In der Nacht war ihm die klare schlichte Überzeugung gekommen, daß er der vom Schicksal auserwählte Mann sei, der den Dreh finden konnte, durch den für die achtundsiebzig Menschen alles so sehr viel einfacher und besser werden würde, die auf der künstlichen Insel Sorve auf dem Wasserplaneten Hydros lebten.
Die Idee war verrückt, und Lawler wußte das. Aber sie hatte seinen Schlaf gestört, und keine seiner gewohnten Methoden schien dagegen zu helfen, nicht Meditation, nicht das Einmaleins, ja nicht einmal ein paar rosa Tropfen seines Tranquilizers aus Algendestillat, von dem er letzthin möglicherweise doch ein wenig zu abhängig wurde. Von kurz nach Mitternacht bis fast zum Morgengrauen lag er wach und schlug sich mit dieser seiner brillanten, heroischen verrückten Idee herum. Dann, bei noch dunklem Himmel in den frühen Morgenstunden und bevor sich irgendwelche Patienten einfinden würden, die ihm den Tag komplizieren und die Reinheit seiner plötzlichen neuen Idee trüben konnten, verließ Lawler den Vaargh nahe der Inselmitte, wo er allein lebte, und begab sich hinab zum Uferkai, um zu erkunden, ob es den Gillies während der Nacht tatsächlich gelungen war, ihr neues Kraftwerk in Gang zu setzen.
Wenn ja, wollte er sie überschwenglich dazu beglückwünschen. Er würde seinen ganzen Wortschatz der Zeichen- und Gestensprache einsetzen und ihnen sagen, wie tief beeindruckt er von ihrer ehrfurchtgebietenden technischen Meisterleistung sei. Er würde ein Loblied auf sie singen, sie preisen dafür, daß sie mit einem einzigen meisterhaften Streich die gesamte Lebensqualität — nicht nur auf Sorve, sondern dem ganzen Planeten Hydros — verändert hätten.
Und dann wollte er sagen: »Mein Vater, der große Doktor Bernat Lawler, an den ihr alle euch noch gut erinnert, hat diesen Augenblick vorausgesehen. ›Eines Tages‹, sagte er oft zu mir, als ich noch ein Junge war, ›werden unsere Freunde-die-Dwellers, die Inselsassen, eine stetige, zuverlässige Stromversorgung aufbauen. Und dann wird hier eine neue Ära beginnen, und die Sassen und die Menschen werden in herzlicher Eintracht zusammenarbeiten…‹«
Etcetera, etcetera. Er würde seine Lobsprüche geschickt verflechten mit dem nachdrücklichen Hinweis, wie unabdingbar das Zusammenleben in Harmonie der beiden Rassen sei, verflechten und sich nach und nach zu dem klaren Vorschlag durcharbeiten, Hydraner und Menschen sollten doch nun endlich die frühere abweisende Kühle aufgeben und im Namen eines weiteren gemeinsamen technologischen Fortschritts an einem Strang ziehen. Er wollte den geheiligten Namen des geliebten verstorbenen Dr. Bernat Lawler so oft wie möglich erwähnen, wollte sie daran mahnen, wie dieser zu seinen Lebzeiten unermüdlich mit seiner erstaunlichen ärztlichen Kunst dem Wohl und der Gesundheit von Sassen und Menschen gleichermaßen gedient hatte, nicht wenige Wunderheilungen vollbracht hatte, sich selbstlos für beide Inselrassen aufopferte — er würde immer dicker auftragen, bis die Luft vor Gefühlsüberschwang bebte und die Gillies, von der neugewonnenen interrassischen Liebe zu Tränen gerührt, freudig auf Lawlers beiläufig gemachten Vorschlag einsteigen würden, daß es ein guter Anfang wäre, wenn man die Neue Ära damit eröffnen würde, daß die Sassen den Menschen die Möglichkeit einräumten, das neue Kraftwerk so umzurüsten, daß es neben Elektrizität auch Trinkwasser produzieren könne. Und danach dann sein fundamentaler Vorschlag: Die Menschen würden die Meerwasser-Entsalzungs-Fabrik eigenständig entwerfen und errichten, den Kondensator, die Transportpipelines, kurz, das gesamte System… und es dann ganz in die Hände der Gillies übergeben… Hier habt ihr es, ihr braucht es nur anzuschließen. Es kostet euch gar nichts, und wir werden in Zukunft nicht länger auf das in den Zisternen gesammelte Regenwasser angewiesen sein. Und so werden wir fürderhin und in alle Zukunft die besten Freunde sein, ihr Sassen und wir Menschen…
Dies war die Phantasievorstellung, durch die Lawler aus seinem Schla f gerissen worden war. In der Regel neigte er keineswegs dazu, sich auf derart realitätsferne Unternehmungen einzulassen. Seine jahrelange Praxis als Arzt — und auch wenn er nicht ein medizinisches Genie war wie sein Vater, so war er doch ein hart arbeitender und einigermaßen erfolgreicher Allgemeinpraktiker und leistete unter den gegebenen Umständen ziemlich viel — hatte ihn zum Realismus erzogen und zu einer recht pragmatischen Einstellung gegenüber fast allen Dingen. Dennoch war er in dieser Nacht irgendwie zu der Überzeugung gelangt, daß er das einzige Wesen auf der Insel sei, dem es möglicherweise gelingen konnte, diese Gillies, diese ›Kiemlinge‹, zu überreden, die Angliederung einer Meerwasser-Entsalzungsanlage an ihr Kraftwerk zu erlauben, Ja, er würde erfolgreich sein, wo alle anderen versagt hatten.
Eine recht kleine Chance, das wußte er. Doch in den frühen Morgenstunden neigen Chancen manchmal dazu, üppiger auszusehen als im klaren Licht des Vormittags.
Was es auf der Insel bislang an Elektrizität gab, stammte aus unhandlichen, wenig effizienten Chemobatterien, aus Säulen von Zinupfer-Scheiben, getrennt durch in Sole getränkte Streifen aus Kriechkraut. Die Gillies — die ›Kiemlinge‹, ›Sassen‹, also die Hydraner, die dominante Spezies auf der Insel, beziehungsweise der Welt, auf der Lawler sein ganzes Leben zugebracht hatte — arbeiteten schon, soweit er sich erinnern konnte, an einer verbesserten Methode der Gewinnung von Elektroenergie, und nun endlich, so wenigstens dampfte es aus der Gerüchteküche im Ort, stand das neue E-Werk kurz vor der Fertigstellung und sollte ans Netz gehen heute oder morgen, aber ganz bestimmt nächste Woche! Und wenn den Gillies dies tatsächlich gelingen sollte, bedeutete das für beide Rassen eine einschneidende Veränderung. Die Kiemlinge hatten sich auch schon (allerdings wenig begeistert) bereit erklärt, den Menschen einen Teil der neuen Elektrizität zur Nutzung abzugeben, was nach jedermanns Ansicht grandios von ihnen war. Noch viel großartiger aber wäre es, jedenfalls für die achtundsiebzig Menschen, die auf der kleinen engen Insel Sorve ein karges Leben von minderer Qualität fristeten, wenn die Gillies sich erweichen ließen und den Menschen gestatteten, daß ihre Fabrik auch zur Wasserentsalzung benutzt werde, damit die Menschen nicht weiter auf die gnädige Willkür der sorvesischen Regenfälle angewiesen wären, was die Trinkwasserversorgung anging. Es mußte schließlich auch den Kiemlingen einleuchten, daß für ihre menschlichen Metöken das Dasein unendlich viel leichter sein würde, wenn diese zuverlässig mit einer unbegrenzten Trinkwasserversorgung rechnen konnten.
Aber natürlich hatten die Gillies bisher noch durch nichts erkennen lassen, daß sie sich darüber Gedanken machten. Sie hatten noch nie besonderen Eifer bewiesen, dem Häuflein Menschen in ihrer Mitte irgendwelche Erleichterungen zu verschaffen. Trinkwasser war für Menschen lebensnotwendig, doch den Gillies konnte das piepsegal sein. Was Menschen möglicherweise brauchten, sich wünschten oder zu erhalten hoffen mochten, das berührte die Gillies nicht im geringsten. Und so war es denn die Vision gewesen, daß er — im Alleingang und durch seine Überzeugungskraft — das alles ändern könne, was Lawler in der verflossenen Nacht den Schlaf gekostet hatte.
Aber — zum Teufel damit! Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen.
Lawler war in der Tropennacht barfuß und trug nur einen gelben Sarong aus Wasserlattichfasern um die Hüften. Die Luft warm und schwer, die See ruhig. Die Insel — dieses Geflecht aus lebendem, halb- lebendem und ehemals lebendem Gewebe, das auf der Oberfläche des weltumspannenden weiten Ozeans dahintrieb — schwankte nahezu unmerklich in der Dünung unter seinen Füßen. Wie alle bewohnten Inseln auf Hydros war auch Sorve ein wurzelloser, frei wandernder Herumtreiber und zog überall dorthin, wo ihn die Strömungen, die Winde und die gelegentlichen Flutwellen hintreiben mochten. Lawler spürte, wie die dichtverflochtenen Ruten des Bodens unter seinen Schritten nachgaben und sich dehnten, und er hörte die See wenige Meter weiter unten klatschen. Aber seine Bewegungen waren leicht und mühelos, und sein langer schlanker Körper paßte sich automatisch dem schwankenden Rhythmus der Insel an. Es war für ihn etwas ganz Natürliches.
Die milde Nacht war allerdings trügerisch. Fast das ganze Jahr hindurch war Sorve alles andere als ein angenehmer Aufenthaltsort. Das Klima wechselte zwischen Heißtrocken- und sanft Naßkalten-Perioden, dazwischen nur ein kurzes sanft-sommerliches Zwischenspiel, wenn Sorve in milden feuchten Äquatorialbreiten dahintrieb… die kurze Illusion eines angenehmen, leichten Lebens. Und das war sie jetzt, die ›gute‹ Zeit im Jahr. Es gab Nahrung im Überfluß, und die Lüfte wehten süß. Die Inselbewohner genossen es. Der Rest des Jahres bedeutete eher einen Kampf ums Überle ben.
Ohne Eile schritt Lawler um das Reservoir herum und über die Rampe zur Unterterrasse hinab. Von dort fiel die Insel sacht bis zum Ufer ab. Er kam an den verstreuten Gebäuden des Werftgeländes, von wo aus Nid Delagard sein maritimes Imperium regierte, und an dem Gewirr unbestimmt kugeliger Strukturen der Hafenfabriken, in denen Metall — Nickel, Eisen, Kobalt, Vanadium, Zinn — aus dem Gewebe von niederen Seegeschöpfen vermittels langsamer und ineffizienter Prozesse gewonnen wurde. Zwar konnte man kaum etwas deutlich sehen, doch nach vierzig Jahren auf dieser einen kleinen Insel bereitete es Lawler keinerlei Schwierigkeiten, sich auch im Dunkeln überall zurechtzufinden.
Der große zweigeschossige Schuppen, in dem das Kraftwerk eingerichtet wurde, lag direkt rechts in geringer Entfernung vor ihm dicht am Gestade. Er strebte in diese Richtung.
Noch war der Morgen nicht heraufgezogen. Das Firmament war noch tiefschwarz. In manchen Nächten funkelte Sunrise, der Bruderplanet von Hydros, wie ein großes blaugrünes Auge im Himmel, doch in dieser Nacht stand Sunrise auf der anderen Seite des Planeten und verstrahlte sein helles Licht über die unerforschten Gewässer der anderen Hemisphäre. Allerdings, einer der drei Monde war sichtbar, als winziger scharfer weißer Lichtpunkt dicht über dem östlichen Horizont. Und natürlich schimmerten überall die Sterne, eine Kaskadenflut von glitzerndem Silberstaub, eine allumfassende Puderschicht von Helligkeit. Diese Myriaden Haufen ferner Sonnen bildeten einen sinnverwirrenden Hintergrund für die eine und einzige gewaltige Konstellation in der Nähe, das hellstrahlende Hydros-Kreuz — zwei flammende Sternketten, die einander rechtwinklig kreuzten, ein doppelter Lichtgürtel, einmal von Pol zu Pol, und der andere rund um den Äquator.
Lawler sah in diesem Hydros-Kreuz seine heimatlichen Gestirne, denn es waren die einzigen Sterne, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er war ein echter Hydraner… in der Fünften Generation. Nie war er auf einem anderen Planeten gewesen und würde auch niemals einen besuchen. Und die Insel Sorve war ihm so vertraut wie seine eigene Körperhaut. Und trotzdem stolperte er zuweilen ohne Vorwarnung in bestürzende Zustände der Verwirrung, während derer sich das Gefühl der Vertrautheit vollkommen auflöste und verschwand und er sich hier wie ein Fremdling vorkam: Tage, an denen er glaubte, er sei gerade erst auf Hydros angekommen, als wäre er vom Himmel gestürzt wie eine Sternschnuppe, ein Ausgestoßener aus seiner wahren, weit entfernten Heimat. Manchmal sah er im Geiste seine verlorene Mutterwelt leuchten, die ERDE, hell wie ein Stern, und auf ihr die riesigen Landmassen inmitten der großen blauen Meere golden-grün, die ›Kontinente‹ genannt wurden… und dann dachte er: Dort bin ich zuhaus, dort ist meine wahre Heimat. Lawler fragte sich oft, ob auch manche von den anderen Menschen auf Hydros jemals hin und wieder von ähnlichen Gefühlen befallen wurden. Wahrscheinlich schon, aber niemand redete jemals darüber. Sie waren ja schließlich allesamt hier ›Fremde‹, und diese Welt gehörte den Gillies. Er und alle Seinesgleichen waren hier nichts weiter als uneingeladene Gäste…
Nun war er am Gestade angelangt. Das altvertraute grobe, seiner Textur nach wie alles auf dieser künstlichen Insel ohne Erdkrume und Vegetation holzähnliche Geländer schmiegte sich unter seine Hand, als er zum Uferwall hinaufkletterte.
Hier veränderte sich die Topographie der Insel, die von der künstlichen Erhebung im Zentrum graduell bis zum darum herum gelagerten Meeresbollwerk abgefallen war, abrupt, und der Boden wölbte sich nach oben und bildete einen Meniskus, einen halbmondförmigen Rand, der den inneren Straßen Schutz bot, außer gegen die allerschwersten Sturmfluten. Hier faßte Lawler das Geländer und lehnte sich nach vorn über das dunkle schmatzende Wasser hinaus, als wolle er sich dem allumschlingenden Ozean zum Opfer anbieten.
Trotz der Dunkelheit besaß er ein klares Bild von der kommaförmigen Inselgestalt und seiner exakten Position am Ufer. Von einer Spitze zur anderen war die Insel acht Kilometer lang, ihre größte Breite betrug etwa einen Kilometer, gemessen vom Rand der Bucht bis zur Spitze des hinteren Bollwerks gegen die offene See. Lawler stand fast im Mittelpunkt der inneren Krümmung der Bucht. Rechts und links von ihm ragten die zwei gebogenen Inselarme hinaus, der rundlichere Teil, den die Gillies bewohnten, und der schmalere zugespitzte Sporn, auf dem dichtgedrängt das Häufchen Menschen hauste.
Direkt vor ihm lag umschlossen von diesen zwei ungleichen Landzungen die Bucht, das lebendige Herz der Insel. Die gillianischen Erbauer der Insel hatten hier einen künstlichen Boden errichtet, ein Unterwasserschelf aus Holzkelp in Verbundbauweise, das von Arm zu Arm an der Insel befestigt war, so daß sich eine konstante flache, fruchtbare Lagune vor ihr bildete, sozusagen ein privater Teich. Die ungezähmten bedrohlichen Räuber, die im offenen Meer ihr Unwesen trieben, kamen niemals in diese Bucht; möglicherweise hatten die Gillies vor langer Zeit einen Vertrag mit ihnen geschlossen. Ein Geflecht schwammiger bodenbedeckender Nachtalgen, die ohne Licht auskommen konnten, verbanden die Unterseite des Buchtgrundes fest und schützten und erneuerten sie durch ihr stetiges unbeirrbares Wachstum dauerhaft. Darüber lagen Sande, die von Stürmen vom gewaltigen unerforschten Ozeanboden weit draußen herangespült worden waren. Darüber erhob sich ein Dschungel von hundert oder mehr nutzbaren Meerespflanzen, zwischen denen allerlei Seegetier umherschwamm. Verschiedenartige Schalentiere besetzten die tieferen Bereiche, filterten das Meerwasser durch ihr weiches Gewebe und sammelten dabei wertvolle Mineralien an, welche die Insulaner verwerten konnten. Zwischen ihnen lebten frei schwimmende maritime Würmer und Schlangen. Rundliche und schlanke Fische weideten dort. Lawler sah in eben diesem Augenblick eine Herde riesenhafter phosphoreszierender Meerestiere sich da draußen tummeln und Wellen bläulich-violetten Lichts pulsen: die großen als ›Mäuler‹ bekannten Tiere, oder vielleicht auch die sogenannten ›Plattformen‹, es war noch zu dunkel, sie zu unterscheiden. Und jenseits des hellgrünen Wassers der Bucht lag der weite Ozean und wogte bis an den Horizont und darüber hinaus und hielt die ganze Welt in seinem Griff, eine behandschuhte Hand, die einen Ball umfängt. Wie Lawler so hinausstarrte, spürte er wie immer die unermeßliche Wucht und Kraft und Schwere des Ozeans.
Er betrachtete das Kraftwerk, das isoliert und massig auf dem kleinen stumpfnasigen Kap hockte, das sich in die Bucht vorschob.
Tatsächlich waren sie natürlich nicht mit dem Bau fertig geworden. Die klobige Struktur, gegen den Regen von Festons geflochtenen Strohmatten geschützt, lag noch immer dunkel und still da. Davor bewegten sich schattenhafte Gestalten. Die hängeschultrigen Silhouetten waren unverkennbar gillianisch.
Das Kraftwerk sollte aus dem Temperaturgefälle der See Elektrostrom erzeugen. Dann Henders, der als einziger Mensch auf Sorve überhaupt etwas von Technik verstand, hatte es Lawler erklärt, nachdem er einem der Kiemlinge eine bruchstückhafte Projektbeschreibung entlockt hatte. Durch Schrauben wurde dabei warmes Oberflächenwasser aus der See hereingepumpt und gelangte in eine Vakuumkammer, in welcher sich der Siedepunkt beträchtlich verringerte. Das heftig kochende Wasser sollte sodann Dampf von geringer Dichte abgeben, durch den die Turbinengeneratoren betrieben wurden. Daraufhin sollte kaltes Meerwasser, das aus den tieferen Schichten vor der Bucht herangepumpt wurde, den Dampf wieder zu Wasser kondensieren, das dann durch Abflüsse am anderen Ende der Insel wieder ins Meer gelassen werden sollte.
Die Gillies hatten praktisch das Ganze — die Röhren, Pumpen, Ventilatoren, Turbinen, Kondensatoren und die Vakuumkammer selbst — aus den unterschiedlichen Organoplastikmaterialien hergestellt, die sie aus den Rohstoffen von Algen und anderen Wasserpflanzen produzierten. Anscheinend hatten sie bei der Konstruktion kaum Metalle verwendet, was angesichts der schwierigen Metallgewinnung auf Hydros nicht besonders überraschen konnte. Und das Ganze war sehr einfallsreich, besonders wenn man bedachte, daß die Gillies mit Technologie wenig an den Kiemen hatten, jedenfalls verglichen mit anderen intelligenten Spezies der Galaxis. Irgendein aus der Art geschlagenes Genie unter ihnen war wohl auf den Gedanken gekommen. Aber Genialität her oder hin, es ging das Gerücht, daß es erbärmlich lang dauerte, bis sie die Sache funktionabel hinkriegen würden, und noch habe das Werk ja nicht einmal ein erstes Watt produziert. Und die meisten unter den Inselmenschen zweifelten daran, daß dies je der Fall sein werde. Wahrscheinlich, überlegte Lawler, hätte sich die Geschichte für die Gillies ziemlich vereinfachen und beschleunigen lassen, wenn sie Dann Henders oder sonst einen technisch-orientierten Menschen in den Planungsstab zugezogen hätten. Aber natürlich hatten die Gillies eben keineswegs die Gewohnheit, sich bei den unwillkommenen Fremdlingen, mit denen sie widerwillig ihre Insel teilten, Rat und Hilfe einzuholen, selbst dann nicht, wenn es ihnen selbst zum Vorteil gereicht hätte. Eine Ausnahme hatten sie nur gemacht, als eine Epidemie von Finnenauszehrung ihre Nachkömmlinge zu dezimieren begann und Lawlers heiligmäßiger Vater ihnen mit einem Impfstoff zu Hilfe kam. Doch das war vor vielen Jahren geschehen, und was immer die Leistung des verstorbenen Dr. Lawler an Goodwill und Freundschaftsgefühlen gezeugt haben mochte unter den Gillies, war längst schon und ohne sichtliche Sedimentrückstände verdunstet.
Daß das E-Werk offenbar noch immer nicht in Betrieb war, bedeutete für Lawlers grandiosen Plan, der ihm in dieser Nacht gekommen war, gewissermaßen einen Rückschlag.
Was sollte er jetzt tun? Hingehen und trotzdem zu den Kiemlingen reden? Ihnen die beabsichtigte floskelstrotzende Ansprache halten, sie mit erhaben tönender Rhetorik einseifen, dem nächtlichen Impuls bis zum Ende nachgehen, ehe der anbrechende Tag ihn jeglichen Quentchens von Plausibilität beraubte?
»Im Namen der gesamten Humangemeinschaft auf der Insel Sorve möchte ich — wie ihr wißt, der Sohn eures geliebten Dr. Bemat Lawler, der euch während der Finnseuchen-Epidemie so selbstlos gedient hat — euch aus vollstem Herzen gratulieren zu der Vollendung eures genialen und wundervoll nützlichen…«
»…Selbst wenn die Erfüllung dieses grandiosen Traumes vielleicht noch einige wenige Tage auf sich warten läßt, stehe ich hier vor euch im Namen der gesamten Humangemeinschaft von Sorve, um euch unsere tiefstgefühlte Begeisterung auszudrücken, die wir aus diesem Werk für die Erhöhung der Lebensqualität auf dieser Insel entsprießen sehen, die wir mit euch teilen, wenn es euch endlich gelingt…«
»…In diesem Augenblick, da unsere Gemeinschaft mit Jubel begeistert der Verwirklichung des historischen Ereignisses entgegenfiebert…«
Nein, mir reicht es, dachte er, und begann in Richtung der Landzunge mit dem Kraftwerk zu gehen.
Als er in die Nähe des Werkes kam, bemühte er sich, möglichst viel Lärm zu machen, er räusperte sich, klatschte in die Hände, pfiff mißtönend vor sich hin. Die Gillies schätzten es gar nicht, wenn Menschen sich ihnen ohne Vorwarnung näherten.
Er war noch immer fünfzehn Meter entfernt, als er zwei Kiemlinge aus dem Werk auf sich zuwatscheln sah.
In der Dunkelheit wirkten sie wie Titanen. Sie ragten hoch über seinem Kopf auf, gestaltlos in der Finsternis, und die winzigen gelben Augen glommen wie Laternen in den mikrozephalen Köpfen.
Lawler vollzog das Grußzeichen, betont überdeutlich, damit keinerlei Zweifel an seinen friedfertigen Absichten aufkommen könne.
Einer der Gillies reagierte mit einem langgedehnten Schnarrlaut, wruuum, der aber gar nicht freundlich klang.
Es waren mächtige, aufrechtgehende zweibeinige Geschöpfe von zweieinhalb Metern Höhe, und ihre Leiber waren von dichten Lagen schwarzer gummiartiger Borsten bedeckt, die in dichten Zotten an ihnen herabhingen. Die Köpfe waren absurd klein im Vergleich dazu, winzige Kugelgebilde über den mächtigen Schultern, von denen aus die Leiber fast bis zum Boden auswuchteten zu sackartigen, schwerfällig plump wirkenden Körpern. Die Menschen vermuteten allgemein, daß die gewaltigen Höhlungen der Brust bei den Gillies wohl neben Herz und Lunge auch das Gehirn bergen müßten. Denn in diesen winzigen Köpfen war zweifellos kaum Platz für so etwas.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren die Gillies ursprünglich einmal Aquarianer gewesen. Das ließ sich etwa daran erkennen, wie ungraziös sie sich an Land bewegten, und mit welcher Leichtigkeit sie schwammen. Sie verbrachten fast soviel Zeit im Wasser wie auf der Insel. Lawler hatte einmal beobachtet, wie ein Gillie vom einen Ende der Bucht bis zum anderen schwamm, ohne auch nur einmal aufzutauchen, um Luft zu holen; und für die Strecke brauchte er etwa zwanzig Minuten. Die kurzen stämmigen Stummelbeine waren offenbar eine Weiterbildung aus Flossen. Auch ihre Arme wirkten wie Flossen — dickliche kräftige Gliedmaßen, die sie ziemlich dicht an die Flanken gedrückt hielten. Die Hände wiesen drei lange Finger und einen gegenüber beweglichen Greifdaumen auf, waren außergewöhnlich breit und formten sich leicht zu breiten Schaufeln, mit denen sich größere Wasservolumina verdrängen ließen. Vor Millionen von Jahren stiegen die Vorfahren dieser Geschöpfe — in einem unglaublichen, verblüffenden Akt der gewollten Umgestaltung der Spezies aus dem Meer und errichteten sich insulare Wohnstätten, die sie aus meereseigenen Materialien zusammenknüpften und durch raffinierte Barrikaden gegen die unablässigen Gezeitenschwälle sicherten, die ihren Planeten umkreisten. Aber dennoch blieben sie Ozeanier, Geschöpfe der See.
Er trat den beiden entgegen, so nahe er sich getraute, und signalisierte: Ich-bin-Lawler-der-Doktor.
Beim Sprechen preßten Gillies die Arme an ihre Flanken und drückten so Luft durch tiefe kiemenähnliche Schlitze in der Brust, was wie dröhnende Orgeltöne klang. Den Menschen war es nie gelungen, diese Tonsprache in einer für die Gillies verständlichen Weise zu imitieren, und diese ihrerseits zeigten nicht das geringste Interesse daran, die Sprache der Menschen zu erlernen. Vielleicht war beiden Spezies die Erzeugung der Sprachlaute der jeweils anderen einfach unmöglich. Dennoch war eine Kommunikation zwischen ihnen einfach nötig, und so hatte sich im Laufe der Jahre eine Art Zeichensprache entwickelt. Die Kiemlinge orgelpfiffen die Menschen auf gillianisch an, und die Menschen antworteten mit Gestensprache.
Der Kiemling, der zuerst gesprochen hatte, gab erneut das Schnauben von sich und setzte einen besonders abweisenden Pfeif-Schniefton darauf. Die Flipperflossen waren zu der pantomimischen Stellung gespreizt, die Lawler als Ausdruck des Zornes erkannte. Nein, nicht Zorn, sondern Wut. Höchste Wut.
Hoppla, dachte er. Was ist denn hier los? Was hab ich denn falsch gemacht?
An der Rage des Gillie war nicht zu zweifeln. Jetzt vollführte er knappe Schubsbewegungen mit den Flossen und ›sagte‹ eindeutig: Geh weg! Verschwinde! Beweg deinen Hintern — aber rasch!
Verdutzt signalisierte Lawler: Ich-habe-keine-böse-Absicht. Ich- komme-um-zu-verhandeln.
Wieder das abweisende Schnauben, lauter diesmal, dunkler. Es vibrierte aus dem Bodenbelag des Weges, und Lawler spürte es in den nackten Sohlen seiner Füße.
Man hatte schon gehört, daß Gillies Menschen getötet hatten, die ihnen auf den Nerv gingen, und sogar solche, die das nicht getan hatten; eine beunruhigende, unerklärliche Tendenz zu abrupten Gewaltausbrüchen. Dem Anschein nach kaum je absichtlich — nur der ärgerliche Ausrutscher einer Flosse, ein rascher verächtlicher Kick, gedankenlose Trampelei… Sie waren eben so groß und stark, und sie schienen nicht zu begreifen, wie verletzlich die Körper von Menschen sein konnten (oder aber, es kümmerte sie nicht).
Der zweite Gillie, der Größere, kam ein, zwei Schritte näher. Sein Atem kam heftig, pfeifend und wenig freundschaftlich. Er bedachte Lawler mit einem Blick, den er sich nur als erhaben, desinteressiert und abweisend interpretieren konnte.
Lawler signalisierte Erstaunen und Betroffenheit. Und erneut freundliche Intentionen. Er signalisierte anhaltende eifrige Gesprächsbereitschaft.
Die Augen des ersten Gillie funkelten weiter unmißverständlich zornig. Hinweg! Fort! Verschwinde!
Nun, das war unzweideutig genug. Jeder Versuch eines weiteren Palavers wäre sinnlos gewesen. Es war offensichtlich, daß sie ihn nicht in die Nähe des Kraftwerks lassen wollten.
Also gut, dachte er. Dann macht doch, was ihr wollt!
Noch nie zuvor hatten ihn Gillies derart wie Dreck behandelt; doch in diesem Moment umschweifig zu erklären, er sei doch ihr guter alter Freund, der Inseldoktor und sein Vater habe sich ehemals ihnen doch als recht nützlich erwiesen, das wäre jetzt einfach schlichte gefährliche Idiotie gewesen. Mit einem einzigen Klatsch eines ihrer Flipper konnten sie ihm das Rückgrat zertrümmern und ihn hinaus in die Bucht schleudern.
Er wich also zurück, behielt aber die Gillies dabei genau im Auge, denn er hatte vor, mit einem Rücksalto ins Wasser zu hechten, falls sie ihm bedrohlich näherrücken würden.
Aber die Gillies blieben an Ort und Stelle stehen und folgten nur mit glosenden Augen seinem Davonschleichen. Als er den Hauptweg wieder erreicht hatte, machten sie eine Kehrtwendung und verschwanden wieder in ihrem Gebäude.
Na, und damit hätte sich das wohl, dachte Lawler.
Die absonderliche Zurückweisung kränkte ihn tief. Er blieb eine Weile am Geländer über der Bucht stehen und ließ die Angespanntheit nach der unerfreulichen Begegnung in sich verebben. Sein grandioser Plan, in dieser Nacht ein Abkommen zwischen den Hydranern und den Menschen zu erwirken, war — das erkannte er inzwischen nur allzu klar — purer romantischer Unsinn gewesen. Rasch verflüchtigte sich die Idee, die nichts weiter war als blauer Dunst, und eine kleine Weile zuckte eine physiologische Störung heiß über seine Haut.
Na dann also. Zurück zu seinem Vaargh. Und auf den Tag warten. Was blieb ihm sonst?
Eine scharfe Stimme hinter ihm sagte: »Lawler?«
Erschrocken fuhr er herum. Sein Herz rumpelte. Er spähte in das schon mit Grau gemischte Dunkel. Mit Mühe machte er die Gestalt eines kleinen untersetzten Mannes mit dichtem langen und filzig wirkenden Haarschopf aus, der zehn, zwölf Meter weiter innen auf der Insel im Schatten stand.
»Delagard? Bist du das?«
Die untersetzte Gestalt trat vor. Ja, es war Delagard. Der selbsternannte Rudelführer der Insulaner, der Topmixer und Unruhestifter. Was hatte der um diese Stunde hier herumzuschleichen, verdammt noch mal?
Delagard schien ständig irgendwelche riskanten Tricks zu planen, selbst wenn dies gar nicht der Fall war. Er war kurzbeinig, dabei jedoch nicht klein oder zierlich, vielmehr von kräftiger Gestalt und nur eben sozusagen ziemlich ›bodenständig‹, mit wuchtigem Nacken, massiven Schultern, und deftigem Bauch. Er trug einen knöchellangen Sarong, die breite, von Zotteln bedeckte Brust war nackt. Sogar jetzt in der Düsternis schimmerte der Wickelrock und changierte zwischen Scharlachrot, Türkis und leuchtendem Rosa. Delagard war der reichste Mann in der Humankolonie, was immer dies in einer Welt bedeuten mochte, in der Geld als solches bedeutungslos war, weil es kaum etwas gab, wofür man es hätte ausgeben können. Wie Lawler war auch er gebürtiger Hydraner, doch anders als er besaß er Geschäftsbetriebe auf mehreren anderen Inseln und reiste ziemlich viel umher. Und er war etliche Jahre älter, vielleicht so an die achtundvierzig, fünfzig.
»Du bist aber heut ziemlich früh schon unterwegs, Doc«, sagte Delagard.
»Das bin ich doch meistens, wie du sicher weißt.« Lawlers Stimme klang gepreßter als gewöhnlich. »Es ist eine angenehme Tageszeit.«
»Wenn man allein sein möchte , bestimmt.« Delagard wies mit dem Kopf in Richtung auf die Werksanlage. »Hast das Ding da inspiziert, wie?«
Lawler zuckte nur die Achseln. Eher würde er sich selber erdrosseln, als daß er Delagard auch nur eine Andeutung über die grandiose, heldenmäßige Idiotie machen würde, die er in der langen Nacht zusammengebraut hatte.
Delagard sprach weiter: »Man hat mir gesagt, sie gehen morgen ans Netz.«
»Das höre ich jetzt bereits seit einer ganzen Woche.«
»Nein, nein, morgen wollen sie wirklich den Betrieb aufnehmen. Sie haben bereits Strom erzeugt, in geringen Mengen; und heute wollen sie auf volle Kapazität hochfahren.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es eben«, gab Delagard zurück. »Die Kiemlinge mögen mich zwar nicht, aber trotzdem informieren sie mich über Sachen. Gehört sozusagen zur normalen Geschäftsroutine, wenn du verstehst.« Er trat neben Lawler und ließ selbstsicher und besitzergreifend die Hände auf das Geländer fallen, als wäre diese Insel sein Königreich und die Brüstungsstange sein Szepter. »Aber du hast mich noch nicht gefragt, warum ich so früh unterwegs bin.«
»Nein, das hab ich nicht.«
»Ich hab dich gesucht, darum. Zuerst war ich droben in deinem Vaargh, aber da warst du nicht. Dann schaute ich zur unteren Terrasse, und dort hab ich dann jemand auf dem Pfad hierher gesehen und mir gedacht, daß du das sein mußt. Also bin ich runtergekommen, um das nachzuprüfen.«
Lawler lächelte verkniffen. Delagards Stimme verriet durch nichts, daß er mitbekommen hatte, was draußen auf der Landzunge mit dem Kraftwerk passiert war.
»Ziemlich früh für einen Besuch, sofern es sich um eine Konsultation handelt«, sagte Lawler. »Für einen rein gesellschaftlichen im übrigen auch, obwohl das ja kaum in Frage käme.« Er wies zum Horizont. Dort schimmerte noch der Mond. Aber von der Morgenhelle war noch nichts zu sehen. Das Kreuz wirkte jetzt in Abwesenheit von Sunrise noch heller und schien vor der dichten Schwärze zu zittern und zu zucken. »In der Regel ist meine Praxis in den frühen Morgenstunden nicht geöffnet. Das weißt du doch, Nid.«
»Es handelt sich um einen besonderen Notfall«, sagte Delagard. »Duldet keinen Aufschub. Man kümmert sich am besten drum, solang es noch finster ist.«
»Handelt es sich um ein medizinisches Problem, ja?«
»Genau. Medizinisch.«
»Bei dir?«
»Ja. Aber ich bin nicht der Patient.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Das wirst du gleich. Komm nur mit.«
»Wohin?« fragte Lawler.
»Zur Werft.«
Ach, zum Teufel. Delagard wirkte an diesem Morgen höchst merkwürdig. Vielleicht war es ja wichtig. »Also schön«, sagte Lawler, »dann gehen wir.«
Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, machte Delagard kehrt und ging auf dem Weg dicht an der Kaimauer in die Richtung auf die Werft zu. Lawler folgte ihm, ebenfalls schweigend. Der Pfad verlief hier über ein zweites kleines Kap, parallel zu jenem, auf dem das E-Werk stand, und unterwegs bekamen sie einen klareren Eindruck von dem Fabrikkomplex. Dort wimmelte es von Gillies, die mit den Flipperflossen Lasten schleppten.
»Diese glitschigen Gauner«, brummte Delagard. »Hoffentlich fliegt ihnen der ganze Mist in die Visagen, wenn sie das Ding anwerfen. Das heißt, falls sie es jemals zum Laufen bringen.«
Sie kamen zur anderen Seite der Landzunge und betraten die Bootswerft Delagards an der kleinen Einbuchtung. Es war das weitaus größte menschliche Unternehmen auf Sorve und hatte über ein Dutzend Beschäftigte. Delagards Schiffe fuhren beständig zwischen den verschiedenen Inseln umher, auf denen er Geschäfte trieb, und brachten Handelswaren von einer zur anderen, die bescheidenen Produkte der verschiedenen häuslichen Heimwerkerbetriebe, welche die Menschen herstellten: Angelhaken, Meißel und Faustkeile, Flaschen und Krüge, Kleidungsstücke, Papier und Tinte, per Hand kopierte Bücher, konservierte Nahrungsmittel und dergleichen. Delagards Handelsflotte hatte auch fast ein Monopol als Lieferer der Metalle, Plastikstoffe und Chemikalien und ähnlicher wesentlich wichtigerer Grundstoffe, die auf den verschiedenen Inseln so mühsam gewonnen wurden. Und alle paar Jahre fügte Delagard seiner Handelskette eine weitere Insel hinzu. Schon seit den ersten Anfängen der Inbesitznahme von Hydros durch die Menschen hatten die Delagards sich hier als Unternehmer betätigt, doch Nid Delagard hatte den Familienbetrieb weit über die bescheidenen Anfänge hinaus expandiert.
»Hier rüber«, sagte Delagard.
Am östlichen Himmel schimmerte plötzlich ein Streifen perlgrauen Morgenlichts. Die Sterne verblaßten, und der kleine Mond überm Horizont verschwand im wachsenden Tag. Und die Lagune färbte sich morgendlich smaragdgrün wie immer. Lawler folgte Delagard auf dem Pfad zur Werft, blickte aber auf die Bucht hinaus und sah nun zum erstenmal deutlich die gewaltigen phosphoreszierenden Wesen, die dort die Nacht über umhergetrieben waren. Und er erkannte, daß es Mäuler waren: riesenhafte flachgedrückte sackähnliche Geschöpfe, fast hundert Meter lang, die mit klaffenden riesigen, weit aufgerissenen Kiefern durch das Wasser zogen und alles verschluckten, was ihnen begegnete. So etwa einmal im Monat tauchte eine Herde von zehn, zwölf dieser Riesen im Hafen von Sorve auf und würgten den noch lebenden Inhalt ihrer Mägen in gigantische geflochtene Rutennetze, die zu eben diesem Zweck dort von den Gillies plaziert waren und die sie während der folgenden Wochen gemächlich abernteten. Ein gutes Geschäft für die Gillies, dachte Lawler — unzählige Tonnen kostenloser Nahrung. Schwerer verständlich allerdings war, was bei dem Geschäft für die Mäuler herauskam.
Delagard gluckste. »Da ist meine Konkurrenz. Wenn ich diese verdammten Mäuler killen könnte, dann könnte ich selber alles mögliche Zeug herschaffen und es den Gillies verkaufen.«
»Und womit würden sie dich bezahlen?«
»Na genau mit dem, was sie mir jetzt bezahlen für die Waren, die ich ihnen verkaufe«, sagte Delagard spöttisch. »Nützliche Grundstoffe. Kadmium, Kobalt, Kupfer, Zinn, Arsen, Jod, eben das ganze Zeug, aus dem dieser verdammte Ozean sich zusammensetzt. Nur eben in weit höheren Mengen als den Tröpfchen und Brosamen, die sie uns jetzt zukommen lassen oder die wir selbst bisher ausfällen können. Wenn wir die Mäuler irgendwie aus der Show rauskriegten… dann lieferte ich den Gillies ihr Fleisch, und sie überhäuften mich als Gegenleistung mit allen möglichen wertvollen netten Kleinigkeiten. Ein recht hübsches Geschäft, möchte ich dir nur sagen. Binnen fünf Jahren hätte ich sie soweit, daß sie mit ihrem gesamten Nahrungsbedarf von mir abhängig wären. Da würde ein Vermögen rauszuholen sein.«
»Und ich habe gedacht, du bist jetzt schon ein reicher Mann. Wieviel mehr brauchst du denn noch?«
»Du begreifst es einfach nicht, wie?«
»Wahrscheinlich ist es so«, sagte Lawler. »Aber ich bin ja auch nur Arzt und kein Geschäftsmann. Also, wo ist jetzt dein Patient?«
»Nicht so hastig, Doc. Ich bring dich so rasch hin, wie es geht.« Delagard fuhr mit einer raschen Geste der Hand seewärts in die Luft. »Siehst du das da drunten, an Jollys Pier? Das kleine Fischerboot? Da müssen wir hin.«
Jollys Pier ragte wie ein Finger aus verfaulten Kelp-Knüppeln etwa dreißig Meter über die Uferbefestigung in die Lagune hinaus. Ganz am Ende des Werftgeländes. Ausgebleicht, verquollen, brüchig von den Tiden und zerfressen von Bohrwürmern und Schabern, war die Pier noch immer mehr oder weniger intakt, ein ehrwürdiges Relikt einer verschwundenen Ära. Ein verrückter alter Seemann, der schon unendlich lange tot war, hatte das Ding gebaut; ein verwittertes Wrack von Mann, ein sonderbarer Kauz, der behauptet hatte, allein die ganze Welt umsegelt zu haben — sogar bis in das Leere Meer, wohin niemand, der noch einen Funken Verstand hatte, jemals fahren würde, ja sogar bis zum Rand der WASSER selbst wollte er vorgedrungen sein, jener fernen verbotenen Insel, dem Großen Geheimnis des Planeten, der sic h offenbar nicht einmal die Gillies zu nähern wagten. Lawler erinnerte sich noch recht gut, wie er als Junge hier draußen am Ende der Pier gesessen und dem Alten zugehört hatte, wenn der seine wilden, aufregenden heldenhaften Geschichten von seinen wundersamen, aber unwahrscheinlichen Abenteuer spann. Das war in einer Zeit gewesen, ehe Delagard hier seine Bootswerft gebaut hatte. Aber aus irgendeinem Grund hatte Delagard den alten verrotteten Landesteg erhalten. Vielleicht hatte auch er die Geschichten des alten Mannes gern gehört, früher einmal.
Eins der Fischerboote Delagards, ein Coracle aus Rutengeflecht, mit Haut bedeckt, war an der Pier vertäut und tanzte in der Dünung. Nahe dabei stand ein Schuppen, der so alt aussah, daß er gut Jollys Behausung gewesen sein konnte; das war aber nicht der Fall. Delagard blieb davor stehen, blickte grimmig zu Lawler auf und sagte mit leiser, bedrohlich knurrender Stimme: »Dir ist doch klar, Doc, daß alles, was du da drin siehst, absolut vertraulich bleiben muß!«
»Verschon mich mit deinem Gesülze, Nid.«
»Ich mein es ernst. Du mußt mir versprechen, daß du den Mund hältst. Wenn das bekannt wird, bin nicht bloß ich am Arsch. Es könnte uns alle umbringen.«
»Wenn du mir nicht traust, such dir ’nen anderen Arzt. Das dürfte dir in dieser Gegend allerdings ziemlich schwerfallen.«
Delagard blickte ihn verdrießlich an; dann brachte er ein frostiges Lächeln zustande. »Also gut. Wie du meinst. Aber jetzt komm erst mal mit rein.«
Er stieß die Schuppentür auf. Im Innern war es völlig finster und ungewöhnlich feucht. Lawler roch den scharfen Salzduft der See, so stark konzentriert, als hätte Delagard ihn hier auf Flaschen gefüllt, daneben noch einen anderen Geruch, säuerlich, stechend und unangenehm, aber er konnte diesen Geruch nicht identifizieren. Er vernahm schwache ächzende Laute, gedehnte, keuchende Laute wie das Seufzen der Verdammten. Delagard tastete dicht bei der Tür herum, es gab ein raschelndes Geräusch, und nach einer Weile riß er ein Streichholz an, und Lawler sah das Bündel getrockneten Seetang, das an einem Ende zugeschnürt war und eine Fackel ergab, die jetzt zu brennen begann. Ein trüber rauchiger Lichtschein ergoß sich in den Schuppen wie ein orangegelber Ölfleck.
»Da, da sind sie«, sagte Delagard.
In der Schuppenmitte befand sich eine grobschlächtige rechteckige Vorratskiste aus Rutenflechtwerk, mit Pech kalfatert, etwa drei Meter lang und zwei breit und fast bis an den Rand mit Meerwasser gefüllt. Lawler trat heran und blickte in den Tank. In diesem lagen, dicht zusammengedrückt wie Sardinen in einer Büchse, drei der schlanken Meeressäuger, die ›Taucher‹ genannt wurden. Ihre kräftigen Flossen waren in unmöglichen Stellungen verzerrt, die Köpfe ragten steif aus dem Wasser und waren schmerzhaft und unnatürlich nach rückwärts verdreht. Der fremdartige beißende Geruch, den er beim Eintreten wahrgenommen hatte, ging von ihnen aus. Inzwischen empfand er ihn aber nicht mehr als so abstoßend. Die erschreckenden stöhnenden Grunzlaute kamen von dem Taucher links. Sie verrieten schie re Agonie.
»Oh, verdammt!« sagte Lawler leise. Jetzt glaubte er zu begreifen, warum die Gillies ihm mit solch wilder Wut begegnet waren. Ihre brennenden Blicke, das drohende Schnarren. Zorn schoß ihm in den Kopf, und seine Wange zuckte nervös. »Verdammt!« Er drehte sich zu dem Reeder um und blickte ihn verärgert, angewidert und beinahe haßerfüllt an. »Delagard, was hast du jetzt wieder angerichtet?«
»Hör mal, wenn du denkst, ich hab dich geholt, bloß damit du mich abkanzeln kannst…«
Lawler schüttelte entschieden den Kopf. »Was hast du getan, Mann?« Er schaute Delagard fest in die Augen, die jetzt dem Blick zuckend auswichen. »Was hast du getan, verdammt noch mal?«
Es handelte sich um Nitrogenabsorption; daran bestanden für Lawler kaum Zweifel. Die schrecklichen Verkrampfungen der drei Taucher war ein sicheres Symptom dafür. Delagard hatte sie bestimmt weit draußen im offenen Meer in großer Tiefe für irgendeine Arbeit eingesetzt und sie so lange drunten gelassen, daß ihre Gelenke, Muskeln und Fettgewebe sich mit riesigen Mengen von Stickstoff anreichern konnten; und dann waren sie — so unglaublich das erscheinen mochte — offenbar ohne Rücksicht auf die nötige Dekompressionsphase wieder an die Oberfläche geholt worden. Unter dem schwindenden Wasserdruck hatte sich der Stickstoff ausgedehnt und war in Gestalt von tödlichen Bläschen in den Blutkreislauf und die Gelenke eingedrungen.
»Sobald wir merkten, daß es Ärger gibt, haben wir sie hierher geschafft«, sagte Delagard. »Wir haben uns gedacht, du kannst vielleicht was für sie tun. Und ich meinte, wir lassen sie am besten im Wasser, sie müssen unter Wasser bleiben, also haben wir den Behälter da gefüllt und…«
»Sei still!« sagte Lawler.
»Aber ich will dir doch bloß sagen, daß wir keine Mühe gescheut…«
»Halt den Mund! Bitte, halt einfach die Klappe, ja!?«
Lawler streifte den Seelattich-Sarong ab und kletterte in das Becken. Als er sich neben die Taucher zwängte, schwappte Wasser über den Rand. Leider konnte er nicht viel für sie tun. Der in der Mitte war bereits tot. Lawler legte ihm die Hände auf die muskulösen Schultern und erkannte, daß der Rigor mortis bereits einzusetzen begann. Die anderen zwei waren mehr oder weniger noch lebendig — was die Sache für sie nur um so schlimmer machte, denn sie mußten scheußliche Schmerzen haben, sofern sie überhaupt noch bei Bewußtsein waren. Die im Normalzustand glatten torpedoförmigen Körper von etwas mehr als Mannslänge waren von bizarren Buckeln und Knoten bedeckt, jeder Muskel gegen seinen Widerpart gespannt, die golden schimmernde Haut, sonst glatt und seidig, fühlte sich rauh an, voller kleiner Knötchen. Die bernsteingoldnen Augen blickten trübe. Die vorstrebenden Unterkiefer und Kehlsäcke hingen schlaff. Grauer Schleim bedeckte die Schnauzen. Der linke Taucher stöhnte noch immer unablässig alle halbe Minute, und der Laut klang, als risse er sich entsetzlich irgendwie aus den Tiefen seiner Eingeweide los.
»Kannst du sie wieder hinkriegen, irgendwie?« fragte Delagard. »Kannst du was machen? Irgendwas? Ich weiß, du kannst es, Doc. Du kannst es.« Delagards Stimme klang jetzt drängend und schmeichlerisch, wie er sie nie zuvor gehört hatte. Er war es zwar gewohnt, daß Kranke ihm gottähnliche Kräfte unterstellten und von ihrem Arzt ein Wunder verlangten. Doch weshalb bekümmerte das Schicksal dieser Taucher Delagard dermaßen? Was war hier wirklich im Gange? Ganz gewiß doch empfand Delagard keine Schuldgefühle. Doch nicht Delagard!
Also sagte Lawler kalt: »Ich bin kein Spezialist für Taucher. Ich beherrsche nur die Humanmedizin. Und selbst darin könnte ich es durchaus ertragen, noch eine Menge dazuzulernen.«
»Versuch’s doch. Tu was. Bitte!«
»Der eine ist bereits tot, Delagard. Und Auferweckung von Toten hat nicht zu meiner Ausbildung gehört. Wenn du ein Wunder brauchst, dann hol deinen Priesterfreund Quillan.«
»Jesus-Christus!«
»Genau… Wunder sind seine Spezialität, nicht die meinige.«
»Ogottogott!«
Lawler tastete aufmerksam am Hals der Taucher nach Pulsschlägen. Bei beiden schlug das Herz noch, gewissermaßen, langsam und unregelmäßig. Bedeutete das, sie lagen im Sterben? Er wußte es nicht. Verdammt, was war bei einem Taucher ein Normalpuls? Woher sollte er so was wissen? Die einzige Chance, dachte er dann, wäre wohl, die zwei noch lebenden Taucher ins Meer zurückzuschaffen, sie in die frühere Tiefe zu bringen und sie dann wieder heraufzuholen, ganz langsam, damit sie unterwegs den überschüssigen Stickstoff abbauen könnten. Aber es gab keine Möglichkeit, das zu tun. Und außerdem war es wohl sowieso bereits zu spät.
In seiner Bedrängnis strich er ziellos und in einer beinahe mystischen Weise mit den Händen über die verkrümmten Leiber, als könnte er nur durch die Berührung die Stickstoffbläschen austreiben. »Wie tief waren sie drunten?« fragte er, ohne aufzublicken.
»Das wissen wir nicht genau. Vierhundert Meter vielleicht. Vielleicht auch vier-fünfzig. Der Grund war an der Stelle uneben, und die See umtriebig, also haben wir nicht genau mitgekriegt, wieviel Leine wir runtergegeben haben.«
Glatt runter bis auf den Meeresboden. Der pure Wahnsinn!
»Wonach habt ihr da gesucht?«
»Manganknollen«, sagte Delagard. »Außerdem war da drunten angeblich auch noch Molybdän und vielleicht einiges Antimon. Wir haben mit dem Scoop ein ganzes Mineralienkabinett raufgeholt.«
»Dann hättest du eben den Löffel nehmen müssen«, sagte Lawler zornig, »um dein Mangan raufzuholen. Nicht die armen Kerle da!«
Er spürte, wie Wellen den Leib des rechten Tauchers überliefen und wie er konvulsiv zuckte und ihm unter den Händen starb. Der dritte wand sich noch immer, stöhnte noch immer.
Eine eiskalte giftige Wut packte ihn, genährt ebenso stark von Verachtung wie von Zorn. Das hier war Mord… und hirnloser, abgrunddummer Mord überdies. Taucher waren intelligente Tiere — nicht so intelligent wie die Gillies, aber gescheit genug und zweifellos klüger als Hunde, klüger als Pferde, klüger als irgendeines der übrigen Tiere der Alten Erde, von denen Lawler in den Tagen gelesen hatte, als er noch Geschichten las. Die Meere auf Hydros waren voll von Geschöpfen, die man als intelligent ansehen mußte, und das war eine der bestürzenden Erkenntnisse über diese Welt, daß sie nicht nur die Evolution einer einzelnen intelligenten Art erlebt hatte, sondern anscheinend Dutzende von ihnen. Die Taucher besaßen eine Sprache, sie hatten Individualnamen und eine Art Stammesstruktur. Im Gegensatz zu fast allen übrigen intelligenten Spezies auf Hydros allerdings hatten sie leider eine fatale Schwäche: Sie waren gelehrig und Menschen gegenüber sogar freundliche, fröhliche, liebenswürdige Gefährten im Wasser. Sie ließen sich zu Gefälligkeiten verleiten. Und man konnte sie sogar arbeiten lassen…
Bis sie dabei krepierten…
Lawler massierte verzweifelt weiter den Körper des Tauchers, der noch lebte. Er hoffte immer noch — wider besseres Wissen —, es könne ihm gelingen, auf diese Weise den Stickstoff aus dem Körpergewebe zu vertreiben. Für einen kurzen Moment wurden die Augen des Tauchers klar, und er stieß fünf, sechs Worte der kehlig-bellenden Tauchersprache aus. Lawler verstand sie nicht, die se Sprache, doch die Wortinhalte waren nur allzu leicht zu errate: Schmerz, Bekümmerung, Sorge, Deprivation, Verzweiflung, Schmerz. Dann wurden die Bernsteinaugen wieder trübe, und der Taucher verstummte.
Während er sich abmühte, sagte Lawler laut: »Taucher sind an das Leben in großen Meerestiefen angepaßt. Überläßt man sie ihrer körpereigenen Steuerung, sind sie sehr wohl intelligent genug und wissen, wie schnell sie bestenfalls durch die Druckzonen aufsteigen dürfen, damit der Gasaustausch im Körper reibungslos abläuft. Das ›weiß‹ jedes im Meer lebende Geschöpf, und sei es noch so sub- intelligent… ein Schwamm wüßte das, von einem Taucher gar nicht zu reden. Also, wie konnte das passieren, daß diese drei Exemplare dermaßen schnell nach oben kamen?«
»Sie haben sich im Schlepp verfangen«, antwortete Delagard kläglich. »Sie steckten im Netz, und wir haben es nicht bemerkt, bis der Fang aus dem Wasser kam. Gibt es irgendeine Möglichkeit, Doc, irgendeine, wie du sie retten kannst?«
»Der andere da drüben ist auch bereits tot. Und der da hat vielleicht noch fünf Minuten. Das einzige, was ich für ihn tun könnte, wäre, ihm das Genick zu brechen und ihn von seinen Qualen zu erlösen.«
»Oh, Jesus!«
»Genau. Jesus. Was für eine Scheiße!«
Es dauerte nur kurz, ein kurzes Schnappen. Danach stand Lawler eine kleine Weile mit gekrümmten Schultern da, stieß heftig die Luft aus und verspürte selbst so etwas wie Befreiung, als der Taucher tot war. Dann kletterte er aus dem Bassin, schüttelte die Tropfen ab und wickelte sich wieder den Wasserlattich-Sarong um die Hüften. Wonach er sich jetzt sehnte, was er jetzt dringend brauchte, war eine deftige Dosis seiner Betäubungstinktur, diese rosenfarbenen Tropfen, die ihm Frieden spendeten. Einigermaßen. Und ein Bad — nachdem er mit diesen sterbenden Tieren in dem Tank da gesteckt hatte. Aber leider hatte er sein Badewasserquantum für diese Woche bereits verbraucht. Er würde sich also damit begnügen müssen, in der Lagune zu schwimmen, später am Tag. Aber er hatte den Verdacht, daß nach den Erfahrungen dieses Morgens wohl etwas mehr nötig sein werde als ein Bad, bis er sich wieder sauber fühlte.
Er blickte Delagard scharf an. »Das sind doch nicht die ersten Taucher, mit denen ihr so was gemacht habt?«
Der Dicke wich seinem Blick aus.
»Nein.«
»Ja, hast du denn keinen Verstand? Daß du kein Gewissen hast, das weiß ich, aber wenigstens eine Spur Vernunft könntest du doch aufbringen. Was ist mit den anderen geschehen?«
»Sie starben.«
»Das habe ich vermutet. Aber was habt ihr mit den Leichen gemacht?«
»Sie zu Futter verarbeitet.«
»Wundervoll! Wie viele waren es?«
»Es ist schon eine Weile her. Vier oder fünf — ich weiß nicht mehr genau.«
»Also wahrscheinlich zehn. Haben die Gillies davon Wind bekommen?«
Delagards ›Ja‹ war wohl die leiseste akustisch mögliche Bestätigung, die jemand von sich geben konnte.
»Ja«, höhnte Lawler nachäffend. »Klar doch sind sie dir draufgekommen. Die Gillies merken es immer, wenn wir hier in der Fauna herumpfuschen. Und? Was haben sie gesagt, nachdem sie es gemerkt hatten?«
»Sie haben mich verwarnt.« Es klang ein wenig lauter, aber nicht viel, im heiseren unterdrückten Ton eines bei einem Streich ertappten Schuljungen.
Jetzt kommt’s, dachte Lawler. Endlich kommen wir zum Kern der Sache.
»Verwarnt, inwiefern?« fragte er.
»Daß ich bei meinen Operationen künftig keine Taucher mehr einsetzen soll.«
»Aber wie’s aussieht, hast du das trotzdem gemacht. Wieso, verdammt, hast du denn weitergemacht, nachdem sie dich bereits gewarnt und es dir verboten haben?«
»Wir haben die Methode abgewandelt. Wir dachten eben, es wird schon nichts schiefgehn.« Delagards Stimme gewann wieder ein wenig Festigkeit zurück. »Hör mal, Lawler, hast du überhaupt ’ne Ahnung, wie wertvoll diese Mineralknollen sein könnten? Durch sie könnte sich unsere ganze Existenz auf diesem verdammten Wasserloch von Planeten verändern! Woher hätte ich denn wissen sollen, daß die Taucher direkt in das verdammte Grundnetz schwimmen? Und woher soll ich wissen, daß sie da auch noch drinbleiben wollten, nachdem wir signalisiert hatten, daß wir den Schlepp einholen?«
»Sie wollten ganz bestimmt nicht da drinbleiben. Sondern sie müssen sich dort verfangen haben. Intelligente taucherfahrene Meerestiere bleiben nicht einfach so in einem Netz sitzen, das aus vierhundert Metern im Eiltempo raufgeholt wird.«
Delagard antwortete mit blitzenden Augen: »Also, sie sind aber dringeblieben. Warum, das weiß ich auch nicht.« Dann erlosch der bossige Blitzeblick, und er bedachte Lawler erneut mit der Miene eines, der um ein Wunder bittet, die Augäpfel flehentlich nach oben verzückt. Hoffte er etwa noch immer? Sogar jetzt noch? »Hast du wirklich nichts, gar nichts tun können, um sie zu retten, Lawler? Überhaupt gar nichts?«
»Na klar, hätte es da was gegeben. Alles mögliche hätte ich machen können. Aber anscheinend war ich wohl grad nicht in der rechten Stimmung dafür.«
»Tut mir leid. Das war blöd von mir.« Delagard sah fast zerknirscht drein. Heiser sagte er: »Ich weiß, du hast dein Bestes versucht. Hör mal, gibt es irgendwas, das ich dir in dein Vaargh schicken lassen kann, als Honorar? Vielleicht eine Kiste Beerentang-Brandy, oder ein paar gute Körbe, oder eine Wochenration Banger-Steaks…«
»Den Brandy«, sagte Lawler. »Das ist noch die beste Idee, dann kann ich mich wenigstens richtig besaufen und zu vergessen versuchen, was ich hier heut früh gesehen hab.« Er schloß die Augen. »Die Gillies haben Kenntnis davon, daß du drei komatöse Taucher die ganze Nacht lang hier versteckt hast.«
»Wirklich? Woher willst du das so sicher wissen?«
»Weil ich in ein paar von ihnen reingelaufen bin, vorhin, als ich an der Bucht herumgewandert bin, und sie haben mir fast den Kopf abgebissen. Sie schäumen vor Wut. Hast du denn nicht gesehen, wie sie mich vertrieben haben?« Delagards Gesicht war auf einmal aschgrau; er schüttelte den Kopf. »Also, sie haben mich verscheucht. Und ich hatte nichts weiter getan, als daß ich bestenfalls ihrem Kraftwerk etwas zu nahe gekommen bin. Nur, früher haben sie durch nichts zu verstehen gegeben, daß uns dort der Zutritt verboten ist. Also muß es wegen der Taucher gewesen sein.«
»Meinst du wirklich?«
»Was sonst?«
»Setz dich erst mal hin. Doc, wir müssen miteinander reden.«
»Nicht jetzt.«
»Also, hör doch erst mal zu!«
»Ich will aber nicht, klar? Ich kann mich hier nicht lä nger aufhalten. Ich hab was anderes zu tun. Wahrscheinlich warten im Vaargh schon die Patienten auf mich. Verdammt noch mal, ich hab noch nicht einmal gefrühstückt.«
»Doc, warte doch ’nen Moment. Bitte!«
Delagard griff nach ihm, doch Lawler schüttelte die Hand ab. Auf einmal erregte ihm die heiße dumpfige Luft in dem Schuppen und der süßliche Geruch der toten Leiber Brechreiz. Sein Kopf begann sich zu drehen. Auch Ärzte haben ihre Grenzen. Er machte einen Bogen um den gaffenden Delagard und wollte ins Freie . An der Tür schwankte er mit geschlossenen Augen vor und zurück, holte tief Luft und lauschte dem Grollen seines leeren Magens und dem Knarren der Landebrücke unter seinen Füßen, bis der plötzliche Schwindelanfall wieder von ihm wich.
Er spuckte aus. Ein grüner, trockener Klumpen. Er starrte den Auswurf böse an. Himmel, was für ein Tagesbeginn!
Inzwischen war es Tag geworden. Ganz und gar. Wegen der unmittelbaren Äquatornähe von Sorve stieg die Sonne am Morgen rasch über den Horizont und versank bei Einbruch der Nacht fast genauso plötzlich wieder. Und an diesem Morgen war der Himmel noch dazu ganz besonders prächtig. Helle rosa Bänder waren mit rotgelben und türkisfarbenen gemischt und über das Firmament ausgegossen. Der Himmel da droben sah fast so bunt aus wie Delagards Sarong, dachte Lawler. Kaum war er vor dem Schuppen und in der frischen Luft, hatte er sich rasch wieder gefangen, spürte nun aber, wie eine erneute Woge von Zorn in ihm aufschwoll, die üble Resonanzen in seinen Eingeweiden auslöste, und er senkte den Blick auf seine Füße und atmete erneut tief durch. Er mußte zusehen, daß er heimkam, das war es, was er jetzt brauchte. Sein Haus und ein Frühstück — und vielleicht ein oder zwei Tröpfchen von seiner Taubkraut-Tinktur. Und danach die tägliche Tretmühle.
Er machte sich hangaufwärts auf den Weg.
Weiter im Inselinnern waren bereits Leute auf und unterwegs.
Niemand schlief hier noch lang nach der Morgendämmerung. Die Nacht war zum Schlafen da, am Tag wurde gearbeitet. Auf dem Weg zu seinem Vaargh und zu dem morgendlichen Schub echt Leidender und chronischer Wehleidiger, der sich bei ihm einfinden würde, stieß Lawler auf einen signifikanten Prozentsatz der menschlichen Inselpopulation und grüßte jeden. Hier am Schmalende des Eilands, wo die Menschen hausten, hockte man sich sozusagen die ganze Zeit gegenseitig im Nacken.
Die meisten Leute, denen er zunickte, während er die sanfte Steigung des festen hellgelben Flechtpfades hinaufwanderte, waren Menschen, die er seit Jahrzehnten kannte. Fast die ganze Humanpopulation auf Sorve war auf Hydros geboren, und davon wieder war über die Hälfte direkt hier auf der Insel zur Welt gekommen. Genau wie auch Lawler selbst. Und die meisten hatten sich nicht ausdrücklich dafür entschieden, ihr gesamtes Leben auf diesem fremden Wasserball zu verbringen, taten es aber dennoch, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Die Lebenslotterie hatte ihnen schlicht bei ihrer Geburt das Ticket für Hydros ausgespielt, und sobald man erst mal auf Hydros war, konnte man nie wieder von hier fort, denn es gab keine Raumflughäfen und man konnte den Planeten nur auf einem Weg verlassen: durch den Tod. Die Geburt hier bedeutete die Verurteilung zu ›Lebenslänglich‹. Dies war seltsam in einer Galaxie voller bewohnbarer und bewohnter Welten — daß einem keine Chance gegeben wurde, selbst zu wählen, wo man gern leben wollte… Aber dann gab es da noch die anderen, die von draußen in Landekapseln hereingeplatzt kamen, und die hatten die Wahl gehabt und hätten überallhin gehen können im Universum und hatten sich trotzdem für diesen Planeten entschieden, obwohl sie wußten, daß es für sie kein Zurück gab. Das war sogar noch seltsamer.
Dag Tharp, der die Radiostation betrieb, nebenbei als Zahntechniker arbeitete und Lawler gelegentlich als Anästhesist assistierte, kam als erster vorbei. Er war ein schmächtiger, kantiger Typ, rotgesichtig, von zerbrechlichem Aussehen, mit einem dürren Hals und einer großen scharfgebogenen Schnabelnase, die zwischen kleinen Augen und praktisch fleischlosen Lippen hervorragte. Weiter hinten tauchte Sweyner auf dem Knüppelpfad auf, der Werkzeugmacher und Glasbläser. Ein kleiner alter Knabe, verknöchert und verwittert. Und hinter ihm kam sein verknöchertes, verwittertes Weibchen, das aussah, als wäre sie seine Zwillings-Schwester. Unter den jüngeren Siedlern gab es einige, die unterstellten, daß sie das wirklich sei, doch Lawler wußte es besser. Sweyners Frau war seine eigene Großkusine, und Sweyner war mit ihm — oder ihr — in keiner Weise verwandt. Die Sweyners, ähnlich wie Tharp, waren beide gebürtige Hydrosianer, ja sogar Sorvesen. Es war zwar ein wenig regelwidrig endogam, eine Frau von der eignen Insel zu ehelichen, wie Sweyner das getan hatte… Wahrscheinlich war das die Ursache — neben der physischen Ähnlichkeit der beiden — für derartigen Tratsch.
Mittlerweile war Lawler der Hauptterrasse, die das aufragende Rückgrat der Insel bildete, nahegekommen. Eine breite hölzerne Rampe führte dort hinauf. Auf Sorve gab es keine Treppen: Die zum Gehen wenig tauglichen Stummelbeine der Gillies eigneten sich auch nicht fürs Treppensteigen. Lawler stieg die Rampe rasch hinan, dann trat er auf die Terrasse, ein flaches Terrain aus steifen, festen, dichtverflochtenen gelben Fasern des Seebambus. Die Terrasse war fünfzig Meter breit, lackversiegelt und laminiert mit Seppeltan-Extrakt und ruhte auf einem Gerüst aus schweren Schwerzkelp-Balken. Die lange schmale Hauptstraße der Insel verlief darüber. Eine Linkswendung führte zu dem von den Gillies bewohnten Bereich der Insel, nach rechts ging es zur Barackensiedlung der Menschen. Lawler wandte sich nach rechts.
»Guten Morgen, Herr Doktor«, brummelte Natim Gharkid, zwanzig Schritt weiter vorn auf dem Weg und trat beiseite, um Lawler vorbeizulassen.
Gharkid war vor vier, fünf Jahren von einer anderen Insel nach Sorve gekommen. Ein Mann mit sanften Augen, einem weichen Gesicht und glatter dunkler Haut, dem es bislang irgendwie noch nicht gelungen war, sich auf irgendeine signifikante Weise in das Leben der Gemeinschaft einzugliedern. Er arbeitete als Algenfarmer und war auf dem Weg hinunter zur Lagune, um dort Tang zu ernten. Das war seine einzige Tätigkeit. Die meisten Menschen auf Hydros hatten Mehrfach-Jobs, weil es in einer dermaßen kleinen Population einfach nötig war, daß die Leute sich in mehreren Fertigkeiten versuchten. Doch Gharkid schien das nicht zu stören. Lawler selber war nicht nur der Insel-Doktor, sondern auch der Apotheker, der Meteorologe und der Bestatter — und wenn es nach Delagard ging, offenbar auch noch der Veterinär. Aber Gharkid war Algenfarmer — und sonst nichts. Lawler nahm an, daß er wohl eingeborener Hydrosianer sei, wußte es aber nicht mit Bestimmtheit, weil der Mensch so selten, wenn überhaupt, etwas über sich erzählte und preisgab. Er war die bescheidenste, unscheinbarste, zurückhaltendste Person, der Lawler jemals begegnet war: still, geduldig, zuverlässig, freundlich, aber unauslotbar, eine undeutliche stumme vorhandene Gestalt, nicht mehr.
Im Vorübergehen lächelten sie einander automatisch zu.
Dann kamen hintereinander drei Frauen. Alle drei in losen grünen Gewändern: die Schwestern, Halla, Mariam und Thecla. Vor etlichen Jahren hatten die drei drunten an der Inselspitze eine Art Kloster gegründet, hinter dem Aschenhof, wo alle möglichen Knochen gesammelt und zu Kalk weiterverarbeitet wurden, um dann zu Seifen, Tinte, Farben und hunderterlei verwendbaren chemischen Produkten veredelt zu werden. Normalerweise hielten sich dort nur die Aschenmeister auf; und die ›Schwestern‹, die hinter dem Abdeckerhof hausten, waren dort vor jeglicher äußeren Störung sicher. Aber alles in allem war es doch eine merkwürdige Wahl für ein Kloster. Seit der Gründung hatten sich die Schwestern darum bemüht, so wenig wie möglich mit Männern zu tun zu haben. Inzwischen lebten dort insgesamt elf Nonnen, also beinahe ein Drittel der weiblichen Gesamtbevölkerung von Sorve: eine bizarre Entwicklung, und einzigartig in der kurzen Inselgeschichte. Delagard sabberte beständig irgendwelche schlüpfrigen Andeutungen, was sich da drunten im Weiberzwinger wohl so alles abspielte. Höchstwahrscheinlich lag er da gar nicht so falsch.
»Ehrwürdige Schwester Halla«, sagte Lawler. »Schwester Mariam, Schwester Thecla…«
Die drei Frauen schauten ihn an, als hätte er etwas Zotiges gesagt. Er zuckte die Achseln und ging weiter.
Das Zentralreservoir lag direkt vor ihm, ein kreisrunder, drei Meter hoher, fünfzig Meter weiter überdeckter Tank aus gelackten Meerbambus-Dauben, die von grell-gelbroten Reifen aus Algenwedeln gefaßt und an der Innenseite mit dem roten Pech versiegelt waren, das man aus den Seegurken gewann. Vom Wasserspeicher ging ein aberwitziges Geflecht von Rohren zu den Vaarghs aus, die direkt dahinter begannen. Die Zisterne war wahrscheinlich das wichtigste Bauwerk in der Siedlung. Erbaut hatten das Reservoir die ersten Menschen, die hierhergekommen waren, vor fünf Generationen, Anfang des 24. Jahrhunderts, als Hydros noch als Strafkolonie diente, und die Zisterne erforderte konstante Wartung und mußte unentwegt geflickt, neu kalfatert und gefaßt werden. Seit mindestens zehn Jahren redete man in der Kolonie davon, daß man das ›Ding‹ durch etwas technisch Eleganteres ersetzen müsse, jedoch war diesbezüglich überhaupt nichts geschehen. Und Lawler zweifelte stark daran, daß dies je der Fall sein werde. Schließlich erfüllte das Ding ja seinen Zweck einigermaßen gut.
In der Nähe des Wasserreservoirs erblickte er diesen Priester, der sich kürzlich auf Hydros eingenistet hatte. ›Father‹ Quillan von der ›Alle Welten umfassenden Kirche‹ kam langsam von der anderen Seite um den Tank herum und ging einer äußerst seltsamen Beschäftigung nach. Alle zehn Schritte etwa blieb der Geistliche stehen, wendete das Gesicht der Zisternenwandung zu, breitete die Arme weit, als wollte er den Behälter zärtlich an die Brust ziehen, und tastete behutsam mit den Fingerspitzen die Wandung ab, hier und dort und da, als suche er nach Lecks.
»Na, hast du Angst, die Mauer bricht zusammen?« rief Lawler ihm zu. Der Mann war ein Außenweltler, ein Neuling. Erst seit knapp einem Jahr auf Hydros, und auf Sorve — kaum ein paar Wochen. »Da brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.«
Quillan fuhr herum. Sichtlich verlegen. Er löste die Hände von der Zisterne.
»Hallo, guten Morgen, Dr. Lawler.«
Der Geistliche war ein kräftiger Mann von asketischem Aussehen, mit beginnender Glatze, glattrasiert, und sein Alter konnte durchaus zwischen fünfundvierzig und sechzig liegen. Er war mager, als habe er seine ganze Fleischlichkeit aus sich herausgeschwitzt, sein Gesicht war ein längliches Oval, in dessen Mitte eine kräftige knochige Nase stand. Die tiefliegenden Augen waren von bleichblauer Kälte, und auch die Haut war sehr fahl, fast wie ausgebleicht; allerdings wirkte sich die stete, einzig aus Meeresprodukten zusammengesetzte Diä t der Hydros- Bewohner allmählich aus und verlieh ihm mehr und mehr den seefarbenen dunklen Teint der Alt-Siedler: die Algen keimten sozusagen durch die Haut heraus.
Lawler sagte: »Das Wasserreservoir ist extrem stabil. Glaub mir, Father. Ich lebe schon mein ganzes Leben lang hier, und nicht ein einzigesmal hat es einen Bruch gegeben. Wir könnten es uns nicht leisten, daß so was passiert.«
Quillan lachte verlegen. »Darum ging es mir eigentlich gar nicht. Tatsächlich wollte ich nur seine Kraft umarmen.«
»Verstehe.«
»Ich wollte diese gesamte geballte Stärke fühlen. Erfahren, wie sich gewaltige Stärke unter Kontrolle anfühlt — diese Hektoliter Wasser, die einzig durch den entschlossenen menschlichen Willen gebändigt sind.«
»Ja, und durch Massen von Seebambus und Reifen, Father. Und nicht zu vergessen, durch die Güte Gottes.«
»Ja, das wohl auch«, sagte Quillan.
Ziemlich seltsam, dieses Verhalten. Umarmt den Wassertank, weil er spüren will, wieviel Kraft da drinsteckt. Aber Father Quillan machte immer derart sonderbare Sachen. Der Mann schien von einer Art verzweifelten Hungers erfüllt: einem Verlangen nach Gnade und Erbarmen, nach der Preisgabe an ein Etwas, das größer war als er selber. Die Sehnsucht vielleicht gar, glauben zu können. Lawler berührte es als recht merkwürdig, daß ein Mann, der behauptete, ein Priester zu sein, dermaßen des göttlichen Geistes ermangelte.
Er sagte: »Mein Ur-Urgroßvater hat die Zisterne konstruiert, weißt du? Harry Lawler, einer der Gründer der Kolonie. Wie mein Großvater immer zu sagen pflegte, gelang ihm alles gut, was er anpackte. Eine Appendektomie ebenso wie die Navigation eines Schiffes von einer Insel zur anderen, wie halt auch der Entwurf eines Wasserreservoirs.« Lawler machte eine Pause. »Er ist hierher deportiert worden wegen Mordes, der alte Harry. Wegen Totschlags, sollte ich wohl korrigieren.«
»Das wußte ich nicht. Also hat deine Familie schon immer auf Sorve gelebt?«
»Von Anfang an. Ich bin hier geboren. Genau gesagt, zirka hundertachtzig Meter von unserem jetzigen Standpunkt entfernt.« Lawler tätschelte zärtlich die Zisternenwand. »Der gute alte Harry. Ohne das da würden wir hier wirklich echte Probleme haben. Du merkst ja, wie trocken das Klima hier ist.«
»Ja, ich merke es allmählich«, antwortete der Priester. »Regnet es denn hier nie?«
»Ach doch, zu bestimmten Zeiten im Jahr schon. Aber jetzt ist eben nicht der rechte Zeitpunkt. Mit Regen darfst du für die nächsten neun, zehn Monate hier nicht rechnen. Deshalb haben wir uns ja so bemüht, unsere Zisternen so zu konstruieren, daß keine Leckagen auftreten.«
Auf Sorve war Wasser eben knapp; jedenfalls das Wasser, das für die Bedürfnisse der Humanbevölkerung geeignet war. Fast das ganze Jahr hindurch schwamm die Insel durch Zonen ohne Regenfälle in der unerbittlichen Gezeitendrift. Aber die schwimmenden Inseln auf Hydros, die mehr oder weniger frei durch die Gewässer trieben, wurden nichtsdestoweniger manchmal jahrzehntelang in klar abgegrenzten planetograpischen Längenzonen durch starke Meeresströmungen von der Kraft gewaltiger Flüsse festgehalten. Jede Insel machte eine jährliche klarbestimmte Migration zwischen den Polen durch, hin und zurück; um die Pole kreisten Wirbelströmungen heftiger bewegten Wassers, von denen die herantreibenden Inseln erfaßt, gedreht und in gegenläufige Bewegung in Richtung auf das andere Ende des Planeten katapultiert wurden. Trotz dieser alljährlichen Nord-Süd-Wanderung durch sämtliche Breitenzonen blieb die ost-westliche Fluktuation wegen der übermächtigen Meeresströmungen minimal. So war etwa Sorve, soweit Lawler sich zurückzuerinnern vermochte, bei seiner unentwegten Weltwanderung zwischen Norden und Süden stets zwischen vierzig und sechzig Grad westlicher Breite geblieben. Dies schien in fast allen Breiten ein Trockengürtel zu sein. Regen kam nur unregelmäßig, außer wenn die Insel durch die polnahen Zonen trieb, wo dann heftige Niederschläge die Regel waren.
Für die einheimischen Kiemlinge, die Gillies, bedeuteten die wiederkehrenden Trockenzeiten kein Problem; ihr Metabolismus war sowieso auf den Konsum von Meerwasser hin angelegt. Doch für die Menschen komplizierte sich das Leben dadurch enorm. Die Trinkwasserrationierung gehörte auf Sorve zur Alltagsroutine. Zwei Jahre hatte es gegeben — einmal, als Lawler erst zwölf war, und in seinem zwanzigsten Jahr, diesem schwarzen Jahr, in dem sein Vater starb —, in denen abnorm üppige Regen wochenlang ununterbrochen über der Insel niedergegangen waren, so daß die Zisternen überflossen und man die Wasserrationierung aufgab. Während der ersten Woche etwa war dies beide Male als interessantes Novum empfunden worden, aber dann wurden die endlosen Regen, die grauverhangenen Tage und der widerwärtige Modergeruch den Menschen lästig. Alles in allem zog Lawler aber die Dürreperioden vor; an sie war er jedenfalls besser gewöhnt.
Father Quillan sagte: »Ich bin fasziniert von diesem Ort. Es ist die seltsamste Welt, die ich je gesehen habe.«
»Wahrscheinlich könnte ich das auch sagen.«
»Bist du viel herumgereist? Auf Hydros, meine ich.«
»Ich war einmal auf Thibeire Island«, antwortete Lawler. »Die kam damals ganz nahe an uns heran, trieb dicht drunten an den Hafen heran, und ein paar von uns ruderten mit einem Flechtboot hinüber und blieben dort den ganzen Tag lang. Ich war damals fünfzehn. Das einzige Mal, daß ich in der Fremde war.« Er bedachte den Priester mit einem forschenden Blick. »Aber du, du bist ein richtiger weitgereister Mann, sagen die Leute. Und sie sagen, du hast zu deiner Zeit ein ziemliches Stück der Galaxie kennengelernt.«
»Ein wenig nur«, sagte Father Quillan. »Nicht besonders viel. Ich war auf sieben Welten. Nein, acht, wenn ich die hier mitrechne.«
»Das macht sieben mehr, als ich je sehen werde.«
»Aber jetzt bin ich am Ende angekommen.«
»Ja«,sagte Lawler, »das trifft sicher zu.« Außerweltler, die nach Hydros kamen, um hier zu leben, waren Lawler unbegreiflich. Wieso taten sie das? Sich auf Sunrise, gleich nebenan, also bloß so etwa zwölf Millionen Kilometer weit weg, in eine Abwurfkapsel stecken zu lassen, um dann auf einen Landeorbit hinausgeschnippt zu werden, der einen schließlich im Meer in der Nähe einer Treibinsel absetzen sollte… und dies im vollen Bewußtsein, daß du Hydros nie -nie-wieder verlassen kannst? Da die Gillies sich der Errichtung eines Raumflughafens an irgendeinem Punkt von Hydros strikt widersetzten, bedeutete die Reise hierher unweigerlich den Endpunkt… und jeder da draußen wußte dies. Und dennoch kamen sie immer noch — nicht gerade in großer Zahl, aber sie träufelten stetig herein, entschlossen, bis zu ihrem Ende als Gestrandete auf einem uferlosen Meer zu leben, einer Welt ohne Bäume und Blumen, ohne Vögel, Insekten und grünes Gras, ohne fellbedeckte und ohne Huftiere… ohne Muße und Annehmlichkeit, ohne eine der Segnungen der modernen Technologie, schiffbrüchig in den nie endenden Gezeiten, auf Inseln aus Rutengeflecht zwischen den Polen einer Welt unablässig hin und her treibend, die nur für Geschöpfe mit Finnen und Flossen geeignet war.
Lawler hatte keine Ahnung, warum Quillan nach Hydros hatte kommen wollen; doch so etwas fragte man hier andere Menschen grundsätzlich nicht. Vielleicht war es wegen irgendeiner Bußübung, als eine Strafe. Als ein Akt der Selbstverleugnung. Ganz gewiß nicht, um hier ein kirchliches Amt auszuüben. Die ›Alle Welten umfassende Kirche‹ war eine post-vatikanische katholische Splittersekte, und soweit Lawler wußte, besaß sie auf Hydros nirgendwo Anhänger. Auch sah es nicht so aus, als wäre Father Quillan als Missionar gekommen. Seit seinem Eintreffen auf Sorve hatte er keinen Versuch unternommen, Proselyten zu gewinnen, was nur vernünftig war, denn Religionen hatten bei den Insulanern noch nie größeres Interesse erregt. »Gott ist weit weg von uns auf Sorve«, pflegte Lawlers Vater oft zu sagen.
Quillan schaute eine Weile ziemlich düster drein, als wäge er noch einmal die realen Aspekte seines lebenslänglichen Gestrandetseins auf Hydros ab. Dann sagte er: »Stört es euch nicht, daß ihr immer hier an dem einen Ort seid? Werdet ihr denn nie kribbelig? Neugierig, wie es auf den anderen Inseln ist?«
»Ach, eigentlich kaum«, antwortete Lawler. »Thibeire damals war ziemlich genau wie Sorve, fand ich. Der gleiche allgemeine Grundriß, der gleiche allgemeine emotionale Eindruck. Nur gab es dort keinen, den ich gekannt hätte. Und wenn schon ein Ort wie der andere ist, warum soll man dann nicht an dem vertrauten Ort bleiben, unter den Leuten, mit denen man schon immer zusammengelebt hat?« Er kniff die Augen zusammen. »Nein, Gedanken mach ich mir über die anderen Welten. Die mit trocknem Land. Die echten richtig festen, soliden Planeten. Ich frage mich, wie das sein muß, wenn man Tage und Tage hindurch einfach so gehen kann und nie offenes Wasser zu sehen bekommt, auf einem festen stabilen Boden gehen, immer, nicht bloß auf einer Insel, sondern auf einem ganzen Kontinent, wo man nicht überall von dem Platz, an dem du lebst, das Ende sieht, sondern eine enorme Landmasse mit Städten drauf und Bergen und Flüssen. Das sind leere Begriffshülsen für mich. Städte. Berge. Ich wüßte so gern, wie Bäume aussehen, was Vögel sind und Pflanzen, die Blüten tragen. Begreifst du? Ich frage mich, wie die ERDE war. Manchmal träume ich, es gibt sie noch, und ich bin wirklich dort, auf ihr, atme ihre Luft und spüre sie unter meinen Sohlen. Sie verfängt sich unter meinen Fingernägeln… Auf Hydros gibt es nirgendwo eine Bodenkrume, ist dir das bewußt? Da ist nur der Sand am Grund der See.«
Lawler blickte hastig zu den Händen des Geistlichen, als könne der noch die schwarze Erde von Sunrise unter den Nägeln haben. Quillans Augen folgten seinem Blick, und er lächelte schweigend.
Dann sagte Lawler: »Ich hab letzte Woche im Gemeindehaus zufällig mitgehört, wie du mit Delagard gesprochen hast: Über den Planeten, auf dem du gelebt hast, ehe du hierher kamst, und ich kann mich noch genau an jedes Wort erinnern, das du gesagt hast. Daß die Erde dort endlos weit erscheint, zuerst Weideland, dann Wald und dann Berge, und hinter den Bergen, auf der anderen Seite, eine Wüste. Und ich saß da und versuchte die ganze Zeit, mir vorzustellen, wie all dies wirklich aussieht. Aber das werde ich natürlich nie wissen. Von hier können wir eben nicht weg und zu anderen Welten, nicht wahr? Für uns brauchte es sie also eigentlich gar nicht zu geben. Und da jeder Fleck auf Hydros genauso ist wie jeder andere, neige ich nicht sehr zu wilden Streifzügen.«
»Natürlich«, sagte Quillan bedachtsam. Und nach einer Weile setzte er hinzu: »Aber das ist doch wohl nicht typisch, oder?«
»Typisch — für wen?«
»Die auf Hydros lebenden Menschen. Daß sie nie jemals irgendwohin reisen, meine ich.«
»Einige von uns sind Wanderer. Alle fünf, sechs Jahre ziehen sie auf eine andere Insel. Andere sind nicht so. Die meisten nicht, würde ich sagen. Ich jedenfalls bin nicht so.«
Quillan überdachte das.
»Natürlich«, sagte er erneut, als verarbeitete er ein kniffliges Faktum. Für den Augenblick sah es so aus, als wären ihm die Fragen ausgegangen. Anscheinend stand er kurz vor der Geburt einer schwerwiegenden Schlußfolgerung.
Lawler betrachtete ihn ohne großes Interesse, wartete aber höflich ab, was der Mann ihm sonst noch zu sagen haben mochte.
Doch es verstrich eine geraume Zeit, und Quillan sagte noch immer nichts. Vielleicht hatte er ja tatsächlich auch nichts weiter zu sagen.
»Na ja, dann«, sagte Lawler endlic h, »ich glaub, es ist Zeit, daß ich meinen Laden aufmache.«
Er setzte sich in Richtung auf die Vaarghs den Pfad hinauf in Bewegung.
»Warte doch«, bat Quillan.
Lawler wandte sich um und schaute ihn an. »Ja?«
»Bist du in Ordnung, Doktor?«
»Warum? Hast du den Eindruck, ich sehe krank aus?«
»Als wärst du irgendwie wegen etwas durcheinander«, sagte Quillan. »Das ist bei dir nicht oft der Fall. Als ich dir zum erstenmal begegnet bin, bekam ich den Eindruck, du bist ein Mann, der geradlinig sein Leben lebt, Tag um Tag und Stunde um Stunde, und der die Dinge nimmt, wie sie eben kommen. Aber heute morgen siehst du irgendwie anders aus. Dieser Ausbruch gerade, über die Anderwelten… also, ich weiß nicht. Das paßt irgendwie nicht zu dir. Aber selbstverständlich darf ich nicht behaupten, dich wirklich zu kennen.«
Lawler starrte den Geistlichen argwöhnisch unter gesenkten Lidern an. Er hatte keine Lust, ihm von den drei toten Tauchern in dem Schuppen auf Jollys Pier zu erzählen.
»Ich hab heute nacht über einige Probleme nachgedacht. Hab nicht genug Schlaf gekriegt. Aber ich hätte nicht geglaubt, daß man mir das so deutlich ansieht.«
»Oh, ich hab einige Erfahrung darin«, sagte Quillan und lächelte. Seine bleichblauen und meist noch gleichgültig und sogar verschleiert wirkenden Augen waren auf einmal irgendwie ungewöhnlich durchdringend geworden. »Dazu gehört nicht grad viel höhere Erkenntnis. Hör zu, Lawler, wenn du irgendwann über irgendwas, was immer es auch ist, mit mir sprechen möchtest… Was immer, wann immer dir was die Brust bedrückt…«
Lawler grinste und wies auf seine Brust, die nackend war. »Wie du deutlich selber sehen kannst, ist da nichts, oder?«
»Du weißt sehr genau, was ich meine«, erwiderte Quillan.
Einen flüchtigen Moment lang schien es, als finde zwischen ihnen eine Art intensiver Kommunikation statt, als fließe knisternd eine Stromspannung, die eine Intimität erstrebte, die Lawler weder wollte noch als angenehm empfand. Dann lächelte der Priester wieder freundlich-milde — zu freundlich, zu milde —, es war ein betont ausdrucksloses, unbestimmtes Lächeln — fast eine Grimasse der Güte —, das offensichtlich darauf abzielte, den Abstand zwischen ihnen wiederherzustellen. Der Priester hob die Hand. Die Geste konnte eine Segnung bedeuten, oder auch die Erlaubnis, sich zu entfernen. Dann neigte er den Kopf, machte kehrt und ging davon.
Als er seinem Vaargh näher kam, sah Lawler dort eine Frau mit langem, glattem dunklen Haar stehen, die dort auf ihn wartete. Eine Patientin vermutlich. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, und er erkannte sie nicht. Mindestens vier Frauen auf Sorve hatten solches Haar.
In dem Teil, in dem Lawler wohnte, gab es dreißig Vaarghs, drunten, an der Inselspitze noch etwa sechzig weitere, die nicht alle bewohnt waren. Es waren graue unregelmäßige und asymmetrische, doch ungefähr pyramidenartige Konstrukte; im Innern hohl, zweimal so hoch wie ein großer Mann, oben zu einer abgestumpften Spitze auslaufend. In Apexnähe waren sie von fensterähnlichen Öffnungen durchbrochen, die nach außen vorgestülpt waren, so daß der Regen nur bei allerheftigsten Stürmen, und auch dann nicht leicht, ins Innere gelangen konnte. Sie waren aus einem dicken, groben Zellulose-Material — einem Meeresprodukt, was sonst hätte es auch sein sollen? — offenbar vor sehr langer Zeit gebaut worden. Das Material war bemerkenswert fest und dauerhaft. Wenn man mit einem Stecken gegen ein Vaargh hämmerte, klang das wie eine metallene Glocke. Die ersten Humansiedler hatten die Vaarghs bei ihrer Ankunft bereits vorgefunden und sie als vorläufige ›Unterkünfte‹ in Benutzung genommen; aber das lag über hundert Jahre zurück, und die Insulaner hausten noch immer darin. Kein Mensch hatte eine Ahnung, wieso die Bauten hier standen. Vaargh-Ansammlungen fand man auf nahezu allen Inseln: vielleicht die verlassenen Nester einer ausgestorbenen Spezies, die einst zusammen mit den Gillies die Inseln bewohnten. Aber diese lebten in völlig andersartigen Behausungen: in flüchtig errichteten Unterschlüpfen aus Seetang, die alle paar Wochen beseitigt und neu errichtet wurden, während diese Vaarghs so ziemlich das Stabilste und Unzerstörbarste waren, das es auf dieser Wasserwelt gab. »Was sind das für Dinger?« hatten die Erstsiedler gefragt, und die Gillies hatten einfach gesagt: »Es sind vaarghs.« Was das aber bedeutete, blieb der Phantasie jedes einzelnen Menschen überlassen. Schließlich war ja die Kommunikation mit den Kiemlingen bis heute immer noch eine reine Glückssache.
Im Näherkommen erkannte Lawler, daß die wartende Frau Sundira Thane war — wie dieser Priester ein Neuzugang auf Sorve. Eine hochgewachsene, ernst wirkende junge Frau, die vor ein paar Monaten auf einem von Delagards Schiffen als Passagier von Kentrup Island angekommen war. Sie übte den Beruf einer Wartungs- und Reparatur- Spezialistin aus — Boote, Netze, Schiffsausrüstung und dergleichen —, doch ihr wirkliches Interessengebiet schienen die Hydraner zu sein. Lawler hatte sagen hören, daß sie eine Expertin für deren Kultur, Biologie und alle anderen Lebensbereiche sei.
»Bin ich zu früh dran?« fragte sie.
»Wenn du nicht selber denkst, es ist zu früh, dann nicht. Komm rein.« Der Zugang zu Lawlers Vaargh war ein niedriger dreieckiger Einschnitt in der Wand, eine Art Durchschlupf für Zwerge. Lawler kauerte sich zusammen und schob sich durch die Öffnung, und die Frau kam ihm hinterhergekrochen. Sie war beinahe so lang wie er selber, und sie wirkte irgendwie verkrampft, geistesabwesend, bedrückt.
Fahles Frühlicht fiel schräg in den Vaargh. Auf der Grundfläche teilten schmale Trennwände aus demselben Material wie die Außenwandung drei kleinere spitzwinkelige Räume ab: seine Praxis, sein Schlafzimmer und ein Vorzimmer, das er auch als Wohnzimmer benutzte.
Es war noch immer sehr früh, etwa sieben Uhr. Lawler wurde allmählich hungrig. Aber er würde mit dem Frühstück noch eine Weile warten müssen, das begriff er jetzt. Statt dessen träufelte er ganz beiläufig ein paar Tropfen seiner Taubkrauttinktur in einen Becher, goß ein wenig Wasser hinzu und schüttete das Ganze hinunter, als wäre es weiter nichts als eine Medizin, die er sich selber zur allmorgendlichen Einnahme verordnet hatte. Gewissermaßen stimmte das sogar. Lawler warf der Frau einen hastigen, etwas schuldbewußten Blick zu, aber sie achtete ganz und gar nicht auf das, was er tat. Sie starrte auf seine kleine Sammlung von Relikten von der ERDE. Jeder, der hierherkam, tat das. Zögernd fuhr sie mit der Fingerspitze über die Bruchkante der kleinen orange-schwarzen Tonscherbe. Dann blickte sie über die Schulter hinweg Lawler fragend an. Er lächelte. »Das kam einst aus einer Gegend, die Griechenland hieß«, sagte er. »Vor langer, langer Zeit auf der ERDE einmal sehr berühmt.«
Die starken Alkaloide der Droge waren augenblicklich mit dem Blutkreislauf durch seinen Körper geschwemmt worden und traten nun ins Gehirn ein. Er fühlte, wie die Verkrampftheit, die ihn nach seinen Begegnungen an diesem Morgen befallen hatte, allmählich verebbte.
»Ich leide unter ständigem Husten«, sagte Thane, »Und er geht nicht weg.«
Und wie auf ein Stichwort brach sie in ein rauhes, trockenes Gebell aus. Ein Husten, das konnte auf Hydros eine ebenso harmlose Infektion sein wie sonstwo; aber es konnte auch etwas sehr Ernstes sein. Alle Insulaner wußten dies.
Es gab hier einen im Wasser lebenden Fungus, einen Pilz, der sich gewöhnlich in den nördlichen gemäßigten Gewässerzonen aufhielt und der im Verlauf seines Fortpflanzungsprozesses dichte schwarze Sporenwolken in die Atmosphäre stieß, Sporen, die sich parasitär in unterschiedlichen maritimen Lebensformen ansiedeln konnten. Wenn ein Meeressäuger beim Luftholen an der Wasseroberfläche solche Sporen einatmete, setzten sie sich im warmen Rachen ihres Wirtstieres fest, keimten sogleich und trieben ein dichtes Gewirr grellroter Hyphen, und dieses Pilzgeflecht konnte mit Leichtigkeit in die Lungen, Eingeweide, den Magen, ja sogar in das Gehirn des Wirtsorganismus eindringen. Der Körper des Wirtes wurde im Innern dann zu einer dichtgepackten Masse von scharlachrot brennenden Fadendrähten, die auf der Suche nach dem auf Kupfer basierenden Atmungspigment Hämocyanin waren. Die meisten hydranischen Seebewohner hatten dieses Hämocyanin im Blut, wodurch dieses eine bläuliche Färbung bekam. Und der Fungus schien für das Hämocyanin ebenfalls Verwendung zu haben.
Der Tod durch Pilzbefall war eine langwierige und scheußliche Krankheit. Der Wirtssäuger, aufgeschwollen von den Gasen, die der eingedrungene Parasit absonderte, trieb hilflos an der Wasseroberfläche, mußte schließlich zugrundegehen, worauf kurz danach der Fungus seine ausgereifte ›Frucht‹ durch eine in das Abdomen des Wirts gebohrte Öffnung austrieb. Diese Frucht war eine kugelige Ligninmasse, die bald danach zerplatzte und eine weitere Generation reifer, ausgewachsener Fungi entließ, die ihrerseits im Laufe der Zeit neue Sporenwolken hervorbringen würden, und so ging der Kreislauf weiter.
Diese ›Killerfungus’-Sporen konnten sich auch in der menschlichen Lunge festsetzen, was allerdings keinerlei Vorteil für irgendwen mit sich brachte; der Mensch war nicht in der Lage, den Pilz mit dem ersehnten Hämocyanin zu versorgen, und der Fungus mußte demzufolge notgedrungen im Verlauf seiner Suche danach jeden Bereich im Körper des unwilligen Wirtes aufsuchen und aufzehren, was eine nutz- und ergebnislose Verschwendung von Energie bedeutete.
Erste Symptome eines Fungusbefalls beim Menschen zeigten sich in einem hartnäckigen chronischen Husten, der sich nicht legte.
»Beginnen wir mit ein paar Auskünften über dich«, sagte Lawler. »Danach werden wir das mal untersuchen.«
Er holte ein neues Formblatt aus der Schublade und schrieb den Namen Sundira Thane darauf.
»Alter?«
»Einunddreißig.«
»Geburtsort?«
»Khamsilaine Island.«
Er blickte auf. »Ist das auf Hydros?«
»Aber ja«, sagte sie, ein wenig zu gereizt. »Natürlich!« Ein erneuter Hustenanfall packte sie. Als sie wieder sprechen konnte, fragte sie: »Hast du noch nie was von Khamsilaine gehört?«
»Es gibt ziemlich viele Inseln. Und ich komme nicht viel zum Reisen. Nein, ich hab noch nie davon gehört. In welcher See treibt es?«
»Im Azurro.«
»Im Azurro«, wiederholte Lawler unsicher. Er hatte nur eine höchst verschwommene Vorstellung davon, wo das azurblaue Meer sich befinden mochte. »Ja, da schau her. Da bist du ja wirklich schon ein ganz schönes Stück gereist, was?« Sie gab ihm darauf keine Antwort. Nach einer Pause fragte er weiter: »Aber hierher bist du doch vor einiger Zeit von Kentrup gekommen, stimmt das?«
»Ja.« Erneuter Hustenanfall.
»Und wie lang hast du dort gelebt?«
»Drei Jahre.«
»Und vorher?«
»Achtzehn Jahre auf Velmise. Zwei Jahre auf Shaktan. Etwa ein Jahr auf Simbalimak.« Sie blickte ihn feindselig an und sagte: »Simbalimak liegt ebenfalls im Azurro.«
»Ich habe von Simbalimak gehört«, erwiderte er.
»Vorher auf Khamsilaine. Also ist dies hier jetzt meine sechste Insel.«
Lawler notierte sich dies.
»Jemals verheiratet gewesen?«
»Nein.«
Auch dies schrieb er nieder. Die generelle Abscheu vor der Endogamie bei den jeweiligen Insularpopulationen hatte auf Hydros zu einer inoffiziellen Praxis der Exogamie geführt. Single -Personen, die sich partnerschaftlich zu binden beabsichtigten, zogen gemeinhin auf irgendeine andere Insel, um sich dort einen Gefährten zu suchen. Aber wenn eine dermaßen attraktive Frau wie Sundira Thane dermaßen viele Inseln abgegrast hatte, ohne sich je zu bin den, dann konnte das nur bedeuten, daß sie entweder besonders wählerisch, oder aber, daß sie gar nicht auf Partnersuche war.
Lawler vermutete letzteres. Der einzige Mann, in dessen Gesellschaft er sie jemals länger verweilen gesehen hatte, seit sie vor ein paar Monaten auf Sorve aufgetaucht war, war Gabe Kinverson gewesen, der Fischer. Der Mann war ein launenhafter, wenig kommunikationsbereiter Typ mit einem markant zerkerbten Gesicht, ein starker, zäher Bursche und (vermutete Lawler jedenfalls) auf eine tierhafte Weise interessant, aber doch kaum der Typ Mann, den eine Frau wie Sundira Thane heiraten wollen würde, sofern sie natürlich auf eine Heiratspartnerschaft aus war. Aber Kinverson seinerseits hatte ja auch noch nie viel eheliche Bindungswut gezeigt.
»Wann haben diese Hustenattacken begonnen?« fragte er.
»Vor acht, nein, vor zehn Tagen. Etwa in der letzten Dreimondnacht, würde ich sagen.«
»Hattest du jemals zuvor ähnliche Beschwerden?«
»Nein. Nie.«
»Fieber? Brustschmerzen? Schüttelfrost?«
»Nein.«
»Hast du beim Husten Sputumauswurf? Blut?«
»Sputum? Meinst du, flüssigen Schleim? Nein, da war nie so was…«
Wieder überfiel sie der Krampfhusten, diesmal noch heftiger. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, das Gesicht rötete sich, der ganze Körper schien zu zucken. Hinterher hockte sie, den Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern nach vorn geneigt, da und sah erschöpft und elend aus.
Lawler wartete, bis sie wieder bei Atem war.
Endlich sagte sie: »Wir sind gar nicht durch die Breiten gekommen, in denen die Killer-Fungi wachsen. Das sage ich mir immer wieder.«
»Das bedeutet aber nichts, wie du weißt. Ihre Sporen können im Wind Tausende von Kilometern weit getragen werden.«
»Innigsten Dank.«
»Du vermutest doch nicht ernsthaft, daß du infiziert bist?«
Sie blickte ihn fast zornig von unten her an. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht stecke ich von der Brust bis zu den Zehen voller roter Drähte, und wie sollte ich das erkennen können? Ich merke nur, daß ich unentwegt husten muß. Du bist es, der mir sagen soll, warum.«
»Vielleicht kann ich das«, erwiderte Lawler. »Vielleicht auch nicht. Wir wollen uns das erst mal anschaun. Zieh die Bluse aus.«
Er holte sein Stethoskop aus einer Lade.
Das Abhorchgerät war ein lächerlich primitives Instrument: nichts weiter als ein zwanzig Zentimeter langes Seebambusrohr, an dem an zwei biegsamen Schläuchen zwei Ohrmuscheln aus Plastik befestigt waren. Lawler hatte praktisch keinerlei modernes medizinisches Hilfsgerät zur Verfügung, eigentlich gar keines, das Ärzte im einundzwanzigsten und sogar im zwanzigsten Jahrhundert für zeitgemäß erachtet haben würden. Er mußte mit primitiven, geradezu mittelalterlichen Instrumenten zurechtkommen. Eine Röntgenuntersuchung hätte ihm sekundenschnell verraten, ob die Frau an Pilzbefall litt. Doch woher sollte er einen Röntgenschirm bekommen? Hydros hatte fast keinen Kontakt zu dem weiten Universum jenseits des Firmaments, und es gab weder Ex- noch Importhandel. Sie mußten schon glücklich sein, daß sie überhaupt so etwas wie medizinisches Hilfsgerät hatten. Und ein paar Ärzte, selbst so halbgebackene, wie er einer war. Die Humankolonie litt an ererbter Armut. Sie hatte so wenig Menschenmaterial mit einer so beschränkten Reserve an beruflichen Fähigkeiten.
Mit entblößtem Oberkörper stand die Frau bei der Auskultationsbank und sah zu, wie er sich die Stethoskophalterung um den Hals legte. Sie war sehr schlank, ja beinahe schon zu mager; die Arme lang, muskulös in der Art, wie die Arme einer mageren Frau muskulös sind, mit harten, kleinen flachen Muskelpaketen; die Brüste klein, hochgelagert und weit auseinanderstehend. Die Physiognomie in der Mitte des breiten, starkknochigen Gesichtes zusammengedrängt: kleiner Mund mit dünnen Lippen, schmale Nase, kühle graue Augen. Lawler fragte sich, wie er auf den Gedanken hatte kommen können, sie sei attraktiv. An ihr war überhaupt nichts im herkömmlichen Sinn als hübsch zu bezeichnen. Es liegt an ihrer Haltung, entschied er: der Kopf auf dem langen Hals etwas vorgereckt, das kräftige Kinn vorgeschoben, die Augen rasch, wach, in ständiger Bewegung. Sie wirkte kräftig, ja beinahe aggressiv. Zu seiner Verblüffung merkte er, daß sie ihn sexuell erregte, aber nicht, weil sie halb nackt vor ihm stand — Nacktheit, teilweise oder völlige, war auf der Insel Sorve weiter nichts Außergewöhnliches —, sondern wegen der starken Vitalität, die sie ausstrahlte.
Es war schon lange her, daß er etwas mit irgendeiner Frau zu schaffen gehabt hatte. In der jetzigen Zeit war es die bei weitem vorzuziehende, leichtere Losung, zölibatär zu leben, frei von Plage und Plunder, sobald du erst einmal die anfänglichen Gefühle der Vereinsamung und Ödnis überwunden hattest, wenn es möglich war, und ihm war das schließlich gelungen. Außerdem war er in seinen Bindungen nie besonders vom Glück begünstigt gewesen. Seine einzige Ehe, als er gerade dreiundzwanzig war, hatte weniger als ein Jahr gehalten. Alle späteren Beziehungen waren beiläufig, zufällig, fragmentarisch geblieben. Kurz: nicht die Mühe wert.
Das kurze Aufflammen endokriner Erregung erlosch rasch. Einen Moment später war er wieder ganz Arzt: Dr. Lawler bei einer Untersuchung.
»Jetzt bitte den Mund weit, ganz weit öffnen.«
»Da gibt es nicht sehr viel zu öffnen.«
»Na, mach es eben, so gut es geht.«
Sie sperrte den Mund auf. Er hatte einen kle inen Tubus mit einem Licht an der Spitze, ein von seinem Vater ererbtes Utensil; die Minibatterie mußte alle paar Tage neu aufgeladen werden. Er schob es der Frau in den Rachen und spähte hindurch.
»Also, stecke ich voller roter Drähte?« fragte sie, nachdem er die Sonde zurückgezogen hatte.
»Sieht nicht danach aus. Ich kann weiter nichts erkennen als eine leichte Rötung im Epiglottisbereich, weiter gar nicht ungewöhnlich.«
»Was ist das, die Epiglottis?«
»Der Lappen, der deine Glottis schützt. Mach dir da mal keine Gedanken.«
Er drückte ihr das Stethoskop ans Brustbein und horchte.
»Kannst du die Drähte da drin wachsen hören?«
»Schscht!«
Langsam schob Lawler das Stethoskop über den flachen harten Bereich zwischen den Brüsten, um die Herztöne abzuhören, dann tastete er weiter über den Brustkorb entlang.
»Ich versuche jetzt, hörbare Anzeichen für eine Entzündung im Perikardium zu entdecken«, sagte er zu seiner Patientin. »Das ist der Beutel um dein Herz. Und ich horche auch auf die Geräusche, die durch die Luft in den Röhrchen und Kavernen deiner Lungen entstehen. Atme jetzt mal tief ein und halt die Luft an. Versuche, nicht zu husten.«
Aber sofort und keineswegs überraschend begann sie zu krächzen. Lawler drückte das Stethoskop weiter gegen ihren Körper, obwohl das Gehuste nicht aufhören wollte. Jede Information war nützliche Information. Schließlich legte sich der Hustenanfall, und die Patientin war erneut hochrot im Gesicht und wirkte erschöpft.
»Tut mir leid«, keuchte sie. »Als du gesagt hast, ich soll nicht husten, war das wie eine Art Signal an meinen Kopf, und ich mußte einfach…«
Ein erneuter Husten kam über sie.
»Nur ruhig«, sagte er, »ganz ruhig.«
Diesmal dauerte der Anfall nicht so lange. Er horchte sie dabei ab, nickte, lauschte weiter. Alle s hörte sich normal an.
Aber er hatte noch nie einen Fall von Killer-Fungus zu behandeln gehabt. Er wußte nichts weiter über die Erkrankung, als was er vor langer Zeit von seinem Vater darüber gehört oder von anderen Ärzten auf anderen Inseln gehört hatte. Er überlegte, ob sein Stethoskop ihm wirklich verraten konnte, ob sich da etwas in den Lungen festgesetzt hatte oder nicht, und was es war.
»Dreh dich um«, befahl er.
Er horchte die Geräusche vom Rücken her ab. Er ließ die Patientin die Arme heben und tastete mit den Fingern ihre Flanken nach fremdartigen Wucherungen ab. Sie wand sich unter der Berührung, als würde er sie kitzeln. Er nahm eine Blutprobe aus der Armvene und schickte sie hinter einen Wandschirm in der Ecke, damit sie ihm dort eine Urinprobe produziere. Er besaß so etwas wie ein Mikroskop, das Sweyner, der Mechaniker, ihm zurechtgebastelt hatte. Die Auflösung war kaum besser als bei einem Spielzeugmikro, aber falls sich im Blut irgendwelche lebenden Fremdorganismen eingenistet hatten, würde er sie vielleicht trotzdem ausmachen können.
Ach, verdammt, er wußte so schrecklich wenig.
Sein Patientenkontingent war tagtäglich eine Herausforderung seines ärztlichen Könnens. Meistens mußte er sich so durchmogeln. Sein medizinisches Wissen bestand eigentlich nur aus einer recht dünnen Mixtur von praktischen Prozeduren, die er seinem Vater abgeguckt hatte, der ein hervorragender Arzt gewesen war, von verzweifelter Herumraterei und mühsam erworbenen eigenen Kenntnissen, die er sich nach und nach auf Kosten seiner Patienten erwerben konnte. Lawler hatte sein Medizinstudium erst zur Hälfte hinter sich gebracht, als sein Vater starb, worauf er selber, noch keine zwanzig Jahre alt, sich plötzlich in die Position des ›Doktors‹ auf der Insel Sorve katapultiert sah. Auf dem ganzen Planeten Hydros gab es keine echte medizinische Ausbildung oder irgendwas, das man auch nur entfernt als modernes medizinisches Hilfsmittel, Apparat oder Arznei hätte bezeichnen können, außer den Dingen, die Lawler selber sich aus den maritimen Lebensformen, seiner Phantasie und Gebeten zusammenmixen konnte. Zu Lebzeiten seines bedeutenden, leider früh dahingeschiedenen Vaters hatte irgendeine freundliche Wohlfahrts-Organisation auf Sunrise ab und zu einmal Päckchen mit medizinischer Ausrüstung und Medikamenten abgeworfen, aber eben nur sehr selten und sporadisch, und sie mußten dann auch noch zwischen den zahlreichen Inseln verteilt werden. Außerdem hatten diese vom Himmel fallenden Wohltätigkeiten schon seit langem nicht mehr stattgefunden. Die besiedelte Galaxie war recht ausgedehnt, und nirgendwo machte man sich noch viel Gedanken wegen der paar Leute, die auf Hydros lebten. Lawler tat, was er konnte, aber seine besten Bemühungen waren eben oftmals nicht gut genug. Wenn sich ihm die Chance bot, konferierte er mit den Ärzten von anderen Inseln, in der Hoffnung, von ihnen etwas zu lernen. Ihr medizinisches Können war zwar ebenso trübe wie das seine, doch er hatte entdeckt, daß es zuweilen durch den Austausch gegenseitigen Unwissens möglich wurde, in den Leuten ein Fünkchen der Erkenntnis zu zünden. Manchmal.
»Du kannst dich wieder anziehen«, sagte Lawler.
»Ist es der Schwamm, was meinst du?«
»Es ist nichts weiter als ein nervöser Reizhusten«, beschied er sie. Er hatte jetzt den Abstrich der Blutprobe auf dem gläsernen Objektträger und starrte durch das Monokular des Mikroskops darauf. Was war denn das da? Rot auf rot? Konnten das scharlachrote Myzelfasern sein, die sich durch die rötliche Dunstschicht ringelten? Nein. Nein, eine optische Täuschung, eine Sehschwäche in seinem Auge. Das war ganz normales Blut. »Du bist völlig in Ordnung«, sagte er und schaute zu ihr hinauf. Ihr Oberkörper war noch immer nackt, die Hemdbluse war halb über den hageren Arm gezogen. Ihr Gesichtsausdruck verriet Argwohn. »Warum mußt du dir unbedingt einbilden, du hast eine scheußliche Krankheit?« fragte Lawler. »Es ist weiter nichts als ein festsitzender Husten.«
»Weil ich eben sicher sein will, daß ich keine scheußliche Krankheit habe. Deshalb bin ich ja zu dir gekommen.«
»Nun, das ist nicht der Fall.« Er hoffte zu Gott, daß er sich nicht irrte. Aber eigentlich gab es ja keinen Grund, wieso er nicht recht haben sollte.
Er sah ihr zu, als sie ihre Hemdbluse anzog, und ertappte sich bei der Frage, ob zwischen ihr und Gabe Kinverson tatsächlich etwas ›lief‹. Der Inseltratsch interessierte ihn eigentlich kaum, also war er vorher nicht auf einen solchen Gedanken gekommen, doch nun stellte er mit Bestürzung fest, daß er ihm unangenehm war.
Er fragte: »Hast du in der letzten Zeit ungewöhnlich starke Belastungen durchgemacht?«
»Nicht daß ich wüßte. Nein.«
»Zu schwer gearbeitet? Schlecht geschlafen? Eine Liebesbeziehung, die nicht gut läuft?«
Sie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. »Nein. In allen drei Punkten.«
»Nun, manchmal überanstrengen wir uns, ohne es selber zu merken. Dann wird der Streß sozusagen integriert und Teil unserer Routine. Ich sage dir, deine Beschwerden sind weiter nichts als ein nervöser Reizhusten.«
»Weiter nichts?« fragte sie enttäuscht.
»Ja willst du denn, daß es Killer-Fungus sein soll? Schön, dann bist du halt vom Killer-Fungus befallen. Und wenn du in das Stadium kommst, wo dir die roten Fäden aus den Ohren sprießen, dann zieh dir einen Sack über den Kopf, damit deine Mitmenschen nicht vor dir erschrecken. Sie könnten ja sonst fürchten, sie seien in Gefahr. Was natürlich erst sehr viel später der Fall sein wird, wenn du anfängst Sporen abzustoßen.«
Sie lachte. »Ich hab nicht gewußt, daß du so ein Witzbold bist.«
»Bin ich nicht.« Er nahm ihre Hand. Er überlegte, ob er dabei sei, sie anzumachen, oder aber nur den gütigen Onkel spielte, die Rolle des ›lieben alten Doc Lawler‹. »Jetzt hör mir mal zu«, sagte er. »Ich kann bei dir keinen organischen Schaden entdecken. Darum ist es wahrscheinlich, daß dein Husten nur eine nervöse Angewohnheit ist, die du dir irgendwie zugelegt hast. Sobald du damit anfängst, reizt du die Rachenschleimhaut und so weiter. Der Husten wird automatisch und immer heftiger. Irgendwann vergeht er dann von selber wieder, aber das kann lange dauern. Ich werde dir ein Nervenberuhigungsmittel geben, einen Tranquilizer, der deinen Hustenreflex lang genug stillegt, daß die mechanische Irritation aufhört und du dir nicht andauernd weitere Hustensignale gibst.«
Auch das kam für ihn überraschend, daß er bereit war, ihr von seinem Taubkraut abzugeben. Noch nie hatte er zu jemandem ein Wort über seine Droge verloren, geschweige denn sie einem Patienten verordnet. Doch irgendwie erschien ihm dies nun als richtig. Und er hatte einen ausreichenden Vorrat und konnte etwas abgeben.
Er holte aus dem Kabinett einen kleinen trocknen Flaschenkürbis, füllte einige Kubikzentimeter des Elixiers hinein und verschloß ihn mit einem Stopfen aus Seeplastik.
»Das ist eine Droge, die ich selbst aus Taubkraut destilliere, aus einem der Algenstämme, die in der Lagune wachsen. Du nimmst jeden Morgen davon fünf, sechs Tropfen in einem Glas Wasser. Nicht mehr, es ist sehr stark.« Er betrachtete sie eindringlich forschend. »Die Pflanze steckt voll starker Alkaloide, die dich restlos betrunken machen können. Wenn du bloß an einem Wedel knabberst, bist du eine ganze Woche lang bewußtlos. Oder vielleicht auch für immer. Das hier ist ein stark verdünnter Extrakt, aber geh dennoch behutsam damit um.«
»Du selbst hast auch ein Tröpfchen davon genommen, als wir hier hereinkamen, stimmt’s?«
Sie hatte ihn also doch beobachtet. Rasche Augen, eine scharfe Beobachterin. Interessant.
»Auch ich bin hin und wieder mal nervös«, sagte Lawler.
»Mache ich dich nervös?«
»Alle meine Patienten machen mich nervös. Ich verstehe nämlich nicht besonders viel von Medizin, und es wäre mir peinlich, wenn das jemand merkte.« Er zwang sich ein Lachen ab. »Nein, das stimmt gar nicht. Ich verstehe nicht genug von der Medizin, wie ich eigentlich müßte, aber immerhin so viel, daß es reicht. Aber ich hab herausgefunden, daß die Droge mich beruhigt, wenn der Morgen nicht besonders gut läuft, und der heutige hat nicht besonders angenehm für mich angefangen. Es hatte aber nichts mit dir zu tun. Übrigens, du kannst deine erste Dosis auch gleich hier einnehmen.«
Er maß die Tropfen ab. Sie nippte zögernd und schnitt eine Grimasse, nachdem sie das seltsam süßliche Aroma der Alkaloide wahrnahm.
»Spürst du, wie es wirkt?« fragte Lawler.
»Ja, blitzschnell! He, das ist aber guter Stoff!«
»Vielleicht sogar ein bißchen zu gut. Ein wenig heimtückisch.« Er notierte sich etwas in ihrem Patientenbogen. »Fünf Tropfen in einem Glas Wasser, jeden Morgen. Nicht mehr. Oder du bekommst vor dem nächsten Monatsersten keine Nachfüllung.«
»Zu Befehl, Doktor.«
Ihr ganzer Gesichtsausdruck hatte sich verwandelt; sie wirkte nun viel entspannter, die kühlen grauen Augen blickten wärmer, fast zwinkerten sie ihm zu, die Lippen waren nicht mehr so verkniffen, die gespannten Wangenmuskeln waren etwas weicher. Insgesamt sah sie jünger aus. Lawler hatte noch nie vorher die Wirkung des Taubkrauts bei anderen beobachten können. Sie war unerwartet dramatisch.
»Wie hast du die Droge entdeckt?« fragte sie.
»Die Kiemlinge benutzen das Taubkraut als Relaxans bei der Speisefischjagd in der Bucht.«
»Du meinst, die Sassen?«
Die pilierte Pedanterie, mit der sie ihn korrigierte, überraschte Lawler. Als ›Eingesessene‹ und daher ›Sassen‹ bezeichneten sich die dominanten Lebensformen auf Hydros. Aber jeder andere, der länger als einige Monate auf Hydros verweilt hatte, nannte sie ›Gillies‹, ›Kiemlinge‹; jedenfalls auf Sorve. Er dachte, vielleicht sind die Bräuche auf ihrer Heimatinsel anders, da draußen im Azurro. Oder aber es war jetzt die Mode bei jüngeren Leuten. Das wechselte. Er erinnerte sich selbst, daß er zehn Jahre älter war als sie. Höchstwahrscheinlich aber verwendete sie den förmlichen Terminus aus Achtung, da sie sich in der Rolle einer Erforscherin der Gillie -Kultur sah. Ach, zum Teufel, was immer sie bevorzugte, er wollte ihr da gern gefällig sein.
»Ja, die Sassen«, sagte er. »Sie reißen ein paar Algenstränge ab, umwickeln damit einen Köder und werfen es den Speisefischen zu, und wenn die das dann schlucken, werden sie schlaff und treiben wehrlos an die Wasseroberfläche. Dann kommen die Sassen heran und sammeln sie ein, ohne sich um die messerscharfen Tentakelspitzen kümmern zu müssen. Ein alter Seebär namens Jolly hat mir das erzählt, als ich ein Junge war. Später hab ich mich wieder dran erinnert und bin in den Hafen rausgefahren und hab ihnen dabei zugeschaut. Dann habe ich diese Algen gesammelt und mit ihnen experimentiert. Ich dachte, ich könnte sie vielleicht als Anästhetikum verwenden.«
»Und? Ging das?«
»Bei Speisefischen, ja. Aber ich führe kaum je Operationen an denen aus. Als ich es an Menschen einsetzte, fand ich heraus, daß die Dosierung, die für eine sichere Betäubung nötig war, zugleich auch schon tödlich wirkte.« Lawler lächelte bitter. »Meine Lehrlingszeit als Chirurg: Versuch und Irrtum. Überwiegend Irrtum. Doch nach einiger Zeit fand ich heraus, daß eine Tinktur in extrem hoher Verdünnung ein äußerst potentes Beruhigungsmittel ergab. Wie du ja nun selber feststellen kannst. Das Zeug ist phantastisch. Wir könnten es in der ganzen Galaxis verkaufen, wenn wir die Möglichkeit hätten, irgendwas von hier irgendwohin zu transportieren.«
»Und niemand weiß von dieser Droge, außer dir?«
»Außer mir und den Gillies«, sagte er. »Oh, Verzeihung, den Sassen. Und jetzt natürlich dir. Die Nachfrage nach Tranquilizern ist hierorts nicht besonders groß.« Er gluckste. »Weißt du, ich bin heute früh aufgewacht und hatte die aberwitzige Idee, ich könnte die Sassen dazu überreden, daß sie es uns erlauben, an ihr Kraftwerk eine Meerwasser- Entsalzungsanlage anzuschließen, sofern die das Ding jemals in Gang kriegen. Ich wollte ihnen eine lange herzbewegende Nummer vorführen, von wegen Zusammenarbeit zwischen den Spezies. Es war ein blödsinniger Gedanke, eben so dieses Zeug, das einen in der Nacht überkommt und das dann wieder verfliegt wie Nebeldunst, wenn die Sonne aufgeht. Sie wären sowieso niemals darauf eingegangen. Was ich allerdings wirklich machen sollte… ich sollte einen großen Kessel Taubkraut zusammenbrauen und sie damit so richtig sturzbesoffen machen. Ich wette, dann würden sie uns alles hin lassen, was wir wollen.«
Sie sah keineswegs begeistert drein. »Das war doch wohl ein dummer Witz, oder?«
»Ja. Hoffe ich wenigstens.«
»Wenn nicht, dann gib die Idee so schnell wie möglich auf, weil das zu nichts führen kann. Jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt, die Sassen um Gefallen zu bitten. Sie sind derzeit ziemlich ernsthaft wütend auf uns.«
»Weswegen?« fragte Lawler.
»Das weiß ich nicht. Aber irgendwas juckt sie derzeit ganz bestimmt. Ich war gestern abend drüben auf ihrer Inselseite, und da steckten sie mitten in einer großen Besprechung. Und als sie mich sahen, reagierten sie ganz und gar nicht freundlich.«
»Tun sie das jemals?«
»Ach, mir gegenüber schon. Aber gestern abend wollten sie nicht einmal mit mir sprechen. Sie ließen mich nicht einmal in ihre Nähe, und sie nahmen ihre Mißfallensstellung ein. Verstehst du was von ihrer Körpersprache? Sie waren brettersteif!«
Wegen der Taucher, dachte er. Sie mußten bereits von dem Unfall mit den Tauchern gewußt haben. Also deshalb. Aber darüber wollte er jetzt nicht reden; nicht mit der Frau da und auch sonst mit keinem.
»Die Sache mit diesen Aliens«, sagte er, »ist eben, daß sie so anders sind. Sogar wenn wir uns einbilden, wir verstehen sie, kapieren wir ganz und gar nichts. Und ich sehe auch nicht, wie sich dieses Problem lösen lassen sollte. Aber hör mal, wenn dein Husten in zwei, drei Tagen nicht verschwindet, dann komm noch einmal her, und ich mach noch ein paar weitere Tests. Aber hör damit auf, dich selber zu zermürben mit der Angst vor Killer-Pilzen in deinen Lungen, ja? Was immer da ist, mykologisch ist es nicht.«
»Eine erfreuliche Auskunft«, sagte sie. Sie trat noch einmal vor das Bord mit Lawlers Artefakten. »Und diese kleinen Sächelchen stammen alle von der ERDE?«
»Ja. Mein Ur-Urgroßvater hat sie gesammelt.«
»Wirklich? Echte Gegenstände von der ERDE?« Vorsichtig berührte sie die ägyptische Statuette, dann den Steinsplitter, der von irgendeiner bedeutenden Mauer stammte (Lawler hatte vergessen, welche Mauer und was ihre Bedeutung gewesen war). »Echte Stücke von der ERDE. Ich habe noch nie vorher so etwas gesehen. Weißt du, die ERDE kommt mir nicht einmal als etwas Wirkliches vor. Eigentlich war sie das für mich noch nie.«
»Für mich schon«, sagte Lawler. »Aber ich kenne viele, die ebenso empfinden wie du. Sag mir Bescheid über deinen Husten, okay?«
Sie bedankte sich und kroch hinaus.
Und jetzt endlich mein Frühstück, sagte Lawler sich. Endlich! Ein hübsches Peitschenfischfiletchen, Algentoast und frischgepreßten Mamagordo-Saft!
Doch er hatte es zu lang hinausgeschoben. Er hatte keinen rechten Appetit mehr und stocherte nur an seinem Frühmahl herum.
Eine Weile später erschien ein weiterer Patient vor dem Vaargh. Brondo Katzin, der den Fischmarkt auf der Insel betrieb, hatte einen nicht völlig toten Pfeilfisch verkehrt angefaßt, und nun steckte ihm ein dicker, glatter, fünf Zentimeter langer Grätenpin mitten durch die linke Hand, von einer Seite zur anderen. »Das mußte dir mal vorstellen, wie einer dermaßen blöd sein kann…«, wiederholte Katzin, ein Kerl mit einer Brust wie ein Faß und einem ebenso großen leeren Kopf. »Das mußte dir vorstellen!« Seine Augen waren vor Schmerz herausgequollen, die Hand war geschwollen und schimmerte wächsern und war doppelt so groß wie normal. Lawler schnitt die Dorngräte heraus, tupfte die Wunde von beiden Seiten gründlich aus, um das Gift und andere Reizstoffe herauszuwaschen, und gab dem Fischhändler eine Handvoll Gemberkrauttabletten gegen die Schmerzen. Katzin glotzte seine geschwollene Pranke an und schüttelte trübselig den Kopf. »Dermaßen blöd…«, wiederholte er.
Lawler hoffte, daß er die Trichome soweit entfernt hatte, daß die Wunde nicht zu eitern begann. Wenn nicht, bestand für Katzin die Gefahr eines Gangräns, und er würde die Hand, vielleicht gar den ganzen Arm verlieren. Eine Arztpraxis, dachte Lawler, ist bestimmt etwas leichter zu betreiben auf einem Planeten mit einigem festen Boden unter den Füßen, mit einem Raumflughafen und überhaupt so was wie modernerer Technik… Nun, er tat sein Bestes mit dem, was er zur Verfügung hatte. Und — jucheissa — der Tag hatte grad begonnen!
Gegen Mittag Kroch Lawler aus seinem Vaargh, um eine kurze Arbeitspause einzulegen. Es war der seit Monaten der geschäftigste Morgen gewesen. Angesichts der Humangesamtbevölkerung von achtundsiebzig Personen auf der Insel, von denen überdies die meisten recht gesund waren, vergingen manchmal Tage, ohne daß Lawler einen einzigen Patienten zu versorgen hatte. An solchen Tagen verbrachte er den Morgen gern damit, in der Lagunenbucht umherzuwaten und medizinisch nutzbare Algen zu sammeln. Natim Gharkid half ihm dann oft dabei und wies ihn auf die eine und andere brauchbare Pflanze hin. Manchmal aber trödelte Lawler nur einfach, schlenderte umher, schwamm, fuhr in einem Fischerboot auf die Lagune, oder er saß nur still da und schaute aufs Meer. Heute war kein solcher Tag. Zuerst war da Dana Sawtelles Kleiner mit Fieber, dann kam Marya Hain mit Krämpfen, weil sie am Abend zuvor zu große Mengen Crawl-Austern gegessen hatte. Ninber Tanamind, bei dem der gewohnte Tremor und die Migräne wieder eingesetzt hatten. Der junge Bard Thalheim mit einer üblen Knöchelverstauchung nach allzu unbedachter Herumtollerei auf der glatten Seite der Ufermauer. Lawler murmelte die passenden Beschwörungsformeln, behandelte mit den am geeignetest erscheinenden Salben und schickte sie allesamt mit den vertrauten Prognosen und Beruhigungen fort. Höchstwahrscheinlich würden sie sich in ein, zwei Tagen schon besser fühlen. Der gewohnte Dr. Lawler war vielleicht keine medizinische Leuchte als Praktiker, doch Dr. Placebo, sein unsichtbarer Assistent, brachte es dennoch meist früher oder später zuwege, die Patienten von ihren Beschwerden zu befreien. Im Augenblick aber wartete kein Patie nt mehr auf Lawler, und es erschien ihm als ein guter ärztlicher Rat für den Doktor persönlich, etwas frische Luft zu schöpfen. Er trat in die helle Mittagssonne, streckte sich, vollführte mit ausgebreiteten Armen einige Kreiselbewegungen. Dann spähte er hangabwärts zum Hafen. Dort lag die Bucht, friedlich, freundlich, vertraut, das stille eingeschlossene Lagunenwasser sanft gekräuselt. In diesem Moment sah es wundervoll schön aus, eine gläserne, leuchtend-golden schimmernde Fläche, ein glühender Spiegel. Die dunklen Wedel der verschiedenen Meerespflanzen schwangen träge im seichteren Bereich. Weiter draußen durchschnitten hin und wieder blitzende Finnen den Glast. An der Pier der Werft dümpelten ein paar von Delagards Booten in der Dünung. Lawler hatte das Gefühl, als könne dieser Sommermittag ewig weiterdauern, als würden Nacht und Winter nie mehr zurückkehren. Unverhofft durchströmte ein Gefühl des Friedens und Wohlbehagens seine Seele: ein Geschenk, ein Stückchen zufälliges Glück.
»Lawler«, sagte eine Stimme zu seiner Linken.
Eine trockene, brüchige, krächzende Stimme, eine Knochenstatt- Stimme, knirschend von Asche und Geröll. Ein elendes, undeutliches, ausgebranntes Wrack von Stimme, das Lawler dennoch irgendwie als die Stimme Nid Delagards erkannte.
Er war über den Südweg vom Ufer herangekommen und stand nun zwischen Lawlers Vaargh und dem kleinen Bottich, in dem Lawler seine frisch gesammelten Algen für medizinische Zwecke aufbewahrte. Delagard wirkte erhitzt, zerknautscht und verschwitzt, und die Augen waren merkwürdig glasig, als hätte ihn ein Schlaganfall gestreift.
»Was ist denn jetzt schon wieder passiert, verdammt noch mal?« fragte Lawler sehr ärgerlich.
Delagard gab ein wortloses Schmatzen von sich, sein Mund schnappte wie der eines Fisches auf dem Trocknen, aber es kam nichts.
Lawler preßte die Finger in die fleischige Masse von Delagards Arm. »Kannst du nicht reden? Verdammt, nun mach schon! Sag mir, was passiert ist!«
»Jaah. Jaah.« Delagard bewegte schwerfällig und langsam den Kopf wie einen axial taumelnden Ball. »Es ist ganz furchtbar schlimm. Schlimmer, als ich mir je vorgestellt habe.«
»Ja, was denn?«
»Ach, diese verdammten Taucher. Die Gillies sind wegen denen wirklich enorm aufgebracht. Und sie wollen es uns ganz besonders dick zeigen. Enorm dick! Das hab ich dir heute früh sagen wollen, dort drunten im Schuppen, ehe du abgehauen bist.«
Lawler zwinkerte ein paarmal mit den Lidern. »In Gottes Namen, was quasselst du da eigentlich?«
»Gib mir mal erst einen Schnaps.«
»Ja. Aber ja. Komm rein.«
Er goß für Delagard ein deftiges Quantum von dem dicklichen meerfarbenen Gesöff ein, dann, nach kurzem Zögern, versorgte er sich mit einer etwas kleineren Menge. Delagard schüttete seinen Drink auf einen Zug hinunter und hielt den Becher zum Nachfüllen hin. Und Lawler schenkte ihm ein.
Nach einer Weile begann Delagard zu sprechen. Er tastete sich durch die Wörter, als sei er von einer plötzlichen Sprechlähmung befallen. »Die… die Kiemlinge sind vorhin zu mir gekommen, mich besuchen, ungefähr zehn, zwölf. Direkt aus dem Wasser sind sie raufgekommen und in die Werft und haben meine Leute aufgefordert, sie sollen mich rausholen, weil sie mit mir reden wollten.«
Was war das? Gillies? Auf dem von Menschen bewohnten Inselende? So etwas hatte es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Die Gillies kamen nie weiter südwärts als bis zu der Landzunge, auf der sie ihr Kraftwerk gebaut hatten. Niemals.
Delagard warf Lawler einen gequälten Blick zu.
»›Was wollt ihr von mir?‹ hab ich sie gefragt. Mit den entsprechenden feinsten Höflichkeitsgesten, Lawler, bestimmt, alles in feinster Manier. Ich glaube, die Gillies, die da gekommen waren, das waren ihre ganz großen Gillie-Bosse, aber woher sollte man das sicher wissen? Man kann sie doch nicht unterscheiden, oder? Jedenfalls, sie haben irgendwie bedeutend ausgesehen. Sie fragten: ›Bist du Nid Delagard?‹ Als wenn sie das nicht wüßten. Und ich hab das bestätigt und dann haben sie mich erwischt.«
»Dich erwischt?«
»Ich meine, sie haben mich leibhaftig gepackt. Haben ihre komischen kleinen Flossen auf mich gelegt. Mich an die Mauer meiner eigenen Werft gedrückt und mich mit Gewalt festgehalten.«
»Du kannst von Glück sagen, daß du überhaupt noch da bist und drüber reden kannst.«
»Mach keine Witze, Doc. Ich sag dir, ich hab eine Scheißangst gekriegt. Ich glaubte schon, die werden mich da an Ort und Stelle ausnehmen und filetieren. Da! Da schau nur, die Spuren von ihren Klauen auf meinem Arm.« Er präsentierte als Beweis ein paar schwach rötliche Hautstellen. »Und mein Gesicht ist geschwollen, oder? Ich hab versucht, den Kopf wegzudrehen, aber einer von den Typen hat mir eine verpaßt. Vielleicht unabsichtlich, aber schau dir das mal an, schau nur! Zwei von ihnen haben mich festgehalten, und ein dritter schob mir die Nase ins Gesicht und fing an, mir Sachen zu sagen, und ich mein, er hat mich damit regelrecht vollgesabbert, Sachen, mit lautem dröhnenden Gebell… oumwang-boufff-ßßßiezzd und so weiter. Zuerst war ich dermaßen durcheinander, daß ich überhaupt nichts kapiert hab. Aber dann fing ich an klar zu begreifen. Weil, die wiederholten das nämlich immer und immer wieder, bis sie sicher waren, ich hab es kapiert. Und was es war, es war ein Ultimatum!« Delagards Stimme sank einige Oktaven tiefer. »Wir sind von der Insel verbannt. Sie schmeißen uns raus! Wir haben dreißig Tage Zeit, von hier zu verschwinden. Alle, bis zum letzten Kind.«
Plötzlich hatte Lawler das Gefühl, als wiche der Boden unter seinen Füßen weg.
»Was?«
In Delagards Augen lag nun ein hartes, verzweifeltes Glitzern. Er forderte mit einer Handbewegung einen weiteren Becher Schnaps. Lawler goß ein, ohne darauf zu achten, wieviel. »Jeder menschliche Insulaner, der sich nach diesem Termin noch auf Sorve aufhält, wird in die Lagune geworfen und darf nicht wieder an Land. Alles, was wir hier erbaut haben, wird zerstört. Der Wasserspeicher, die Werft, die Gebäude da auf dem Platz, alles. Was wir in unseren Vaarghs zurücklassen, wird ins Meer geworfen. Alle hochseetüchtigen Schiffe, die wir im Hafen zurücklassen, werden versenkt. Wir sind erledigt, Doc! Sorve ist nicht mehr unsere Insel. Wir sind verbannt, erledigt, kaputt!«
Lawler starrte ihn ungläubig an. Ein kreisender Wirbel von Gefühlen durchströmte ihn rasch: Orientierungsverlust, Deprimiertheit, Verzweiflung. Dann wurde er verwirrt und begriff nicht mehr. Von Sorve fortgehen? Weg von Sorve?
Er begann zu zittern. Mühsam gewann er wieder die Kontrolle über sich.
Zwischen den Zähnen sagte er: »Es ist ganz gewiß keine Heldentat, einige Taucher bei einem Industrie -Entwicklungsprojekt umzubringen. Aber das da erscheint mir denn doch als ziemlich übertriebene Reaktion. Du hast sie bestimmt mißverstanden.«
»Ja, Scheiße, hab ich! Keine Spur… Die haben außerordentlich deutlich gemacht, was sie meinten.«
»Und wir müssen alle fort?«
»Wir alle, ja. In dreißig Tagen.«
Habe ich mich da nicht verhört, fragte Lawler sich. Ist das alles wirklich wirklich?
»Haben sie dir einen Grund angegeben?« fragte er. »War es wegen der Taucher?«
»Natürlich wegen denen«, sagte Delagard mit leiser, von Scham verschleierter Stimme. »Wie du schon heut früh gesagt hast: Diese Kiemlinge wissen immer ganz genau über alles Bescheid, was wir tun.«
»O Jesus!« Inzwischen begann sein Zorn die erste schockierte Bestürzung abzulösen. Delagard hatte frech und unbekümmert das Leben aller auf der Insel hausenden Menschen aufs Spiel gesetzt — und er hatte verloren. Die Gillies hatten ihn vorher bereits gewarnt: Mach so was nicht noch mal, oder ihr fliegt hier raus! Und Delagard hatte es trotzdem wieder getan! »Was bist du doch für ein widerwärtiges, dreckiges Schwein, Delagard!«
»Aber ich weiß doch gar nicht, wie sie mir draufgekommen sind. Ich hab alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Wir haben sie in der Nacht gelandet. Wir haben sie zugedeckt gehalten, bis wir im Schuppen waren, und auch der war abgeschlossen…«
»Aber sie wußten es trotzdem.«
»Haben sie«, konzedierte Delagard. »Diese Kiemlinge wissen immer alles, was los ist. Wenn du mit der Frau von ’nem andern schläfst, die wissen es. Aber es ist ihnen egal. Bloß hier nicht. Wenn einem ein paar Taucher draufgehen, dann ist es ihnen auf einmal gar nicht mehr egal und sie werden wütend.«
»Was hatten sie dir beim letztenmal gesagt, als es einen Taucherunfall gegeben hat? Als sie dich abgemahnt haben, bei deinen Arbeiten keine Taucher mehr zu beschäftigen? Was sagten sie, was sie tun würden, falls sie dich wieder dabei erwischen würden?«
Delagard blieb stumm.
»Was haben sie gesagt?« Lawler fragte heftiger.
Delagard fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Daß sie uns von Sorve vertreiben würden«, murmelte er, und wieder blickte er wie ein gescholtener Schuljunge auf seine Füße.
»Aber du hast es trotzdem getan. Trotzdem!«
»Wer hätte das schon ernstgenommen? Himmel, Lawler, wir leben hier seit hundertfünfzig Jahren! Haben die was dagegen gehabt, als wir hierherkamen? Wir fielen vom Himmel und haben uns genau auf ihren blöden Inseln niedergelassen. Na, und? Haben sie zu uns gesagt: Verschwindet, ihr abstoßend häßlichen haarigen Vierbeiner aus der Fremde? Nein, haben sie nicht. Sie haben sich keinen Furz um uns geschert.«
»Es gab aber Shalikomo«, sagte Lawler.
»Ja, aber vor langer Zeit. Ehe du oder ich geboren wurden.«
»Die Gillies haben auf Shalikomo eine Menge Menschen umgebracht. Unschuldige.«
»Andere Gillies. Eine andere Situation.«
Delagard drückte die geballten Fäuste gegeneinander, die Knöchel gaben ein knackendes Geräusch von sich. Seine Stimme wurde heller und lauter. Es schien ihm ziemlich rasch zu gelingen, die Schuldgefühle und Zerknirschung abzuschütteln, die ihn zuvor bedrückten. Das war ein besonderer Kniff, den der Mann beherrschte, dachte Lawler, dieser Stehaufmännchen-Mechanismus seiner eignen Wertigkeit. »Shalikomo war eine Ausnahme«, sagte er. Die Sassen waren zu der Überzeugung gelangt, es gebe auf Shalikomo, das eine sehr kleine Insel war, zu viele von den Menschen und hatten angeordnet, daß einige fortgehen müßten; aber die Menschen auf Shalikomo hatten sich nicht einigen können, wer fort sollte und wer bleiben, und so verließ kaum jemand die Insel; und schließlich entschieden die Gillies selber, wie viele Menschen sie unter sich auf der Insel haben wollten, und töteten den Rest. »Das ist eine uralte Geschichte«, sagte Delagard.
»Sicher, es war vor langer Zeit«, gab Lawler zu. »Aber was bringt dich zu dem Glauben, daß es sich nicht erneut ereignen könnte?«
Delagard sagte: »Die Kiemlinge waren sonst an keinem anderen Ort je besonders feindselig. Gut, sie mögen uns nicht, aber sie hindern uns auch nicht daran, zu tun, was wir wollen, solang wir auf unserem Teil der Insel bleiben und nicht zu zahlreich werden. Wir ernten Kelp, wir fischen soviel wir wollen, wir errichten Gebäude, wir jagen Speisefisch, wir treiben alles mögliche, von dem man vermuten könnte, daß es Andersartigen nicht paßt, und sie sagten nicht ein Wort dagegen. Und wenn es mir gelungen ist, ein paar Taucher als Hilfskräfte bei der Mineralgewinnung auf dem Meeresgrund auszubilden, wodurch die Gillies genauso profitieren würden wie wir, wieso hätte ich deiner Meinung nach daran denken sollen, daß der tödliche Unfall von ein paar Tieren bei der Arbeit sie dermaßen aufregen würde, daß sie… daß sie…«
»Vielleicht war das der letzte Strohhalm, der dem Kamel das Rückgrat brach.«
»Wie? Was, zum Teufel, meinst du damit?«
»Eine alte Spruchweisheit von der ERDE. Vergiß es. Ich meine damit, daß diese Sache mit den Tauchern irgendwie ihre Toleranzgrenze überstieg und daß sie uns jetzt weghaben wollen.«
Lawler schloß kurz die Augen und malte sich aus, wie er seine Siebensachen packen und in ein Boot steigen würde, das zu einer fremden Insel fuhr. Die Vorstellung fiel ihm nicht leicht… Wir werden von Sorve fortmüssen… Wir werden von Sorve fortmüssen… Wir müssen…
Dann merkte er, daß Delagard immer noch weitersprach.
»Das war ehrlich ein Tiefschlag, kann ich dir sagen. Mit so was hätte ich nie gerechnet. Da steh ich, und zwei Brocken von Kiemlingen drücken mich gegen die Wand, halten mir die Arme fest und ein dritter schnieft mir direkt in die Nase und sagt: Ihr alle müßt binnen dreißig Tagen von hier verschwinden. Haut ab — oder… Was glaubst du, wie ich mir da vorgekommen bin, Doc? Besonders weil mir ja klar war, daß ich dafür verantwortlich bin. Du hast heut früh gesagt, ich hab kein Gewissen, aber du hast überhaupt keine verdammte Ahnung von mir. Du hältst mich für einen sturen Bauernklotz, für einen rücksichtslosen Ausbeuter, einen Kriminellen. Aber was weißt du denn schon? Du versteckst dich hier ganz allein, säufst dich um den Verstand und hockst dich hin und urteilst über andere Leute, die im kleinen Finger mehr Energie und Zielstrebigkeit verfügen als du in deinem ganzen…«
»Hör auf mit dem Gesäusel, Delagard.«
»Du hast gesagt, ich hab kein Gewissen.«
»Und? Hast du eins?«
»Also, das will ich dir aber doch mal sagen, Lawler: Ich komme mir vor wie die letzte Scheiße, weil ich so was über uns gebracht hab. Ich bin nämlich auch hier geboren, weißt du! Und du brauchst also keineswegs so hochnäsig deinen Rotz von wegen Erste, Alteingesessene Familie über mich zu schnauben. Nicht bei mir! Meine Familie war von Anfang an hier, genau wie deine. Wir — wir Delagards — haben die Insel praktisch gemacht! Und wenn ich jetzt eröffnet bekomme, daß ich wie ein Stück verfaulter Fisch weggeworfen werden soll, daß alle anderen auch wegmüssen…« Wieder veränderte sich seine Stimme. Der Zorn zerschmolz; er sprach auf einmal leiser, eindringlich, beinahe demütig. »Ich möchte nur, daß du weißt, daß ich die volle Verantwortung für meine Handlungen auf mich nehme. Und ich werde folgendes tun…«
»Still!« Lawler unterbrach ihn mit erhobener Hand. »Hörst du den Lärm?«
»Lärm? Was für Lärm? Wo?«
Lawler wies mit dem Kopf zur Tür. Auf einmal drangen von dem langgestreckten dreieckigen Platz, der die zwei Vaargh-Siedlungen der Insel trennte, Rufe und lautes Geschrei.
Delagard nickte. »Doch, ja, jetzt hör ich’s. Vielleicht ein Unfall?«
Aber Lawler war bereits zur Tür hinaus und strebte in weiten eiligen Schritten dem Platz zu.
An der ›Plaza‹ standen drei wettergebeutelte Gebäude — eigentlich eher Schuppen, Nissenhütten, wackelige Unterschlupfe, an jeder Seite eines. Das größte ›Gebäude‹, zum Inselinnern gelegen, war die Schule. An dem nähergelegenen der zwei hangabwärts weisenden Dreiecksschenkel lag das kleine Cafe, das Lis Nikiaus betrieb, Delagards ›Weib‹. Gegenüber lag das Gemeindezentrum.
Vor der Schule stand ein aufgeregt brabbelndes Häuflein Kinder. Die beiden Lehrer waren auch da. Vor dem Gemeindezentrum schwankte ein Halbdutzend der älteren männlichen und weiblichen Menscheninsulaner taumelnd, wie von einem Hitzschlag getroffen, wild im Kreis herum. Lis Nikiaus war vor ihr Cafe getreten und starrte mit weit offenem Mund ins Leere. Gegenüber befanden sich zwei von Delagards Bootskapitänen: der vierschrötige Klotz Gospo Struvin und der langbeinige schmale Bamber Cadrell. Sie standen oben an der Rampe, die vom Uferkai auf die Plaza führte, und sie klammerten sich ans Geländer wie Männer, die darauf warten, daß jede Sekunde eine Flutwelle über sie hinwegrasen wird. Dazwischen, und den Platz mit seiner Körpermasse teilend, stand der Koloß des Fischhändlers Brondo Katzin wie ein riesenhaftes betäubtes Tier und stierte auf seine nicht mehr bandagierte rechte Hand, als wäre ihm auf dieser soeben ein Auge gewachsen.
Aber es gab nirgends Anzeichen für einen Unfall, nirgendwo einen Verletzten.
»Was ist denn hier los?« fragte Lawler.
Lis Nikiaus wandte sich auf eine merkwürdig schwerfällige Art ihm zu. Sie schwang mit dem ganzen Körper herum wie eine Statue. Eine große Frau, fest und massiv im Fleisch, ein gewaltiger gelber Haarwust, und die Haut so tiefgebräunt, daß sie beinahe schwarz wirkte. Delagard hatte seit dem Tod seiner Frau mit ihr zusammengelebt, seit fünf, sechs Jahren, sie aber nicht geheiratet. Vielleicht, um das Erbe für seine Söhne nicht zu gefährden, munkelten die Leute. Er hatte vier erwachsene Söhne, von denen jeder auf einer anderen Insel lebte.
Heiser, fast wie erstickt, sagte Lis: »Bamber und Gospo sind grad von der Werft raufgekommen… und sie sagen, die Gillies sind hergekommen… sie haben gesagt… sie haben uns… sie haben Nid gesagt…«
Ihre Stimme verlor sich in einem unzusammenhängenden Gestammle.
Die verhutzelte, zwergenhafte Mendy Tanamind, Nimbers uralte Mutter, sagte piepsend: »Wir müssen fort! Wir müssen fort!« Und sie kicherte schrill.
»Da ist gar nichts komisch dran«, sagte Sandor Thalheim. Der war ebenso uralt wie Mendy. Er schüttelte heftig den Kopf, so daß sein bartsprossiger Kehlwammensack wabbelte.
»Und das alles wegen ein paar Viechern«, sagte Bamber Cadrell. »Wegen drei dummen toten Tauchern.«
Also hatte sich die Neuigkeit bereits herumgesprochen. Schlimm, schlimm, dachte Lawler. Delagards Leute hätten die Klappe halten sollen, bis wir uns was ausgedacht haben, wie wir mit der Sache fertigwerden können.
Jemand schluchzte. Mendy Tanamind kicherte wieder. Brondo Katzin durchbrach seine Erstarrung und knurrte unablässig vor sich hin: »Die verfluchten stinkigen Gillies!«
»Was ist denn hier los?« fragte Delagard, der endlich auch auf dem Pfad von Lawlers Vaargh herangestampft kam.
»Deine Kerle Bamber und Gospo haben es übernommen, die Neuigkeit zu verbreiten«, sagte Lawler. »Jetzt wissen alle Bescheid.«
»Was? Wie? Die Mistkerle! Die mach ich fertig!«
»Dafür ist es ein bißchen zu spät.«
Weitere Leute kamen jetzt auf die Plaza. Lawler sah Gabe Kinverson, Sundira Thane, Father Quillan, die Sweyners. Und dicht hinter ihnen noch mehr Leute. Sie drängten heran, vierzig, fünfzig, sechzig Personen, praktisch alle. Sogar fünf oder sechs der Klosterschwestern waren da und hielten sich dicht in einem weiblichen Stoßtrupp zusammen. Die Sicherheit in der Masse, dachte Lawler. Dag Tharp tauchte auf. Marya und Gren Hain. Jose Yanez, Lawlers siebzehnjähriger Lehrling, der eines Tages der nächste Inseldoktor hatte sein sollen. Onyos Felk, der Kartograph. Natim Gharkid war von den Algenfeldern heraufgekommen, er war naß bis zur Hüfte. Also hatte sich inzwischen die Nachricht in der ganzen Gemeinde verbreitet.
Auf den Gesichtern war zumeist Schock zu lesen, Verblüffung und Ungläubigkeit. Ist es wahr? fragten sie. Kann so was möglich sein?
Delagard rief laut: »Hört mir mal alle zu. Es besteht keinerlei Grund zu Besorgnis! Wir werden die Geschichte zurechtbügeln!«
Gabe Kinverson trat zu Delagard. Er wirkte doppelt so groß wie der Reeder, war ein gewaltiger Brocken Mann, nichts als vierschrötiges Kinn, massige Schultern und kalte, meergrün funkelnde Augen. Er war stets irgendwie von einer Aura von Gefahr, von potentieller Gewalttätigkeit umgeben.
»Die haben uns rausgeschmissen?« fragte Kinverson. »Die haben wirklich gesagt, wir müssen weg?«
Delagard nickte.
»Wir haben dreißig Tage Zeit, dann müssen wir fort sein. Haben sie sehr deutlich zu verstehen gegeben. Es kümmert sie nicht, wohin wir gehen, aber wir dürfen nicht mehr hierbleiben. Aber ich werde alles schon richtig schaukeln. Da könnt ihr euch drauf verlassen.«
»Mir scheint’s, du hast bereits alles geschaukelt«, sagte Kinverson. Delagard wich einen Schritt zurück und glotzte ihn an, als mache er sich kampfbereit. Aber der Wasserjäger wirkte eher verwirrt als zornig. »Dreißig Tage und dann weg«, sagte er halb zu sich selber. »Das haut ja wohl alles um!« Er kehrte Delagard den Rücken zu, kratzte sich den Hinterkopf und schritt davon.
Vielleicht macht sich Kinverson ja tatsächlich weiter keine Sorgen, dachte Lawler. Der verbrachte sowieso ganz allein die meiste Zeit auf dem Meer und machte Jagd auf alle möglichen Fische, die nicht in die Lagunenbucht kommen mochten. Kinverson hatte nie aktiv am Gemeinschaftsleben auf Sorve teilgenommen; er schwamm hindurch, ähnlich wie die Inseln auf Hydros im Ozean drifteten, verschlossen, unabhängig, gut geschützt, irgendeinen selbstgewählten Kurs steuernd.
Aber andere reagierten viel aufgeregter. Eliyana, Brondo Katzins zerbrechlich wirkende goldhaarige Partnerin, schluchzte wild. Father Quillan versuchte sie zu trösten, war aber sichtlich selbst recht durcheinander. Die verhutzelten alten Sweyners redeten leise heftig miteinander. Einige der jüngeren Frauen mühten sich, ihren verängstigten Kindern die Vorgänge zu erklären. Lis Nikiaus hatte aus ihrem Cafe ein Gemäß Traubenkrautschnaps geholt, und das kreiste nun rasch zwischen den Männern, die daraus heftige, dumpf-verzweifelte Schlucke tranken.
Lawler sagte leise zu Delagard: »Und wie, präzise gesagt, willst du mit dem Ganzen fertigwerden? Hast du irgendwie einen Plan?«
»Hab ich«, erwiderte Delagard. Auf einmal wirkte er wieder wie voller ungezähmter Energie. »Ich hab dir doch gesagt, ich übernehme die volle Verantwortung, und das meinte ich ernst. Ich werde auf meinen Knien zu den Gillies rutschen, und wenn ich ihnen die — äh — Hinterflossen lecken muß, dann tu ich das und bitte um Vergebung. Und sie werden früher oder später weich werden. Sie werden nicht wirklich auf diesem gottverdammten absurden Ultimatum beharren.«
»Ich bewundere deinen Optimismus.«
Delagard redete weiter: »Und wenn die nicht nachgeben wollen, dann biete ich mich freiwillig für die Exilierung an. Bestraft nicht das ganze Volk, werde ich sagen. Nur mich. Ich bin der Schuldige. Ich will nach Velmise ziehen, oder nach Salimil, oder an jeden Ort, der euch genehm ist, und ihr werdet meine Visage auf Sorve niemals wieder zu Gesicht bekommen, das ist ein feierliches Gelöbnis… Lawler, es wird funktionieren. Die Gillies sind vernünftige Geschöpfe. Sie werden einsehen, daß es keinem vernünftigen Zweck dient, wenn sie eine alte Dame wie hier unsere Mendy von der Insel vertreiben, die achtzig Jahre lang ihre Heimat war. Ich bin der Schurke, der mörderische Taucherkiller-Schuft, und ich werde verschwinden, wenn es sein muß. Allerdings glaube ich kein bißchen daran, daß es soweit kommen wird.«
»Du könntest damit durchkommen. Vielleicht aber auch nicht.«
»Ich werd vor denen auf dem Bauch kriechen, wenn es sein muß!«
»Und du wirst dann einen von deinen Söhnen aus Velmise hierher schicken, wenn sie dich verbannen, stimmt’s?«
Delagard wirkte verdutzt. »Ja, aber was war da dran falsch?«
»Sie könnten vielleicht auf den Gedanken kommen, daß es dir mit deinem Angebot zu emigrieren nicht so richtig ernst ist. Vielleicht denken sie, ein Delagard ist wie der andere.«
»Du meinst, es könnte ihnen nicht genügen, wenn ich als Einziger fortgehe?«
»Genau das hab ich grad gesagt. Sie erwarten von dir möglicherweise etwas mehr als nur das.«
»Und was zum Beispiel?«
»Was würdest du sagen, wenn sie dir eröffneten, ja, sie würden die restliche Humanbevölkerung Sorves begnadigen, vorausgesetzt du verpflichtest dich, daß weder du noch einer aus deiner Familie jemals wieder den Fuß nach Sorve setzt und daß die gesamten Werftanlagen der Delagards niedergerissen werden?«
Delagards Augen begannen zu glitzern. »Nein. So was würden die doch nie verlangen!«
»Sie haben es bereits gefordert. Und noch viel mehr.«
»Aber… wenn ich fortgehe… ich meine, wirklich ehrlich weg… und wenn meine Söhne sich feierlich verpflichten, nie wieder einem Taucher irgendwie Schaden…«
Lawler kehrte ihm den Rücken zu.
Er selbst hatte den ersten Schock überwunden; der schlichte Satz Wir müssen Sorve verlassen war Teil seines Denkens, seiner Gefühle geworden, ja ihm bis in die Knochen bewußt geworden. Und er nahm das Ganze sehr gelassen hin, alles in allem gesehen. Er fragte sich, warum. Von einem Augenblick zum nächsten war ihm die Existenz auf diesem Eiland, die er sich sein ganzes Leben lang aufgebaut hatte, aus den Händen gerissen worden.
Ihm fiel seine Reise nach Thibeire ein. Wie tiefbeunruhigend all diese unvertrauten Gesichter auf ihn dort gewirkt hatten, daß er von ihnen weder die Namen kannte noch etwas über ihre persönliche Lebensgeschichte wußte; wie das war, einen Weg entlanggehen und nicht wissen, wohin er führt. Und wie glücklich er gewesen war, nach ein paar Stunden wieder ›daheim‹ zu sein.
Und nun würde er ganz in die Fremde ziehen müssen, würde dort für den Rest seines Lebens bleiben müssen, unter fremden Leuten leben müssen… Ihm würde jegliches Gefühl verlorengehen, daß er der Lawler von der Insel Sorve sei, und er würde ein Niemand werden, ein Irgendwer, ein Neu-Zugereister, ein Ausländer, ein Eindringling in einer fremden Gemeinschaft, in der er weder seinen Platz hatte noch eine Aufgabe… Das war eigentlich ziemlich schwer zu schlucken. Und trotzdem, er hatte sich nach diesem ersten Moment bestürzter Unsicherheit und Desorientierung irgendwie in einem Zustand dumpfer Hinnahme eingerichtet, als lasse ihn die Vertreibung ebenso unberührt, wie dies bei Gabe Kinverson der Fall zu sein schien, oder bei Gharkid, diesem verdrehten Einzelgänger. Seltsam. Aber vielleicht hab ich es nur noch nicht richtig begriffen, sagte Lawler sich.
Sundira Thane trat zu ihm. Sie wirkte erregt, und auf ihrer Stirn lag eine dünne Schweißschicht. Die ganze Körperhaltung drückte irgendwie starke Anspannung und starke Selbstzufriedenheit aus.
»Ich sagte dir doch, sie sind böse auf uns. Na? Na, und? Sieht doch so aus, wie wenn ich recht gehabt hätte.«
»Das stimmt«, sagte Lawler.
Sie blickte ihn prüfend an. »Also, wir werden wirklich hier fortmüssen. Ich zweifle daran nicht im mindesten.« Ihre Augen funkelten hell. Sie schie n das alles unendlich zu genießen und wirkte fast wie betrunken davon. Es fiel Lawler ein, daß dies bereits die sechste Insel war, auf der sie mit ihren einunddreißig Jahren bisher gelebt hatte. Anscheinend machte es ihr nichts aus, herumzuwandern. Vielleicht genoß sie es sogar.
Er nickte bedächtig. »Wieso bist du so sicher?«
»Weil die Sassen niemals eine getroffene Entscheidung umstoßen. Wenn sie was sagen, dann halten sie sich daran. Und die Tötung von Tauchern wiegt offenbar für sie schwerer als die von Speisefischen und Knallern. Sie haben nichts dagegen, wenn wir in der Bucht nach Nahrung fischen. Sie selber essen ja auch Speisefisch. Aber die Taucher, also die sind irgendwie was anderes. Für sie empfinden die Sassen irgendwie eine Art Beschützerinstinkt.«
»Ja«, sagte Lawler, »wahrscheinlich ist das so.«
Sie starrte ihm fest in die Augen. Sie war fast so groß wie er. »Du lebst hier schon lang, was, Lawler?«
»Mein ganzes Leben.«
»Ach. Tut mir leid, dann wird es für dich ziemlich hart werden.«
»Ich werde damit zurechtkommen«, erwiderte er. »Einen zweiten Arzt kann jede Insel brauchen. Sogar so was Halbgebackenes wie mich.« Er lachte. »Sag mal, was macht denn dein Husten?«
»Ich hab kein einziges Mal husten müssen, seitdem du mir dein Dope gegeben hast.«
»Das hatte ich erwartet.«
Auf einmal stand Delagard wieder neben Lawler. Ohne sich für die Gesprächsunterbrechung zu entschuldigen, sagte er: »Würdest du mit mir zu den Gillies gehen, Doc?«
»Wozu?«
»Sie kennen dich und schätzen dich. Du bist der Sohn deines Vaters, und damit hast du ’nen Stein bei ihnen im Brett. Sie halten dich für einen ernsthaften und ehrenwerten Mann. Und wenn ich versprechen muß, von der Insel fortzugehen, könntest du für mich bürgen und ihnen sagen, ich mein es wirklich ernst, wenn ich verspreche, wegzugehen und nie zurückzukommen.«
»Wenn du ihnen das versprichst, werden sie dir auch ohne meine Hilfe glauben. Sie erwarten einfach nicht, daß irgendein vernunftbegabtes Geschöpf sich zu Lügen erniedrigt, nicht einmal von dir vermuten sie das. Aber damit ist ja immer noch nichts geändert.«
»Geh doch trotzdem mit, Lawler!«
»Es ist Zeitverschwendung. Wir sollten vielmehr darangehen, unsere Evakuierung zu planen.«
»Aber laß es uns doch wenigstens versuchen! Wenn wir das nicht wenigstens tun, wissen wir doch gar nichts.«
Lawler überlegte. »Jetzt gleich?«
»Nein, nach Einbruch der Dunkelheit«, erwiderte Delagard. »Im Augenblick wollen die wirklich niemand von uns empfangen. Sie sind vollauf damit beschäftigt, ihr neues Kraftwerk zu eröffnen. Das haben sie nämlich vor zwei Stunden endlich in Gang gekriegt, mußt du wissen. Und sie haben eine Leitung vom Kai zu ihrem Inselende gelegt, und die transportiert Strom.«
»Wie schön für sie.«
»Wir treffen uns bei Sonnenuntergang drunten am Kai, ja? Und dann gehn wir zusammen zu ihnen rüber und reden mit ihnen. Willst du das machen, Lawler?«
Während des Nachmittags saß Lawler still in seinem Vaargh und versuchte sich klarzumachen, was es bedeuten würde, von der Insel fortzumüssen; er werkelte an der Vorstellung herum, drehte und wendete sie, und sie bedrückte ihn. Es fanden sich keine Patienten bei ihm ein. Delagard hatte sein Versprechen am frühen Morgen nicht vergessen und ihm ein paar Flaschen Beerenkraut-Brandy herüberschicken lassen, und Lawler trank ein paar Schlückchen davon, und dann noch ein paar, ohne daß er irgendeine Wirkung verspürt hätte. Er überlegte, ob er sich noch eine Dosis von seinem Tranquilizer gönnen dürfe, aber irgendwie erschien ihm das nicht als besonders klug. Außerdem war er sowieso momentan ruhig genug; ihn beherrschte nicht die übliche Rastlosigkeit, sondern eher eine Art dumpfer geistiger Lähmung, eine schwer auf ihm lastende Niedergeschlagenheit, und dafür waren seine rosa Tropfen kaum ein brauchbares Antidot.
Ich werde von der Insel Sorve fortgehen, dachte er.
Ich werde an einem anderen Ort sein, auf einer Insel, die ich nicht kenne, unter Menschen leben, von denen ich nicht ihre Namen weiß, nicht ihre Herkunft, und deren inneres Wesen mir ein absolutes Rätsel sein wird.
Er sagte sich, das wird schon gutgehen, und in ein paar Wochen fühlst du dich auf Thibeire, Velmise, Kaggeram oder wie immer die Insel heißen wird, auf der du dich schließlich niederläßt, ebenso heimisch wie auf Sorve. Aber er wußte auch, daß dies nicht stimmte. Dennoch redete er sich das unablässig ein.
Sich damit abzufinden, das schien zu helfen. Hinnahme, vielleicht gar Gleichgültigkeit. Das Blöde war nur, daß er nicht beständig auf diesem reduzierten Niveau eines betäubten Bewußtseins verharren konnte. Immer wieder flackerte in ihm plötzlich schockhaft Bestürzung auf, das Gefühl eines drohenden unerträglichen Verlusts, ja sogar ganz unverhohlene Furcht. Und dann mußte er wieder von vorn beginnen.
Als die Dämmerung kam, kroch Lawler aus seinem Vaargh und machte sich auf den Weg zum Uferwall hinab.
Zwei Monde waren bereits aufgegangen und ein blasser Splitter von Sunrise war wieder am Firmament aufgetaucht. In der Bucht zuckten die Dämmerungsfarben, la nge goldene Reflexe in Streifen, und purpurne, und sie verblichen rasch zum Nachtgrau, während er noch hinsah. Im seichten Wasser schwammen zielstrebig die Schatten rätselhafter Meeresgeschöpfe umher. Alles war so friedlich: die Bucht im schwindenden Tageslicht, so still, so verzaubert.
Dann aber schlichen sich Vorstellungen von der bevorstehenden Seereise in seine Gedanken. Er blickte über das Hafenbecken hinaus auf die weite Wüste der feindlichen, unbegreiflichen See. Wie weit würden sie segeln müssen, bis sie auf eine Insel stießen, die sie aufzunehmen bereit wäre? Ein Turn von einer Woche? Von zwei Wochen? Oder von einem Monat? Lawler war nie draußen auf hoher See gewesen, nicht einmal einen einzigen Tag lang. Damals, diese Fahrt nach Thibeire, die war doch nur ein Tagesausflug in einem Fell-Rindenboot gewesen, kaum über das Flachwasser hinaus zu der anderen Insel, die damals so nahe an Sorve herangedriftet war.
Lawler erkannte, daß er sich vor dem Meer fürchtete. Die See, das war ein gewaltiges, ein weltweites Maul, das (wie er es sich manchmal vorstellte) in irgendeinem urtümlichen Schluckkrampf ganz Hydros konvulsivisch verschlungen haben mußte, wobei nur diese winzigen Treibinseln übrig geblieben waren, die von den Gillies erbaut worden waren. Und diese See würde auch ihn verschlingen, wenn er versuchen würde, sie zu durchqueren.
Ärgerlich hielt er sich selber vor, daß so etwas töricht sei, daß schließlich Männer wie Gabe Kinverson Tag um Tag auf die hohe See hinausführen und es überlebten, daß Nid Dela gard hundertmal zwischen den Inseln gesegelt sei, daß Sundira Thane sogar von einer Insel aus dem Azurro-Meer nach Sorve gekommen war, und das lag dermaßen weit weg, daß er davon noch nicht einmal etwas gehört hatte. Nein, es würde schon alles gut verlaufen. Er würde eben eines von Delagards Booten besteigen, und nach einer Woche oder auch nach zweien würde er darin zu der Insel gelangen, die dann seine künftige Heimstatt sein würde.
Und dennoch — die Schwärze, die Unermeßbarkeit, die zerschmetternde Kraft dieser schrecklichen weltumspannenden See… »Lawler?« rief eine Stimme.
Er wandte sich um. Zum zweitenmal an diesem Tag trat Nid Delagard hinter ihm aus dem Schatten.
»Also komm doch«, sagte der Reeder. »Es wird schon spät. Gehen wir und reden wir mit den Gillies«.
Ein kleines Stück weiter unten an der Küste schimmerte im Kraftwerk der Gillies elektrisches Licht. Weitere Lampen, zu Dutzenden, vielleicht Hunderten, waren in den Straßen der Gillie — Siedlung dahinter entzündet. Die unerwartete Katastrophenmeldung von der Ausweisung hatte das andere bedeutende Tagesereignis vollkommen überschattet: Den Beginn der turbinengetriebenen Elektrostromerzeugung auf Sorve Island.
Es war ein kühles grünliches, ein irgendwie trügerisches Licht. Die Gillies verfügten über eine Art Technologie, die so etwa den Entwicklungsstand des achtzehnten, neunzehnten Jahrhunderts auf dem Planeten ERDE erreicht hatte, und sie hatten so was wie eine Glühbirne erfunden, indem sie für die Glühfäden Fasern des extrem vielseitig anwendbaren See-Bambus benutzten. Die ›Birnen‹ waren kostspielig und schwierig zu produzieren, und die große Voltaische Säule, die bisher die einzige Stromquelle der Insel gewesen war, war schwerfällig und eigensinnig und gab nur träge und unzuverlässig Elektrizität ab, außerdem brach sie beständig zusammen. Nun aber — nach wieviel Jahren Arbeit? Fünf? Zehn? — erglommen die Glühbirnen der Insel durch die Energie aus einer neuen, unerschöpflichen Quelle aus dem Meer: Warmes Oberflächenwasser wurde zu Dampf konvertiert, der Dampf trieb den Turbinengenerator an, aus dem Generator floß der Strom und brachte die Lampen auf Sorve zum Leuchten.
Die Gillies waren bereit gewesen, den Menschen auf der anderen Inselhälfte einen Teil des Stroms abzugeben, im Gegengeschäft: Sweyner sollte ihnen dafür Glühbirnen liefern, Dann Henders sollte bei der Verkabelung helfen, usw. Lawler — neben Delagard, Nicko Thalheim und ein, zwei weiteren Männern hatte eine wesentliche Rolle bei diesem Arrangement gespielt. Es war der einzige bescheidene Triumph ihrer Bemühungen um ›zwischenrassische Kooperation‹ gewesen, den die Menschen in den letzten paar Jahren erreicht hatten. Die Verhandlungen hatten sich zäh und mühselig über fast sechs Monate hingezogen.
Noch an diesem Morgen, erinnerte sich Lawler, hatte er gehofft, er könnte ganz allein ein ähnliches Kooperationsabkommen mit den Gillies aushandeln. Jetzt kam ihm das vor, als läge es Millionen Jahre zurück. Und jetzt trotteten sie hier dahin in der beginnenden Nacht, um zu betteln, daß man sie doch wenigstens weiter auf der Insel leben lassen möge.
Delagard sagte: »Wir gehen direkt zur Häuptlingshütte, ja? Hätte in dem Fall ja auch wenig Zweck, sich nicht gleich an die Spitze zu wenden.«
Lawler zuckte die Achseln. »Wie du meinst.«
Sie machten einen Bogen um das Kraftwerk und strebten darin, immer noch entlang der Küste, auf das Gillie -Gebiet zu. Die Insel wurde hier rasch breiter und stieg von dem niedrigen Niveau hinter dem Kai zu einem weiten runden Plateau an, auf dem im wesentlichen die Gillie- Siedlung stand. Jenseits davon befand sich ein steiler Abhang, an dem die dicke hölzerne Uferbefestigung der Insel direkt an den tief unten liegenden dunklen Ozean grenzte.
Das Gillie-Dorf war in einer unregelmäßigen Rundform angelegt; die wichtigsten Gebäude lagen in der Mitte, die übrigen ungeordnet über die Peripherie verteilt. Der hauptsächliche Unterschied zwischen diesen Bautypen schien ihre Dauerhaftigkeit zu sein; die im Zentrum, anscheinend für Zeremonialzwecke bestimmt, waren aus den gle ichen Kelpholzbohlen errichtet, aus denen die Insel selbst auch gebaut war; die äußeren, in denen die Gillies wohnten, waren schlampig errichtete zelt- oder hüttenähnliche Gebilde aus feuchtem grünen Seegras, das locker auf Seebambusstangen lag. In der heißen Sonne verströmten sie einen scheußlichen Fäulnisgeruch, und sobald die Bedachung einen gewissen Grad der Trocknung erlangt hatte, wurde sie entfernt und durch frisches Gras ersetzt. Eine spezielle ›Kaste‹ unter den Gillies schien unablässig damit beschäftigt zu sein, diese Hütten abzureißen und neue zu errichten.
Um den Teil der Insel zu umwandern, den die Gillies für sich beanspruchten, würde man etwa einen halben Tag brauchen. Als Lawler und Delagard bis zum Zentrum der Siedlung gelangt waren, war Sunrise bereits untergegangen, und das Hydros-Kreuz strahlte hell am Firmament.
»Da sind sie«, sagte Delagard. »Laß mich erst mal reden. Wenn sie anfangen und werden gemein, steigst du ein. Es ist mir egal, wenn du ihnen sagst, daß du mich für einen abgebrühten Scheißkerl hältst. Wenn es nur funktioniert.«
»Glaubst du allen Ernstes, daß da irgendwas noch funktionieren wird?«
»Schhhh! So was will ich von dir nicht hören.«
Ein Halbdutzend Gillies (alles Männchen, vermutete Lawler) kam ihnen von der Dorfmitte her entgegen. Als sie bis auf zehn, zwölf Meter herangerückt waren, hielten sie inne und bildeten gegen die zwei Menschen eine gerade Phalanx.
Delagard hob die Hände zu der Geste, die bedeutete: »Wir kommen in Frieden.« Es war die fundamentale globale Grußformel zwischen Gillies und Menschen. Kein Kommunikationsaustausch begann jemals ohne sie.
Nun hätten eigentlich die Gillies mit ihren gruftigen Wimmerlauten antworten müssen, die besagten: »Wir erkennen euch als Friedfertige und wollen eure Botschaft empfangen.« Aber die Gillies sagten gar nichts. Sie standen nur da und blickten ihnen starr entgegen.
»Ich hab kein gutes Gefühl bei der Geschichte. Du etwa?« sagte Lawler leise.
»Warte. So warte doch!«
Delagard vollzog die Friedensgeste noch einmal. Dann gab er die Handsignale, die bedeuteten: »Wir sind eure Freunde und erweisen euch unseren tiefen Respekt.« Einer der Kiemlinge gab einen Laut von sich, der stark an einen Furz erinnerte.
Mit ihren glitzernden gelben Äuglein, die dicht beisammen an der Basis der kleinen Köpfe lagen, betrachteten die Gillies die zwei Menschen in einer Weise, die zugleich irgendwie eisig und gleichgültig wirkte.
»Laß mich’s mal versuchen«, murmelte Lawler.
Er trat einen Schritt vor. Der Wind stand hinter den Gillies und wehte ihm ihren schweren feuchten Moschusduft entgegen, in den sich der schärfere Gestank des verrottenden Seetangs von den Hütten mischte.
Lawler machte das Friedenszeichen. Es bewirkte keine Reaktion, ebensowenig die Geste »Wir sind Freunde…« Nach einer angemessenen Pause vollzog er die Geste, die signalisierte: »Wir ersuchen um Gehör bei den Herrschern.«
Wieder gab einer der Gillies einen Flatulenzton von sich. Lawler überlegte, ob es wohl dieselbe Person sein könne, die ihn am frühen Morgen so bedrohlich angeschnaubt und angeknurrt hatte, als er sich dem Kraftwerk zu nähern versucht hatte.
Delagard entbot die Zeichen »Bitte-um-Vergebung-für- unwillentliches-Eindringen«. Schweigen; und kalte wachsame Augen blickten sie gleichmütig an.
Lawler versuchte es mit »Wie -dürfen-wir-unseren-Fauxpas- gutmachen?«. Er bekam keine Reaktion darauf.
»Die verdammten Bastarde«, murmelte Delagard. »Am liebsten würde ich ihnen einen Speer in ihre feisten Wänste rammen.«
»Das wissen sie«, sagte Lawler. »Und deswegen wollen sie auch mit dir nicht schachern.«
»Ich verzieh mich. Rede du mit ihnen.«
»Wenn du meinst, der Versuch lohnt sich.«
»Du hast bei ihnen nichts auf dem Kerbholz. Erinnere sie daran, wer du bist. Wer dein Vater war, und was er für sie getan hat.«
»Sonst noch Vorschläge?« fragte Lawler.
»Also, schau mal, ich versuch ja bloß zu helfen. Aber nur zu, mach es, wie immer du denkst. Ich bin auf der Werft. Komm doch auf dem Rückweg vorbei und sag mir, wie es läuft.«
Und er glitt in die Dunkelheit davon.
Lawler Rückte ein paar Schritte näher auf die sechs Gillies zu und begann die ganze Eröffnungsgestikulation von neuem. Danach identifizierte er sich: Valben Lawler, Arzt, Sohn des Bernat-Lawler- Doktors. Des großen Heilers, an den sie sich gewiß erinnerten, des Mannes, der ihren Nachwuchs von der Geißel der Finnenfäule erlöst hatte.
Die bittere Komik entging ihm nicht: Das waren genau die Eröffnungspassagen der Ansprache, die er sich in der verflossenen halben schlaflosen Nacht im Geiste zurechtgedoktert hatte. Nun bekam er ja doch noch Gelegenheit, seinen Sermon loszuwerden. Unter ganz veränderten Umständen allerdings.
Sie blickten ihn reaktionslos an.
Immerhin, diesmal haben sie nicht gefurzt, dachte er. Er signalisierte: »Uns wird befohlen, die Insel zu verlassen. Trifft dies zu?«
Der Gillie an der linken Flanke gab ein dumpfes Rauschen von sich, das eine Bejahung bedeutete.
»Dies bringt uns große Betrübnis. Gibt es einen Weg, wie wir erreichen könnten, daß diese Anordnung zurückgenommen wird?«
Negativ, kam das Röhren des rechten Gillie.
Lawler starrte sie hoffnungslos an. Der Wind war stärker geworden und trieb ihm ihren schweren Körpergeruch eimerweise ins Gesicht, und er mußte ein Gefühl der Übelkeit unterdrücken. Stets waren ihm die Kiemlinge fremdartig und rätselhaft geblieben, und ein wenig abstoßend. Ihm war klar, daß er sie als Gegebenheit akzeptieren sollte, als eben einen Aspekt der Welt, in der er sein Leben lang lebte, genau wie der Ozean oder der Himmel. Aber trotz aller Vertrautheit — für ihn blieben sie einfach Geschöpfe einer anderen Schöpfung. Sternlinge. Aliens: Die und wir, Menschen und Nicht-Menschen… keine Verwandtschaft. Wie kommt das? überlegte er. Ich bin doch genauso ein Kind dieser Welt wie sie.
Aber er gab nicht auf und bedeutete ihnen: »Es war ein unseliger Unfall, daß die Taucher starben. Es steckte keine böse Absicht dahinter.«
Dröhnen. Pfeifen. Zischen. Das hieß: »Uns interessiert nicht, warum es geschah, sondern daß es überhaupt geschah.«
Hinter den sechs Kiemlingen blinkten fahle grünliche Lichter und beleuchteten die seltsamen Gebilde — Statuen, Maschinen, Götterbilder? — in der freien Mitte der Siedlung, diese merkwürdigen Klumpen und Knollen aus Metallen, die so mühsam aus dem Körnergewebe kleiner Meeresbewohner gewonnen wurden und hier zu willkürlich wirkenden, oxydationszerfressenen Schrotthaufen zusammengestellt waren.
»Delagard verspricht, er wird nie wieder Taucher einsetzen«, erklärte er den Gillies nun demütig, in der Hoffnung auf einen Ansatzpunkt.
Pfeifen. Dröhnen. Gleichgültigkeit.
»Wollt ihr uns denn nicht sagen, wie wir das wieder ins reine bringen können? Wir bedauern, was geschah. Bedauern es zutiefst.«
Keine Reaktion. Kalte gelbe Augen, starr und abweisend.
Das Ganze ist idiotisch, dachte Lawler. Als redete man mit dem Wind.
»Aber verdammt, dies hier ist unsere Heimat!« rief er und begleitete seine Worte mit der entsprechenden Gestik. »Seit eh und je!«
Drei kollernde Töne in absteigender Terz.
»Was? Wir sollen uns eine andere Heimat suchen?« fragte Lawler. »Aber wir lieben diese Insel! Ich bin hier geboren. Wir haben euch noch nie vorher Schaden zugefügt, keiner unter uns. Mein Vater — ihr wißt doch, daß mein Vater… er half euch damals, als…«
Erneut das Flatulenzgeräusch. Es klingt genau so, wie es gemeint ist, dachte er.
Es hatte keinen Sinn, es weiter zu versuchen. Er begriff, daß es völlig nutzlos sein würde. Sie verloren allmählich die Geduld mit ihm. Bald würden sie grollen und schnauben und ihm ihre Verärgerung kundtun. Und dann konnte alles mögliche passieren.
Durch eine Wedelbewegung der Flosse bedeutete ihm einer der Gillies, daß die Konferenz beendet sei. Die Entlassung war unübersehbar.
Lawler machte eine Geste der Enttäuschung und signalisierte Trauer, Beklommenheit, Verdruß.
Darauf reagierte überraschend einer der Kiemlinge mit einer hastigen Rouladenphrasierung, die beinahe so etwas wie Mitgefühl hätte ausdrücken können. Oder war es nur ein Produkt von Lawlers optimistischem Wunschdenken? Er wußte es wirklich nicht. Aber dann trat zu seiner Verblüffung die Kreatur aus der Phalanx heraus, kam mit unerwarteter Geschwindigkeit auf ihn zugewatschelt und streckte ihm die stummeligen Flossenarme entgegen. Er war dermaßen überrascht, daß er sich nicht bewegen konnte. Was war denn das? Der Gillie türmte sich vor ihm auf wie eine Mauer. Jetzt passiert’s, dachte er. Der Angriff. Der beiläufige und tödliche Ausbruch verärgerter Gereiztheit. Und er stand wie angewurzelt da. Ein verzweifeltes Zucken seines Selbsterhaltungstriebes schrie in ihm auf, doch er brachte nicht die Willenskraft auf zu fliehen. Der Gillie faßte ihn an einem Arm, zog ihn näher und umschlang ihn in einer heftigen Umarmung, die ihm fast den Atem raubte. Lawler fühlte, wie die scharfengebogenen Krallen ihm sacht ins Fleisch drangen, aber sie hielten ihn mit merkwürdiger, unbegreiflicher Zartheit. Ihm fielen die roten Male ein, die Delagard ihm gezeigt hatte.
Also, gut. Mach, was du willst. Mir ist es schnurzegal.
Nie zuvor war er einem Gillie so nahe gekommen. Sein Kopf wurde an die gewaltige Brust gepreßt. Er hörte im Innern das Herz schlagen, nicht in dem vertrauten menschlichen Pa-dam, sondern eher wie Pum-pum- pum, Pum-pum-pum. Wenige Zentimeter von seiner Wange entfernt lag das unergründliche Gillie -Gehirn. Gilliegestank quoll ihm durch die Nase und füllte seine Lungen. Ihm war schwindlig und übel — doch merkwürdigerweise fühlte er keinerlei Furcht. Es war etwas dermaßen Überwältigendes in dieser Umarmung, in die ihn der Gillie so plötzlich gerissen hatte, daß momentan in ihm kein Raum war für Furcht. Die intime Nähe des Aliens löste in seinem Bewußtsein einen Wirbel aus. Eine Empfindung von der Gewalt eines Wintersturms, so stark wie die WOGE selbst schoß aus den Tiefen seiner Seele empor: In seinem Mund — der Geschmack von Tang. Die salzige See toste durch seine Adern.
Der Gillie hielt ihn so eine Weile, als wolle er ihm etwas mitteilen — etwas, das sich in Worten nicht ausdrücken ließ. Die Umarmung war weder herzlich noch unfreundlich. Sie überstieg vielmehr sein Begriffsvermögen vollkommen. Der Zugriff der starken Arme war fest und grob, aber offenbar sollte er dabei nicht verletzt werden. Lawler kam sich vor wie ein kleines Kind, das von einer häßlichen, unvertrauten und wenig liebevollen Pflegemutter umarmt wird. Oder eine Puppe an der Brust des gewaltigen Tieres.
Dann gab ihn der Gillie frei und schubste ihn brüsk, aber sacht von sich und schlurfte wieder zu den anderen zurück. Lawler zitterte am ganzen Leib und stand starr da. Er schaute den Gillies zu, die sich nun nicht mehr um ihn kümmerten, sondern schwerfällig kehrtmachten und zu ihrem Dorf zurückkehrten. Lange stand er so da, blickte ihnen nach und begriff gar nichts. Der scharfe Tanggeruch haftete noch an ihm, und er hatte in diesem Augenblick das Gefühl, er werde ihn ewig mit sich tragen.
Wahrscheinlich war das ihre Art, Lebewohl zu sagen, entschied er schließlich.
Ja, das war es. Ein Gillie -Abschied, eine zärtliche Abschiedsumarmung. Nun ja, vielleicht nicht grade besonders zärtlich, aber eben doch so etwas wie ein letzter Gruß. Ergibt das einen Sinn? Nein, eigentlich nicht. Aber alles andere ergibt ebenfalls keinen Sinn. Also, bezeichnen wir es als Abschiedsgeste, dachte er. Und lassen es dabei bewenden.
Die Nacht war schon fortgeschritten. Er suchte sich seinen Weg, das Ufer entlang, wieder an dem Kraftwerk vorbei, hinunter zur Werft und zu dem klapprigen kleinen Holzhaus, in dem Delagard wohnte. Delagard verabscheute es, in Vaarghs zu hausen. Er ziehe es vor, stets in der Nähe seiner Werft zu sein, sagte er.
Lawler traf ihn allein an; er war noch wach, saß an einem unruhig flackernden rauchenden Feuer und trank Beerenkrautschnaps. Es war ein kleiner Raum, vollgestopft mit Angelhaken und Leinen, Netzen, Riemen, Ankern, aufgeschichteten Häuten von Teppichfisch, Kisten voll Schnaps. Es sah hier aus wie in einem Lagerraum, nicht wie in einer Wohnung. Es war die Behausung des reichsten Mannes auf der Insel.
Delagard schnüffelte. »Du stinkst wie ein Gillie! Was hast du angestellt, dich von ihnen hernehmen lassen?«
»Richtig geraten. Du solltest das selber mal ausprobieren. Du könntest dabei noch ein paar neue Varianten lernen.«
»Sehr komisch. Aber du stinkst wirklich, als hättest du es grad mit ’nem Gillie getrieben, weißt du. Haben die dich fertigzumachen versucht?«
»Einer von ihnen kam mir recht nahe, als ich gehen wollte«, sagte Lawler. »Ich glaub, es war ein Zufall.«
Delagard zuckte die Achseln. »Na ja. Hast du was bei denen erreicht?«
»Nichts. Hast du wirklich erwartet, ich würde?«
»Man soll nie die Hoffnung aufgeben. Ein Trübsalbläser wie du glaubt das wahrscheinlich nicht, aber es gibt immer Hoffnung. Wir haben einen Monat lang Zeit, sie umzustimmen. Möchtest du ’nen Drink, Doktor?«
Delagard schenkte bereits ein. Lawler nahm den Becher und schüttete den Inhalt rasch durch die Kehle.
»Es ist an der Zeit, daß du dir diese Scheiße aus den Augen kratzt, Nid. Zeit, daß du einsiehst und dir diese Wunschvorstellung abschminkst, daß wir sie noch überreden könnten.«
Delagard hob den Blick. Sein rundes Gesicht wirkte in dem flackernden fahlen Licht massiger, als es in Wirklichkeit war, die Schatten ließen die Fleischwammen am Hals hervortreten und machten die gebräunten, ledrig aussehenden Wangen zu flappigen Hängebacken. Die Augen wirkten klein wie Knöpfe und müde.
»Meinst du wirklich?«
»Gar kein Zweifel. Sie wollen uns wirklich los sein. Nichts, was wir sagen oder tun könnten, wird daran was ändern.«
»Das haben sie dir gesagt, ja?«
»Das war gar nicht nötig. Ich lebe schon lang genug auf dieser Insel, um zu wissen, daß sie immer meinen, was sie sagen. Du im übrigen ja auch.«
»Ja«, sagte Delagard nachdenklich. »Ich weiß das auch.«
»Also, es ist an der Zeit, daß wir uns den Tatsachen stellen. Wir haben nicht die kleinste verdammte Chance, sie zu einer Zurücknahme ihrer Entscheidung zu bewegen. Was glaubst du, Delagard? Gibt’s noch ’ne Chance? Um Himmels willen, sag schon, gibt es noch eine?«
»Nein. Ich glaub nicht, daß wir eine haben.«
»Also, wann hörst du dann damit auf, so zu tun, als ob doch? Muß ich dich daran erinnern, was sie auf Shalikomo getan haben, als sie uns rauswarfen und die Leute nicht fortgingen?«
»Das war auf Shalikomo, und es ist lang her. Hier ist Sorve. Und heute.«
»Und Gillies sind Gillies. Willst du hier ein zweites Shalikomo erleben?«
»Du weißt meine Antwort darauf, Doc.«
»Also? Du hast von Anfang an gewußt, daß keine Hoffnung besteht, sie umzustimmen. Du hast bloß so getan, nicht wahr? Um der ganzen Gemeinde zu demonstrieren, wie tief dich die Scheiße bedrückt, in die du uns alle ganz allein hineingebracht hast.«
»Du glaubst, ich hab dir Scheiße serviert?«
»Ja, das glaub ich.«
»Aber das ist nicht wahr. Kapierst du denn nicht, wie ich mich fühle, weil ich das alles über uns gebracht habe? Ich fühl mich wie ein Abfallhaufen, Lawle r. Und wofür hältst du mich denn überhaupt? Für ein mieses gefühlloses blutsaugerisches Biest? Meinst du, ich könnte einfach achselzuckend zu den Leuten sagen: Pech, Leute, eine Weile hat das mit den Tauchern prima geklappt, und dann ging’s eben schief, also müssen wir uns von hier verziehen, tut mir leid, wenn es euch lästig ist, und tschüs, bis später? Sorve ist meine Heimatgemeinde, Doc. Und ich dachte, ich müßte wenigstens zeigen, daß ich zumindest versuchen will, den Schaden gutzumachen, den ich angerichtet hab.«
»Also gut, du hast es versucht. Wir haben es beide versucht. Und haben nichts erreicht, genau wie wir beide es von Anfang an erwarteten. Und was wirst du jetzt tun?«
»Was soll ich denn tun?«
»Das hab ich dir bereits gesagt. Hör auf mit dem Gesülze, daß du den Gillies die Flossen küssen und sie um Vergebung anflehen willst. Wir müssen uns ausdenken, wie wir von hier wegkommen und wohin wir gehen sollen. Fang an und plane die Evakuierung, Delagard. Die Sache ist dein Baby. Du hast das alles angerichtet. Jetzt mußt du dich eben darum kümmern, es wieder klarzukriegen.«
Delagard sagte langsam: »Nur zu deiner Information, ich hab mich bereits haargenau damit beschäftigt. Während du mit den Kiemlingen verhandelt hast, hab ich heut abend schon Botschaft an die drei von meinen Schiffen geschickt, die derzeit im Fährbetrieb laufen, und ihre sofortige Rückkehr befohlen, damit sie uns als Transporter zur Verfügung stehen.«
»Transporter — wohin?«
»Da, trink erst noch mal ’nen Schluck.« Delagard goß ein, ohne auf Lawlers Reaktion zu warten. »Ich werd dir was zeigen.«
Er öffnete eine Lade und holte eine Seekarte heraus. Eigentlich war es ein laminierter Plastikglobus von zirka sechzig Zentimetern, der von der Hand eines meisterlichen Könners aus Dutzenden verschiedenfarbiger Einzelstreifen zusammengesetzt war. Aus dem Innern drang das Ticken eines Uhrmechanismus. Lawler beugte sich näher. Seekarten waren etwas Seltenes und sehr kostbar. Er hatte nie eine aus unmittelbarer Nähe erblickt.
»Dismas, Onyos Felks Vater, hat dies vor fünfzig Jahren geschaffen«, sagte Delagard. »Mein Großvater hat es gekauft, als der alte Felk auf den Gedanken kam, er müsse unbedingt ins Seehandelsgeschäft gehen, und Geld brauchte, um Schiffe zu bauen. Erinnerst du dich noch an die Felk-Flotte? Drei Schiffe. Die WOGE hat alle drei mitgenommen. Verdammtes höllisches Pech, du bezahlst deine Schiffe, indem du deine Seekarte verkaufst, und dann gehen dir die Schiffe flöten. Besonders wenn es sich um die beste Navigationskarte handelt, die je angelegt wurde. Onyos hätte sein linkes Ei hergegeben, um das zurückzukriegen, aber wozu sollte ich verkaufen? Ich hab ihn das Ding einsehen lassen, ab und zu mal.«
Runde purpurrote Medaillons von der Größe eines Daumennagels schoben sich langsam über die Karte auf- und niederwärts, etwa dreißig, vierzig an der Zahl, vielleicht auch mehr, getrieben von dem inneren Mechanismus im Globus. Die meisten folgten einem glatten Kurs, strebten von einem Pol zum anderen, doch hin und wieder glitt eines der Plättchen fast unmerklich in einen anderen Längsstreifen hinüber, so wie eine echte Insel vielleicht tatsächlich etwas weiter westlich oder östlich abdriftet, obwohl sie noch immer von dem Hauptstrom getragen wird, der sie auf den Pol zuführt. Lawler bewunderte die raffinierte Konstruktion dieses Globus.
»Kennst du dich damit aus?« fragte Delagard. » Das da sind die Inseln. Hier ist das Mare Nostrum, unsere Heimatliche See. Und die Insel da, das ist Sorve.«
Ein kleines rotes Plättchen, das in Äquatorhöhe langsam vor dem grünen Untergrund des Streifens, auf dem es lag, nordwärts zog: ein bedeutungsloser kleiner Fleck, ein sich bewegender Farbklecks, weiter nichts. Lawler dachte: So winzig — und so teuer.
»Hier siehst du die ganze Welt, na, also jedenfalls so, wie wir sie uns vorstellen. Das da sind die bewohnten Inseln, das sind die in Dunkelrot — also die von uns Menschen bewohnten. Hier ist das Schwarze Meer, da das Rote Meer, und dort drüben ist das Gelbe Meer.«
»Und wo ist die Himmelblaue See, das Azurische Meer?« fragte Lawler.
Delagard sah etwas verdutzt drein. »Ganz da drüben, praktisch bereits auf der anderen Halbkugel. Was weißt du denn über das Azurro, Doc?«
»Ach, eigentlich gar nichts. Vor kurzem hat jemand es mir gegenüber erwähnt, weiter nichts.«
»Eine verdammt weite Fahrt von hier aus wäre das, bis ins Azurro. Ich war noch nie da.« Delagard drehte den Globus und zeigte Lawler die andere Hälfte. »Hier hast du das Leere Meer. Und dieser große dunkle Fleck da unten, das ist der Geist über den Wassern. Erinnerst du dich an die tollen Geschichten, die der alte Jolly immer dazu erzählt hat?«
»Dieser brummige alte Schwindler. Du glaubst doch nicht wirklich, daß er auch nur irgendwo in die Nähe gekommen ist, oder?«
Delagard kniff ein Auge zu. »Aber seine Geschichten waren doch hinreißend, was?«
Lawler nickte und ließ seinen Geist kurz in die Vergangenheit zurückschweifen, fast fünfunddreißig Jahre zurück zu dem endlos wiederholten Garn, das der wettergegerbte alte Mann von seiner einsamen Fahrt über das Leere Meer gesponnen hatte, von den geheimnisvollen, traumhaften Begegnungen mit dem ›Geist‹, einer Insel, die dermaßen groß war, daß alle anderen Inseln der Welt darauf Platz gefunden hätten, einem riesigen, bedrohlichen Ding, das den ganzen Horiz ont ausfüllte, wie ein schwarzer Wall in diesem fernen, stillen Winkel der Welt aus dem Ozean aufragte. Auf dem Meeresatlas hier erschien sie nur als dunkler regloser Flecken, etwa so groß wie eine Männerhand, ein kantiger schwärzlicher Makel auf der ansonsten reinen Weite der fernen anderen Hemisphäre, und ziemlich tief drunten liegend, fast schon in der Südpolarregion.
Er drehte den Globus wieder zur anderen Hälfte zurück und betrachtete die langsam wandernden Inseln.
Er überlegte, wie eine vor so langer Zeit gefertigte Seekarte die heutigen Positionen dieser Eilande einigermaßen brauchbar angeben könne. Sie waren doch zweifellos inzwischen durch allerlei kurzfristige Klimaphänomene von ihrem ursprünglichen Kurs abgelenkt worden. Oder hatte der Schöpfer des Werkes dies alles berücksichtigt, gestützt auf ein zauberisches Geheimwissen, ein Erbteil aus der Großen Welt der Wissenschaften in der jenseitigen Galaxis? Auf Hydros war alles so primitiv, daß Lawler stets aufs neue verblüfft war, wenn irgendein Mechanismus tatsächlich funktionierte; allerdings wußte er, daß es auf anderen bewohnten Welten des Raumes anders war, auf denen es festes Land gab und reichliche Metallressourcen, und Methoden, leicht von einer Welt in die andere zu reisen. Der Technikzauber der alten verlorenen Mutterwelt ERDE war auf jene neuen Welten übergegangen. Aber hier, auf Hydros, war davon nichts zu spüren.
Nach einer Weile sagte er: »Was meinst du, wie exakt ist dieser Globus? Wo er doch fünfzig Jahre alt ist und überhaupt.«
»Haben wir in den letzten fünfzig Jahren irgendwas Neues über Hydros gelernt? Das da ist die beste Seekarte, die wir haben. Der alte Felk war ein Meister seiner Kunst, und er hat mit allen gesprochen, die über irgendeine der Seen gefahren sind. Und er hat seine Informationen verglichen mit Beobachtungen, die vom Weltraum aus, auf Sunrise, gemacht wurden. Nein, die Karte ist schon genau. Verdammt genau.«
Lawlers Blick folgte der Wanderung der Inseln wie hypnotisiert. Vielleicht bot die Karte ja tatsächlich verläßliche Information, vielleicht auch nicht; er besaß nicht die Qualifikation, das zu entscheiden. Er hatte noch nie begriffen, wie überhaupt jemand auf der See den Weg zurück zur Heimatinsel finden konnte, geschweige denn eine ferne Insel anzusteuern vermochte, angesichts der Tatsache, daß sowohl das Schiff wie die Inseln sich ja beständig in Bewegung befanden. Ich muß gelegentlich Gabe Kinverson danach fragen, dachte er.
»Schön. Und wie sieht dein Plan aus?«
Delagard zeigte auf dem Globus auf Sorve. »Siehst du die Insel im Südwesten von uns, die aus dem nächsten Streifen heraufzieht? Das ist Velmise. Sie zieht nach Nordost, und rascher als wir, und sie wird in etwa einem Monat in bequemer Nähe vorbeikommen. Zu dem Zeitpunkt wird es eine Fahrt von zehn Tagen von hier aus bedeuten, möglicherweise auch weniger. Ich werde meinem Sohn auf Velmise Botschaft übermitteln und ihn bitten, uns aufzunehmen, freundlicherweise alle achtundsiebzig Personen.«
»Und wenn er sagt, sie haben keine Lust dazu? Velmise ist doch verdammt klein.«
»Wir haben andere Alternativen. Von der anderen Seite zieht Salimil heran. Es wird so um die anderthalb Wochen von uns entfernt sein, wenn wir wegmüssen.«
Lawler erwog die Aussichten einer Bootsfahrt von zweieinhalb Wochen auf offenem Meer. Unter dem sengenden Auge der Sonne, in dem beständigen beizenden Salzwind, getrockneten Fisch als Nahrung, unter den Füßen das kleine Deck, auf dem man auf und ab stapfen konnte, und nichts ringsum zu sehen als Meer und immer weiter Meer.
Er griff nach der Schnapsflasche und füllte sich seinen Becher selber wieder.
Delagard sagte: »Und wenn auch Salimil uns nicht aufnehmen will, dann haben wir da drunten noch Kaggeram, oder Shakran… oder sogar Grayvard. Ich hab Verwandte dort. Ich denke, ich werde da schon was drehen können. Das wäre dann eine Fahrt von acht Wochen.«
Acht Wochen? Lawler versuchte sich das vorzustellen.
Nach einer Weile sagte er: »Niemand wird binnen dreißig Tagen Platz für achtundsiebzig Menschen schaffen können. Velmise nicht, Salimil nicht, keiner.«
»In dem Fall werden wir uns eben in Kontingente aufteilen müssen, und einige gehen dahin, die übrigen dorthin.«
»Nein!« Lawler reagierte plötzlich sehr heftig.
»Nein?«
»Ich will das nicht… Ich will, daß die Gemeinde beisammenbleibt.«
»Und wenn das nicht möglich ist?«
»Wir müssen einen Weg finden. Wir dürfen nicht Menschen, die ihr Leben lang miteinander gelebt haben, über den ganzen verdammten Ozean zerstreuen. Wir sind eine einzige Familie, Nid.«
»Sind wir das? Also, ich glaube, ich seh das nicht so.«
»Dann siehst du es eben jetzt mal so!«
»Na ja, also…« — Delagard saß still da und runzelte die Stirn — »… im äußersten Fall könnten wir ja auch einfach auf einer Insel landen, die nicht dauernd von Menschen bewohnt ist oder grad jetzt nicht, und wir könnten die dort hausenden Gillies um Asyl bitten. So was hat es schon früher mal gegeben.«
»Ja, aber die Gillies würden wissen, daß wir von unseren eigenen Gillies hier vertrieben wurden, und warum.«
»Vielleicht würde das keine Rolle spielen. Du kennst sie doch ebensogut wie ich, Doc. Es gibt ’ne Menge von ihnen, die uns gegenüber ziemlich tolerant sind. Für die sind wir weiter nichts als wieder ein neuer Beweis, ein Beispiel für die unergründlichen Abläufe des Universums, etwas, das ihnen einfach zufällig aus dem großen Meer des Raumes an den Strand gewaschen wurde. Sie wissen durchaus, daß es sinnlos ist, an den unerforschlichen Ratschlüssen des Universums herumzurätseln. Und deshalb, vermute jedenfalls ich, haben sie uns einfach achselzuckend aufgenommen, als wir ursprünglich zu ihnen kamen.«
»Die Gescheitesten unter ihnen denken vielleicht so. Aber die übrigen verabscheuen uns und wollen mit uns nicht das geringste zu tun haben. Warum aber sollten uns die Gillies einer anderen Insel aufnehmen, nachdem uns die Gillies auf Sorve als Mörderbande hinausgeworfen haben?«
»Wir werden’s schon schaffen«, sagte Delagard gelassen, sichtlich völlig unberührt von dem häßlichen Wort. Er wiegte seinen Drink zwischen beiden Handflächen und starrte in den Becher. »Wir gehen nach Velmise. Oder nach Salimil. Oder nach Grayvard, wenn’s sein muß. Oder an irgendeinen vollkommen neuen Ort. Und wir bleiben alle beisammen und bauen uns ein neues Leben auf. Dafür werde ich sorgen. Du kannst dich drauf verlassen, Doc.«
»Hast du genug Schiffe für uns alle?«
»Ich habe sechs. Dreizehn Mann pro Boot, und wir werden uns noch nicht einmal beengt fühlen. Hör auf, dir Sorgen zu machen, Doc. Trink noch einen.«
»Ich hab mich grad bedient.«
»Aber du hast wohl nichts dagegen, wenn ich…?«
»Aber bitte.«
Delagard lachte. Er wurde nun allmählich sichtlich betrunken. Er streichelte den Globus, als wäre es die Brust einer Frau, dann hob er die Kugel behutsam hoch und verstaute sie wieder in der Lade. Der Schnapskürbis war nahezu leer. Delagard zauberte von irgendwo her eine neue Flasche und goß sich kräftig ein. Er schwankte ein wenig dabei, fing sich aber kichernd wieder.
Nuschelnd sagte er: »Ich versichre dir eins feierlich, Doc, und das ist, ich werd mir den Arsch aufreißen, damit wir ’ne neue Insel kriegen, und ich werd uns sicher hinbringen. Du glaubst mir das doch, Doc, wenn ich es dir sage, ja?«
»Aber sicher glaube ich dir.«
»Und du kannst mir auch in deiner Herzenstiefe verzeihen, was ich da mit diesen Tauchern gemacht hab?« fragte er brabbelnd.
»Na sicher. Klar.«
»Du bist ein Lügner, Doc. Du vera… verabscheust mich ganz und gar…«
»Jetzt komm mal wieder runter, Nid. Was passiert ist, das ist passiert. Wir müssen eben jetzt einfach damit zu leben versuchen.«
»Gesschbrochen wie der wahre Phi… Philosoph. Komm, trink noch ein‹ mit mir.«
»Mir recht.«
»Und auch noch einen für den guten alten Nid Delagard. Und wieso auch nicht? Noch ’en Kleinen für den lieben alten Delagard, genau! So, da isser, Nid. Ach, Mann, dank dir, Nid. Ganz, ganz herzlichen Dank, Nid. Verdammt, iss das Zeug gut… Verdammt… gut, das… Zeug…« Delagard gähnte, die Lider sanken ihm herab, der Kopf neigte sich der Tischplatte zu. »Guter… Stoff…«, mummelte er, gähnte wieder, rülpste leise, und dann schlief er ein. Lawler trank aus und verließ den Schuppen.
Es war sehr still draußen, nur das leise Schmatzen der kleinen Lagunenwellen am Ufer war zu hören, und das war er so gewöhnt, daß er es kaum wahrnahm. Es war noch ein, zwei Stunden vor der Dämmerung. Das Kreuz am Himmel brannte wild und schrecklich und durchschnitt das schwarze Firmament von Horizont zu Horizont wie ein leuchtendes vierarmiges Gerüst, das da droben errichtet war, um zu verhindern, daß die Welt ungehemmt durch den Himmel stolperte.
Lawler war von einer Art kristallener Klarheit erfüllt. Fast konnte er sein Gehirn ticken hören.
Er erkannte, daß es ihm nichts ausmachen würde, von Sorve fortzugehen. Das erstaunte ihn. Du bist betrunken, sagte er sich.
Vielleicht war er das. Doch irgendwo, irgendwann im Verlauf der Nacht war der Schock über die verhängte Ausweisung von ihm gewichen. Ob völlig verschwunden oder nur zeitweilig verdrängt, das wußte er nicht. Aber jetzt vermochte er immerhin die Vorstellung plötzlich ins Auge zu fassen, ohne davor zurückzuscheuen. Er würde mit dem Weggang fertigwerden. Nein, da war sogar noch etwas anderes: Die Aussicht auf diesen Abschied hatte etwas — Belebendes, Fröhliches an sich. Wie war das möglich?
Doch, ja, es war irgendwie erregend. Bisher war sein Leben nach einem festen Muster verlaufen, war wie erstarrt gewesen: Lawler, der Arzt auf Sorve, ein Mann aus Erster Familie, ein Lawler-von-den- Lawlers, der mit jedem Tag um einen Tag alterte, seine täglichen Pflichten erfüllte und die Kranken heilte, so gut es eben ging; der am Gestade entlangwanderte, ein bißchen in der Lagune schwamm, mal ein wenig angelte; die erforderliche Zeit aufwandte, um seinem Schüler das Arzthandwerk beizubringen; der aß und trank, alte Freunde besuchte, dieselben alten ›guten‹ Freunde wie in seiner Kindheit; Lawler, der sich dann schlafenlegt, um wieder aufzuwachen und das Ganze von neuem zu beginnen, winters und sommers und winters, in Regentagen und in Dürrezeiten… Doch jetzt sollte sich dieses Webmuster des Alltags ändern. Er würde an einen fremden Ort ziehen, um dort zu leben. Er konnte vielleicht ein ganz ganz anderer sein. Der Gedanke faszinierte ihn. Betroffen stellte er fest, daß er beinahe ein wenig dankbar war. Aber er lebte hier schon dermaßen lange. Er war so lange nur er selbst gewesen.
Also, du bist sturzbesoffen, sagte er noch einmal zu sich. Und lachte. Stinkesturzbesoffen!
Dann kam er auf die Idee, er könnte durch die schlafende Siedlung schlendern, einen sentimentalen Rundgang machen, um Abschied zu nehmen, sich alles so zu betrachten, als wäre dies bereits seine letzte Nacht auf Hydros; er könnte dabei alles noch einmal in der Erinnerung durchleben, was ihm widerfahren war, an dem Platz und an jener Stelle, jede kleine Begebenheit seines Lebens. Wo er mit dem Vater gestanden und aufs Meer hinausgeschaut hatte; wo er den phantastischen Geschichten des alten Jolly gelauscht hatte; wo er seinen ersten Fisch gefangen und zum erstenmal ein Mädchen in den Armen gehalten hatte. Schauplätze seiner Freundschaften und seiner Liebesgeschichten (soweit davon die Rede sein konnte). Den Teil der Bucht, wo er damals Nicko Thalheim beinahe harpuniert hätte. Und die Stelle hinter dem Ossarium, wo er damals den graubärtigen Marinus Cadrell beim Bumsen mit Mariam, Damis Sawtelles Schwester, beobachtet hatte, die jetzt als Nonne im Kloster lebte. Und dabei fiel ihm wieder ein, daß er selber ein paar Jahre später es mit Mariam getrieben hatte, drunten im Gillie — Bezirk, weil sie beide die Gefahr liebten. Alles kam ihm wieder ins Gedächtnis zurück. Die verschwommene dunkle Gestalt seiner Mutter. Seine Brüder, der eine, der viel zu früh gestorben war, und der andere, der zur See gegangen und für immer aus Lawlers Leben davongetrieben war. Und sein Vater, erschreckend in seiner Unermüdlichkeit und Unnahbarkeit, ein von allen verehrter Mann, der ihn unablässig antrieb, medizinische Techniken zu erlernen, wo er doch viel lieber drunten in der Bucht herumgeplanscht hätte… in seinen Knabenjahren, die so gar nicht unbeschwerte Kindheit gewesen waren; so viele unzählbare Stunden ihm aufgezwungenen Studiums, so viel Verzicht auf Spiel und Spaß… Eines Tages wirst du hier der Doktor sein, hatte der Vater ihm immer wieder eingehämmert. Du wirst Arzt sein. Und seine Frau, Mireyl, als sie die Fähre nach Morvendir bestieg. Die Zeit tickte rückwärts. Klick, und es war der Tag seiner Fahrt zur Insel Thibeire. Klick, und er und Nestor Yanez wie besoffen vor Angst und Gelächter vor dem wütenden Gillie -Weibchen, das sie mit Ginzo-Eiern beworfen hatten. Und klick, da war diese Abordnung mit den langen Gesichtern, die ihm eröffnete, daß sein Vater tot sei und er von nun an der Inseldoktor. Klick, und er fand heraus, was es hieß, ein Kind in die Welt zu holen. Klick, und er tanzte fröhlich-betrunken mitten in einer Dreimondnacht auf der äußersten Spitze des Damms… mit Nicko und Nestor Lyonides und Moira und Meela und Quigg… ein fröhlicher, glücklicher junger Valben Lawler, der ihm jetzt vorkam wie jemand, den er einmal, vor vielen Jahren, gekannt hatte. Diese ganze Zeit, seine ganzen über vierzig Jahre Leben auf Sorve zogen retrospektiv an ihm vorbei. Klick, klick, klick.
Ja, ich will einen schönen langen Spaziergang machen — durch die Vergangenheit —, bevor die Sonne aufgeht, dachte er. Vom einen Ende der Insel bis zum anderen. Dennoch erschien es ihm als vorzügliche Idee, zunächst einmal zu seinem Vaargh zurückzukehren, bevor er sich auf seine Vergangenheitssuche begab. Allerdings war er nicht sicher, warum er das besser fand.
Beim Einstieg durch das niedere Türloch stolperte er und landete auf dem Bauch. Und so blieb er liegen, bis Stunden später die Morgensonne hereinschien und ihn aufweckte.
Eine Weile konnte er sich an nichts erinnern, was er während der vergangenen Nacht gesagt oder getan hatte. Dann kehrte die Erinnerung zurück. Er war von einem Gillie an die Brust gedrückt worden. Der Geruch haftete noch immer auf seiner Haut. Und danach: Delagard und Schnaps, Schnaps und noch mehr Schnaps. Und die Aussicht auf eine Seereise… nach Velmise oder Salimil oder vielleicht sogar Grayvard… Und dann dieser sonderbare, merkwürdig erfreuliche Moment der Erregung bei dem Gedanken, Sorve hinter sich lassen zu können. War das alles wirklich so gewesen? Ja. Aber wahrhaftig ja. Er war wieder nüchtern jetzt, doch das Gefühl war immer noch da.
Aber — heiliger Himmel! — was ist mit meinem Kopf!
Wieviel Zeug, fragte er sich, hat Delagard denn letzte Nacht in mich reingekippt?
»Doktor? Ich hab was an meinem Fuß!« sagte eine helle Kinderstimme von draußen vor seinen Vaargh.
»Einen Augenblick, komme gleich«, antwortete Lawler mit Reibeisenstimme.
Im Gemeindehaus war für den Abend eine Versammlung einberufen worden, um die Lage zu besprechen. Die Luft im Raum war dumpf und stickig, es roch penetrant nach Schweiß. Auch sonst war die Atmosphäre emotional geladen. Lawler saß in der Ecke gegenüber dem Eingang — wie immer. Von hier aus konnte er alles beobachten. Delagard war nicht erschienen, hatte vielmehr ausrichten lassen, er müsse sich um dringliche Arbeiten auf der Werft kümmern und erwarte Nachricht von seinen Schiffen auf See.
»Das Ganze ist ’ne Falle«, sagte Dann Henders. »Die Gillies haben es satt, daß wir hier sind, aber sie wollen sich nicht die Mühe machen und uns selbst abmurksen. Also schmeißen sie uns aufs Meer raus, und dort bringen uns dann die Rammerhörner und Seeleoparden für sie um.«
»Woher weißt du das?« fragte Nicko Thalheim.
»Ich weiß es nicht. Ich vermute es bloß. Ich versuche, mir einfach begreiflich zu machen, wieso die uns wegen so ’ner unbedeutenden Sache wie diesen drei ersoffenen Tauchern von der Insel vertreiben sollten.«
»Aber drei tote Taucher sind eben keine bedeutungslose Sache!« rief Sundira laut. »Du redest über intelligente Lebewesen!«
»Intelligent?« fragte Dag Tharp spöttisch.
»Aber sicher doch. Und wenn ich eine Gillie wäre und mir würde bekannt, daß die gottverdammten Menschen Taucher umbringen, dann würde ich diese Mörder ebenfalls loswerden wollen.«
Henders sagte: »Also, davon mal abgesehen. Ich sag, wenn die Kiemlinge uns wirklich von hier vertreiben, dann werden wir feststellen, daß der ganze verfluchte Ozean sich gegen uns erhebt, sobald wir in See stechen. Und ganz und gar nicht etwa zufällig. Die Gillies beherrschen die Tierwelt im Meer. Das ist schließlich bekannt. Und sie werden die Meerestiere gegen uns benutzen und uns auslöschen.«
»Und wenn wir einfach nicht zulassen, daß die Gillies uns vertreiben?« fragte Damis Sawtelle. »Wenn wir uns zur Wehr setzen?«
»Uns zur Wehr setzen? Kämpfen?« sagte Bamber Cadrell. »Kämpfen — wie denn? — und womit? Hast du den Verstand verloren, Damis?«
Die beiden waren Kapitäne eines Fährboots und gestandene praktische Männer, und seit ihrer Knabenzeit befreundet. Aber in diesem Augenblick stierten sie einander stumpf und giftig an, als wären sie lebenslange Feinde.
»Widerstand«, sagte Sawtelle. »Eine Guerilla -Aktion.«
»Wir schleichen uns zu ihnen rüber, auf ihre Inselseite, und schnappen uns was von dem Zeug aus diesem Heiligtum dort, das irgendwie nach was Bedeutendem aussieht«, schlug Nimber Tanamind vor. »Und dann geben wir es ihnen erst zurück, wenn sie sich bereit erklären, uns bleiben zu lassen.«
»Also, das kommt mir ausgesprochen blödsinnig vor«, sagte Cadrell.
Nicko Thalheim sagte: »Mir auch. Denen ihre geheiligten Klunker zu klauen, das bringt uns nicht weiter. Bewaffneter Widerstand, das ist die Karte, auf die wir setzen müssen, genau wie Damis es sagt. Eine absolute Guerilla -Taktik. Das Blut der Kiemlinge strömt durch die Straßen, bis sie ihren Ausweisungsbefehl widerrufen. Auf dem Planeten hier kennen sie ja nicht einmal den Begriff Krieg. Also werden sie nicht mal wissen, was wir verdammt da machen, wenn wir kämpfen.«
»Shalikomo«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. »Wißt ihr nicht mehr, was da geschehen ist?«
»Shalikomo, genau!« rief eine andere Stimme. »Die werden uns genauso abschlachten wie die damals. Und wir werden überhaupt nichts dagegen tun können.«
»Richtig«, sagte Marya Hain. »Wir sind es nämlich, die über kein Konzept vom Kämpfen verfügen, nicht die. Die wissen ganz genau, wie sie töten müssen, wenn sie es wollen. Und womit wollen wir sie angreifen? Mit Schuppmessern? Mit Hammer und Stichel? Wir sind keine Kämpfer. Unsere Urahnen waren es. Vielleicht. Aber wir wissen ja nicht einmal so recht, was das Wort bedeutet.«
»Dann müssen wir es lernen«, sagte Thalheim. »Wir können uns doch nicht einfach so aus unserer Heimat vertreiben lassen!«
»Ach, wirklich?« fragte Marya Hain. »Was bleibt uns denn für eine Wahl? Wir sind doch hier nur geduldet. Und jetzt haben sie eben ihre Erlaubnis widerrufen. Es ist ihre Insel. Wenn wir Widerstand zu leisten versuchen, nehmen sie einen nach dem ändern und schmeißen uns ins Meer, genau wie sie es auf Shalikomo getan haben.«
»Aber wir würden eine Menge von ihnen mitnehmen«, sagte Damis Sawtelle hitzig.
Dan Henders brach in Gelächter aus. »Ins Meer? Ja, richtig! Wir drücken ihnen die Schädel unter Wasser, bis sie ersaufen.«
»Ach, du weißt schon, was ich meine«, brummte Sawtelle. »Wenn die einen von uns umbringen, töten wir einen von ihnen. Wenn sie erst mal Verluste haben, werden sie es sich verdammt rasch überlegen und uns nicht länger vertreiben wollen.«
»Sie würden uns schneller töten, als wir es mit ihnen könnten«, sagte Poilin Stayvols Frau, Leynila. Stayvol war nach Gospo Struvin der rangälteste Kapitän in Delagards Flotte. Derzeit war er gerade mit dem Kentrup-Fährschiff unterwegs. Man konnte sich stets darauf verlassen, daß die stämmige, hitzige Leynila gegen alles opponierte, wofür Damis eintrat. Das war schon seit ihrer Kindheit so. »Sogar Mann um Mann — was würde uns das bringen?« fragte sie herausfordernd.
Dana Sawtelle nickte und ging durch den Raum hinüber und stellte sich neben Marya und Leynila. Die meisten Frauen standen nun auf der einen Seite, und die Handvoll Männer, aus denen die Kriegspartei bestand, auf der anderen. »Leynila hat recht. Wenn wir zu kämpfen versuchen, werden wir alle umkommen. Was hätte das für einen Sinn? Wenn wir kämpften wie großartige Helden, und am Ende wären wir allesamt tot, wieso wäre das besser für uns, als wenn wir einfach in ein Schiff gestiegen und anderswohin gegangen wären?«
Ihr Mann fuhr sie an: »Halt den Mund, Dana!«
»Ich werd den Teufel tun und still sein, Damis! Verdammt, nein! Denk bloß nicht, ich sitz hier lammfromm wie ein Kind, während ihr Kerle davon quasselt, daß ihr einen Angriff gegen eine körperlich überlegene Gruppe von Aliens machen wollt, die uns noch dazu zahlenmäßig um ungefähr das Zehnfache übertreffen. Wir können nicht gegen sie kämpfen!«
»Wir müssen aber.«
»Nein! Nein!«
»Das ganze Gerede ist doch Unsinn, das mit Kämpfen und so. Die bluffen doch bloß«, sagte Lis Nikiaus. »Die werden uns schon nicht wirklich rausschmeißen.«
»O doch, das werden sie…«
»Nicht, wenn Nid sich darum kümmert!«
»Es war aber grad dein teurer Nid, der uns überhaupt erst in diese Lage gebracht hat!« kreischte Marya Hain.
»Und er wird uns da auch wieder rausholen. Im Moment sind die Gillies eben aufgebracht, aber sie werden…«
»Was hältst du davon, Doc?« rief jemand laut.
Lawler hatte sich während der Debatte still verhalten und abgewartet, bis die Gefühlsüberschwänge sich etwas erschöpft hatten. Es war immer ein Fehler, wenn man bei derartigen Sachen zu früh in den Ring stieg.
Jetzt stand er auf. Und plötzlich wurde es sehr still. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Sie erwarteten von ihm ›die Lösung‹. Ein Wunder, irgendeine Hoffnung oder die Aussicht auf eine Gnadenfrist. Sie rechneten damit, daß er sie ihnen geben werde. Er, eine Stütze der Gemeinde, Sprößling eines berühmten Gründervaters, der getreue verläßliche Inseldoktor, der den Körper eines jeden besser kannte als der selbst, der kluge kühle Denker, der hochgeschätzte Erteiler scharfsinnigen Rats…
Er blickte sie alle an, von einem zur anderen, ehe er zu sprechen begann.
»Damis, Nicko, Nimber, es tut mir leid. Aber ich glaube, das ganze Gerede von Widerstand führt uns zu keiner brauchbaren Entscheidung. Wir müssen uns damit abfinden, daß dies keine gangbare Alternative ist.« Aus der Ecke der Kriegspartei kam sofort ein Murren. Er brachte es mit einem kalten starren Blick zum Schweigen. »Ein Kampf gegen die Gillies, das wäre, als wollte man versuchen, die See leerzutrinken. Wir haben keine Waffen. Uns stehen bestenfalls vielleicht vierzig körperlich taugliche Kämpfer zur Verfügung — gegen Hunderte von ihnen. Die Idee ist es nicht einmal wert, daß man darüber nachdenkt.« Die Stille wurde eisig. Er merkte aber, wie seine ruhigen Worte zu wirken begannen: Blicke wurden getauscht, Köpfe begannen zu nicken. Er wandte sich direkt an Lis Nikiaus: »Lis, die Gillies bluffen nicht, und Nid hat keine Chance, sie umzustimmen. Sie werden ihren Ausweisungsbefehl nicht widerrufen. Nid hat mit ihnen geredet, und ich selber ebenfalls. Und du weißt das. Und wenn einer von euch glaubt, die Gillies ändern ihre Meinung, dann ist er ein Traumtänzer.«
Wie ernst, wie düster sie auf einmal alle aussahen! Die Sweyners, Dag Tharp, ein Grüppchen Thalheims, die Sawtelles. Sidero Volkin mit seiner Frau Elka. Dann Handers, Martin Yanez. Der junge Jose Yanez. Lis. Leo Martello. Pilya Braun. Leynila Stayvol. Sundira Thane. Er kannte sie alle so gut, alle, bis auf wenige Ausnahmen. Sie waren seine Familie, ganz wie er in der versoffenen Nacht zu Delagard gesagt hatte. Ja, ja, es stimmte wirklich. Alle auf dieser Insel.
»Freunde«, sagte er, »wir sehen besser den Tatsachen ins Auge. Mir gefällt das Ganze ebensowenig wie euch, aber uns bleibt nichts anderes übrig. Die Gillies fordern uns auf zu verschwinden? Dann müssen wir eben. Es ist ihre Insel. Sie sind in der Überzahl, und sie haben die materielle Gewalt. Und wir, wir werden uns daran gewöhnen, bald irgendwo anders zu leben, und damit hat sich’s. Ich wollte, ich könnte euch irgendwas Erfreulicheres anbieten, aber das kann ich nicht. Niemand kann das. Keiner!«
Er machte sich auf ein paar heftige Einsprüche von Thalheim oder Tanamind oder Damis Sawtelle gefaßt. Doch die hatten auf einmal nichts weiter zu sagen. Und es gab schließlich auch nichts, was jemand hätte dagegen sagen können. Das ganze Getöse von bewaffnetem Widerstand war nichts weiter gewesen als ein Pfeifen gegen den Wind. Die Versammlung endete ohne Beschlußfassung. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als sich zu fügen. Alle hatten es jetzt erkannt.
Lawler stand an der Kaimauer zwischen Delagards Werft und dem Kraftwerk der Gillies; es war ein Spätnachmittag in der zweiten Woche nach dem Ultimatum, und er blickte auf die sich verändernden Farben in der Bucht hinaus, als drunten Sundira Thane vorbeigeschwommen kam. Zwischen zwei Schlägen hob sie kurz den Kopf und nickte Lawler zu. Er grüßte zurück und winkte. Ihre langen schlanken Beine blitzten in einem Scherenschlag kurz auf, und sie schoß vorwärts, während sich ihr Oberkörper aus dem Wasser hob, um dann plötzlich und rasch in einem Bogen unterzutauchen. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah Lawler Sundiras weiße knabenhafte Pobacken über dem Wasser blitzen, dann zog sie rasch dicht unter der Oberfläche dahin, ein schlanker brauner, nackter Wassergeist, der in steten kraftvollen Zügen von der Küste fortschwamm. Lawler folgte ihr mit den Augen, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Sie schwimmt wie ein Gillie, dachte er. Sie war seiner Schätzung nach drei, vier Minuten lang nicht zum Atemholen aufgetaucht. Brauchte sie denn gar nicht zu atmen?
Mireyl war ebenfalls eine so gute Schwimmerin gewesen.
Er verzog das Gesicht. Es bestürzte ihn, daß die Erinnerung an seine lang entschwundene eheliche Partnerin auf einmal so plötzlich und derart ungerufen aus der Vergangenheit auftauchen konnte. Er hatte ewig nicht mehr an Mireyl gedacht. Dann aber fiel ihm ein, daß er doch gerade erst in der vergangenen Nacht, als er so besoffen umhergewandert war, an sie gedacht hatte. Mireyl, ach ja… eine alte Geschichte.
Er konnte sie beinahe leibhaftig sehen. Auf einmal war er wieder dreiundzwanzig, der junge neue Inselarzt, und da war sie, mit hellem Haar und heller Haut und straffem Körper, breit in den Schultern und im Becken, tiefliegendes Gravitationszentrum, ein kräftiges kleines Geschoß von Weib, rund, muskulös und untersetzt. Ihr Gesicht wurde ihm nicht deutlich. Irgendwie vermochte er sich an das Gesicht überhaupt nicht mehr zu erinnern.
Eine wundervolle Schwimmerin, das war sie. Im Wasser bewegte sie sich wie ein Speer. Sie schien nie müde zu werden und konnte endlos lang unter Wasser bleiben. So kräftig und aktiv er selber war, es fiel ihm doch stets schwer, mit ihr mitzuhalten, wenn sie schwammen. Meist kehrte sie um und wartete dann lachend auf ihn, und er holte sie ein, packte sie und drückte sie fest an sich.
Jetzt schwammen sie gerade. Er kam auf sie zu, und sie breitete ihm die Arme entgegen. Ringsum schwammen kleine Glitzerdinger, geschmeidig und freundlich.
»Wir sollten heiraten«, sagte er.
»Sollen wir das?«
»Ja, das sollen wir.«
»Die Frau des Arztes… Ich hab nie dran gedacht, den Doktor zu heiraten.« Sie lachte. »Aber irgendwer muß es ja wohl tun.«
»Nein. Keine muß es tun. Aber bei dir möchte ich es gern.«
Sie schlüpfte von ihm fort und schwamm weiter. »Fang mich, dann nehm ich dich!«
»Das ist unfair. Du hast ’ne halbe Länge Vorsprung.«
»Nichts ist je fair«, rief sie ihm zu.
Er grinste und machte sich an die Verfolgung. Er schwamm schneller als jemals zuvor, und diesmal zog er mit ihr gleich, als sie etwa auf halber Strecke in der Bucht waren. Er hätte nicht sagen können, ob er sein Leistungsvermögen über das übliche Maß steigerte, oder ob sie sich absichtlich von ihm einholen ließ. Vielleicht traf beides zu.
Und dann hatte der Doktor ein eheliches Weib.
»Bist du glücklich?« fragte er oft.
»O ja. Ja.«
»Ich auch.«
Eine gute, feste Ehe. Glaubte er jedenfalls. Aber sie war ruhelos. Ursprünglich war sie von einer anderen Insel gekommen, und nun wollte sie weiterziehen und ›die Welt kennenlernen‹ aber er war an Sorve gefesselt: durch seine Arbeit, durch seine disziplinierte, angeborene Gelassenheit, durch unzählige unsichtbare Bindungen. Er begriff nicht, wie stark der Drang zur Vagabondage in ihr wirklich war; ihre Sehnsucht nach fremden Inseln hatte er für eine blaße Übergangsphase gehalten, aus der sie herauswachsen würde, wenn sie sich erst einmal an das eheliche Dasein mit ihm auf Sorve gewöhnt hatte.
Und nun, eine andere Szene. Drunten im Hafen, elf Monate nach der Hochzeit. Mireyl, die an Bord einer von Delagards Inter-Insular-Fähren steigt, Zielhafen Morvendir, und die kurz stehenbleibt, auf die Pier zurückblickt und ihm zuwinkt. Ohne zu lächeln. Auch er lächelte wohl kaum, als er linkisch zurückwinkte. Und dann kehrte sie ihm den Rücken und war fort.
Lawler hatte danach nie wieder etwas von ihr oder über sie gehört. Das war nun zwanzig Jahre her. Hoffentlich ging es ihr gut, wo immer sie sein mochte.
In weiter ferne sah Lawler Schwärme von Luftgleitlingen die Wasserfläche durchstoßen und sich zu ihrem wilden Luftflug mit gespreizten Finnen emporschleudern. Ihre Schuppen blitzten rot und golden, genau wie die Edelsteine in den Geschichtenbüchern seiner Kindheit. Er hatte noch nie echte Edelsteine gesehen — auf Hydros gab es so etwas nicht —, doch es war schwer verstellbar, daß sie schöner sein sollten als diese Luftgleitlinge im Flug durch die untergehende Sonne. Und er vermochte sich auch keine schönere Szenerie auszumalen als die Bucht von Sorve in ihrer Abendfärbung. Was für ein prachtvoller Sommerabend! Es gab andere Zeiten im Jahr, da war die Luft nicht dermaßen weich und mild — wenn die Insel in Polargewässern driftete, wenn schwarze Stürme und messerscharfer Hagel auf sie niederpeitschten. Zeiten, in denen die Witterung zu rauh war und keiner mehr sich bis zum Rand der Bucht wagen konnte, um Fische oder Pflanzen zu holen, Zeiten, in denen sie alle von Trockenfisch und Algenpulver lebten, von getrockneten Tangsträhnen, wo sich alle in den Vaarghs verkrochen und unglücklich darauf warteten, daß die Sommerzeit wiederkäme. Aber die Sommer! Ach, diese Sommer, in denen die Insel durch tropische Breiten schwamm! Nichts konnte wundervoller sein! Die Ausweisung im Mittsommer machte die Vertreibung von der Insel nur um so schmerzhafter spürbar… man entzog ihnen die schönste Zeit des ganzen Jahres.
Aber das war schließlich die Geschichte der Menschheit von Anfang an, nicht wahr? dachte er. Ein Rausschmiß nach dem anderen. Vom Paradiesgarten Eden an ein Exil nach dem anderen.
Und wie er da so über die Bucht in all ihrer Schönheit blickte, verspürte er scharf ein erneutes Verlustgefühl: Sekunde um Sekunde stürzte sein Leben auf Sorve unwiederbringlich von ihm fort. Zwar fühlte er gleichzeitig auch noch diese seltsame Erregung bei der Vorstellung vom Beginn eines neuen Lebens an anderem Ort, wie in der ersten Nacht, aber doch nicht unablässig.
Er dachte über Sundira nach. Wie es sein mochte, mit ihr zu schlafen. Es wäre absurd, sich nicht einzugestehen, daß er sich von ihr angezogen fühlte. Diese langen glatten Beine, der schlanke geschmeidige Athletenkörper. Ihre Energie, die knappe, selbstbewußte Art. Er stellte sich vor, daß er mit den Fingern über die kühle glatte Haut an der Innenseite ihrer Schenkel streichle. Daß er den Kopf in die Grube zwischen Schulter und Hals bette. Die kleinen festen Brüste unter seinen Händen, die kleinen Brustwarzen, die sich gegen seine Handflächen aufrichteten. Wenn Sundira sich der Liebe nur halb so energisch widmete wie dem Schwimmen, dann mußte sie sensationell sein.
Seltsam, dieses Verlangen nach einer Frau, auf einmal wieder. Er hatte nun so lange schon autonom und selbstgenügsam gelebt. Wenn er jetzt diesem Verlangen nachgab, bedeutete dies, daß er ein Stück seiner sorgsam aufgebauten Schutzpanzerung preisgeben müsse. Doch der Abschied von der Insel hatte alles mögliche ans Licht gespült, was in seiner Seele bisher ruhig geschlummert hatte.
Nach einer Weile merkte Lawler, daß mindestens zehn Minuten verstrichen sein mußten, vielleicht sogar mehr, und er hatte Sundira nicht ein einziges Mal auftauchen und Luft holen sehen. So etwas schaffte nicht einmal eine sehr starke Schwimmerin, jedenfalls keine menschliche. In plötzlicher Angst suchte er die Wasserfläche nach ihr ab.
Dann sah er sie auf dem Deichweg von links her auf ihn zukommen. Die dunklen feuchten Haare waren straff im Nacken zusammengerafft, und sie trug ein loses blaues Wickelkleid aus Kriechtang, das vorn offenstand. Sie mußte nach Süden geschwommen und direkt neben der Bootswerft über die Rampe an Land gestiegen sein, ohne daß er es bemerkt hatte.
»Was dagegen, wenn ich mich dir anschließe?« fragte sie.
Lawler machte eine einladende Handbewegung. »Hier ist genug Platz.«
Sie trat an seine Seite und lehnte sich wie er mit den Ellbogen auf die Brüstung gestützt nach vorn und blickte aufs Wasser hinaus.
»Du hast so ernst dreingesehen, vorhin, als ich vorbeigeschwommen bin. So tief in Gedanken.«
»Wirklich?«
»Warst du?«
»Ich nehm es an.«
»Über große Dinge nachdenkend, Doktor?«
»Ach, eigentlich nicht. Ich hab bloß so gedacht.« Er war nicht so recht bereit, ihr zu eröffnen, was ihm vorhin durch den Kopf gegangen war. »Ich hab versucht, mich mit dem Gedanken abzufinden, daß ich hier fort muß«, improvisierte er rasch. »Wie der ins Exil gehen zu müssen.«
»Wieder?« fragte sie. »Das versteh ich nicht. Was soll das heißen: wieder? Mußtest du früher schon einmal von einer Insel fort? Ich dachte, du lebst schon immer auf Sorve.«
»Das stimmt. Aber das diesmal ist für uns insgesamt das zweite Exil, nicht wahr? Erst wurden unsere Vorfahren von der ERDE vertrieben. Und nun wir von unserer Insel.«
Sie wandte sich ihm zu und schaute ihn verwirrt an. »Wir sind keine Exilanten der ERDE. Kein ERDEgeborener hat sich je auf Hydros niedergelassen. Die ERDE wurde hundert Jahre vor der Ankunft der ersten Menschen hier schon zerstört.«
»Das spielt keine Rolle. Wir kommen alle ursprünglich von der ERDE, wenn du bis zum Anfang zurückgehst. Und wir haben sie verloren. Das ist wie ein Exil. Ich meine, für uns alle, für jeden einzelnen Menschen, für alle, auf welcher Welt im Raum sie auch leben.« Und auf einmal sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Schau, wir hatten einst eine Mutter-Welt, einen gemeinsamen Ursprungsplaneten, und er ist dahin, zerstört und vernichtet. Ausgelöscht. Nichts ist mehr übrig als die Erinnerung… und eine ziemlich verschwommene überdies… nichts, nur ein paar Händevoll kleinster Trümmerstücke wie jene, die du in meinem Vaargh gesehen hast. Mein Vater erzählte uns gern, daß die ERDE ein Ort voll bestürzend-schöner Wunder gewesen ist, der schönste Planet, der jemals existierte. Eine Welt der Gärten, pflegte er zu sagen. Ein Paradies. Vielleicht war sie das ja. Es gibt Leute, die behaupten, daß sie ganz und gar nicht so war, sondern ein abscheulicher Ort, ein Jammertal, aus dem die Menschen flohen, weil sie das Elend nicht mehr ertragen konnten. Ich weiß es nicht. Das alles ist inzwischen zur Mythologie verkommen. Aber ganz gleich, wie sie war, sie war unsere Heimat, und wir haben sie verlassen, und danach war die Tür ein für allemal hinter uns zugefallen.«
»Ich denke niemals an die ERDE«, sagte Sundira.
»Ich schon. Alle übrigen galaktischen Rassen haben noch ihre Mutterwelt. Wir nicht! Wir müssen in der Diaspora leben, über Hunderte von Welten verstreut, fünfhundert von uns hier, tausend anderwärts, wir müssen uns in der Fremde ansiedeln. Und werden mehr oder weniger von den nicht-irdischen verschiedenen Geschöpfen toleriert, auf deren Planeten es uns leidlich gelang, Fuß zu fassen. Das meine ich mit Exil!«
»Aber selbst wenn es die ERDE noch gäbe, wir könnten ja gar nicht auf sie zurückkehren. Nicht von hier, von Hydros aus. Hydros ist unsere Heimat, nicht die ERDE. Und niemand vertreibt uns von Hydros ins Exil.«
»Immerhin, wir werden von Sorve vertrieben. Das kannst du schlecht wegdiskutieren.«
Ihr Gesichtsausdruck, der merkwürdig, spöttisch und ein wenig ungeduldig, geworden war, wurde wieder weicher. »Dir kommt es wie das Exil vor, weil du nie irgendwo anders gelebt hast. Für mich ist eine Insel nichts weiter als eine Insel. Sie sind alle mehr oder weniger gleich. Wirklich. Ich lebe eine Weile auf der einen, und dann bekomme ich das Gefühl, jetzt möchte ich weiterziehen, und dann gehe ich eben woanders hin.« Sundira ließ ihre Hand flüchtig auf seiner ruhen. »Ich weiß, für dich ist das anders. Tut mir leid.«
Lawler entdeckte, daß er verzweifelt gern zu einem anderen Thema wechseln wollte.
Die Sache stimmte ganz und gar nicht. Jetzt hatte er ihr Mitgefühl erregt, und das bedeutete, sie reagierte auf etwas an ihm, was sie als sein Selbstmitleid interpretieren mußte. Das Gespräch hatte auf dem falschen Fuß begonnen und humpelte nun so weiter. Anstatt über die Vertreibung ins Exil und über die schwere Bürde der armen heimatlosen Menschenkinder zu jammern, die wie Sandkörner in der Galaxis verstreut lebten, hätte er Sundira besser sagen sollen, wie hinreißend sie auf ihn gewirkt hatte, als sie ihren hübschen Sterz beim Tauchen in die Höhe gereckt hatte, und ob sie nicht Lust habe, jetzt gleich mit ihm zu seinem Vaargh raufzugehen und vor dem Abendessen noch eine fröhliche kleine Vögelei mit ihm zu veranstalten? Aber es war zu spät, um jetzt noch auf diesen Kurs umzusteigen. Oder doch nicht?
Nach einer Weile fragte er: »Was macht der Husten?«
»Dem geht’s gut. Aber ich könnte ein bißchen mehr von der Medizin brauchen. Ich hab nur noch für zwei Tage.«
»Wenn du nichts mehr hast, komm zum Vaargh rauf. Ich geb dir dann Nachschub.«
»Mach ich«, sagte sie. »Und ich würde mir auch gern deine Sachen von der ERDE genauer ansehen.«
»Wenn du das willst, gern. Wenn sie dich interessieren, sag ich dir, was ich darüber weiß. Viel ist es nicht. Allerdings verlieren die meisten Leute rasch das Interesse, wenn ich davon anfange.«
»Mir war nicht klar, daß dich ERDE dermaßen fasziniert. Ich bin noch nie einem begegnet, der sich darüber viel Gedanken gemacht hätte. Für die meisten von uns ist sie halt nur der Ort, an dem vor ewig langer Zeit mal unsere Vorfahren gelebt haben. Aber das übersteigt unser Begriffsvermögen, ehrlich. Das können wir nicht erfassen. Und wir denken darüber ebensowenig nach wie darüber, wie unsere Ur-Ur-Ur- Ur-Urgroßeltern vielleicht einmal aussahen.«
»Aber ich tu es«, antwortete Lawler. »Ich könnte dir aber nicht sagen, warum. Ich denke an alle möglichen Sachen, die sich meinem Begriffsvermögen entziehen. Beispielsweise wie das sein mag, auf einer Welt mit festem Land zu leben. Wo deine Füße auf festen schwarzen Boden treten, aus dem Pflanzen wachsen, einfach so in der freien Luft, Pflanzen, die zwanzigmal so groß sind wie ein Mensch.«
»Du meinst — Bäume?«
»Ja, Bäume.«
»Ich weiß von Bäumen. Was für wundersame Dinge sie sind. Mit Stengeln, so dick, daß du sie mit den Armen nicht umfassen kannst. Und von oben bis unten von fester, rauher brauner Haut bedeckt. Unglaublich!«
»Du sprichst, als hättest du schon mal welche gesehen.«
»Ich? Aber nein, wie sollte ich? Ich bin eine Hydrosgeborene, wie du. Aber ich habe Leute getroffen, die auf Festlandwelten gelebt hatten. Während meiner Zeit auf Simbalimak war ich ziemlich viel mit einem Mann von Sunrise zusammen, und der erzählte mir von Wäldern und von Vögeln… und von Bergen und all den anderen Dingen, die wir hier nicht haben. Bäume. Insekten. Wüsten. Das alles kam mir recht erstaunlich vor.«
»Das kann ich mir denken«, sagte Lawler. Aber das Gespräch jetzt machte ihn auch nicht fröhlicher als die vorherige Unterhaltung. Er wollte nichts von Wäldern, Vögeln und Bergen hören — und nichts über den Mann von Sunrise, mit dem sie auf Simbalimak so oft zusammen war.
Sie blickte ihn seltsam an. Es gab eine lange zähe Pause. Eine Pause, in der unterschwellig etwas ausgesagt wurde. Aber, verdammt, er begriff den Text nicht.
Dann, mit verändertem, brüskem Ton sagte sie: »Du bist nie verheiratet gewesen, Doktor?« Die Frage kam so überraschend, wie wenn ein Gillie auf einmal Flickflack turnte.
»Doch. Einmal. Aber nicht lange. Es ist schon ziemlich lange her. Ein schlimmer Irrtum. Und du?«
»Nie. Vermutlich weiß ich nicht, wie man so was anstellt. Sich auf ewig an eine einzige Person zu binden. Mir kommt so was dermaßen komisch vor.«
»Man behauptet, daß es möglich ist«, bemerkte Lawler. »Und ich hab es auch mit eigenen Augen erlebt. Aber natürlich hab ich nur sehr wenig persönliche Erfahrung damit.«
Sie nickte unbeeindruckt. Irgendwie schien sie sich mit einem Problem herumzuschlagen. Genau wie er selbst. Und sein Problem kannte er: sein Zaudern, die von ihm selbst errichteten Grenzen zu überschreiten, hinter denen er sein Leben verschanzt hatte, nachdem Mireyl ihn verlassen hatte; seine Weigerung, sich dem Risiko erneuter schmerzlicher Verletzung auszusetzen.
Inzwischen war er sein diszipliniertes zölibatäres Leben gewohnt geworden. Mehr als nur angepaßt eigentlich: Ihm erschien es als das, was er haben wollte, weil es seinen tiefsten Bedürfnissen entsprach. Nichts gewagt und nichts — verloren. Wartete die Frau da darauf, daß er den ersten Zug machte? Allem Anschein nach, ja. Aber würde er ihn machen? Konnte er? Er hatte sich doch selbst in der Falle seiner unbiegsamen Gleichmütigkeit gefangen, und irgendwie sah er keine Möglichkeit, wie er sich mit Anstand aus ihr davonstehlen könnte.
Der leichte Sommerwind aus dem Süden trug ihm den Geruch ihrer seefeuchten Haare zu und ließ ihr Umhängetuch flattern, was Lawler deutlich daran gemahnte, daß Sundira darunter nackt war. Der rötlichgelbe Schein der sinkenden Sonne auf ihrer nackten Haut verwandelte die feinen zarten, fast unsichtbaren Härchen darauf in Gold, das auf ihren Brüsten funkelte. Ihr Körper war noch feucht vom Schwimmen, die kleinen helleren Brustwarzen hatten sich in der Abendkühle aufgerichtet. Sie war geschmeidig und fest und verlockend.
Und er begehrte sie.
Also gut. Dann zimpre nicht so herum. Du bist schließlich keine fünfzehn mehr. Was du jetzt machst, du sagst ihr: »Anstatt auf den Morgen zu warten, komm doch gleich mit mir in meinen Vaargh, dann geb ich dir die Medizin. Und dann laß uns zusammen essen und ein paar Gläschen trinken. Ich würde dich wirklich gern besser kennenlernen.« Und dann die Sache nach Gefühl weiterspielen. Er hörte die Worte in der Luft, fast so, als hätte er sie bereits ausgesprochen.
Doch in eben diesem Moment kam Gabe Kinverson direkt von seiner Tagesarbeit auf See über den Pfad daher. Er trug noch seine Fangausrüstung, schwere zeltähnliche Schutzkleidung, die ihn vor den scharfen Hieben der Fleischfischtentakeln bewahren sollte. Unter einem Arm trug er ein gefaltetes Segel. Er machte halt und stand riesenhaft eine Weile ein Dutzend Meter entfernt da, eine klobige Gestalt, gespenstisch wie ein scharfkantiges Riff, und von ihm strahlte wie immer diese merkwürdige Aura einer großen Kraft aus, von versteckter Gewalt, von Gefährlichkeit, die nur mit äußerster Schwierigkeit unter Kontrolle gehalten werden konnte.
»Da bist du ja«, sagte er zu Sundira. »Hab dich schon gesucht, ’n Abend, Doc.« Seine Stimme klang ruhig, ausdruckslos, rätselhaft. Aber Kinverson klang auch nie so bedrohlich, wie er aussah. Er nickte Sundira zu, und sie kam ohne Zögern zu ihm.
»War nett, mal mit dir zu reden, Doktor«, sagte sie über die Schulter zu Lawler.
»Aber gewiß.«
Kinverson will ja bloß, daß sie ihm das Segel flickt, beruhigte Lawler sich selber.
Na sicher, was sonst.
Wieder hatte er einen seiner ERDEN-Träume. Eigentlich waren es zwei, der eine sehr schmerzlich, der andere war nicht so übel. Lawler wurde mindestens einmal im Monat von einem heimgesucht, manchmal auch von beiden.
Diesmal war es der gemütlichere Traum, und er wanderte tatsächlich eigenfüßig und auf festem Boden über die ERDE. Er trug keine Schuhe, und es hatte vor kurzem geregnet, und der Boden war weich und warm, und wenn er die Zehen spreizte und sie in die Erde grub, sah er den feuchten Boden wie Ranken zwischen ihnen heraufsprießen, ähnlic h wie es beim Sand war, wenn er im seichten Teil der Bucht umherstakte. Der Boden der ERDE aber war ein dunkleres Material als Sand und viel schwerer. Und er gab unter dem Tritt in sehr unvertrauter Weise nach, nur ganz wenig.
Er ging durch einen Wald. Überall um ihn herum waren Bäume, Gewächse wie Holzkelp-Pflanzen mit langen Stämmen und dichten Laubkronen weit droben, aber viel, viel massiver als irgendein Holzkelp, den er je gesehen hatte, und das Laub stand so weit über ihm, daß er die Gestalt der Blätter nicht erkennen konnte. In den Wipfeln flatterten Vögel umher. Sie produzierten seltsame melodische Laute, eine Musik, die er nie zuvor gehört hatte und an die er sich nach dem Erwachen nie erinnern konnte. Allerart fremdartiger Geschöpfe strichen durch den Wald, manche gingen auf zwei Beinen wie ein Mensch, manche krochen auf ihren Bäuchen dahin, und manche standen auf sechs oder acht kleinen Stelzen. Er nickte ihnen im Vorübergehen grüßend zu, und sie erwiderten seinen Gruß, diese irdischen Geschöpfe.
Dann kam er an einen Ort, wo der Wald sich auftat, und er sah vor sich einen Berg aufragen. Er sah aus wie aus dunklem Glas mit Einsprengseln von spiegelhellen Unebenheiten, und in dem warmen goldenen Sonnenlicht war sein Strahlen wunderbar. Er füllte das halbe Firmament aus. Und Bäume wuchsen darauf. Sie wirkten so klein, daß er einen mit der Hand hätte umfassen können, doch er wußte, daß dies nur deshalb so wirkte, weil der Berg so weit von ihm entfernt war, und daß diese Bäume in Wirklichkeit mindestens so hoch waren wie jene in dem Wald, aus dem er gerade gekommen war, vielleicht sogar größer.
Er umwanderte irgendwie den Fuß des Berges. Auf dessen anderer Seite befand sich ein langer, abfallender Einschnitt, ein Tal, und jenseits dieses Tales sah er etwas Dunkles sich breiten, und er wußte, das war eine Stadt; eine Stadt voller Menschen, mehr Menschen, als er sich ohne Mühe vorzustellen vermochte. Er schritt darauf zu, er gedachte sich unter diese irdischen Menschen zu begeben und ihnen zu erklären, wer er sei und von woher er gekommen war, und er wollte sie nach ihrem Leben fragen, und ob sie seinen Ur-Urgroßvater kannten, Harry Lawler, oder vielleicht seinen Vater oder Großvater.
Doch so eifrig er auch gehen mochte, er rückte der Stadt nicht näher. Sie blieb unentwegt drüben am Horizont, dort unten am Ende des Tales. Stundenlang ging er, tagelang, er ging wochenlang… und stets blieb die Stadt unerreichbar, entzog sich ihm beharrlich, und wenn er dann schließlich erwachte, war er erschöpft und verkrampft wie von einer gewaltigen körperlichen Anstrengung und war müde, als hätte er überhaupt keinen Schlaf gefunden.
Am Morgen kam Jose Yanez, sein junger Schüler, wie gewohnt zum Unterricht in den Vaargh. Auf der Insel herrschte ein straffes Ausbildungssystem; man durfte nicht zulassen, daß irgendein Handwerk, irgendeine Kunst ausstarb. Seit den Anfängen der Niederlassung war dies nun das erste Mal, daß der Doktorslehrling kein Lawler war. Aber die Lawler-Tradition würde mit ihm enden, und wenn er einmal nicht mehr war, würde eine andere Familie die Verantwortung übernehmen müssen.
»Werden wir die ganze medizinische Ausrüstung mitnehmen können, wenn wir fortgehen?« fragte Jose.
»Soweit Platz an Bord ist«, beschied ihn Lawler. »Die Instrumente, die meisten Drogen, das Buch der Rezepturen.«
»Die Patientenkartei?«
»Falls genug Platz ist. Ich weiß nicht.«
Jose war siebzehn, ein großer schlaksiger Bursche. Sanftmütig, eine Seele von Mensch mit einem offenen, stets zu einem Lächeln bereiten Gesicht, und geschickt im Umgang mit den Patienten. Er schien begabt für die Doktorei. Er genoß die langen Stunden des Lernens, wie Lawler selbst, als Junge eher aufsässig und mit Wespen im Hintern, das nie ertragen hätte können. Es war jetzt das zweite Jahr von Joses Ausbildung, und Lawler vermutete, daß Jose bereits die Hälfte der Grundtechniken beherrschte; den Rest und die diagnostische Geschicklichkeit würde er sich ebenfalls mit der Zeit aneignen. Der Junge stammte aus einer Familie von Seefahrern; der ältere Bruder, Martin, war Kapitän auf einem von Delagards Schiffen. Es paßte genau zu dem Bild von Jose, daß er sich wegen der Krankenblätter der Patienten Sorgen machte. Lawler bezweifelte, daß man sie würde mitnehmen können; auf Delagards Schiffen schien nicht viel Platz für Cargo zu sein, und es gab vordringlichere Prioritäten als die Patientenkartei. Also würden er und Jose eben die Krankengeschichten der Inselbevölkerung unter sich aufteilen und auswendig lernen müssen, ehe der Auszug begann. Aber das würde weiter kein großes Problem sein. Er selbst hatte die meisten Fälle sowieso bereits im Gedächtnis. Und Jose, vermutlich, ebenso.
»Hoffentlich komme ich auf dasselbe Schiff wie du«, sagte der Junge. Neben Bruder Martin war Lawler für Jose sein größtes Heldenidol.
»Nein«, sagte Lawler ernst. »Wir werden auf verschiedenen Schiffen Dienst tun. Falls dann meins Schiffbruch erleiden sollte, dann bist immer noch du da und kannst die ärztliche Betreuung vornehmen.«
Jose schaute drein, als hätte ihn der Blitz getroffen. Weshalb? Wegen der Vorstellung, das Schiff seines Helden könne kentern und Lawler zugrunde fahren? Oder bei dem Gedanken, er selbst werde wirklich eines Tages der Koloniearzt sein? Vielleicht schon sehr bald?
Wahrscheinlich war es das. Lawler erinnerte sich, was für Gefühle ihn überkommen hatten, als er zum erstenmal begriff, daß hinter seiner Lehrzeit ja ein ganz aktueller Zweck, eine gezielte Absicht steckte, hinter diesem zermürbenden, endlosen öden Drill: Daß nämlich von ihm eines Tages erwartet wurde, an die Stelle seines Vaters zu treten und alle seine beruflichen Aufgaben zu erfüllen wie er. Er war damals so um die vierzehn gewesen. Und als er zwanzig war, war sein Vater tot, und er selber war der Doktor.
»Hör mal, mach dir deswegen keine großen Gedanken«, sagte Lawler. »Mir wird schon nichts passieren. Aber wir müssen eben mit dem Schlimmsten rechnen, Jose. Du und ich, wir verfügen über das gesamte medizinische Wissen, das es in der Kolonie gibt. Wir haben die Pflicht, es zu bewahren.«
»Ja. Natürlich.«
»Also gut. Das bedeutet, wir werden in verschiedenen Schiffen reisen. Verstehst du, was ich damit meine?«
»Ja. Ja, ich verstehe«, sagte der Junge. »Ich würde zwar lieber bei dir bleiben, aber ich versteh es wirklich.« Er lächelte. »Wir wollten heute über Pleuralinfla mmation arbeiten, oder?«
»Über entzündliche Prozesse des Brustfells, ja«, erwiderte Lawler und entfaltete seinen zerlesenen, verblichenen Anatomischen Atlas. Jose beugte sich vor, wach, aufmerksam, voll Lernbegierde. Der Junge war wirklich inspirierend. Er gemahnte Lawler an etwas, das er in der letzten Zeit fast vergessen hätte, daß sein Beruf mehr war als nur ein Job: Es war eine Berufung… »Entzündungen und Pleuralergüsse sind dran, beide. Symptomerkennung, Genese, therapeutische Maßnahmen.« Er hörte im Hinterkopf die Stimme seines Vaters, tief, gelassen, unerbittlich, dröhnend wie ein großer Gong. »Ein plötzlich auftretender stechender Brustschmerz beispielsweise…«
Delagard sagte: »Es tut mir leid, aber ich hab keine übermäßig guten Neuigkeiten.«
»Oh?«
Sie befanden sich in Delagards ›Büro‹ auf der Werft. Und es war Mittag, Lawlers gewohnte Pausenzeit zwischen den Sprechstunden. Delagard hatte ihn gebeten, er möge vorbeischauen. Auf dem Holzkelp- Tisch stand eine bereits geöffnete Flasche Beerenkrautschnaps, doch Lawler hatte es abgelehnt, mitzutrinken. Nicht während der Arbeitszeit, hatte er erklärt. Er hatte sich stets bemüht, einen klaren Kopf zu bewahren, wenn er Patienten erwartete (abgesehen natürlich von den Schlückchen Taubkraut-Elixier, und das, sagte er sich, schadete ja dabei nicht. Wenn es überhaupt einen Einfluß hatte, dann höchstens den, daß er klarer denken konnte).
»Ich hab inzwischen ein paar Reaktionen, leider keine guten. Velmise verweigert uns die Aufnahme, Doc.«
Es war, als hätte man ihn in den Unterleib getreten.
»Das haben sie dir mitgeteilt?«
Delagard schob ein Blatt Nachrichtenpergament über den Tisch. »Vor ’ner knappen halben Stunde hat mir Dag Tharn das da gebracht. Von meinem Sohn Kendy, auf Velmise. Er sagt, die hatten gestern abend ihre Ratsversammlung, und der Beschluß war gegen uns. Ihre Einwanderungsquote pro Jahr ist sechs, und sie sind willens, sie auf zehn zu erhöhen, angesichts der außergewöhnlichen Umstände. Aber mehr zu tun sind sie nicht bereit.«
»Also nicht alle achtundsiebzig.«
»Nein. Auf keinen Fall. Die alte Geschichte wie bei Shalikomo. Jede Insel fürchtet sich davor, zu viele Menschen aufzunehmen und dadurch die Gillies in Aufregung zu versetzen. Sicher, man könnte argumentieren, daß zehn Asylanten besser sind als gar keiner… Wenn wir zehn nach Velmise absetzen können, zehn nach Salimil, und noch zehn nach Grayvard…«
»Nein!« sagte Lawler. »Ich will, daß wir alle zusammenbleiben.«
»Aber das weiß ich doch. Okay!«
»Wenn Velmise also ausfällt, was ist die nächste Möglichkeit?«
»Dag verhandelt derzeit grade mit Salimil. Du weißt ja, ich hab auch dort einen Sohn sitzen. Vielleicht verfügt der über etwas mehr Überzeugungsfähigkeit als Kendy. Oder vielleicht sind die Leute von Salimil nicht ganz so miese Kneifärsche! Himmel, man könnte glauben, wir verlangen von Velmise, sie sollen ihre ganze verdammte Siedlung räumen und uns Platz machen. Die könnten uns leicht unterbringen. Vielleicht wär’s ’ne Weile ein bißchen eng, aber so was läßt sich doch hinkriegen. Shalikomos passieren doch nicht immer wieder!« Delagard fummelte in einem Stapel Pergamentblätter auf dem Tisch herum und reichte sie dann Lawler hinüber. »Also, Velmise ist Scheiße. Die Pest über sie. Wir werden schon was finden. Ich will eigentlich jetzt, daß du dir das da mal anschaust.«
Lawler warf einen Blick auf die Blätter. Auf jedem stand eine Liste von Namen in Delagards großer kühner Handschrift gekrakelt.
»Was soll das?«
»Ich hab dir doch vor einigen Wochen schon gesagt, ich habe sechs Schiffe, und das rechnet sich dann auf dreizehn Mann pro Schiff. Aber wie es sich zeigt, werden wir ein Schiff mit elf Personen haben, zwei mit je vierzehn, und die anderen drei mit dreizehn. Du wirst gleich begreifen, warum. Das sind die Passagierlisten, die ich aufgestellt habe.« Er tippte mit dem Finger auf das oberste Blatt. »Da. Das sollte dich am meisten interessieren.«
Lawler überflog das Blatt rasch. Da stand:
ICH UND LIS
GOSPO STRUVIN
DOC LAWLER
QUILLAN KINVERSON
SUNDIRA THANE
DAG THARP
ONYOS FELK
DANN HENDERS
NATIM GHARKID
PILYA BRAUN
LEO MARTELLO
NEYANA GOLGHOZ
»Na? Wie ist das? Gut?« fragte Delagard.
»Was soll das?«
»Hab ich doch grad gesagt. Die Passagierlisten. Die für unser Schiff, die Queen of Hydros. Ich glaub, es ist ’ne ziemlich gute Auswahl.«
Lawler starrte Delagard verwundert an. »Du Erzgauner, Nid. Du bringst es wirklich fertig, deinen eigenen Arsch gut abzusichern!«
»Aber, wovon redest du denn bloß?«
»Ich rede davon, mit welch unendlicher Mühe es dir gelungen ist, für deine persönliche Sicherheit und Bequemlichkeit zu sorgen, während wir auf See sind. Und du genierst dich nicht einmal, mir diese Liste zu zeigen, was? Nein, ich wette, du bist sogar noch stolz drauf! Du hast auf deinem Schiff den einzigen Arzt der Kolonie, dazu noch den erfahrensten Kommunikator, das Beste, was wir annähernd an Ingenieur zu bieten haben, und den Kartographen. Und Gospo Struvin ist zufällig auch der Spitzenkäptn deiner Flotte. Gewiß keine üble Basis-Besatzung für eine Reise von gottweißwielang zu einem gottweißwiefernen Ziel. Und dazu kommt noch Kinverson, der Jäger der See, der dermaßen stark ist, daß man ihn kaum als einen Menschen bezeichnen kann, und der sich auf dem Meeres-Ozean auskennt wie du auf deiner Werft. Ein verdammt gutes Team, das du dir da ausgesucht hast! Und keinerlei Störfälle, keine lästigen Kinder oder alte Leute, keiner, der irgendwie krank wäre. Gar nicht dumm, mein lieber Freund!«
Einen Moment lang, aber wirklich nur ganz kurz, flammte in Delagards glitzernden Äuglein Verärgerung auf.
»Also, sieh doch mal, Doc. Es ist schließlich das Flaggschiff. Und es wird möglicherweise doch keine ganz so leichte Fahrt, wenn wir am Ende gar bis Grayvard fahren müssen. Wir müssen überleben.«
»Müssen? Mehr als die anderen?«
»Du bist unser einziger Arzt. Willst du auf allen Schiffen gleichzeitig präsent sein? Dann versuch es. Ich hab mir das so gedacht: Da du nur auf einem Schiff mitreisen kannst, könntest du ja auch genauso gut auf meinem sein.«
»Aber klar doch.« Lawler fuhr mit dem Finger den Rand des Pergamentbogens entlang. »Aber selbst wenn ich dein Prinzip von ›Delagard-über-alles-und-vor-allem‹ gelten lassen würde, mir gehen trotzdem ein paar deiner Kandidaten nicht so recht ein. Was soll dir beispielsweise Gharkid nützen? Als ein Mensch ist der doch eine absolute Null.«
»Aber er kennt sich mit Seetang aus. Und darin ist er einzigartig, auch wenn er sonst nichts weiß. Er kann uns bei der Nahrungssuche helfen.«
»Das klingt vernünftig.« Lawler warf einen Blick auf Delagards prallen Bauch. »Und wir wollen doch nicht hungern, da draußen, wie? Na?« Er warf wieder einen Blick auf die Passagierliste. »Und warum Braun? Und Golghoz?«
»Die können fest zupacken und machen keinen Ärger.«
»Und Martello? Ein Dichter?«
»Der ist nicht bloß Dichter. Der kann auf einem Schiff gut zupacken und kennt sich aus. Und überhaupt, wieso eigentlich keinen Dichter? Die Sache wird doch zweifellos so was wie eine Odyssee. Die Auswanderung einer ganzen Insel. Da haben wir gleich einen, der uns unsere Geschichte niederschreibt.«
»Sehr hübscher Einfall«, sagte Lawler. »Man nimmt sich gleich seinen persönlichen Homer mit auf die Reise, damit die liebe Nachwelt nur ja auch alles richtig über die gewaltige Reise erfährt. Also, das gefällt mir.« Wieder überflog er die Liste. »Ich stelle fest, du hast nur vier Frauen vermerkt, bei zehn Männern.«
Delagard lächelte. »Der sexualspezifische Proporz entzieht sich meiner Kontrolle weitgehend. Wir haben auf dieser Insel sechsunddreißig weibliche Wesen, gegen zweiundvierzig männliche. Aber elf der Damen gehören dieser bescheuerten Schwesternschaft an, das darfst du nicht vergessen. Die schick ich auf einem eigenen Schiff ganz für sich alleine los. Sollen sie doch lernen, wie sie es segeln müssen, wenn sie können. Also haben wir eben nur fünfundzwanzig Frauen und Mädchen, aber fünf Schiffe, die Mütter müssen bei ihren kleinen Kindern bleiben undsoweiter, undsoweiter. Ich hab berechnet, daß wir auf unserem Schiff Platz für vier haben.«
»Darunter vor allem Lis, wie ich begreife. Und wie wählst du die übrigen drei Weiber aus?«
»Braun und Golghoz haben bereits für mich gearbeitet, sie hatten auf den Trips nach Velmise und Salimil angeheuert. Und wenn ich schon Weiber an Bord lasse, dann können das ja ebensogut welche sein, die zupacken können und wissen, was getan werden muß.«
»Und Sundira? Ja, schon gut, sie ist erfahren im Ausbessern von Zubehör. Das scheint vernünftig.«
»Genau«, sagte Delagard. »Und außerdem ist sie auch noch Kinversons Partnerin, klar? Wenn sie uns nützlich ist, und die beiden sind auch noch Partner, wozu sollte man sie trennen?«
»Also, soweit ich weiß, sind sie keineswegs feste Partner.«
»Ach, wirklich? Na, mir sieht es aber ganz danach aus. Ich seh sie fast die ganze Zeit nur zusammen«, sagte Delagard. »Jedenfalls ist das die Besatzung für unser Schiff, Doc. Für den Fall, daß die Flotte sich auf See trennen muß, haben wir da ein paar gute Leute, mit deren Hilfe wir es schaffen können. Und jetzt die Belegschaft für Schiff Nummer Zwei, die Sorve Goddess: Da haben wir Brondo Katzin und sein Weib, die ganzen Thalheims, die Tanaminds…«
»Moment mal!« warf Lawler ein. »Ich bin mit der ersten Liste noch nicht fertig. Über Father Quillan fiel bisher kein Wort. Ist der auch eine nützliche Person? Den hast du doch wohl nur gewählt, nehme ich an, um dich mit Gott gut zu stellen?«
Delagard steckte den Hieb unbeeindruckt weg. Er gab ein dröhnendes ›Hoho‹ von sich. »Ja, da soll mich doch! Nein, daran hab ich überhaupt nicht gedacht. Aber es war gar keine schlechte Idee, nein, ehrlich, sich einen Pfaffen mitzunehmen. Denn wenn da einer droben was ausrichten kann, dann der. Nein, der Grund, weshalb ich den Pastor ausgewählt hab, ist ganz einfach: Er macht mir so großen Spaß. Ich finde, er ist ein enorm interessanter Kerl.«
Natürlich, dachte Lawler.
Es erwies sich stets als ein Fehler, wenn man von Delagard erwartete, daß er in irgendeiner Sache konsequent sei.
In dieser Nacht stellte sich der andere Traum von der ERDE ein. Der Traum, der weh tat, der Traum, vor dem er sich am liebsten jedesmal versteckt hätte. Es war lange her, seitdem er beide Träume in aufeinanderfolgenden Nächten träumte, und darum war er ganz unvorbereitet, denn er hatte angenommen, der Traum der letzten Nacht werde ihm diesen anderen für ein ige Zeit ersparen. Aber nein. Nein, er konnte ihm nicht entkommen. Die ERDE würde ihn stets und immer verfolgen.
Dort hing sie am Himmel über Sorve: ein wundervoller blaugrüner Ball. Und drehte sich langsam und präsentierte ihre schimmernden Meere, ihre grandiosen gelbbraunen Kontinente. Über die Maßen schön war sie, dieses leuchtende Juwel im Himmel. Er sah die Gebirgsketten über die Rücken der Kontinente ragen wie schartige graue Zähne. Über den Spitzen breitete sich rein und weiß Eisschnee. Und Lawler stand auf dem obersten Kamm des hölzernen Dammes seiner kleinen Insel und ließ sich davon—, hinauftreiben in den Himmel, und er stieg weiter, bis er Hydros verlassen hatte und weit draußen im Weltraum über der blaugrünen Kugel schwebte, die einst die ERDE war, und auf sie niederschaute wie ein Gott. Dann sah er die Städte: Haus um Haus, nicht oben zugespitzt wie ein Vaargh, sondern breit und flach, über unermeßliche Weiten eines neben dem anderen, und dazwischen breite Verkehrswege. Und auf denen bewegten sic h Leute, Tausende, viele Tausende, eilig zu Fuß, und manche fuhren in kleinen Kutschen, die aussahen wie über Land fahrende Boote. Über ihnen in der Luft hingen die geflügelten Geschöpfe, die ›Vögel‹ hießen, wie die Gleiter und die anderen Hadros-Fische, die er kannte und die fähig waren, zu kurzen Flügen über die Wasseroberfläche hinaus in die Luft zu stoßen. Aber hier flogen sie die ganze Zeit in der Luft und schwebten großartig dahin und umkreisten den Planeten unermüdlich in unendlichen, weiten Bögen. Und zwischen den Vögeln waren auch Maschinen, die fliegen konnten. Sie waren aus Metall und glatt und glänzend, mit kurzen Flügeln und langen, tubusförmigen Leibern. Lawler sah sie vom Angesicht der ERDE aufsteigen und mit unglaublicher Geschwindigkeit über weite Entfernungen fliegen, wobei sie die Bewohner der ERDE von Insel zu Insel, von Stadt zu Stadt, von Kontinent zu Kontinent trugen, ein so ausgedehnter Verkehr, daß ihm beim Zusehen die Seele zu taumeln und kreisen begann.
Er schwamm durch Dunkelheit, weit über der leuchtenden blau-grünen Welt, und er beobachtete und wartete, und er wußte, was als nächstes geschehen würde, und fragte sich hoffnungsvoll, ob es vielleicht diesmal nicht geschehen werde.
Aber natürlich geschah es. Wie früher. Wie er es so vielmals durchlebt hatte, mit Schweißausbrüchen aus allen Poren und Muskelkrämpfen vor Schrecken und Angst. Und niemals gab es vorher eine Warnung. Es fing einfach an: Die heiße gelbe Sonne schwoll plötzlich an, wurde noch heller und monströs mißgestaltet — und die gezackte Feuerzunge züngelte durch den Himmel…
Und von den Hügeln und aus den Tälern stiegen die Flammen empor, aus den Wäldern und den Häusern. Die kochenden Meere. Die verbrannten Ebenen. Die schwarzen Aschewolken, die den Himmel verfinsterten. Und das geschwärzte Land, das aufbrach. Die nackten häßlichen Berge, die sich auf den zerstörten Feldern türmten. Der Tod, Tod, Tod…
Stets wünschte er sich, er könne aufwachen, ehe es soweit kam. Doch es gelang ihm nie, und er mußte stets alles bis zum Ende sehen, auch die kochenden Meere, auch die zu Asche verbrannten grünen Wälder.
Der erste Patient am nächsten Morgen war Sidero Volkin, einer von Delagards Schiffszimmermännern. Er hatte sich einen Feuerwurmdorn in der Wade geholt, während er im seic hten Wasser vom Kiel eines der Boote eine zu dick angewachsene Schicht von Pungmuscheln entfernte. Etwa ein Drittel von Lawlers Patienten kam mit Wunden zu ihm zur Behandlung, die sie sich im harmlosen, seichten Wasser der Bucht zugezogen hatten. Diese seichten und sanften Gewässer wurden nämlich nur allzu häufig von Geschöpfen heimgesucht, die es sich angelegen sein ließen, menschliche Wesen zu stechen, zu beißen, zu zersäbeln, zu speeren, in sie einzudringen oder sie auf andere Weise zu plagen.
»Das Biest ist direkt am Boot entlang auf mich zugeschwommen und aufgetaucht und hat mich angeglotzt«, sagte Volkin. »Ich mit dem Beil auf den Kopf los, und der Schwanz kommt von der anderen Seite rüber und sticht mich. Das Mistviech, ich hab es dann halbiert, aber das bringt mir jetzt wenig.«
Die Wunde war schmal, aber tief und bereits entzündet. Diese Feuerwürmer waren lange, sich windende Geschöpfe, die scheinbar nichts weiter waren als zähe biegsame Röhren mit einem unangenehmen kleinen Maul am einen und einem gemeinen Stachel am anderen Ende. Es machte keinen großen Unterschied, mit welchem Ende sie dich erwischten: Sie steckten voller Mikroorganismen, die in Symbiose mit dem Feuerwurm lebten und für menschliche Wesen schädlich waren, und wenn sie mit menschlichem Körpergewebe in Berührung gerieten, verursachten diese symbiontischen Epiphyten sogleich Reizungen und Komplikationen. Volkins Bein war gerötet und angeschwollen und bei Berührung schmerzempfindlich, von der Wunde aus verlief eine feuerrote, geflechtartige Entzündungsspur über die Haut; es sah aus wie Ritualnarben eines satanischen Kultes.
»Das wird jetzt weh tun«, sagte Lawler, während er eine lange Bambusnadel in eine Schüssel mit stark antiseptischer Flüssigkeit tauchte.
»Als ob ich das nicht wüßte, Doc!«
Lawler führte die Nadel in die Wunde ein, stocherte darin herum und träufelte so viel von der bakteriziden Flüssigkeit hinein, wie Volkin seinem Gefühl nach ertragen konnte. Der Schiffszimmerer blieb völlig bewegungslos, fluchte nur hin und wieder fast lautlos, während Lawler in seinem Fleisch herumstocherte, was zweifellos höllisch schmerzen mußte.
»Da hast du was gegen die Schmerzen«, sagte Lawler und reichte ihm ein Tütchen mit einem weißen Pulver. »Du wirst dich ein paar Tage lang ganz lausig mies fühlen. Dann dürfte die Entzündung zurückgehen. Außerdem wirst du heut nachmittag Fieber kriegen. Also nimm dir heut frei.«
»Kann ich nicht. Delagard läßt mich nicht weg. Wir müssen die Schiffe seeklar machen. Und da ist noch ’ne Menge zu tun.«
»Nimm dir heut den Rest frei«, sagte Lawler noch einmal. »Und wenn Delagard dir irgendwie dreckig kommt, dann sagst du ihm, er kann sich bei mir beschweren. In einer halben Stunde bist du nämlich so benebelt- daß du sowieso zu keiner vernünftigen Arbeit mehr fähig bist. So, und jetzt zieh ab.«
Volkin zögerte kurz am Eingang des Vaargh.
»Also, das weiß ich ehrlich zu schätzen, Doc!«
»Verschwinde. Und leg das Bein hoch, ehe du umkippst!«
Der nächste Patient, der draußen wartete, war ebenfalls einer von Delagards Belegschaft. Neyana Golghoz. Die Frau war untersetzt, wirkte gemütlich, etwa vierzig Jahre. Ihre Haare waren außergewöhnlich orangerot. Das flache breite Gesicht war übersät von rötlichen Flecken. Ursprünglich stammte sie von der Insel Kaggeram, war aber vor etwa fünf, sechs Jahren nach Sorve zugezogen. Sie arbeitete irgendwie im Wartungsbereich bei Delagards Flotte und fuhr beständig zwischen den sich begegnenden Inseln hin und her. Vor sechs Wochen hatte sich zwischen ihren Schulterblättern ein Hautkrebs zu verbreiten begonnen, und Lawler hatte ihn chemotherapeutisch beseitigt, indem er lösungsgetränkte Nadeln unter die Wucherungen schob, bis die malignen Partikel sich ablösten und abgehoben werden konnten. Die Prozedur war für beide wenig erfreulich gewesen. Lawler hatte der Patientin aufgetragen, sich einmal monatlich zur Nachuntersuchung einzufinden, damit er prüfen könne, ob sich rezidive Symptome gezeigt hatten.
Neyana streifte das Arbeitshemd ab und wendete ihm den Rücken zu, und Lawler untersuchte die Vernarbung mit den Fingern. Wahrscheinlich war die Partie immer noch schmerzempfindlich, aber die Frau reagierte überhaupt nicht auf die Berührung. Wie die meisten menschlichen Insulaner war sie mit einem recht gleichmütig- stumpfsinnigen und geduldigen Temperament ausgerüstet. Für die Humanpopulation war das Leben auf Hydros einfach, zuweilen beschwerlich, aber nie sehr fröhlich. Man hatte keine große Auswahl, nicht viele Alternativen, welchen Beruf man ergriff, wen man heiratete, wo man leben konnte. Wenn einer nicht den Mut aufbrachte und sein Glück auf einer der anderen Inseln versuchen wollte, waren die wesentlichen Marksteine seines Lebens festgelegt, sobald er oder sie erwachsen war. Und wagte man sich an einen anderen Ort, so stellte man wahrscheinlich fest, daß auch dort die Möglichkeiten durch so ziemlich die gleichen Umstände beschränkt waren. Das hatte mit der Zeit einen gewissen Stoizismus herangezüchtet.
»Sieht gut aus«, beschied Lawler die Patientin. »Du meidest weiterhin die Sonne, Neyana?«
»Da kannste Gift drauf nehmen, daß ich das mach!«
»Schmierst du die Salbe drauf?«
»Da kannste Gift drauf nehmen.«
»Nun, dann wirst du damit weiter keine Probleme haben.«
»Du bist ’n verdammt guter Doktor, Doc«, informierte ihn Neyana. »Ich hab da mal wen auf der anderen Insel gekannt, und der hatte auch so ’nen Hautkrebs, und bei dem hat der sich richtig durch die Haut reingefressen und er ist gestorben. Aber du, du kümmerst dich um uns, du beschützt uns.«
»Ich tu, was ich kann.« Dankbarkeitsäußerungen seiner Patienten machten ihn immer verlegen. Er selber kam sich meist wie ein Fleischhauer vor, wenn er sie mit derart urzeitlichen Methoden traktieren mußte, während auf anderen Planeten — hatten jedenfalls die berichtet, die von draußen gekommen waren — den Ärzten alle nur erdenklichen Wunderbehandlungen zur Verfügung standen. Dort benutzten sie Schallwellen und Elektrizität und Strahlen und alles mögliche andere, was er kaum begriff, und sie hatten Medikamente, die alles in fünf Minuten heilen konnten. Während er sich mit selbstgemachten Salben und Tränklein aus Seetang begnügen mußte, mit improvisierten Instrumenten aus Holz und dem einen und anderen Stückchen Eisen oder Nickel. Immerhin, er hatte der Patientin die Wahrheit gesagt: Er tat wirklich, was er nur konnte.
»Wenn ich mal was für dich tun kann, Doc, dann brauchste das bloß zu sagen. Jederzeit.«
»Das ist sehr freundlich von dir«, sagte er.
Neyana kroch hinaus. Nicko Thalheim kroch herein. Er war wie Lawler auf Sorve geboren und ebenso Abkömmling einer Ersten Familie mit einem Pedigree über fünf Generationen bis zu den Tagen, als der Planet noch Strafkolonie war. Nicko war eine der führenden Persönlichkeiten der Insel, ein derber rotgesichtiger Mann mit dickem Genick und ausladenden Schultern. Als Kinder waren er und Lawler Spielgefährten gewesen, und auch jetzt waren sie noch gute Freunde. Insgesamt gab es sieben Thalheims auf der Insel, machten also ein Zehntel der Humanbevölkerung aus. Nickos Vater, seine Frau, seine Schwester und seine drei Kinder. Es war ungewöhnlich, daß eine Familie drei Kinder hatte. Thalheims Schwester hatte sich vor etlichen Monaten der Klosterfrauengruppe am anderen Ende der Insel angeschlossen; sie war jedermann inzwischen unter dem Namen ›Schwester Boda‹ bekannt. Thalheim war über ihren Profeß nicht erfreut gewesen.
»Läuft der Eiter aus dem Abszeß gut ab?« fragte Lawler.
Thalheim hatte eine Infektion in der linken Achselhöhle. Lawler vermutete, daß ihn da irgendwas in der Bucht gestochen haben könnte, doch Thalheim verneinte das. Es war eine hartnäckige Sache und eklig, immer wieder floß Eiter heraus. Lawler hatte den Abszeß schon dreimal geschnitten und zu säubern versucht, aber er hatte sich immer wieder neu entzündet. Beim letztenmal hatte er vom Weber Harry Travish aus Seeplastik eine kleine Auffangröhre fertigen lassen und sie festgesteckt, damit darin der Eiter aufgefangen und von der entzündeten Stelle weggeleitet werde.
Er hob nun den Verband ab, zerschnitt die Stichnaht, durch die der Auffangtubus festgehalten wurde, und inspizierte die Entzündung. Die ganze Haut im Umkreis war gerötet und fühlte sich unter den Fingern heiß an.
»Tut höllisch weh«, sagte Thalheim.
»Ja, und es sieht auch ziemlich übel aus. Tust du auch wirklich die Medizin drauf, die ich dir gegeben habe?«
»Aber sicher mach ich das.«
Es klang nicht überzeugend. Lawler sagte: »Das kannst du halten, wie du willst, Nicko. Aber wenn sich die Entzündung ausbreitet und den Arm runterwandert, werde ich dir vielleicht den ganzen Arm amputieren müssen. Meinst du, du kannst auch mit nur einem Arm richtig weiterarbeiten?«
»Ist ja bloß mein linker, Val.«
»Das kann ja wohl kaum dein Ernst sein.«
»Nein. Natürlich nicht.« Er stöhnte knurrend, als Lawler die Geschwulst erneut berührte. »Also, vielleicht hab ich ja mal einen Tag auf die Medizin vergessen, oder vielleicht auch zwei. Tut mir leid, Val.«
»In einiger Zeit wird es dir noch viel mehr leid tun.«
Und kühl und ohne Zimperlichkeit säuberte Lawler den Infektionsherd, als schnitte er an einem Stück Holz herum. Thalheim blieb bei der Prozedur stumm und bewegte sich nicht.
Als Lawler den Drainagetubus wieder anheftete, sagte Thalheim auf einmal: »Wir kennen uns schon sehr lange, Val.«
»Ja, fast vierzig Jahre.«
»Und uns hat es alle beide nicht gedrängt, auf eine andere Insel zu gehen.«
»Ich bin nie auf so einen Gedanken gekommen«, sagte Lawler. »Aber davon mal abgesehen, ich war schließlich hier der Doktor.«
»Genau. Und mir hat es einfach hier gefallen.«
»Ja«, sagte Lawler. Worauf wollte er hinaus?
»Weißt du, Val«, sprach Thalheim weiter. »Ich hab drüber nachgedacht, über diese Geschichte, daß wir hier fort müssen. Es ist mir zuwider. Es macht mich innerlich ganz krank.«
»Ich bin auch nicht begeistert davon, Nicko.«
»Klar. Aber du scheinst dich damit abgefunden zu haben.«
»Was bleibt mir denn anderes übrig?«
»Vielleicht gibt‹ s doch ’ne andere Möglichkeit, Val.«
Lawler schaute ihn an und wartete.
Thalheim fuhr fort: »Ich hab dich bei der Gemeindeversammlung gehört. Was du da gesagt hast, daß es zu nichts führt, wenn wir versuchen, uns gegen die Gillies zu wehren. Ich war da nicht einverstanden mit dir, aber nachdem ich noch mal über alles nachgedacht habe, sah ich, daß du recht hast. Trotzdem überlege ich mir die ganze Zeit, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, daß ein paar von uns hierbleiben können.«
»Was?«
»Also, wenn zehn, zwölf von uns sich am anderen Ende verstecken, dort wo die Schwestern sich niedergelassen haben. Du, und ich, meine Familie, und die Katzins, die Hains — das wäre ein Dutzend. Und außerdem ’ne recht anständige Gruppe, keine Reibereien, alle mitsammen Freunde. Wir verhalten uns ganz still, gehen den Gillies aus dem Weg, fischen auf der anderen Seite der Insel und versuchen so weiterzuleben wie bisher.«
Der Gedanke war dermaßen absurd, daß er Lawler an einem ungeschützten Punkt traf. Eine verrückte Sekunde lang fühlte er sich tatsächlich in Versuchung. Hierbleiben, trotz allem? Die vertrauten Pfade, die liebe vertraute Bucht nicht aufgeben zu müssen? Und die Gillies kamen nie zum unteren Inselende. Vielleicht merkten sie es gar nicht, wenn ein paar Humaninsulaner zurückblieben…
Doch, nein!
Die Aberwitzigkeit des Plans knallte ihm ins Bewußtsein wie die Faust der Tidenwoge. Die Gillies brauchten gar nicht zur Inselspitze zu gehen, um zu wissen, was dort los war. Sie wußten immer irgendwie, was sich irgendwo auf ihrer Insel tat. Sie würden sie innerhalb von fünf Minuten finden und sie über den rückwärtigen Deich ins Meer werfen, und damit hatte es sich dann. Außerdem, selbst wenn es ein paar Leuten gelingen sollte, der Aufmerksamkeit der Gillies zu entgehen, wie konnte jemand annehmen, sie würden danach genauso weiterleben können, wie sie es gewohnt waren, wo doch der größere Teil der Gemeinde in der Fremde lebte? Nein. Nein, das Ganze war absurd und unmöglich.
»Na, was hältst du davon?« fragte Thalheim.
Nach einer kurzen Pause sagte Lawler: »Vergib mir, Nicko. Aber es ist ebenso hirnrissig wie dieser Vorschlag von Nimber neulich, wir sollten den Gillies eins ihrer Götzenbilder stehlen und es als Sicherheitspfand behalten.«
»Meinst du wirklich?«
»Ja!«
Thalheim schaute stumm zu, wie Lawler ihm die Geschwulst unter dem Arm verband.
Dann sagte er: »Du hast schon immer die Dinge mit einem praktischen Verstand gesehen. Irgendwie kaltblütig, Val, aber praktisch, immer praktisch. Du gehst einfach nicht gern ein Risiko ein, denk ich mir.«
»Nicht wenn die Chancen eine Million zu eins gegen mich sind.«
»Du glaubst, es ist so schlimm?«
»Es kann nicht klappen, Nicko. Auf gar keine Weise. Nun gib es schon zu. Keiner kann die Gillies austricksen. Die Idee ist das reine Gift, sie ist selbstmörderisch.«
»Ja, vielleicht.«
»Nicht vielleicht.«
»Einen Moment lang kam sie mir recht gut vor.«
»Wir hätten nicht die geringste Chance«, sagte Lawler.
»Nein. Nein. Wir hätten wirklich keine Chance, was?«
Thalheim schüttelte den Kopf. »Ich möchte aber wirklich so gern hier auf der Insel bleiben, Val. Ich will von hier nicht weg. Ich würde alles dafür geben, wenn ich bleiben dürfte.«
»Ich auch«, sagte Lawler. »Aber wir ziehen fort. Wir müssen!«
Sundira Thane kam in seine Sprechstunde, als sie ihren Taubkraut- Tranquilizer ganz aufgebraucht hatte. Ihre energiegeladene lebhafte Persönlichkeit wirkte in dem kleinen Sprechzimmer des Vaargh wie ein Trompetenstoß.
Allerdings hustete sie auch wieder. Und Lawler wußte auch, warum, und es war nicht etwa, weil fremdartige Fungi ihre Lungen befallen hatten. Sie machte einen angespannten, überreizten Eindruck. Und das Leuchten, das ihren Augen diese intensive Lebendigkeit verlieh, war diesmal nicht Ausdruck ihrer inneren Stärke, sondern der Angst.
Lawler füllte den kleinen Vorratskürbis mit einem frischen Vorrat der rosa Tropfen, genug für die Zeit bis zum Tag des Auszugs. Danach, wenn der Husten sie auch auf See noch immer belästigte, konnte sie von seinem Vorrat abbekommen.
Sie sagte: »Eins von diesen verrückten Weibern war grad vorhin im Ort, hast du davon schon gehört? Sie hat allen Leuten erzählt, daß sie uns das Horoskop gestellt hat, und keiner wird die Reise zu der neuen Insel überleben. Nicht ein Mensch, hat sie gesagt. Einige werden auf See zugrundegehen, und die übrigen werden glatt über den Rand der Welt hinaussegeln und im Himmel landen.«
»Das war Schwester Thecla, nehme ich an. Sie behauptet, daß sie das Zweite Gesicht hat.«
»Und? Stimmt es?«
»Sie hat mir mal mein Horoskop gestellt, vor langer Zeit, vor Gründung der Schwesternschaft, als sie sich noch herabließ, mit Männern zu sprechen. Damals sagte sie, ich würde bis in ein reifes hohes Alter ein glückliches erfülltes Leben führen. Und jetzt sagt sie, wir gehen alle zugrunde. Also muß eins von diesen beiden Horoskopen falsch sein, meinst du nicht auch? So, und jetzt mach mal den Mund auf, ich will mir mal deinen Hals und Kehlkopf anschauen.«
»Vielleicht hat aber Schwester Thecla gemeint, daß du zu denen gehörst, die direkt in den Himmel segeln werden?«
»Schwester Thecla ist keine besonders zuverlässige Informationsquelle«, sagte Lawler. »Um es drastisch zu sagen: Schwester Thecla ist eine psychisch ernstlich gestörte Person — Mund auf!«
Er schaute ihr in den Rachen. Er sah dort eine leichte Gewebsreizung, weiter nichts Besonderes, eben was man so als Folge eines gelegentlichen psychosomatischen Hustens erwarten durfte.
»Wenn Delagard wüßte, wie man in den Himmel fährt, der hätte das längst getan«, sagte er. »Er hätte längst einen Pendelverkehr mit Fährschiffen eingerichtet. Und die frommen Schwestern hätte er längst dorthin verfrachtet. Und was deinen Hals angeht, so ist das immer noch das gleiche wie anfangs. Spannungen, nervöser Reizhusten. Versuch eben, dich mehr zu entspannen. Dich beispielsweise von Schwestern fernzuhalten, die dir deine Zukunft weissagen wollen, wäre eine gute Idee.«
Sundira lächelte. »Ach, diese armen törichten Weiber. Sie tun mir leid.« Obgleich die Konsultation beendet war, machte sie keine Anstalten zu gehen. Sie ging vielmehr zu dem Bord, auf dem er seine kleine Kollektion von irdischen Artefakten aufbewahrte, und betrachtete sie eine Weile lang intensiv. »Du hast versprochen, daß du mir sagst, woher diese Sachen stammen.«
Er trat neben sie. »Das Metallfigürchen ist am ältesten. Es ist ein Gott, den man in einem Land namens Ägypten verehrte. Vor vielen tausend Jahren. Ägypten war ein Land an einem großen Fluß, eines der ältesten Länder auf der ERDE überhaupt, in denen die Zivilisation entstand. Er ist entweder der Sonnengott oder der Gott des Todes. Oder beides. Ich bin mir da nicht sicher.«
»Beides? Wie kann der Gott der Sonne auch der des Todes sein? Die Sonne ist die Quelle des Lebens, sie ist hell und warm. Der Tod, der ist etwas Düsteres, Dunkles. Er ist…« Sie stockte. »Aber die Sonne der ERDE war auch todbringend, nicht wahr? Willst du damit sagen, daß sie das in diesem Land namens Ägypten gewußt haben, Tausende von Jahren, bevor es wirklich geschehen ist?«
»Das bezweifle ich stark. Aber die Sonne stirbt jeden Abend. Und sie wird am nächsten Morgen wiedergeboren. Vielleicht liegt hier der Zusammenhang.« Oder auch nicht. Er stellte bloße Vermutungen an. Er wußte doch so wenig.
Sie nahm das kleine Bronzefigürchen auf und wog es in der flachen Hand, wie um das Gewicht abzuschätzen.
»Viertausend Jahre. Ich kann mir viertausend Jahre einfach nicht vorstellen.«
Lawler lächelte. »Manchmal halte ich es genauso wie du jetzt und versuche mir vorzustellen, daß sie mich an den Ort zurückführt, an dem sie gemacht wurde. Trockener Sand, keine Sonne, ein blauer Fluß mit Bäumen an beiden Ufern. Städte mit Tausenden Menschen darin. Gewaltige Tempel und Paläste. Aber es ist sehr schwierig, die Vision klar und deutlich zu halten. Alles, was ich wirklich im Geiste sehen kann, sind ein Meer und eine kleine Insel.«
Sie stellte die Statuette wieder ab und wies auf den Tonscherben. »Und dieses Stück hartes bemaltes Material, sagst du, stammt aus… Griechenland?«
»Ja, Griechenland. Es ist Töpferware. Sie machten das aus Lehm. Da, schau, du kannst noch ein Stückchen der Malerei erkennen, die Gestalt eines Kriegers und den Speer, den er wohl trug.«
»Was für eine wundervolle Umrißlinie. Es muß ein Meisterstück gewesen sein. Aber das werden wir nie erfahren, nicht wahr? Wann ist Griechenland gewesen? Nach Ägypten?«
»Viel später. Und trotzdem noch sehr, sehr alt. Es gab bei ihnen Dichter und Philosophen, und große Künstler. Homer war ein Grieche.«
»Homer?«
»Er schrieb die Odyssee und die Iliade.«
»Verzeih, aber ich weiß nicht…«
»Das sind berühmte Versepen, sehr lange. Eines war über einen Krieg, das andere über eine Seefahrt. Mein Vater hat mir oft Geschichten erzählt, die aus ihnen stammten, die paar Teilstückchen, an die er sich noch aus den Erzählungen seines Vaters erinnerte. Und der hatte sie von seinem Großvater Harry gelernt, dessen Großvater noch auf der ERDE geboren war. Damals war es erst sieben Generationen her, daß es die ERDE noch gab. Wir vergessen das manchmal… manchmal vergessen wir sogar, daß es die ERDE überhaupt jemals gab. Siehst du das runde braune Medaillon da? Das ist eine Erdkarte. Mit den Festlanden und den Meeren.«
Von all seinen Schätzen, dachte Lawler oftmals, war dies der kostbarste. Es war zwar weder das älteste Stück seiner Sammlung, noch das schönste, aber es trug eben das Abbild der ERDE in sich eingegraben. Er hatte keine Ahnung, wer es gemacht hatte, oder wann es gemacht worden war, oder zu welchem Zweck. Es war eine flache harte Scheibe und größer als seine Geldmünze aus dem Land ›United States of America‹, aber doch noch so klein, daß er sie in der Handfläche halten konnte. Am Rand verliefen Lettern, die keiner zu entziffern vermochte, und in der Mitte lagen zwei sich überschneidende Kreise, auf denen die Karte der ERDE eingraviert war, zwei Kontinente in der einen Hemisphäre, zwei in der anderen, und am unteren Rand der Welt in beiden Kreisen lag ein fünfter Kontinent, und einige große Inseln ragten aus den Weiten der Meere. Vielleicht waren ja auch sie Kontinente, wenigstens ein paar davon. Denn Lawler begriff nicht so recht, wo der Unterschied lag, wenn es eine Insel war und wenn es ein Kontinent war.
Er zeigte auf den linken Kreis. »Man nimmt an, daß Ägypten hier war, etwa hier in der Mitte. Und Griechenland irgendwo ein bißchen weiter hier oben. Und das da drüben, auf der anderen Seite könnten vielleicht die United States of America gewesen sein. Und dieses kleine Stück Metall nennt man eine Münze, und sie benutzten es dort, in diesen United States.«
»Wofür?«
»Als Geld«, sagte Lawler. »Solche Münzen waren Geld.«
»Und das verrostete Ding da?«
»Das war eine Waffe. Man nannte es Kanone. Es spuckte kleine Bolzen aus, die Geschosse hießen.«
Sie schauderte ein wenig zurück. »Du hast da nur diese sechs Gegenstände von der ERDE… und einer davon muß ausgerechnet eine Waffe sein. Aber so waren sie, die damals, nicht wahr? Dauernd kämpften sie gegeneinander? Brachten sich gegenseitig um? Taten sich gegenseitig weh?«
»Ja, manche waren so, besonders in den älteren Tagen. Später hat sich das geändert, gla ube ich.« Lawler zeigte auf den groben Steinsplitter, sein letztes Exponat. »Das kommt von irgendso einer Mauer, die sie damals hatten, einer Mauer zwischen Ländern, weil es da Krieg gab. Das wäre, wie wenn es hier bei uns Mauern zwischen den Inseln geben würde, falls du dir so was vorstellen kannst. Irgendwann kam dann ein Frieden, und sie rissen die Mauer ein, und alle feierten heftig, und Stücke von der Mauer wurden aufbewahrt, damit keiner jemals vergessen sollte, daß es die Mauer einmal gab.« Lawler zuckte die Achseln. »So waren eben Menschen. Manche waren gut, und andere eben nicht. Ich denke nicht, daß sie so sehr anders waren als wir.«
»Aber ihre Welt war anders.«
»Sehr anders, ja. Seltsam und wunderbar.«
»Du kriegst immer so einen ganz besondren Ausdruck in den Augen, wenn du über die ERDE redest. Das hab ich schon neulich nachts bemerkt, drunten an der Bucht, als du davon gesprochen hast, daß wir alle im Exil leben. Da war so ein Glühen in deinen Augen, ein Ausdruck der Sehnsucht, nehme ich an. Du hast gesagt, manche Leute glaubten, die ERDE war ein wundervoller Paradiesgarten, und andere, sie war ein entsetzliches Jammertal voller Grauen, und alle wollten weg von dort. Aber du mußt einer von denen sein, die glauben, sie war ein Paradiesgarten.«
»Nein«, antwortete Lawler. »Ich hab es dir doch gesagt: Ich weiß wirklich nicht, wie es dort wirklich war. Ich vermute, ziemlich übervölkert, eng, schäbig und verdreckt, als es aufs Ende zuging, sonst wäre es wohl kaum zu diesen gigantischen Auswanderungswelle n von dort gekommen. Aber ich weiß es nicht. Ich nehme an, die Wahrheit darüber werden wir nie erfahren.« Er schwieg und sah sie fest an. »Das einzige, was ich weiß: Dort war einmal unsere Heimat. Und das sollten wir nie vergessen: Unsere eigentliche wirkliche Heimat. Wir können uns noch so viel selber betrügen und uns vormachen, wir sind auf Hydros zuhause — wir bleiben trotzdem alle immer nur Besucher hier.«
»Besucher?« fragte Sundira.
Sie stand sehr nahe bei ihm. Die grauen Augen schimmerten hell, die Lippen schimmerten feucht. Lawler hatte das Gefühl, als höben und senkten sich ihre Brüste rascher als gewöhnlich unter dem leichten Wickeltuch. Seine Einbildung? Oder zeigte sie ihm, daß sie ihn wollte?
»Fühlst du dich denn auf Hydros zu Hause?« fragte er. »So ganz wirklich, echt zu Hause?«
»Aber natürlich. Du nicht?«
»Ich wollte, ich könnte es.«
»Aber du bist doch hier geboren!«
»Na und?«
»Ich versteh nicht…«
»Nun, bin ich ein Gillie? Ein Taucher? Ein Fleischlingsfisch? Die fühlen sich hier zu Hause. Die sind hier zu Hause!«
»Aber du doch auch.«
»Du begreifst noch immer nicht«, sagte Lawler.
»Ich bemühe mich. Ich würde dich gern verstehen.«
Das wäre jetzt der Augenblick, dachte Lawler, um nach ihr zu greifen, sie fest an mich zu ziehen, sie zu streicheln, dies und das zu tun, mit Händen und Lippen… es zu tun. Sie will dich verstehen, sagte er sich. Also gib ihr ihre Chance.
Und dann hörte er Delagards Stimme im Kopf: Außerdem ist sie Kinversons Partnerin, oder? Und wenn die zwei verbandelt sind, und sie erweist sich als nützlich, wozu sollte man sie trennen?
»Ja«, sagte er, und sein Ton war plötzlich abweisend. »Eine Menge Fragen, und kaum Antworten. Ist es nicht immer so?« Und plötzlich wollte er allein sein. Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Flakon mit dem Tranquilizer. »Der Vorrat müßte dir für zwei weitere Wochen reichen, genau bis zum Termin unserer Abfahrt. Und wenn der Husten sich nicht wieder bessert, laß es mich wissen.«
Sie reagierte ein wenig bestürzt auf diese brüske Verabschiedung. Dann aber lächelte sie, bedankte sich und ging. Ach, Mist, Mist, Mist! dachte er.
Delagard sagte: »Die Schiffe sind so ziemlich in Schuß, und wir haben noch eine ganze Woche Zeit! Meine Männer haben sich regelrecht die Klöten abgerissen, um das hinzukriegen.«
Lawler stand am Rand der Werft und schaute aufs Wasser hinaus, wo Delagards ›Flotte‹ ankerte, alle Schiffe bis auf eins, das noch im Trockendock hing und dessen Rumpf ausgebessert wurde. Zwei Schiffszimmerer arbeiteten eifrig daran. Und auf den anderen Schiffen waren drei Männer und vier Frauen eifrig mit Hämmern und Hobeln am Werken. »Ich vermute natürlich, daß du das eben nicht wörtlich gemeint hast.«
»Was? Wie? Ach so. Sehr komisch, Doc. Aber hör mal, jeder, der für mich arbeitet, hat Klöten, sogar die Weiber. Ich drück mich halt nun mal so ordinär aus. Oder es ist eben eine meiner kleinen sprachlichen Absonderlichkeiten, was dir lieber ist. Möchtest du dir ansehen, was wir gemacht haben?«
»Ich war noch nie an Bord eines großen Schiffes, stell dir vor. Nur mal so in Fischerbooten, Rutenbooten, weißt du?«
»Es gibt für alles ein erstes Mal. Komm, ich zeig dir das Flaggschiff.«
Sobald er an Bord war, erschien Lawler das Schiff viel kleiner als Delagards Schiffe sonst, wenn sie draußen in der Bucht ankerten. Aber, nun ja, es sah doch einigermaßen geräumig genug aus. Fast wie eine Miniatur-Insel. Lawler spürte das leichte Rollen unter den Sohlen, sogar hier im Flachwasser. Der Kiel war aus demselben gelben zähfesten Kelpholzmaterial gefügt, aus dem auch der Inselgrund gefertigt war, aus langen zähen Fasern, die dicht zusammengepreßt und gebündelt und mit Pech kalfatert waren. Aber die Außenhülle der Schiffsrümpfe hatte eine andere Kalfaterung. Ebenso wie die Inseldeiche eine Deckschicht von lebendem Seefingerkraut überzog, das sich fortwährend selbst ergänzte und neustrukturierte im Anprall des Meeres gegen die Inseleinfassung, genau wie die hölzernen Bohlen des Lagunenbodens durch Schichten von schützenden Algen verstärkt wurden, so umspannten auch dichte grüne Geflechte der Seefinger den Schiffsrumpf bis fast zur Reling herauf. Die stummeligen kleinen blaugrünen Schläuche des Gewächses, die für Lawler stets mehr wie winzige Fläschchen als wie Finger ausgesehen hatten, überzogen den Schiffsrumpf mit einem dichten stachligen Mantel, der sich dicht unter der Wasserlinie in einem dichten wulstigen Geflecht ausstülpte. Das Deck war eine feste Fläche aus irgendeiner leichteren Holzart und sorgsam versiegelt, um das Schiffsinnere trocken zu halten, wenn Bugseen über Bord schwappten. Mittschiffs erhoben sich zwei Masten. Luken auf dem Vorschiff und am Heck führten in geheimnisvolle untere Regionen.
Delagard sagte: »Also, wir haben hauptsächlich die Decks frisch abgedichtet und den Rumpf neu belegt. Wir wollen überall wasserdicht sein. Es ist möglich, daß wir es mit ein paar häßlichen Stürmen zu tun kriegen werden, und mit Sicherheit wird uns da draußen irgendwo die verfluchte Tidenwelle einholen. Auf einem interinsularen Trip könnten wir um Schlechtwettergebiete herumskippern, und wenn es einigermaßen gut läuft für uns, besteht die Hoffnung, daß wir dem Schlimmsten von der Tidenwoge entgehen, aber diesmal wird’s vielleicht nicht ganz so leicht.«
»Ja, aber das soll doch eine Inselfahrt werden«, sagte Lawler.
»Schon, aber vielleicht nicht zwischen den Inseln, wie wir es gern hätten. Manchmal muß der Mensch, besonders bei so einer Reise, eben den langen Umweg nehmen.«
Lawler kam da nicht ganz mit, aber da Delagard nicht näher darauf einging, hakte er nic ht nach. Delagard schleppte ihn durch das ganze Schiff und spulte dabei eine Masse technischer Angaben herunter: Das ist das Kajüthaus, dort das Deckhaus, die Brücke, das Vorschiff und das Achterdeck, das Bugspriet, die Winsch, der Wasserläufer, die Kranbrücke und die Winde. Das da sind Gaffelhaken, da ist der Ruderkasten, das da ist das Kompaßhaus. Drunten haben wir da die Mannschaftsquartiere, den Frachtraum, die Magnetronkammer, den Funkraum, die Schiffszimmerei… und dies… und das… Lawler hörte kaum zu. Die meisten Begriffe sagten ihm sowieso nichts. Was ihm allerdings auffiel: Alles unter Deck war so unglaublich dichtgedrängt, alles ineinander gequetscht. Er war die Intimität und Abgeschlossenheit seines Vaargh gewöhnt. Aber hier würden sie sich alle gegenseitig in den Unterhosen rumkriechen sehen. Lawler versuchte sich vorzustellen, daß er es auf dem weiten offenen Ozean zwei, drei, ja vier Boot- Wochen lang in diesem überfüllten Boot würde aushalten müssen… und nirgendwo eine Insel in Sicht.
Na, also nicht grad ein Boot, sagte er sich. Ein Schiff! Ein hochseetüchtiges Segelschiff!
»Wie lauten die letzten Bescheide von Salimil?« fragte er, als Delagard ihn endlich aus der beklemmenden Enge des Schiffsbauches nach oben geleitete.
»Dag verhandelt grad jetzt mit denen. Die Ratssitzung sollte eigentlich heute früh stattfinden. Meiner Vermutung nach kommen wir mit Leichtigkeit durch. Die haben dort ’ne Menge Platz. Und mein Sohn Tylie rief mich letzte Woche von Salimil an und sagte mir, daß vier Ratsmitglieder fest für uns und zwei weitere nicht abgeneigt sind.«
»Von wie vielen?«
»Neun.«
»Klingt gut.« Also würden sie wohl nach Salimil gehen. Na schön. Wenn es denn sein mußte. Er beschwor ein Bild von Salimil in sich herauf, wie er es sich vorstellte — natürlich ziemlich genauso wie Sorve, aber irgendwie größer, großartiger, üppiger —, und er malte sich aus, wie er seine medizinische Ausrüstung in einem Vaargh verstaute, den sein Kollege, Dr. Nikitin von Salimil, für ihn bereitgestellt hatte. Mit Nikitin hatte er viele Male über Funk gesprochen. Jetzt fragte er sich, wie der Mann tatsächlich aussehen mochte. Salimil, doch, das konnte angehen. Lawler wollte gern glauben, daß Rylie Delagard wußte, wovon er redete, und daß Salimil sie aufnehmen werde. Dann fiel ihm ein, daß Kendy, der andere Delagard, der auf Velmise lebte, ebenso fest überzeugt gewesen war, daß man dort den Flüchtlingen aus Sorve Asyl gewähren werde.
Sidero Volkin kam an Deck gehumpelt und wandte sich an Delagard. »Dag Tharp ist da. In deinem Büro.«
Delagard grinste. »Da haben wir unsere Antwort. Gehn wir an Land.«
Aber Tharp war bereits unterwegs zum Ufer und kam ihnen entgegen, als sie von Bord kletterten, und sobald Lawler den verdatterten Ausdruck in dem scharfen roten Gesicht des kleinen Funkers sah, wußte er, wie die Antwort aus Salimil ausgefallen war.
»Nun?« fragte Delagard trotzdem.
»Sie haben uns abgewiesen. Fünf Stimmen gegen vier. Sie haben nicht genug Wasser, sagen sie. Weil der Sommer so trocken war. Sind allerdings bereit, sechs Personen aufzunehmen.«
»Die Saukerle! Sollen sie in der Hölle braten!«
»Soll ich ihnen das sagen?« fragte Tharp.
»Du sagst denen gar nichts. Mit denen vergeuden wir nicht noch mehr Zeit. Wir schicken ihnen auch nicht die sechs Leute. Entweder alle — oder keiner, wohin wir auch gehen.« Er schaute Lawler ins Gesicht.
»Und was kommt als nächstes?« fragte Lawler. »Shaktan? Kaggeram?« Die Namen der Inseln gingen ihm leicht über die Lippen. Doch er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden oder wie es dort sein mochte.
»Die werden uns mit dem gleichen Scheiß abspeisen« sagte Delagard.
»Ich könnte es aber trotzdem mit Kaggeram versuchen«, sagte Tharp. »Ich erinnere mich, die sind dort ziemlich honnete Leute. Ich war da mal vor zehn Jahren, als…«
»Scheiß auf Kaggeram«, sagte Delagard. »Die haben dort ebenfalls so ’ne Räteregierung. Die werden eine Woche brauchen, um darüber zu debattieren, dann machen sie ’ne öffentliche Versammlung und ’ne Volksabstimmung und den ganzen Quatsch. Aber wir haben nicht mehr soviel Zeit.« Delagard schien in Gedanken zu versinken. Er wirkte weltenweit weg. Wie jemand, der unter höchster geistiger Anspannung abstruse Berechnungen anstellt. Die Augen hatte er halb geschlossen, die dichten schwarzen Brauen standen eng beisammen. Eine dicke Schale von Schweigen umgab ihn. Schließlich sprach er: »Grayvard…«
»Aber Grayvard liegt acht Wochen weit weg«, warf Lawler ein.
»Grayvard?« Tharp blickte bestürzt drein. »Du willst, daß ich Grayvard anrufe?«
»Nicht du. Ich. Ich spreche selber mit denen, direkt vom Schiff aus.« Wieder schwieg er eine Weile. Und wieder sah er aus, als sei er woanders und stelle im Geiste Berechnungen an. Dann nickte er, anscheinend befriedigt über das Ergebnis, und sagte: »Ich hab Vettern auf Grayvard. Beim Himmel, ich werd schließlich wissen, wie ich mit meinen eignen Gevattern verhandeln muß. Was ich ihnen anbieten muß. Die werden uns aufnehmen. Da könnt ihr verdammt sicher sein. Gar kein Problem! Also — Grayvard!«
Lawler blickte ihm nach, als er wieder dem Schiff zustrebte.
Grayvard? Grayvard?
Er wußte fast nichts darüber; eine Insel am äußeren Rand der Inselgruppe, in der auch Sorve trieb; eine Insel, die fast ebensoviel Zeit in dem angrenzenden Roten Meer verbrachte wie im Mare Nostrum, dem Heimat-Meer. Und es lag so weit entfernt, daß es nur gerade noch einen halbwegs realen Bezug zu Sorve hatte.
In der Schule hatte Lawler gelernt, daß es auf vierzig der Hydros- Inseln Humankolonien gebe. Vielleicht war die offizielle Zahl mittlerweile auf fünfzig oder sechzig gestiegen; er wußte es nicht. Die tatsächliche Gesamtzahl lag wahrscheinlich um etliches höher, denn alle lebten noch immer unter dem bedrückenden Schatten des Massakers auf Shalikomo, das sich zur Zeit der Dritten Generation abgespielt hatte, und wo immer die Humanpopulation auf einer Insel zu stark anwuchs, zogen zehn, zwanzig Personen fort, um sich anderwärts eine neue Existenz aufzubauen. Die Siedler auf diesen neuen Inseln verfügten nicht immer von vornherein über die Mittel, mit dem restlichen Hydros in Funkkontakt zu treten. Darum verlor man leicht den Überblick über die genauen Zahlen. Gut, schätzungsweise achtzig Inseln durfte man inzwischen annehmen, vielleicht hundert, die von Menschen bewohnt waren. Verstreut über einen ganzen Planeten, der angeblich sogar größer sein sollte, als selbst die ERDE einst gewesen war. Die Kommunikation zwischen den Inseln war lückenhaft und außerhalb der eigenen kleinen Eilandgruppe auch schwierig. Verschwommene interinsulare Bündnisse entstanden und lösten sich wieder auf, während die Inseln in ihren Strömungen wanderten.
Einst, vor langer Zeit war das, hatten einige Menschen den Versuch gemacht, sich eine eigene Insel zu erbauen, damit sie nicht beständig unter den Augen von Gillies Nachbarn leben müßten. Sie hatten sich mit der Bauweise vertraut gemacht und die Fasern zu verflechten begonnen, doch bevor sie damit sehr weit gediehen waren, wurde ihre Insel von gewaltigem Seegetier angegriffen und zerstört. Es gab Dutzende Tote. Man nahm allgemein an, die Ungeheuer seien von den Gillies geschickt worden, weil es diesen anscheinend nicht gefiel, daß die Menschen sich ihr eigenes kleines unabhängiges Reich errichten wollten. Danach hatte keiner mehr einen solchen Versuch unternommen.
Aber Grayvard, dachte Lawler. Na ja, dann also.
Eine Insel ist so gut wie die andere, beruhigte er sich.
Irgendwie würde es ihm gelingen, sich anzupassen, wo immer sie landen mochten. Aber würden sie auf Grayvard auch tatsächlich willkommen sein? Ja, würden sie es überhaupt finden können, da draußen irgendwo in der Weite zwischen dem Heimatmeer und der Roten See? Ach, zum Teufel, sollte Delagard sich damit rumschlagen. Wozu sollte er sich plagen? Er hatte darauf sowieso keinen Einfluß.
Gharkids Stimme, schwach, piepsig, heiser, drang zu Lawler, als er langsam zu seinem Vaargh zurückging.
»Doktor? Herr Doktor?«
Er war schwer beladen und taumelte unter dem Gewicht zweier riesiger tropfender Körbe mit Algen, die er an einem Schulterjoch schleppte. Lawler blieb stehen und wartete auf ihn. Gharkid kam herangewankt, dann ließ er Lawler die Körbe praktisch vor die Füße plumpsen.
Gharkid war ein kleiner drahtiger Kerl, so viel kürzer als Lawler, daß er den Kopf zurücklegen mußte, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Er lächelte mit blitzenden weißen Zähnen aus dem dunklen Gesicht. Der Mann hatte was Ernsthaftes und zugleich Gefälliges an sich. Doch die kindliche Einfalt, die fröhliche ländliche Arglosigkeit, die er zur Schau stellte, konnten gelegentlich ein wenig lästig werden.
»Was soll denn das alles?« Lawler besah sich das Pflanzengewirr, das aus den Körben quoll, grüne und rote Tangsträhnen, gelbe mit grellen Purpuradern.
»Für dich, Herr Doktor. Medizin. Wenn wir fortgehen. Zum Mitnehmen.« Gharkid grinste breit. Er schien sehr zufrieden mit sich selber zu sein.
Lawler kniete nieder und stocherte in dem matschigen Gewirr herum. Einige der Wasserpflanzen konnte er identifizieren. Die bläuliche da war schmerzlindernd; die mit den dunklen bandartigen, seitlich abführenden Blättern lieferte das brauchbarere der zwei verfügbaren Antiseptika, und diese da — ja, tatsächlich, das war Taubkraut. Ohne Zweifel, Taubkraut. Der gute alte Gharkid. Lawler blickte auf, und während sich ihre Augen begegneten, blitzte da in Gharkids dunklem Blick etwas auf, das ganz und gar nicht naiv und kindhaft war.
»Um’s mit aufs Schiff zu nehmen«, sagte er, wie wenn Lawler es vorhin nicht begriffen hätte. »Das sind die guten Pflanzen, die für die Medizin. Ich hab mir gedacht, du wirst sie brauchen, einen Extravorrat.«
»Das hast du sehr gut gemacht«, sagte Lawler. »Komm, ich helf dir das rauf zum Vaargh zu tragen.«
Es war eine reiche Ausbeute. Der Mann hatte von allem, das irgendwie medizinisch brauchbar war, etwas gesammelt. Lawler selbst hatte die Sache immer und immer wieder aufgeschoben, und schließlich war Gharkid einfach raus in die Bucht gefahren und hatte den ganzen Arzneibestand aufgestockt. Wahrhaftig, eine gute Arbeit, dachte Lawler. Ganz besonders das Taubkraut. Ihm blieb gerade noch ausreichend Zeit, das alles zu destillieren und fertigzustellen, ehe sie lossegeln mußten, die Pülverchen, Salben, Öle und Tinkturen zu bereiten. Und dann war seine Schiffsapotheke für den langen Trip nach Grayvard recht gut bestückt. Der kannte sich wirklich mit seinen Algen aus, der alte Gharkid. Und wieder einmal fragte sich Lawler, ob der Mann wirklich so einfältig war, wie es den Anschein hatte, oder ob das nur Tarnung war. Gharkid erweckte oft den Eindruck, als sei er eine leere Seele, eine tabula rasa, ein unbeschriebenes Blatt, auf das jeder kritzeln konnte, was er wollte. Doch es mußte mehr in ihm stecken, irgendwo tief drinnen. Aber was?
Die letzten Tage vor der Abreise waren schlimm. Zwar räumten alle die unabdingbare Notwendigkeit des Aufbruchs ein, aber nicht jeder hatte geglaubt, daß es wirklich soweit kommen werde, und nun brach diese Wirklichkeit mit schrecklicher Gewalt über sie herein. Lawler sah alte Frauen vor ihren Vaarghs ihre Habseligkeiten in Bündeln aufhäufen, und dann starrten sie ihren Besitz mit stumpfem Blick an, packten um, schleppten das Bündel zurück ins Haus und brachten andere Dinge heraus. Manche der Frauen und auch einige der Männer weinten unablässig, manche stumm, andere nicht so lautlos. Die ganze Nacht hindurch konnte man das hektische nervöse Schluchzen hören. In den schlimmsten Fällen verabreichte Lawler Taubkraut. »Nur ruhig, ganz ruhig«, sagte er immer wieder. »Still, still!« Thom Lyonides war drei Tage lang ohne Unterbrechung besoffen, grölte herum und fing dann mit Bamber Cadrell eine Prügelei an und erklärte, keiner werde ihn dazu bringen, die Planken von so einem Schiff zu betreten. Delagard und Gospo Struvin kamen vorbei und fragten, was, zum Teufel, der Krach solle, und Lyonides sprang Delagard an, hatte Schaum vor dem Mund und kreischte wie ein Irrer. Delagard versetzte ihm einen Hieb ins Gesicht, und Struvin packte ihn am Hals und würgte ihn, bis er sich wieder beruhigte. »Bringt ihn auf sein Schiff«, befahl Delagard Cadrell. »Und sorgt dafür, daß er dort bleibt, bis wir ablegen.«
Am vorletzten und auch am letzten Tag fanden sich Gruppen von Gillies direkt an der Grenzlinie zwischen ihrem Gebiet und der Menschensiedlung ein, standen nur da und beobachteten auf ihre unergründliche Weise, als wollten sie sich vergewissern, ob die Menschen sich auch tatsächlich zum Auszug anschickten. Inzwischen hatten alle Sorvesen eingesehen, daß es keine Rettung gab, daß die Ausweisung nicht zurückgenommen werden würde. Auch die letzten Zweifler, die bisher die Augen verschlossen hatten, mußten nun unter dem Druck dieser starren, unerbittlichen, fischigen Blicke sich der Wahrheit stellen: Sorve war für sie auf alle Zeit verloren. Grayvard sollte ihr neues Zuhause werden. Soviel stand fest.
Kurz vor dem Ende, wenige Stunden vor dem Aufbruch, stieg Lawler zum entferntesten Punkt der Insel, auf der anderen, der Bucht gegenüberliegenden Seite, wo das hohe Bollwerk direkt an den Ozean grenzte. Es war Mittag, und das Wasser war voller glastender Lichtreflexe.
Von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus schaute Lawler übers weite offene Meer und stellte sich vor, daß er nun darüber hinfahren mußte, weitab von jedem Ufer. Er wollte sich prüfen, herausfinden, ob er sich noch immer fürchtete vor dieser endlosen Wasserwelt, in die er nun sehr, sehr bald hinausziehen würde.
Nein. Nein, da war nichts mehr. Seine ganze Furcht schien damals, in dieser Nacht der Besäufnis in Delagards Höhle, von ihm gewichen zu sein. Und war nicht zurückgekehrt. Er spähte in die Ferne, und er sah nichts als Meer, und auch das war gut so. Dort war nichts, wovor man sich hätte fürchten müssen. Er würde seine Insel eben mit den Planken eines Schiffs vertauschen, und das war ja im Grunde auch wirklich nichts weiter als eine Miniaturinsel. Also, welches war die schlimmste vorstellbare Möglichkeit? Daß sein Schiff in einem Sturm auf den Grund fahren könnte, wahrscheinlich, oder von der Tidenflutwelle zerschmettert würde und er sterben mußte. Na und? Früher oder später würde er sowieso sterben müssen. Das war nichts Neues. Aber schließlich passierten Schiffsuntergänge ja auch nicht dermaßen häufig. Die Chancen standen nicht schlecht, daß sie sicher nach Grayvard gelangten. Und dort würde er wieder an Land gehen und sein neues Leben beginnen.
Was er aber weit stärker noch immer fühlte, war nicht Bangnis vor der bevorstehenden Reise, sondern immer wieder eine scharfe, stechende Kümmernis, ein grämlich schmerzliches Verlustgefühl angesichts all dessen, was er hier zurücklassen mußte. Das schmerzliche Gefühl quoll rasch in ihm empor und verschwand ebenso rasch wieder, aber ungestillt.
Nun aber begannen sich seltsamerweise die Dinge, die er zurücklassen mußte, von ihm zu lösen. Er stand mit dem Rücken zur Siedlung und starrte auf die gewaltige dunkle Weite des Wassers hinaus, und alles schien in dem leichten Wind, der an ihm vorbei aufs Meer hinausstrich, davonzuwehen: Sein furchtbar ehrfurchtgebietender Vater, seine sanfte, unerreichbare Mutter, die fast vergessenen Brüder. Seine ganze Kindheit, die Jugend, das Erwachsensein, die Episode seiner kurzen Ehe, die Jahre als Inselarzt, als der Dr. Lawler seiner Generation… Alles schwand plötzlich dahin. Alles fiel von ihm ab. Er fühlte sich merkwürdig leicht, so als könnte er sich einfach in diesen leichten Wind hinaufschwingen und durch die Luft bis nach Grayvard schweben. Alle Fesseln waren gelöst. In einem Nu, einem kurzen Augenblick, war alles, das ihn hier band, von ihm abgefallen. Alles.