tanzte ein paar Augenblicke mit ihr und genoß bewundernd den Anblick ihrer kräftigen Schenkel und die vollen Brüste, aber als sie durch ihre Bewegungen andeutete, daß sie mit ihm gern zu einem gemütlichen Plätzchen unter Deck davontanzen würde, tat Lawler, als begreife er nicht, und nach einer Weile gab sie auf.

Gharkid sprang wie ein Geißbock hinten zwischen seinen Algenhaufen herum. Dann Henders und Onyos Felk hielten sich an den Händen und hüpften beim Kompaßhaus herum. Father Quillan, eine bleiche Knochengestalt ohne seine Soutane, schien in Trance zu sein, er stierte mit glasigem Blick und weit ausgebreiteten Armen und rhythmisch zuckenden Schultern gen Himmel. Leo Martello tanzte mit Sundira, und die beiden waren ein schönes Paar, schlank, kräftig und beweglich. Lawler spähte nach Kinverson umher und entdeckte ihn vorn am Bug. Dort stand er, ohne zu tanzen, stand da ganz ruhig und ließ den Regen über seinen nackten starken Leib strömen.

Das Unwetter war nach einer Viertelstunde wieder vorbei.

Lis rechnete hinterher aus, daß sie dabei einen zusätzlichen Wasservorrat für gerade einen Tag gewonnen hatten.


* * *

Lawler war unablässig beruflich beschäftigt: Unfälle an Bord, Blasen, Verstauchungen, leichte Formen von Dysenterie, einmal auch ein Schlüsselbeinbruch auf Bamber Cadrells Schiff. Lawler begann die Anspannung zu spüren, wenn er versuchte, die ganze Flottille zu betreuen. Die meisten Konsultationen erledigte er über Funk, über Dag Tharps unbegreiflichen Geräteverhau in der Funkkabine der Queen of Hydros gebeugt. Doch Knochenbrüche ließen sich nun einmal nicht so leicht durch die Luft richten. Er fuhr mit dem Gleiter zu Cadrells Sorve Goddess hinüber, um die Sache zu erledigen.

Die Fahrt im Wassergleiter war eine ungemütliche Sache. Das Ding war ein durch Menschenkraft bewegtes leichtgewichtiges Konstrukt aus Hydrofolie und war so spillerig wie die Riesenkrebse, die Lawler hin und wieder zimperlich über den Grund der Sorve-Bucht hatte staksen sehen: eine blasse Schale aus laminierten Bändern des allerleichtesten Holzes, mit Tretpedalen versehen, mit Schwimmpontons, Auslegern unter Wasser für den Auftrieb und einem High-Efficiency-Antrieb. Auf der Außenhaut wuchs eine Schicht lebender Schleim-Mikroorganismen, um die Reibungsverluste zu minimieren.

Dann Henders begleitete Lawler diesmal. Der Gleiter wurde an Davits ins Wasser gelassen, und sie mußten an Tauen zu ihm hinabklettern. Lawlers Füße befanden sich wenige Zentimeter über dem Meer, als er sich in den vorderen der zwei Sitze des Gleiters setzte. In der sanften Dünung tanzte das zerbrechliche Fahrzeug leicht auf und ab. Lawler hatte das Gefühl, daß nur eine dünne Haut ihn gegen den gähnenden Abgrund abschirmte. Er malte sich aus, daß aus der Tiefe Greifarme zu ihm heraufwuchsen, daß ihn aus den Wellen höhnische tellergroße Augen anstarrten, daß silberblitzende Mäuler sich auftäten, um zuzubeißen.

Henders setzte sich hinter ihn. »Fertig, Doc? Dann los!«

Mit aller Kraft die Pedale tretend, waren beide gerade stark genug, den Gleiter auf Abhubgeschwindigkeit zu bringen. Die ersten Augenblicke waren die schwersten. Sobald sie etwas Tempo hatten, hob sich die Oberschicht der Hydrofolien über das Wasser, was die Reibung verringerte, und auf dem schmaleren, kleineren darunterliegenden Gleiterpaar kamen sie dann rasch voran.

Allerdings durften sie das Trettempo nicht verringern. Wie alle Schnellschiffe mußte auch der Gleiter ununterbrochen durch seine eigene Bugwelle steigen; wenn sie das Tempo auch nur einen Augenblick lang verminderten, würde der Sog sie nach unten ziehen. Aber auf der kurzen Fahrt glitschten keine Tentakeln auf sie zu, und keine zähnestarrenden Kiefer knabberten an ihren Zehen. Hilfreiche Taue erwarteten sie und hievten sie an Deck der Sorve Goddess.

Die Clavicularfraktur war Nimber Tanamind, ein hervorragender Hypochonder, dessen Beschwerden diesmal ausnahmsweise und unzweideutig echt waren. Ein herabkommender Baum hatte ihm das linke Schlüsselbein angebrochen, und die ganze obere Partie seines stämmigen Torsos war blau und geschwollen. Und ausnahmsweise jammerte Nimber diesmal auch überhaupt nicht. Vielleicht war es der Schock, vielleicht Angst, vielleicht betäubte ihn der Schmerz; er hockte jedenfalls still an einem Haufen von Netzen, sah wie betäubt aus, die Augen verdreht, die Arme zuckten, die Finger bewegten sich seltsam unkontrolliert. Brondo Katzin und sein Weib, Eliyana, standen bei ihm, und Nimbers eigenes Weib, Salai, stapfte in der Nähe unruhig auf und ab.

»Nimber«, sagte Lawler mit einigem Mitgefühl. Sie waren fast gleichaltrig. »Du verdammter Idiot. Nimber, was hast du denn diesmal mit dir angestellt?«

Tanamind hob ein wenig den Kopf. Er wirkte ängstlich. Er sprach nicht, befeuchtete sich nur mit der Zunge die Lippen. Schweiß schimmerte auf seiner Stirn, obwohl der Tag kühl war.

»Wann ist das passiert?« fragte Lawler Bamber Cadrell.

»Vor etwa ’ner halben Stunde«, antwortete der Kapitän.

»Und er war die ganze Zeit bei Bewußtsein?«

»Ja.«

»Habt ihr ihm irgendwas gegeben? Ein Beruhigungsmittel?«

»Nur ein bißchen Schnaps«, sagte Cadrell.

»Gut. Also fangen wir an. Legt ihn flach auf den Rücken… — ja, genau so, ganz flach ausstrecken. Gibt’s hier ein Kissen oder so was, das wir ihm unterlegen können? Hier, genau zwischen die Schulterblätter.« Er holte ein Tütchen mit Schmerzpulver aus seiner Bereitschaftstasche. »Wasser, damit ich das auflösen kann! Und ich brauche auch ein paar Tuchkompressen. Eliyana? Etwa so lang, und mach sie in Wasser heiß…«

Nimber stöhnte nur einmal, als Lawler ihm die Schultern dehnte, damit das Schlüsselbein sich biegen und der Knochen wieder in die richtige Stellung kommen konnte. Dann schloß er die Augen und schien sich in eine Meditation zu versenken, während Lawler die Schwellung zu reduzieren und gleichzeitig Nimbers Arm zu immobilisieren versuchte, damit er die Fraktur nicht wieder öffnete.

»Gebt ihm noch einen Schluck Schnaps«, befahl er, als er fertig war. Und zu Nimbers Frau: »Salai, von jetzt an wirst du der Arzt sein müssen. Sollte er Fieber bekommen, gibst du ihm eins davon morgens und abends. Sollte sein Gesicht auf dieser Seite anschwellen, ruft mich. Sollte er über eine Taubheit in den Fingern klagen, ruft mich gleichfalls. Alle anderen Beschwerden, über die er möglicherweise klagt, sind wahrscheinlich nicht übermäßig wichtig.« Lawler schaute Cadrell an. »Und jetzt, Bamber, hätte ich auch gern einen Schluck von eurem Schnaps.«

»Läuft bei euch Leuten alles glatt?« fragte Cadrell.

»Abgesehen vom Tod von Gospo, ja. Und hier?«

»Ach, hier läuft alles prima.«

»Gut, so was zu hören.«

Als Gespräch war dies nicht gerade viel. Aber die Wiederbegegnung hatte sowieso etwas seltsam Steifes an sich gehabt, von dem Moment an, da er an Bord gekommen war. Wie geht’s dir, Doc, schön dich zu sehen, willkommen an Bord, ja — aber keine Spur eines echten Kontakts, der Austausch tieferer Gefühle war weder angeboten noch erbeten worden. Sogar Nicko Thalheim, der etwas verspätet an Deck kam, hatte nur gelächelt und grüßend genickt. Als wäre man unter Fremden. In diesen wenigen Wochen waren diese Menschen und er einander fremd geworden. Lawler erkannte, wie gründlich verkapselt und abgekapselt er durch dieses isolierte Leben auf dem Flaggschiff geworden war. Und die Menschen hier in ihrem Mikrokosmos der Sorve Goddess. Er fragte sich, was aus der Inselgemeinschaft geworden sein würde, wenn sie sich schließlich in der neuen Heimat neu formieren sollte.

Die Rückfahrt zum Flaggschiff verlief ereignislos. Er begab sich sofort in seine Kabine.

Sieben Tröpfchen Taubkraut. Ach, nimm zehn.


* * *

Er wurde oft von Gedanken an die verlorene ERDE überfallen, wenn er nachts an der Reling stand, den dunklen, geheimnisschweren Geräuschen der See lauschte und in die undurchdringliche dunkle Leere starrte, die über den Reisenden lastete. Die neurotische Beschäftigung mit ihrer Mutterwelt schien zu wachsen, je länger die sechs Schiffe Tag um Tag, Nacht um Nacht über den Wasserplaneten fuhren. Zum aber- tausendstenmal versuchte Lawler sich auszumalen, wie es dort gewesen sein mochte, als der Planet noch lebte. Diese großen Inseln, die man ›Länder‹ nannte und die von Königen und Königinnen beherrscht wurden, die über alle Begriffe reich und mächtig waren. Die grausamen Kriege. Sensationelle Waffen, die ganze Welten zerstören konnten. Und dann dieser große Auszug, die Wanderung in den Weltraum, als die Menschheit die Myriade Sternschiffe losgeschickt hatte, in denen die Vorfahren jedes einzelnen heute irgendwo in der Galaxis lebenden Menschen reisten. Die Urahnen eines jeden. Alle hatten sie einen einzigen gemeinsamen Ursprung: diesen kleinen Planeten, der nun tot war.

Sundira, die gleichfalls gern nachts auf dem Deck umherwanderte, tauchte an seiner Seite auf.

»Grübelst du wieder über die Bestimmung des Kosmos nach, Doktor?«

»Wie gewöhnlich. Ja.«

»Und was ist heut nacht das Leitthema?«

»Ironie. All diese vielen Jahre, in denen die Menschheit auf der ERDE sich sorgte, sie könnte sich in einem von ihren krankhaften, ekligen kleinen Kriegen selbst auslöschen. Aber es ist ihr nie gelungen. Und dann ging ihr eigener Sonnenstem hin und erledigte die Sache binnen Stunden für sie, und sie gleich mit.«

»Dem Himmel sei Dank, wir waren da schon fort, um hier zwischen den Sternen zu siedeln.«

»Ja«, brummte Lawler und blickte unfreundlich auf die von Ungeheuern wimmelnde See. »Und war es nicht ein Segen für uns…«


* * *

Sie kehrte später noch einmal zurück. Er hatte sich nicht von der Reling fortbewegt.

»Stehst du immer noch da, Valben?«

»Ich bin’s immer noch, ja.« Sie hatte ihn nie vorher mit seinem Rufnamen angesprochen. Er empfand es als seltsam, daß sie es jetzt tat; es war sogar irgendwie unpassend. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihn jemand zuletzt mit ›Valben‹ angeredet hatte.

»Könntest du noch einmal meine Gesellschaft ertragen?«

»Aber ja«, sagte er. »Kannst du nicht einschlafen?«

»Hab es gar nicht versucht. Drunten läuft eine Gebets-Session, wußtest du das?«

»Und wer sind die heiligmäßigen Seelen, die daran teilnehmen?«

»Der Priester natürlich. Und Lis, Neyana, Dann. Und Gharkid.«

»Gharkid? Kommt er endlich aus seinem Schneckenhaus heraus?«

»Also, er sitzt eigentlich nur so dabei. Father Quillan redet natürlich die ganze Zeit. Er sagt ihnen, wie schwer zu finden Gott ist, und wie mühsam es für uns ist, unseren Glauben an ein Höchstes Wesen zu bewahren, das nie zu uns spricht, uns nie ein sichtbares Zeichen gibt, daß es überhaupt existiert. Was es für jeden für eine Mühe bedeutet zu glauben, und daß das nicht richtig ist, denn es sollte überhaupt nicht mühsam sein, sondern wir müßten nur ganz einfach blindlings losspringen und die Existenz Gottes akzeptieren, aber das fällt eben den meisten von uns zu schwer. Undsoweiter und so fort. Und die anderen schlucken das alles gierig. Gharkid lauscht ergeben, und ab und zu nickt er. Das ist ein seltsamer Typ, dieser Gharkid. Hast du nicht Lust, runterzukommen und dir anzuhören, was der Priester sagt?«

»Nein! Ich hab bereits mehrfach das Privileg gehabt, ihm über dieses Thema lauschen zu dürfen. Danke!«

Dann standen sie stumm eine Weile da.

Und dann fragte Sundira zusammenhanglos auf einmal: »Valben… was ist das für ein Name, Valben?«

»Ein irdischer Name.«

»Nein, das kann nicht sein. John, Richard, Elizabeth, das sind Namen von der alten ERDE. Aber Valben, das hab ich noch nie gehört.«

»Na, dann ist es halt vielleicht doch kein Name von der ERDE. Mein Vater sagte, daß er daher kommt. Aber er kann sich natürlich geirrt haben…«

»Valben«, wiederholte sie, als schmecke sie den Klang ab. »Vielleicht ein Familienname, ein besonderer. Für mich ist er neu. Möchtest du gern, daß ich dich lieber Valben nenne?«

»Lieber? Nein, aber nenn mich ruhig Valben, wenn du magst. Aber eigentlich tut das kaum jemand.«

»Und wie nennen die dich, die du magst? Doc, nicht wahr?«

»Doc ist ganz in Ordnung. Manche nennen mich Lawler. Ein paar wenige — Val. Aber nur ganz wenige.«

»Val. Das klingt für mich besser als Doc. Darf ich dich dann Val nennen?«

Nur seine ältesten Freunde sagten Val zu ihm, Männer wie Nicko Thalheim, Nimber Tanamind, Nestor Yanez. Aber von den Lippen dieser Frau klang das ganz und gar nicht richtig. Aber was sollte das schon für eine Rolle spielen? Er konnte sich ja dran gewöhnen. Und ›Val‹ war schließlich immer noch besser als ›Valben‹.

»Wie du es lieber möchtest«, sagte er.


* * *

Drei Tage später kam eine weitere Tidenwoge auf sie zu. Von Westen. Sie war mächtiger als die erste, doch die Magnetrons wurden ohne Schwierigkeiten damit fertig. Hinauf und hinüber und runter auf der Rückseite, und dann ein kleiner Stoß, und das war es dann auch schon.

Das Wetter blieb kühl und trocken. Und sie zogen weiter.


* * *

Mitten in der Nacht gab es einen lauten dumpfen Schlag gegen den Schiffsrumpf, als wenn man gegen ein Riff gelaufen wäre. Lawler fuhr in seiner Koje hoch, gähnte, rieb sich die Daumen in die Augenkuhlen und fragte sich, ob er geträumt habe. Alles blieb für den Augenblick still. Dann folgte ein weiterer, härterer Stoß. Also kein Traum. Gewiß, er schlief noch halb, aber gleichzeitig war er auch halb wach. Er zählte im Kopf eine Minute ab, anderthalb Minuten. Ein erneuter Stoß. Er hörte die Bohlen und Wanten des Rumpfes stöhnen und sich ächzend verschieben.

Er wickelte sich irgendwas um den Unterleib und trat hinaus in Richtung Niedergang. Er war jetzt hellwach. Lichter waren angesteckt worden, aus der Backbordkabine kamen mit verquollenen Gesichtern Leute, manche splitternackt, so wie sie geschlafen hatten. Lawler stieg an Deck. Henders, Golghoz, Delagard, Nikiaus und Thane, das Team der nächtlichen Schiffswache, rannten aufgeregt umher, eilten von einer Seite des Schiffs zur anderen, als verfolgten sie die Bewegungen eines Feindes, der sie von unten her angriff.

»Da kommen sie wieder!« schrie einer.

Und rumms! Hier oben an Deck wirkte der Anprall heftiger — das Schiff schien zu erbeben und seitlich wegzuhüpfen und das Geräusch des Aufschlags an der Wandung war lauter, ein deutliches scharfes Krachen.

Er stieß bei der Reling auf Dag Tharp.

»Was ist denn los?«

»Schau da raus, dann siehst du’s.«

Die See war still. Droben standen an entgegengesetzten Enden des Himmels zwei Monde, und das Kreuz hatte den allnächtlichen Abstieg in die Morgendämmerung begonnen und hing schon tief im Westen. Die drei Reihen der Flottillenformation hatte sich aufgelöst, und die sechs Schiffe bildeten jetzt einen weiten, lose geformten Kreis. Im freien Wasser in der Mitte der Gruppe waren etwa zehn, zwölf längliche, leuchtendblaue Phosphoreszenzstreifen sichtbar, die knapp unter der Meeresoberfläche wie Lichtpfeile dahinschossen. Noch während Lawler bestürzt zusah, reckte sich einer der Lichtstreifen mit enormer Schnelligkeit und schoß schnurgerade auf das Schiff links von ihnen zu, auf Kollisionskurs, eine glühende Nadel in der Dunkelheit. Von irgendwoher kam ein unheilverkündendes schrilles Pfeifen, das zunehmend lauter wurde, je näher der Lichtstrahl dem Schiff kam.

Dann der Aufschlag. Lawler hörte das Krachen und sah, wie das Schiff ein wenig über den Kiel wegrollte. Schwach waren über das Wasser Schreie zu hören.

»Rammerhörner«. sagte Tharp. »Sie wollen uns zum Absaufen bringen.«

Lawler klammerte sich an die Reling und schaute hinab. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte die Angreifer im Schein ihrer eigenen Lumineszenz deutlich sehen.

Sie sahen aus wie lebendige Raketen, zehn, fünfzehn Meter lange schmale Leiber, die von kräftigen doppelten waagerecht angeordneten Schwanzflossen vorwärts getrieben wurden. Aus dem stumpfen Kopf ragte ein einzelnes massives gelbes Hörn, das schätzungsweise fünf Meter lang war und so kräftig wie ein Kelpstamm und das in einer stumpfen, aber gefährlich aussehenden Spitze endete. Die Torpedos schwammen wütend in dem freien Bereich zwischen den Schiffen herum, gewannen durch wütendes Schlagen der Schwanzflossen eine unglaubliche Geschwindigkeit und rammten ihr Kopfhom gegen die Schiffe, in der offenkundigen Hoffnung, die Wandung aufzubrechen. Dann machten sie in einer Art von wahnwitziger Hartnäckigkeit kehrt, schwammen ein Stück weit weg und griffen um so wütender erneut an. Je schneller sie schwammen, desto stärker wurde das Leuchten, das von ihren Flanken ausstrahlte, und desto lauter wurden die Pfeiflaute, die sie ausstießen.

Kinverson tauchte von irgendwo auf und schleppte ein Ding heran, das aussah wie ein schweres Faß, in Reifen aus Algenfasern gebunden. »Hilf mir mal dabei, Doc, bitte!«

»Wohin willst du denn damit?«

»Zur Brücke. Es ist ein Sonar.«

Die Tonne — oder was immer es war — war für Kinverson allein beinahe zu schwer. Lawler faßte an einem verknoteten Strick mit an, der auf seiner Seite von dem Ding hing. Zusammen gelang es ihnen, den Kessel übers Deck zur Brücke zu schleppen. Dort stieß Delagard zu ihnen, und zu dritt hievten sie ihn nach oben.

»Verdammte Rammerhörner«, knurrte Kinverson. »Hab ich’s doch gewußt, daß die früher oder später aufkreuzen würden.«

Von drunten dröhnte ein neuer Aufprall, und Lawler sah, wie das zuckende blaue Licht vom Schiffsrumpf abprallte und in die andere Richtung davonschoß.

Von allen seltsamen Geschöpfen, die das Meer bisher gegen sie ausgesandt hatte, erschienen Lawler diese hier, die sich blindlings gegen sie rammten, am schrecklichsten. Andere konnte man zertreten, andere ins Wasser zurückstoßen, sorgsam auf verdächtig aussehende ›Netze‹ achten. Doch was sollte man gegen diese Spieße tun, die von unten nachts heranfuhren, diese gewaltigen Tiere, die es darauf anlegten, dein Schiff zu versenken, und die dazu auch durchaus in der Lage waren?

»Sind die wirklich stark genug, den Rumpf zu durchdringen?« fragte er Delagard.

»Es soll passiert sein. Ach, Himmel… Himmel!«

Kinversons gewaltige Gestalt ragte dunkel vor dem Mondlicht über dem großen Kessel auf. Er hatte ihn inzwischen vorn auf der Brücke in Stellung gebracht. Dann hatte er einen langen stoffumwickelten Stock von der Kesselwand losgebunden, und den packte er nun mit beiden Fäusten und ließ ihn auf den trommelähnlichen Boden der Tonne niedersausen. Ein lautes Dröhnen donnerte auf das Wasser hinab.

Und Kinverson schlug wieder und wieder und wieder zu.

»Was macht er denn da?« schrie Lawler.

»Er sendet ein Gegensonar. Rammerhörner sind blind. Sie orientieren sich ganz und gar durch Schallwellen, deren Echos sie von ihrem Ziel auffangen. Und Gabe bringt jetzt ihren Richtungssinn durcheinander.«

Kinverson schlug mit sagenhafter Wut und Energie auf seine Trommel. Die Luft bebte von dem Gedröhn. Aber konnte das das Wasser durchdringen? Anscheinend ja. Drunten schossen die Rammerhörner zwischen den Schiffen noch schneller herum, so daß die grellblauen Lichtspuren ihrer Bewegungen kompliz ierte Schlingenmuster bildeten. Doch diese Muster wurden wirr. Eine chaotische Verwirrung schien in den Bewegungen der Tiere einzutreten, während Kinverson weiter auf die Pauke einhieb. Sie schossen in wilden Zuckungen durchs Wasser, brachen ab und zu an die Oberfläche, flogen durch die Luft und platschten mit gewaltigem Spritzen wieder zurück. Einer prallte gegen das Schiff, doch es war nur ein leichter streifender Schlag. Ihr kreischendes Pfeifen wurde arhythmisch und diskordant. Kinverson hielt einen Moment lang inne, als werde er müde, und es sah schon beinahe so aus, als würden sich die Rammer neu formieren können. Doch dann nahm er sein Schlagen mit noch größerer Wut als vorher wieder auf, und er trommelte und trommelte mit dem Knüppel unablässig drauf los. Plötzlich gab es drunten ein gewaltiges Rauschen, und zwei riesige Angreifer sprangen gleichzeitig aus den Fluten. Im Lichtschein der übrigen Rammer sah Lawler, daß das Horn des einen in die Kiemen des anderen eingedrungen war, ja effektiv tief in den Schädel gebohrt war. Und dann fielen die riesigen Tiere, noch immer so gräßlich aneinander hängend, ins Wasser zurück und begannen zu sinken. Ihr Abstieg in die Tiefen ließ sich durch die Leuchtspur eine kurze Weile verfolgen, die sie hinter sich zurückließen. Dann waren sie nicht mehr zu sehen.

Kinverson versetzte der Trommel drei letzte gedehnte Schläge — Wumm — Wumm — Wuuumm — und ließ den Arm sinken.

»Dag? Dag, wo zum Teufel, steckst du?« fragte Delagards Stimme aus der Dunkelheit. »Ruf die Flotte der Reihe nach an. Frag nach, ob es — Gottsollschützen — irgendwo ein Leck gibt.«

Inzwischen war alles auf dem Wasser wieder dunkel und ruhig. Aber als Lawler dann die Augen schloß, kam es ihm vor, als zuckten unter seinen Lidern blaue Blitze auf und ab.


* * *

Die nächste Flutwelle war die bisher stärkste. Und sie brach zwei Tage früher über sie herein, als sie erwartet hatten; wahrscheinlich weil Onyos Felk sich in seinen Berechnungen geirrt hatte. Und die Flutwelle traf auf sie mit grandiosem Eifer und geradezu jauchzender Bösartigkeit, während sie in einer Flaute in trägem Gewässer tümpelten und von dem grauen Tang ein seltsam verführerisches Duftgemisch in die Luft aufstieg. Die WOGE erwischte sie breitseits. Lawler war unter Deck und arbeitete an der Inventarliste seiner medizinischen Vorräte. Zunächst glaubte er, die Rammer seien zurückgekehrt, so heftig war der Aufprall. Doch nein, nein, das war etwas ganz anderes als der punktuelle Stoß eines Rammerhorns; es war mehr wie eine Riesenhand, die flach gegen das Schiff prallte und es rückwärts auf seinem Kurs zurückfegte. Lawler hörte, wie das Magnetron anlief, und wartete auf die Empfindung des Abhebens, auf die plötzliche Stille, die bedeutete, daß sie auf dem Verdrängungsfeld über der grimmigen WOGE schwebten. Doch es kam keine Stille, und Lawler mußte sich blitzschnell verzweifelt an seine Kojenkante klammern, als das Schiff sich bestürzend steil aufrichtete. Er wurde gegen den Spant geschleudert, und alles stürzte von seinen Borden, rutschte in einem wirren Haufen ganz plötzlich über den Boden und türmte sich in einem heillosen Durcheinander an der anderen Kabinenwand auf.

War es das nun? Die WOGE? Endlich? Und würden sie das durchstehen können?

Er klammerte sich fest und wartete. Das Schiff sackte zurück, knallte mit einem kolossal lauten Krachen in das Wellental, das die Flutwoge hinter sich zurückgelassen hatte, und dann taumelte es zur anderen Seite, und alles, was von den Borden gefallen war, rutschte wieder in die andere Ecke der Kabine. Dann richtete sich das Schiff wieder auf Kiel. Alles war still. Lawler hob den Gott aus Ägypten und das griechische Tonfragment auf und legte sie wieder an ihren Platz.

Kam noch mehr? Ein zweiter Schwall?

Nein. Alles still, alles stabil.

Sinken wir etwa?

Ja, offenbar jetzt. Vorsichtig hangelte Lawler sich aus seiner Kabine und lauschte. Delagard brüllte droben irgend etwas. Alles in Ordnung, sagte er. Ein schwerer deftiger Stoß, aber alles in Ordnung.

Die Wucht der mächtigen Flutwelle hatte sie in ihrem Sog mitgerissen, sie vom Kurs abgebracht und sie eine halbe Tagesreise nach Osten abgetrieben. Aber wie durch ein Wunder waren alle sechs Schiffe wie eine geschlossene Einheit davongetrieben. Und da schwammen sie nun, zwar nicht mehr in Formation, aber dennoch in Sichtweite zueinander, träge auf dem wieder glatten Meer. Es dauerte eine ganze Stunde, bis die ursprüngliche Keilformation wieder hergestellt war, und sechs weitere Stunden, bis sie die vorherige Position wieder erreichten. Gar keine schlechte Leistung, wirklich. Sie fuhren weiter.

5

Die Clavicula von Nimber Tanamind schien anständig zu verheilen. Lawler mußte nicht noch einmal zur Sorve Goddess hinüberpaddeln, um den Bruch zu überprüfen, da nichts von dem, was Salai, Nimbers Eheweib, ihm über seinen Zustand berichtete, auf Komplikationen hinwies. Er erklärte ihr also nur, wie sie die Verbände wechseln müsse und worauf sie im Umfeld der Fraktur achten solle.

Martin Yanez von der Three Moons rief rüber und sagte, der alte Sweyner, der Glasbläser, sei im Gesicht von einem schnellfliegenden Hexenfisch verletzt worden, und nun sei sein Genick so versteift, daß er den Kopf nicht mehr geradehalten könne. Lawler erklärte Yanez, was er dagegen tun solle. Von der Hydra Cross, dem Schiff der Schwesternschaft, kam eine ungewöhnliche Anfrage: Schwester Boda klagte über stechende Schmerzen in der linken Brust. Es würde wenig Zweck gehabt haben, hinüberzufahren und sie zu untersuchen. Er wußte, daß die Schwestern so etwas nicht erlauben würden. Er schlug als Medikation Schmerzmittel vor und ersuchte, sie möchten ihn nach der nächsten Menstruation der Schwester wieder anrufen. Das war das letzte, was er von der schmerzenden Brust der Schwester Boda hörte.

Auf der Black Sea Star stürzte eine Frau aus der Takelung und renkte sich dabei den Arm aus. Lawler führte Poilin Stayvol über Funk Schritt für Schritt durch den Prozeß der Einrenkung. Jemand auf der Golden Sun erbrach schwarze Galle. Es stellte sich heraus, daß der Mann herumexperimentiert und ›Kaviar‹ gegessen hatte, den Rogen von Pfeilkopffischen. Lawler riet zu einer behutsameren Diät. Auf der Sorve Goddess klagte jemand über immer wiederkehrende Alpträume. Lawler riet zu einem Tröpfchen Schnaps vor dem Zubettgehen. Ansonsten war es für ihn die übliche Routine.

Father Quillan (vielleicht war er neidisch?) bemerkte, es müsse doch wundervoll befriedigend für Lawler sein, dermaßen gebraucht zu werden, von so wesentlicher Bedeutung für das Leben einer ganzen Gemeinschaft zu sein, fähig zu sein, die Leidenden zu heile n, jedenfalls doch meistens, wenn sie sich mit ihren Schmerzen an ihn wandten.

»Befriedigend? Ja, vielleicht. Aber darüber hab ich nie viel nachgedacht. Es ist einfach meine Arbeit.« Und genau dies war es. Dennoch verstand Lawler, daß etwas Wahres in den Worten des Priesters steckte. Der Einfluß, den er auf Sorve ausgeübt hatte, war nahezu göttergleich gewesen, nun ja, also wenigstens dem eines Priesters gleich. Aber was bedeutete es letzen Endes, über fünfundzwanzig Jahre hin der Inseldoktor gewesen zu sein? Daß er früher oder später das Genitalgehänge jedes menschlichen männlichen Sorveaners in der Hand gehabt hatte? Die Hand in der Scheide jeder Frau? Daß nahezu alle unter fünfundzwanzig von ihm ans Tageslicht gezogen worden waren, blutend und strampelnd, und daß er ihnen der ersten Klaps versetzt hatte? Das alles hatte ganz selbstverständlich zu einer ganz natürlichen Bindung geführt: Es verlieh dem Arzt ein gewisses Anspruchsrecht auf die Menschen — und umgekehrt. Kein Wunder, dachte Lawler, daß die Leute überall den Ärzten eine derartige Verehrung erweisen. Für sie ist der Arzt der Heilende, der Heiland, der Wissenskundige, der Wunderwirker. Der sie beschützt, der ihnen Erleichterung verschafft und die Schmerzen dämpft. Und so ist das schon seit den Tagen der Höhlenmenschen, dachte Lawler, damals dort auf der armen beschissenen, dem Untergang geweihten ERDE. Er selbst war nur ein später Spätling in einer langen, sehr langen Reihe. Und — anders als der unselige Father Quillan und andere seinesgleichen, deren undankbare Aufgabe es war, die unsichtbaren Segnungen eines unsichtbaren Gottes zu verbreiten -war er tatsächlich in einer Position, in der er sichtbare und greifbare Wohltaten spenden konnte. Manchmal. Und darum, ja doch, er war dank seiner Berufung in nerhalb der Gemeinschaft eine mächtige und einflußreiche Gestalt, der Mann, in dessen Händen Leben oder Tod liegen konnten, hochgeachtet, unvermeidlich und — vermutete er — wohl auch ein wenig gefürchtet. Und ja, das war wohl irgendwie befriedigend. Schön, also, er genoß es. Aber er sah nicht, was das für einen großen Unterschied machte.


* * *

Sie waren jetzt im Grünen Meer, und hier machte es der dichte Bestand der Kolonien einer bezaubernden Wasserpflanze fast unmöglich, daß die Schiffe vorankamen. Das Gewächs sah aus wie eine Sukkulente mit dicklichen, glatten löffelförmigen Blättern an einem braunem Zentralstamm und einem zentralen Sporophorenstengel, auf dem grelle gelbpurpurne Geschlechtskörper saßen. Luftgefüllte Blasen sorgten für die Schwimmfähigkeit der Pflanzen. Unterhalb der Wasserfläche wanden sich graue Federwurzeln wie Greifarme ineinander und waren zu dunklen Matten verflochten. Dort waren die Pflanzen dermaßen dicht verknüpft, daß sie praktisch einen Teppich über die ganze Meeresfläche bildeten. Und die Schiffe stießen mit dem Bug in dieses Gewirr, verloren Fahrt und kamen schließlich zum Stillstand.

Kinverson und Neyana Golghoz waren mit dem Wassergleiter draußen und versuchten mit Macheten den Algenfilz zu zerteilen.

»Hat keinen Zweck«, sagte Gharkid zu niemandem speziell. »Ich kenne die Pflanzen da, wenn du eine aufschneidest, verwandelt sie sich in fünf neue.«

Gharkid hatte recht. Kinverson hackte aus Leibeskräften los, während Neyana den Gleiter mit tierischer Wut voranbewegte, doch es zeigte sich keine Öffnung. Es war für einen einzelnen Mann, und mochte er noch so stark sein, einfach unmöglich, eine ausreichend breite Schneise in diese Pflanzenmasse zu schneiden, die eine Fahrrinne für die Schiffe ergeben hätte. Die abgehackten Pflanzenteile begannen sofort ein Eigenleben, man konnte beinahe sehen, wie sie nachwuchsen, die Schnittstelle verschlossen, neue Wurzeln trieben, frische schimmernde Löffelblätter und neue Sporenkolben emporreckten.

»Ich will mal in meiner Apotheke nachsehen«, sagte Lawler. »Vielleicht hab ich was, das wir über sie streuen können, das sie nicht mögen.«

Er stieg in den Frachtraum. Er dachte an diese große Flasche mit dem schwarzen viskosen Öl, die ihm vor langer Zeit von seinem Arztkollegen Nikitin von der Insel Salimil als Dank für eine Gefälligkeit gesandt worden war. Angeblich vermochte Dr. Nikitins Öl Feuerblumen abzutöten, eine unangenehm brennende Pflanze, die zuweilen für menschliche Schwimmer problematisch wurde, den Gillies aber überhaupt nichts ausmachte. Lawler hatte nie Anlaß gehabt, das Öl zu verwenden, denn die letzte Feuerblumen-Epidemie in der Bucht von Sorve hatte sich ereignet, als er noch ein junger Mann war. Aber dieses Öl war der einzige Stoff in seiner Sammlung von Drogen, Medizinen, Salben und Tränkle in, das dazu bestimmt war, pflanzliches Leben zu schädigen. Vielleicht erwies es sich als wirksam gegen die Pflanzen, mit denen sie es nun zu tun hatten. Er sah nicht, daß es etwas schaden könnte, den Versuch zu wagen.

Die Gebrauchsanweisung war in winziger, aber säuberlicher Schrift von Dr. Nikitin selbst verfaßt worden und besagte, daß eine Konzentration von einem Teil Öl auf tausend Teile Wasser ausreichen würden, eine Hektarfläche in der Bucht von den Feuerblumen zu befreien. Lawler machte die Mixtur l: 100, und dann ließ er sich höchstpersönlich an den Davits über die See hinaustragen und verspritzte sein Gift vor dem Bug der Queen of Hydros.

Aber das See-Unkraut schien vollkommen unbeeinträchtigt zu bleiben. Als aber dann das verdünnte Öl durch den verwachsenen Pflanzenteppich tiefer hinabsickerte und sich im Wasser verbreitete, setzte unter Wasser eine Bewegung ein, die sich rasch zu einem Brodeln steigerte. Aus den Tiefen kamen Fische zu Tausenden, zu Millionen, kleine alptraumhafte Wesen mit großen klaffenden Mäulern, schmalen schlangenhaften Leibern und breit ausladenden Schwanzenden. Sie mußten in riesiger Zahl dort unter den Pflanzen angesiedelt gewesen sein, und nun stieg die ganze Kolonie wie durch einen einmütigen Entschluß an die Oberfläche. Sie zwängten sich gewaltsam durch die verwucherten Knollen der Treibwurzeln und gaben sich oben einer wilden Paarungsorgie hin. So unwirksam Dr. Nikitas Herbizid-Öl bei den Pflanzenwucherungen war, auf die unter ihnen lebenden Seetiere schien es eine aphrodisiakische Wirkung auszuüben. Das wilde Ge- schlechtsgetümmel einer dermaßen riesigen Zahl dieser kleinen schlängchenhaften Geschöpfen wirbelte die See zu einer derartig starken Turbulenz auf, daß die engverschlungenen Pflanzenteppiche aufgerissen wurden und sich die Schiffe durch die dabei entstehenden Fahrrinnen weiterbewegen konnten. Kurz nacheinander durchquerten alle sechs Schiffe die Zone der Verstopfung und gelangten wieder in die offene See.

»Was bist du doch für ein schlauer Hund, Doc«, sagte Delagard.

»Klar. Nur daß ich keine Ahnung hatte, daß so was passieren würde.«

»Du hast es nicht gewußt?«

»Keine Spur. Ich wollte nur versuchen, diese Wucherpflanzen zu vernichten. Ich hatte keine Ahnung, daß da unter ihnen diese Fische leben. Und jetzt hast du mal gesehen, wie zahlreiche grandiose wissenschaftliche Errungenschaften gemacht werden.«

Delagard runzelte die Stirn. »Und wie das?«

»Durch puren Zufall.«

»Ah, ja!« sagte Father Quillan. Und Lawler sah, daß der Priester gerade wieder einmal in der zynisch-zweifelnden Zyklusphase war. Mit spöttischem pseudo-salbungsvollem Ton rief Quillan: »Gottes Wege sind gewunden und voller Rätsel, wenn ER SEINE Wunder wirkt.«

»Ja, wahrlich«, erwiderte Lawler. »So ist es.«


* * *

Einige Tage später wurde das Wasser für eine Zeit lang flach und war kaum tiefer als die Bucht von Sorve und höchst klar. Gigantische Korallenkronen wuchsen von einem leuchtend-weißen sandigen Meeresboden herauf, der so nahe zu sein schien, daß man ihn fast glaubte berühren zu können. Manche Korallen waren grün, manche ockergelb, andere — die meisten — von einem dumpfen dunklen Blau, das schon beinahe schwarz war. Die grünen Korallen verzweigten sich zu phantastischen barocken Türmen, die blau-dunkle Variante hatte die Gestalt von Sonnenschirmen und lange ausladende Arme, die ockerfarbenen waren wie große flache Gehörne, weit ausladend und sich immer weiter verzweigend. Es gab auch noch eine große scharlachrote Koralle, die als einzelne Kugelmasse wuchs, die sich lebhaft von dem weißen Sand abhob und die gefurchte Form eines menschlichen Gehirns aufwies.

An einigen Stellen hatten die Korallen sich so üppig vermehrt, daß sie fast bis an die Meeresoberfläche reichten. Um sie herum leckten kleine weiße Katzenkopfwellen. Die Formationen, die länger der Luft ausgesetzt gewesen waren, waren abgestorben und in dem harten Sonnenlicht weißgebleicht, und direkt unter ihnen zeigte sich eine Schicht von sterbenden Korallen, die eine stumpf-braune Färbung annahmen.

»Der Beginn der Entstehung des festen Landes auf Hydros«, bemerkte Father Quillan. »Der Meeresspiegel braucht sich nur ein wenig zu senken, dann ragen alle diese Korallen übers Wasser. Und dann werden sie sich zersetzen und Boden bilden, und samentragende, in der Luft lebende Pflanzen werden sich entwickeln und verbreiten, und auf geht es. Zuerst natürliche Inseln, dann hebt sich der Meeresboden noch ein wenig höher, und wir bekommen Kontinente.«

»Und wie lange, glaubst du, dauert es, bis das passiert?« fragte Delagard.

Quillan zuckte die Achseln. »Dreißig Millionen Jahre. Vielleicht vierzig. Vielleicht noch länger.«

»Dem Himmel sei Dank!« blökte Delagard. »Dann brauchen wir uns ja vorläufig deswegen keine Sorgen zu machen.«

Sorgen machte ihnen allerdings dieses Korallenmeer. Die ockerfarbene Spezies, mit den hornförmigen Spitzen, sah rasiermesserscharf aus, und stellenweise lagen ihre Spitzen nur wenige Meter unter dem Kiel. Es konnte gut andere Meeresbereiche geben, wo noch weniger freies Wasser war. Und wenn dann ein Schiff über diese Messer fuhr, konnte es vom Bug bis zum Heck aufgeschlitzt werden.

Also mußten sie sehr behutsam voranziehen und immer neue sichere Fahrrinnen zwischen den Korallen suchen. Zum erstenmal seit dem Auszug aus Sorve konnten sie nachts nicht durchsegeln. Tagsüber, wenn die Sonne wie ein Leuchtfeuer funkelnde Muster auf den schimmernden weißen Sandboden zeichnete, steuerten die Fahrenden einen behutsamen Zickzackkurs zwischen den Korallenauswüchsen. Und sie starrten staunend zu den unvorstellbar zahlreichen Schwärmen goldschuppiger Fische hinunter, die um die Korallenwälder wimmelten; stumme unendliche Scharen, die durch jede Gasse und jeden Spalt zwischen den Korallen drängten und sich am üppigen Mikroleben des Riffs gütlich taten. Abends ankerten die sechs Schiffe dicht beisammen in einer sicheren Nische und warteten da bis zum nächsten Morgen. Alle kamen an Deck und beugten sich über Bord und grüßten Freunde auf den anderen Schiffen, ja manche unterhielten sich laut schreiend. Es waren die ersten echten Kontakte für viele seit ihrem Aufbruch.

Das nächtliche Schauspiel war womöglich noch bestürzender als das am Tage: Im kühlen Licht des Kreuzes und der drei Monde, wobei Sunrise ein gerüttelt Maß an Brillanz beitrug, erwachten die Korallengeschöpfe zum Leben und tauchten zu Millionen und Abermillionen aus winzigen Cavernen und Schlüpfen im Riff: Lange peitschenförmige Tiere, stellenweise scharlachrot oder zartrosa, schwefeliges Gelb bei dieser Art, ein opakes helles Aquamarin bei einer anderen Spezies… alles entrollte sich, strebte nach draußen, peitschte heftig das Wasser, um die noch winzigeren Lebewesen zu verschlingen, die dort schwebten. Durch die Alleen zwischen den Korallenbänken kamen bestürzende schlangenhafte Geschöpfe, ganz Augen, Zähne und blitzende Schuppen, und glitten geschäftig über den Meeresgrund, wo sie die eleganten Spuren ihrer Bäuchlingsbewegungen im Sand hinterließen. Sie strahlten eine pulsierende grünliche Lumineszenz aus. Und aus Myriaden finsterer Verstecke tauchten die offensichtlichen Könige des Riffs hervor: feistgeschwollene roten Tintenfischen ähnliche Geschöpfe mit plumpen sackartigen Leibern, die durch lange wirbelnde, sich windende Fangarme geschützt wurden ein pulsierendes, abschreckendes blau-weißes Licht ausstrahlten. In der Nacht wurde jede Korallenspitze zum Thron für einen dieser großen Oktopoden: Und da hockte das Tier, schimmerte gemütlich vor sich hin und überwachte sein Reich mit leuchtenden gelbgrünen Augen, die größer waren als eine Männerhand.

Diese riesigen Augen schie nen nur eines zu sagen:

Wir sind hier die Herren, und ihr seid ganz und gar unwichtig. Kommt, schwimmt herab zu uns, damit wir euch einem nützlicheren Zweck zuführen. Und dann öffneten sich scharfe gelbe Schnabelmäuler einladend. Kommt doch herunter zu uns. Kommt! Kommt!

Der Korallenbestand begann dünner zu werden, wurde immer sporadischer und hörte schließlich ganz auf. Der Meeresboden blieb flach und noch eine Weile länger sandig; dann, plötzlich, war der leuchtendweißen Sandboden zu Ende, und das türkisblaue Wasser, das so klar und heiter gewesen war, machte wieder dem undurchsichtigen dunklen Blau der tiefen See Platz, über die leichte kabbelige Wellen liefen.

In Lawler machte sich das Gefühl breit, als ob diese Reise nie ein Ende nehmen werde. Inzwischen war das Schiff nicht nur zu seiner ›Insel‹, sondern zu seiner ganzen Welt geworden. Und er würde einfach hier an Bord weiter und immer so weiter arbeiten. Und die anderen Schiffe fuhren neben dem seinen her wie benachbarte Planeten im Nichts.

Seltsamerweise empfand er dies als völlig richtig. Inzwischen hatte ihn der Rhythmus der Fahrt erfaßt. Er genoß das ständige Schaukeln des Schiffs, nahm die kleinen Entbehrungen auf sich und genoß sogar die gelegentlichen Heimsuchungen durch Ungeheuer. Er hatte sich eingerichtet, sich angepaßt. Aber — wurde er mürbe? Oder war er vielleicht zum Asketen geworden und brauchte eigentlich kaum etwas und kümmerte sich wenig um irdisches Wohlbehagen? So mochte es sein. Er nahm sich vor, Father Quillan bei nächster Gelegenheit dazu zu befragen.


* * *

Dann Henders hatte sich den Unterarm an einer Gaffel aufgerissen, als er Kinverson half, einen zappelnden mannslangen Fisch an Bord zu hieven, und da Lawlers Vorrat an Bandagen danach aufgebraucht war, stieg er in den Frachtraum, um Nachschub zu holen. Er fühlte sich nun immer ein wenig unbehaglich, wenn er dort hinabstieg, seit jener Begegnung mit Kinverson und Sundira; er vermutete, die zwei schlichen sich auch weiterhin dort hinunter, und er wünschte ihnen nicht noch einmal zu begegnen.

Doch Kinverson war gerade auf Deck und eifrig damit beschäftigt, seinen Fang auszunehmen. Lawler tastete im Dunkel mittschiffs eine Weile herum, und als er wieder nach oben steigen wollte, stieß er praktisch mit Sundira Thane zusammen, die in dem schmalen, schlecht beleuchteten Gang direkt auf ihn zukam.

Sie schien ebenso erstaunt wie er, und ihre Verblüffung schien echt zu sein. »Val?« Ihre Augen weiteten sich und sie machte hastig einen ungeschickten Schritt nach rückwärts, ehe sie sich berührten.

Und dann schwankte das Schiff heftig, und sie wurde wieder nach vorn geschleudert und ihm direkt in die Arme.

Es war ganz bestimmt Zufall; nie würde sie zu einem derart plumpen Trick greifen. Lawler stemmte sich gegen die Packkisten, ließ seine geschichteten Bandagenstapel fallen und fing sie auf, als sie gegen ihn taumelte. Er hielt sie fest, bis sie wieder festen Stand hatte. Das Schiff setzte zur Gegenbewegung an, und er hielt Sundira weiter fest, damit sie nicht gegen die andere Wand geschleudert werde. Und dann standen sie beide da, Nase an Nase, Aug in Aug, und lachten.

Und dann richtete das Schiff sich wieder auf, und Lawler merkte erst jetzt, daß er sie noch immer in den Armen hielt — und es genoß.

Soweit war das also her mit seinem angeblichen Asketentum. Ach, zum Teufel. Ja, wirklich, zum Teufel damit! Seine Lippen näherten sich den ihren, oder vielleicht kamen auch ihre auf seinen Mund zu, er war danach nie so ganz sicher, wie es gekommen war. Aber es war ein langer, ein aktiver und durchaus interessanter Kuß. Und danach — obwohl das Schiff nun weit weniger schlingerte — hätte es eigentlich nichts gebracht, sie wieder loszulassen. Seine Hände allerdings gerieten in Bewegung, die eine schweifte zu ihrer Taille und auf den Rücken, die andere glitt tiefer zu ihrem festen muskulösen Hinterteil, und er zog sie noch fester an sich. Oder sie ihn?

Lawler trug nichts als ein gelbes Wickeltuch um die Hüften. Sundira hatte nur ein hüftlanges graues Wickelkleidchen an. Es war ganz leicht, beides abzustreifen. Das Ganze ereignete sich ganz schlicht, ganz glatt und in vorhersehbarer Weise, war aber trotz der Vorhersehbarkeit keineswegs etwa langweilig: Vielmehr hatte es die scharfe unausweichliche Klarheit eines Traumes an sich, und die unbegrenzten geheimnisvollen Versprechungen des Traumes ebenfalls. Träumerisch erforschte Lawler Sundiras Haut. Sie war weich und warm. Träumerisch ließ sie ihre Finger in Lawlers Nacken spielen. Träumend führte er die Hand von ihrem Rücken nach vorn und zwischen ihre fest gegeneinander gepreßten Leiber, durch die Grube zwischen ihren Brüsten, wo er — wie ihm jetzt schien — vor mehreren hundert Jahren mit seinem Stethoskop gelauscht hatte — und tiefer hinab, über den flachen Bauch zwischen die Schenkel. Er berührte sie dort. Sie war feucht. Und dann übernahm sie mehr und mehr die Führung, stieß ihn zurück, nicht unsanft, sondern offenbar nur, um ihn zu einer Stelle zwischen den Kisten zu lenken, wo Platz genug war, daß sie sich hinlegen konnten, oder doch beinahe. Und nach einer Weile begriff er ihre Absicht.

Es war ein ziemlich enger Winkel. Und sie waren beide langbeinige Geschöpfe. Doch irgendwie bekamen sie die Sache in den Griff. Beide sprachen sie nicht dabei. Sundira war voller Leben und aktiv und geschickt, und Lawler war voller Stärke und Eifer. Sie brauchten nicht mehr als einen Augenblick, um ihren Rhythmus zu synchronisieren, dann liefen sie unter vollen Segeln glatt im Wind.

Hinterher lagen sie lachend und keuchend da, die Beine ineinander verschlungen. Lawler fühlte, daß jetzt nicht der rechte Augenblick war, etwas zu sagen, das sentimental oder romantisch klingen könnte. Aber irgend etwas mußte er schließlich sagen. Also brach er schließlich das Schweigen und fragte: »Du bist mir doch nicht hier runter nachgegangen?«

Sie schaute ihn mit einer Mischung von Überraschung und Belustigung an.

»Warum hätte ich das tun sollen?«

»Wie kann ich das wissen?«

»Ich kam her, um Werkzeug zum Tauspleißen zu holen. Ich hatte keine Ahnung, daß du hier unten warst.«

»Aber es tut dir nicht leid, oder?«

»Nein, wieso? Tut es dir leid?«

»Aber ganz und gar nicht.«

»Das ist gut«, sagte sie. »Das hätten wir schon vor langer Zeit machen können, weißt du.«

»Hätten wir das?«

»Aber selbstverständlich. Warum hast du so lange damit gewartet?«

Er schaute sie eindringlich im schwachen rauchigen Schimmer der Tranfunzel an. In den kühlen grauen Augen stand ein amüsiertes Funkeln, doch, ja, es war eindeutig Belustigung, aber kein Spott. Dennoch gewann er den Eindruck, daß sie die Sache viel leichter nehme als er.

»Das gleiche könnte ich auch dich fragen«, sagte er.

»Nun«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »ich habe dir aber mehrmals Gelegenheit geboten. Du hast dich höchlichst bemüht, sie nicht zu nutzen.«

»Ich weiß.«

»Weshalb?«

»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte er. »Außerdem eine ziemlich langweilige. Spielt es eine Rolle?«

»Eigentlich nicht.«

»Das ist gut.«

Sie schwiegen, und er dachte, daß es schön wäre, wenn sie sich noch einmal liebten. Er begann wie beiläufig ihren Arm und ihren Schenkel zu streicheln, entdeckte ein erstes schwaches Beben der Reaktion, doch mit bemerkenswerter Beherrschtheit und Takt beendete sie die Sache, bevor das Ganze soweit vorangeschritten war, daß es kein Halten mehr gab, und machte sich sacht aus Lawlers Umklammerung frei.

»Später«, sagte sie freundlich. »Ich hatte nämlich wirklich einen Grund, warum ich herunterkam.«

Sie stand auf, wickelte sich ihr Kleid wieder um, lächelte ihn fröhlich, aber kühl an, kniff ein Auge zu und verschwand im Lagerteil am Heck.

Lawler war bestürzt über ihre Gelassenheit. Gewiß, er hatte nicht das Recht zu erwarten, daß sie von dem Erlebnis gerade ebenso durcheinander sein sollte, wie er es nach seiner langen selbstauferlegten Periode zölibatärer Enthaltsamkeit zwangsläufig war. Ja, sie hatte es gewollt, gern. Und sie hatte es anscheinend auch wirklich genossen. Und dennoch — war es für sie wirklich nichts weiter gewesen als eine nette zufällige Beiläufigkeit? Es sah beinahe so aus.


* * *

Father Quillan beschloß an einem trübträgen Nachmittag, aus Natim Gharkid einen echten Katholiken zu machen. Jedenfalls erweckte das, was er da mit großer Intensität zu tun schien, diesen Eindruck, als Lawler an ihnen vorüberwanderte und von der Brücke hinabschaute. Der Priester sah verschwitzt aus und von innerem Feuer erfüllt und lieferte dem kleinen braunhäutigen Mann eine wortreiche Glaubenssuada. Gharkid lauschte aufmerksam und ungerührt, wie es seine Art war. »GOTTvater, GOTTsohn und GOTTheiligergeist«, sagte Quillan. »Ein einziger Gott, doch in dreifacher Gestalt.« Gharkid nickte feierlich. Lawler, der unsichtbare Lauscher, mußte bei dem ihm unvertrauten Terminus ›Heiliger Geist‹ blinzeln. Was — beim Himmel — mochte das sein? Doch der Priester war schon weiter vorangeschritten. Jetzt erklärte er etwas, das er die Unbefleckte Empfängnis nannte. Lawler verlor das Interesse und schlenderte davon; doch als er eine Viertelstunde später wieder an seinen alten Platz zurückkam, war der Geistliche noch immer in Fahrt und redete jetzt über Freikauf und Erlösung, Erneuerung, über Essenz und Existenz, über den Begriff der ›Sünde‹ und wie diese in einem Lebewesen sein könne, das nach dem Bilde Gottes erschaffen wurde, und wieso es nötig geworden war, einen Heiland und Heilsbringer in die Welt zu entsenden, der durch seinen Tod alle Sünden und Übel der Menschheit auf sich nehmen sollte. Manches erschien Lawler als nicht ganz so unsinnig, anderes kam ihm wie der wildeste aberwitzigste Quatsch vor, aber nach einer Weile fand er den Unsinn dermaßen überwältigend, daß er Quillans feurige Hingabe an einen so absurden Glauben geradezu als eine Beleidigung empfand. Der Priester war doch viel zu intelligent, dachte Lawler, als daß er mit echter Überzeugung eine derart blödsinnige Annahme von einem Gott vertreten konnte, der eine Welt erschaffen haben sollte, die so mit Makeln behaftet war, daß sie in kürzester Zeit aus dem Ruder lief, um dann einen ›Aspekt seines Selbst‹ auf diese Welt zu entsenden, um diese von ihren eingebauten Schwachstellen zu ›erlösen‹, und zwar indem er sich umbringen ließ. Und es erzürnte Lawler ganz besonders, daß der Priester, nachdem er sich mit seinem Glauben so lange recht zurückgehalten hatte, sich nun ausgerechnet den unglücklichen Gharkid als erstes Opfer seiner Bekehrungswut auserkoren hatte.

Später trat er zu Gharkid und sagte: »Du darfst das nicht ernstnehmen, was Father Quillan da gesagt hat. Es würde mir sehr leid tun, wenn ich sehen müßte, daß du auf diesen unsäglichen Quatsch hereinfällst.«

In Gharkids unerforschlichen Augen blitzte kurz Erstaunen auf.

»Du denkst, ich fall da drauf rein?«

»Es sah mir ganz so aus.«

Gharkid lachte leise in sich hinein. »Ach, der Mann versteht doch nichts«, sagte er und ging davon.


* * *

Im späteren Tagesverlauf suchte Father Quillan Lawler auf und sprach ihn pikiert an: »Ich wäre dir dankbar, wenn du davon Abstand nehmen könntest, deine Meinung zu Gesprächsthemen zu äußern, die du heimlich belauschst. Geht das in Ordnung, Doktor?«

Lawler wurde rot im Gesicht. »Was meinst du damit?«

»Du weißt sehr gut, was ich meine.«

»Ah ja, vermutlich.«

»Wenn du zu unserem Dialog etwas beizutragen hast, dann komm und setz dich zu Gharkid und mir und laß es uns hören. Aber schleich dich nicht hinter meinem Rücken an.«

Lawler nickte und sagte: »Es tut mir leid.«

Quillan bedachte ihn mit einem langen frostigen Blick. »Ach, wirklich?«

»Findest du es anständig, deine Glaubensvorstellungen einem derart simplen Gemüt wie Gharkid aufzudrängen?«

»Darüber haben wir uns doch bereits unterhalten. Er ist nicht so einfältig, wie du denkst.«

»Möglich«, gab Lawler zu. »Mir hat er jedenfalls gesagt, daß er von deinen Dogmen nicht sonderlich beeindruckt ist.«

»Das stimmt. Aber wenigstens geht er mit unvernageltem Kopf an diese Dinge heran. Wohingegen du…«

»Schon gut«, sagte Lawler. »Was soll’s, ich bin von Natur aus nicht religiös. Ich kann’s nicht ändern. Also, nur zu, mach einen Katholiken aus Gharkid. Es ist mir wirklich egal. Von mir aus mach einen noch besseren Katholiken aus ihm, als du selber bist. Das dürfte ja nicht schwer sein. Wozu sollte ich mir darüber überhaupt Gedanken machen? Ich sagte bereits, daß es mir leid tut, daß ich mich dazu geäußert habe. Es tut mir leid. Also, nimmst du meine Entschuldigung an?«

»Ja, gewiß.« Die Antwort kam nach einigem Zögern.

Doch danach herrschte zwischen den beiden Männern eine Zeitlang eine gewisse Gespanntheit. Lawler hielt sich demonstrativ abseits, wann immer er den Priester und Gharkid zusammen sah. Aber es war klar zu sehen, daß auch Gharkid nicht mehr Sinn in diesen Lehren zu finden vermochte als Lawler, und nach einiger Zeit fanden die Zwiegespräche mit dem Priester ein Ende. Und das bereitete Lawler mehr Vergnügen, als er sich hätte vorstellen können.


* * *

Es kam eine Insel in Sicht, die erste auf der ganzen langen Reise, es sei denn, man zählte jene mit, welche die Gillies gerade zu bauen begonnen hatten. Dag Tharp rief sie über Funk, doch es kam keine Antwort.

»Sind die bloß ungesellig«, sagte Lawler zu Delagard, »oder ist es eine reine Gillie-Insel?«

»Bloß Gillies«, sagte Delagard. »Kein Menschenschwanz dort, bloß verdammte Kiemlinge. Glaub mir. Das ist keine von unseren Inseln.«

Drei Tage darauf sichteten sie eine weitere mondsichelförmige Insel, die wie ein schlafendes Tier am nördlichen Horizont lagerte. Lawler borgte sich vom Rudergänger das Spähglas aus und glaubte dann, er könne an der Ostseite Spuren menschlicher Behausungen ausmachen. Tharp raste hinunter in die Funkkabine, doch Delagard beorderte ihn zurück und sagte, er solle sich die Mühe sparen.

»Ist das auch eine Gillie-Insel?« fragte Lawler.

»Diesmal nicht. Aber es hat keinen Zweck, mit denen Kontakt aufzunehmen. Wir werden sie nicht besuchen.«

»Aber vielleicht lassen sie uns unseren Wasservorrat auffüllen. Wir sind verdammt knapp, fast am Ende.«

»Nein!« beschied ihn Delagard. »Das ist Thetopal da draußen. Meine Schiffe haben keine Landegenehmigung dort. Meine Beziehungen zu den Thetopali sind ganz und gar nicht gut. Die würden uns nicht mal einen Eimer voll abgestandener Pisse abgeben.«

»Thetopal?« Onyos Felk schaute verwirrt drein. »Bist du sicher?«

»Na sicher bin ich sicher. Was sollte es denn sonst sein? Das da drüben ist Thetopal.«

»Thetopal«, wiederholte Felk. »Also schön, dann isses eben Thetopal. Wenn du es sagst, Nid.«

Jenseits von Thetopal tauchten keine Inseln mehr in der See auf. Nichts als Wasser war ringsum zu sehen. Es war, als führen sie durch ein leeres Universum.


* * *

Lawlers Berechnungen nach mußten sie etwa die halbe Strecke bis Grayvard bewältigt haben, allerdings war das nur eine Schätzung. Mit Sicherheit war nur zu sagen, daß sie mindestens seit vier Wochen auf See waren; aber die Abgeschlossenheit an Bord und die unabänderlich gleichen täglichen Routineaufgaben machten es ihm schwer, ein irgendwie exakteres Gefühl für den Ablauf von Zeit zu entwickeln.

Seit drei Tagen harkte ohne Unterbrechung ein scharfer kalter Wind aus dem Norden auf die Flottille ein und wirbelte ringsum die See zu wütendem Tosen auf. Die erste Sturmwarnung war eine abrupte Veränderung der Atmosphäre, die in der Korallenriff-Region weich und beinahe tropisch-warm gewesen war. Nun plötzlich wurde die Luft sehr klar und straff, so daß sich das Firmament hoch und zitternd und fahl über den Schiffen wölbte wie eine riesige Metallkuppel. Lawler, der stets ein Amateur-Meteorologe gewesen war, fühlte sich davon beunruhigt. Er unterbreitete Delagard seine Ängste, der sie durchaus ernstnahm und den Befehl gab, die Schiffe zu verschalken. Wenig später erklang in der Ferne ein trommelndes Grollen, das die ersten scharfen Windstöße ankündigte, ein länger andauerndes dunkles Dröhnen, und dann kamen die Sturmböen selbst heran, rasche, nervöse, nur kurz dauernde Schwalle eisiger Luft, die über die See leckten und bissen und stießen, als rührten sie die Wasser mit einem Stößel um. Und mit ihnen kamen verstreute kleinere Salven von Hagel, aber kein Regen.

»Es wird noch schlimmer«, brummte Delagard. Er blieb beständig an Deck, als das Wetter sich verschlechterte, und schlief kaum ein paar Stunden. Father Quillan hielt sich viel in seiner Nähe auf, und dann standen die beiden da wie zwei alte Intimfreunde und spähten in den Wind. Lawler sah, wie sie miteinander redeten, mit den Händen deuteten, den Kopf schüttelten. Was hatten diese beiden einander eigentlich zu sagen? Dieser grobschlächtige, vulgäre Kloß mit seinen ordinären Leibeswonnen und der hagere enthaltsame von Gott gepeitschte priesterliche Melancholiker? Jedenfalls standen sie da beisammen im Ruderhaus, zusammen im Kompaßhaus, zusammen auf dem Achterdeck. Versuchte Quillan inzwischen, Delagard zu bekehren? Oder versuchten die beiden, gemeinsam den Sturm durch Beten abzulenken?

Der Sturm kam dennoch. Das Meer wurde eine riesige Wüstenei splitternden Wassers. Gischt, so dünn wie weißer Rauch, erfüllte die Luft. Der volle Sturm fiel über sie her wie ein niedersausender Hammer, knatterte brennend an den Ohren vorbei und hinterließ ein wirres widerhallendes Tosen. Sie nahmen entsprechend Tuch weg, doch die Segeltaue rissen trotzdem, und die schweren Rahen klatschten von einer Seite zur anderen.

Alle Mann waren auf Deck. Martello, Kinverson und Henders stiegen unter höchster Gefahr in der Takelung umher und mußten sich anseilen, um nicht ins tosende Wasser geschleudert zu werden. Die anderen zerrten an den Tauen, während Delagard wütend Befehle brüllte. Lawler schuftete mit den anderen; in einem solchen Sturm gab es kein Sonderprivileg für den Doktor.

Der Himmel war schwarz. Aber die See war noch schwärzer — außer wo sie von weiß lichem Schaum bedeckt war, oder wenn eine gigantische Woge sich neben ihnen wie eine riesige grüne Glaswand emporwuchtete. Das Schiff schlingerte kopfüber hinein und in die Tiefe, anstatt sich darüber hinwegzuheben, taumelte in dunkle glatte Kuhlen, rollte, als eine große Welle mit einem schrecklichen Schmatzen leewärts zurückwich, um dann erneut auf sie niederzubrechen und Sturzbäche über das Deck zu ergießen. Das Magnetron war für einen solchen Sturm unbrauchbar: die Winde kamen aus gegenläufigen Richtungen, prallten zusammen und umringten sie mit turbulentem Wasser, das von allen Seiten her auf sie eindrang, so daß es unmöglich war, sich darüber zu heben. Sie hatten alles fest verzurrt und abgeschottet, und was nur ging, hatten sie unter Deck geschafft, doch die hochgestauten Wellen fanden alles übrige, einen Eimer, einen Schemel, ein Gaff, ein Wasserfaß, und trieben es polternd und rutschend über das Deck her und hin, bis es über Bord ging und verschwand. Die Nase des Schiffs tauchte ein und hob sich und tauchte erneut unter. Jemand mußte sich übergeben, ein anderer schrie laut. Lawler sah flüchtig eins der anderen Schiffe — er hatte keine Ahnung, welches es war, denn es führte keine Flagge — dicht längsseits in einem torkelnden Schwanken hoch über ihr Schiff hinaufgetrieben, als müsse es gleich direkt auf ihr Deck herunterkrachen, und dann wieder versacken, als werde es direkt in die Tiefe gerissen.

»Die Masten!« schrie jemand gellend. »Sie kommen gleich runter! Geht in Deckung!«

Doch die Masten hielten, auch wenn es so aussah, als müßten sie bestimmt aus den Sockeln brechen und in die See gerissen werden. Aber ihr verzweifeltes Beben erschütterte den ganzen Schiffskörper. Lawler merkte auf einmal, daß er sich an jemanden klammerte — es war Pilya —, und als Lis Nikiaus in einer heftigen Bö hilflos über das Deck gerutscht kam, griffen sie beide zu und zogen sie wieder herein wie einen gefangenen Fisch. Lawler rechnete damit, daß jeden Moment ein sintflutartiger Regen kommen werde, und es ärgerte ihn, daß sie bei diesem Sturm keine Chance hatten, Behältnisse aufzustellen und das gute süße Trinkwasser aufzufangen. Doch die Winde blieben trocken, trocken und knisternd. Einmal wagte er einen Blick über die Reling, und im Schimmer der Gischt sah er, daß das Meer voller kleiner starrer Glitzeraugen war. Eine Halluzination? Nein, das glaubte er nicht. Es waren Drakkenköpfe: eine ganze Armee, eine Riesenlegion von diesen langen, bösartig aussehenden Schnauzen ragte überall ringsum aus dem Wasser. Myriaden scharfer Zähne bereiteten sich auf den Moment vor, wenn die Queen of Hydros kentern und ihre dreizehn Menschen ins Meer stürzen würden.

Der Sturm blies und blies und blies, aber das Schiff hielt stand und brach und brach und brach nicht. Es kam ihnen jegliches Zeitgefühl abhanden. Es gab weder Nacht, noch gab es Tag; es gab nur den Sturm. Onyos Felk rechnete später aus, daß es ein Dreitagesturm war, und vielleicht hatte er ja damit recht. Alles endete jedenfalls so rasch, wie es begonnen hatte, und die schwarzen Winde verwandelten sich in eine klare helle Kraft, die blitzte und schnitt wie ein Messer; und dann, wie auf ein Stichwort hin, verzog sich der Sturm von einem Augenblick zum anderen, und die Stille kehrte wieder, und die Reisenden empfanden sie als ebenso bestürzend.

In dieser Stille schlich sich Lawler wie betäubt über das triefende Deck. Es war übersät von zerfetzten Tangsträngen, Klumpen von Quallen, von wütend zappelnden Geschöpfen aller Art — Meeresmüll, den die brandenden Wogen emporgespült hatten. Seine Hände schmerzten, wo die frischen Wunden den alten Schmerz von der Netznesselverätzung wieder aufleben ließen. Stumm hakte er im Kopf das Register ab: Da war Pilya, dort Gharkid, da Father Quillan und Delagard, Tharp, Golghoz, Felk, Nikiaus. Martello? — Ah ja, droben. Dann Henders. Ja.

Sundira?

Er sah sie nicht. Und dann sah er sie, und wünschte sich, es wäre nicht so: Sie war auf dem Vorschiff, und sie war vollkommen durchnäßt. Ihr Kleid klebte an ihr, als trüge sie überhaupt nichts außer ihrer Haut. Und außerdem war Kinverson neben ihr. Sie begutachteten irgendein Geschöpf aus der Tiefe, das er entdeckt hatte und mit dem er jetzt vor ihr angab: irgendeine Art Seeschlange, ein langes schlaffes, irgendwie komisch aussehendes Ding mit einem breiten, aber harmlos wirkenden Maul und Reihen kreisrunder grüner Flecken längs auf dem schlaffen gelben Leib, was irgendwie clownhaft wirkte. Die beiden lachten. Kinverson ließ das Tier vor ihr zappeln, ja, er stieß es ihr fast ins Gesicht, und sie lachte und schubste es fort. Dann ließ Kinverson das Tier am Schwanz baumeln und belustigte sich an seinen kläglichen Zuckungen. Sundira fuhr mit den Händen über die glatten Flanken, als wollte sie es liebevoll streicheln, es über seine Entwürdigung hinwegtrösten, und dann schleuderte Kinverson das Tier zurück ins Meer. Darauf legte er Sundira den Arm um die Schultern, und die beiden verschwanden aus Lawlers Blickfeld.

Wie leicht die beiden miteinander umgingen. Wie selbstverständlich, wie verspielt und wie beunruhigend vertraut. Lawler wandte sich ab. Delagard kam übers Deck auf ihn zu. »Hast du Dag irgendwo gesehen?« rief er.

Lawler deutete mit der Hand. »Da, dort drüben.« Der Funker kauerte wie ein Lumpenbündel an der Steuerbordreling und wackelte mit dem Kopf, als könne er nicht begreifen, daß er überlebt hatte.

Delagard schob sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte sich um. »Dag! Dag! Setz dein verdammtes Horn in Betrieb, schnell! Wir haben die ganze verdammte Flotte verloren!«

Bestürzt drehte Lawler sich um und starrte auf die gespenstisch ruhige See hinaus. Delagard hatte recht. Nicht eins der anderen Schiffe war zu sehen. Die Queen of Hydros schwamm ganz allein auf dem Wasser.

»Glaubst du, sie sind untergegangen?« fragte Lawler den Reeder.

»Wir können nur noch beten«, erwiderte Delagard.


* * *

Aber es zeigte sich, daß die anderen Schiffe nicht verloren waren. Sie waren nur außer Sichtweite getrieben worden. Eines nach dem anderen nahm wieder den Funkkontakt mit dem Flaggschiff auf, als Tharp sie anrief. Der Sturm hatte sie nur wie Spreu zerstreut und in diese und jene Richtung auf dem Meer verschlagen; doch sie waren alle noch da. Die Queen of Hydros behielt ihre Position bei, und die übrigen Schiffe des Konvois steuerten auf sie zu. Gegen Einbruch der Dunkelheit war die gesamte Flottille wieder vereinigt. Delagard gab Order, daß Schnaps für jedermann ausgeteilt werde, um das glückliche Überleben gebührend zu feiern; es waren die Reste von Gospo Struvins ›Khuviar’-Vorrat. Father Quillan postierte sich auf der Brücke und führte die Besatzung in einem nicht übermäßig langen Dankgebet an. Lawler entdeckte zu seiner Verblüffung, daß auch er einige hastige Worte des Dankes murmelte.

6

Was immer zwischen Kinverson und Sundira vor sich ging, es schien keineswegs auszuschließen, was immer sich zwischen Sundira und Lawler an Beziehung zu entwickeln begann. Lawler war unfähig, diese Mehrfachbeziehungen zu verstehen; allerdings war er auch erfahren genug in derartigen Sachen, um zu wissen, daß die sicherste Methode, eine solche Beziehung zu ersticken, darin bestand, sie zu begreifen. Nein, er würde einfach annehmen müssen, was kam.

Eines wurde recht rasch deutlich: Kinverson bekümmerte es überhaupt nicht, daß Sundira sich mit Lawler eingelassen hatte. Anscheinend war ihm Besitzdenken im Sexualbereich unbekannt. Anscheinend war Sex für ihn etwas ebenso Natürliches wie Atmen, und er tat es, ohne weiter darüber nachzudenken. Mit jedem bereitwilligen Partner, sobald sein Körper danach verlangte, als Erfüllung eines reinen natürlichen Bedürfnisses, ein mechanischer, automatischer Vorgang. Und offenbar glaubte er, daß auch alle anderen so darüber dachten.

Als Kinverson sich am Arm verletzte und damit zu Lawler kam, damit der die Wunde säuberte und verbände, fragte er während der Behandlung: »Also du bumst jetzt auch mit Sundira, Doc?«

Lawler zurrte die Bandage fest.

»Ich sehe nicht ein, warum ich dir darauf eine Antwort geben müßte. Es geht dich ganz und gar nichts an.«

»Stimmt. Aber natürlich treibst du’s mit ihr. Sie ist eine prima Frau. Zu scharf für mich, im Kopf, meine ich, aber das stört mich nicht. Und es stört mich auch nicht, was ihr zwei beide mitsammen macht.«

»Äußerst freundlich von dir«, sagte Lawler.

»Aber natürlich hoffe ich, das gilt auch umgekehrt.«

»Was meinst du damit?«

»Ich meine, daß da zwischen Sundira und mir durchaus noch was weiterläuft«, sagte Kinverson. »Hoffentlich verstehst du das.«

Lawler starrte ihn an. »Sie ist eine reife, erwachsene Frau. Sie kann tun, was sie will, und wann sie will und mit wem sie will.«

»Fein. Es ist ziemlich eng auf so ’nem Schiff. Und wir wollen hier doch keinen Ärger — wegen einem Weib.«

In wachsender Gereiztheit sagte Lawler: »Du tust, was du willst, und ich tu, was ich will, und reden wir nicht mehr davon. So wie du von ihr sprichst, klingt das, als wäre sie ein Teil der Schiffsausrüstung, und wir beide wollten sie benutzen.«

»Hm, ja«, sagte Kinverson. »Aber doch ein verdammt gutes Stück Ausrüstung.«


* * *

Nicht lange danach wanderte Lawler in die Kombüse und stieß dort auf Kinverson und Lis Nikiaus, und die beiden kicherten und begrapschten und würgten sich und grunzten wie Gillies in der Brunft. Lis blinzelte und gluckste ihm rauh über Kinversons Schulter zu: »Hallo, Doc!« Es klang, als wäre sie stark betrunken. Lawler sah sie betroffen an und verzog sich eilends.

Die Kombüse war eigentlich alles andere als ein Ort für Intimitäten; aber anscheinend machte sich Kinverson weiter keine großen Sorgen, daß Sundira oder gar Delagard entdecken könnte, er habe auch was mit Lis. Immerhin, dachte Lawler, Kinverson beweist einen stetigen Charakter, es kümmert ihn nicht, und nichts kümmert ihn. Und keiner.

In der Woche nach dem Sturm fanden Lawler und Sundira mehrmals Gelegenheit, sich im Frachtdeck zu treffen. Sein Körper, dessen Feuer so lange geschlummert hatten, lernte sehr schnell wieder, was Leidenschaft war. Aber von Sundira schlug ihm keine Leidenschaft entgegen, jedenfalls spürte er sie nicht — es sei denn rasches, gekonntes, begeistertes, doch beinahe unpersönliches körperliches Lustempfinden wäre so etwas wie Leidenschaft. Lawler fand das nicht. Früher, als er noch jünger war, vielleicht, aber jetzt nicht mehr.

Sie sprachen nie miteinander, während sie sich körperlich liebten, und wenn sie danach beisammen lagen, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden, schien es fast, als hätten sie eine Abmachung getroffen, ihr Gespräch auf harmlose Gemeinplätze zu beschränken. Diese neue Verkehrsordnung trat sehr rasch in Kraft. Lawler fügte sich ihrem Diktat, wie er es von Beginn an getan hatte: Sundira genoß offensichtlich, was da mit ihnen beiden geschah, doch ebenso deutlich schien sie eine Vertiefung der Transaktion nicht zu wünschen. Wann immer sie sich auf Deck begegneten, sprachen sie stets in einem oberflächlichen, beiläufigen Plauderton miteinander — glatt, höflich und nichtssagend. Er sagte nicht ein einziges Mal zu ihr: »Sundira, ich habe seit ungezählten Jahren für keinen Menschen das empfunden, was ich für dich fühle.« Und sie sagte niemals: »Ich kann es kaum erwarten bis zum nächstenmal, Val, daß wir uns da drunten wieder treffen.« Und er sagte nie: »Wir sind was ganz besonderes, wir zwei, von derselben Art, und wir passen wirklich nicht zu den anderen.« Und sie sagte niemals: »Der Grund, warum ich von Insel zu Insel wandere, ist der, daß ich immer nach etwas mehr gesucht habe, wo immer ich auch war.«

Anstatt daß er sie nun besser kennenlernte, seit sie eine Liebesaffäre hatten, mußte er erkennen, daß sie ihm immer ferner rückte und ungreifbarer wurde. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wünschte sich — mehr. Doch er sah nicht, wie es dazu kommen sollte, es sei denn, sie würde es so wollen.

Aber sie schien es darauf abgesehen zu haben, ihn sozusagen auf Distanz zu halten, von ihm nicht mehr zu fordern als eben das, was sie sowieso bereits von Kinverson bekam. Wenn Lawler sie nicht gründlich mißverstand, dann wollte sie Intimität nicht in einer anderen Dimension als dieser rein körperlichen. Lawler hatte noch nie eine Frau wie sie getroffen, die dermaßen desinteressiert an Dauer, Stabilität, weiterführender Vereinigung der Seelen gewesen wäre, eine Frau, die allem Anschein nach alles, was sich in ihrem Leben ereignete, hinnahm und annahm, wie es kam, und die sich nie darüber Sorgen machte, wie sie es mit dem Vergangenen verbinden sollte, noch mit einer potentiellen Zukunft. Und dann fiel Lawler ein, daß er sehr wohl jemanden kannte, der genauso war.

Der Lawler aus den verschwundenen Tagen auf der Insel Sorve, vor langer Zeit, der seine Geliebten nahm und fallenließ und zu anderen wechselte, ohne über die Lust und Freude des Augenblicks hinauszudenken. Aber jetzt war er doch ein anderer geworden. Jedenfalls hoffte er es.


* * *

In der Nacht hörte Lawler gedämpftes Geschrei und Poltern aus der Nebenkabine. Delagard und Lis stritten sich. Es war nicht das erste Mal, doch klang es diesmal lauter und erregter als sonst.

Als Lawler dann verfrüht am Morgen in die Kombüse zum Frühstück kam, hockte Lis mit abgewandtem Gesicht an ihrem Herd. Von der Seite sah ihr Gesicht geschwollen aus, und als sie sich ihm zuwandte, sah er eine gelbliche Schwellung auf dem Wangenknochen und eine zweite um das Auge. Eine Lippe war aufgeplatzt und dick geschwollen.

»Soll ich dir was dafür geben?« fragte er.

»Ich werd’s überleben.«

»Ich hab heut nacht Geräusche gehört…«

»Ich bin aus meiner Koje gefallen, weiter nichts.«

»Und bist zehn Minuten lang durch die Kabine getaumelt und hast gebrüllt und geflucht? Und als Nid dich aufhob, fand er es ebenfalls nötig, zu brüllen und zu fluchen? Gib’s auf, Lis.«

Sie starrte ihn kalt und mürrisch an. Es sah aus, als werde sie gleich losweinen. Nie zuvor hatte er diese stabile, diese spottlustige Frau so knapp vor einem Zusammenbruch gesehen.

Ruhig sagte er: »Das Frühstück kann ein bißchen warten. Ich könnte die Platzwunde säubern und dir was geben, um die Schmerzen aus den Prellungen zu vertreiben.«

»Ach, ich bin das schon gewohnt, Doc.«

»Schlägt er dich denn oft?«

»Oft genug.«

»Lis, heutzutage schlägt kein Mann mehr eine Frau!«

»Das sag mal dem Nid.«

»Möchtest du das? Ich tu’s.«

Panik flammte in ihren Augen auf. »Nein! Um Himmels willen, kein Wort zu ihm, Doc! Er würde mich totschlagen.«

»Du fürchtest dich wirklich vor ihm, Lis?«

»Du nicht?«

Lawler war verblüfft. »Nein. Wieso sollte ich?«

»Na, vielleicht hast du wirklich keine Angst. Aber du bist eben du. Ich denke, ich bin noch ganz gut davongekommen. Ich hab was gemacht, was ihm nicht recht ist, und das hat er rausgekriegt, und er hat es viel, viel übler aufgenommen, als ich mir das je gedacht hätte. Aber ich hab was draus gelernt. Nid ist ein heftiger Mensch. Gestern nacht — ich hab wirklich geglaubt, er bringt mich um.«

»Nächstesmal ruf mich. Oder schlag gegen die Kabinenwand.«

»Es wird kein nächstesmal geben. Von jetzt an werd ich brav sein. Ich mein es ernst.«

»Dermaßen fürchtest du dich vor ihm?«

»Ich liebe ihn, Doc. Kannst du das glauben? Ich liebe diesen Mistkerl. Und wenn er nicht will, daß ich mit anderen herumvögele, dann tu ich es eben nicht. Er ist mir zu wichtig.«

»Obwohl er dich prügelt?«

»Daran erkenne ich, wie wichtig ich für ihn bin.«

»Aber das kannst du doch nicht im Ernst sagen, Lis.«

»Aber ich tu es. Wirklich.«

Er schüttelte den Kopf. »Himmel! Der Kerl schlägt dich grün und blau, und du sagst mir, das tut er, weil er dich so heiß liebt?«

»Von sowas verstehst du nichts, Doc«, sagte Lis. »Das hast du noch nie begriffen. Nie begreifen können.«

Lawler starrte sie verblüfft an. Er versuchte zu begreifen. In diesem Augenblick war ihm diese Menschenfrau so fremd wie ein Gillie.

»Ja, wahrscheinlich stimmt das«, sagte er.


* * *

Nach dem Sturmwind blieb die See weiterhin eine Zeitlang ruhig. Nie völlig glatt, aber auch nicht bedrohlich. Sie gerieten in einen neuen Gürtel mit dichter Meeresflora, allerdings diesmal weniger dicht, und sie gelangten hindurch, ohne Dr. Nikitins tödlic hes geschlechtsstimulierendes Öl einsetzen zu müssen. Ein wenig später stießen sie erneut auf Driften rätselhafter dichtgepackter gelbgrüner Algen. Die quollen über die See herauf, als das Schiff vorbeifuhr, und stießen aus dunklen schwappenden Blasen, die von kurzen stacheligen Stengeln hingen, trübselig pfeifende Fürze aus: Kehrt-umm, schienen sie zu stöhnen, kehrtummm, kehrtummm. Bestürzende, beunruhigende Laute. Ohne Zweifel, hier war ein unheilvoller Ort. Doch es dauerte nicht lang, da lagen diese seltsamen Algenformationen hinter ihnen, doch die Furzgeräusche waren noch eine halbe Tagesreise lang zu hören.

Am darauffolgenden Tag zeigte sich eine weitere unbekannte Lebensform: eine gigantische, in Kolonien schwimmende Spezies, ein Geschöpf, das in sich selbst eine ganze Population umfaßte, Hunderte, vielleicht Tausende von unterschiedlich spezialisierten Organismen, die von einem einzigen riesigen Schwimmer ausgingen, der fast so groß war wie ein Plattformfisch. Der fleischige, durchsichtige Zentralkörper schimmerte aus dem Wasser zu ihnen herauf wie eine kaum untergetauchte Insel; und beim Näherkommen sahen sie dann die unzähligen Bestandteile des Organismus bei ihren jeweiligen Aufgaben sich bebend, windend und kreisend bewegen — hier ruderten Teile des Organismus, dort bildete ein anderer Schleppnetze für den Fischfang, die kleinen flatternden Organe an den Rändern wirkten als Stabilisatoren für den ganzen mächtigen Organismus bei seiner pompösen Fahrt durch die Wasser.

Als die Schiffe in seine Nähe kamen, stülpte das Geschöpf etliche Dutzend helle röhrenähnliche Gebilde einige Meter hoch in die Luft, die aussahen, als ragten schimmernde Kamine über das Wasser auf.

»Was glaubst du, was das ist?« fragte Father Quillan.

»Sehgeräte?« schlug Lawler vor. »Sowas wie Periskope?«

»Nein! Sieh nur, jetzt kommt aus den Dingern etwas heraus…«

»Vorsicht!« brüllte Kinverson aus der Takelung. »Es schießt auf uns!«

Lawler riß den Priester mit sich auf die Decksplanken, gerade noch rechtzeitig, bevor ein Klumpen einer viskosen rötlichen Substanz vorbeizischte. Der Klumpen fiel mitten aufs Deck, nur zwei drei Meter hinter den beiden. Er sah wie ein großer orangefarbener formloser Kotfladen aus und zitterte. Dampf stieg davon auf. Ein halbes Dutzend weiterer ähnlicher Projektile landeten verstreut anderwärts auf Deck, und weitere kamen nach.

»Verdammt! Verdammt! Verdammt!« brüllte Dela -gard und stapfte wütend umher. »Die Scheiße brennt mir das Deck an! Eimer und Schaufeln! Schnell! Los! Los! Felk! Schaff deinen Arsch da raus, verdammt!«

Wo die Geschosse aufgeschlagen waren, zischten und dampften die Deckplanken, in die sich das Zeug hineinfraß. Felk kämpfte verbissen am Ruder, um das Schiff aus der Schußlinie zu manövrieren. Unter seinem krächzenden Kommando schleppte die Deckswache Taue von Seite zu Seite, wuchtete die Rahen herum und setzte die Segel neu. Lawler, der Priester und Lis Nikiaus eilten auf dem Deck umher und schaufelten die weichen ätzenden Geschosse über Bord. Auf dem gelben Holz der Decksplanken blieben dunkle Brandspuren zurück, wo immer die säurehaltigen Klumpen aufgetroffen waren. Die inzwischen fernergerückte Monadenkolonie schleuderte weiter Geschosse gegen das Schiff — in einer Art blinder hirnloser Feindseligkeit —, die allerdings inzwischen harmlos ins Wasser fielen, wo sie kleine Dampfwölkchen hervorriefen, ehe sie kochend in der Tiefe versanken.

Die Brandnarben auf den Decksplanken waren zu tief, als daß man sie hätte wegschleifen können. Lawler vermutete, sie würden sich von Deck zu Deck und schließlich durch den Schiffsrumpf gebrannt haben, wenn man sie nicht sofort über Deck geschafft hätte.

Am folgenden Morgen erblickte Gharkid steuerbord eine graue Wolke sirrender Leiber in der Luft.

»Hexenfische im Paarungstaumel.«

Delagard gab fluchend Order, den Kurs zu ändern.

»Nein«, erklärte Kinverson, »das wird nichts mehr nützen. Wir haben nicht genug Zeit für ein Manöver. Holt die Segel ein.«

»Was?«

»Holt sie runter, oder sie werden wie Netze die Hexenfische auffangen, wenn der Schwarm gegen uns kommt. Und dann stecken wir bis zum Arsch zwischen denen hier an Deck.«

Delagard fluchte noch heftiger und ließ die Segel einholen. Und kurz darauf trieb die Queen of Hydros mit nackten Masten unter einem harten weißen Himmel dahin. Und dann kamen die Hexenfische.

Die abstoßenden stachelrückigen, geflügelten Würmer breiteten sich in rasender Lust millionenfach genau unter dem Wind vor der Flottille aus. Es war eine See von Hexenfischen, man sah kaum das Wasser unter den peitschenden Leibern. Wie aufschäumende Wogen schossen sie in die Luft — die Weibchen voran, unzählige Weibchen, so daß sie fast die Sonne verdunkelten. Wütend schlugen sie mit ihren leuchtenden kantigen kleinen Flügeln; verbissen reckten sie die stumpfnasigen Köpfe nach oben; und immer näher kamen sie , in ganzen breiten Kohorten kamen sie wie vom Wahnsinn gepeitscht heran. Und die Männchen dicht hinter ihnen.

Es störte sie überhaupt nicht, daß da Schiffe ihren Weg kreuzten. Schiffe waren weiter nichts als eine Ablenkung, eine zufällige Störung für diese Fische in ihrer wütenden sexuellen Glut. Ein Gebirge hätte sie vielleicht abgelenkt. Aber sie folgten ihrem genetisch vorgegebenen Programm, und sie folgten ihm blindlings und ohne Zögern. Und wenn dies bedeutete, daß sie kopfüber gegen die Bordwand der Queen of Hydros prallten, nun denn. Wenn es hieß, daß sie dabei ein paar Meter über Deck flogen und dann gegen den Fuß eines Masts oder gegen die Tür zum Niedergang prallten, auch gut. Es spielte keine Rolle. Dann sollte es eben so sein. Es befand sich nie mand von der Besatzung mehr auf dem Oberdeck, als die fliegende Armada der Hexenfische dort ankam. Lawler hatte ja bereits seine Erfahrung gemacht, was es bedeutete, von einem noch unreifen Exemplar getroffen zu werden. Ein voll ausgewachsenes Tier in der Hitze der Begattungszwänge würde wahrscheinlich zehnmal schneller fliegen als das Jungtier, das ihn getroffen hatte — und ein derartiger Zusammenstoß wäre wohl höchstwahrscheinlich gravierend gewesen. Die streifende Berührung einer dieser Flügelspitzen konnte das Fleisch bis auf den Knochen aufschlitzen. Die scharfen Dornstacheln konnten blutige Wunden hinterlassen.

Es blieb also keine andere Wahl, als sich zu verstecken und zu warten. Und zu warten… und zu warten. Alle suchten Schutz unter Deck. Über Stunden hin erfüllte das schwirrende Zischen des Hochzeitszuges die Luft, unterbrochen von Wimmern und dem Krachen plötzlicher heftiger Zusammenstöße.

Schließlich trat wieder Stille ein. Vorsichtig wagten sich Lawler und ein paar andere an Deck.

Die Luft war wieder frei, der Schwarm war weitergezogen. Aber wo irgendwelche Aufbauten an Deck den Flug der Fische behindert hatten, türmten sich tote und sterbende Hexenfische wie Ungeziefer. So zerschmettert die meisten waren, manche besaßen immer noch genug Lebenskraft und zischten, bissen und versuchten sich zu erheben und sich den Leuten ins Gesicht zu schleudern, die das Deck säuberten. Sie brauchten den ganzen Tag, um wieder klar Schiff zu machen.

Den Hexenfischen folgte eine dunkle Wolke, die Regen versprach, jedoch statt dessen einen schleimigen Überzug entließ, eine wandernde Masse eines kleinen fliegenden Mikroorganismus, die faulig roch, das Schiff in unzählbaren Massen bedeckte und auf Masten und Segeln und Takelung und jedem Quadratmillimeter des Decks eine glitschige stinkende Schicht hinterließ. Die Reinigung beanspruchte weitere drei Tage.

Und danach kamen wieder Rammhörner, und Kinverson kam wieder mit seiner Trommel auf Deck gestapft und trieb sie durch sein Getöse in Verwirrung.

Und nach den Rammhömern…

Lawler begann in der gewaltigen den Planeten umspannenden Meeresmasse mehr und mehr eine starrsinnige, unversöhnliche und feindliche Kraft zu sehen, die unermüdlich bald dies, bald jenes als Reaktion gegen die Anwesenheit der Reisenden ins Feld schickte. Als löste diese Anwesenheit auf der Weite des Meeres einen Juckreiz aus, und als kratzte sich der Ozean. Manchmal war dieses Kratzen recht intensiv. Lawler fragte sich, ob sie lang genug leben würden, um Grayvard erreichen zu können.


* * *

Ein segensreicher Tag kam, mit üppigem Regen. Endlich. Er spülte die Reste des schleimigen Mikroorganismus und den Gestank der toten Hexenfische von Deck und erlaubte den Fahrenden, die Trinkwasserbehälter aufzufüllen. Im Gefolge des Regens erschien ein Schwarm von Tauchern und tummelte sich fröhlich und unbekümmert längsseits des Schiffes. Sie sprangen durch den Schaum wie geschmeidige Tänzer, die Touristen in ihrer Heimat willkommen heißen: Doch kaum war der Taucherschwarm davongezogen, da rückte wieder eines dieser Fäkalienbomben schleudernden Koloniewesen heran und beschoß das Schiff erneut mit Brandbomben. Es war beinahe, als hätte der Ozean verspätet erkannt, daß er durch die Entsendung des Regens und dann der Taucher sich den Reisenden gegenüber zu sehr von der freundlichen Seite gezeigt habe, und als wollte er ihnen nun wieder sein wahres Gesicht zeigen.

Und dann blieb wieder alles einige Zeitlang ruhig. Die Winde wehten günstig, die Geschöpfe der Tiefe nahmen Abstand von dem gewohnten Muster ständiger Angriffe. Die sechs Schiffe zogen weiter ihrem Ziel entgegen. Ihre Heckwasser erstreckten sich lang wie große Straßen über die unermeßliche Einsamkeit, die sie bereits durchquert hatten.

In der Stille eines makellosen Morgens — die See beinahe wellenlos glatt, die Brise fest, der Himmel schimmernd wie ein Opal, der wundervolle blaugrüne Ball von Sunrise knapp über dem Horizont sichtbar und einer der Monde noch erkennbar — stieß Lawler, als er an Deck kam, auf eine Gruppe, die auf der Brücke diskutierte. Delagard war da und Kinverson und Onyos Felk und Leo Martello. Und dann entdeckte Lawler auch Father Quillan, der halb hinter Kinversons mächtiger Gestalt verdeckt stand.

Delagard hantierte mit seinem Spähglas. Er bestrich damit die Ferne und berichtete den übrigen etwas, und die deuteten, spähten, gaben Kommentare dazu.

Lawler hangelte sich die Leiter hinauf.

»Ist was im Gange?«

»Irgendwas ja«, sagte Delagard. »Eins von den Schiffen ist fort.«

»Im Ernst?«

»Sieh selbst!« Delagard reichte ihm das Spähglas. »Eine problemlose Nacht. Zwischen Mitternacht und Morgen nichts Außergewöhnliches, melden mir die Spähgasten. Aber zähl mal, wie viele Schiffe du sehen kannst. Eins, zwei, drei, vier.«

Lawler setzte das Glas ans Auge. »Eins. Zwei. Drei. Vier.«

»Welches fehlt?«

Delagard zerrte an seinen dichten fettigen Locken. »Bin mir noch nicht sicher. Sie haben die Flaggen nicht gehißt. Gabe glaubt, es ist die Schwesternschaft, die verschwunden ist. Daß die sich heimlich in der Nacht abgesetzt haben und auf einen eignen unabhängigen Kurs gegangen sind.«

»Aber das war doch verrückt«, sagte Lawler. »Die haben doch gar keine Ahnung von Navigation.«

»Bislang haben sie’s aber ganz gut geschafft gehabt«, bemerkte Leo Martello.

»Ja, aber nur weil sie einfach im Konvoi mitgefahren sind. Aber wenn die jetzt versuchen, allein weiterzumachen…«

»Jaja«, sagte Delagard, »es wäre verrückt. Aber die sind schließlich verrückt. Diese verdammten Lesben, denen trau ich jederzeit zu, daß die…«

Er brach ab. Man hörte Tritte auf der Leiter unterhalb.

»Dag? Bist du das?« rief Delagard. Und zu Lawler gewandt erklärte er: »Ich hab ihn in den Funkraum geschickt, er sollte mal ein wenig rumhorchen.«

Tharps Schrumpfkopf erschien, dann auch der Rest von ihm.

»Die Golden Sun ist abgängig«, verkündete er.

»Die Schwestern fahren auf der Hydros Cross«, sagte Kinverson.

»Richtig«, sagte Tharp beißend. »Aber die Hydros Cross hat geantwortet, als ich sie grad vorhin gerufen hab. Und die Star, die Three Moons und die Goddess. Aber von der Golden Sun nur Funkstille.«

»Bist du ganz sicher?« fragte Delagard.

»Wenn du’s selber versuchen willst, bitte, geh und versuch’s. Ich hab die ganze Flotte gerufen. Und vier Schiffe haben geantwortet.«

»Auch das Schiff der Schwestern?« bohrte Kinverson nach.

»Ich hab mit Schwester Halla persönlich gesprochen. Reicht das?«

Lawler sagte: »Wer führt die Golden Sun? Ich hab es vergessen.«

»Damis Sawtelle«, antwortete Leo Martello.

»Damis würde doch nie so ’nen Alleingang wagen. Dazu ist er gar nicht der Typ.«

»Nein«, sagte Delagard mit einem Blick, in dem sich Argwohn und Zweifel mischten. »Das ist er nicht, oder, Doc?«


* * *

Den ganzen Tag lang versuchte Tharp immer wieder, die Frequenz der Golden Sun einzufangen. Die Funker der anderen vier Schiffe bemühten sich gleichfalls.

Aber auf dem Kanal der Golden Sun blieb alles still. Totenstill.

Delagard stapfte wütend auf und ab. »Ein Schiff, das verschwindet nicht einfach so in der Nacht!«

»Also, das da hat es anscheinend getan«, bemerkte Lis Nikiaus.

»Du halt dein verdammtes Maul!«

»Oh, wie nett von dir, Nid, wirklich.«

»Halt die Klappe, oder ich stopf sie dir!«

»Das bringt uns nicht weiter«, mischte Lawler sich ein. Dann fragte er Delagard: »Hast du jemals schon so ein Schiff verloren? Das so ganz einfach verschwand, meine ich, ohne S.O.S. und so? Ohne Meldung?«

»Ich hab noch nie ein Schiff verloren — Punkt!«

»Aber die hätten sich doch über Funk gemeldet, wenn sie in Schwierigkeiten gesteckt hätten, ja?«

»Wenn es ihnen möglich gewesen wäre«, sagte Kin-verson.

»Was soll das heißen?« fragte Delagard scharf.

»Mal angenommen, ein ganzer Haufen von diesem Netz-Zeugs kommt nachts an Bord gekrochen. Wachablösung ist um drei Uhr früh, die Leute aus der Takelung kommen runter, die Freiwache kommt rauf an Deck — und sie alle treten in dieses Netzzeug und werden über Bord gezerrt. Und damit ist die halbe Schiffsbesatzung einfach futsch. Damis oder sonstwer kommt während des Massakers aus dem Ruderhaus, um nachzuschauen, was los ist, und das Netz erwischt auch ihn. Und dann die restlichen, einen nach dem anderen…«

»Aber Gospo hat gebrüllt wie ein Irrer, als ihn das Netz erwischte«, warf Pilya Braun ein. »Ihr glaubt doch nicht, daß eine ganze Schiffsbesatzung von diesen Dingern gepackt werden und über Bord gezogen werden kann, ohne daß ein einziger genug Lärm schlagen könnte, um die übrigen zu warnen, was los ist?«

»Dann waren es eben nicht die Netzdinger«, sagte Kinverson. »Sondern was anderes, das an Bord kam. Oder es war das Netz und noch was anderes. Und sie sind alle tot.«

»Und dann kam eins von den Mäulern vorbei und hat auch noch das ganze Schiff verschluckt?« fragte Delagard. »Wo ist das verdammte Schiff, verdammt? Vielleicht sind alle an Bord tot, aber was ist mit dem Schiff passiert?«

»Ein Schiff unter Segeln kann in ein paar Stunden weit abdriften, sogar in einer ruhigen See«, bemerkte Onyos Felk. »Zehn, fünfzehn, zwanzig Kilometer — wer weiß schon? Und fährt immer weiter. Wir würden es nie finden, und wenn wir ’ne Million Jahre danach suchen.«

»Oder es ist gesunken«, sagte Neyana Golghoz. »Irgendwas kam von unten rauf, und es hat ein Loch in den Bauch gebohrt, und dann ist es einfach abgesoffen.«

»Ohne das kleinste Notsignal?« fragte Delagard. »Schiffe sinken nicht innerhalb von zwei Minuten. Irgendwer würde genug Zeit gehabt haben, uns zu rufen.«

»Was weiß denn ich?« sagte Neyana. »Sagen wir, es sind fünfzig Dinger von unten raufgekommen und haben Löcher gebohrt. Und dann war das Schiff plötzlich voller Löcher. Und dann wäre es nämlich schneller gesunken, als du einen Furz lassen kannst. Es sinkt einfach, schwupp, und keiner hat mehr Zeit, was zu tun. Ich weiß ja nicht, ich mein ja mal nur so.«

»Wer war an Bord der Golden Sun?« fragte Lawler.

Delagard zählte an seinen Fingern ab. »Damis und Dana und ihr kleiner Junge. Sidero Volkin. Die Sweyners. Das macht sechs.«

Jeder Name sauste nieder wie ein Beil. Lawler dachte an den knorrigen alten Werkzeugmacher und an seine verhutzelte alte Frau. Wie geschickt Sweyner mit seinen Händen immer war, und wie gekonnt er das beschränkte Material einsetzte, das ihnen auf Hydros zur Verfügung stand. Und Volkin, der Schiffszimmerer, der zähe, hart schuftende Mann. Und Damis. Dana.

»Wer sonst noch?«

»Laß mich nachdenken. Irgendwo muß ich die Liste haben. Aber laß mich nachdenken. Die Hains? Nein, die sind mit Yanez auf der Three Moons. Aber Freddo Wong war mit an Bord und sein Weib — wie hieß die doch noch, verdammtnochmal…?«

»Lucia«, sagte Lis.

»Stimmt, Lucia. Freddo und Lucia Wong, und dann noch dieses Mädchen mit den hübschen Titten. Richtig, Berylda. Und der kleine Bruder von Martin Yanez, glaub ich. Ja. Doch, ja.«

»Jose«, sagte jemand.

»Genau, Jose.«

Lawler spürte einen wütenden Schmerz. Dieser hochgescheite lernbegierige Junge. Der eines Tages der neue Doktor sein und die Last des Heilers von Lawlers Schultern nehmen sollte.

Dann hörte er eine Stimme: »Also, das macht zehn. Aber wieviel waren die denn? Vierzehn an Bord? Also fehlen uns noch vier Namen.«

Von allen Seiten kamen Namensvorschläge. Es war wirklich nicht leicht, sich zu erinnern, wer auf welchem Schiff gesegelt war, so viele Wochen nach dem Aufbruch von Sorve. Aber es mußten vierzehn Menschen an Bord der Golden Sun in See gestochen sein, darüber war man sich allgemein einig.

Vierzehn Tote, dachte Lawler. Die Größe dieses Verlusts ließ ihn schwindeln. Er fühlte den Schock bis in die Knochen. Er kam sich persönlich beraubt vor. Diese Menschen hatten teilgehabt an seinem Leben, an seiner Vergangenheit. Und sollten fort sein? Dahin, verschwunden, ohne ein Wort der Warnung, für immer? Fast ein Fünftel der Humanbevölkerung — auf einen Schlag ausgelöscht. Auf Sorve hatten sie in einem bösen Jahr vielleicht zwei oder drei Todesfälle. In den meisten Jahren nur einen. Und nun vierzehn Tote auf einmal. Das Verschwinden der Golden Sun hatte ein tiefes, schmerzliches Loch in ihre Gemeinschaft gerissen. Aber war denn diese Gemeinschaft nicht bereits zerstört? Würde es ihnen auf Grayvard etwas wieder aufzubauen gelingen, was sie gezwungenermaßen auf Sorve hatten zurücklassen müssen?

Ach, Jsoc. Und die Sawtelles. Die Sweyners. Die Wongs. Volkin. Berylda Cray. Und vier weitere.

Lawler verließ die anderen, die auf der Brücke immer weiter diskutierten, und ging unter Deck. Kaum war er in seiner Kabine, griff er nach der Taubkrautflasche. Acht Tropfen, neun, zehn, elf… ach, gönnen wir uns diesmal ein Dutzend? Ja. Ja, ein Dutzend. Und zum Teufel! Die doppelte Dosis… das würde allem den schmerzenden Stachel nehmen.

»Val?« Die Stimme Sundiras an seiner Kabinentür. »Ist alles okay?«

Er ließ sie eintreten. Ihre Augen streiften das Glas in seiner Hand und wanderten dann wieder zu seinem Gesicht zurück.

»Himmel, du leidest ja wirklich drunter.«

»Als hätte man mir ein paar Finger abgehackt.«

»Haben sie dir dermaßen viel bedeutet?«

»Einige schon.« Das Taubkrautelixier begann zu wirken. Er spürte, wie der scharfe Schmerz dumpfer wurde. Seine eigene Stimme kam ihm pelzig vor. »Die anderen waren nur Menschen, die ich kannte, Teil des Insel-Ambiente, gute altvertraute Gesichter. Einer war mein Schüler.«

»Jose Yanez.«

»Du hast ihn gekannt?«

Sie lächelte traurig. »Ein bezaubernder Junge. Einmal, ich war schwimmen, und er kam auch ins Wasser, und dann redeten wir ein bißchen. Meistens über dich. Er hat dich richtig angebetet, Val. Mehr noch sogar als seinen Bruder, den Seefahrer.« Dann flog ein Schatten über Sundiras Gesicht. »Ich mach die Sache für dich nur schlimmer, nicht besser.«

»Nein — nicht wirklich.«

Inzwischen war seine Zunge schwer und dick geworden, und er begriff, er hatte sich eine zu hohe Dosis verabreicht.

Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und stellte es beiseite.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte, ich könnte dir helfen.«

Dann komm doch, näher, ganz nah, wollte er sagen, und konnte es irgendwie nicht.

Aber sie schien ihn auch so verstanden zu haben.


* * *

Zwei Tage lang ankerte die Flottille mitten im Nirgendwo, während Delagard Dag Tharp im Nacken hing, damit der sämtliche Funkfrequenzen durchcheckte, um die Golden Sun zu orten. Er bekam Funkstationen auf einem halben Dutzend Inseln herein, er fing die Funksignale eines Schiffes namens Empress of Sunrise auf, das im Fährverkehr im Azur-Meer verkehrte, und eine schwimmende Bergwerksstation weit droben im Nordosten, deren Existenz alle überraschte und für Delagard nicht gerade eine erfreuliche Nachricht war. Doch von der Golden Sun fing Tharp nicht das kleinste Flüstern auf.

»Also gut«, sagte Delagard schließlich. »Wenn sie noch auf Kiel sind, finden sie vielleicht ’ne Möglichkeit, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Wenn nicht — dann können sie eben nicht. Nur wir können hier nicht ewig weiter herumhocken.«

»Werden wir je erfahren, was mit ihnen passiert ist?« fragte Pilya Braun.

»Wahrscheinlich nicht«, antwortete ihr Lawler. »Der Ozean ist groß, und er steckt voller Gefahren, von denen wir nicht die geringste Ahnung haben.«

»Aber wenn wir wüßten, was sie erwischt hat«, sagte Dann Henders, »hätten wir ’ne bessere Chance, uns selber zu schützen, wenn das nochmal kommt und uns holen will.«

»Wenn wir auf das stoßen, was immer sie vielleicht erwischt hat, und es will uns erwischen«, sagte Lawler, »dann werden wir eventuell erkennen, was es war. Nicht vorher.«

»Dann laßt uns bloß hoffen, daß uns diese Erkenntnis erspart bleibt!«

7

An einem Tag voll dichten Nebels und heftig wogender See tauchten unbekannte trapezoidförmige Geschöpfe mit dicken, zackenbewehrten grünen Rückenpanzern längsseits des Schiffes auf und begleiteten es eine Weile. Sie sahen aus wie schwimmende Vorratstonnen, die sich Schwimmflossen zugelegt hatten.

Die Panzerköpfe waren flach und breit, mit zugespitzten Schnauzen, und als Augen hatten sie nackte kleine weiße Schlitze. Ihre ausladenden Unterkiefer sahen erbarmungslos aus. Lawler stand an der Reling und beobachtete die Erscheinung, als Onyos Felk zu ihm trat und sagte: »Kann ich dich mal für ’ne Minute sprechen, Doc?«

Felk entstammte wie Lawler einer Ersten Familie, doch diese Tatsache galt nicht mehr viel, seit die Gemeinde in See gestochen war. Der Kartograph war so um die Mitte fünfzig, ein mürrischer, kurzbeiniger, schwerknochiger kleiner Mann, der nie ein Weib genommen hatte. Angeblich wußte er eine Menge über hydranische Planetographie und die entsprechende Ozeanographie, und wenn es im Verlauf der Jahre anders gekommen wäre, hätte sehr leicht Felk es sein können, und nicht Nid Delagard, der die Sorve-Werft kontrollierte, aber die Felks waren berüchtigt für ihr Pech und — für ihre Fehlentscheidungen.

»Geht es dir nicht gut, Onyos?« fragte Lawler.

»Wenn du erst mal hörst, was ich dir zu sagen habe, wird’s dir auch nicht mehr so gut gehen. Komm mit runter.«

Aus seinem Abteil im Vorschiff brachte er eine kleine grünliche Kugel an, einen Meeresglobus, allerdings keineswegs vergleichbar mit dem raffinierten Mechanowerk, das Delagard gehörte. Dieses Planetolabium mußte mittels eines kleinen hölzernen Schlüssels aufgezogen werden, und bei jeder Neubenutzung mußten die Positionen der Inseln von Hand neu gesetzt werden; also schlichtweg ein Jux im Vergleich zu Delagards phantastischem Apparat. Felk benötigte ein paar Minuten, sein Gerät zu justieren, dann hielt er es Lawler hin und sagte: »Da. Schau mal da genau hin, hierher. Das ist Sorve, da. Und das ist Grayvard, da ganz weit droben im Nordwesten. Und das ist der Kurs, den wir gesegelt sind…«

Die Beschriftung war eng, verblichen und schwer zu entziffern. Die Inseln lagen dermaßen eng beisammen, daß es Lawler schwerfiel, klar zu begreifen, was er da sah, auch sobald er die Bezeichnungen entziffert hatte. Aber er folgte dem Zeigefinger von Felk westwärts um den Globus, und während der Kartograph ihre bisherige Reise nachvollzog, vermochte Lawler mehr und mehr die Symbole auf der Karte umzusetzen in einen begreifbaren Linienkurs ihrer bisherigen Reise.

»Hier befanden wir uns, als das Netzzeug Struvin gepackt hat. Hier waren wir, als wir die Gillies beim Bau dieser neuen Insel beobachtet haben. Und hier traten wie in das Gelbe Meer ein, und hier, als uns die Rammhörner zum ersten Mal angriffen. Die große Flutwelle kam da über uns und brachte uns leicht vom Kurs ab, so. Kannst du mir folgen, Doktor?«

»Sprich weiter!«

»Hier ist die Grüne See. Und gleich dahinter kommt die Stelle mit den Korallen. Und hier kamen wir an diesen zwei Inseln vorbei, der von den Gillies und der, von der Delagard behauptet hat, daß es Thetopal ist. Und dann kam dieser dreitägige Orkan, der die Flotte zerstreute. Die Hexenfisch-Schwärme waren hier drüben. Und hier ging uns die Golden Sun verloren.« Felks plumper Finger war nun weit um die Rundung des kleinen Globus vorgestoßen. »Fällt dir nicht allmählich einiges Merkwürdige auf, Doc?«

»Zeig mir doch noch mal, wo Grayvard liegt.«

»Hier. Hier oben. Nordwestlich von Sorve.«

»Verstehe ich das nicht richtig, oder gibt es da einen nautischen Grund wegen der Meeresströmungen, daß wir genau westwärts den Äquator entlang segeln, anstatt auf einem nördlich diagonalen nach Grayvard?«

»Wir segeln nicht strikt westlich«, sagte Felk.

Lawler runzelte die Stirn. »Nicht?«

»Diese Karte ist sehr kle in, und man sieht die Breitenlinien nur schwer, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Aber tatsächlich fahren wir nicht nur nicht exakt nach Westen, sondern nach Südwest.«

»Also — weg von Grayvard?«

»Ja, weg von Grayvard.«

»Und du bist dir da absolut sicher?«

Für einen Moment zeigte Felks Gesicht den Ausdruck unterdrückten Ärgers, aber nur ganz flüchtig, und seine Augen funkelten. Mit mühsam gebändigter Stimme sagte er: »Nehmen wir nur mal diskussionshalber an, daß ich fähig bin, eine solche Seekarte zu lesen, Doc, ja? Und daß ich am Morgen, wenn ich aufstehe und sehe, wo die Sonne aufgeht, mich noch erinnern kann, wo sie am Tag zuvor aufging, und den Tag davor und so fort, und wo sie vor einer Woche aufging, und daß ich mir daraus wenigstens ungefähr ableiten kann, ob wir nach Nordwest oder nach Südwest segeln, klar?«

»Und wir sind diese ganze Zeit nach Südwesten gefahren?«

»Nein. Wir fuhren auf korrektem Nordwestkurs los. Aber irgendwo bei dem Korallenmeer schwenkten wir wieder in tropische Gewässer und fuhren dann strikt westwärts, genau am Äquator entlang, und kamen Tag für Tag weiter vom Kurs ab. Ich wußte, daß was nicht stimmte, aber ich begriff erst, wie faul die Sache war, als wir an diesen Inseln vorbeikamen. Denn das war ganz und gar nicht Thetopal. Nicht bloß, daß das echte Thetopal in diesem Moment in gemäßigten Gewässern droben Richtung Grayvard treibt, sondern es ist außerdem eine runde Insel. Was wir sahen, war sichelförmig, erinnerst du dich? Tatsächlich sind wir an der Insel Hygala vorbeigefahren. Da ist sie, da unten.«

»Praktisch auf dem Äquator.«

»Genau. Wir sollten aber weit nordwärts von Hygala gewesen sein, wenn wir auf Kurs nach Grayvard gewesen wären. Tatsächlich aber stand Hygala nördlich von uns. Und als Delagard unsere Position neu berechnete, als der Sturm die Flotte zerstreut hatte, brachte er uns auf einen noch südlicheren Kurs. Wir sind jetzt ein gutes Stück unterhalb des Äquators. Das kannst du aus der Stellung des Kreuzes ablesen, wenn du was vom nächtlichen Sternenhimmel verstehst. Aber ich nehme an, du hast wohl nicht drauf geachtet. Aber seit wenigstens einer Woche fahren wir jetzt exakt im Winkel von neunzig Grad zu unserem angelegten Kurs. Möchtest du sehen, wohin wir jetzt fahren? Oder hast du’s dir bereits selbst ausgerechnet?«

»Sag es mir.«

Felk drehte die Karte. »Da — dorthin führt uns unser jetziger Kurs. Du siehst da nirgendwo Inseln, oder?«

»Wir fahren — in das Leere Meer?«

»Wir sind bereits drin. Seit unserem Aufbruch waren Inseln spärlich. Wir haben nur zwei gesichtet, zwei und eine halbe auf der ganzen Fahrt, und seit Hygala gar keine mehr. Und es werden jetzt auch keine mehr kommen. Das Leere Meer heißt deswegen so, weil die Strömungen keine Inseln hierher tragen. Wären wir noch auf Kurs nach Grayyard, dann lägen wir jetzt hier droben nördlich des Äquators, und wir müßten inzwischen an vier verschiedenen Inseln vorbeigekommen sein. An Barinan, Sivalak, Muril und Thetopal. Eins, zwei, drei, vier. Während hier drunten jenseits von Hygala gar nichts ist.«

Lawler starrte auf den Quadranten, den Felk vor ihn gedreht hatte. Er sah die kleine Sichelgestalt, die Hygala darstellte; aber westlich und südlich davon sah er nur Nichts und Leere, Leere und noch mehr Leere, und dann — weit um die Krümmung des kleinen Globus herum — entdeckte er den dunklen Fleck, der als ›Geist über den Wassern‹ bekannt war.

»Du denkst, Delagard hat bei der Berechnung unseres Kurses einen Fehler gemacht?«

»Auf so eine Idee würde ich erst ganz zuletzt kommen. Die Delagards befahren mit ihren Schiffen diesen Planeten, seit er noch Strafkolonie war. Das weißt du doch. Der würde ebensowenig den Fehler machen und uns auf Südwestkurs setzen, wenn er nach Nordwest will, wie du bei der Unterschrift Lawler falsch buchstabieren würdest.«

Lawler legte die Daumen an die Schläfen und drückte lange fest zu.

»Aber warum sollte Nid uns in die Leere See bringen wollen, um Himmels willen?«

»Ich hab mir gedacht, daß du ihn genau das vielleicht mal fragst.«

»Ich?«

»Manchmal sieht es so aus, wie wenn er fast ein biß chen Achtung vor dir hätte«, sagte Felk: »Möglich, daß er dir sogar ’ne ehrliche Antwort gibt — oder auch nicht. Aber mir würde er verdammt noch mal gar nichts sagen. Klar? Das ist doch wohl klar, Doc?«


* * *

Kinverson war mit seinen Haken und Taljen für den täglichen Fischzug beschäftigt, als Lawler ihn am selben Morgen wenig später aufsuchte. Mürrisch blickte er auf und sah Lawler mit jener absoluten Gleichgültigkeit an, die der von einer Insel, einem Entermesser, einem Gillie erwartet hätte. Dann wandte er sich wieder seiner Tätigkeit zu.

»Also sind wir vom Kurs ab. Das hab ich gewußt. Was macht mir das schon aus, Doc?«

»Du hast es gewußt?«

»Das sieht mir hier nicht nach nördlichen Gewässern aus.«

»Du hast die ganze Zeit gewußt, daß wir auf die Leere See zusegeln? Und du hast keinem ein Wort davon gesagt?«

»Ich weiß, daß wir vom Kurs ab sind, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, daß ich weiß, wir fahren ins Leere Meer.«

»Felk sagt es. Er hat es mir auf seiner Karte gezeigt.«

»Aber Felk hat nicht immer recht, Doc.«

»Angenommen diesmal schon?«

»Nun, dann steuern wir auf die Leere zu«, sagte Kinverson ruhig. »Na und?«

»Statt nach Grayvard.«

»Na und?« wiederholte Kinverson. Er nahm einen Angelhaken, betrachtete ihn, nahm ihn zwischen die Zähne und bog ihn anders zurecht.

Das Gespräch führte zu nichts. »Macht es dir denn überhaupt nichts aus, daß wir in die falsche Richtung fahren?«

»Nein. Wieso, verdammt, sollte mir das was ausmachen? Eine stinkige Insel ist genau wie die andere. Mir ist es schietegal, wo wir am Ende ankommen und siedeln.«

»Aber es gibt keine Inseln in der Leeren See, Gabe!«

»Dann leben wir halt weiter auf dem Schiff. Was macht das schon? Ich kann im Leeren Meer prima leben. Es ist nicht leer von Fischen, Doc, oder? Viele soll’s ja nicht grad geben, aber wenn es dort Wasser gibt, dann gibt es immerhin einige. Und wenn es an einem Ort Fische gibt, dann kann ich dort leben. Ich hätte in meinem alten kleinen Kahn leben und überleben können, wenn es nötig geworden wäre.«

»Und wieso bist du nicht in deinem alten kleinen Kahn weiterhin geblieben?« fragte Lawler, der allmählich ärgerlich wurde.

»Weil ich zufällig grad bei euch auf Sorve lebte. Aber ich könnte genauso leicht auch in meinem Boot überleben. Meinst du wirklich, eure Inseln sind so was verdammt Wundervolles. Doc? Ihr latscht auf harten Holzbrettern herum, die ganze Zeit, und die ganze Zeit freßt ihr Tang und Fisch, und es ist zu heiß, wenn die Sonne scheint, und zu kalt, wenn es regnet, und das nennt ihr Leben. Jedenfalls ist das die Art Leben, die wir haben. Nicht besonders viel. Deshalb ist es mir ziemlich egal, ob das auf Sorve oder Salimil stattfindet, oder in einer Kabine auf der Queen of Hydros — oder in einem verdammten kleinen Ruderboot. Ich will bloß was zu essen haben, wenn ich hungrig bin, und ich will ficken, wenn ich fickerig bin, und am Leben bleiben, bis ich sterbe, klar?«

Es war vielleicht die längste Rede, die Kinverson je von sich gegeben hatte. Er wirkte über sich selbst ganz erstaunt, daß er soviel gesagt hatte. Als er fertig war, starrte er Lawler einen Augenblick lang in sichtlichem Ärger und verwirrt kalt an. Dann wandte er sich erneut seinem Fanggerät zu.

Lawler fragte: »Es stört dich also gar nicht, daß unser großer Führer uns direkt ins Unbekannte führt und daß er sich nicht mal die Mühe macht, uns davon zu unterrichten, was er damit bezweckt?«

»Nein. Das stört mich gar nicht. Mich stört eigentlich kaum was — außer Leuten, die mir auf den Nerv gehen. Ich lebe jeden Tag und von Tag zu Tag. Laß mich in Frieden, Doc. Ich habe zu tun. Okay?«


* * *

Dag Tharp sagte: »Willst du jetzt schon deine Anrufe machen? Du bist ’ne Stunde zu früh dran, Doc, weißt du?«

»Möglich. Macht das was?«

»Wie du willst.« Tharps Hände glitten über die Schaltscheiben und Knöpfe. »Wenn du so früh anrufen willst, dann ist es mir recht. Aber gib nicht mir die Schuld, wenn da draußen keiner auf dich vorbereitet ist.«

»Hol mir zuerst mal Bamber Cadrell rein.«

»Sonst rufst du aber immer die Star zuerst.«

»Weiß ich. Ruf mir heute Cadrell zuerst.«

Tharp blickte verwirrt auf. »Hast du ’nen Zitteraal im Arsch, heut morgen, Doc?«

»Wenn du hörst, was ich Cadrell zu sagen hab, dann wirst du schon merken, was mich stört. Und jetzt ruf ihn endlich an, ja?«

»Schon gut. Gleich. Sofort.« Von der Funkkonsole ertönte Schnarren und Klicken. »Dieser verflixte Nebel«, brummte Tharp. »Es issen Wunder, daß mir nicht der ganze Kram hier verrottet. Meldet euch, Goddess! Meldet euch, Goddess! Hier ruft die Queen. Goddess? Goddess, meldet euch.«

»Queen, hier die Goddess«, ertönte eine Knabenstimme, quäkend und hell. Auf der Sorve Goddess war Bard, Nicko Thalheims Sohn, der Funker.

»Sag ihm, ich will mit Cadrell sprechen«, erklärte Lawler.

Tharp sprach ins Mikrophon. Die blecherne Antwort konnte Lawler nicht genau verstehen.

»Wie war das?«

»Er sagt, Bamber ist am Ruder. Seine Wache läuft noch zwei Stunden.«

»Sag ihm, er soll Bamber sofort vom Ruder ans Horn holen. Es duldet keinen Aufschub.«

Weiteres Spucken und Klicken. Anscheinend machte der Junge Einwände. Tharp wiederholte Lawlers Verlangen, und danach herrschte auf der anderen Seite eine Minute lang Stille.

Schließlich war die Stimme von Bamber Cadrell zu hören: »Was ist denn bloß so verdammt wichtig, Doc?«

»Schick den Jungen weg, dann sag ich’s dir.«

»Er ist mein Funker.«

»Schön und gut, aber ich will nicht, daß er hört, was ich dir sagen werde.«

»Probleme, was?«

»Ist der Kleine noch da?«

»Ich hab ihn rausgeschickt. Was ist los, Doc?«

»Wir liegen neunzig Grad vom Kurs ab, in äquatorialen Gewässern und fahren nach Süd-Südwest. Delagard steuert uns direkt ins Leere Meer.« Neben Lawler hatte Dag mitgehört und holte jetzt scharf und verblüfft Luft. »Hast du das gemerkt, Bamber?«

Und wieder ein langes Schweigen von der Sorve Goddess.

»Selbstverständlich hab ich das, Doc. Für was für ’nen miserablen Nautiker hältst du mich denn?«

»Aber — in die Leere See, Bamber!«

»Richtig. Ich hab dich gut gehört.«

»Aber wir sollten doch nach Grayvard segeln!«

»Auch das ist mir bekannt, Doc.«

»Und für dich ist das ganz in Ordnung, daß wir in die falsche Richtung fahren?«

»Ich nehme an, Delagard weiß schon, was er tut.«

»Du nimmst es an?«

»Es sind seine Schiffe. Ich arbeite nur für ihn. Als wir nach Süden ausscherten, nahm ich an, es gibt im Norden irgendwelchen Ärger, vielleicht einen Sturm, irgendwas Übles, das er vermeiden möchte. Er besitzt sämtliche brauchbaren Seekarten, Doc. Wir folgen einfach seiner Führung.«

»Mitten in die Leere See hinein?«

»Delagard ist nicht verrückt«, sagte Cadrell. »Über kurz oder lang werden wir wieder nordwärts abdrehen. Daran zweifle ich gar nicht.«

»Und der Gedanke, ihn zu fragen, was der plötzliche Kurswechsel soll, der ist dir nie gekommen?«

»Ich sag dir doch, ich nehme an, das hatte einen guten Grund. Ich nehme an, er weiß schon, was er tut.«

»Du nimmst verdammt viel einfach nur so an«, sagte Lawler.


* * *

Tharp schaute von seiner Funkkonsole auf. Die gewöhnlich tief in runzligen Fleischfalten versteckten Augen funkelten groß vor Verblüffung.

»Das Leere Meer?«

»So sieht es aus.«

»Aber das ist doch Wahnsinn!«

»Ja, nicht wahr? Aber tu bitte so, als wüßtest du von nichts, Dag. Für kurze Zeit, ja? Und jetzt ruf mir Martin Yanez.«

»Nicht Stayvol? Den rufst du doch sonst immer zuerst.«

»Yanez«, sagte Lawler fest und kämpfte gegen die Erinnerung an Joses Gesicht an, das lernbegierig zu ihm heraufgelächelt hatte.

Hantierungen an Knöpfen und Hebelchen, und dann drang die quäkende Stimme des Funkers der Three Moons durch die Statik — es war eins der Hain-Mädchen, Lawler war nicht sicher, welches —, dann, einen Moment später, kam die tiefe ruhige Stimme von Martin Yanez: »Nichts zu berichten, Doc. Gesundheitlich ist hier alles in Ordnung.«

»Das ist kein beruflicher Routineanruf«, sagte Lawler.

»Was dann? Habt ihr was von der Golden Sun gehört?« Auf einmal war Erregung in der Stimme zu hören, Hoffnung.

»Nichts, leider«, sagte Lawler ruhig.

»Ach.«

»Ich wollte rausfinden, was du von unserer Kursänderung hältst.«

»Was für eine Kursänderung meinst du?«

»Komm mir nicht mit solchem Scheiß, Martin, ich bitte dich!«

»Seit wann macht sich der Doktor Sorgen um Navigationsprobleme?«

»Ich hab gesagt, komm mir nicht mit so ’nem Scheiß!«

»Bist du jetzt der Navigator, Doc?«

»Ich bin ein davon Betroffener. Das sind wir alle. Und es handelt sich unter anderem auch um mein Leben. Also, was geht hier vor, Martin? Oder hat Delagard dich dermaßen fest im Genick, daß du es mir nicht sagen willst?«

»Du klingst schrecklich aufgeregt«, sagte Yanez. »Wir haben einen Abstecher nach Süden gemacht. Na und?«

»Und warum?«

»Das solltest du besser Delagard fragen.«

»Hast du ihn gefragt?«

»Das brauche ich nicht. Ich folge einfach seinen Anweisungen und seiner Führung. Er segelt nach Süden — ich segle nach Süden.«

»Bamber hat so ziemlich das gleiche gesagt. Seid ihr Kerle denn allesamt bloß seine Marionetten und laßt euch von ihm herumschubsen, wie es ihm paßt? Himmel, Martin, wieso steuern wir denn nicht mehr Richtung Grayvard?«

»Ich hab dir schon gesagt, frag Delagard.«

»Das hab ich auch vor. Aber vorher wollte ich herausfinden, was die übrigen Schiffskapitäne davon halten, daß wir ins Leere Meer fahren.«

»Ach, fahren wir dorthin?« Yanez‹ Stimme war so ruhig wie immer. »Ich dachte, wir machen nur einen kurzen Abstecher nach Süden, und Delagard will aus irgendeinem Grund nicht darüber sprechen. Soweit ich weiß, ist unser Fernziel immer noch Grayvard.«

»Und das glaubst du wirklich?«

»Wenn ich dir sage, es ist so, würdest du mir glauben?«

»Ich möchte schon.«

»Es ist die Wahrheit, Doc. So wahr ich meinen Bruder geliebt habe, es ist bei Gott die Wahrheit. Delagard hat kein Wort über eine Kursänderung gesagt, und ich hab nicht gefragt, und auch Bamber und Poilin nicht. Und ich nehme an, die Schwestern haben noch nicht mal bemerkt, daß wir vom Kurs abgewichen sind.«

»Aber du hast mit Cadrell und Stayvol darüber gesprochen?«

»Aber sicher.«

»Stayvol ist mit Delagard ziemlich dick befreundet. Dem trau ich nicht. Was hat er gesagt?«

»Er steht genauso vor einem Rätsel wie wir anderen.«

»Und du glaubst, das stimmt?«

»Ja. Aber was macht das schon für einen Unterschied? Wir alle folgen Delagards Führung. Wenn du wissen willst, was los ist, dann frag ihn selbst. Und wenn er es dir sagt, dann informiere mich, Doc!«

»Versprochen.«


* * *

»Soll ich Stayvol jetzt auch noch anrufen?« fragte Dag Tharp dann.

»Nein. Ich glaube, den überspringe ich vorläufig.«

Tharp zerrte an den Wammen unter seinem Kinn. »Heilige Scheiße!« sagte er. »Ach du allerheiligste Scheiße! Meinst du, es ist ’ne Verschwörung? Daß die ganzen Käptns da was Linkes vorhaben und keinem was sagen?«

»Nein. Ich glaube Martin Yanez. Was immer da vor sich geht, Delagard wird vielleicht Stayvol eingeweiht haben, aber die anderen beiden höchstwahrscheinlich nicht.«

»Und Damis Sawtelle?«

»Was ist mit ihm?«

»Angenommen, er hat sich mit Delagard über Funk in Verbindung gesetzt, als er den Kurswechsel bemerkt hat, und hat ihn gefragt, was das soll, und Delagard hat gesagt, das geht ihn einen feuchten Scheiß was an, und Damis ist so sauer geworden, daß er mitten in der Nacht einfach gewendet hat und sein Schiff jetzt allein nach Grayvard führen will? Damis hat ’n ziemlich hitziges Temperament, wie wir wissen. Und da sitzt er jetzt, inzwischen tausend Kilometer nördlich von uns, und wenn wir Ortungsrufe nach ihm aussenden, beachtet er sie nicht, weil er sich von der Flotte abgesetzt hat.«

»Eine nette Theorie. Aber kann Delagard mit deiner Radiostation hier umgehen?«

»Nein«, sagte Tharp. »Nicht daß ich wüßte.«

»Also, wie soll dann Damis mit ihm gesprochen haben, wenn du nicht die Verbindung hergestellt hast?«

»Das issen Argument.«

»Sawtelle ist nicht einfach so sang- und klanglos aus eigenen Stücken abgehauen. Darauf möchte ich wetten, Dag. Nein, die Golden Sun liegt auf dem Grund des Meeres, mitsamt Damis Sawtelle und allen, die sonst noch an Bord waren. Irgendein Geschöpf, das in diesem Meer da lebt, kam in der Nacht heran und hat sie schnell und leise versenkt; irgendwas sehr Schlaues, Trickreiches, und wenn wir Glück haben, finden wir nie heraus, was es war. Es hat keinen Zweck, sich jetzt Gedanken über die Golden Sun zu machen. Was wir aber dringend herausfinden müssen, ist, wieso wir südwärts, anstatt nach Norden fahren.«

»Wirst du mit Delagard reden, Doc?«

»Ja, ich glaube, das sollte ich wohl«, antwortete Lawler.

8

Delagard hatte gerade seine Wache beendet. Er wirkte müde. Die massigen Schultern waren nach vorn gesackt, der Kopf hing müde auf dem Stiernacken. Als er sich anschickte, den Niedergang zu seinem Quartier hinabzusteigen, rief Lawler ihm zu, er solle warten.

»Was gibt’s denn, Doc?«

»Könnten wir über was reden?«

Delagard senkte kurz die Lider. »Grad jetzt gleich?«

»Ich denk schon, ja.«

»Also schön, dann komm mit runter zu mir.«

Delagards Kabine war mehr als doppelt so groß wie die Lawlers, aber vollgestopft mit Bergen achtlos weggelegter Kleidung, leerer Branntweinflaschen, allem möglichen Schiffszubehör, sogar einigen wenigen Büchern. Bücher waren auf Hydros eine derartig große Seltenheit, daß Lawler mit Bestürzung reagierte, als er sie so achtlos umherliegen sah.

»Willst du was trinken?« fragte Delagard.

»Nicht grad jetzt schon, danke. Aber laß dich von mir nicht stören.« Dann zauderte Lawler doch ein wenig. »Nid, es ist da ein kleines Problem aufgetaucht. Wir scheinen da irgendwie ein wenig vom Kurs abgekommen zu sein.«

»Ach, sind wir?« Es klang nicht überrascht.

»Wie es scheint, befinden wir uns auf der falschen Seite des Äquators und fahren nach Süd-Südwest, anstatt nach Nord-Nordwest. Und das ist eine ziemlich beträchtliche Abweichung vom festgelegten Plan.«

»So weit vom Kurs ab?« sagte Delagard in gespieltem Erstaunen, aber ohne jede Leichtigkeit. »In die völlig falsche Richtung, wie?« Er spielte mit seinem Schnapsbecher, massierte sich das rechte Schlüsselbein, als habe er da Schmerzen und sortierte ein paar Stücke in dem wirren Durcheinander auf dem Tisch um. »Das ist ein verdammt dicker Navigationsfehler, wenn es wahr ist. Da muß jemand heimlich ins Kompaßhaus geschlichen und den Kompaß glatt absichtlich umgedreht haben, um uns zu täuschen. Aber bist du dir deiner Sache da ganz sicher, Doc?«

»Spiel mir nicht den Hampelmann vor. Dafür ist es zu spät. Was hast du vor, Nid?«

»Du verstehst einen Dreck von Hochseenavigation. Wie willst du also unterscheiden können, in welche Richtung wir segeln?«

»Ich hab mich bei ein paar Experten kundig gemacht.«

»Aha. Onyos Felk? Bei dem verblödeten alten Kacker?«

»Ja, ich hab mit ihm gesprochen. Und mit anderen. Onyos ist nicht immer so völlig zuverlässig, da geb ich dir recht. Aber die anderen sind es. Das kannst du mir glauben.«

Delagard starrte ihn mit einem mordlüsternem Blick an, die Augen zu Schlitzen verkniffen, die Kiefermuskeln verspannt. Dann beruhigte er sich, trank einen Schluck und dann den ganzen Rest aus seinem Becher, und dann versank er in nachdenkliches Schweigen.

»Also schön«, sagte er schließlich. »Ich will dich einweihen. Felk hat ausnahmsweise mal recht. Wir fahren nicht nach Grayvard.«

Die schnodderige Selbstsicherheit, mit der er das sagte, wirkte auf Lawler wie ein plötzlicher Hieb ins Zwerchfell.

»Heiliger Himmel, Nid! Warum denn nicht?«

»Weil sie uns in Grayvard nicht haben wollen. Von Anfang nicht haben wollten. Sie haben sich mit der gleichen Scheiße rausgeredet wie alle die anderen Inseln, mit denen ich Kontakt aufgenommen habe, daß sie möglicherweise ein Dutzend Flüchtlinge aufnehmen könnten, allerhöchstens, aber nicht unser gesamtes Kontingent. Ich hab alles in Bewegung gesetzt und sämtliche Fäden gezogen. Was ich nur konnte. Aber die sind nicht von ihrer Entscheidung abgegangen. Und damit saßen wir mit unserm nackten Arsch in der Kälte und hatten keinen Ort, an den wir uns retten können.«

»Du hast uns also schon seit Beginn der Fahrt belogen? Hast die ganze Zeit geplant gehabt, uns ins Leere Meer zu bringen? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Und wozu hierher, von allen gottverlassenen Weltgegenden?« Lawler schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast wirklich verdammt viel Chuzpe, Nid!«

»Ich hab euch nicht alle angelogen. Ich hab dem Gospo Struvin die Wahrheit gesagt. Und Father Quillan.«

»Gospo, das versteh ich ja noch. Sozusagen. Der war dein Topkapitän. Aber wo kommt Quillan da ins Spiel?«

»Ooch, ich sprech mit ihm über viele Dinge.«

»Bist du zum Katholizismus konvertiert? Und der ist dein Beichtvater?«

»Er ist mein Freund. Er steckt voll von interessanten Ideen.«

»Ja, das glaub ich gern. Und was für eine besonders interessante Idee hat der fromme Vater Quillan bezüglich unserer Kursänderung geäußert?« Lawler hatte ein Gefühl, als träume er das Ganze nur. »Hat er dir etwa versprochen, daß er durch machtvolles Beten und heilige Beharrlichkeit ein Wunder für uns wirken kann? Hat er dir angeboten, dir im Leeren Meer irgendeine hübsche unbewohnte Insel hervorzuzaubern, auf der wir uns dann vielleicht niederlassen könnten?«

»Er hat mir gesagt, wir sollten uns in Richtung auf die Fläche über den Wassern aufmachen«, erwiderte Delagard gleichmütig.

Wieder ein Hieb, diesmal stärker als zuvor. Lawlers Augen wurden groß. Er nahm selbst einen deftigen Schluck von Delagards Branntwein und wartete, bis sich dessen Wirkung bemerkbar machte. Delagard schaute ihm von der anderen Seite des Tisches her geduldig, aber wachsam an und war womöglich sogar ein wenig amüsiert.

»Die Fläche über den Wassern«, sagte Lawler, als er sich wieder gefestigt genug fühlte, um zu sprechen. »Das hast du doch gesagt… über den Wassern?«

»Genau richtig, Doc.«

»Und wieso, wenn du mir das erklären könntest, findet dieser Father Quillan es eine so gute Idee, daß wir dorthin fahren sollen?«

»Weil er weiß, daß ich schon immer dorthin gehen wollte.«

Lawler rückte. Er fühlte, wie ihn die heitere Gelassenheit der äußersten Verzweiflung überkam. Noch ein Schluck von Delagards Brandy, das erschien ihm jetzt als recht erwünscht. »Ja sicher, Father Quillan glaubt an die Segensträchtigkeit irrationaler Eingebungen. Und da uns ja sowieso keine andere Zuflucht bleibt, kannst du selbstverständlich ebensogut unser ganzes beschissenes verlorenes Häuflein um den halben Globus und an den verrücktesten, fremdartigsten und am weitesten entfernten Ort von Hydros schippern, von dem wir absolut ganz und gar nichts wissen, außer der Tatsache, daß noch nicht mal die Gillies tollkühn genug sind, sich auch nur in die Nähe zu begeben, ja?«

»So ist es.« Delagard ließ den sarkastischen Ton mit einem leisen Lächeln an sich abgleiten.

»Der Father Quillan erteilt wundervollen Rat. Darum war er wohl auch solch ein grandioser Erfolg als Kleriker.«

Mit verwirrender Ruhe sprach Delagard einfach weiter. »Ich habe dich einmal gefragt, ob du dich noch an die Geschichten erinnerst, die Jolly früher immer darüber erzählt hat.«

»Märchen, Seemannsgarn. Ja.«

»Sowas ähnliches hast du damals auch gesagt. Aber du erinnerst dich dran?«

»Also, mal sehen. Jolly behauptete, er habe die ganze Leere See durchquert, ganz allein, und sei dort auf die Fläche gestoßen, die seiner Beschreibung nach eine riesige Insel war, viel, viel größer als irgendeine von den Gillie-Inseln. Ein Ort der Wärme und Üppigkeit, an dem fremdartige hochwachsende Pflanzen Früchte tragen, wo es Teiche mit frischem Wasser gibt und die reich sind an Nahrung.« Lawler sann eine Weile nach und tastete in seiner Erinnerung umher. »Er wäre am liebsten für immer dort geblieben, so angenehm war dieser Ort. Aber eines Tages, als er drauß en war und fischte, blies ihn ein Sturm hinaus aufs offene Meer, er verlor seinen Kompaß, und ich glaube, dann erfaßte ihn auch noch zu alledem die WOGE, und als er sein Boot wieder unter Kontrolle bekam, war er schon halbwegs wieder daheim und hatte keine Möglichkeit mehr, zu der Fläche zurückzukehren. Also fuhr er einfach weiter bis zurück nach Sorve. Und dann hat er sich bemüht, Leute zu finden, die mit ihm zusammen wieder dorthin fahren würden, aber niemand hatte dazu große Lust. Sie haben ihn alle ausgelacht, und keiner hat auch nur ein Quentchen von dem geglaubt, was er berichtete. Und irgendwann ist er dann verrückt geworden. Stimmt das so?«

»Ja«, sagte Delagard. »Im Kern ist das die Geschichte.«

»Es ist eine phantastische Geschichte. Wenn ich zehn Jahre alt wäre, ich würde jetzt fast durchdrehen bei der Vorstellung, daß wir genau dorthin segeln.«

»Das könntest du trotzdem, Doc. Es wird nämlich das eine große Abenteuer in unser aller Leben sein.«

»Ach, wirklich?«

»Als Jolly zurückkam, war ich vierzehn«, sprach Delagard weiter. »Und ich habe genau zugehört, was er uns erzählt hat. Ganz, ganz genau. Vielleicht war er ja verrückt, aber mir kam das nicht so vor, jedenfalls anfangs nicht. Und ich glaubte ihm aufs Wort… Eine ausgedehnte, fruchtbare reiche und unbewohnte Insel… die nur darauf wartete, von uns in Besitz genommen zu werden… und keine stinkigen Gillies weit und breit, die uns in die Quere kommen könnten! Für mich klingt das wie das Paradies. Ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Ein Wunderland. Du möchtest doch auch unsere Gemeinschaft beisammenhalten, ja? Also — warum sollten wir uns dann mit einem eklig engen Fleckchen, das sonst keiner haben will, auf der Insel von irgendwem sonst zufriedengeben und wie Bettler von der mildtätigen Duldung dieser Leute leben? Was für eine bessere Möglichkeit gäbe es denn für mich, unsere Leute zu entschädigen, für den Schaden, den ich ihnen zugefügt habe, als daß ich sie wegbringe, um den Globus herum, damit sie in einem Paradies leben können?«

Lawler starrte ihn sprachlos an.

»Nid, du hast völlig den Verstand verloren!«

»Nein, das glaub ich nicht. Das Land liegt da irgendwo in Reichweite für den, der’s nimmt, und wir können es uns nehmen. Die Gillies sind dermaßen voller abergläubischen Vorstellungen darüber, daß sie da nie hinziehen würden. Na schön, aber wir können es. Und wir können es besiedeln, darauf bauen, es gestalten. Wir können es so gestalten, daß es uns das gibt, was wir am meisten ersehnen.«

»Und was wäre das, das wir am meisten ersehnen?« soufflierte Lawler in einem Gefühl, als hätte er sich leicht von dem Planeten gelöst und in die Luft erhoben und sei darin in die Schwärze des Weltraums geschwebt.

»Macht«, sagte Delagard. »Die Kontrolle. Wir wollen dieses Land beherrschen. Wir haben lang genug auf Hydros gelebt wie klägliche erbarmungswürdige Flüchtige und Asylanten. Es ist höchste Zeit, daß wir das ändern und dafür sorgen, daß die Gillies uns in den Arsch kriechen müssen. Ich möchte dort eine Siedlung aufbauen, die zwanzigmal größer ist als jede existierende Gillie -Insel — ach was, fünfzigmal größer! — und eine richtige Kommune auf die Beine stellen, fünftausend, zehntausend Menschen, und einen Raumflughafen errichten und Handelsbeziehungen zu anderen von Menschen bewohnten Planeten in dieser beschissenen Galaxie, und ich will, daß wir endlich anfangen können, wie richtige Menschen zu leben, anstatt als elende Seegrasfresser auf gut Glück durch den Ozean zu driften, wie wir das seit hundertfünfzig Jahren tun.«

»Und dabei bleibst du so ruhig, deine Stimme klingt so vernünftig…«

»Ach, du denkst, ich bin verrückt?«

»Möglich. Vielleicht auch nicht. Was ich allerdings wirklich glaube, das ist, daß du ein monströser egozentrischer Hundesohn bist. Uns alle als Geiseln zu nehmen, für deine absurde Wunschvorstellung. Du hättest einen Teil von uns auf fünf, sechs verschiedenen Inseln aussteigen lassen können, wenn Grayvard uns nicht alle aufnehmen wollte.«

»Du selbst hast gesagt, daß du das nicht willst. Weißt du nicht mehr?«

»Aber ist das hier besser? Daß du uns hier ins Nichts mitschleppst? Unser aller Leben aufs Spiel setzt, nur weil du einem Märchen nachjagen willst?«

»Doch, es ist besser!«

»Du Mistkerl. Du vernagelter, hirnverbrannter Scheißkerl! Ja, du bist wirklich verrückt!«

»Nein, das bin ich nicht«, sagte Delagard. »Ich habe jahrelang an diesem Plan gearbeitet. Mein halbes Leben lang denke ich darüber nach. Ich hab Jolly immer wieder ausgequetscht, und ich bin vollkommen sicher, daß er diese Reise gemacht hat, wie er behauptete, und daß die Fläche genau das ist, was er darüber sagte. Jahrelang hab ich geplant, eine Expedition dorthin zu entsenden. Gospo wußte Bescheid. Er und ich, wir wollten zusammen dorthin fahren, in fünf Jahren so ungefähr. Und dann boten mir die Gillies den perfekten Anlaß, als sie uns so einfach von Sorve vertrieben; und die anderen Inseln wollten uns nicht alle aufnehmen, also dachte ich mir, jetzt ist der Augenblick, hier ist deine Chance… Ergreif sie, Nid! Und das hab ich getan.«

»Also hattest du das alles schon so vor, als wir aus Sorve aufbrachen.«

»Ja.«

»Und du hast nicht einmal deine Schiffskapitäne davon in Kenntnis gesetzt.«

»Nur Gospo.«

»Und der hielt das für eine superschlaue Idee.«

»Genau«, sagte Delagard. »Er hielt die ganze Zeit zu mir. Und auch Father Quillan steht fest zu mir, seit ich ihn eingeweiht habe. Er gibt mir vollkommen recht.«

»Aber sicher tut er das. Je fremder, desto besser: Je weiter weg von der Zivilisation entfernt er sich verstecken kann, desto lieber ist es ihm. Die Fläche ist für ihn das Gelobte Land. Und wenn wir hinkommen, kann dieser hirnverbrannte Fanatiker in diesem deinem Land voll Milch und Honig seine Kirche aufbauen, und er ist der Hohepriester, Archemandrit, Kardinal, Papst — oder wie er sich sonst zu nennen beliebt — und du baust dir gleichzeitig dein Imperium auf, wie, Nid? Und alle sind glücklich und zufrieden.«

»Ja. Du hast es genau erfaßt.«

»Also ist alles nach Plan und fest im Griff. In deinem. Und da sind wir jetzt, am Rand des Leeren Meeres, und wir fahren von Minute zu Minute immer tiefer hinein.«

»Es paßt dir nicht, Doc? Willst du das Schiff verlassen? Schön, ich hindere dich nicht. Geh. Wir fahren weiter, ob es dir paßt oder nicht.«

»Und deine Kapitäne? Glaubst du wirklich, die bleiben bei dir, sobald sie das wahre Ziel kennen?«

»Wetten, daß? Sie fahren, wohin ich es ihnen befehle. Das haben sie immer getan, und das werden sie weiter so machen. Möglich, daß die Schwestern ausscheren, wenn sie irgendwie rausfinden, wohin es geht, aber das kann mir nur recht sein. Wozu taugen sie schließlich schon, diese verrückten Schnepfen? Sie würden uns sowieso nur Schwierigkeiten machen, wenn wir am Zie l sind. Aber Stayvol, der segelt überall hin, wohin ich ihn beordere. Und Bamber und Martin ebenfalls. Und der arme Arsch Damis hätte das auch gemacht. Direkt weiter bis zum Ziel, und keine Fragen. Und wir werden hinkommen, und wir werden die verdammt größte und reichste Stadt bauen, die Hydros je gesehen hat, und werden dort in Glück und Wohlstand auf ewig leben. Ich garantiere es dir, es wird so sein! Magst du noch einen Schluck, Doc? Aber ja doch, ich glaub, du hast ihn nötig. Nimm dir einen steifen Dreimaster. Du siehst wirklich aus, als ob du ihn brauchst.«


* * *

Father Quillan stand an der Bordwand und starrte wie in Ekstase auf die Leere hinaus, die hier sogar noch leerer wirkte als der endlose Strang von Wasser, den sie inzwischen bereits hinter sich gela ssen hatten. Er schien sich gerade in einer seiner spirituellen Hochphasen zu befinden. Das Gesicht war gerötet, die Augen glühten. »Ja«, sagte er, »ich habe Delagard zu dieser Reise geraten. Zu der Fläche über den Wassern.«

»Und wann war das? Als wir noch auf Sorve lebten?«

»Aber nein. Auf See. Kurz nachdem Gospo Struvin getötet wurde. Der Tod von Gospo traf Delagard tief, mußt du wissen. Er kam zu mir und sagte, ›Father, ich bin kein religiöser Mensch, aber ich muß mit jemandem sprechen, und du bist der einzige hier, dem ich trauen kann. Vielleicht kannst du mir helfen.‹ Das waren seine Worte. Und dann erzählte er mir von dieser Fläche über den Wassern. Was das sei und warum er dorthin segeln wollte. Und über den Plan, den er mit Gospo ersonnen hatte. Und er wußte nicht, was er tun sollte, nun, da Gospo nicht mehr war. Er wollte immer noch unbedingt dorthin, aber er war sich nicht sicher, daß er es schaffen würde. Wir sprachen lange über diesen Begriff — Fläche, Gesicht, Antlitz, Festes über den Wassern — und er erklärte mir alles ausführlich, so wie er es von einem alten Seemann vor langer Zeit gehört hatte. Und nachdem ich die ganze Geschichte gehört hatte, drängte ich ihn, seinen Plan weiter durchzuführen, selbst ohne die Hilfe Gospos. Ich erkannte die Bedeutung seines Unterfangens, und ich sagte zu ihm, daß er der einzige Mensch auf diesem Planeten sei, der dabei überhaupt eine Aussicht auf Erfolg hatte. Nichts darf dir im Weg sein, sagte ich zu ihm. Zieh weiter, sagte ich, und führe uns in dieses Paradie s, zu dieser unverderbten, jungfräulichen Insel, auf daß wir einen Neuen Anfang setzen können. Und er wendete sein Schiff und steuerte gen Süden.«

»Und warum«, fragte Lawler mit einiger Zurückhaltung, »glaubst du, daß es uns gelingen sollte, auf dieser… ah… jungfräulichen Insel, zu der du und Delagard uns bringen wollt, einen Neubeginn zu schaffen, der Bestand hat? Mit einer Handvoll Menschen, die sich in der Wildnis niederlassen, im Unbekannten, wo wir keine Ahnung von irgend etwas haben?«

Quillan antwortete mit einer Stimme, die so schneidend klang, als fräste sie seine Worte auf Metallplatten: »Weil ich daran glaube, daß dies wortwörtlich das Paradies ist. Der Garten Eden. Wie es geschrieben steht.«

Lawler mußte erst einmal schlucken. »Meinst du das wirklich im Ernst? Der echte, ursprüngliche Garten Eden, in dem Adam und Eva gelebt haben?«

»Das wahre Eden, ja. Das Paradies ist überall dort und dort wirklich, wo es nicht von der Ur-Sünde berührt und verderbt wurde.«

»Also stammt Delagards Vorstellung von diesem Paradies dort von dir? Das hätte ich mir denken können. Und ich darf wohl annehmen, du bist auch überzeugt, daß Gott dort wohnt. Oder benutzt er das bloß als sein Feriendomizil?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich würde gern glauben, daß ER dort ist. ER ist immer dort, wo das Paradies ist. Wo immer das sein mag.«

»Na klar«, sagte Lawler. »Der Erschaffer des Universums haust genau hier auf Hydros auf einer riesigen Sumpfinsel, die von halbverrottetem Tang bedeckt ist. Daß ich nicht lache, Father! Ich weiß ja noch nicht mal, ob du überhaupt an deinen Gott glaubst. So zu fünfzig Prozent, nehme ich an, bist du da auch nicht ganz so sicher.«

»Nein, so halb und halb bin ich nicht sicher«, antwortete der Geistliche.

»Wenn du deine ›toten‹ Phasen hast.«

»Ja. In Zeiten, wo ich völlig überzeugt bin, daß wir eine völlig zweck- und sinnlose Weiterentwicklung aus den niederen Tiergattungen sind. Wenn es mir wieder einfällt, daß der ganze lange Evolutionsprozeß von der Amöbe bis zum Homo erectus auf der ERDE, von Mikroorganismen aller Art bis zu fühlenden, denkenden Wesen von aller nur erdenklichen Art auf allen möglichen Planeten, nichts weiter ist als ein Automatismus, genau wie die Bewegung eines Planeten um seine Sonne… und genauso ohne irgendeinen Sinn. Wenn ich denke, daß nichts das alles in Bewegung gesetzt hat. Daß nichts es in Bewegung hält, außer der inhärenten Wesenheit.«

»Und das glaubst du — manchmal, so halbwegs?«

»Nicht halbwegs. Aber manchmal. Meistens — nein.«

»Und in diesen Phasen, in denen es nicht so ist? Was geschieht da?«

»Dann glaube ich, daß es eine Prima Causa gab, die das alles in Bewegung setzte, und aus Gründen, die wir vielleicht nie erfahren werden. Und ER, dieser Erste Verursacher, hält das alles am Laufen — aus SEINER gewaltigen Liebe für SEINE Geschöpfe heraus. Denn GOTT ist LIEBE, genau wie Jesus das gesagt hat, in dem Teil der Heiligen Schriften, bis zu dem du in deiner Lektüre nicht vorgedrungen bist: Wer aber ohne Liebe ist, der erkennet Gott nicht; denn Gott ist Liebe. Gott ist Verbindung. Zusammensein. Gott ist das Ende der Einsamkeit, ist die Höchste Verschmelzung. Und ER wird uns alle, so wenig wir dessen würdig sind, in SEinen Schoß nehmen, und dort werden wir leben ewiglich und ohne Leiden und Qual.«

»Und das glaubst du — jedenfalls meistens.«

»Ja. Meinst du nicht, du könntest das ebenfalls?«

»Nein!« sagte Lawler. »Es wäre ja sehr wünschenswert, aber ich kann nicht.«

»Also hast du das Gefühl, daß alles ohne Sinn, Ziel und Zweck ist?«

»Das — nein, nicht ohne Sinn. Aber wir werden nie erfahren, was dieser Sinn und Zweck ist. Oder — wer da was beabsichtigt. Dinge geschehen… so wie die Golden Sun mitten in der Nacht einfach verschwunden ist, aber wir finden nicht immer glatt heraus, warum etwas geschieht. Und wenn wir’s dann doch tun, dann wartet da kein väterlich-göttlicher Schoß und kein Himmel auf uns, die uns aufnehmen, und kein Leben nach dem Leben in glorioser Seligkeit. Da wird einfach nichts von alldem sein.«

»Ach«, sagte der Priester und nickte. »Mein armer Freund. Du steckst Tag um Tag in jenem Zustand, in den ich nur in Momenten nacktester Verzweiflung gerate.«

»Das mag schon sein. Aber ich ertrage es irgendwie.« Lawler kniff die Augen zusammen und spähte über die funkelnde See nach Südwesten, als erwarte er, daß dort im nächsten Augenblick eine dunkle gewaltige Insel in Sicht kommen müsse. Es hämmerte in seinem Schädel. Ihn verlangte danach, den Schmerz in Taubkraut-Elixier zu ertränken.

»Ich bete für dich, daß es dir bald möglich sein wird, deine Pein zu überantworten, sie endlich abzutreten.«

»Verstehe«, sagte Lawler dunkel.

»Verstehst du? Verstehst du es wirklich?«

»Ich verstehe, daß du in deinem Verlangen nach dem Paradies uns alle an Delagard verschachert hast, ohne auch nur zwei Sekunden lang zu zögern.«

»Du drückst es sehr hart aus«, sagte der Priester.

»Ja, vermutlich. Ich bedaure das. Und du meinst nicht, ich hätte einigermaßen Grund, verärgert zu sein?«

»Mein Kind…«

»Ich bin nicht dein Kind!«

»Aber du bist immerhin doch SEIN Kind.«

Lawler seufzte. Zwei Verrückte, dachte er, Delagard und Quillan… der eine ist zu allem bereit, um der Erlösung willen, der andere, weil er die Welt erobern will.

Quillan legte sacht seine Hand auf die Lawlers und lächelte.

»Gott liebt dich«, sagte er leise. »Gott wird dir SEINE Gnade zuteil werden lassen, fürchte dich nicht.«


* * *

»Sag mir alles, was du über dieses Flache über den Wassern weißt, alles«, sagte Lawler zu Sundira.

Sie waren in seiner Kabine. »Nicht viel«, sagte sie. »Ich weiß, daß es eine riesig große Insel sein soll — oder ein inselähnliches Etwas, unendlich viel größer als jede der bekannten und bewohnten Inseln. Tausende Hektar groß. Eine enorme, dauerhaft verankerte Landmasse.«

»Soviel weiß ich auch bereits. Aber hast du bei deinen zahlreichen Gesprächen mit den Gillies noch irgendwas anderes herausgefunden? Verzeihung — deinen endlosen Gesprächen mit den Sassen.«

»Die mochten nicht gern darüber sprechen. Mit einer Ausnahme, eine Sassin, mit der ich auf Simbalimak befreundet war. Sie war bereit, mir einige Fragen zu beantworten.«

»Und?«

»Sie sagte, es ist ein verbotener Ort, den niemand betreten darf.«

»Ist das alles? Sag mir mehr darüber.«

»Ach, das ist alles ziemlich verworrenes Zeug.«

»Ja, das kann ich mir denken. Aber sag’s mir trotzdem. Bitte, Sundira.«

»Sie hat sich ziemlich rätselhaft ausgedrückt. Absichtlich, nehme ich an. Aber ich bekam den Eindruck, daß die Fläche nicht nur einfach tabu ist, also geheiligt, bzw. verflucht, und man sie nicht betreten darf, sondern daß sie auch praktisch unbewohnbar ist — und körperlich gefährlich. ›Es ist der Ursprung der Schöpfung‹ sagte sie. Sie glauben, daß ein gestorbener Sasse an diesen Ursprung zurückkehrt. Und der Ausdruck, den sie dafür verwenden, lautet er oder sie sei ›aufs Antlitz gegangen‹. Ich bekam damals den Eindruck von etwas, das vor Energie kocht — etwas Heißem, Wildem und sehr, sehr Starken. So als liefe dort ununterbrochen eine Kernreaktion ab.«

»Himmel«, flüsterte Lawler tonlos. So warm es in der dumpfen kleinen Kabine war, er spürte, wie ein Frösteln seine Beine heraufkroch. Auch seine Finger waren kalt und zuckten. Er wandte sich um und holte die Taubkrautflasche vom Bord. Dann goß er sich ein Schlückchen davon in einen Meßbecher. Er blickte Sundira fragend an, doch sie schüttelte den Kopf. »Heiß und wild und stark«, sagte er. »Eine atomare Kernreaktion.«

»Aber du mußt verstehen, daß dies nicht ihre Vorstellung war. Es ist meine Interpretation, gestützt auf ihre unbestimmten und zweifellos metaphorischen Ausdrücke. Du weißt ja, wie kompliziert es ist zu begreifen, was die Sassen zu uns sagen.«

»Ich weiß es.«

»Doch ich begann mich damals zu fragen, während sie mit mir darüber sprach, ob nicht vielleicht vor langer Zeit dort ein Experiment der Sassen durchgeführt worden sein könnte, eine Art Kernkraftwerk- Projekt, das außer Kontrolle geriet. Irgend etwas in dieser Richtung. Natürlich ist das eine bloße Vermutung, klar? Aber aus der ganzen Art, wie sie darüber redete, erkannte ich, wie beunruhigt sie war, und sie blockte immer wieder ab, wenn ich ihr zu viele Fragen stellte, aber anscheinend glaubt sie, daß an diesem Ort etwas existiert, das man tunlichst meiden sollte. Etwas, über das sie nicht einmal nachdenken und schon gar nicht sprechen will.«

»Mist, verfluchter Mist!« Lawler schüttete die ganze Dosis Taubkrautextrakt in einem Zug hinunter und verspürte sofort die beruhigende Wirkung. »Eine atomar verseuchte Wüste. Eine unentwegt weiterlaufende atomare Kettenreaktion. Das paßt nicht besonders gut zu dem, was mir Delagard gesagt hat. Oder dieser Father Quillan.«

»Du hast mit denen darüber gesprochen? Warum? Wieso ist auf einmal dieses große Interesse an diesem Globusbereich?«

»Im Augenblick ist das Thema Nummer Eins.«

»Val, möchtest du vielleicht mich liebenswürdigerweise informieren, was da los ist?«

Er zögerte, aber nur kurz, dann sagte er ruhig: »Seit Tagen segeln wir nicht mehr auf dem Kurs nach Grayvard. Wir liegen derzeit südlich vom Äquator und fahren gemütlich immer tiefer in das Leere Meer hinein.« Sie schaute ihn bestürzt an. Und er sprach unerbittlich weiter: »Und unser Ziel ist dieses ›Antlitz über dem Wasser‹.«

»Du sagst das, als meinst du das wirklich im Ernst.«

»Das tu ich.«

Sie wich von ihm zurück. Es war eine reflexhafte zuckende Ausweichbewegung, als hätte er die Hand erhoben, um sie zu schlagen.

»Und — das hat Delagard angerichtet?«

»Genau. Er hat es mir selbst gesagt. Noch keine halbe Stunde ist das her. Ich hatte ihm ein paar Fragen über den Kurs gestellt, den wir jetzt segeln.« Dann gab er ihr eine rasche Zusammenfassung: Jollys Seefahrergarn, Delagards Traum, in jenem fernen Land eine Stadt zu gründen und dadurch Macht über den ganzen Planeten zu erringen, über die Ur-Sassen und alle anderen, sein Plan, einen Raumflughafen zu errichten, und so irgendwann Hydros in den Interstellarhandel einzuklinken.

»Und Father Quillan? Wie paßt der da rein?«

»Er predigt Delagard und peitscht ihn voran. Er ist zu der Überzeugung gelangt — und frag mich nicht, wie —, daß diese feste Fläche dort irgendwie so eine Art Paradies ist und daß Gott — also sein Gott, nach dem er sein ganzes Leben lang vergeblich gesucht hat — genau dort sein Hauptquartier aufschlägt, wenn er grad mal in dieser Gegend weilt. Also brennt er darauf, daß Delagard ihn dorthin bringt, damit er endlich mal seinem Gott die Hand schütteln und Guten Tag sagen kann.«

Sundira sah ihn mit dem bestürzten Blick einer Frau an, der soeben bewußt geworden ist, daß sich an der Innenseite ihres Schenkels ein Reptilchen nach oben schlängelt.

»Ja, sind die beiden denn wahnsinnig? Was meinst du?«

»Jeder, der davon redet, daß er beschlossen hat, die politische Kontrolle oder die Macht zu übernehmen, erscheint mir einfach als verrückt«, sagte Lawler. »Und ebenso geht es mir mit Leuten, die sich darauf kapriziert haben, ›Gott zu finden‹. Für mich sind das einfach aberwitzige Wahnideen. Und wer widersinnigen Ideen nachhängt, der ist nach meiner diagnostischen und Begriffsdefinition paranoid, also leidlich verrückt. Leider hat einer von den beiden das Kommando über unseren Konvoi.«


* * *

Es dunkelte bereits, als Lawler aufs Hauptdeck zurückkehrte. Die Tagwache kletterte in der Takelung herum und zog unter Onyos Felks Anweisungen Segel ein. Es wehte ein frischer nördlicher Wind, ziemlich steif und kräftig bereits, und er sah so aus, als werde er im nächsten Augenblick sich zu einem Sturm auswachsen. Es drohte ihnen ein Orkan, der in wirbelnden Wolkenmassen von Süd heraufzog. Lawler sah weit in der Ferne Sturzbäche von Wasser niederregnen, während der Wind die See zu weißem Schaum aufwirbelte. Wetterleuchten zitterte über den Himmel, ein ungewohnter, ein seltener Anblick, dann ein schreckeinflößender gelber Gabelblitz, und fast sofort darauf das schwere Grollen des Donners.

»Eimer! Behälter! Da kommt Wasser!« brüllte Delagard.

»Ja — genug Wasser, um uns alle zu ersäufen«, knurrte Dag Tharp halblaut vor sich hin, als er an Lawler vorbei das Deck entlangtrottete.

»Dag, wart mal!«

Der Funker wandte sich um. »Was issen, Doc?«

»Wir zwei müssen die anderen Schiffe anrufen, sobald dieser Sturm vorbei ist. Ich hab mit Delagard gesprochen. Der führt uns genau zu dem Festen über dem Wasser, Dag.«

»Du machst wohl Witze!«

»Ich wollte, es wär so.« Lawler spähte zu den rasch dahinfliegenden Wolken empor. Der Himmel hatte eine unheimliche metallene Färbung angenommen, trübgrau, und vom Rand der großen schwarzen Gewitterwolke, die nun genau südlich von den Schiffen hing, fuhren kleine züngelnde Blitze. Das Meer nahm mehr und mehr das wilde Aussehen an, das es während des Dreitagesturms gehabt hatte. »Hör zu, wir haben jetzt keine Zeit, darüber zu reden. Aber Delagard hat sich ein ganzes Floß voll närrischer Begründungen zurechtgezimmert für seine Entscheidung. Und wir müssen ihm Einhalt gebieten.«

»Und wie sollen wir das machen?« fragte Tharp. Mit peitschender Wildheit schob sich an Steuerbord eine große Woge heran.

»Wir müssen mit den anderen Käptns sprechen. Eine Art Generalversammlung veranstalten. Allen auf allen Schiffen erklären, was vorgeht. Eine Abstimmung durchführen, nötigenfalls Delagard absetzen, irgendwie.« Er sah den Plan klar vor sich: Eine Volksversammlung aller Sorveser, die Aufdeckung der phantastischen Wahrheit über ihr Ziel, die leidenschaftliche Anklage gegen den Schiffseigner wegen seines krankhaften Ehrgeizes, dann der direkte Appell an den gesunden Verstand der Bevölkerung. Er würde sein Renommee als logischer und vernünftiger Mann gegen Delagard und seine größenwahnsinnigen Visionen und seine wilde und starrsinnige Natur ins Spiel bringen. »Wir dürfen einfach nicht zulassen, daß er uns wild und kopfüber an einen verrückten Ort zerrt, auf den er sich kapriziert hat. Wir müssen das verhindern.«

»Aber die Käptns sind ihm treu ergeben.«

»Werden sie auch weiter loyal bleiben, wenn sie erfahren, wie die wahre Situation ist?«

Eine weitere Woge traf das Schiff, ein scharfer Schlag wie mit dem Handrücken, und ließ es nach backbord krängen. Eine plötzliche Sturzsee kam über die Reling. Kurz danach zuckte ein schrecklicher Blitz auf, dem fast sofort der ohrenbetäubende Donner folgte, und dann prallte der Regen wie ein Brett herunter.

»Wir reden noch drüber«, rief Lawler Tharp zu. »Später, wenn der Sturm sich ausgetobt hat.«

Der Funker ging weiter zum Bug. Lawler klammerte sich an die Reling. Er erstickte fast im Regen und im Wasser, die ihn von mehreren Seiten gleichzeitig angriffen: aus der wild springenden schäumenden See und mit der schweren und beinahe festen Wassermasse aus den Wolken. Mund und Nase waren voll Wasser, frisches und salziges Wasser gemischt. Er hustete und drehte den Kopf weg; er kam sich bereits halb ertrunken vor, und er hustete und keuchte und schniefte, bis er endlich wieder Luft bekam. Eine mitternächtliche Finsternis hatte sich über das Schiff gesenkt. Die See war unsichtbar, außer wenn ein Blitz die Schwärze aufriß und die dunklen riesigen gähnenden Wasserhöhlen ringsum sichtbar werden ließ, wie dunkle Kammern, die sie zu verschlingen drohten. Schemenhaft waren dunkle Gestalten auf Deck auszumachen, die auf Delagards und Felks gebrüllte Befehle hierhin und dorthin eilten. Die Segel waren inzwischen geborgen. Die Queen of Hydros rollte und torkelte heftig unter der vollen Wut des Sturms und drehte die kahlen Spieren in den Wind. Bald schoß sie in einer turmhohen See empor, bald sackte sie in einen gähnenden Abgrund und prallte mit furchtbarem Krachen auf den Boden des gischtenden Wellentals. Lawler hörte fernes Kreischen. Er hatte das überwältigende Gefühl, daß von allen Seiten Wasser erbarmungslos über ihn hereinbrach.

Und dann, mitten im unglaublichen Getöse des Sturms, dem schrecklichen Dröhnen, das auf sie einhämmerte, dem schrillen Kreischen des Windes und dem Donnergrollen und Trommeln des Regens, kam etwas, das noch furchtbarer war als alles Vorherige: der Klang der Stille, eine absolute Geräuschlosigkeit senkte sich wie durch einen Zauber wie ein Vorhang über dem Tumult. Alle an Bord bemerkten es gleichzeitig und hielten in ihren Tun inne, blickten bestürzt und verwirrt und angsterfüllt auf.

Sie dauerte etwa zehn Sekunden lang, diese seltsame Lautlosigkeit, aber es war eine Ewigkeit.

Und dem folgte etwas völlig Unbegreifliches. Und es war dermaßen niederschmetternd beängstigend, daß Lawler gegen den Drang ankämpfen mußte, sich auf die Knie zu werfen. Es war ein dumpfes Brüllen, das von einer Sekunde zur nächsten an Stärke zunahm, so daß es kurz darauf die ganze Luft erfüllte wie das Brüllen aus einem Maul, größer als die ganze Galaxis. Lawler wurde völlig taub davon. Jemand kam vorbeigelaufen — Pilya Braun, machte er sich später klar — und zerrte ihn heftig am Arm. Sie zeigte nach Luv und brüllte ihm etwas zu. Lawler verstand kein Wort und starrte sie nur an, und sie wiederholte es, und diesmal drang ihre dünne Stimme klar genug durch das monströse Brüllen zu ihm durch.

»Was treibst du an Deck?« fragte sie. »Geh nach unten! Runter! Verstehst du nicht — es ist die WOGE!«

Er spähte angestrengt in die Schwärze und sah dann etwas Langes, Hohes, das von einem goldenen Feuer im Innern zu glühen schien, in weiter Ferne über dem Ozean liegen: eine helle Linie über den ganzen Horizont, höher als jede Mauer, fließend im eigenen Licht. Er starrte benommen hin. Zwei Gestalten rannten an ihm vorbei, schrien ihm Warnungen zu, und er nickte zurück: Jaja, ich seh es, ich hab verstanden. Aber er konnte die Augen noch immer nicht von dem fernen heranrollenden Ding abwenden. Warum glühte es dermaßen? Wie hoch war es? Wo war es hergekommen? Irgendwie war es wunderschön: die schneeweißen Schaumzungen entlang der Krone, das kristallartige Schimmern im Kern, die ungebrochene Reinheit und Klarheit der sich nähernden Bewegung. Im Herankommen verschlang es den Sturm, überlagerte sein Chaos mit eigener titanenhaft geballter Ordnung. Lawler schaute gebannt zu, bis es schon beinahe zu spät war. Dann stürzte er zum vorderen Niedergang. Dort hielt er kurz inne und blickte zurück, und er sah die WOGE über dem Schiff emporragen wie einen Gott, der auf den Wassern reitet. Er stürzte sich durch das Luk und verschloß es hinter sich. Kinverson erschien neben ihm und rammte die Verkeilung fest. Stumm rutschte er die Leiter ins Herz des Schiffs hinab und kauerte sich dort bang in Erwartung des Aufpralls zu den anderen.

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