Auch wenn es gefährlich war, dies zuzugeben, so hasste Talquist doch die Seher.
Während er auf dem schweren Teppich hin und her lief, der auf dem Marmorboden des Herrscherpalasts lag, murmelte er leise, zügellose Flüche und böse, aber belustigende Obszönitäten, die er während seiner Zeit in der Handelsflotte von den Seeleuten gelernt hatte, als er sein erstes Vermögen erworben hatte. Auch wenn die Macht der Krone berauschend war, vermisste Talquist insgeheim diese Tage, in denen er die weite Welt mit kaum mehr als Sand in den Taschen und einem Plan in seinem Kopf durchwandert hatte. Er vermisste den Anblick der Schiffe, die mit flatternden Fahnen aus aller Welt in den Hafen einliefen; er vermisste den Geruch der Leinwandsäcke, die prallvoll mit Gewürzen und Saatgut waren; er vermisste das Lachen in den dunklen Tavernen und das Ächzen der Hafenarbeiter, die bei Nacht und in nebligem Regen die Güter ausluden. Und ganz besonders vermisste er das Meer, denn das Meer war immer gut zu ihm gewesen und hatte ihm alles Wertvolle gegeben, das er besaß.
Vor allem hatte es ihm die Macht gegeben, die er nun über den Rand des Wassers bis zur anderen Seite der Bekannten Welt ausdehnen wollte.
Der Regent hielt inne, als er an einem gewaltigen Spiegel in seinem Schlafgemach vorbeikam. Ein gewöhnlicher Mann, schwer und muskulös, schaute ihn daraus an, mit dunkler Haut, dunklem Haar und dunklen Augen. Ein Mann, der sich in nichts von anderen Männern in diesem Reich der endlosen Sonne, des Sandes und der Berge unterschied mit Ausnahme der Tatsache, dass er mit Gold geschmückt und in Gewänder aus feinstem Leinen gekleidet war, für das Sorbold in der Kaufmannswelt hochberühmt war. Ein gewöhnlicher Mann – von außen vielleicht.
Doch in diesem gewöhnlichen Mann, dachte Talquist, steckt eine Vision, die alles andere als gewöhnlich ist.
Talquist war zwar ein Visionär, aber er war kein Seher. Der Regent ging weiter; sein Atem kam stoßweise und passend zu seiner steigenden Enttäuschung. Er hatte lange geplant, abzuwarten, seinen Teil beizutragen und alle Teile so genau zusammenzufügen wie die Kunsthandwerker von Keltar, die verzwickte Abbildungen der Welt in Gemmen einschnitten, die kleiner als ein Fingernagel waren. Er hatte zwar seine Visionen und Träume und wusste, wie er seine Mittel einsetzen musste, um sie Wirklichkeit werden zu lassen, aber genau an diesem Punkt verließen ihn seine Fähigkeiten. Er konnte nicht vorhersehen, ob seine Maßnahmen die gewünschten Wirkungen hervorbrachten.
Zumindest noch nicht.
All das wird sich ändern, rief er sich in Erinnerung.
Seine Ruhe kehrte schrittweise zurück. Talquist drehte sich um und ging die Wendeltreppe in der südwestlichen Ecke seines Schlafgemachs hinauf zur Turmstube.
Jede Ecke seines Schlafzimmers hatte einen solchen Turm. Die drei übrigen beherbergten Armbrustschützen von überragenden Fähigkeiten, genau wie der große mittlere Balkon im Hauptgeschoss. Der Balkon und zwei der Türme gingen nach Westen in den roten Sonnenuntergang hinaus und überblickten die Berge, welche die Hauptstadt Jierna’sid umgaben, sowie die Grassteppe und die weiten Krevensfelder dahinter bis zum tausend Meilen entfernten Meer. Die anderen beiden Türme blickten nach Südost und Nordost, und auf ihnen beobachteten die Späher die Berge im Gleißen der aufgehenden Sonne.
Doch nur dieser besondere Turm trug Spuren frischen Mörtels und erneuerter Ziegel; sie bedeckten das, was vor nicht langer Zeit noch ein gewaltiges Loch gewesen war.
Als Talquist die oberste Stufe erreicht hatte, fragte er sich, ob er den Platz in diesem Turm nicht verschwendete und sich gleichzeitig verwundbar machte, weil er hier keine Armbrustschützen positioniert hatte, doch einen Augenblick später verwarf er diesen Gedanken wieder, als er sich an die vierzigtausend Soldaten erinnerte, die allein in dieser Stadt lagerten und nichts anderes im Sinn hatten als seine eigene Sicherheit.
Der Raum am oberen Ende der Treppe war klein und kärglich und besaß keinerlei Dekoration außer einer Karte des Kontinents an der Wand. Die südlichen und westlichen Wände waren dem Wind preisgegeben, damit man leichter Pfeile und andere Verteidigungsgeschosse abfeuern konnte. Die Ecken der Karte flatterten in der steifen Brise. Die Öffnung blickte auf den Hof an der westlichen Seite und auf einen Abgrund an der südlichen.
In einem kleinen Schaukelstuhl aus Rohr mit Blick auf das westliche Turmfester saß eine Frau mit dem Rücken zu Talquist. Sie hatte den Kopf der Sonne entgegengedreht und die Augen in deren Glanz geschlossen.
Talquist versuchte sich zu beruhigen, indem er leise und regelmäßig atmete. Er trat auf den Steinboden und schritt langsam von hinten auf die Frau zu.
Sie bewegte sich nicht; sie schien ihn nicht zu bemerken.
»Guten Tag, Rhonwyn«, sagte er so freundlich wie möglich.
Die Frau öffnete die Augen nicht, sondern runzelte nur ihre glatte Stirn beim Klang seiner Stimme.
Diesmal atmete Talquist lauter. Es war heute schon sein vierter Versuch, mit der Seherin der Gegenwart in Kontakt zu treten, und jedes Mal war er wütender geworden. Ihre mystische Stellung als eine der drei Seherinnen der Zeit und, wichtiger noch, sein dringendes Bedürfnis nach ihren einzigartigen Fähigkeiten erforderte von ihm eine Geduld, die er normalerweise nicht besaß.
»Guten Tag, Rhonwyn«, wiederholte er.
Diesmal öffnete die Frau die Augen, drehte sich langsam in ihrem Stuhl und sah ihn an. Trotz ihres hohen Alters war ihr Gesicht so glatt, als befände sie sich in der Blüte ihrer Jahre. Ihr Haar war im Scheitel rot-golden, wurde in dem langen, von Lederbändern gehaltenen Zopf immer dunkler, dann grau und lief schließlich in einer schneeweißen Spitze aus.
Ihre Augen hatten keine Iris; die Pupillen waren leer und spiegelten ein verzerrtes Abbild seiner selbst wider.
»Nein«, sagte Rhonwyn. »Ich glaube nicht.«
Galle füllte Talquists Kehle. Obwohl der Tonfall der Frau zart und traumartig war, bildeten ihre Worte doch eine harte Beleidigung. Er schluckte seine bittere Wut herunter, trat neben sie und schaute aus dem Fenster auf den tief unter ihm liegenden Hof.
Jierna Tal war eines der modernen architektonischen Weltwunder, ein glatter Steinpalast auf einem zerklüfteten Felsvorsprung über einem beinahe bodenlosen Abgrund, der in klaren Winkeln zu ungeahnten Höhen aufstieg. Über den Ecken erhoben sich spiralförmige Minarette und Glockentürme, die gelegentlich von niedrig hängenden Wolken eingehüllt wurden. Die gewaltige Entfernung von den Pflastersteinen der Straße bis zu den Spitzen der Türme war für Talquist regelmäßig eine Metapher, die ihn daran erinnerte, wie weit er aus der Gosse bis zu seiner hohen Position aufgestiegen war. Unmittelbar hinter dem Innenhof stürzte der Fels weitere tausend Fuß tief in einen Abgrund, der zu den Verteidigungsanlagen des Palasts gehörte, und unterstrich damit noch die erhöhte Lage des Gebäudes.
Ein langer Schatten lag über dem Innenhof; er zuckte gelegentlich und glitzerte im bernsteinfarbenen Licht der Sonne. Talquist schaute hinüber zu dem Marktplatz der Stadt auf einem Hügel jenseits des Palasts.
Dort erhob sich im Dunst des Nachmittags ein weiteres Relikt über Jierna Tal, das ihn daran erinnerte, wie weit er es gebracht und welchen Umständen er seine Regentschaft zu verdanken hatte: die große Waage. Sie war ein gewaltiges und uraltes Artefakt, das die cymrischen Flüchtlinge aus der alten Welt mitgebracht hatten, deren Abkömmlinge nun über den Mittleren Kontinent herrschten. Riesige Arme tarierten zwei Schüsseln aus poliertem Gold aus, die so groß waren, dass darin ein Ochsenkarren Platz hatte. Talquist lächelte. Er selbst hatte auf einer der Waagschalen gestanden und war zum Erstaunen der Menge in die Luft gehoben worden. Danach hatte man ihn zum Herrscher ausgerufen.
Bescheiden hatte er darauf beharrt, dass nach dem unzeitigen Tod der vorherigen Monarchin und ihres Erben eine Wartezeit von einem Jahr vergehen sollte, bevor er sich krönen ließ. In der Zwischenzeit herrschte er als Regent von Sorbold und verwaltete die Macht, die im kommenden Frühling offiziell zu seiner eigenen werden würde.
Inoffiziell hingegen hatte er seine Macht schon oft eingesetzt.
Nun waren die Straßen von Jierna’sid, die früher kaum mehr gewesen waren als ein kläglicher Markt mit Bettlern und Verkaufszelten, Viehverkehr und rußigen Grubenfeuern, über denen Ziegenfleisch gebraten worden war, in einen sauberen Ort verwandelt worden, wo Soldaten patrouillierten und Marschlieder sangen und sich ausgedehnte Leinenwebereien und andere Handwerksbetriebe befanden, deren einzige Kunden das Heer und die Krone waren. Jierna Tal, das in seiner schäbigen Umgebung schon seit langem fehl am Platze gewirkt hatte, war genauso verwandelt worden wie er selbst: in den königlichen Mittelpunkt einer in der Wüstenhitze wachsenden und gedeihenden Stadt, die unter den Strahlen der endlos scheinenden Sonne, für die Sorbold bekannt war, immer mehr erstarkte.
Das war nur der Anfang.
Talquist schaute wieder die alte Seherin an. Rhonwyns dünne Hände hielten einen zerbeulten Metallkompass, der angeblich schon von ihrem serenischen Vater vor vierzehn Jahrhunderten dazu benutzt worden war, den Weg von der untergehenden Insel Serendair zum Wyrmland zu finden. Ihre Fähigkeit, die gegenwärtige Wahrheit zu erkennen, war ein Geburtsrecht, das sie durch die elementare Macht des Erforschers Merithyn und ihrer Drachenmutter Elynsynos erhalten hatte. Das beeindruckte Talquist nicht besonders. Er war ein Abkömmling der eingeborenen Menschen, die seit unvordenklicher Zeit am Rande des Wyrmlandes gelebt hatten, bevor die Cymrer mit ihren seltsamen Kräften und ihrer lächerlichen Langlebigkeit gekommen waren.
Doch auch wenn ihn die Macht der Cymrer nicht beeindruckte, war ihre Langlebigkeit – diese scheinbare Widerstandskraft gegen die Verheerungen der Zeit – etwas, wonach es ihn besonders gelüstete.
In Anbetracht der umfangreichen Liste seiner Wünsche war das durchaus beeindruckend.
Vor langer Zeit hatte er einmal zufällig gehört, dass der Funke, der das Feuer des Großen Krieges entfacht und die Illuminaria – Gwylliams Epoche der Reichsgründung und Aufklärung – beendet hatte, nichts als ein Familienstreit über die Erbfolge gewesen war. Es war allgemeine Überlieferung, dass Edwyn Griffyth, Gwylliams ältester Sohn, sein Erbrecht verschmäht hatte und nach Gaematria, dem legendären Rech der Meeres-Magier, gegangen war, um dort den Rest seines Lebens zu verbringen. Daher vermutete Talquist, dass Gwylliam der männliche Erbe verwehrt gewesen war, den er auf seinem Thron hatte sehen wollen. So gab es keine Dynastie, die nach ihm weiterleben würde, auch wenn er als unsterblich angesehen wurde.
Talquist wollte keine Dynastie begründen. Er brauchte keine Erben.
Er würde auf ewig leben.
Er ging hinüber zu der zarten Frau und hockte sich neben sie.
»Bitte, Großmutter«, sagte er; seine Kaufmannsstimme war so weich wie canderianische Seide, »schaue hinter den Nebel und die Traumfetzen, die deine Augen umwölken, und sage mir: Ist der Stoßtrupp erfolgreich gewesen?«
Die Spiegel in den Augen der Seherin zeigten nichts anderes als sein Gesicht; ihr eigenes Antlitz war leer.
Talquist fluchte stumm. Er hatte noch immer nicht gelernt, auf die richtige Weise mit ihr zu reden, sodass sie seine Fragen verstehen konnte. Rhonwyn vermochte nur die Gegenwart zu sehen, und was er sie gefragt hatte, erforderte von ihr ein Wissen um die Vergangenheit. Er schluckte und versuchte es noch einmal.
»Der Stoßtrupp der Zweiten Bergwacht von Sorbold … ist das Kind der Zeit in ihrem Gewahrsam?«
Die alte Frau schüttelte den Kopf.
Talquist seufzte. »Wo ist der Stoßtrupp jetzt?«
Die Seherin hatte den flüchtigen Blick auf den Moment zuvor bereits verloren. »Welch ein Stoßtrupp?«
Er bemühte sich, die kochende Wut aus seiner Stimme fernzuhalten. »Der Stoßtrupp der Zweiten Bergwacht von Sorbold … wo befindet er sich in diesem Augenblick?«
Rhonwyn zitterte vor Altersschwäche und fuhr mit den Fingern über das nautische Instrument in ihren Händen.
»Sechsundvierzig, achtundvierzig Nord, zwei, zwanzig Ost«, verkündete sie.
Talquist schaute auf der Karte an der Wand nach. Diesen Koordinaten zufolge befanden sich seine Geheimsoldaten, die in den Uniformen der gewöhnlichen Kavallerie von Roland steckten, in dem nur dünn besiedelten Waldland östlich von Navarne, weniger als eine Tagesreise von ihrem ursprünglichen Ziel entfernt – einer kleinen Festung im Herzogtum Navarne.
Haguefort.
»Und das Kind der Zeit?«, drängte Talquist. »Ist es wohlauf?«
Die Seherin blinzelte, schloss wieder die Augen und badete im Licht des Himmels.
Der Regent ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass seine säuberlich geschnittenen Fingernägel die Haut seiner Handflächen zu durchstechen drohten. Nur so konnte er sich davon abhalten, den Kompass zu ergreifen und eine seiner scharfen Nadeln der alten Seherin ins Herz zu treiben. Er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben, so wie er es immer während dieser Befragungen tun musste.
»Befindet sich das Kind der Zeit wohlbehalten in Haguefort? Antworte mir.«
Rhonwyn schlug die Augen auf und sah ihn an, während ihre Hände an dem zerbeulten Instrument herumtasteten.
»Ich sehe kein Kind der Zeit in Haguefort.«
»Wovon redest du? Als ich dich vor vierzehn Tagen gefragt habe: ›Wo ist das Kind der Zeit?‹, da hast du geantwortet: ›Im Gwynwald.‹ Seitdem gibst du mir jeden Tag Koordinaten, die eindeutig immer weiter zurück nach Haguefort führen. Gestern lautete deine Antwort auf meine Frage ›Haguefort‹. Wenn es nicht da ist, wo dann?«
Der Mund der Frau zitterte, aber sie sagte nichts.
Schwarze Wut explodierte hinter Talquists Augen. Ungehindert von jedem rationalen Gedanken schoss seine Hand hervor und packte die alte Seherin bei der Kehle.
Rein verstandesmäßig wusste er, welches Sakrileg er damit beging, doch sein Verstand war von seiner Enttäuschung vollkommen ausgeschaltet worden.
Die brüchigen Knochen in ihrem alten Hals knirschten unter seinem eisernen Druck. Die Seherin keuchte; ihre Lippen bebten vor Entsetzen. Der Regent lockerte seinen Griff und trat schwer atmend von der zarten Frau zurück.
»Noch einmal, Rhonwyn«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, »wo ist das Kind der Zeit? Wo ist es?«
Purpurfarbene Quetschungen erschienen auf den Hautfalten unter Rhonwyns Kinn und verschwanden rasch wieder. Nachlässig fuhr sie sich mit der Hand über den Hals. Ihr Gesicht war jedoch vor Schreck verzerrt, der einen Moment später zur Vergangenheit verblasste und abermals durch Gelassenheit ersetzt wurde.
»Ich sehe kein Kind der Zeit auf dem Antlitz der Erde«, sagte sie fröhlich. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und schaukelte langsam vor und zurück. Ihre Augen hatte sie wieder vor der wärmenden Sonne geschlossen.
Talquist schluckte und versuchte es noch einmal.
»Seit seiner Geburt habe ich dich nach seinem Aufenthaltsort gefragt, und jedes Mal hast du gesagt, das Kind ist bei dem Herrn und der Herrin der Cymrer«, sagte er sanft. »Ist es noch immer bei ihnen?«
»Ist was noch immer bei wem?« Das Gesicht der Seherin war ausdruckslos; keinerlei Verstehen lag in ihrer Stimme.
Ein bitterer Geschmack erfüllte Talquists Mund. Nach einigen Herzschlägen begriff er, dass dieser Geschmack von seinen zusammengebissenen Zähnen herrührte. Und er war eine faulige Erinnerung an die Nacht, in der er vor Rhonwyns Schwester Manwyn, der Seherin der Zukunft, gestanden und einen ähnlich ärgerlichen Tanz aufgeführt hatte, während er vor stiller Verzweiflung geschäumt hatte, als die Wahnsinnige sich kichernd auf ihrer Plattform über der dunklen Grube in ihrem verfallenden Tempel zu Yarim hin und her geworfen und kranke Vorhersagen in die vom Weihrauch schwere Luft geworfen hatte. Schließlich hatte er die Geduld verloren, seine Armbrust gehoben und auf ihr Herz gezielt.
Sag es mir, alte Hexe, oder ich werde deinem verrückten Gerede ein Ende setzen. Beantworte meine Frage. Was muss ich tun, um Unsterblichkeit zu erlangen? Wer besitzt das Wissen um das ewige Leben?
Die Frau hatte innegehalten, als wäre sie plötzlich erstarrt. Sie hatte ihre Spiegelaugen auf ihn gerichtet, und ihre dünnen Lippen hatten sich zu einem schiefen Lächeln verzerrt. Sie hatte durch den zerbeulten Sextanten geschaut, den ihr Vater ihr hinterlassen hatte, auf die Sterne, die in der dunklen Kuppel ihres Tempels geglommen hatten. Dann hatte sie ihre blinden Augen wieder auf Talquist gerichtet.
Du wirst mich nicht töten, Regent, hatte sie gesagt. Die Zukunft zeigt mir kein Bild mit meinem Blut an deinen Händen, auch wenn sie vom Blut zahlloser anderer getränkt sein werden. Dann hatte sich Manwyn auf den Bauch gelegt und war ihm auf ihrer schwebenden Plattform entgegengekrochen. Wenn das, was du suchst, die Unsterblichkeit ist, dann musst du das Kind der Zeit finden. Sie hatte wie zu sich selbst gekichert. Noch schläft es im Bauch seiner Mutter, doch bald wird es ans Licht und an die Luft der Welt kommen. Und die Zeit wird keine Herrschaft über es haben.
Talquist schluckte den bitteren Geschmack herunter und erinnerte sich daran, wie ihm der Atem ausgegangen war, als er den Bogen gesenkt hatte.
Wie werde ich die Unsterblichkeit von diesem Kind der Zeit erlangen können?, hatte er mit schwankender Stimme gefragt.
Die Seherin hatte sich plötzlich aufrecht hingesetzt, als hätte jemand sie geschlagen. Mit zitternden Händen hatte sie sich an den Mund gegriffen. Dann hatte sie eine bebende Hand ausgestreckt und anklagend auf ihn gezeigt.
Mörder, hatte sie geflüstert. Die goldene Haut ihres Gesichts war im schwachen Licht der Kerzen sichtbar blasser geworden. Mörder, Mörder!
Da hatte er ihren verfallenden Tempel verlassen, während ihm das Geheul der Wahnsinnigen noch in den Ohren geklungen hatte. Seine Spione hatten ihm berichtet, dass die Wächter des Tempels die großen Zederntüren zu Manwyns Gemächern kurz darauf für alle Pilger, die um Prophezeiungen bitten wollten, geschlossen hatten. Es lief das Gerücht um, dass Manwyn von diesem Tag an unablässig das Wort Mörder geschrien hatte.
Talquist atmete tief durch und neigte sich dann wieder zu Rhonwyn.
»Ein letztes Mal für heute«, sagte er sanft und mit tödlich ruhiger Stimme, obwohl es in seinem Magen brodelte. »Sage mir, wo sich das Kind der Zeit jetzt befindet.«
Die Seherin drehte sich ihm zu und schlug langsam die Augen auf. Talquist wich vor Entsetzen zurück. Beide Spiegelaugen enthielten nun zum ersten Mal eine klare blaue Iris, und die dunklen Pupillen zogen sich im Licht der untergehenden Abendsonne zusammen.
Die Seherin schaute ihn nachdenklich an.
»Genau vor dir, vermute ich«, sagte sie mit fester Stimme. »Meine Schwestern und ich sind oft so genannt worden: die Kinder der Zeit.« Sie wandte den Blick von ihm ab und schaute aus dem Fenster auf die dahinter liegenden Berge. »Ich erinnere mich, Anwyn«, sagte sie leise.
Wut durchraste Talquist so plötzlich, dass er zunächst gar nicht die Vergangenheitsform bemerkte, in der sie gesprochen hatte. Er packte die Lehne ihres Stuhls, um sich daran festzuhalten, und beugte sich dann so weit zu ihr vor, dass seine Lippen ihr kastanienbraunes Haar dort berührten, wo es allmählich grau wurde.
»Ich weiß nicht, ob du in deinem Zustand geistiger Verwirrtheit begreifen kannst, welche Risiken ich wegen deiner angeblich unfehlbaren Worte eingegangen bin und welche Opfer ich gebracht habe«, sagte er mit beißender Stimme. »Ich habe Soldaten nach Roland geschickt, bevor ich bereit war, den Angriff zu führen. Ich habe mich sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Sicherlich weiß der Patriarch inzwischen von deinem Verschwinden, und vielleicht weiß es auch schon dein Großneffe, der cymrische Herrscher. Der Pfeil ist bereits abgeschossen, und das ist deine Tat, Rhonwyn – als ob du selbst den Befehl gegeben hättest.«
»Manwyn, die Gegenwart wird verhüllt sein«, flüsterte die Seherin und starrte in die Sonne. »Du wirst mich nicht mehr sehen, wenn du den Himmel nach der Zukunft absuchst. Lebe wohl, Schwester.«
Etwas Schwarzes brach in dem Regenten auf. Er packte die zerbrechliche Frau an Hals und Arm, und ohne nachzudenken warf er die alte Seherin aus dem Fenster über den Hof hinaus in den Abgrund.
Ihr Schrei folgte ihr den Bruchteil einer Sekunde später hinunter und verängstigte die Schwalben, die in den Mauerhöhlungen saßen. Sie flatterten in einem großen grauen und weißen Aufruhr himmelwärts.
Talquist richtete sich zitternd auf. Nun kehrte seine Selbstbeherrschung zurück. Er schaute aus dem Fenster in die beinahe bodenlose Tiefe und suchte nach einem Anzeichen für die mythische Frau. Angestrengt lauschte er nach irgendeinem Geräusch, welches das Überleben der Tochter des Schicksals ankündigte, doch er hörte nichts außer dem Heulen des Windes, der durch die Schlucht fegte und Staub in großen Wirbeln über die Steine des Innenhofes trieb. Er dachte über den Verlust an Wissen nach, von dem er die Welt soeben befreit hatte.
»Ich habe schon oft gehört, dass die Zeit dahinfliegt«, sagte er. »Allerdings.«
Stiefeltritte donnerten die Stufen hoch. Talquist drehte sich gemächlich um und sah, wie seine Turmwächter auf der Treppe erschienen, gefolgt von seinem keuchenden Kammerherrn.
»Ist … ist alles in Ordnung mit Euch, Herr?«, fragte der Kammerherr in seinen Atempausen.
»Es war nie besser«, sagte Talquist. Er schaute noch einmal aus dem Fenster und in die Tiefen des Schlundes.
»Der Kommandant des Heeres wartet im Vorzimmer auf die Freude Eurer Gegenwart, Herr. Er sagt, Ihr hättet ihn gerufen, aber ich wollte Euch nicht stören, falls Ihr noch nicht bereit seid, ihn zu empfangen.«
»Schick ihn herauf.«
Der Kammerherr zögerte. »Seid Ihr sicher, Herr? Er wartet gern, falls seine Gegenwart im Augenblick eine Zumutung für Euch ist. Kommandant Fhremus will Euch keineswegs bei Eurer Arbeit stören.«
Talquist lächelte. »Er stört überhaupt nicht«, sagte er, während er sich der Treppe zuwandte. »Er unterbricht mich bei gar nichts. Ich habe nur die Zeit totgeschlagen.«
Weit entfernt, auf der anderen Seite der Krevensfelder, hörte die Seherin der Zukunft tief in ihrem verfallenden Tempel voller plätschernder Springbrunnen und verrottender Wandteppiche auf zu weinen.
Mehr als fünf Monate hatte sie ohne Unterbrechung gejammert und ihren Wahnsinn herausgeheult. Die Pilger, die anfangs noch gelegentlich ihren Rat gesucht hatten, kamen schon lange nicht mehr zu ihrer großen geschnitzten Tür, und keine Goldmünzen lagen mehr im Spendenkästchen. Sogar die Wachen waren gegangen, denn sie hatten die albtraumhaften Laute nicht länger ertragen.
Nun, da der Mord geschehen war, den sie vorhergesehen hatte, und die Existenz ihrer Schwester vergessen war, zerstreuten sich die Wolken in ihrem Verstand. Langsam erhob sich Manwyn auf der schaukelnden Plattform über der tiefen Quelle in ihrem Tempel: Ihr Blick kehrte zum Himmel zurück, der auf die Kuppel über ihr gemalt war.
Und leise sang sie sich wieder ein Lied des Wahnsinns vor.
Der Kommandant des Stoßtrupps der Zweiten Bergwacht brachte sein Pferd behutsam zum Stehen und bedeutete den anderen Soldaten, sich hinter ihn zu scharen. Der Rest der Kohorte suchte Unterschlupf an der anderen Seite der großen Mauer, die Haguefort umgab. Das einzige Geräusch war das gelegentliche Schnauben der Tiere in der kalten Luft. Mit einem Kopfnicken befahl der Kommandant dem Soldaten Mardel, einem seiner lebhafteren Leutnants, abzusitzen und für weitere Instruktionen zu ihm zu kommen.
Der junge Soldat gehorchte, warf die Zügel einem Gefährten zu und trat vor.
Der Kommandant beugte sich zu ihm herunter und sagte leise: »Klettere über die Mauer und öffne uns das Tor. Wir werden an der Mauer entlangreiten bis zu der Stelle, die unbewacht ist, und uns dann zum gegenüberliegenden Eingang begeben. Lass dir Zeit. Den Rest kennst du.«
Mardel nickte, salutierte und lief leise zu der Mauer. Während er sich ihr näherte, erkannte er, dass der Kommandant eine sehr geeignete Stelle ausgesucht hatte. Obwohl sich alle zwanzig Fuß Wachttürme über die Mauer erhoben, war diese Seite anscheinend kaum bewacht.
Er wartete dennoch in den Schatten, bis er sich vergewissert hatte, dass niemand auf der Mauer ihn sehen konnte. Als kurz darauf noch immer keinerlei Anzeichen von Bewachung zu sehen waren, lief er rasch zu der Mauer und kletterte von einem Halt zum nächsten.
Auf der Mauer befanden sich Metallstachel, doch Mardel war für solche Aufgaben ausgebildet worden. Er betrachtete die Mauer kurz und glitt zwischen zwei Stacheln hindurch, ging in die Hocke und ließ sich auf der anderen Seite in die Tiefe fallen. Am Boden rollte er sich ab, um die Wucht des Aufpralls aus zwölf Fuß Höhe zu mildern, und sprang schließlich auf die Beine.
Er schaute sich um und sah nichts als dichte Schatten in dem ummauerten Gelände. Rasch drückte er sich gegen die Wand und duckte sich für den Fall, dass sich jemand auf dem Balkon der fernen Festung befand, doch die Lichter in der kleinen Burg brannten nur gedämpft; vermutlich hatte sich das ganze Haus für die Nacht zurückgezogen.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er den größten Teil des inneren Bereichs durchquert hatte. Von draußen hörte er leise Geräusche, die kaum zu bemerken gewesen wären, wenn er nicht gewusst hätte, dass sich der Rest der Kohorte mit ungefähr der gleichen Geschwindigkeit wie er außerhalb der Bollwerke bewegte. Sein Herz schlug vor Erregung, als er an dem niedrigen, zweigeschossigen Gebäude vorbeikam, welches der Aufklärungstrupp als das cymrische Museum beschrieben hatte, das der frühere Eigentümer der Festung, ein berühmter Historiker, angelegt und geführt hatte.
Das Tor befand sich schon fast in Reichweite. Mardel schaute ein letztes Mal zu den Balkonen und Fenstern in der Ferne hoch, und da er dort niemanden bemerkte, lief er auf das Tor zu.
Ein schallendes Geräusch zerriss die Luft, gefolgt von einem Summen, und den Bruchteil einer Sekunde später drangen pulsierende Wellen aus blauem Licht in die Nacht hinaus.
Mardel drehte sich langsam um.
Eine Armeslänge hinter ihm hob sich der dunkle Umriss eines Mannes vor dem gleißenden Licht ab, das von dem Schwert in seiner Hand ausging. Dieses Schwert hatte eine Klinge, über die blaue Kräuselungen vom Griff bis zur Spitze liefen; es sah aus, als ströme Wasser den Schaft hinunter und versickere im Nichts.
Der Umriss war mit glänzendem, metallisch wirkendem rot-goldenem Haar bekrönt, das wie poliertes Kupfer schien. Dies und die blau leuchtenden Augen im Gesicht waren das Einzige, was von dem Mann nicht in Finsternis gehüllt war.
»Oh, lass mich raten … Man hat dich hergeschickt, damit du das Tor öffnest. Habe ich recht?«
Die Stimme, die aus den Schatten drang, klang beinahe gelangweilt – als ob es ein zu großer Aufwand wäre, wenn die Gestalt sich ärgere.
Mardel stand stocksteif da.
Gebannt beobachtete er, wie die wässerig blaue Schwertspitze an seinen Hals gehalten wurde.
»Noch einmal: Hat man dich geschickt, um das Tor zu öffnen? Antworte, oder ich schneide dir die Kehle durch.«
»Ja«, flüsterte Mardel.
Die dunkle Gestalt senkte die Waffe.
»Es gibt eines viel näher am Haupteingang. Das hätte dir eine Menge Lauferei erspart.«
Mardel schluckte, sagte aber nichts. Von der ganzen Kohorte der Zweiten Bergwacht war er der am wenigsten Erfahrene, auch wenn er schon fast die Hälfte seines kurzen Lebens im Militärdienst der Krone zugebracht hatte. Zwar hatte er schon an blutigen Überfällen teilgenommen und war mehrfach in äußerst unangenehme Situationen geraten, doch er war noch nie bei einem Überfall erwischt worden, vor allem nicht von jemandem, der so vollkommen mit der Finsternis verschmelzen konnte.
»Wie viele?« Der Mann steckte sein Schwert zurück in die Scheide. Das Licht wurde gelöscht, und im Innenhof wurde es wieder dunkel.
»Fünfzig Männer«, log Mardel.
Der verborgene Mann schnaubte. »Nur fünfzig?« Er rollte mit den blau glänzenden Augen und deutete verächtlich auf die Mauer »Öffne das Tor.«
Ein metallisches Gerassel ertönte in geringer Entfernung.
»Hilfe gefällig?«, rief eine barsche Stimme.
Der Mann schüttelte den Kopf; das Licht aus der Festung fing sich in seinem rot-goldenen Haar.
»Nur wenn du Langeweile hast, Onkel. Dieser Knabe hier sagt, er will das Tor für fünfzig Mann öffnen, aber in Wirklichkeit sind es siebenundzwanzig.«
Ein noch gröberes Schnauben ertönte aus geringer Entfernung.
»Nur fünfzig? Öffne das Tor und lass sie herein. Ich sollte bald fertig damit sein, meine Eingeweide zu bewegen.«
Die blauen Augen richteten sich wieder auf Mardel.
»Du trägst die Farben meines Regiments«, sagte der schattenhafte Mann langsam mit eher gelangweiltem als drohendem Tonfall. »Ihr Dumpfbacken seid in meine Ländereien eingedrungen, die unter der Friedensflagge stehen, habt euch in meine Uniformen gekleidet und seid mitten in der Nacht zu meinem Haus gekommen, um meine Familie zu bedrohen, und da behauptest du, du hättest nur fünfzig Männer bei dir. Das sehe ich als Beleidigung an.«
Mardel spürte, wie sinnlos es war, etwas dagegen einzuwenden oder abzuwarten, also zog er sein Schwert.
Bevor er es in die Waagerechte bringen konnte, war die glühende blaue Klinge schon aus ihrer Scheide gesprungen und ihm mit einem sauberen Schnitt über die Kehle gefahren. Mardel fiel zu Boden und blutete sein Leben auf dem verschneiten Rasen aus.
Ashe steckte das Schwert wieder in die Scheide und schlenderte zum Tor. Er packte die Seile des Fallgitters und zog es langsam in der Dunkelheit hoch.
»Kommt«, flüsterte er auf Sorboldisch. »Im Haus schlafen alle.«
Der Kommandant hörte ihn und nickte zustimmend, dann gab er der verbliebenen Kohorte ein Zeichen, die daraufhin leise durch das Tor ritt. Rasch wurde es hinter ihnen wieder geschlossen.
Noch bevor die Kohorte Gelegenheit hatte, sich neu zu formieren, durchschnitt das blau glühende Schwert die Riemen der beiden Sattel, sie sich ihm an nächsten befanden, und der Schatten schlug mit dem Knauf auf die fallenden Reiter ein.
Ein Kreischen erhob sich unter ihnen, und drei weitere Reiter gingen zu Boden. Armbrustbolzen waren aus der Finsternis herangeschossen und hatten sie durchbohrt.
»Hattest du Gelegenheit, dir die Waffe des Bolg-Königs anzusehen?«, rief Anborn durch den Lärm der wiehernden Pferde, als er noch eine Salve abfeuerte und damit drei weitere Soldaten niederstreckte.
»Ich habe sie schon früher einmal gesehen«, erwiderte Ashe und kreuzte kurz die Klinge mit einem Soldaten aus der Kohorte, bevor er diesen aus dem Sattel zerrte und ihm die Kehle mit einem Blitz aus blau und weiß gekräuseltem Licht aufschlitzte. »Warum?«
»Ganz netter Rückstoß«, meinte Anborn und feuerte abermals. »Brauchst du noch weitere Hilfe? Ich glaube, ich habe meinen heißen Grog in der Bibliothek gelassen, und vermutlich wird er allmählich kalt.«
»Nein, wirklich nicht«, sagte Ashe, während er den Piken zweier Reiter auswich. »Ich leiste dir Gesellschaft, sobald ich hier fertig bin. Ich habe mir einen aufgespart, damit wir ihn befragen können – du kannst mir später dabei helfen, bei einem Glas Branntwein, wenn du möchtest.« Sein letztes Wort wurde vom Stoß seines Schwertes durch eine sorboldische Brust unterstrichen.
Gwydion Navarne, der aus einem Winkel heraus das Geschehen beobachtete, schüttelte nur den Kopf, als sein Namensvetter den Rest der Soldaten erledigte und dann den Bewusstlosen ergriff, den er zuvor niedergeschlagen hatte, und ihn in der Dunkelheit auf die Festung zuschleifte. Gwydion wandte sich um und folgte Ashes Schatten im flackernden Licht von Hagueforts Laternen.
»Guten Tag, Fhremus«, sagte der Regent, als sich die Türen hinter dem großen Mann in der Uniform der Dunklen Erde schlossen, der dynastischen Linie der Herrscherin vor Talquist. Der Regent zuckte unwillkürlich beim Anblick des Wappens der toten Herrscherin zusammen, wie er es immer tat. Er rief sich in Erinnerung, dass er sich entschlossen hatte, die Uniformen von Leitha und der Dynastie der Dunklen Erde nur noch bis zum Frühling beizubehalten, bis er als Herrscher inthronisiert werden würde. Dennoch wurde er wie bei vielen anderen Entscheidungen, die er in dem Bemühen getroffen hatte, bescheiden zu wirken, immer wieder zornig, wenn er das Bild der goldenen, von einem Schwert geteilten Sonne sah.
Insbesondere in Anbetracht des Symbols, das er für sich selbst ausgesucht hatte.
Dieselbe Sonne, die zwischen den Ufern zweier Meere aufging.
Der Soldat, dessen Betragen trotz seiner langen Jahre als Kommandant noch immer jugendlich war, verneigte sich ehrfurchtsvoll.
»Mein Herr.«
Talquist deutete auf den reich geschnitzten Tisch aus dunklem Holz neben den Türen zum Balkon.
»Setz dich.«
Der Soldat verneigte sich noch einmal und gehorchte, doch als er am Tisch angekommen war, warf er einen raschen Blick auf den Regenten, als wolle er dessen körperliche Verfassung abschätzen. Talquist bemerkte es, sagte aber nichts, sondern begab sich zu einer ähnlich reich geschnitzten Anrichte, auf der eine beeindruckende Anzahl von Gläsern und Karaffen mit den feinsten geistigen Getränken aus der ganzen Welt stand.
»Hättest du gern etwas zu trinken, Fhremus?«, fragte Talquist und goss sich selbst einen Schluck canderianischen Branntwein in ein kleines Kristallglas.
»Nein, vielen Dank, Herr«, antwortete der Kommandant mechanisch. »Meine Aufgabe, für Eure Sicherheit zu sorgen, verbietet es mir, meine Sinne in Eurer Gegenwart zu trüben.«
Talquist kicherte düster. »Unsinn«, sagte er fröhlich. »Für meine Sicherheit ist gesorgt, nicht nur durch eine Abordnung der Palastwache, sondern auch durch Vorkehrungen, von denen du dir keine Vorstellung machen kannst. Also los, Fhremus, stärke dich. Ich glaube, du wirst es brauchen.«
Die Einladung war unversehens zu einem Befehl geworden.
Fhremus stand vom Tisch auf und trat an die Anrichte, um einen Malzwhiskey aus Argaut zu wählen, einer Nation auf der südlichen Halbkugel weit hinter dem Mittleren Meer. Er goss sich einige Fingerbreit ein und folgte dann Talquist zurück zum Tisch.
»Ausgezeichnete Wahl«, sagte der Regent und beobachtete Fhremus über den Rand seines eigenen Glases hinweg. »Argaut hat viele hervorragende Brennereien. Ich hoffe, es wird dir schmecken.«
»Vielen Dank, Herr.«
Talquist beugte sich ihm entgegen.
»Ja, Fhremus, ich bin wohlauf, trotz aller gegenteiligen Gerüchte.«
Der Kommandant lächelte nervös. »Ich bin sehr froh darüber, Herr.«
Der Regent machte es sich auf seinem Stuhl bequem. »Ich habe schon immer deine Hingabe an die Nation und die Krone bewundert, Fhremus«, sagte er, während er das Bouquet des Branntweins einatmete. »Ich war sehr beeindruckt von deiner Weisheit, die du während der Konferenz nach dem Tod der Herrscherin gezeigt hast, indem du darauf beharrt hast, das Reich solle vereinigt bleiben, während die Grafen der größeren Provinzen darauf hingearbeitet haben, sowohl das Land als auch das Heer aufzulösen. Ich werde nie vergessen, was du bei diesem Treffen gesagt hast, nämlich dass die Macht des sorboldischen Heeres von zwei Umständen herrührt: vom gemeinsamen Zweck und der Liebe zum Vaterland.« Der Soldat nickte und nippte an seinem Getränk.
»Diese Weisheit wird bald deutlicher bewiesen werden, als es sich jedermann vorstellen kann«, sagte Talquist ernsthaft. »Ich will, dass du offen mit mir redest, Fhremus, ohne Angst vor Vergeltungsmaßnahmen – nicht als Soldat vor seinem Herrscher, sondern als Sorbolder zum Sorbolder. Uns beide verbindet die große Liebe zu unserem Land. Die Nation ist bedroht, und dieser Bedrohung müssen wir rasch und mit äußerster Kraft entgegentreten. Wenn wir zögern oder gar nichts tun, werden wir jeden Vorteil verlieren, den unser Gelände und unsere militärische Macht uns in der Entscheidungsschlacht verschaffen können.«
Der Oberkommandierende blinzelte. »Bedrohung? Was für eine Bedrohung?« Er starrte den Regenten an. »Ich habe vor kurzem erst die Berichte der Feldkommandanten aller siebenundzwanzig Stadtstaaten durchgesehen; seit drei Monaten wird keinerlei feindliche Aktivität mehr berichtet. Es hat den Anschein, dass sich das Bündnis auf Ackerbau und Viehzucht sowie auf die Sicherung der Handelsstraßen verlegt und nur wenig Militär stationiert hat. In Roland scheint alles friedlich zu sein, und es hat keine Sichtungen von Bolg außerhalb der Berge von Ylorc gegeben. Und natürlich bleiben die Lirin von Tyrian wie immer für sich. Wir haben Frieden.«
»So könnte es scheinen«, stimmte Talquist ihm zu, nahm einen weiteren Schluck und ließ die Flüssigkeit über seine Backenzähne fließen. »Aber du vergisst, Fhremus, dass ich vor meiner Erwählung zum Herrscher durch die Waage das Oberhaupt der westlichen Kaufmannschaft war. Daher erhalte ich meine Informationen nicht nur von innerhalb des Kontinents, sondern auch von außerhalb.«
»Gibt es Anzeichen dafür, dass uns eine Invasion droht?« Die Haltung des Soldaten änderte sich ganz leicht; er spannte die Muskeln an und straffte das Rückgrat, während seine Augen im Licht der Nachmittagssonne, die vom Balkon aus in den Raum fiel, einen seltsamen Glanz annahmen.
»Wenn wir nichts unternehmen, wird es dazu kommen«, sagte Talquist. »Bedenke aber die Geografie des Kontinents. Du musst dieses Land so betrachten, wie es der Schöpfer getan hat, und nicht so, wie es als Ergebnis des Cymrischen Krieges vor vierhundert Jahren von den Menschen aufgeteilt wurde. Dann erkennst du vielleicht was der Schöpfer vorhatte.
Sorbold ist das Fundament des gesamten südlichen Kontinents und erhielt göttlichen Schutz durch den Schöpfer in Gestalt von unüberwindlichen Bergen und undurchdringlichen Wüsten. Es ist ein ausgedehntes Land und hat eine große Bevölkerung, welche durch die Sonne stark, unbarmherzig und stolz gemacht wurde. Unsere Bereitschaft, Jahrhunderte hindurch die Struktur unseres Militärs und unserer Verteidigung beizubehalten, hat uns vom taktischen Standpunkt aus die Oberhand verschafft. Selbst unsere Küste ist zum größten Teil von der sie umgebenden Landmasse geschützt. Wir haben am Meer Außenposten von der Neutralen Zone bis zur Skelettküste. Diese Außenposten müssen alle Schiffe passieren, die in einen unserer Häfen einlaufen wollen. Unter normalen Umständen sind wir also ein beachtlicher und beinahe unbesiegbarer Gegner.«
Der Kommandant nickte. Der Regent hatte soeben eine Einschätzung der Lage abgegeben, die Fhremus uneingeschränkt teilte. Also gab es kaum einen Grund zur Sorge.
»Der Mittlere Kontinent im Westen, bestehend aus Tyrian, Roland und Gwynwald, ist die Kornkammer dieses Teils der Welt«, fuhr Talquist fort. »Seine weiten Ebenen, die Wälder und Felder verschaffen diesen Ländern einen natürlichen Schutz, aber es gibt dort nur wenige Orte, von denen aus ein Angriff geführt werden könnte. Lediglich das Waldgebiet von Tyrian befindet sich nahe genug bei unseren Stadtstaaten, um von dort aus unbemerkt eine Invasion zu beginnen. Der Firbolg-König an unserer Ostgrenze teilt mit uns die Berge, die unsere Nordflanke schützen. Er könnte durchaus ein Invasionsheer aufstellen, doch ohne Unterstützung aus Roland wären wir vermutlich in der Lage, sie abzuwehren.«
Erneut nickte Fhremus und stimmte Talquist schweigend zu.
»Im Norden liegt das Hintervold, das, wie du weißt, eine nur teilweise und zu bestimmten Jahreszeiten bewohnbare Eiswüste ist. Es ist eine Schatzkiste für Häute, Erze und Gold sowie für Torf als Brennmaterial und hat eine kurze, aber intensive Wachstumsperiode, in der es eine kleine Ernte an Gemüse von gewaltiger Größe hervorbringt, aber allein durch die heimische Landwirtschaft kann es sich nicht ernähren. Ohne die Nahrung, die Roland zu ihm schickt, wäre das Hintervold noch kahler, als es ohnehin schon ist. Um es kurz zu machen, der Kontinent war dazu gedacht, ein einziges Reich zu bilden, das vom Süden beherrscht und verteidigt, vom mittleren Teil ernährt und vom Norden mit Handelsgütern wie Pelzen und Gold versorgt wird. Doch leider haben die Krieger unserer Vorfahren uns geteilt.«
»Aber sie haben uns auch zu Verbündeten gemacht«, sagte Fhremus.
Talquists Miene verlor ein wenig von ihrer Freundlichkeit. »Wir sind mit dem cymrischen Bündnis befreundet, aber kein Teil davon«, betonte er mit einer Stimme, die Fhremus die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. »Wir sind ebenfalls mit dem Hintervold und mit Golgarn an der südöstlichen Grenze des Bolg-Reiches befreundet, aber auch zwischen diesen Nationen und Sorbold existiert kein offizielles Bündnis. Das wird sich ändern.«
Fhremus lehnte sich entsetzt vor. »Wir werden ein Abkommen mit Golgarn und dem Hintervold schließen?«, fragte er ungläubig. »Diese drei Nationen kreisen den Mittleren Kontinent ein. Würde das cymrische Bündnis das nicht als Bedrohung empfinden?«
Der Regent lächelte belustigt. »Das würde es, wenn es davon wüsste. Ich will damit sagen, Fhremus, dass unsere großzügige Freundschaft und unsere Handelspraktiken das Bündnis zu dem Glauben gebracht haben, wir wären verwundbar. Sie glauben genau wie der Schöpfer, dass dieser Kontinent zu einem einzigen Reich vereinigt werden sollte. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass sie der Meinung sind, sie sollten über ihn herrschen.«
Plötzlich verstummten alle Geräusche außer dem leisen Säuseln des Windes auf dem Balkon.
»Und da das Bündnis weiß, dass es für uns militärisch und strategisch kein Gegner ist«, fuhr Talquist nach kurzer Pause fort, »hat es damit begonnen, sich Waffen zu beschaffen, von denen es sich einen Vorteil in dem Krieg verspricht, den es anzetteln will.«
»Was für Waffen?«, fragte Fhremus nervös. Er setzte das Glas ab. Der Alkohol reizte seine Kehle, statt sie zu besänftigen. Alles, was ihm dieser Mann sagte, der bald der Herrscher über Sorbold sein würde, widersprach Fhremus’ Instinkten, doch er kannte den Blick in Talquists Augen und hütete sich deshalb davor, das Wissen von jemandem in Frage zu stellen, der einen Spion an jeder Tür dieser Welt hatte.
Talquist zog seinen Stuhl näher an den Kommandanten heran.
»Denk immer daran, Fhremus«, sagte er, wirbelte dabei den Rest seines Branntweins im Glas herum und stellte es schließlich auf den Tisch. »Der Mann, der das Bündnis anführt, besitzt mehr als nur eine Art von Macht. Gwydion von Manosse ist der Enkel Gwylliams des Visionärs – des Mannes, der eine der fortschrittlichste Nationen aller Zeiten aus festem Fels gehauen hat. Sein Onkel ist Edwyn Griffyth, der hohe Meeres-Magier aus Gaematria, Gwylliams Sohn und wahrscheinlich der beste Erfinder der bekannten Welt. Daher hat er einige der genialsten Maschinen zur Verfügung, die je ersonnen wurden. Er ist mit dem Firbolg-König Achmed verbündet, von dessen einzigartigen und absolut tödlichen Waffen wir nur durch Spionage einiges erfahren konnten, denn der König weigert sich, sie uns zu verkaufen. Warum ist das wohl so? Warum verkauft der Bolg-König Waffen an das Bündnis, aber nicht an Sorbold?«
Talquist beobachtete, wie Fhremus schweigend die Bedeutung dieser Frage in sich aufnahm; dann ging er zum Schreibtisch und kehrte mit einem großen Pergamentblatt zurück, das er dem Kommandanten vorlegte. Darauf befand sich die ausführliche Zeichnung einer schweren Maschine aus Metall mit Fußstützen, die durch aufrechte Streben mit einem Schaltgestänge verbunden waren.
»Einer unserer Spione bei den Docks von Avonderre hat uns das hier vor ein paar Monaten geschickt. In Port Fallon wurde es ausgeladen; es kam aus Gaematria und wurde mit einem Karren nach Haguefort gebracht, wo der cymrische Herrscher im Augenblick residiert.«
»Was ist das?«, fragte Fhremus, während er die Skizze betrachtete.
Talquist beobachtete ihn eingehend. »Das ist anscheinend ein Gehapparat«, erklärte er, nahm sein Glas wieder auf und atmete das Aroma des Branntweins ein, dann setzte er es abermals ab.
Fhremus nickte. »Vielleicht für Anborn, den Marschall aus dem Großen Krieg«, sagte er. »Er ist gelähmt – und Edwyn Griffyth ist sein Bruder. Zweifellos will Anborns Bruder ihm dabei helfen, wieder gehen zu können, oder ihm zumindest eine gewisse Beweglichkeit verschaffen.«
»Zweifellos«, stimmte Talquist ihm zu. »Aber warum hat der cymrische Herrscher wohl genug Material geordert, um fünfhunderttausend davon zu bauen?« Fhremus sah von dem Pergament auf. »Gibt es etwa eine halbe Million Krüppel in Roland?«
»Fünfhunderttausend?«
Talquist lächelte grimmig. »Ich habe einige Ladungsverzeichnisse der Schiffe gesehen, die jeden Tag aus Manosse und Gaematria eintreffen. Wenn das bereits in den wenigen Schiffen war, die ich gesehen habe, was alles führt er dann sonst noch ein? Und zu welchem Zweck?« Er sah Fhremus eindringlich an und fragte sich, ob dieser seine Lüge durchschaut hatte, doch der Soldat erwiderte seinen Blick nicht.
Der Kommandant warf das Pergamentblatt mitten auf den Tisch.
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube kaum, dass Maschinen, die Gelähmten zum Gehen verhelfen, eine Bedrohung für Sorbold darstellen.«
»Auf deine Weise hast du recht«, meinte Talquist geduldig. »Aber du musst weiter denken, Fhremus. Überlege einmal, mit wem der cymrische Herrscher verbündet ist und was du über seine Aktivitäten weißt. Vor nicht langer Zeit ist der gesamte Gipfel eines der inneren Berge in den Zahnfelsen explodiert. Die ganze westliche Welt hat die Erschütterungen gespürt. Ein Berggipfel Fhremus! Es war kein Vulkan, denn es wurde von keinem Lavafluss berichtet. Hast du eine Vorstellung von der Kraft, die nötig ist, um einen Berggipfel in Stücke zu blasen?«
Das hatte Fhremus nicht, aber er verstand, was Talquist damit sagen wollte.
»Der Bolg-König entwickelt hochexplosive Sprengstoffe«, sagte er, »und wir tun das auch. Ich verstehe nicht, was das mit Gehmaschinen für Lahme zu tun hat, Herr.«
Talquists Lächeln wurde grausam. »Es verwirrt mich, dass der Kommandant des Heeres einer ganzen Nation die einzelnen Teile nicht besser zusammensetzen kann, Fhremus. Denk einmal nach. Du bist in großer Eile nach Jierna’sid zurückgekehrt – nicht auf meinen Ruf, sondern wegen der Gerüchte, die du auf der Straße gehört hast. War das nicht so?«
Das Gesicht des Kommandanten wurde ausdruckslos.
»Das ist schon in Ordnung, Fhremus. Wenn ich du wäre und man mir gesagt hätte, dass der Herrscher das Ziel eines gewaltigen steinernen Mörders sei – einer Statue, die doppelt so groß wie ein Mensch ist, sich aus eigener Kraft bewegt und auf dem Weg nach Jierna Tal bereits eine halbe Brigade vernichtet hat –, dann wäre auch ich in aller Eile hergekommen. Ich vermute, du hast selbst die Verwüstungen gesehen. Obwohl die Straßen bei deiner Ankunft schon von den menschlichen Abfällen gesäubert waren, sind dir bestimmt nicht die zerschmetterten Karren und die geborstenen Tore entgangen, oder?« Er deutete auf die frisch instand gesetzte Mauer in der Treppe, die hoch zum südwestlichen Turm führte.
»Ja«, sagte der Kommandant.
»Ich bin gerührt über deine Sorge um mein Wohlergehen und kann dir mit Freude verkünden, dass mir nicht ein einziges Haar gekrümmt wurde. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von den achtundachtzig Truppen und den ungezählten Zuschauern sagen.«
»Wie …«
Der Regent hob die Hand, und der Soldat verstummte. »Ich dachte, inzwischen wüsstest du, dass meine Thronbesteigung vom Schöpfer vorherbestimmt war«, sagte Talquist hochmütig. »Die Waage hat mich gesalbt. Ich stehe unter göttlichem Schutz, wie ich bereits vorhin erwähnte, wenn ich mich recht erinnere.« In seinen Augen funkelte es böse. »Es gibt viele Dinge, die du nicht über mich weißt, Fhremus – und viele andere, von denen dir nicht bekannt ist, dass ich sie über dich weiß. Aber vertraue mir: Sorbold, das Land, das wir beide lieben, ist in fähigeren Händen, als du es dir vorstellen kannst.«
»In der Tat, Herr«, murmelte Fhremus und nahm noch einen Schluck Whiskey.
Talquist kniff die Augen zusammen. »Komm«, befahl er. »Ich werde dir zeigen, wozu unser Feind in der Lage ist, sowohl was seine Macht als auch was seine Vorsätze angeht – und was wir dagegen unternehmen werden.«
Er erhob sich und schlenderte in die hinteren Zimmer seiner Gemächer. Der Kommandant sprang auf die Beine und folgte seinem Herrscher. Er ließ sein Glas auf dem reich verzierten Tisch zurück, wo die Neige am Boden das Licht der untergehenden Sonne einfing und wie ein Fleck aus getrocknetem Blut aufleuchtete.
Es überraschte Fhremus nicht sonderlich, als er erfuhr, dass von den Gemächern des Regenten eine Menge Kammern und Tunnel abgingen. Die Dynastie der Dunklen Erde und die Dynastie der Verbotenen Berge vor ihr, die Sorbold insgesamt mehr als sieben Jahrhunderte regiert hatten, hatten in Jierna Tal so viele Geheimnisse und Fluchtwege eingebaut wie im ganzen Rest des Reiches. Zuzeiten der Herrscherin Leitha war ihm bisweilen der Zugang zu solch verborgenen Orten gewährt worden, doch diese hier, die von ihrem ehemaligen Schlafgemach ausgingen, hatte er noch nie gesehen.
Er machte eine gelassene Miene, als die Wandbehänge hintereinander beiseite gezogen wurden und immer neue, immer stärkere Metalltüren zum Vorschein kamen, jede mit einem verzwickteren Verschlussmechanismus als die vorige. Was immer der Herrscher in seinen Gemächern weggesperrt hatte, war entweder besonders wertvoll oder besonders gefährlich, mutmaßte Fhremus. Zumindest war es etwas, das nur ausgewählte Personen zu sehen bekamen. Er war sich nicht sicher, ob er sich geehrt oder bedroht fühlen sollte.
Als er die Kammer hinter der letzten Tür betrat, entschied er sich für beide Regungen gleichzeitig.
Fhremus hatte von seinen Truppen genug gehört und erkannte sofort das, was er nun vor sich sah. Dennoch dauerte es eine Weile, bis er die Verbindung zwischen den Geschichten des Grauens, die man ihm erzählt hatte, und dem herstellen konnte, was er nun in den Gemächern des Herrschers zu Gesicht bekam.
Talquist setzte sein Glas auf einem Beistelltisch ab, zog einen schweren Samtvorhang zurück und enthüllte einen Alkoven in einer Ecke des Zimmers.
Darin stand aus eigener Kraft eine gewaltige Statue aus vielfarbigem Stein. Grüne, zinnoberrote und purpurfarbene Adern liefen durch etwas, das wie feuchter Lehm aussah, der an den Rändern getrocknet war und die Farbe von Sand angenommen hatte. Es war die grobe Statue eines Soldaten mit einfachem Gewand; seine eine Hand war ungestalt, als ob ihm ein Werkzeug oder eine Waffe entrissen worden sei. Die Gesichtszüge und das Haar waren gleichermaßen grob herausgearbeitet, und die Gestalt war von einem gepanzerten Helm gekrönt, dessen Stil auf die eingeborenen Völker des Kontinents hinwies, die Sorbold vor Beginn der Geschichtsschreibung und vor der erleuchteten cymrischen Epoche bewohnt hatten, als die meisten Berichte und Chroniken der Welt auf großen Pergamentrollen niedergeschrieben und in Bibliotheken aufbewahrt worden waren.
Bis zum Scheitel maß die Statue etwa zehn Fuß. Ihre Arme und Beine waren muskulös und dick und wiesen aufgrund der rohen Arbeit außer Knien und Ellbogen keine Merkmale normaler menschlicher Gliedmaßen auf. Die auf die Decke gerichteten Augen waren hohl und hatten keine Pupillen, und die Hände waren gegen die Seite gepresst.
Vor nicht langer Zeit hatten Fhremus’ eigene Soldaten ihm mit atemloser Stimme eine solche Statue beschrieben. Sie hatten ihm Geschichten von einem Riesen erzählt, der die Hauptstraße von Jierna’sid entlanggepoltert war. Voller Mordlust hatte er eine Schlachtreihe von Soldaten durchbrochen und sie wie Weizen unter seinen Füßen zermahlen. Er hatte Wagen und Pferdekarren umhergeschleudert, Tore und Barrikaden überwunden und sich schließlich auf den Weg zum Palast von Jierna Tal gemacht.
Nach diesen Berichten hatte sich Fhremus in aller Eile zum Palast begeben und darum gebangt, den Regenten lebend anzutreffen, auch wenn er die Hoffnung darauf, dass Talquist unverletzt war, als nur gering angesehen hatte. Doch er hatte rasch herausgefunden, dass der Schaden in Jierna Tal nur geringfügig und bereits an den meisten Stellen wieder behoben war, einschließlich der Ecke in den Privatgemächern des Herrschers. Und der Herrscher selbst erfreute sich ausgezeichneter Gesundheit, hatte keine offenkundigen Verletzungen erlitten und wirkte keineswegs mitgenommen. Als er Talquist zum ersten Mal nach jenen Berichten wieder gesehen hatte, hatte er sich gefragt, ob diese nicht das Produkt von Halluzinationen gewesen waren.
Bis zu diesem Augenblick.
»Das ist doch nicht, äh, die Statue …«
»Doch, das ist sie«, sagte Talquist gelassen. »Es ist der Titan aus Lebendigem Stein, der vor einer Woche durch die Straßen der Stadt getrampelt ist, Soldaten zerschmettert und alles vernichtet hat, was sich ihm in den Weg stellte. Wunderschön, nicht wahr?«
»Wenn Ihr so meint, Herr«, meinte Fhremus und wusste nicht, was er sonst antworten sollte.
Der zukünftige Herrscher kicherte. »Du musst wenigstens die Handwerkskunst unserer Feinde bewundern, Fhremus, selbst wenn du ihre Absichten nicht gutheißt. Ich muss zugeben, dass ich höchst beunruhigt war, als ich sie vom Balkon aus gesehen habe, denn mir war nicht bekannt, welche Kräfte der Natur bei der Erschaffung dieses Dinges zusammengespielt hatten. Aber zu meiner Zeit als Kaufmann habe ich so manche Seltsamkeiten in den vielen Ländern gesehen, vor allem Waffen in allen Formen und Größen – Gifte, von denen du nie erwarten würdest, dass sie schädlich sind; Klingen, die in weichster Seide verborgen und so unauffällig sind, dass du sie nicht einmal bemerkst, bevor du dich zu Tode blutest; geniale Fallen, die nicht einmal der aufmerksamste Wächter erkennt, bevor er in den Tod stürzt oder unter einem gewaltigen Steinblock begraben wird – und deshalb gibt es nur sehr wenig, das mich wirklich überrascht, Fhremus. Danke dem Schöpfer, dass ich in seiner Gunst stehe und er mich als seinen Gesalbten schützt. Ansonsten wäre Sorbold jetzt wieder führerlos wie noch vor kurzem, als unsere geliebte Herrscherin und der Kronprinz gestorben sind. Wer weiß, vielleicht säßest du dann wieder in einer Versammlung mit den Grafen der Hauptprovinzen, die nur danach trachten, das Reich aufzulösen und die kleineren Länder ihren eigenen einzuverleiben.«
»In der Tat, Herr«, murmelte Fhremus.
»Was glaubst du, wie wurde dieser riesige Steinmörder belebt?«, fragte der Herrscher.
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Dann erlaube mir, dich über die Kenntnisse unserer Feinde aufzuklären«, sagte Talquist in beißendem Tonfall. »Wir haben es nicht nur mit gewöhnlichen Menschen zu tun, Fhremus, mit Menschen wie uns selbst, die wir allein Klugheit, Muskeln und Blut in uns vereinen, mit denen wir unser geliebtes Land verteidigen. Wir stehen gegen eine Allianz, die von Menschen mit heimtückischen Kräften geführt wird. Es sind die Erben der Throne von Gwylliam und Anwyn, und in ihren Adern fließt das Blut der Cymrer und die Macht, welche diese bösartige Rasse einst besaß. Das sind keine reinen Menschen, Fhremus. Die Zeit scheint ihnen nichts anhaben zu können und keine Macht über sie zu besitzen. Viele aus Gwylliams Dynastie leben noch, mehr als tausend Jahre nachdem dieser verfluchte Despot im Kielwasser der Flutwelle seinen Fuß auf unser Land gesetzt und systematisch die Leute auf dem Weg zu dem Ort abgeschlachtet hat, welcher schließlich zu seiner Festung in den Bergen wurde, die heute die Zahnfelsen genannt werden. Außerdem ist der kürzlich eingesetzte Patriarch mit dem cymrischen Herrscher verbündet. Dieser Mann ist in Wahrheit ein Abtrünniger und folgt einer langen Reihe von Männern, die unsere Religion pervertiert haben. Er verneint die reine und heilige Anbetung des Schöpfers, die unsere Vorfahren praktiziert haben, und nennt ihn bei anderen unheiligen Namen wie All-Gott oder Ein-Gott. In den Händen des Patriarchen und seiner Seligpreiser befinden sich alle Elementar-Basiliken und das uranfängliche, in ihnen enthaltene Wissen um die Lebendige Erde, den Wind, das Feuer, das Wasser und das Sternenlicht. Und sein Verbündeter Gwydion von Manosse, der cymrische Herrscher, steckt unter einer Decke mit Tyrian, den Bolglanden, den Nain, Manosse, Gaematria und hat die Oberherrschaft über alle Heere des Mittleren Kontinents. Wie kann man gegen solche Feinde kämpfen?«
»Wir sind dazu bereit, Herr«, sagte Fhremus.
»Nein, das seid ihr nicht«, widersprach Talquist düster. »Du unterschätzt unsere Feinde und die Kräfte, die zu ihrer Verfügung stehen. Pass auf.«
Er trat vor die Statue und hob die Hand.
»Wach auf, Faron«, befahl er.
In den blinden Augen der Statue erschienen zwei blaue Irisse; zuerst waren sie milchig, doch dann nahmen sie einen Ausdruck der Bedrohung an. Unwillkürlich wich Fhremus einen Schritt zurück.
»Bewege den Schrank«, befahl Talquist und deutete auf eine mächtige Anrichte aus reich geschnitztem Holz, die so viel wie drei Männer wog.
Die Statue starrte ihn kurz an und warf dann einen drohenden Blick auf den Kommandanten. Schließlich reckte sie sich, als ob ihre Glieder eingeschlafen wären, streckte die Arme vor und ging zur Anrichte, die sie packte und durch den Raum gegen die Wand warf. Dabei brach eines ihrer Beine ab.
Talquist wandte sich an den erschütterten Kommandanten und lächelte.
»Das, Fhremus, ist das Werk unserer Feinde. Was eigentlich nur eine leblose Steinstatue sein sollte, ist in Wirklichkeit eine Maschine, die durch irgendeinen cymrischen Zauber belebt wurde. Ich habe sie meinem Willen unterworfen, und nun folgt sie meinen Befehlen. Was eigentlich mein Mörder hätte sein sollen, wird nun der Fahnenträger deines Heeres sein. Wenn ich nicht der wäre, der ich bin, und wenn ich vom Schöpfer weniger gesegnet wäre, dann läge ich jetzt im Grab, und Sorbold befände sich sehr wahrscheinlich im Krieg.«
»Sorbold wird sich sowieso bald im Krieg befinden, Herr«, sagte Fhremus. »Es darf Gwydion von Manosse nicht erlaubt sein, Mörder auf unseren zukünftigen Herrscher zu hetzen und dabei ungestraft zu bleiben. Dafür muss Rache geübt werden, ansonsten könnte er versucht sein, es noch einmal zu wagen.«
»Jetzt siehst du vielleicht einen – und nur einen -Grund dafür, dass wir handeln müssen, anstatt abzuwarten, bis wir angegriffen werden«, sagte Talquist, nahm sein Glas und trank es leer. »Du übersiehst, dass Gwydion von Manosse nicht nur der Herr des Mittleren Kontinents und ein Mann mit festen Wurzeln in Manosse und Gaematria ist, sondern auch der Abkömmling eines verdammten Drachen. Er besitzt die mythische Macht der serenischen Abstammung, die alle Cymrer mehr oder weniger haben; er kennt die schrecklichen Überlieferungen der Meeres-Magier, die die Strömungen und Gezeiten der sieben Meere so lange studiert haben, dass es heißt, sie könnten diese beeinflussen; und ihm stehen die Kenntnisse seines Großvaters über Maschinenbau und andere Erfindungen zur Verfügung. Wenn man noch die Magie hinzunimmt, die ihm seine Drachenabstammung hinterlassen hat, ist es dann wirklich so schwer vorstellbar, dass der cymrische Herrscher, der einen Weg gefunden hat, um festen Stein zu beleben, auch auf eine Möglichkeit gestoßen ist, Feuer schleudernde, unbemannte Maschinen zu bauen, die über die Grenze und vielleicht sogar über die Berge marschieren können, um dann in unseren Städten, unseren Außenposten und unseren heiligen Stätten zu explodieren?«
»Was sollen wir dagegen tun, Herr?«, fragte Fhremus.
»Wir werden mit dem Patriarchen beginnen«, antwortete Talquist, der insgeheim hocherfreut war, dass der Kommandant die Lüge geschluckt hatte. »Zuerst werden wir Sepulvarta einnehmen, das sowieso der nördlichste Punkt unserer Grenze sein sollte. Dieses Land liegt im Vorgebirge der Manteiden, und sobald es uns gehört liegt die Weite der Krevensfelder im Norden vor uns. Sie sind unmöglich zu verteidigen. Dort werden wir damit anfangen, uns das zurückzuholen, was rechtmäßig uns gehört.«
»Die heilige Stadt?«, fragte Fhremus nervös. »Ihr habt vor, der Hauptstadt des All-Gottes den Krieg zu erklären?«
»Er heißt der Schöpfer«, berichtigte Talquist ihn; seine Stimme hatte nun einen stählernen Tonfall angenommen. »Es waren die Cymrer, die ihn All-Gott genannt haben, aber was für ein närrischer Name ist das! Wir werden das Unrecht von Jahrhunderten aufheben; unser Ziel ist heilig.« Er seufzte verdrossen. »Niemand will den Krieg weniger als ich, Fhremus. Ich bin von Haus aus Kaufmann; ich hatte gehofft, meine Regierung würde eine des Friedens und Wohlstands sein und unsere Güter würden neue Märkte auf der ganzen Welt erreichen. Krieg unterbricht den Handel, und ich will nichts weniger als das. Im Gegensatz zu den cymrischen Anführern des Bündnisses – nicht nur Gwydion von Manosse, sondern auch seine lirinische Frau und der Bolg-König, von dem man nicht sagen kann, wie lange er leben wird – bin ich ein einfacher Sterblicher, Fhremus. Ich werde eine normale menschliche Lebensspanne haben. Selbst Leitha ist mit ihrer außerordentlichen Langlebigkeit nur einundneunzig Jahre alt geworden. Die Zeit hat keine Macht über die Nachkommen der Drachen und über all jene, die von der verfluchten Insel Serendair gekommen sind. Unsere Enkel werden schon Staub in ihren Gräbern sein, wenn diese Tyrannen noch immer in der Blüte ihrer Jugend stehen! Unsere Zeit ist begrenzt; wir müssen das Beste daraus machen. Das schulden wir dem Schöpfer.«
Eine schrille Glocke erklang in Fhremus’ Hinterkopf. Er versuchte sich zu erinnern, ob er den zukünftigen Herrscher je bei einem Gottesdienst im örtlichen Kloster oder in einer der Kapellen gesehen hatte, in welche die in Jierna’sid stationierten Soldaten gingen, und er kam zu dem Ergebnis, dass er Talquist dort nie bemerkt hatte. Der Kommandant nahm jede Gelegenheit wahr, von den örtlichen Priestern gesegnet zu werden, so wie es die meisten Mitglieder des Heeres taten. Doch er sagte sich, dass das eigentlich nicht seltsam war, denn der zukünftige Herrscher hatte sicherlich seine Privatkapellen und Andachtsorte im Palast.
Außerdem spielte es keine Rolle.
»Ich bin breit, Eure Befehle zu empfangen, Herr«, sagte er schließlich.
»Dann komm mit mir, Fhremus«, sagte Talquist, dessen Miene seine Zufriedenheit widerspiegelte. »Ich werde dir zeigen, wie man eine Nation verteidigt.«
Fhremus hatte in den vielen Jahren, die er bereits in dem Heer zugebracht hatte, viele schreckliche Gerüche wahrgenommen. Der beißende Rauch der Stahlfeuer in den Schmieden, die ekelhaften Ausdünstungen der Latrinen und Abfallgruben, die bei jedem großen Soldatenlager zurückblieben, und der Gestank der Leichen, die unter der gleißenden Sonne Sorbolds verdorrten, waren seiner Nase vertraut; er nahm sie kaum mehr wahr.
Doch all dies konnte ihn nicht auf das vorbereiten, was ihn nun in den Tunneln unter Jierna Tal bestürmte.
Als er Talquist durch den höhlenartigen Schacht folgte, waren seine durch ungezählte Schlachten geschärften Sinne in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Er spürte das Gefühl von Gefahr im Bauch, das jeden guten Soldaten vor einem Feind oder einer Bedrohung in der Dunkelheit warnte. Fhremus hatte den neuen Standartenträger des Regenten gesehen, der ihnen nun schweigend folgte und trotz seiner steinernen Gestalt und gewaltigen Größe fast unsichtbar war, und daher konnte er nur Vermutungen darüber anstellen, was ihn am Ende des Tunnels erwarten mochte.
Der Geruch der Verwesung, der sogar den Stein der Wände zu durchdringen schien, verschaffte ihm das Gefühl, als atme er den Tod selbst ein, obwohl er sich einen dicht gewebten Leinenschal vor die Nase hielt.
Je tiefer sie hinabstiegen, desto dichter und undurchdringlicher wurde die Finsternis, und der Tunnel weitete sich immer mehr. Die kleine Laterne in Talquists Hand vermochte nicht einmal das Zwielicht zu zerstreuen, das auf ihren Schultern lastete. Sie war kaum mehr als ein weißlicher Ball aus kaltem Licht, der zögernd in der Schwärze unmittelbar vor ihnen glimmerte; alles dahinter wurde von den Schatten verschluckt. In gewisser Weise war Fhremus dankbar dafür. Er konnte nicht erkennen, was an den Höhlenwänden am Rande seines Gesichtsfelds lauerte, doch mehr als einmal erhaschte er aus den Augenwinkeln einen Blick auf huschende Bewegungen über die feuchte Steinfläche. Er riss sich zusammen und konzentrierte sich darauf, den Regenten nicht aus den Augen zu verlieren.
Je weiter sie gingen, desto feuchter wurde die Luft im Tunnel, bis Fhremus irgendwann spürte, dass ihm Wassertropfen vom Helm und den Augenbrauen fielen. Seine Haut war nicht nur vom Schweiß klamm. Feuchtigkeit perlte von seinem eingeölten Wams ab, rann zu Boden und plätscherte ihm in kleinen Rinnsalen in die Stiefel.
»Das hier war einmal der Kanal von Jierna’sid«, sagte Talquist. Seine vom Schal und dem Dunst gedämpfte Stimme schlug gegen die fernen Wände und wurde ebenso geschluckt wie das Licht. »Dann hat die Dynastie der Dunklen Erde, also Leitha und ihre Vorfahren, das große Leitungssystem erbaut und diese Tunnel aufgegeben.« Fhremus blieb stumm; seine Augen suchten erfolglos nach den Wänden, die in die Finsternis zurückgewichen waren.
Dann hörte er aus der Ferne einen seltsamen Ton; es war wie das harsche Pfeifen des Windes in der Wüste, zu dem sich kurze Zeit später ein tiefes Brummen gesellte das mit dem anderen Ton einherging. Es war ein beständiger Laut, der an Stärke zunahm, als sie sich ihm näherten. Obwohl Fhremus keine Ahnung hatte, was diese Geräusche verursachte, riefen sie doch eine durchdringende Kälte in ihm hervor, während sie gnadenlos über seine Trommelfelle kratzten.
»Wir sind bald bei der riesigen Zisterne«, erklärte Talquist, dessen Stimme plötzlich leise wurde. »Bleib dicht hinter mir, Fhremus, und pass auf, wohin du trittst. Ein falscher Schritt könnte tragisch sein.«
Fhremus warf einen Blick über die Schulter. Er glaubte hinter sich den äußerst schwachen Schatten des Riesen zu erkennen, doch als er noch einmal zurückschaute, sah er nichts als Dunkelheit. Nervös spähte er wieder nach vorn.
Talquist hatte am Rande von etwas angehalten, das eine gewaltige kreisrunde Schlucht zu sein schien, ein Loch von ungeheuren Ausmaßen, das früher einmal das gesamte herabfließende Wasser aus den Bergen enthalten hatte, was dem Volumen eines Flusses bei Hochwasser entsprach. Fhremus blieb hinter Talquist stehen und kämpfte gegen die Übelkeit an, denn der Geruch war furchtbar ätzend geworden; er biss ihm in die Nasenwände und kroch hinauf bis in die Nebenhöhlen.
Der Lärm aus der Schlucht war zu einem ohrenbetäubenden Getöse geworden, zu einem kreischenden Winseln, in dem die stärker gewordene Bassnote wie eine Kriegstrommel donnerte.
Talquist hielt das Licht über den Rand und befahl Fhremus, näher zu treten.
»Komm«, sagte er leise und mit einer gewissen Achtung in der Stimme. »Sieh dir das an.«
Fhremus schluckte still und näherte sich dem Abgrund. Dabei fuhr ihm etwas Kleines und Hartes über das Gesicht. Instinktiv schlug er mit der Hand danach, als wäre es eine Fliege. Dann schaute er hinunter in die Dunkelheit.
Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als stünde er bei Nacht über dem Trichter eines Tornados. In der Tintenschwärze unter ihm schien die Luft mit der Wildheit eines Wirbelwinds zu rotieren und verursachte dabei kreischende Laute. Die Bewegung war so heftig wie der größte Wüstensturm, den Fhremus je gesehen hatte, als Wände aus Sand aufgewirbelt worden waren und ganze Dörfer unter sich begraben hatten. Doch im Gegensatz zu einem Sturm war diese Bewegung dort unten chaotisch und sporadisch; es waren Millionen Blitze, die kein Ziel hatten, sondern nur aus Geschwindigkeit und Lärm bestanden.
Der Regent sah ihn eindringlich an. Sein Lächeln wurde breiter, und er hielt die Laterne über das wirbelnde Chaos aus Gestank, Gekreisch und Übelkeit erregenden Bewegungen.
In dem äußerst schwachen Lichtschimmer sah Fhremus, was in der Zisterne herumflatterte.
»Gütiger All-Gott«, flüsterte er und spürte, wie brennende Galle bis zu seiner Kehle aufstieg. »Sind das …?«
»Pestheuschrecken«, beendete Talquist die Frage für ihn. »Das ist ein junger Schwarm, der hauptsächlich aus Weibchen und Männchen besteht. Bisher gibt es keine Nachkommen – der größte Teil der Eier wird frühestens in der ersten Frühlingswoche ausgebrütet. Noch sind ihnen keine Flügel gewachsen.«
Die feuchte, faulige Luft brannte in Fhremus’ Lunge. Die Trockenheit des Landes war sowohl Fluch als auch Segen. Während die Erde nur wenig Ertrag brachte, war die Gefahr unaufhaltsamer Ungezieferschwärme sehr gering, da solch üble Tiere wie die Pestheuschrecken Wasser brauchten, in dem sie brüten konnten.
Wie den Bodensatz in der aufgegebenen Zisterne.
Obwohl zu Fhremus’ Lebzeiten keine Pestheuschrecken in dieser Gegend mehr vorgekommen waren, so waren sie doch in früheren Zeiten so verheerend gewesen, dass sie tiefe Eindrücke in der Erinnerung des Volkes hinterlassen hatten. Das Elend und der Hunger, welche die Horden gefräßiger Insekten hinterlassen hatten, waren so schrecklich für die Sorbolder und die Völker des Mittleren Kontinents gewesen, dass das Erscheinen eines einzelnen Grashüpfers noch immer eine allgemeine Panik hervorrufen konnte, die oft zum unnötigen Niederbrennen ganzer Felder führte.
Fhremus beugte sich vor und hob den Kadaver des Tieres auf, das im Flug gegen ihn gestoßen war. Wie jemand einen einfachen Grashüpfer mit einer dieser Kreaturen verwechseln konnte, war ihm unverständlich. Der winkelförmige Kopf, die mit Sägezähnen versehenen Kiefer und die scharfen, messerartigen Flügel waren die Kennzeichen eines Wesens, das das Böse schlechthin mit sich führte.
Er schluckte die aufsteigende Galle herunter.
»Ich verstehe nicht, Herr.«
Talquist hatte ihn eingehend beobachtet und nickte.
»Dann komm mit, Fhremus, und ich werde dir noch etwas zeigen.« Er drehte sich um und schritt in die Finsternis hinein. Der Kommandant warf den Kadaver in den schwarzen Abgrund und folgte rasch seinem Regenten.
Er warf einen Blick über die Schulter, als wolle er sich davon überzeugen, dass er nicht träumte.
Die Luft im Tunnel wurde noch schwerer vor fauliger Feuchtigkeit, je weiter sie kamen. Der Steingigant folgte ihnen; er bewegte sich so still wie der Tod, oder wenigstens schien es so, denn das Kreischen und Brummen aus der Zisterne war nun von einem tiefen, klickenden Trommeln abgelöst worden, das in Fhremus’ Ohren pochte und pulsierte und von den groben Tunnelwänden widerhallte. Sie schienen durch alte Zuflusstunnel zur Zisterne zu gehen; viele von ihnen waren vom Abfall der Jahrhunderte verstopft oder ganz verschlossen. Schließlich gelangten sie zu etwas wie einem übel riechenden Teich, dessen Wasser mit grünen Schlieren vermutlich pflanzlichen Ursprungs durchzogen war, auch wenn Fhremus nicht glauben wollte, dass an einem solchen Ort etwas Natürliches wachsen konnte.
Der Regent schritt vertrauensvoll in das Wasser und watete langsam, aber zielstrebig darin herum, bis der Schleim seine Stiefel zur Hälfte bedeckte. Er drehte sich um und bedeutete Fhremus, ihm zu folgen. Der Soldat gehorchte und trat neben Talquist, der schließlich anhielt und in die Düsternis vor sich blickte. Der Titan blieb reglos am Rand des Wassers stehen.
Talquists Augen brannten hell im Strahlen der kalten Laterne. Er deutete in die Dunkelheit vor ihnen.
»Dort, Fhremus, siehst du die Hilfe, die uns der Schöpfer zum Schutz vor jenen gewährt, die unser Land bedrohen.«
Er hielt die Laterne hoch.
Fhremus blinzelte und versuchte, an dem Licht vorbeizuspähen. Vor ihm im Schmutz lag der gewaltige Leib von etwas, das wie eine gehörnte Schlange oder ein Drache aussah. Es war unmöglich zu sagen, worum es sich in Wirklichkeit handelte, denn es war zum größten Teil aufgefressen, verschlungen mit tausend winzigen Bissen. Als er genauer hinsah, bemerkte er, dass der Kadaver aus geädertem Stein bestand, so wie der Titan, der am Ufer hinter ihnen wartete. Die glasigen Augen waren völlig glatt mit Ausnahme der Löcher, die in sie hineingebohrt worden waren. Ein Schwanz, von dem große Teile fehlten, ringelte sich hinter dem Wesen, während auch die Überreste von Schwingen zu sehen waren, die bis auf die Steinknorpel abgenagt waren. Aus dieser Statue schien so etwas wie Gras oder Korn zu wachsen; sie wirkte wie eine Skulptur, die man in einem Feld liegen gelassen hatte.
Und überall um sie herum schwärmten schreiende Heuschrecken, von denen die meisten so groß wie Fhremus’ Hand oder sogar noch größer waren. Sie nährten sich gierig von dem Korn und dem Kadaver selbst.
Doch im Gegensatz zu den Jungtieren in der Zisterne schienen diese wirklich fliegen zu können.
Talquist drehte sich zu dem Giganten um. »Faron, bitte bring uns eine.«
Der Titan schaute kurz auf das grüne, schleimige Wasser hinunter und watete dann hindurch. Fhremus hielt unwillkürlich den Atem an, als der Gigant an ihm vorbeischritt, wobei das Wasser an seinen Stiefeln hochschwappte. Die Statue ging weiter und ließ sich von dem Angriff der ausschwärmenden Kreaturen nicht beeindrucken. Schließlich hatte der Gigant deren Futterplatz erreicht. Er streckte mit erschreckender Geschwindigkeit eine Hand aus und packte eines der Insekten. Ein furchtbares Knacken hallte durch die Kaverne. Fhremus zuckte zusammen. Dann watete der Titan zurück zu der Stelle, wo der Kaufmann stand. »Streck deine Hand aus, Fhremus«, sagte Talquist leise.
Der Kommandant atmete tief durch und gehorchte.
Der Riese starrte auf ihn hinunter; seine milchigblauen Augen glommen im Licht der Laterne. Er warf Fhremus die Heuschrecke auf die Handfläche und kehrte dann zum Ufer zurück.
»Sieh sie dir an«, flüsterte Talquist mit ehrfürchtiger Stimme.
Fhremus schluckte seinen Abscheu herunter und hielt den Körper der Heuschrecke näher ans Licht. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Wie das kleinere Insekt, das am Rand der Zisterne gegen ihn geflogen war, hatte auch dieses Geschöpf scharfe, kantige Umrisse und rasiermesserscharfe Kiefer und Beine. Doch sein Erscheinungsbild unterschied sich stark von dem des kleineren Tieres. Dieses hier hatte einen schlangenartigen Schwanz, die Flügel waren groß und ähnelten Schwimmhäuten, die Augen hatten senkrechte Pupillen, und der Mund war eher wie der einer Schlange als wie der eines Insekts.
Beinahe drachenartig.
»Bist du jemals in Terreanfor gewesen?«, fragte Talquist, während er beinahe liebevoll mit einem behandschuhten Finger über den zerdrückten Leib fuhr.
»Nur einmal, zur Beerdigung der Herrscherin und ihres Sohnes«, antwortete Fhremus.
»Dann hast du vielleicht die wundervollen Statuen dort gesehen. In der ewigen Dunkelheit, die den Lebendigen Stein der Kathedrale beherbergt, steht eine ganze Menagerie lebensgroßer Statuen: Bäume, die so hoch wie die Kathedralendecke sind, und unter denen Antilopen und Gazellen, Elefanten und Löwen grasen, allesamt in vollkommener Perfektion ausgeführt. Hast du sie gesehen?«
»Ja, Herr.«
»Sie sind ein wunderbarer Anblick, nicht wahr, Fhremus? Vollkommen bis in die kleinste Einzelheit; nichts wurde vergessen. Die Bildhauer, die sie geschaffen haben, müssen Künstler mit unvergleichlichen Fähigkeiten gewesen sein, nicht wahr?«
»Zweifellos, Herr«, antwortete Fhremus und bemühte sich dabei, geduldig und respektvoll zu klingen.
Der Regent sagte verächtlich: »Zweifellos, ja, Fhremus, denn du begreifst nicht, dass die Erde selbst diese Statuen erschaffen hat. Unsere Vorfahren, die Eingeborenen dieses Landes, die schon hier gelebt haben, lange bevor die verfluchten Cymrer mit ihren Erfindungen, ihren Krankheiten und Kriegen kamen, wussten um die Rolle, die der Lebendige Stein bei der Unsterblichkeit spielt. Sie begruben Exemplare von allen Tieren, Blumen und Bäumen im geheiligten Boden von Terreanfor, und aus diesem Boden wuchsen die steinernen Statuen – mit den genauen Abmaßen der Tiere und Pflanzen, die in ihm beerdigt waren.« Er liebkoste die Flügel des Insekts. Es waren auch Soldaten darunter, von denen viele wahre Riesen waren – wie der, den ich geerntet habe, um daraus Faron zu erschaffen, dachte er.
Fhremus sog leise die Luft ein.
»Ihre Eigenschaften überlebten die Kreaturen in mehr als einer Hinsicht, Fhremus«, fuhr Talquist fort. »Die Tiere zum Beispiel wurden nicht nur zu Statuen, sondern sie behielten auch das bei, was an ihnen einzigarig war. Noch immer steckt in den Elefanten eine gigantische Stärke und in den Raubtieren ungeheure Gewandtheit und Schnelligkeit, auch wenn sie für immer erstarrt dastehen. Sogar die Blumen haben ein wenig von ihrem Duft behalten und riechen entfernt noch so wie damals vor vielen Jahrtausenden, als sie in voller Blüte standen. Das ist sicherlich eine Art wahrer Unsterblichkeit.«
Fhremus blieb weiterhin still und kämpfte darum, die vielen Fragen in seinem Kopf zu unterdrücken. Die drängendste lautete, wie der Herrscher wohl zu seinem Wissen gekommen war. Bevor Terreanfor vor kurzem durch ein Erdbeben unzugänglich geworden war, hatten nur die Priester aus dem Kolleg in Jierna’sid Zutritt gehabt, und lediglich die höchstrangigen waren hineingegangen und hatten sich um die Erhaltung der Kathedrale gekümmert. Fhremus war nicht klar, wie Talquist so viel über die Geschichte und das Aussehen dieses Ortes wissen konnte, doch er unterdrückte alle misstrauischen Gedanken, indem er sich wie immer sagte, dass der All-Gott den Herrscher erwählt hatte, und als Soldat war es Fhremus’ Pflicht, die Visionen des Herrschers zu unterstützen und seine Befehle auszuführen. Sein Widerstreben hätte man als Zweifel an der Weisheit des All-Gottes auslegen können.
»Dieser Drache war einmal ein solches Wesen, und nun ist er eine Statue, geformt aus Lebendigem Stein. Zu seinen Lebzeiten hatte er dieselben Fähigkeiten und Kräfte wie alle anderen seiner Art – einschließlich der Fähigkeit des Fliegens. Die Heuschrecken haben das Korn gefressen, das aus seinem Rücken wächst, und daher haben sie ein wenig von seinem Leben und seinen Eigenschaften in sich aufgenommen – einschließlich seiner Flugfähigkeit. Es sind jetzt kleine Halbblute, kleine Mutanten, die sowohl den ihnen eigenen Appetit als auch die Macht haben, lange Strecken im Flug zurückzulegen. Ich nenne sie Iacxsis, denn ich glaube, so hieß der tote Drache. Fass ihn an, Fhremus. Zieh deinen Handschuh aus und befühle seine Haut.« Er kicherte, als er das Entsetzen des gehorchenden Soldaten sah. »Weil sie mit Lebendigem Stein genährt wurden, sind sie hart und haben sogar einen besseren Panzer als ihren eigenen Insektenschild oder die Schuppen eines Wyrms. Und ihr Schrei ist hundertmal lauter als der eines Jungschwarms; er ist Musik in meinen Ohren.«
»Vergebt mir Herr, aber wozu ist das alles gut?«, fragte Fhremus. Die Worte schossen geradezu aus ihm heraus. »Die Gegenwart dieser Geschöpfe in unserem Land bringt doch nur Unheil, oder? Diejenigen, die man in der Natur vorfindet, verursachen Hungersnöte, Seuchen, und Tod. Warum also seid Ihr so froh, sie in noch schrecklicherer Gestalt zu sehen?«
Talquist lächelte. »Auch du wirst bald froh über diese hier sein, Fhremus – wenn du erst die Ausgewachsenen gesehen hast. Komm.«
Er watete aus dem schleimigen Wasser, schüttelte seine Stiefel aus und führte den Kommandanten durch einen weiteren Tunnel, in dem die Feuchtigkeit der Luft sowie das schreckliche Surren allmählich nachließen. Der Steintitan folgte ihnen immer noch lautlos.
Schließlich kamen sie ans Licht. Hier roch die Luft wie in Bergesnähe. Am Ende dieses Tunnels befand sich eine breite, offen stehende Steintür, vor der Talquist stehen blieb. Er konnte sich kaum noch beherrschen.
»Erinnerst du dich daran, wie ich dich vor einigen Monaten gebeten habe, mir ein paar deiner schlankeren Soldaten zu leihen, die die Lungenstärke und die Fähigkeit bewiesen hatten, in unserem Hochgebirge zurechtzukommen?«
»Ja, Herr. Ich hoffe, sie haben Euch gut gedient.«
Der Herrscher grinste breit und trat neben die Tür. »Sieh selbst.«
Fhremus riss sich zusammen und trat auf die Schwelle.
Zuerst war der Kommandant von dem Anblick, der sich ihm bot, verwirrt. Er begriff nicht, was er da sah. Ganz hinten in der Kammer befand sich eine Öffnung; sie glich dem Eingang einer Höhle. Diese Öffnung überblickte den tiefen Abgrund, der die Erde neben Jierna Tal durchschnitt. Seine fernen Spalten und Klüfte lagen in den Schatten der herannahenden Nacht. Nahebei waren einige Tierpferche zu sehen; sie wirkten wie Pferdestallungen und zählten zu Dutzenden. Soldaten schritten die Gänge zwischen den Pferchen ab, besprachen sich miteinander und gingen auf den Koppeln ein und aus.
Er schaute wieder zu der Öffnung über dem Abgrund. Er riss den Mund weit auf, als ein Schatten daran vorbeiglitt und dann in der Dämmerung verschwand.
»Gütiger All-Gott«, murmelte er.
»Gütiger Schöpfer«, berichtigte Talquist ihn geduldig. »Ich begreife, dass es eine Weile dauern wird, bis du dich daran gewöhnt hast. Mach dir keine Sorgen. Sie üben hier, außer Sichtweite der Stadt, wenn die Sonne sinkt. Es ist das Beste, wenn wir es geheim halten, damit uns das Überraschungselement bleibt. Bist du nicht auch dieser Meinung?«
Fhremus sah noch eine Weile gespannt zu, dann drehte er sich zu dem Herrscher um.
»Ja«, sagte er.
Talquist grinste breit und führte den Kommandanten durch den Tunnel zurück in seine Gemächer.
»Verstehst du nun, welch ein Segen das für Sorbold in seinem Kampf gegen eine Invasion ist?«
»Ja, Herr.«
»Daraus schließe ich, dass du die Schritte gutheißt, Fhremus, die ich unternommen habe, um das Überleben unserer geliebten Nation gegen den Angriff des Bündnisses zu verteidigen?«
Fhremus dachte kurz nach. »Es steht mir nicht zu, Eure Entscheidungen zu billigen oder zu missbilligen, Herr«, sagte er ernst. »Die Waage hat Euch zum nächsten Herrscher über unser Vaterland bestimmt. Ich bin froh, dass Ihr erkannt habt, welche Weisheit darin liegt, Sorbold als geeintes Reich zu erhalten, anstatt es aufzulösen, wie es die Grafen wünschten. Ich bin ein Soldat; ich tue, was mein Herrscher befiehlt.«
»Egal ob du es billigst oder nicht?« Die Frage schwebte dick wie Nebel in der Luft.
Fhremus sog die Luft durch den nassen Leinenschal ein, nahm ihn vom Gesicht und atmete langsam wieder aus.
»Ja«, sagte er.
Talquists Augen funkelten schwarz in dem schwachen Licht.
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Aber es ist auf alle Fälle unerlässlich, dass deine Männer und die Familien, die sie zurücklassen, die Bedrohung begreifen, der wir uns gegenübersehen. Wie sagt ihr Soldaten noch, wenn es darum geht, in den Krieg zu ziehen?«
»Der Verteidiger kämpft mit der Stärke von zehn Eroberern.«
»ja«, sagte Talquist sanft. »So ist es.«
»Sie werden es verstehen, Herr«, meinte Fhremus. »Und sie werden bis zum letzten Atemzug kämpfen, um Eure Herrschaft zu sichern.«
Talquist grinste noch breiter.
»Das ist wie Musik in meinen Ohren. Du kannst gehen, Fhremus, aber komm morgen wieder. Wir müssen Pläne schmieden.«
Der Soldat verbeugte sich unbehaglich. »Ja, Herr.« Zum Salut beugte er sich über die Hand des Herrschers, dann verließ er den Raum. Seine Stiefelschritte hallten die Treppe in der Ecke hoch.
Als dieses Geräusch verstummt war, wandte sich Talquist an den Steintitan, der aus den inneren Gemächern hervorgekommen war.
»Ich glaube, er wird seine Sache gut machen, wenigstens zu Anfang, Faron«, sagte er beiläufig. »Danach müssen wir vielleicht einige Veränderungen vornehmen. Meinst du nicht auch?«
Der Steintitan beobachtete den zukünftigen Herrscher einen Moment lang, begab sich wieder in die inneren Gemächer und kam kurz darauf mit einem Gegenstand in seiner riesigen Hand zurück.
Es war eine ovale Schuppe, die am Rand leicht ausgefranst und unregelmäßig geformt war. Viele feine Linien durchzogen sie. In seiner Hand schien sie grau mit einem leichten Stich ins Blaue zu sein, doch als sie das Licht einfing, tanzten alle Farben des Spektrums über ihre rasierklingendünne Oberfläche. In die konvexe Seite war das Abbild eines Auges eingeritzt. Es war deutlich zu sehen und wurde von keinerlei Gewölk überzogen, genau wie das Bild auf der konkaven Seite.
Der Titan hielt die Schale in der Hand und blickte aus dem Balkonfenster. Einen Moment später drehte er sich zu dem Herrscher um und nickte stumm.
Talquist verzog die Lippen zu einem strahlenden Lächeln.
»Gut«, sagte er. »Sehr gut.«
Er stand da und sah zu, wie die Dämmerung zur Nacht wurde und die Sterne im gewaltigen Himmel über Jierna’sid leuchteten.
Ashe hatte gehofft, dass er während der Kriegsvorbereitungen, die mit Lärm und Aufruhr infolge der Ankunft der Herzöge sowie einigem Chaos durch die Verlegung eines großen Teils des Haushalts von Haguefort zur Festung der Hohen Warte einhergingen, seine geistige Gesundheit so lange wie möglich aufrecht erhalten könnte. Ablenkung war gut, meinte er; mit etwas Glück würde die schmerzende Abwesenheit von Frau und Kind aus seinem Einflussbereich und der Reichweite seiner Drachensinne durch den Lärm und Kampf, durch tausend Kleinigkeiten und Entscheidungen und eine Menge anderer Zerstreuungen ersetzt werden, die den Drachen in seinem Blut beschäftigt hielten.
Seine Hoffnung hatte nur wenige Augenblicke angedauert – bis das Hufgetrappel in der Nacht verhallt war. Er fühlte das Kreischen eher, als dass er es hörte; es war das Jammern einer Bestie, der etwas aus ihrem Hort gestohlen worden war. Noch tiefer in seinem Innern spürte er, wie etwas seine Seele entzweiriss, die doch erst vor kurzem geheilt war, als er und Rhapsody endlich wieder vereint gewesen waren.
Als die erste Nacht ohne sie hereinbrach, tröstete sich Ashe damit, vor dem Feuer zu sitzen, das ihn an seine Frau erinnerte. Durch den Dunstschleier der Zeit schaute er zurück auf eine andere Welt, auf einen Ort an dem er glücklich gewesen war. Es war die Zeit vor dem Krieg gewesen, vor der Sintflut, ja sogar noch bevor die beiden Bolg sich Rhapsody zugehörig gefühlt und ihn wegen seiner Ehe mit ihr als Eindringling erachtet hatten.
Als er die Augen schloss, sah er sie so, wie sie damals gewesen war, in der Nacht vor ihrem vierzehnten Geburtstag. Sie hatte ein schlichtes Samtkleid getragen, und ihre Brust war mit einem Ansteckbukett aus einfachen Blumen geschmückt gewesen, das ihr Vater ihr gegeben hatte. Damals war sie dünn gewesen und hatte langes, glattes Haar gehabt, das wie eine Welle aus Samt auf ihrem Rücken gelegen hatte. Ashe lächelte, als er sich an ihren ersten Anblick erinnerte, wie sie sich bei dem Vorerntetanz in der Dunkelheit hinter eine Reihe von Fässern gekauert hatte. Bei diesem Ereignis hatte das Volk ihres menschlichen Vaters immer eine Heiratslotterie abgehalten, und traditionell hatten sich die jungen Leute des Dorfes dabei einen Ehegatten ausgesucht.
Wie er damals dorthin gekommen war, wusste er selbst ein Jahrtausend später noch immer nicht. Er war selbst erst vierzehn gewesen; ein unbeholfener Heranwachsender, der eines schönen Morgens auf der anderen Seite der Zeit in den Ort spaziert war; inzwischen waren seit Rhapsodys Geburt beinahe eintausendfünfhundert Jahre vergangen. Was dann passiert war, stellte für ihn immer noch ein Rätsel dar. Der Wind hatte aufgefrischt, die Morgenvögel hatten laut gesungen, der Tag war wunderbar gewesen. Ein Tag wie jeder andere.
Und dann hatte sich die Welt gedreht.
Ashe vermochte sich noch immer an das Gefühl der Übelkeit und Schwäche zu erinnern, die ihn überfallen hatten, als er von dem Ort, an dem er sich zuvor befunden hatte, weggebracht und in der Nachmittagssonne auf einer Weide bei Myrfeld abgesetzt worden war, einem einfachen Bauerndorf inmitten der Weiten Marschen im Osten der Insel Serendair. Da er in Gegenwart von Magie und Wesen mit uralten Kräften aufgezogen worden war, hatte er recht schnell die Fassung wiedererlangt und ungefähr feststellen können, wo er sich in der Zeit befand, aber nicht, wie er dorthin gekommen war.
All das hatte ihn zum Vorerntetanz und an die Seite eines Mädchens gebracht, das sich auf der Gasse versteckt hatte, weil es sich nicht durch die althergebrachten Zeremonien verheiraten lassen wollte. Vom ersten Augenblick an war er in sie verliebt gewesen, nicht nur weil sie hübsch gewesen war und bei ihrem Anblick alle Säfte seines jungen Körpers zu kreisen begonnen hatten, sondern weil in ihrer Weigerung, als Leibeigene behandelt zu werden, etwas so Moralisches, Unabhängiges und Kluges gelegen hatte, dass er sie dafür einfach hatte bewundern müssen, noch bevor sie sich miteinander bekannt gemacht hatten.
Schließlich hatte er genug Mut gefasst, um ihr auf die Schulter zu klopfen und sie zu bitten, mit ihm im Licht, das aus der Halle fiel, zu tanzen. Danach waren sie zu den Wiesen ihrer Familie gegangen, auf denen ein Weidenbaum, den sie sehr geliebt hatte, über einem Bach gestanden hatte. Ashe schloss die Augen noch fester und lauschte der Musik des Wassers in seinem Kopf. Die außergewöhnliche Befähigung, aufgrund seiner Drachennatur jede Einzelheit wahrzunehmen, erlaubte ihm eine sehr genaue Erinnerung. In gewisser Hinsicht war es so als durchlebe er jene Nacht aufs Neue. Er spürte die Kühle der Luft, sah die Helligkeit der Sterne, roch den morgenfrischen Duft von Rhapsodys Haaren und beobachtete das Glimmern in ihren Augen, die immer heller gebrannt hatten, als sie über Dinge geredet hatte, die sie erregten. Es waren unrealistische Träume gewesen, wie sie der Heiratslotterie entkommen, durch die Welt reisen und den Ozean sehen würde, den ihr Großvater als Seemann befahren hatte. Das war etwas gewesen, wonach sie sich sehr gesehnt, das sie aber nie getan hatte. Und vor allem erinnerte er sich daran, wie sie über ihre Träume gesprochen hatte, über Sterne, die aus dem Himmel in ihre Hand gefallen wären und die sie festgehalten hätte, bis ihr dies eines Tages nicht mehr möglich gewesen war. Da hätte sie die Sterne aus der Hand in den Wiesenbach fallen lassen, von wo aus sie sie weit jenseits ihrer Reichweite angeglimmert hätten.
In jenem Moment hatte er sich entschlossen, ihr diese Träume zu erfüllen, sie mit ihrer erregten Zustimmung zu heiraten und von diesem Bauernland wegzuführen, damit sie die Welt sehen konnte. Dafür hatte er zwei Gründe gehabt. Ob er je in seine eigene Zeit würde zurückkehren können, war ihm beinahe gleichgültig gewesen. Welche Kraft ihn auch immer über die Wellen der Zeit an Rhapsodys Seite getragen hatte, hatte ihn in das Zeitalter kurz vor der Sintflut geführt, als gerade der Krieg auszubrechen drohte, der die Insel Serendair auseinander reißen sollte. Sie mussten eiligst aufbrechen, denn sonst würde seine neu entdeckte Seelenverwandte nichts als ein weiteres Opfer in zweien der größten Tragödien der Geschichte werden.
Sie hatte ihn Sam genannt; mit diesem Namen hatte man in ihrem Ort alle unbekannten jungen Männer angesprochen. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, ihr seinen richtigen Namen zu nennen; es war ein Kosename, den sie immer noch gebrauchte. Ihre Stimme hallte laut und deutlich in seiner Erinnerung wider.
Sam?
Ja?
Glaubst du, wir werden das Meer sehen? Eines Tages, meine ich.
Er hatte es ihr versprochen und ihr gesagt, er werde sie an jeden Ort bringen, den sie sehen wollte, doch bevor sie ihre Pläne in die Tat hatten umsetzen können, war er durch jene unsichtbaren Hände, die ihn zu ihr gebracht hatten, zurück in seine eigene Zeit geholt worden.
Ashe zuckte in der flackernden Hitze der Flammen zusammen. Der dumpfe Schmerz des Verlusts hatte ihn noch nicht verlassen, obwohl sie schon seit vier Jahren in Körper und Seele vereint waren.
Obwohl er wusste, dass sie ihn auf ewig lieben würde.
Obwohl sie ein Kind miteinander hatten, einen Sohn, den er maßlos liebte und den kennen zu lernen er bisher kaum Gelegenheit gehabt hatte. Er bemühte sich, nicht über diesen besonderen Verlust nachzudenken, denn seine Drachennatur war unberechenbar, und er durfte es nicht riskieren, sich ihr auszusetzen; er litt bereits genug.
Tief in ihm ertönte eine Melodie. Es war ein Lied, das Rhapsody ihm oft vorgesungen hatte, wenn sie abends allein gewesen waren, und es handelte von einem Wanderer. Ihr Großvater hatte es ihr beigebracht, als sie noch ein Kind gewesen war. Als sie mit Ashe in der neuen Welt wieder zusammengetroffen war, war er ein solcher Wanderer gewesen, einsam und voller Schmerz; deshalb hatte es sie an ihn erinnert und an den Baum, unter dem sie sich ineinander verliebt hatten. Ashe stellte sie sich vor, wie sie vor ihm saß, die Harfe oder Konzertina in der Hand, und das wohlklingende Lied mit jener Stimme gesungen hatte, die seine Träume heimsuchte.
Ich ward unter der Weide geboren,
Wo mein Vater die Erde bestellt’,
Hatt’ zum Kissen das Gras mir erkoren,
Als Laken die warmen Lüfte der Welt.
Doch Hinfort! Hinfort! rief der Wind aus dem Westen,
Zur Antwort ich alsdann aufbrach,
Sucht’ Ehre und Kitzel der Nerven,
Welche die steigende Sonn’ mir versprach.
Unter dieser Weide die Liebe ich fand,
Eine Liebe, so wahr und so hold,
Ich gab mein Herz und schwor meine Treue,
Besiegelte sie mit einem Kuss und einem Band aus
Gold.
Aber zu den Waffen! Zu den Waffen! rief der Wind aus dem Westen
In Treue lief ich davon,
Marschierte für König und Land
In Schlachten unter der Mittagssonn’.
Oft träumt’ ich von der schönen Weide,
Als ich die sieben Meere befuhr,
Und von der Maid, die zurück ich gelassen,
Und sehnte mich nach ihrer Gegenwart nur.
Doch Dreh um! Dreh um! rief der Wind aus dem Westen,
und abermals fuhr mein Schiff davon.
Die Küste hinunter, durch die weite Welt
Flogen die Segel unter der Sonn’.
Nun liege ich unter der Weide.
Nun streife ich nicht mehr umher,
Meine Braut und die Erde halten mich fest,
Ihre Umarmung verlasse ich nimmermehr.
Wenn Hinfort! Hinfort! der Wind aus dem Westen ruft,
Jenseits des Grabes mein freier Geist
Der Sonne entgegen, in den Morgen hinein,
Jenseits des Himmels, jenseits des Meeres reist.
Sein Drachensinn wurde lebendig, als er ein Prickeln spürte. Er öffnete die Augen.
Seine Frau saß vor dem Feuer. Ihr Lied war zu Ende, und sie lächelte ihn warmherzig an. Seine geschärften Sinne spürten ihre körperliche Gegenwart im Zimmer. Die Luftströmungen brachen sich an einer Gestalt, die schwer und wirklich war, im Gegensatz zu den Träumen und Phantasien, in denen sie nichts als ein Bild in seinem Kopf war, ein Phantom, das mit dem Morgenlicht verschwand. Diese Vision hatte Gewicht und eine Wirklichkeit wie nie zuvor. Ihr Duft, der einfache Geruch von Vanille und Seife, süßen Wiesenblumen und Holzrauch erfüllte seine Nase und führte dazu, dass ihm das Blut in den Schläfen pochte und seine Hände zitterten.
Rhapsody lächelte. Ihre grünen Augen glitzerten und spiegelten das Kaminfeuer wider.
Ashe setzte sich aufrechter in seinem Sessel hin. Zweifellos war sie echt. Das war keine Einbildung, und auch spielten ihm seine Drachensinne keinen Streich. Die Energie ihrer Lebenskraft fuhr über ihn wie Wellen über die See.
Rhapsody, flüsterte er und hatte dabei Angst, das zu zerstören, was entweder ein Wunder oder die Illusion eines verlöschenden Geistes war. Du bist hier.
Im Feuerschein wurde ihr Lächeln noch heller. Ja. Ich bin hier.
Langsam erhob sich Ashe aus dem Sessel und ging vorsichtig zum Feuer. Rhapsody stand ebenfalls auf und streckte ihm zum Willkommensgruß die Arme entgegen.
Er wurde schneller, lief beinahe auf sie zu und nahm sie in die Arme. Er drückte sein Gesicht gegen ihre Halsbeuge und atmete den Duft ihrer Haut ein, vergrub die Lippen in ihrem Haar und schwelgte in ihrer Wirklichkeit, ihrer Festigkeit. Sie war kein Phantom, sondern aus Fleisch und Blut, und in ihrer Brust schlug ein warmes Herz, das gegen sein eigenes klopfte.
Ein entsetztes Keuchen zerriss die Luft.
Der Laut schlug gegen Ashes Stirn wie eine eiskalte Woge. Er lockerte seinen Griff und trat einen Schritt zurück. Sein erschöpfter Verstand versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging.
Vor ihm in den Schatten des Kaminfeuers stand ein junges Kammermädchen, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte; sie zitterte wie ein Blatt im starken Herbstwind. Sie hatte dunkle Haare und Augen, war etwa einen halben Kopf größer als Rhapsody und sah ihr überhaupt nicht ähnlich. Ihr Gesicht war vor Entsetzen weiß geworden, und nun errötete sie in einer Mischung aus Grauen und Verlegenheit.
Genau wie Ashe.
Was alles noch schlimmer machte, war das Wissen, dass so etwas nicht zum ersten Mal geschehen war.
Das Tablett, das sie eben noch in den Händen gehalten hatte, klapperte zu Boden; der Teller mit seinem Abendessen fiel auf den Teppich vor dem Kamin.
Ashe spürte, wie sein Gesicht zu einer Maske erstarrte.
»Ich … ich …«
Der Mund des Kammermädchens stand gleichfalls offen.
»Herr«, flüsterte sie. »Nicht. Bitte.«
Ashe versuchte sich an die Frau zu erinnern. Er glaubte, dass sie aus Bethania stammte und mit einigen weiteren Bediensteten in Gesellschaft von Tristan Steward, dem Regenten von Roland, als Geschenk während Rhapsodys Niederkunft nach Haguefort gekommen war. Die anderen beiden Frauen waren vielleicht Kindermädchen gewesen, doch diese hier war nur eine Dienerin von untergeordnetem Rang, eine Kammermagd, die nun mit Schrecken in den Augen und sichtlich zitternd vor ihm stand.
»Ich … es tut mir so leid«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch das kupferfarbene Haar, das plötzlich schweißnass war. »Ich … ich fühle mich nicht wohl. Bitte vergib mir.«
Die junge Frau verneigte sich rasch, genau wie Ashe, und sammelte die Speisen auf, die nun über den Boden verstreut lagen.
»Das war mein Fehler, Herr«, flüsterte sie nervös.
»Nein«, sagte Ashe. »Keineswegs. Wie ich schon sagte es tut mir sehr leid.«
Er drehte sich rasch um und schoss aus dem Raum aus der Festung hinaus in die kalte Nacht, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Das Kammermädchen sammelte das Essen auf, beruhigte sich rasch wieder und trug alles zurück in die Küche. Sie blieb stehen, als sie das Bibliotheksfenster passierte, und sah, wie Ashe in den Hof eilte, dann innehielt und den Kopf gegen einen Laternenpfahl lehnte. Das Kerzenlicht fiel auf den metallischen Glanz seines Haares, das wie Kohle in der Nacht erglühte.
Am nächsten Morgen fühlte sich Ashe, als litte er unter den Nachwirkungen einer hemmungslosen Zecherei. Nach den ersten Stunden heftigster Kopfschmerzen bereute er es, sich nicht tatsächlich am vergangenen Abend betrunken zu haben, denn auch ein Kater hätte ihm keine größere Pein verursachen können als die Ankunft der Herzöge von Roland.
Er stand auf dem Balkon und hielt eine Tasse mit einem starken Kräutertee in der Hand, den seine Frau oft dazu benutzt hatte, um ihn aus dem tiefen Drachenschlaf zu holen. Er versuchte jeden Wagen zu erkennen, der auf der stark befahrenen Straße dahinfuhr, die von Ost nach West an Hagueforts Toren vorbeiführte. Bogenschützen standen in den kürzlich erneuerten Wachttürmen und boten den Wagen Schutz, während der cymrische Herrscher darüber nachsann, ob er vielleicht den Befehl geben sollte, auf einige der Insassen zu schießen, wenn sie ihre Kutschen verließen.
Der erste der eintreffenden Herzöge wäre ihm wehrlos ausgeliefert gewesen, wie er bemerkte, als Cedric Canderre mit Hilfe seines Lakaien aus der Kutsche kletterte. Aufgrund seines eigenen Verlusts konnte sich Ashe gut in den ältlichen Herzog hineinversetzen. Er war ein Freund, der immer gastfreundlich und höflich gewesen und zwar vielleicht nicht der beste aller Ehemänner, so aber doch ein liebender und hingebungsvoller Vater gewesen war. Hier in Haguefort hatte er beim Winterkarneval, der so viele Menschenleben gekostet hatte, seinen einzigen Sohn und Erben sterben sehen. Sicherlich zerriss es ihm nun das Herz, diesen Ort aufsuchen zu müssen.
Ashe nahm einen Schluck des schlecht schmeckenden Tees und zuckte zusammen. Wenn er nicht so unpässlich gewesen wäre, hätte er das Treffen in der Hohen Warte einberufen, deren Hallen und Verteidigungsanlagen fast fertig waren und wohin sie sehr bald umziehen würden. Auch wenn in der neuen Festung noch nicht sehr gut für das leibliche Wohl gesorgt war, so befand sie sich doch in einem bewohnbaren Zustand und hätte Cedric Canderre die Schmerzen erspart, die er nun zweifellos empfand, als er langsam den gepflasterten Weg nach Haguefort hochlief. Leider, dachte er, gehören solche diplomatischen Überlegungen der Vergangenheit an. Es ist anstrengend genug für mich, einen klaren Kopf zu behalten, nicht wütend zu werden und mich auf das Treffen zu konzentrieren.
Am geöffneten Tor stand Gwydion Navarne mit den Händen auf dem Rücken. Ashe beobachtete dankbar, wie der junge Herzog Cedric Canderre warmherzig begrüßte, ihn beim Arm nahm und in die Festung geleitete. Wie ähnlich er seinem Vater sieht, dachte Ashe, während Gwydion dem älteren Herzog die Tür aufhielt. Vielleicht wird es trotz Rhapsodys Abwesenheit doch noch Gastfreundschaft in diesen Hallen geben. Dieser Gedanke und der Blick hinunter munterten ihn etwas auf. In den Streitgesprächen, die sie bald führen würden, war er froh, seinen Namensvetter neben sich zu haben, auch wenn die anderen die Meinungen des jungen Herzogs wegen dessen Jugend und Unerfahrenheit sicherlich oft ablehnen würden.
Hinter der Kutsche des Herzogs von Canderre warteten zwei weitere; eine stand unmittelbar auf der Straße, die andere manövrierte herum, weil sie die letzte ankommende sein wollte. Die erste trug das Wappen von Yarim, dem trockenen roten Land östlich von Cedric Canderres üppig grüner und fruchtbarer Provinz. Die zweite war mit den Farben von Bethania bemalt, Rolands Hauptstadt sowie seiner zentralen Provinz. Ashe nahm einen weiteren Schluck Tee und hoffte, das Klopfen in seinem Kopf werde bald aufhören.
Ihrman Karsrick, der Herzog von Yarim, wartete lange, bevor er die Tür öffnete und die Stufen der Leiter hinunterschritt. Er schaute in offenbarer Verärgerung auf die Kutsche hinter ihm, die mehr als eine Viertelstunde vor ihm eingetroffen war, und ging dann wütend den Weg hinauf. Sein Missfallen war ihm deutlich an der Haltung von Kinn und Schultern abzulesen.
Der cymrische Herrscher seufzte.
Die Kutsche aus Bethania wartete noch beinahe eine ganze Stunde am Straßenrand, während die Wagen von Quentin Baldasarre und Martin Ivenstrand eintrafen, den Herzögen von Bethe Corbair und Avonderre. Im Gegensatz zu den anderen Gefährten war das von Ivenstrand aus dem Osten gekommen, wo Avonderre mit der einen Seite an Navarne und mit der anderen an das Meer grenzte. Der Herzog von Avonderre stieg aus, schaute sich um und ging dann rasch auf die Festung zu, doch er hielt inne, als die Kutsche aus Bethe Corbair vor das Tor fuhr. Er lief zurück und wartete darauf, dass Quentin Baldasarre ausstieg; dann begleitete er ihn zum Eingang und redete währenddessen mit ihm.
Als schließlich auch die vier übrigen Herzöge eingetroffen waren und sich ihre Kutschen auf den Weg zu den Stallungen gemacht hatten, rollte der Wagen von Tristan Steward, dem Regenten und Herzog von Bethania, langsam auf Hagueforts Tor zu.
Ashe schluckte die Galle herunter, die in ihm aufgestiegen war. Schon seit er ein junger Mann gewesen war, hatte er Tristan Steward nicht gemocht, auch wenn er hart gegen seine Gefühle angekämpft hatte. Im Gehabe des Regenten lag etwas Anmaßendes, das immer wieder den reizbaren Drachen in seinem Blut weckte und entflammte. Wir sollen um das Überleben dieses Kontinents kämpfen, und dieses kleinmütige Rindvieh verschafft sich durch sein Herumkurven den besten Auftritt, dachte er verbittert. Das Bündnis wird genauso von innen wie von außen bedroht.
Er schluckte den Rest des Kräutertees herunter, spürte jedoch keinerlei Stärkung. Dann trat er vom Balkon mit seiner frischen Luft und begab sich zum Konferenzzimmer, wo der strahlende Morgen einem endlosen Tag voll ermüdenden Pläneschmiedens und kleinlicher Nahkämpfe weichen würde, an deren Ende mit etwas Glück ein vereinigtes Heer stehen mochte, das den Mittleren Kontinent vor allzu großem Blutvergießen bewahren sollte.
Gerald Owens Küche war ein sauberer Ort, wo sich die Köche und langjährigen Bediensteten mit großer Planmäßigkeit durch den Tag bewegten und ohne Aufruhr entweder Mahlzeiten für die wenigen ständigen Bewohner Hagueforts oder für die ganze Provinz zubereiteten. So war es schon seit langem; Stephen Navarne hatte zu seinen Lebzeiten als Herzog viele Feiern und Feste, Benennungszeremonien und diplomatische Treffen veranstaltet, so wie es sein Vater vor ihm getan hatte. All das hatte jedes Jahr im Winterkarneval seinen Höhepunkt gefunden, einer Mischung aus religiöser Feierlichkeit, kulturellem Ritual und Volksfest, zu dem die Einwohner des westlichen Drittels von Roland sowie viele ausländische Besucher gekommen waren. Nur sehr wenig vermochte die wie geölt laufende Maschinerie durcheinander zu bringen, die aus dem Personal der Küche und der Speisekammer bestand.
Tristan Steward, der Regent von Roland, war eine dieser seltenen Ausnahmen.
Das Gesicht des alten Kammerherrn hatte eine ungesunde dunkelrote Färbung angenommen, nachdem die Glocke zum dritten Mal geläutet worden war. Er warf ein Handtuch auf die steinerne Oberfläche vor dem Backofen, wobei drei Köche zu verschiedenen Seiten des heißen Raumes liefen, während die Glocke noch beharrlicher geläutet wurde. Dann wandte sich Gerald Owen an die dünne, junge Kammermaid, die der Regent vor einigen Monaten zusammen mit einer bereits bezahlten Amme und einer Kinderfrau nach Haguefort gebracht hatte, und gab ihr einen ungeduldigen Wink. Er erinnerte sich nicht an ihren Namen und versuchte seine Verärgerung zu unterdrücken. Vermutlich hatten sie und die beiden anderen schon mehr als genug während ihrer Dienstzeit in Bethania gelitten.
»Du … Mädchen … bring Seiner Herrschaft den Tee und sorge dafür, dass ein bisschen Rum dabei ist, ansonsten wird er dich dafür zurückschicken. Du hast in seinen Diensten gestanden, also weißt du, dass du ihm aus dem Weg gehen solltest, damit er dich nicht schlagen kann. Aber wenn es dennoch geschehen oder er es zumindest versuchen sollte, dann berichtest du mir das sofort. Der cymrische Herrscher wird sich darum kümmern. Ich habe schon zu viele missbrauchte Diener gesehen, und Gwydion weigert sich, so etwas hinzunehmen.«
»Ja, Herr.« Die junge Frau nahm das silberne Tablett auf und ging auf die Treppe zu. Der Ausdruck gekünstelter Ängstlichkeit wurde einen Augenblick später durch ein Grinsen ersetzt.
Zum dritten Mal in jener Nacht pochte es an Tristan Stewards Tür, und ihm wurde auf seinen Wunsch hin ein alkoholisches Getränk gebracht.
Doch nun war der Regent von Roland zum ersten Mal nicht vollkommen verdrießlich, sondern nur etwas verärgert, was vielleicht dem Dessertlikör zuzuschreiben war, dem eine Karaffe mit Branntwein gefolgt war, aus der er bei den beiden vorhergehenden Malen bedient worden war.
»Wurde auch Zeit, dass du kommst«, murmelte er mürrisch, als das dünne, dunkelhaarige Kammermädchen das Zimmer mit einem silbernen Tablett betrat, das es auf dem Tisch vor dem Kamin abstellte. »Was muss ich deinem dämlichen Kammerherrn sagen, damit ich sicher sein kann, dass du kommst, wenn ich rufe, und nicht irgendein verfluchter Idiot oder ein backenbärtiger Blödmann?«
Die junge Frau lächelte, als sie auf den Regenten von Roland zuschritt.
»Vielleicht solltest du beim nächsten Mal den Tee zuerst bestellen«, sagte sie ohne die geringste Ehrerbietung in der Stimme. »Wenn du darauf beharrst, um Alkohol zu bitten, wird man dir aus der Speisekammer den Weinkellner oder den Oberkellner schicken. Niedrige Kammermädchen servieren Tee, nicht Branntwein.«
»Aber ich mag Branntwein«, sagte Tristan neckisch, setzte sein leeres Glas ab und schritt durch den Raum auf sie zu. »Und ich habe noch andere Bedürfnisse, die nicht mit einem Getränk befriedigt werden können. Das weißt du sehr wohl, Portia.«
Die schwarzen Augen der jungen Frau glitzerten vor Belustigung, als ihr früherer Herr und Meister die Hände in ihr Haar grub und die langen, glänzenden Strähnen mit einer Heftigkeit packte, die seinem trägen Tonfall Hohn sprach.
»Du hast mich also vermisst, ja?«, fragte sie und wehrte sich nicht, als Tristan sie näher an sich zog und seine Finger hinter ihrem Kopf ineinander verhakte. Dunkle Wellen dichter, rauer Seide hüllten ihn ein. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du mich Gwydion andrehen willst wie ein unerwünschtes Bündel Handtücher, nachdem du dich so schnell von mir getrennt hast.«
Tristan Steward kniff die Augen zusammen, als er die Anklage in ihrer rauchigen Stimme hörte.
»Ich habe nichts dergleichen getan«, sagte er tadelnd und verdrehte seine Hände in ihrer Mähne. »Es hat mir wehgetan, mich von dir zu trennen, Portia. Meine Lenden schmerzen seit dem Tag vor vier Monaten, als ich dich an diesem Ort zurückgelassen habe. Deine Mission hier ist von äußerster Wichtigkeit für mich – für uns –, und wenn dem nicht so wäre, dann hätte ich es nie zugelassen, dass du auch nur einen Moment von mir getrennt bist.«
Die Kammermaid griff hinter ihren Kopf und zerrte seine Hände grob herunter.
»Zu deinem Unglück und dem deiner schmerzenden Lenden habe ich im Verlauf meiner Tätigkeit für dich inzwischen begriffen, wie sehr du mich in die Irre geführt hast«, sagte sie schroff, drehte sich von Tristan Steward weg und nahm das Gedeck vom Tablett herunter.
Der Herr von Roland wurde bleich; der Schock zerstörte das Verlangen, das sich in ihm aufgebaut hatte, seit er das zarte Klopfen an der Tür gehört hatte. Nun zitterte er, und ihm war übel. »Was … was meinst du damit?«, stammelte er. »Ich war immer offen und ehrlich zu dir, Portia – sogar unverantwortlich ehrlich. Ich habe mehr Geheimnisse mit dir geteilt, als ich zählen kann, weil ich mir nicht eingestehen wollte, was für ein Narr ich bin.«
Die Kammermaid drehte sich ihm zu, steckte sich das Tablett unter die Arme und hielt es wie einen Schild vor ihren Bauch. Dabei sah sie ihn kalt an.
»Was für Geheimnisse sollen das denn sein?«, fragte sie. In ihrer kehligen Stimme lag eine beißende Schärfe. »Deine tiefe Abneigung gegen deine Frau? Das ist kein Geheimnis, das weiß jeder in Roland, genau wie jedermann um deine Schwäche für Huren und Flittchen weiß. Alle sehen doch ihre Parade, die jedes Mal dann erscheint, wenn die Herrin Madeleine Bethania verlässt, um ihre Familie in Canderre zu besuchen. Das ist ein offenes Geheimnis, Tristan, und es wäre wirklich ein Wunder, wenn Madeleine davon keine Ahnung hätte. Dafür mache ich dich nicht verantwortlich, denn sie ist wirklich ein gewaltiges Biest. Aber es ist nicht unbedingt schmeichelhaft, einfach nur die neueste in einer Reihe namenloser Huren zu sein, die du zur Befriedigung deiner Lust und zum Entladen deiner Frustrationen benutzt. Falls du erwarten solltest, dass ich dir dankbar bin: Ich bin es nicht.«
»Du bist für mich doch keine namenlose Hure, Portia«, sagte Tristan sanft. »Du hast gehört, wie ich immer wieder deinen Namen ausgesprochen habe, und jedes Mal mit Hochachtung und Vergnügen. Und unsere Liebesspiele scheinen dich keinesfalls herabgewürdigt oder entehrt zu haben. Ich achte, ja ich bewundere sogar deinen Mangel an Scham, deine Phantasie, deine Unverschämtheit, deinen Eifer, dein Feuer und deine Verachtung aller Höflichkeitsformen. Du bist nicht mein Spielzeug; du bist sehr wichtig für mich, und ich habe dir einige meiner bedeutendsten Geheimnisse verraten. Du solltest dich nicht beleidigt, sondern geehrt fühlen.«
Portia sah ihn noch eindringlicher an. »Geehrt? Oh. Beziehst du dich darauf, dass du mich mit deinem Bruder teilst, dem heiligmäßigen Segner von Canderre-Yaim? Ist es das, was du damit meinst? Soll ich mich etwa geehrt fühlen, weil ich das Geheimnis unserer Treffen kenne, sowohl mit dir als auch ohne dich? Glaubst du, es könnte etwas mit deinen Schwierigkeiten in Bethania zu tun haben, wenn der Segner das ihm auferlegte Zölibat bricht? Vielleicht erheitert es den All-Gott nicht sehr, wenn er sieht, wie einer seiner heiligsten Diener meinen nackten Körper als Tisch für seine abendlichen Mahlzeiten benutzt oder lüsterne Spiele von Fuchs und Hund spielt oder mich so rammelt wie du …«
Tristan hielt ihr die Hand vor den Mund und warf einen raschen Blick über seine Schulter, dann starrte er sie an. Flammen tanzten in ihren schwarzen Augen und wechselten von Belustigung zu Grausamkeit und wieder zurück.
»Sprich nicht so laut«, sagte er gelassen. »Festungswände haben Ohren – gerade du solltest das wissen.«
»Die einzigen Ohren, die diese Festungswände haben sind meine eigenen«, gab Portia zurück. »Ich habe genau das getan, was du von mir verlangt hast. Ich habe die Ohren gegen jede Wand gehalten, habe auf der Schwelle jeder Tür gestanden in der Hoffnung, die Informationen zu bekommen, die du haben willst, damit du den Mann zu Fall bringen kannst, den du so hasst …«
»Ich hasse Gwydion nicht«, unterbrach Tristan sie rasch. »Das habe ich nie gesagt. Ich verüble es ihm nur, das er an meiner statt zum cymrischen Herrscher geworden ist.« Wut flackerte in seinen blauen Augen auf, die auch die Flammen aus dem Kamin widerspiegelten. »Ich hatte dieses Amt zwanzig Jahre lang inne und genoss dabei weder Macht noch Anerkennung, während er sich versteckt gehalten und vorgegeben hat, er wäre tot. Ich bin derjenige, der Roland zusammengehalten und den Mittleren Kontinent davor bewahrt hat, in Chaos und Krieg zu versinken. Ich war es, der diese Festung während des Angriffs der Sorbolder bei dem Winterkarneval vor vier Jahren verteidigt hat. Du bist zu jung, um dich daran zu erinnern; ich glaube, damals hast du noch gar nicht in Roland gelebt. Aber ich habe diesem Land alles gegeben, als es geteilt war, und es beschützt, als es verwundbar war. Doch trotz meines Verwaltungsamtes und all meiner Bemühungen wurde mir der Thron beständig verweigert. Und als Gwydion auftauchte, hat man mich einfach weggeworfen und mir eine lächerliche Regentschaft gegeben. Ich habe nichts von dem bekommen, was mir von Rechts wegen zusteht. Ich habe dich ins Vertrauen gezogen, damit du mir hilfst, den Thron zurückzuerobern – und ihn dann mit mir zu teilen. Wieso sollte dich das beleidigen?«
Portias Augen verengten sich zu schimmernden Schlitzen, doch ihre Mundwinkel hoben sich in einem schwachen Lächeln.
»Du bist ein Lügner«, sagte sie, aber es lag ein Feuer in ihrer Stimme, unter dem sich die Knoten in Tristans Unterleib lösten. »Dein Befehl, den cymrischen Herrscher zu verführen, während seine Frau von der Schwangerschaft aufgedunsen war, hatte nichts mit deinem Verlangen nach dem Thron zu tun. Und das weißt du sehr wohl.«
»Na … natürlich hatte es etwas damit zu tun«, stammelte Tristan.
»Lügner«, sagte Portia noch einmal. Diesmal war ihre Stimme ungemein verführerisch. »Ich bezweifle nicht, dass du dich nach der Stellung des Herrschers sehnst; auch das weiß jedermann. Es ist ein weiteres deiner allzu offensichtlichen Geheimnisse. Als ich nach Roland kam, hatte ich es schon nach wenigen Stunden gehört. Aber das ist nicht der Grund, warum du mir befohlen hast, ihn zu verführen. Du wolltest seine Ehe zerstören, weil du von seiner Frau wie besessen bist. Du willst sie für dich haben.«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Tristan, aber die Hitze in Portias Stimme und ihr Lächeln schwächten seine Verteidigung. Das hatte er schon einmal erlebt. Es war eine riskante Erleichterung, die er in seiner qualvollen Existenz nur selten spürte. Er nahm das Tablett aus Portias Händen und ließ es auf den Teppich fallen.
»Ich bin hier nicht diejenige, die sich lächerlich macht«, sagte Portia und trat auf ihn zu. »Ich bin auch nicht blind gegen deine Täuschungen. Du hast gesagt, ich soll meine Verführungskünste bei Gwydion einsetzen, damit er mir Geheimnisse mitteilt, die für dich in deinem Bemühen nützlich sein könnten, ihn vom Thron zu verdrängen. Aber du wusstest genau, dass das nie geschehen würde. Seiner Frau gehört jeder Winkel seiner Seele, und umgekehrt ist es genauso. Sie war nur kurze Zeit in dieser Festung, während ich schon lange hier bin, und selbst in dieser Zeit war es schon deutlich zu sehen. Außerdem ist ihm der Thron fast egal. Er sieht ihn als unangenehme, unausweichliche Pflicht an und sehnt sich nach dem Tag, an dem jemand anderes – jemand, der dafür bestens geeignet ist – die Herrschaft übernimmt.« Sie streckte eine Hand aus und strich Tristan über das Gesicht, womit sie ihren Worten den Stachel nehmen wollte. »Ich weiß nicht, warum du mir nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt hast. Wenn ich sie gewusst hätte, wäre es mir so viel einfacher gewesen, dir zu helfen.«
»W … wie?«, fragte Tristan. Die Hitze in seinem Blut stieg und durchströmte ihn angenehm. Er bekam eine schmerzhafte Erektion.
Portia grinste breiter. Sie wandte sich von dem knisternden Feuer ab, ging hinüber zu den großen Fenstern, die auf den winzigen Balkon hinausführten, und bewunderte ihr Spiegelbild in den Scheiben.
»Im Gegensatz zu dir, der ein Biest zur Frau hat, wollen weder Gwydion noch Rhapsody einen Seitensprung begehen. Daher kann der eine den anderen nur betrügen, wenn er oder sie getäuscht wird«, sagte sie träge und kicherte, als sie sah, wie die welligen Scheiben ihr Gesicht verzerrten. »Sie beide oder einen von ihnen zu täuschen, ist eine echte Herausforderung. Man kann niemanden hintergehen, der eine so besondere Beziehung zur Wahrheit hat wie diese beiden. Der cymrische Herr hat Drachenblut in den Adern, und daher reicht sein Bewusstsein weit über die Grenzen der normalen Wahrnehmung hinaus. Und in der Festung geht das Gerücht um, dass die Herrin eine Sternensängerin, eine Benennerin ist und daher sowohl aufgrund ihrer Art als auch durch die Hingabe an ihre Berufung der Wahrheit verpflichtet ist, wodurch sie jede Lüge sehr schnell erkennt.« Sie strich mit den Fingern träge über den schweren Samtvorhang, der das Fenster umrahmte.
»Und wie willst du diese Täuschung hinbekommen?«, fragte Tristan, dessen Kopf vom Blutmangel leicht wurde.
Portia drehte sich wieder zu ihm um; in ihren Augen tanzte ein böses Licht.
»Gar nicht«, sagte sie brüsk. »Sie werden es für mich tun, und zwar auf die einzig mögliche Weise. Sie werden sich selbst täuschen. Jetzt, da sie wieder von hier fort ist, wird es einfacher sein. Die dämliche Innigkeit ihrer Liebe zueinander wird ihr Verhängnis sein, und wenn das geschieht, wird sie für immer vernichtet sein. Das klingt zwar melodramatisch, aber es ist wahr. Und wenn es geschieht, dann wird die Welt für uns alle schöner sein.« Sie glitt mit den Händen in die Nackenöffnung von Tristans Hemd; ihr Mund folgte.
»Sag … sag mir wie«, keuchte Tristan, dessen Stimme schwankte, als die Wärme von Portia Atem ihm die Haut wärmte und ihre Zähne zart gegen sein Schlüsselbein drückten.
Ihr heißer Mund fuhr langsam an seinem Hals hinauf bis zum Ohrläppchen.
»Du musst mir einfach nur vertrauen, Herr«, sagte sie neckisch. »Du weißt doch, dass ich so etwas schon seit sehr langer Zeit mache. Du hast genug von meinen Talenten erlebt, um das zu wissen.«
»Ja, das habe ich«, murmelte Tristan schwach. »Hast du die Tür verriegelt?«
Mit einem kreischenden Geräusch riss Portia ihm das Hemd auf. Ihre Augen leuchteten vor Erregung.
»Natürlich nicht«, sagte sie mit heiser gewordener Stimme. »Das Risiko, entdeckt zu werden, macht alles nur noch erregender. Hast du mir das nicht immer gesagt, wenn du mich in unserer eigenen Festung in einem Alkoven oder hinter dem Sofa genommen hast?« Mit ungeduldigen Fingern nestelte sie die Bänder seiner Hose auf. »Ich kann dir versichern, dass die Küchenbediensteten die Nase voll von dir haben und alles tun werden, damit sie nicht in deine Nähe kommen. Und die anderen Mitglieder des Herzogskonzils hatten heute schon genug von dir, daran habe ich keinen Zweifel. Also besteht kaum die Gefahr, dass wir gestört werden.« Sie grinste breiter, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie ergriff den Herrn von Roland fest und fuhr ihm mit den Zähnen über das Kinn bis unter die Lippe.
»Aber«, fuhr sie fort, als sie bemerkte, wie ihm der Atem ausging, »wenn du willst, kann ich jetzt aufhören, zur Tür gehen und auf dem Korridor nachsehen, ob jemand kommt …«
»Nein«, keuchte Tristan heiser. »Nein!«
Portia kicherte. »Wie du willst«, sagte sie, ließ seine Hose zu Boden fallen und folgte ihr mit dem Mund.
Damit er nicht ohnmächtig wurde, zählte Tristan die Atemzüge, bis der Liebesakt, den er so schmerzlich herbeigesehnt hatte, schließlich begann. Als Portia ihm schließlich nach neckischen Verzögerungen zu Willen war, spürte er, wie seine Muskeln erschlafften und sein Körper unter ihr auf dem Boden zusammensackte. Im Gegensatz zu ihrer letzten Vereinigung, die vor vier Monaten in der Nacht, als er sie verlassen hatte, auf demselben Boden stattgefunden hatte, war es diesmal er selbst gewesen, der nackt und völlig verwundbar war, während Portia noch fast völlig angekleidet war und die Lage unter Kontrolle hatte.
Er konnte es nicht ändern, konnte die Position nicht mehr umkehren und seine Stellung als Herr der unterwürfigen Dienerin einnehmen.
Selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er kein Verlangen danach gehabt.
Stattdessen ergab er sich ihren Diensten und erlaubte ihr atemlos, ihn wie ein gehorsames Pferd zu behandeln. Auch als sie auf ihn kletterte, ihn packte und wild ritt, verspürte er den süßen Trost des Ausgeliefertseins und die hilflose Freiheit, die sich einstellt, wenn eine gequälte Seele auf jede verbliebene Kontrolle über ihr eigenes Schicksal verzichtet.
Er empfand eine schleichende Verwirrung, die sich wie ein rieselnder Bach oder wie Weinranken einen Weg zu seinem Herzen bahnte, und fühlte ein seelentiefes Bedürfnis nach Erlösung, die ihr heißes Fleisch aus ihm zog, wie ein Breiumschlag das Gift aus einer entzündeten Stelle saugt. Es heilte ihn, riss das Gefängnis seines unglücklichen Lebens ein und band ihn freudig an seine junge Dienerin. Er wusste, dass er diese Verbindung nie wieder ohne Schmerzen auflösen könnte. Dieses Gefühl machte ihn schwach vor Dankbarkeit.
Nach vielen vergeblichen Versuchen, den Gipfel der Lust zu erklimmen, während Portia ihn immer wieder an den Rand der Ekstase brachte, nur um sie erneut hinauszuzögern, erlöste sie ihn nun endlich und ließ es zu, dass all das Gift und die Enttäuschung, die in seiner Seele gewurzelt hatten, in einem heißen Ausbruch körperlicher und geistiger Lust aus ihm hervorschossen. Tristan gelang es, seinen umwölkten Blick einen Moment lang auf ihr Gesicht zu richten. Hinter ihr sprangen die Flammenzungen, und sie schaute eindringlich auf ihn herunter. Ihr Gesicht war keine starre Maske der Lust, mit offenen Lippen, zwischen denen Stöhnen hervordrang, wie er es vermutet hatte, sondern es zeigte eher einen Ausdruck eingehenden Interesses. In diesem Augenblick, bevor ihm die letzten wilden Stöße wieder lustvolles Vergessen schenkten, hatte Tristan Steward den Eindruck, dass sie nach etwas Tieferem in ihm suchte, was er gar nicht besaß.
Dieser Gedanke währte nur einen Augenblick.
Als sie später nebeneinander vor dem knisternden, heißen Kaminfeuer lagen, ergriff der Herr von Roland die Hand der jungen Frau und küsste sie dankbar. Er war glücklich darüber, dass er sich noch immer mit einem Geist verbunden fühlte, der dem seiner verachteten Frau und seiner eigenen nachlässigen Natur so unähnlich war, auch wenn die höchste Leidenschaft inzwischen wieder abgeklungen war.
»Wenn ich bei dir bin, fühle ich mich stark, Portia«, sagte er leise. »Dann habe ich den Eindruck, dass die Welt nicht einfach nur an mir vorbeizieht.«
Die junge Frau reckte und streckte sich vor dem Feuer; ihre schimmernde Haut war nass vor Schweiß.
»Stets zu Diensten, Herr«, antwortete sie und fuhr ihm mit den Fingern beiläufig durch die feuchten, kastanienbraunen Locken. »Deine Befriedigung ist die größte Freude für jemanden von meinem niedrigen Stand.«
»Es tut mir so leid, dass ich dir das Gefühl gegeben habe, du wärest weniger, als du bist«, fuhr Tristan fort. Seine Stärke schwand dahin, als die Erschöpfung einsetzte. »Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich dich angeblich so behandelt habe, als wärest du eine namenlose Hure. Du bist so viel mehr für mich.«
Portia stützte sich auf den Ellbogen und kicherte. »Du hast unrecht. Ich habe nichts dagegen, wenn du mich als Hure ansiehst. Ich bin tatsächlich eine Hure, und zwar eine der schamlosesten. Aber ich bin nicht namenlos. Ich schätze meinen Namen sehr. Als niedrige Dienstmagd musste ich ihn lange Zeit verbergen und unausgesprochen lassen. Sogar dieser schmierige Kammerherr redet mich kaum anders an als mit ›du, Mädchen‹. Aber wenn meine Arbeit beendet ist, werden die Mächtigen meinen Namen aussprechen und erzittern.« In ihren Augen funkelte es. »Angefangen mit dir, mein Herr.«
Schläfrig rollte sich Tristan Steward näher an sie heran und küsste ihr Ohr. »Portia«, flüsterte er sanft. »Ich erzittere, Portia.«
Die Frau lächelte nur; das zischende Feuer erhellte sie. Sie wartete, bis der Herr von Roland beinahe eingeschlafen war, dann stützte sie sich mit den Händen ab, legte die Lippen an sein Ohr und flüsterte ihren Namen hinein, bis er endlich schlummerte.
Wenn er wacher gewesen wäre, hätte er nur das Geräusch der knisternden Flammen gehört.
Mitten in derselben Nacht lag der nackte Herr von Roland zitternd und allein auf dem Boden vor den erlöschenden Kohlen im Kamin. Seine Träume der Erschöpfung waren von einem überwältigenden Gefühl des Verlustes geprägt; es war ihm, als wandere er ohne ein Licht durch dunkle Kavernen. In seinem Schlummer versank er in Verzweiflung, als er spürte, wie ein weiches Laken über ihn gebreitet wurde und ihn eine sanfte Hand mit angenehm schwieligen Fingerspitzen an den Brauen liebkoste. Sein Körper, der unter dem Verlust von Portias Wärme sowie dem des Kaminfeuers fror, erkannte die Gegenwart einer köstlichen Hitze neben ihm.
Tristan Steward blinzelte und rollte auf den Rücken.
In der Dunkelheit kniete eine Frau neben ihm; ihre langen goldenen Locken fingen die letzten Strahlen der verblassenden Kohlen ein. Tristan vermochte ihre Gestalt kaum von den Schatten zu unterscheiden, die sie umgaben, doch die Linien ihres kleinen Gesichts und ihrer großen, dunkelgrünen Augen sah er in jedem wachen Moment vor sich. Der vertraute Duft von Vanille und Gewürzseife, Wiesenblumen und Sandelholz drang ihm in die Nase und vertrieb den schalen Geruch von Einsamkeit und Asche, der noch kurz zuvor da gewesen war.
»Rhapsody?«, flüsterte er. Sein Kopf war noch vom Alkohol umnebelt und sein Körper erschöpft von der sexuellen Raserei.
Sie lächelte ihn an. In ihren Augen lagen Wärme und Freundlichkeit, aber kein Mitleid.
»Es schien dir kalt zu sein«, sagte sie und zog das Laken noch enger um ihn. »Ich mag es nicht, wenn in meinem Haus jemand friert.«
Tristan bemühte sich, sie in dem schwachen Licht genauer zu sehen. »Du … du bist hier? Bist du ein Traum?«
Sie kicherte und ging zum Kamin. Ihr schweres Brokatkleid raschelte musikalisch in seinen Ohren, als sie an seinem Kopf vorbeischritt. Die Kohlen glühten auf, während sie sich ihnen näherte; das war ein Phänomen, das Tristan schon viele Male in ihrer Gegenwart wahrgenommen hatte. Es war, als grüßten die letzten Funken sie ehrerbietig. Sie rückte den Schild beiseite, nahm zwei Scheite und legte sie vorsichtig in die Asche. Ihre Hände schienen gegen den Biss des Feuers unempfindlich zu sein.
Das Kaminfeuer entzündete sich sofort wieder, Flammen leckten wie zum Willkommensgruß hoch, verbreiteten zuckende Helligkeit in dem dunklen Raum und vertrieben die meisten Schatten. Tristan beobachtete sie wie versteinert, als sie an seine Seite zurückkehrte und erneut neben ihm auf den Boden sank.
»Kein Traum, nein«, sagte sie sanft. »Als Benennerin höre ich den stummen Ruf derer, die verzweifelt sind, und kann die Grenzen von Raum und Zeit übersteigen, um zu ihnen zu kommen, wenn ihre Not sehr groß ist.« Sie strich ihm abermals eine Hand voll rot-brauner Locken aus der Stirn. »Du musst sehr große Schmerzen haben, wenn du mich aus solcher Entfernung rufst. Sei nicht traurig, Tristan. Du hast so vieles in deinem Leben wofür du dankbar sein darfst.«
»Ich weiß«, meinte Tristan und bemühte sich, wacher zu werden. »Ich weiß, Rhapsody, ich bin gesegnet, aber …« Die Worte gingen ihm aus, und seine Stimme schwankte unter dem Gewicht seiner selbstsüchtigen Nöte und seiner Besessenheit.
»Aber was?«
Er stützte sich auf die Ellbogen und schaute hoch in ihr vollkommenes Gesicht.
»Das ist nicht genug«, sagte er schließlich. »Es ist nicht genug.«
Das Lächeln verließ ihre Augen und Lippen und wurde von einem Ausdruck nachdenklicher Traurigkeit ersetzt.
»Was würde denn genug sein, Tristan?«
Alle Barrieren, die er in dem Versuch errichtet hatte, sein Verlangen in Grenzen zu halten, gesellschaftlich annehmbar zu bleiben und Rhapsody nicht zu vertreiben, gaben angesichts der vermutlich einzigen Gelegenheit nach, es ihr offen und ehrlich zu sagen.
»Du«, flüsterte er. »Du. Ich brauche dich. Seit dem ersten Mal, als du vor langer Zeit zu mir gekommen bist, um den Schutz der Bolg gebeten hast und ich dich fortgeschickt habe, spüre ich einen Abgrund in mir. Ich verfluche mich, weil ich so blind war, so dumm …«
»Halt«, sagte sie und legte ihm ihre kleine, warme Hand auf die Lippen. »Zwischen uns gibt es nichts, was zu bedauern wäre. All das ist gekommen und gegangen, und ich bin immer noch hier.«
»Ich brauche dich«, sagte Tristan erneut. Die Worte trommelten platt und dumm gegen sein Trommelfell.
»Und ich bin hier.«
»Nicht so«, beharrte er, ergriff ihre Hand, presste sie wieder gegen seine Lippen und legte sie ihr dann an die Wange. Ihre Wärme und Festigkeit erfreuten ihn; bis zu diesem Augenblick war er nicht sicher gewesen, ob sie nicht doch bloß ein Traum, ein Gebilde seiner trunkenen Phantasie war. »Ich will dich lieben, Rhapsody.« Sie stieß scharf die Luft aus und zog ihre Hand fort. »Wir sind mit anderen Partnern verheiratet«, sagte sie nur. »Wir haben Kinder mit anderen Partnern.«
»Ich weiß, ich weiß«, meinte Tristan Steward. Die Erschöpfung und die späte Stunde machten seinen Kopf leicht, und seine Worte hallten dümmlich in seinem Hirn wider.
»Dann weißt du, dass das, worum du bittest, niemals Wirklichkeit werden kann«, sagte sie, aber ihre Worte enthielten keine Anklage.
Die Schönheit ihres Gesichts, die Wärme ihres Körpers in dem ansonsten kalten Raum, ja sogar die Sanftheit ihrer ablehnenden Worte waren mehr, als Tristans zerrissenes Herz und benebelter Verstand ertragen konnten. Er weinte; angesichts dieses unnennbaren Verlustes rannen ihm schmerzliche Tränen in Rinnsalen des Selbstmitleids über die Wangen. Sie musste die Ernsthaftigkeit seiner Qualen erkannt haben, denn sie sah ihn mit großen Augen besorgt an, streckte schnell die Hand aus und legte sie ihm wieder auf die raue Wange.
»Hör auf«, sagte sie leise. »Hör auf damit, bitte. Das ist nicht nötig. Hör auf.«
Tristan ließ den Kopf auf die Brust sinken; er konnte sie nicht länger ansehen. Selbst wenn er sie nicht betrachtete, spürte er, wie ihre Bestürzung wuchs, doch er konnte sich nicht genug zusammenreißen, um die Lage wieder unverfänglich zu machen.
Sie legte ihm die zweite Hand auf die andere Wange »Bitte, bitte sei nicht traurig«, sagte sie. »Ich habe den langen Weg zurückgelegt, um dich zu trösten, Tristan nicht um dir Schmerzen zuzufügen.«
»Dann tröste mich«, platzte Tristan heraus. »Tröste mich, Rhapsody.«
Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben brachte Tristan es fertig, mit Körper und Geist gleichzeitig zu handeln und die notwendige Initiative zu ergreifen. Er streckte die Hand aus und zog Rhapsody in seine Arme. Dabei schenkte er ihrer verblüfften Miene keine Beachtung, sondern drückte ihren Körper fieberhaft gegen den seinen.
Er war auf einen heftigen Schlag ins Gesicht vorbereitet und darauf, dass sie sich ihm gewaltsam entziehen würde, doch stattdessen erstarrte sie, und ihre smaragdgrünen Augen glitzerten in einer Gefühlsregung, die er nicht beschreiben konnte. Zuerst glaubte er, es könnte Angst sein, doch davon war keine Spur zu sehen; es war eher ein intensiver Blick der Verwirrung, vermischt mit Sympathie und – vielleicht nur in seiner Einbildung – einer Spur Verlangen.
Er entschied sich zu glauben, dass es so war.
Er sagte nichts mehr, warf alle Vorsicht und allen Anstand über Bord, küsste sie und bedeckte vollständig ihren würzigen, roten Mund mit dem seinen, fast als wollte er ihr nicht nur den Atem, sondern auch alle möglichen Einwände rauben.
Wenn all das Warten und die lange gehegten Phantasien verblassen und der Moment plötzlich gekommen ist, auf den man jahrelang vergeblich gewartet hat, dann verändert sich das Gewicht der Zeit, wie Tristan feststellen musste. Das Blut hämmerte ihm im Gleichklang mit einem rasenden Herzen in den Ohren und überlagerte alle anderen Geräusche. Die Zeit verlangsamte sich; schwach hörte er Rhapsodys Stimme hinter dem Pochen, wann immer er seinen Mund von ihrem nahm. Sein Name war das einzige Wort, das er verstand, doch ob es in Leidenschaft oder Ablehnung wiederholt wurde, vermochte er nicht zu sagen.
Der schwere Stoff ihres brokatenen Morgenmantels wisperte zwischen seinen zitternden Händen. Unter dem Mantel war sie nackt, und als er nach ihr tastete, fühlte sie sich warm an. Wie ein Frierender, der ein flackerndes Feuer findet, drückte er sich näher an sie, wurde fordernder, fand keinen Widerstand, keine Grenze, nur Einverständnis, nur Willkommen.
Wie viele Herzschläge ihr Liebesakt dauerte, vermochte Tristan nicht abzuschätzen; er wusste nur, dass die Zeit stillgestanden hatte, während ihm die Gnade gewährt worden war, das zu erlangen, was er als unerreichbar angesehen hatte. Als sie die Arme und Beine um ihn schlang und sein Gesicht liebevoll zwischen die Hände nahm, musste der Herr von Roland weinen. Er vergoss heiße, schmerzliche Tränen des Unglaubens und Jubels, weil sein Verlangen und seine Liebe von der Frau erwidert worden waren, die seine Seele an dem Tag gestohlen hatte, da er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Als er es nicht mehr aushielt, zog er sie noch enger an sich und vergrub sein Gesicht dankbar in den Wellen ihres blonden Haars. Er küsste ihren Hals, der von Leidenschaft und Feuer schweißnass war, und flüsterte ihr ins Ohr:
»Diese Nacht friert niemand in deinem Haus.«
Er spürte, wie sie an seinem Hals lächelte.
Sie zog sich ein wenig zurück, lag in seiner Armbeuge und lächelte ihn an; das Licht des Kaminfeuers tanzte in ihren Augen.
»Bist du jetzt getröstet, Tristan?«
Der Herr von Roland seufzte glücklich. »Unermesslich.« Er stützte sich auf seinen Ellbogen und lauschte in Richtung der Tür. Als er nichts aus dem Korridor dahinter vernahm, strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du sollst wissen, dass ich diese Nacht für immer als heilig halten werde …« Seine Stimme versagte, aber er zwang sich weiterzusprechen, denn er wollte diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. »Und alle Nächte, die noch kommen werden.«
Der Feuerschein in ihren Smaragdaugen wurde schwächer.
»Nächte, die noch kommen werden?«
»Ja«, platzte Tristan Steward heraus. »Jetzt, da wir … da ich und du …« Seine Worte wurden langsamer, als sich ihre Miene veränderte und vor seinen Augen einen Ausdruck der Wachsamkeit annahm. »Du brauchst nicht zu befürchten, dass Gwydion es herausfindet, Rhapsody. Wir werden von jetzt an vorsichtig sein. Ich würde ihm niemals verraten, was wir getan haben, unter keinen Umständen.«
Sie stieß scharf die Luft aus. »Sag ihm, was du willst«, meinte sie barsch. »Er wird dir sowieso nicht glauben.«
Tristan zuckte zusammen, als ob er geschlagen worden wäre. Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht klar gewesen, dass er von ihr Dankbarkeit für sein Schweigen erwartete. »Nein, nein, ich würde dich nie verraten … ich liebe dich … ich will nicht alles zerstören, was für dich von Wert ist. Wenn ich nur weiß, dass ich dir nicht egal bin …« Seine Worte verstummten angesichts ihres leeren Gesichtsausdrucks. »Du … empfindest doch etwas für mich, Rhapsody? Das musst du doch, wo du so zu mir gekommen bist …«
»Natürlich empfinde ich etwas für dich, Tristan«, sagte sie und regte sich unbehaglich in seinen Armen.
Tristan spürte, wie seine verblassende Hoffnung zurückkehrte. »Dann werden wir uns weiterhin heimlich treffen?«, fragte er. Unbewusst fasste er sie fester, während sie sich heftiger in seiner Umarmung wand, als wollte sie sich von ihm befreien.
»Natürlich können wir … ach, verdammt, es reicht. Das macht mich krank. Lass mich endlich los, ich bekomme keine Luft mehr.«
Mit einem beinahe gewalttätigen Stoß machte sie sich aus seinen Armen frei, erhob sich, wandte sich von ihm ab und strich dabei ihren Morgenmantel glatt.
Zu Tristans tiefstem Entsetzen wuchsen ihr Körper und ihr Schatten, während sie aufstand, und nahmen eine Gestalt und einen Umfang an, den sie noch einen Augenblick zuvor nicht gehabt hatten. Im verdämmernden Licht des Kaminfeuers schien ihr Haar dunkler und ihr Gesicht länger zu werden, und als sie sich umdrehte, glitzerte in ihren Augen ein böses, schwarzes Licht.
Der Herrscher über Roland spürte, wie alle Atemluft seinen Körper verließ.
Nach zwei Versuchen, die keinen Laut, sondern nur bitteren Speichel hervorbrachten, schaffte er es schließlich, das Wort auszusprechen. »Portia?«
Die Kammermagd lachte fröhlich. Sie stand immer noch da und beobachtete erheitert sein Erstaunen, bis er endlich den Mund schloss.
»Ist Selbsttäuschung nicht etwas bemerkenswert Mächtiges?«, fragte sie neckisch. »Ich habe dir schon gesagt, dass ich große Übung darin besitze.« Sie drehte sich um, ging auf die Tür zu, blieb dann aber kurz stehen.
»Du solltest vom Boden aufstehen, Tristan«, sagte sie. »Deine Lage passt nicht zu der Stellung, die du bald einnehmen wirst.«
Dann verließ sie das Zimmer, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Faedryth, König der Nain und Herrscher über die Fernen Berge, starrte wehmütig in die Finsternis hinter dem schimmernden Thron in der Mitte seiner großen Halle, die tief im Innern der Erde lag. Obwohl der Sitz der Macht seit beinahe tausend Jahren unangezweifelt der seine war, gab er dem König doch immer wieder zu denken, so oft er ihn betrachtete.
Der Thron bestand aus einem einzigen Kristall, der reiner als die makellosen Diamanten in seiner Krone war. Es handelte sich um einen unregelmäßigen Sitz, der aus Lebendigem Stein bestand, welcher nahtlos aus dem Höhlenboden emporwuchs und dessen zerklüftete Platten bis hoch unter die gewölbte Decke der Großen Halle reichten. Die Nain, die vor Faedryth an diesem Ort gelebt hatten, waren zwar die großartigsten Bergarbeiter, Architekten und Straßenbauer gewesen, die der Kontinent je gesehen hatte, doch sie hatten diese wundersame Formation fast unberührt gelassen und sie lediglich poliert. Es war ihnen lieber gewesen, dass ihr Monarch nicht sehr bequem saß, als die Erde zu beleidigen, die ein solches zur Ehrfurcht zwingendes Wunder hervorgebracht hatte, indem sie es auf irgendeine Weise veränderten. Daher hatten sie es auch als angemessen erachtet, die Große Halle nur mit wenigen Fackeln auszustatten, damit sie nicht das gigantische, reine Juwel von außen erleuchteten, das aus eigenem, innerem Licht glomm.
Der Nain-König schaute sich in der leeren Höhle um und kehrte zu seinen Überlegungen zurück. Er erinnerte sich daran, wie er zum ersten Mal diesen Ort gesehen hatte. Er war unter der Waffenstillstandsflagge von den Wachen des Nain-Königs Vormvald, der über diese Länder regiert hatte, in den unterirdischen Raum geführt worden. Damals hatte Faedryth als Flüchtling hier Unterschlupf gesucht. Vormvald hatte damals im hundertzwölften Jahr seiner Regentschaft gestanden und Faedryth sowie sein Gefolge, das aus Tausenden Nain von der anderen Seite der Welt bestand, wo Faedryth einst ihr König gewesen war, freundlich aufgenommen. Beide waren Männer mittleren Alters gewesen, doch im Gegensatz zu Vormvald und seinen Untertanen waren Faedryth und seinem Gefolge der zweifelhafte Segen einer andauernden und unheimlichen Jugend zuteil geworden, einer annähernden Unsterblichkeit, die sie irgendwo auf der Flucht aus ihrer dem Untergang geweihten Heimat erworben hatten. Dieser zweifelhafte Segen hatte bereits dazu geführt, dass sich einige das Leben genommen hatten.
Doch Vormvald hatte das nicht gewusst. Er hatte das Erscheinen von dreißigtausend seiner eigenen Art unter dem Banner eines scheinbar demütigen und hilfsbereiten Führers wie Faedryth als willkommene Verstärkung seines Militärs sowie der Bergarbeiter und Baubrigaden der Fernen Berge angesehen. Er schuf Faedryths Volk, den Überlebenden der untergegangenen Insel Serendair, auf seinem Gebiet eine neue Heimat, bestellte Faedryth zum Vizekönig, gewährte den Neuankömmlingen Autonomie unter ihrem König und machte sich mit der Hilfe des früheren Königs daran, sein eigenes Reich umzugestalten, wobei es zu immer größeren, visionäreren Erfindungen und Bauwerken kam. Die Produktivität der Minen wurde verdoppelt, das Kunsthandwerk der Essen und Schmieden wurde legendär, und das nun vereinigte Königreich genoss seinen unabhängigen, heimlichen Fortschritt tausend Meilen von den anderen Völkern entfernt.
Der Einfluss der cymrischen Nain, wie Faedryths Leute im Fernen Königreich genannt wurden, war bald deutlich spürbar. Ihre Vertrautheit mit Flaschenzügen und Gelenken, ihr Geschick beim Schmieden von Waffen, mit denen Vormvald nicht vertraut war, ihre Fähigkeit, Erdmassen zu bewegen und den Stein von Tunneln und Minen zu behauen, wurde rasch ein Teil des gesellschaftlichen Lebens in den Fernen Bergen. Der alte Nain-König war von den Fortschritten begeistert, von den neuen Städten, den Kunstwerken, den Erfindungen. Doch allmählich, während jede neue Ära des Fortschritts kam und ging und durch eine noch großartigere Ära ersetzt wurde, verlor Vormvald das Augenlicht, seine Hände wurden schwächer, sein grauer Bart bekam die Farbe von Bergschnee.
Nicht so bei Faedryth. Er blieb so jugendlich wie an dem Tag, als er an Vormvalds Hof eingetroffen war. Er hatte teilgehabt an den Visionen, der Arbeit und der Herrschaft über das vereinigte Königreich der Nain, und als Vormvald schließlich im vierten Jahrhundert seines Lebens dahinschied und wie jeder Mensch von der einen Welt in die nächste wechselte, da wurde Faedryth zum unangefochtenen Herrscher über das Königreich Vormvalds Erben begehrten eine oder zwei Generationen lang auf, doch am Ende löschte die Zeit die dynastische Linie sowie ihren Anspruch auf den Thron und schließlich auch die Erinnerung an sie aus, so wie das Tuch eines Juweliers einen kleinen Kratzer in einem ansonsten makellosen Stein wegpoliert.
Nun gehörte der Kristallthron Faedryth schon seit einem Jahrtausend, doch irgendwie erschien er dem König noch immer neu. Jedes Mal, wenn er auf dem waagerechten Stein in dem Felsen Platz nahm, der als Sitz diente, fühlte er sich unwohl und ein wenig eingeschüchtert. Er hatte sich an die tiefe Macht des Steins gewöhnt, an ihren Druck und die Strömung, die aus der Tiefe der Erde durch den riesigen schimmernden Kristall aufstieg; seine Autorität war durch die Berge bestätigt, über die er herrschte. Faedryth spürte fremdes Blut und das Atmen der Erde, deren Macht nun die seine war. Dennoch hatte Faedryth den Thron nie als selbstverständlich angesehen. Zwar war er ein großer und eitler Herrscher und der unsterbliche Anführer einer Nation verborgener Schmiede, Bauleute, Bergarbeiter und Juweliere sowie einem Heer von beinahe einer halben Million Soldaten, doch trotz aller Reichtümer, die er zu seiner Verfügung hatte, erkannte er, dass es noch ein paar Dinge gab, die größer waren als er selbst.
Eines dieser Dinge mochte in dem Kästchen aus schwarzem Elfenbein stecken, das er nun in den Händen hielt.
Ein leises Hüsteln hinter ihm riss Faedryth aus seinem Tagtraum. Thotan, sein Minenminister und der einzige nichtmilitärische Graf, stand am Rand der Feuerschatten und schwieg respektvoll. Höfliches Betragen war ungewöhnlich für einen Nain-Grafen; die meisten Nain redeten zwar nur, wenn sie zu tief ins Glas geschaut hatten, doch für gewöhnlich war es ihnen dann egal, ob andere sie hörten oder nicht. Thotan war anders. Er war der Verwalter der Kaufleute, der oberweltlichen Nain, welche die Waren aus den Minen über das Meer zu den Königreichen der Menschen brachten und dort verkauften, damit der Rest des Reiches friedlich und abgeschieden in der stillen Erde leben konnte. Seine Tätigkeit erforderte unübliche Geduld und Höflichkeit. Thotan hatte hinter den vergoldeten Türen des Throns gewartet, seit der König ihn vor mehr als einer Stunde gerufen hatte. Faedryth seufzte und nickte ihm beinahe widerstrebend zu. Thotan drehte sich auf dem Absatz um und eilte aus dem Raum.
Das Kästchen fühlte sich glatt und kalt in Faedryths schwieligen Händen an. Er starrte weiterhin gedankenverloren auf es herunter, bis Thotan mit Faedryths Adjutanten Therion zurückkehrte, gefolgt von vierzehn seiner vertrauenswürdigsten Soldaten, welche die silbernen Spangen und schwarzen Lederbände von Faedryths persönlichem Regiment trugen und zu zweit eintraten. In den Armen hielten sie etwas, das in Leinen eingewickelt war; es war schwer, groß und hatte regelmäßige Umrisse. An ihren gespannten Gesichtern war deutlich abzulesen, dass ihre Fracht etwas unermesslich Wertvolles und Zerbrechliches war.
Faedryth beobachtete in grimmigem Schweigen, wie die Soldaten ihre Lasten sanft um die Basis des Kristallthrons ablegten und vorsichtig die Seidenbänder lösten, welche um die Tücher geschlungen waren. Das flackernde Fackellicht zuckte plötzlich rubinrot auf, als es auf den ersten der Gegenstände fiel. Es war ein großes, glatt geschliffenes Stück farbigen Glases mit einer Dicta und Breite von Faedryths Hand. Das Stück hatte an der Außenseite einen vollkommen abgerundeten Rand von etwa einem Siebtel des Kreisradius und lief wie ein großer Keil in einen kleineren, ähnlichen Bogen aus den Therions Soldaten nun an der Basis von Faedryths Thron aufstellten.
»Vorsichtig, ihr Hornochsen«, murmelte der König leise. Er packte das Kästchen aus schwarzem Elfenbein noch fester, als auch die nächsten beiden Teile enthüllt wurden, bei denen es sich um ähnliche Glasstücke in den Farben Zitronengelb und Feueropal-Orange handelte. Einen Augenblick später tauchte ein smaragdgrünes Stück aus den Laken auf; es war so tiefgrün wie der Ozean, den die meisten Nain nie in ihrem Leben sahen. Als es vorsichtig an Ort und Stelle eingepasst war, kamen ein großes, glänzendes Stück, himmelblau wie ein Topas klarster Färbung, und schließlich ein indigoblauer Bogen zum Vorschein, der nicht so groß wie die anderen war, denn sein Platz im Spektrum war kleiner als der der sechs Hauptfarben. Bis das schwache Fackellicht darauf fiel, schien das kleinere Stück beinahe schwarz zu sein, doch im Flackerschein glomm die reiche Saphirtönung still und unaufdringlich und wurde wieder zu einem Teil der Dunkelheit, als das Licht weiterwanderte.
Schließlich wurde mit größter Vorsicht das letzte Stück aus den Leinentüchern gewickelt. Der violette Bogen war vermutlich der schönste von allen; an seiner Amethysttönung war etwas schmerzhaft Klares, etwas Frisches wie der Beginn eines neuen Tages nach einer finsteren Nacht, wie das Aufklaren eines von Rauch erfüllten Himmels nach der Schlacht. Als es zum Vorschein kam, veränderte sich der Geruch im Raum. Die dicke, abgestandene Höhlenluft machte einer frischen Brise Platz, die dem König in die Augen stach und angesichts der melancholischen Erinnerung die Tränen in sie trieb. Die Soldaten, die auf die gleiche Weise berührt waren, gingen beinahe ehrerbietig in die Hocke. Das letzte Stück blieb für den Augenblick auf dem Boden liegen; alles wartete auf Faedryths Befehl.
Der Nain-König schaute wieder herunter auf das Kästchen in seinen Händen. Die Spitze seines Bartes, dessen strahlendes Gold sich an den Enden wie sein Haupthaar in Platin verwandelte, fuhr über den schwarzen Elfenbeindeckel. In der Berührung des toten Haares mit dem Kästchen lag etwas Sonderbares; schwarzes Elfenbein war der seltenste aller Steine. Er wurde an den erstorbenen Stellen in der Erde geerntet und nicht von lebenden Tieren, wie es bei gewöhnlichem Elfenbein der Fall war. Die Stellen, an der er abgebaut wurde, waren Orte vollkommener Verödung, wo die Magie nicht mehr webte oder die Erde ohne jede Hoffnung auf Wiederherstellung versengt worden war und die ihr eigene Fähigkeit verloren hatte, sich selbst zu heilen, im Gegensatz zu den Wunden aus einem Buschfeuer oder einer Flut, wo der Asche oder dem Schlamm neues Leben entsprang. Schwarzes Elfenbein war die Verkörperung einer Leere jenseits des Todes – der vollkommenen Abwesenheit allen Lebens –, und deshalb war alles, was von einem Behältnis aus diesem Material eingeschlossen wurde, von absoluter, schwingender Finsternis umgeben und für alle Blicke unsichtbar, selbst für jene der fähigsten Hellseher.
Bereits die Berührung mit diesem Kästchen stach Faedryth bis in die Seele.
Und das Wissen – oder eher das Nichtwissen – darum, was sich darin befand, setzte seine Seele in Flammen.
»Ist meine Tochter hier?«, fragte er knapp.
»Jawohl«, antwortete Thotan. »Und auch alle anderen überlebenden Generationen Eurer Linie.«
Faedryth schnaubte. »Schickt meine Tochter herein« ,sagte er und lief auf dem dunklen Boden hin und her. »Der Rest ist zu alt.« Thotan nickte. Wie Faedryth war auch er ein Cymrer der Ersten Generation, einer der mehr als hunderttausend ursprünglichen Flüchtlinge von der untergegangenen Insel Serendair, und daher war er ebenfalls scheinbar unsterblich. Wie Faedryth, so hatte auch er gesehen, wie die Unsterblichkeit langsam seine eigene Familie verließ, sodass er selbst zwar noch dieselbe jungendliche Kraft besaß wie an dem Tag vor vierzehn Jahrhunderten, als er das Schiff betreten hatte, das ihn in Sicherheit gebracht hatte, aber seine Kinder waren gealtert, als ob sie zu der Generation seiner Eltern gehörten, und seine Enkel alterten gar noch schneller. Seine fernsten Nachkommen waren bereits alt geworden und gestorben, und er selbst war immer noch so wie früher, as ob er in der Zeit erstarrt wäre.
Die vergoldete Tür wurde erneut geöffnet, und Gyllian betrat den Raum. Wie ihr Vater hatte sie weizenfarbenes Haar, doch während seines in den Spitzen das erste Silber zeigte, war ihres mit Ausnahme dünnster goldener Strähnen ganz von jener metallischen Farbe. Trotzdem hielt sie sich gut für ihr Alter. Sie trat an die Seite ihres Vaters, und ihr Gesicht furchte sich in stiller Besorgnis.
Faedryth streckte die Hand aus und legte sie seiner Tochter kurz auf die Wange. Jemanden, der so alt und weise war, auf eine solch väterliche Weise zu berühren, war ihm in seiner ewigen Jugend immer seltsam vorgekommen, doch in den wenigen Augenblicken der Zärtlichkeit, die er sich erlaubte, war diese immer auf Gyllian gerichtet.
»Der Lichtfänger ist bereit«, sagte er gelassen. Es waren Worte, die er schon bei früheren Gelegenheiten zu ihr gesprochen hatte. »Bist du es auch, falls es so weit sein sollte?«
Seine Tochter nickte; sie schwieg noch immer.
Faedryth atmete tief durch. »Also gut. Stellt euch an der Tür auf. Sag dem Scharfschützen, er soll sich bereithalten.« Er nickte Thotan zu; der Minenminister verneigte sich rasch und verließ den Raum, gefolgt von Therion und den Soldaten. Der Nain-König erlaubte es sich, seine Hand noch einen Moment auf der altersweißen Wange seiner Tochter ruhen zu lassen, dann ließ er sie sinken.
»In Ordnung«, sagte er barsch zu den Geistern und Erinnerungen, die unsichtbar in der Luft um ihn herum schwebten. »Fangen wir an.«
»Willst du nicht erst noch ein letztes Mal mit Garson sprechen?«, fragte Gyllian; ihre Miene war ruhig und ausdruckslos wie immer. Die Nain-Prinzessin hatte sich ihren Ruf in den Schlachten des Großen Cymrischen Krieges erworben. Der Rauch jener Schlachten hatte sie wie Leder gegerbt, und an den endlosen Lagerfeuern war sie zu einer Frau mit einem stählernen Rückgrat geworden. Trotzdem war ihr Rat wohl abgewogen und vernünftig, und immer versuchte sie zunächst, andere Mittel auszuschöpfen, bevor sie jene Türen aufstieß, die möglicherweise nicht mehr geschlossen werden konnten.
Ein kleines, sarkastisches Bellen entschlüpfte Faedryths Mund.
»Willst du etwa zusehen, wie ich eine weitere Staatskugel gegen die Wand schmettere?«, fragte er, während die Augen in seinem grimmigen Gesicht freundlich blitzten. »Die Scherben der letzten liegen noch auf dem Boden verstreut.«
Gyllians Miene veränderte sich nicht. »Wenn das der Preis für angemessene Überlegungen ist, dann ist er nicht sehr hoch«, sagte sie ruhig. »Bevor du zum Gebrauch des Lichtfängers schreitest, hätte ich nichts dagegen, wenn hundert weitere Kugeln zerplatzen würden, es sei denn, du bist dir vollkommen sicher, was du tust.« Ihr stoischer Gesichtsausdruck wich großer Besorgnis. »Das Risiko ist ungeheuer groß. Außerdem hilft es deinem Selbstwertgefühl, wenn du weißt, dass du immer noch eine Kugel aus gehärtetem Glas stemmen und zerschmettern kannst, genau wie ein Jüngling von hundert Wintern.«
Faedryth kicherte. »Na gut, Gyllian, wenn du es wünschst, dann rufe Garson.« Die Prinzessin nickte knapp und kehrte zur Tür zurück. Sie ließ den Nain-König allein mit seinen Gedanken in der flackernden Düsternis.
Und mit seinem Kästchen aus schwarzem Elfenbein.
Faedryth hatte Angst, es in der Hand zu halten, und zugleich hatte er Angst, es abzusetzen. Der Inhalt hatte ihn verhext, seit dieser vor etwa einem halben Jahr aus der tiefsten aller Kristallminen herausgeholt worden war. Der König war in seiner Gegenwart nervös und befürchtete, dass diese seltsame Magie der letzte Stein sein könnte, der das Boot seiner geistigen Gesundheit zum Kentern brachte. Der Lichtfänger konnte ihm bei der Frage helfen, was sich wirklich in diesem Kästchen befand, doch Faedryth setzte seine Macht nur ganz selten ein, denn er kannte die Gefahren, die ihm und der Welt dadurch drohten.
Die Tür der Großen Halle wurde wieder geöffnet und ließ Garson ben Sardonyx sowie den Scharfschützen herein, der einen Grubenhelm mit einem dunklen Sichtschutz trug und eine gewaltige Armbrust über den Rücken geschlungen hatte. Überdies brachte er einen schweren Ständer mit. Faedryth schluckte. Plötzlich war sein Mund trocken. Ungeduldig gab er Garson ein Zeichen, woraufhin dieser doppelt so schnell wurde und bald vor dem König stand. Das blau-gelbe Zellgewebe hinter seinen Augen, das den Nain erlaubte, in der Dunkelheit ihrer unterirdischen Heimat zu sehen, fing das Fackellicht ein und glomm auf, wodurch er wie ein wildes Tier erschien, das sich in der Finsternis näherte.
»Berichte mir noch einmal, was der Bolg-König während deines Besuches bei ihm zu dir gesagt hat«, verlangte Faedryth von ihm, während Gyllian an seine Seite zurückkehrte. »Lass keine Einzelheit aus. Vielleicht gibt es etwas, das wir in den früheren Berichten übersehen haben.«
Garson reckte die Schultern, und sein Brustkorb weitete sie, als er tief einatmete. Er fuhr sich mit der Hand über seinen großartigen Bart, der braun am Kinn, silbern in der Mitte und an den Spitzen weiß war. Garson war Faedryths offizieller Botschafter in der Oberwelt und der einzige Nain des Tiefen Königreiches, der diplomatisch mit Menschen anderer Völker umgehen konnte; außerdem war er seit seiner Kindheit in der Perfektion seines Gedächtnisses ausgebildet worden. Er runzelte die Stirn, begann aber geduldig das Gespräch zu wiederholen, über das er schon bei drei früheren Gelegenheiten berichtet hatte, seit er von seinem Staatsbesuch in den Bolglanden zurückgekehrt war.
»König Achmed war natürlich von Anfang an über meine Gegenwart verärgert«, sagte Garson. »Ich habe ihm Eure Botschaft überbracht – dass Ihr um seinen Versuch wisst, den Lichtfänger von Gwylliam und Anwyn in den Bergen seines Reiches zu rekonstruieren, und dass Ihr mich gebeten habt, ihm mitzuteilen, er dürfe dies auf keinen Fall tun.«
Faedryth nickte. »Und?«
»Er hat mir gesagt, ich sei ein tapferer Mann mit zu viel Zeit, weil ich den ganzen Weg bis zu ihm gereist sei und es gewagt hätte, ihn auf diese Weise zu belehren.«
»Aufgeblasener Narr«, murmelte Faedryth. »Weiter.«
»Ich sagte ihm, Ihr hättet mir das befohlen, und er erwiderte, das verwirre ihn. Er meinte, er kenne keinen Lichtfänger, aber Ihr hättet seinen Zorn riskiert, der, wie Ihr angeblich wisst, beachtlich sein kann, indem Ihr mich mitten in der Nacht in seine Gemächer geschickt habt, damit ich ihm einen diesbezüglichen Befehl erteile. Er bemerkte, dass selbst er, der weniger Wert auf Diplomatie und Anstandsregeln lege als jeder andere, den er kenne, dieses Vorgehen als beleidigend empfinde.«
»Zweifellos«, sagte Faedryth trocken. »Er hat also abgestritten, dass er etwas über den Lichtfänger weiß?«
»Ja. Ich meinte darauf, er gebrauche vielleicht nicht denselben Namen dafür, aber ich könne wohl annehmen, dass er wisse, worauf ich mich beziehe. Ich erklärte ihm, der Lichtfänger sei ein Apparat, den die Nain für Gwylliam den Visionär vor elf Jahrhunderten erbaut hatten. Dabei handle es sich um eine Maschine aus Metall und gefärbtem Glas, die in einen Berggipfel eingelassen war und das Licht zu verschiedenen Zwecken verändern konnte. Sie wurde im Großen Krieg zerstört, so wie es hatte sein sollen, denn sie rührte an Kräfte, die instabil und unvorhersehbar waren. Ich sagte zu ihm, sie stelle nicht nur für seine Verbündeten und Feinde eine große Gefahr dar, sondern auch für sein eigenes Königreich. Weiter eröffnete ich ihm, dass er den Versuch unternehme, etwas wiederzuerbauen, das er nicht vollständig begriff, und dass diese Dummheit zu seiner Vernichtung und möglicherweise auch zu der aller in seiner Nähe führen würde. Ich rief ihm in Erinnerung, dass er die Auswirkung bereits habe beobachten können; die gefärbten Glassplitter aus seinem ersten Versuch bedecken schließlich immer noch die Gegend um Ylorc. Ich wiederholte, dies sei eine unaussprechliche Unbesonnenheit, und Ihr, Euer Majestät, würdet ihm befehlen, dass er sofort damit aufhört, zum Besten des Bündnisses und auch seiner selbst.«
Gyllian seufzte. »Hast du eine andere Antwort als die erwartet, die du bekommen hast, Vater? Hast du wirklich geglaubt, der Firbolg werde verständnisvoll auf ein so formuliertes Verlangen reagieren?«
»Ich hätte dich darum bitten sollen, die Botschaft aufzusetzen«, murmelte Faedryth und nahm den Faden wieder auf. »Aber der Bolg-König ist immer ein Mann klarer Worte gewesen. Ich dachte, wenn ich ihm eine klare Botschaft schicke, dann werde er sie respektieren. Offenbar war das falsch. Was hat er dann gesagt?«
»Er hat mich beiläufig gefragt, woher ich all das weiß, und hat dabei die Entfernung unseres Reiches sowie unsere Abgeschiedenheit von den Menschen zur Sprache gebracht. Als ich ihm sagte, dass Ihr Wert darauf legt, jegliche Ereignisse zu beobachten, die gefährliche Auswirkungen auf die Welt haben könnten, nannte er mich einen Lügner und meinte dann, er wisse, dass wir einen eigenen Lichtfänger besäßen und ihn zur Ausspionierung seines Landes einsetzten.«
Faedryth seufzte bedrückt.
»Eine vernünftige Vermutung«, meinte Gyllian. »Er hatte halb recht.«
»Dann verlangte er von mir, ich solle sein Land verlassen und Euch diese Botschaft überbringen«, fuhr Garson fort. »Er sagte – ich zitiere: ›Geh zu deinem König zurück und sage ihm dies: Ich hatte einmal Respekt vor ihm und der Art, wie er sein Königreich regiert. Er hat von den Cymrern eine genauso niedrige Meinung wie ich selbst, und er ist nur widerstrebend dem Bündnis beigetreten, genau wie ich. Er bleibt in seinen Bergen, wie ich. Aber wenn er fortfährt, mein Land auszuspionieren oder mir Botschafter zu schicken, die mir sagen, was ich tun und lassen soll, dann werde ich, wenn meine eigene Version eures so genannten Lichtfängers einsatzbereit ist, ihre Vernichtungsmöglichkeiten an weit entfernten Zielen ausprobieren. Welche Ziele das sein werden, überlasse ich eurer Phantasie.«
Die Luft schien aus der riesigen Höhle zu entweichen.
»Als ich ihm sagte, ich bezweifele, dass ich Euch diese Botschaft wirklich überbringen solle, meinte er nur: ›Bezweifle es nicht, Garson. Und nun geh.«
Faedryth wirbelte herum und starrte Gyllian an.
»Glaubst du, dass wir noch eine andere Möglichkeit haben?«, wollte er wissen.
Die Prinzessin trat langsam an die Seite ihres Vaters und küsste ihn sanft auf die Wange.
»Nein«, sagte sie nur. Dann verneigte sie sich leicht und verließ den Raum, wobei sie einen raschen Blick auf den Scharfschützen warf, aber nicht zu Faedryth zurückschaute.
»Triff die erforderlichen Vorbereitungen und beeile dich damit«, befahl Faedryth dem Schützen. Der Mann nickte, stellte den Ständer auf, legte die Armbrust darauf und zielte auf den Kristallthron.
»Halte dich bereit«, sagte der König zu Garson.
»Ich bin bereit«, erwiderte Garson steif. »Werden wir das blaue Spektrum benutzen?«
Faedryth seufzte erneut auf. Die blaue Kraft des Spektrums war die einzige, mit der er vertraut war. Er kannte zwar nicht die Worte der alten Sprache, die von Gwylliam gebraucht worden war, aber er glaubte sich zu erinnern, dass sie mit »Wolkenrufer« oder »Wolkenjäger« übersetzt wurden. Er wusste, dass die Kraft des elementaren Blaus im Hellsehen lag, also im Blick über große Entfernungen oder auf verborgene Orte, und wenn man die Kraft umdrehte, konnte man sich vor neugierigen Augen schützen, die auf einen selbst blicken mochten.
Erst einmal hatte er eine der anderen Farben eingesetzt. Als der Geschmolzene Fluss aus Magma, der sich unablässig an der Grenze seines Landes dahinwälzte, vor zwei Jahrhunderten gestockt hatte, hatte Faedryths Weiser ihm geraten, die orangefarbene Macht des Spektrums einzusetzen, den Feuerstarter, um die Lava unter der Aschenkuppel hervorzuholen. Wenn der Fluss nicht als Schutzwall zwischen seinem Reich und dem Land der benachbarten Wyrm gedient hätte und seine Lava nicht wesentlich für das Überleben des Tiefen Königreichs im Winter gewesen wäre, dann hätte er diesen Versuch niemals gewagt. Die daraus sich ergebende Explosion und Zerstörung hatte ihn überzeugt, so etwas nie wieder zu tun.
Er nickte Garson knapp zu und versuchte die Bilder der Verwüstung aus seinen Gedanken zu verbannen.
Ohne ein weiteres Wort begab er sich zu den schimmernden Kristallen, trat vorsichtig in die Öffnung zwischen den zusammengesetzten Stücken aus farbigem Glas, die einen Spektralkreis um die Basis des Throns bildeten, und ließ sich langsam auf dem Sitz nieder. Kurz schaute er noch einmal auf das Kästchen in seinen Händen, dann sah er Garson an, seinen offiziellen Zeugen, der den König hinter dem Schützen starr beobachtete. Dieser hatte die Armbrust auf das Herz des Königs gerichtet.
»Schließ den Kreis«, befahl Faedryth. Seine Stimme war tief und klangvoll und zeigte keine Anzeichen der Unsicherheit, die er noch einen Augenblick zuvor verspürt hatte.
Garson begab sich schnell zum Mittelpunkt der riesigen, dunklen Halle und kniete vor den Füßen des Königs nieder. Faedryth segnete ihn ungeduldig; Garson stand wieder auf und verließ den Kreis aus farbigem Glas, dann nahm er vorsichtig das letzte Stück auf, das die Farbe reinsten Amethysts hatte, und setzte es sanft an seinen Platz. Nun war der Kreis geschlossen.
Während der König seinen Botschafter dabei beobachtete, wie er den violetten Bogen einpasste, dachte er plötzlich an Garsons Urgroßvater, Gar ben Sardonyx, der ihm geholfen hatte, vor vielen Jahrhunderten genau dieses Glas im Ofen zu brennen. Er versuchte, seinen Geist gegen die Flut der Erinnerungen abzuschirmen, aber es war unmöglich. Die Macht des Thrones schlief zwar noch, aber sie lebte und öffnete lange verschlossene Orte in seinen Gedanken, egal wie sehr er sie verriegelt und gesichert hatte.
Die Erinnerungen waren schmerzhaft; sie waren Säureflecken in den Winkeln seines Gehirns. Er war der Erbauer des ersten Lichtfängers gewesen, desjenigen im nun zerstörten Turm des Bolg-Königs, und er hatte ihn auf Anweisung seines Herrn und Freundes Gwylliam errichtet, doch er hatte mit ansehen müssen, wie seine Macht von diesem Herrn und Freund im Verlauf eines langen, blutigen und sinnlosen Krieges missbraucht und die eigentliche Mission in ihr Gegenteil verkehrt worden war. Faedryth hatte sich von Gwylliam und jenen, die ihm gefolgt waren, abgewandt. Er hatte sein Schwert im Großen Gerichtshof angewidert von sich geworfen, den Ort verlassen und war zu den Fernen Bergen und in sein Tiefes Königreich zurückgekehrt und dort geblieben, bis er vor kurzem von der cymrischen Herrin gerufen und gebeten worden war, die Nain zum Besten des Kontinents in das Bündnis einzubringen. Gegen seinen Willen hatte er zugestimmt. Als er nun inmitten eines der Wunder dieser Welt und über einer Quelle ihrer uranfänglichen Macht saß, fragte er sich, ob er nicht einen schrecklichen Fehler begangen hatte.
Als Garson das Stück nun an seinen Platz rückte, dachte Faedryth trocken daran, wie er Gwylliams Machtdurst verdammt hatte. Er hatte alle Pläne und Farbmuster zurückgelassen und sich von allem losgesagt, was er für den Visionär des großen Reiches getan hatte, doch in seinem Höhlenreich hatte er andauernd über den Regenbogen aus Glas nachgedacht, der die Kraft des Lebens selbst zu kanalisieren vermochte.
Die Gedanken, die ihn zuerst in jenen lange vergangenen Tagen geplagt hatten, suchten ihn von da an immer wieder heim. Sie waren wie dämonisches Flüstern in seinen Ohren; die Erinnerung an das farbige Glas sprach in seinen Träumen zu ihm und erinnerte ihn daran, dass das Wissen um diese Dinge flüchtig war und er sich beeilen musste, wenn er den Apparat neu errichten wollte Sogar er hatte einen detaillierten Plan benötigt, als er Gwylliams ursprünglichen Lichtfänger gebaut hatte. Dabei hatte es sich um eine Reihe von Zeichnungen gehandelt, die von dem größten Benenner Cymrias erstellt worden und unmöglich im Gedächtnis zu behalten waren. Während des Projekts hatte er jeden Tag diesen Benenner aufgesucht, und jeden Morgen hatte er die Pläne angestarrt, als sähe er sie zum ersten Mal, er, der Erbauer einer der größten Bergstädte in der ganzen Welt, der Mann mit einem unglaublich guten Erinnerungsvermögen, der die vorausschauenden Ideen des Visionärs in die Tat umgesetzt hatte.
Und nun konnte er sich kaum noch daran erinnern, was auf den Zeichnungen zu sehen gewesen war.
Weil er in der Bibliothek von Canrif die gebrannten Glasmuster mit den genauen Farbtönen des Spektrums zurückgelassen hatte, die zum Funktionieren des Apparats unerlässlich waren, besaß er nichts, womit er zukünftige Glasstücke vergleichen konnte. Er hatte sich lediglich noch daran erinnert, dass jedes der Glasstücke in der Kuppel auf dem Gipfel des Gurgus von derselben Farbe gewesen war, die auch die verschiedenen Edelsteine in ihrer reinsten Form hatten.
Und in seinem Königreich mangelte es nicht an Edelsteinen, die er zum Vergleich heranziehen konnte.
So hatte er das Glasspektrum in einem einfachen Kreis wiederhergestellt, während die Stimmen in seinem Kopf bei jedem Schritt aufgeschrien und ihn vorwärts gedrängt hatten – beim Gießen, Färben, Kühlen, beim Polieren des Kristallthrones –, und sie waren erst vollkommen und beinahe zufrieden verstummt, als der Lichtfänger schließlich fertig gestellt war.
Nun also besaß er einen eigenen, auch wenn dieser viel kleiner war und nur äußerst selten eingesetzt wurde – nicht mehr als fünf Mal während der letzten vier Jahrhunderte. Das Einzige, was er noch mehr fürchtete als den Einsatz dieser Maschine, war der Verlust ihrer Macht.
Die dunkle, melodische Stimme der Erde selbst summte um ihn herum und unterbrach seine Gedanken. Der Kreis war vollständig.
»Öffne den Schacht«, befahl Faedryth mit zusammengebissenen Zähnen.
Der Scharfschütze senkte das Visier seines Helms, um die Augen zu schützen.
Garson packte den Hebel, der von den niedrigeren Stalagmiten des Kristallthrones verdeckt wurde, und zog ihn auf sich zu, bis er sich in einer Linie mit dem blauen Bogen befand. Dann wich er zurück und schirmte die Augen ab, als sich eine verborgene Steinplatte unter dem Thron zur Seite und in den Fels hineinbewegte und das Licht einer Flammenquelle enthüllte, über welcher sich der Kristall gebildet hatte. Es war ein Schacht hinab in das Feuer, das Tausende von Meilen tief unter der Erdkruste im Herzen der Welt brannte. Selbst wenn man die Hände vor die Augen hielt, blendete das Licht.
Die pulsierenden Flammen aus den Tiefen der Erde warfen Blitze aus heißem blauem Licht in die Große Halle, erhellten die ferne Decke, tanzten auf den Stalaktiten, spuckten und zischten im Einklang mit dem Feuer unter dem gewaltigen Kristall und ließen ihn wie einen in der Finsternis verborgenen Stern aufleuchten. Das Strahlen umgab den Kristallthron und den Nain-König und verlieh beiden die Farbe eines wolkenlosen Himmels an einem Sommertag in der Oberwelt. Es war eine so reine und klare Farbe, dass sie Garson durch den Schild seiner Finger in die Augen stach.
Faedryth atmete flach und zwang sein rasendes Herz langsamer zu schlagen. Die Macht des Lichtfängers schien ihn durchscheinend zu machen. Nun öffnete er das schwarze Elfenbeinkästchen.
Zuerst sah er nichts, und Panik prickelte am Rande seines Bewusstseins. Als er den Inhalt des Kästchens zum ersten Mal untersucht hatte, war dieser brüchig, ja beinahe gasförmig gewesen, und in der blendend blauen Helligkeit des Kristallthrones, den das Feuer aus dem Erdmittelpunkt von unten anleuchtete, war der Inhalt fast unsichtbar und hielt sich in den Schatten.
Faedryth hielt das Kästchen schräg, bis das, was sich darin befand, das tosende Licht einfing. Als wäre es ein lebendes Wesen, brummte das Licht in den Ecken des Kästchens, stöberte dessen Inhalt auf, fing ihn, erhellte ihn, gab ihm Farbe und Umriss.
Zuerst war es kaum mehr als ein flüchtiges Glimmen, staubig und wechselhaft, veränderlich wie das Sommersonnenlicht, das durch eine Fensterscheibe fiel. Der Nain-König griff sanft in das Kästchen und hob einen der Fetzen in das blaue Strahlen, das um ihn herum pulsierte.
Um seinen Finger gewickelt war ein Schnipsel, der wie durchsichtiges Pergament wirkte, aber er war hauchdünn und altersgelb. Es schien ein künstlich geschaffenes Ding zu sein, teils durchscheinend wie ein Edelstein, teils dünn wie feine Gaze. Faedryth hatte nie etwas Vergleichbares gesehen, nicht in den ganzen sechzehnhundert Jahren seines Lebens und nicht auf beiden Kontinenten, genau wie seine Ratgeber, denen er es besorgt gezeigt hatte.
Dass der Ort, an dem man es gefunden hatte, überhaupt entdeckt worden war, grenzte schon an ein Wunder, denn er befand sich in den tiefsten Bereichen der Kristallminen, wo die diamantartigen Formationen angeblich von den Sternen in Gestalt von Meteoriten auf die Erde gekommen waren und unter unabsehbaren Tonnen uralten Granits verborgen lagen. Es hatte Tausende von Jahren gedauert, bis die Nain diese Mine angestochen hatten. Dass etwas den Druck und die Kälte des Kristallbetts überleben konnte, war vollkommen undenkbar, doch hier, zwischen seinen Fingern befand sich ein Fetzen aus zartestem Material, zerbrechlich und sich verändernd bei jedem Atemzug, den Faedryth tat. Er hielt nichts von Magie und misstraute den meisten, die sie ausübten und Wörter, Lieder oder Schwingungen beeinflussten, um auf diese Weise die Welt zu verändern, doch selbst ein Skeptiker und Ungläubiger wie er empfand unweigerlich Ehrfurcht und Entsetzen in der Gegenwart dieses Dings.
Soweit er wusste, war es etwas, das sonst nirgendwo auf der bekannten Welt existierte.
Und aus diesem Grund musste er unbedingt wissen, worum es sich dabei handelte.
»Ganz«, murmelte er.
Garson tastete nach dem Hebel und zog mit aller Kraft daran, während das blendende blaue Licht hinter seine geschlossenen Lider floss.
Die doppelte Metallscheibe unter dem Thron, die Faedryths Schmiede vor vierhundert Jahren in das Fundament des gewaltigen Kristalls eingelassen hatten, schwang wieder an ihren Platz und bündelte das Licht aus der Flammenquelle im Mittelpunkt des blauen Bogens. Der Kristall, der König und der gesamte Raum hinter ihm wurden in ein noch intensiveres, reineres und feineres blaues Licht gehüllt, in eine heilige, elementare Farbe aus dem Mittelpunkt des Spektrums.
Die Kristallformation sang unter einer uranfänglichen Schwingung, unter der klarsten Note, die für Garson oder den Scharfschützen unhörbar war, doch Faedryth vernahm sie in seiner Seele und spürte sie durch sein Blut klingen. Er öffnete die Augen und sah nicht nur die Finsternis des Thronsaals, sondern blickte dahinter auf die Welt um ihn herum, über die Ebene bis zum Horizont, bis zum Rand des Meeres.
Faedryth hielt sich am Thron fest und wusste, was nun kam.
Der Scharfschütze, der es ahnte, zielte mit seiner Armbrust genau auf das Herz des Königs.
Plötzlich hatte Faedryth einen Blick, der alles Vorstellbare überstieg. Es war, als ob er die ganze Welt gleichzeitig sehen könnte, in allen Einzelheiten und in all ihrer Größe. Als ob er von einer Flutwelle überspült würde, ertrank er plötzlich in Wissen, erkannte das Muster jedes Vogelflugs, die Vorboten jedes Sturmes, die Anzahl der Weizenhalme, die sich unter der Sonne neigten, die Herzschläge der ganzen Welt – das alles trieb von allen Seiten auf ihn ein.
Sein Geist war so schnell wie die Sonnenstrahlen und schoss verrückt himmelwärts wie ein abgeschossener Pfeil, dann fiel er plötzlich zur Erde zurück, in der die Tunnel, welche seine eigenen Untertanen gegraben hatten, die Erdkruste wie Gänge in einem Ameisenhaufen durchzogen. Er schwebte über Schatzkammern, über die vulkanische Lava, die im Geschmolzenen Fluss schwamm, über dunkle Schächte aus endloser, anthrazitener Nacht, jagte durch die Wurzeln der Bäume und die Baue Waldtiere, bis er wieder durch die Erdkruste brach und dabei alles in sich aufnahm, was es zu sehen und zu wissen gab.
Er sah alles.
In diesem Augenblick erkannte Faedryth, dass er die Welt wie ein Drache sah und er nun einen Wyrmblick hatte, der alle physikalischen Grenzen sprengte.
Es machte ihm Angst, wie immer.
Mit großer Anstrengung riss Faedryth den inneren Blick von der rasenden Vision fort, indem er den Kopf senkte und auf das zerbrechliche Stück Pergament vor sich schaute. Er wusste, dass sich darauf ein Bild befand, auf das er nur einen kurzen Blick geworfen hatte, als man ihm dieses brüchige, andauernd sich verändernde magische Pergament gebracht hatte. In jenem Moment hatte er farbige Lichter in der Anordnung der Regenbogenfarben gespürt, irgendeine Kraftquelle, ein Licht, das so hell gewesen war wie das aus der Flammenquelle unter ihm. Er hatte angenommen, dass es sich um den wiedererrichteten Lichtfänger auf dem Gipfel des Gurgus handelte. Überdies hatte er damals etwas Seltsames gespürt. Es war das Gefühl gewesen, er könnte die Gedanken einer anderen Person lesen, und es war ihm so erschienen, als ob der Bolg-König in diesen Gedanken gegenwärtig war. Für einen Mann, der sich von Magie und Schwingungslehren fernhielt und dessen Vergnügen Ingenieurskunst, Minenbau, das Schmelzen von Eisen und das Graben von Tunneln war, stellte das Gefühl, die Gedanken eines anderen zu lesen, eine außerordentlich beunruhigende Erfahrung dar, insbesondere wenn derjenige, um dessen Gedanken es sich handelte, ihm unbekannt und vermutlich schon lange tot war.
Mit ungeheuren Schwierigkeiten blendete er die Unmenge von Bildern aus, die vor ihm herumwirbelten und hielt sich das Bruchstück im klaren blauen Licht vor die Augen.
Er hatte das Bild schon einmal gesehen. Zunächst war es nicht mehr als ein verschwommener Fleck, wurde dann aber schnell zu einem deutlichen Bild, das in all seiner Schärfe schmerzhaft war. Trotz seiner vollkommenen Deutlichkeit ergab es kaum einen Sinn für Faedryth. Seine Augen schmerzten und drohten zu zerplatzen.
Es war ihm, als stünde er an dem Ort, den das Bild zeigte. Es war ein vertrauter dunkler Gang, der irgendwo innerhalb seiner eigenen Berge hätte liegen können. Aufgrund der Dünnheit und Maserung des Steins erkannte Faedryth, dass er sich in einem Berggipfel befand. Am Ende des Tunnels, eine Armeslänge entfernt, erkannte er eine Öffnung, hinter der so etwas wie ein Laboratorium inmitten einer großen, durchsichtigen Kugel zu sein schien, die in der offenen Dunkelheit des oberweltlichen Himmels schwebte. Die farbigen Lichterscheinungen, die er gesehen und fälschlich für den Lichtfänger des Bolg-Königs gehalten hatte, waren in Wirklichkeit gleißende Lichter im Innern der Kuppel, die in gleichförmigen Reihen zu Platten zusammengesetzt waren, welche den durchscheinenden Raum umkreisten. Hinter diesen Platten befand sich so etwas wie ein Tisch, und in der waagerechten Oberfläche war eine Tür zu erkennen, durch die helles Licht wie das aus der Flammenquelle leckte.
Hinter den klaren Wänden der Kugel sah er die Welt tief unter sich; sie brannte am Horizont, während Feuer über die Ränder kroch und sich über die Kontinente ausbreitete, die er von den Landkarten her kannte.
So verblüffend und beängstigend diese Bilder auch waren, sie verblassten doch im Vergleich zu dem, was sich zwischen ihm und der Glaskugel befand.
In der Luft vor ihm schwebte ein Wesen, einem Menschen gleich, mit Merkmalen verschiedener Rassen und einer scheinbaren Jugend, mit Ausnahme der Augen, blauer Augen, die so tief wie das Meer waren und senkrechte Pupillen hatten. In diesen Augen lag die Weisheit von Jahrtausenden und auch der dazugehörige Schmerz.
Seine Haut war durchscheinend, elastisch und veränderte sich mit jedem Luftzug, der an ihr vorbei oder durch sie hindurchfloss. Der Mann erglühte in demselben Licht wie der Kristallthron, besonders sein Haar, dessen Locken aus strahlendem Gold beinahe in Flammen zu stehen schienen. Und trotz seiner wissenden Augen und dem gelassenen Gesichtsausdruck verrieten seine zusammengebissenen Zähne zitternde Aufregung. Er starrte Faedryth an, als sehe er ihn zum letzten Mal. Sein Mund bewegte sich und bildete Worte. Faedryth hörte sie nicht mit seinen Ohren, sondern eher innerlich; es war, als schwängen sie in seiner eigenen Kehle.
Werde ich sterben?
Faedryth spürte, wie sich seine brennenden Augen mit Tränen füllten, die nicht die seinen waren; er spürte, wie ihm Kehle und Brust vor unbegreiflichem Kummer zusammengedrückt wurden. Dann hörte er seine eigene Stimme, die wie losgelöst von ihm erklang. Er hörte sich selbst husten und dann Worte aussprechen, in denen ein seltsamer Trost mitschwang.
Kann man den Tod erleiden, wenn man nicht wirklich lebt? Wie der Rest der Welt, so hast auch du nichts zu verlieren.
Das durchscheinende Wesen vor ihm nickte und wandte sich ab. Faedryth wurde plötzlich von einem Gefühl der Trauer und des Verlusts ergriffen, das ihm die Seele zerriss. Er spürte, wie er die Hand nach dem Jungen ausstreckte, und musste zusehen, wie er in der Dunkelheit verblasste.
Und dann, als sollte betont werden, dass er die Erinnerung eines anderen durchlebte, war er plötzlich von weiteren Gedanken umgeben. Er gewann den Eindruck, als wären es die des Bolg-Königs, an den er sich beim ersten Anblick des Pergamentfetzens erinnert hatte. Ein letzter Gedanke verblieb bei ihm, dem die Stimme des durchscheinenden jungen Mannes Ausdruck verlieh.
Vergib mir. An meiner Stelle hättest du wahrscheinlich dasselbe getan. Und wenn du die Wahl gehabt hättest, dann hättest du es sogar so gewollt.
Er wusste nicht, warum, aber er war sich sicher, dass der seltsame Jüngling mit dem Mörderkönig sprach.
Überwältigt und ohne den geringsten Hinweis auf die Bedeutung dessen, was er beobachtet hatte, drohte Faedryths Verstand zu zerfallen. Schlimmer noch, tief in ihm spürte er durch den Lebendigen Stein des Kristallthrones eine andere Erschütterung, atonal, körperlich und leicht, kaum wahrnehmbar.
Es war, als ob sich die Erde schüttelte und schlafende Teile von ihr aufwachten.
Entsetzen verzehrte ihn, als die dahinjagenden Visionen zurückkehrten, denn diesmal war es, als ob er in der Dunkelheit auf sein eigenes Reich blickte und sein Standort sehr weit entfernt wäre, aber rasch näher käme.
Er suchte nach sich selbst mit derselben Deutlichkeit, die er vorhin erfahren hatte.
In diesem Augenblick wusste der Nain-König, was er getan hatte.
Er sah das, was ein Drache sah, denn das, was er mit der elementaren Macht der Farbe heraufbeschworen hatte, war der Blick des Drachen.
Der innere Blick eines blinden Wyrms, der schon seit langem in den Eingeweiden der Erde schlief.
Das älteste Schlafende Kind, das angeblich einen großen Teil der Erdmasse ausmachte. Der Drache Witheragh, der ihm einst dieses Geheimnis zugeflüstert hatte, hatte ihn vor einer Prophezeiung gewarnt, nach welcher das Schlafende Kind eines Tages erwachen würde.
Und es würde nach seinem langen Schlaf, der zum Anbeginn der Welt angefangen hatte, vollkommen ausgehungert sein.
Und er, Faedryth, holte es gerade aus seinem Schlummer und richtete seinen Blick auf Faedryths eigenes Königreich.
Ein hohler Schrei quoll aus Faedryths Kehle. Es war ein Kriegsschrei, den er in seinem Leben schon viele Male ausgestoßen hatte. Mit letzter Kraft erhob er sich von dem Kristallthron und spürte, wie er um viele Jahre alterte, als er durch die Säulen aus elementarem blauem Licht brach, zu Boden stürzte und dabei gegen die Kristallstalagmiten stieß. Sein fallender Körper riss die farbigen Glasstücke aus ihrer Halterung. Der Kreis war durchbrochen, das blaue Licht verlöschte, und es blieb nur der pulsierende Tanz der Strahlen aus der Flammenquelle übrig, die von der hohen Decke zurückgeworfen wurden.
Während Garson mit aller Kraft gegen den Hebel drückte und den Schacht wieder schloss und der Scharfschütze seine Armbrust senkte, eilte Gyllian zu ihrem Vater. Faedryth lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Steinboden. Sie drehte ihn sanft um und zuckte zusammen, als sie die neuen weißen Haare in seinem Bart und die neuen Furchen in der Stirn sah, die vor wenigen Augenblicken noch nicht da gewesen waren. Es war so wie immer, doch die starke Prinzessin konnte sich einfach nicht an den Anblick ihres Vaters gewöhnen, der sonst so klar an Verstand und Auge war, jetzt aber mit leerem Blick in die tanzenden Feuerschatten über ihm starrte und sich vor der Rückkehr der Dunkelheit fürchtete, als der Schacht wieder versiegelt wurde.
»Was hast du gesehen?«, fragte sie leise, fuhr ihm über das Haar und ergriff mit ihrer altersfaltigen Hand die seine.
Faedryth starrte weiterhin aufgeregt in die Höhe. Seine Augen waren glasig, und er atmete flach, während er auf dem Steinboden seines Thronsaales lag. Als er schließlich Gyllian ansah, lag in seinem Blick eine Verzweiflung, die sie nie zuvor bei ihm gesehen hatte – nicht im Grauen der Schlacht oder dem Nahen der Niederlage, und auch nicht am Ufer des angeschwollenen Feuerflusses, den er aus seinem Schlaf zurückgeholt hatte und der Minenstädte und ihre Arbeiter geschluckt hatte. Er packte ihre Hand und versuchte Worte zu bilden, doch er glich einem Fisch auf dem Trockenen.
»Der Mörderkönig«, flüsterte er, als er endlich etwas hervorbringen konnte. »Wir müssen ihn aufhalten.«
Kein lebender Mensch und auch kein bereits gestorbener hatten je die Geschichte von der Erbauung der untergegangenen Stadt Kurimah Milani aufgeschrieben oder auch nur gekannt.
Es war gleichermaßen ein Geheimnis, von wem sie erbaut worden war.
Stolz hatte sie sich aus dem vielfarbigen Sand des westlichen Grenzgebietes zwischen Yarim und den oberen Bolglanden erhoben, wo der Wüstenlehm zuerst in die Steppe, dann ins Vorgebirge und schließlich ins Hochgebirge überging. Kurimah Milani war schon alt gewesen, als die ältesten Geschichtserzählungen aufgeschrieben wurden. Seine Minarette und schweren Steinmauern hatten unter einer sandigen Patina geglitzert, die angeblich in der Sonne geschillert und einigen der Kaufleute, die sie zuerst gesehen hatten, den Eindruck einer Illusion verschafft hatte, eines Trugbilds am Rande der ausgedehnten, leeren Wüste aus rotem Lehm, die sich viele Meilen weit am Fuße der Manganberge entlang des Erim Rus, des Blutflusses, erstreckte.
Die legendäre Stadt hatte angeblich an der Lucretoria gelegen, der uralten Handelsstraße, auf der die Karawanen mit Seide, Samen, Gewürzen, Stoffen, Salz, Juwelen und Erzen gereist waren. Es war nicht bekannt, wie lange die Eingeborenen des Kontinents auf dieser primitiven Straße gereist waren. Zu der Zeit, als die Cymrer dort angekommen waren, wo nun die Provinz Yarim lag, war die Lucretoria schon fast ganz im roten Lehm und Sand versunken, und Kurimah Milani hatte nur noch als Legende existiert.
Trotzdem war der Mythos noch so lebendig, dass bisweilen kleine Pilgerkarawanen von Kranken und Versehrten, für die es keine andere Hoffnung mehr gab, verzweifelt die leere Wüste nach dem geringsten Anzeichen für die bekannten Heilquellen und die sagenhaften Sonnenbetten durchquerten, in denen die Leidenden wie Wüsteneidechsen lagen und die roten Strahlen der heilenden Sonne in sich aufnehmen sowie das kristallklare Wasser trinken konnten, das angeblich von den Händen sanftäugiger Statuen sprudelte und auch die schlimmsten Gebrechen zu heilen vermochte. Oder sie suchten nach dem großen Edelstein, der alle geistigen Krankheiten durch bloße Berührung vertrieb.
Doch alles, was sie je fanden, waren Wind und beißender roter Sand.
Manchmal ist die Hoffnung das Einzige, was eine Legende am Leben erhält. Das Erdbeben, das Kurimah Milani viele Jahrhunderte vor der Ankunft der Cymrer in die Tiefen der Wüste gerissen hatte, hatte alle Spuren für menschliche Augen getilgt, doch selbst diese große Erschütterung hatte nicht die Hoffnung auslöschen können, dass es irgendwo in der einförmigen, endlosen Landschaft noch immer einen Ort der Wunder gab, der jahrhundertelang geschlafen hatte und nur darauf wartete, von den Geduldigen, den Unerschrockenen oder den Verzweifelten gefunden zu werden. Die Hoffnung hielt diesen Mythos lebendig, auch wenn alles Suchen immer wieder umsonst war.
Doch manchmal gibt es mehr als Hoffnung.
Manchmal gibt es Vernunftgründe.
Die Drachin hörte die Musik, lange bevor sie wusste, was sie gefunden hatte.
Erschöpfung hielt sie fest im Griff; sie hatte nicht mehr die Kraft, eine Sklavin des Hasses zu sein. Schon lange hatte sie den Punkt hinter sich gelassen, von dem es keine Wiederkehr mehr gab, und ihr Geist war in eine Betäubung gefallen, die dem Tod vorausgeht. Tief im Erdreich spürte ihr Drachensinn nicht mehr alle Einzelheiten der Welt um sie herum, sondern war auf ihr eigenes verschimmerndes Leben gerichtet und zählte die Schläge ihres dreikammerigen Herzens, das sich bemühte, den Blutkreislauf in ihr aufrechtzuerhalten.
Als ihr dunkler werdender Verstand die ersten Töne des uralten Liedes hörte, das durch die Erde hallte, wusste sie nicht, ob dieser Klang aus der äußeren Welt kam oder ob er von ihrem eigenen herannahenden Tod verursacht wurde.
Nachdem sie eine Meile oder mehr darauf zugekrochen war, wurden ihre Gedanken klarer und konzentrierter, und die Bestie erkannte, dass sich der Ton gleichmäßig veränderte und einem musikalischen Muster folgte, das beruhigend auf ihren gebrochenen Verstand und ihren ausgetrockneten Körper wirkte. Sie spürte, wie sich ihr kaum noch durchblutetes Gewebe allmählich erholte und vor erneuerter Kraft summte. Ihr Herzschlag wurde stärker, und sie konnte wieder deutlicher sehen.
Die Drachin hielt an, lag für einen Augenblick still da und lauschte.
Die Erde, durch die sie reiste, schien zurückzuweichen. Die zerfetzte Haut der Bestie kribbelte angenehm. Die Musik drang tief in ihr zerfetztes Fleisch ein und belebte es, gab ihr genauso viel Kraft, wie sie brauchte, um ihre Reise fortzusetzen. Ihr nun wieder wacher Drachensinn folgte dem Lied in der Erde wie einem Leuchtfeuer.
Je lauter die Schwingungen durch die Erde hallten, desto zuversichtlicher wurde die Drachin. Mit jeder Meile, die sie zurücklegte, spürte sie deutlicher die Belebung und Verjüngung, die Angst und Verzweiflung von ihr nahmen und sie sogar aufmunterten, während sie noch blutete und ihr Herz wieder schwächer wurde.
Vielleicht trete ich gerade in das Jenseits ein, dachte sie, als sie weiter kroch, auch wenn sie sich kaum daran erinnerte, was das Jenseits bedeutete.
Sie war sich der Erdbewegungen, die sie auf ihrer Reise verursachte, nicht bewusst. Wie immer, wenn sie sich in einer Tiefe von weniger als eine Meile durch die Erde bohrte, platzte das Gestein auf und hinterließ Risse. Dabei wurden die wenigen Pflanzen entwurzelt, die in der leblosen Wüste übrig geblieben waren, und Skelette von schon lange gestorbenen Menschen und Tieren, die im Treibsand untergegangen waren, kamen wieder an die Oberfläche.
Die Musik erfüllte nun ihre Ohren und summte auf ihrer Haut unter den Schuppen. Sie erfüllte ihren Geist mit Träumen, die sich vor ihre Augen schoben, und als sie so dem Klang folgte, wurde der angeborene Blick in die Vergangenheit immer stärker. Vor sich sah sie zwar noch immer den trockenen und leblosen Lehm, zu dem die Wüste in der Gegenwart geworden war, aber das zweite Gesicht in ihr zeigte ihr etwas vollkommen anderes, ein jüngeres, neueres Land, in dem die Wüstenblumen noch blühten, niedrige Bäume den hier heimischen Tieren Schatten boten und Karawanen aus Menschen und Dromedaren über die Lucretoria reisten und lärmend und bunt, wie es bei Kaufleuten üblich war, an Kurimah Milani vorbeikamen.
Sie sah den Ort nicht so, wie er vor ihr in der Erde begraben lag, sondern so, wie er vor zwei Jahrtausenden gewesen war.
Vor ihr erhob sich ein gleißender Anblick, der in den Strahlen der untergehenden Sonne aufleuchtete. Hohe Minarette reckten sich den Wolken entgegen, ein melodisches Willkommen drang von den überwölbten Türmen herab. Jenseits der Stadttore plätscherte und schoss klares Wasser aus Springbrunnen, fing die Strahlen des Sonnenuntergangs ein, fiel in Brunnen aus Lapislazuli und nahm die warmen Farben mit.
Das verwundete Herz der Drachin hüpfte vor Aufregung. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es so etwas wie ein Trugbild gab, und sie wusste nicht mehr, dass sie sich noch immer in der Erde befand. Mit ihrem geistigen Auge sah sie die glitzernden Mauern der heilkräftigen Stadt um sich herum, während sie durch den großen Aquädukt kroch, in dem Ströme aus kristallklarem Wasser auf alle herabregneten, die hier eintraten. Sie schloss die Augen, als sie unter der Erinnerung des heilenden Wasserfalls hindurchschlich, und spürte die Kühle auf ihrer Haut, die ihr die Schmerzen nahm und das Feuer in ihr löschte.
Der Wahnsinn bewirkt offenbar, dass die Arme wachsen, denn für einen Wahnsinnigen ist nichts außerhalb seiner Reichweite, hatte einmal ein Weiser in ihrer Nähe gesagt. Wenn ihr zersplitterter Verstand die Dunkelheit der Tunnel erkannt hätte, in denen sie sich in Wirklichkeit befand, und wenn sie hätte begreifen können, dass die heilenden Wasser nichts anderes waren als Kies und Sand, der auf sie niederfiel, dann hätte sie vielleicht nicht jenen Schatz entdeckt, der tatsächlich unter dem treibenden Sand und dem roten Wüstenlehm verborgen lag.
Wasser, dachte die Bestie, als sie sich zwischen den zerborstenen Türmen, Steinwällen und Statuen hindurchschlängelte, die seit zwanzig Jahrhunderten im Sand begraben lagen, und dabei eine Spur dunklen Blutes hinterließ. Nur noch der Gesang dieses Ortes hielt sie aufrecht; ihr Körper, der eher tote Schale als lebendes Fleisch war, summte unter den Schwingungen dieses Ortes uralter Heilkräfte, doch selbst die Macht der Erinnerung an Kurimah Milani vermochte nicht das Lebensblut zu ersetzen, das aus ihrem verletzten Herzen tropfte. Hier ist Wasser, das weiß ich.
Und sie hatte recht. Auch wenn die berühmten Wassergärten während des Erdbebens völlig zerstört und die ergiebigen Heilbrunnen und Mineralbäder, welche die heißen Quellen aus den fernen Bergen bis zum Überfließen gespeist hatten, im Augenblick der Katastrophe von der Erde verschlungen worden waren, steckten tief unter dem Sand der Oberfläche noch die Überreste eines Stroms, der durch die verschütteten Gewölbe rieselte, die früher einmal die öffentlichen Bäder gewesen waren.
In ihrer Verwirrung war die Drachin auf eine der zentralen Fontänen der Stadt gestoßen. Es handelte sich um eine tiefe, lange Kaverne, die zu ihren besten Zeiten an einem gewaltigen Innenhof entlanggeführt hatte, der von Säulen aus glimmerndem Marmor und eingelegten Perlen getragen worden war, die man aus dem Erim Rus gefischt hatte. Der innere Blick der Drachin führte sie unverzüglich zu dem Strom, den sie als einen tiefen Teich sah, in welchem plätschernde Gischt im Rhythmus der fließenden Musik dieses Ortes himmelwärts sprang. Gierig trank sie daraus und folgte ihm auf der Suche nach mehr Wasser bis zur Quelle.
Plötzlich umgab sie eine Schwingung, die von einem anderen Ton als dem gebildet wurde, welchem sie bis hierher gefolgt war. Sie reizte die Augen der Drachin sowie Teile ihrer Haut, doch sie schüttelte diese Schwingung ab. Am Oberlauf des Stroms waren ihre Augen und ihr Mund plötzlich von Sonnenlicht erfüllt, so golden und dick, dass es beinahe stofflich war.
Die Drachin keuchte entzückt auf. Der bernsteinfarbene Nektar war süß auf ihrer Zunge und beruhigte das ätzende Brennen in ihrem Hals, das sie seit ihrer Verwundung plagte. Sie trank mehr von dem gedickten Sonnenlicht, schluckte es verzweifelt herunter und spürte, wie es sie anfüllte, stärkte, das Feuer in ihrem Bauch löschte und ihr Frieden brachte.
In dem Strom rollte sie sich auf den Rücken, stieß langsam die Luft aus und fiel in einen traumlosen, heilenden Schlaf.
Bevor der Patriarch Sepulvarta heimlich verlassen hatte, um sich mit dem Herrn und der Herrin der Cymrer zu treffen, hatte er befohlen, die Stadt zu versiegeln.
Sepulvarta war der Mittelpunkt aller Geistlichen des patriarchalischen Glaubens sowie eine Pilgerstätte für Menschen anderen Glaubens, ja sogar für die Vielgötter-Religionen des Kontinents, die aus der Zeit vor der cymrischen Ära stammten. Die Stadt hatte den Ruf religiöser Toleranz und war immer frei zugänglich. Auf der Straße, die von der transorlandischen Hauptstraße südlich der Stadt in sie hineinführte und als Pilgerstraße bekannt war, wimmelte es stets von Menschen und Tieren, von Pilgern, Geistlichen und Kaufleuten, die alle ihre eigenen Gründe für den Besuch des unabhängigen Stadtstaates hatten. An gewöhnlichen Tagen dauerte es kaum eine Stunde, bis man über diese Straße in der Stadt angelangt war; an heiligen Tagen oder zuzeiten von Hungersnöten oder Feierlichkeiten wartete man bisweilen fast einen ganzen Sonnenumlauf. Selten kam es vor, dass einzelne Besucher Sepulvartas sogar mehrere Nächte auf der Straße oder in einer der vielen Herbergen und Tavernen entlang ihres Verlaufs zubringen und darauf warten mussten, durch das eine Tor in der gewaltigen Mauer eingelassen zu werden, welche die gesamte Stadt umgab.
Das Versiegeln der Stadt war eine Vorsichtsmaßnahme, die durchaus nicht beispiellos war. Gelegentlich war der Zustrom zu den heiligen Orten und Schreinen so stark, dass nicht mehr in der rechten Weise für die Besucher gesorgt werden konnte. Wenn die Herbergen und Fremdenhäuser, die Tavernen und Schankräume mehr Gäste hatten, als sie eigentlich aufnehmen konnten und man lange für Essen und Bier anstehen musste, was zu unangenehmen Zwischenfällen, Drohungen und manchmal sogar offener Gewalt führte, dann war ein solcher Zustand für eine heilige Stadt nicht hinnehmbar. Die früheren Patriarchen hatten sich deshalb oft entschieden, nicht die Gastfreundschaft zu verwehren, wie es in alten Zeiten geschehen war, sondern lieber das Bier weiterhin im Ausschank zu halten und dafür die Zahl der Kunden zumindest zeitweise zu begrenzen, bis die heiligen Tage vorüber waren und der Verkehr wieder normal floss.
Als daher der Befehl gegeben wurde, die Stadt zu versiegeln, dachte niemand besonders darüber nach.
Wie sich später herausstellte, verhinderte diese Maßnahme, dass die Stadt und die Gehöfte in ihrer Umgebung zerstört wurden.
Sepulvarta hatte nur das Schlechteste von den beiden Ländern abbekommen, an die es grenzte. Es lag nördlich des bergigen Sorbold und südlich der offenen Steppe von Roland auf einem kleinen Hügel am Rande des niedrigen Vorgebirges und inmitten des flachsten Teils der Krevensfelder, weshalb es für alle Reisenden von weitem sichtbar und kaum zu verteidigen war. Als heilige Stadt beider Nationen hatte Sepulvarta es glücklicherweise nie nötig gehabt, Verteidigungsanlagen zu errichten. Selbst in den siebenhundert Jahren des Cymrischen Krieges, als die Krevensfelder unter Schreckenstaten gelitten hatten und in den Bergen der furchtbare Lärm der Schlachten zu hören gewesen war, war die heilige Stadt unangetastet geblieben, auch wenn das nur ein Zufall gewesen war, wie Anborn dem Konzil mitgeteilt hatte. Nachdem das Heer die Gehöfte in der Umgegend eingenommen hatte, war es viel einfacher gewesen, die Soldaten an verschiedenen Orten mit ausreichender Versorgung einzuquartieren, anstatt das Hauptquartier an einem Ort zu errichten, der geradezu darum bettelte, belagert zu werden. So blieb Sepulvarta unbeschädigt, unerobert und unbefleckt von all dem Grauen, das sich um es herum ereignete.
Trotz Anborns Versicherung, die Stadt hätte keinen strategischen Wert und sei nicht geeignet für die Einquartierung von Truppen, hatten viele Bewohner von Sepulvarta ihr Glück und ihre Sicherheit in die Hände des All-Gottes und unter den Schutz des Turmes gestellt. Der Turm nahm einen gesamten Häuserblock ein, erstreckte sich tausend Fuß hoch in die Luft und wurde von einem einzigen Stück aus elementarem Äther bekrönt, das angeblich ein Fragment des Sterns Seren war, der einst eine halbe Welt entfernt über der untergegangenen Insel Serendair geleuchtet hatte. Dieser einzelne Sternensplitter erhellte die Stadt bei Tag und Nacht und segnete sie mit seinem Licht auch in den schlimmsten Gewittern und an den wolkigsten Tagen. Die sich der Stadt nähernden Pilger sahen sein Strahlen bereits fast eine Woche, bevor sie ihn erreichten. Sie wurden nicht nur von dem Licht dieses Signalfeuers geleitet, sondern auch von der Kraft, die es ausstrahlte.
Der Turm reichte bis zu den Wolken über der großen Basilika, welche das Fundament der Stadt und dem Element des Äthers geweiht war, das allgemein als Lianta’ar bekannt war. Jedem der fünf uranfänglichen Elemente, die manchmal auch die Farben des Schöpfers genannt wurden, war eine Basilika geweiht, aber Lianta’ar, was angeblich in der alten Sprache der Cymrer Herr und All-Gott, Licht der Welt bedeutete, war bei weitem die großartigste und auch die jüngste. Sie war der Sitz des Patriarchen, des geistlichen Oberhaupts, und hier wurden die alljährlichen Rituale durchgeführt, die sämtliche Anhänger dieser Religion schützten. Die Gebete aller Gläubigen wurden an diesem Ort gebündelt und durch den Turm dem Schöpfer dargebracht. Näher als hier konnte niemand seinem Gott kommen, wenn er ihm seine Gebete zu Füßen legen wollte.
Die vierzehn Fuß dicke Mauer, welche die Stadt umgab, diente eher der Dekoration und dem Prunk als der wirksamen Verteidigung. Da die Elitesoldaten von Sepulvarta bisher unversehrt geblieben waren, war ihre Aufgabe hauptsächlich eine zeremonielle. Ihre Uniformen waren nicht die von Männern, die in die Schlacht ziehen mussten, sondern waren mit farbenprächtigen Insignien geschmückt, die viele liturgische Symbole und Farben des Patriarchats trugen. Diese Soldaten überprüften die ankommenden und abreisenden Besucher, hielten auf den Mauern Ausschau und bewachten das Haus des Patriarchen. Die Wachablösung war eines der beliebtesten Spektakel unter den Pilgern, doch die Verteidigungskraft dieses Heeres hätte höchstens einer ersten Angriffswelle standgehalten. Mehr war nie nötig gewesen.
Der Hauptmann der Stadtwache, ein Mann namens Fynn, schritt gerade die Mauer ab, überprüfte die Pferde der Bogenschützen und genoss die leichte Brise, die nach Frühling duftete, als er zufällig südwärts schaute, wo die Berge von Sorbold den Horizont schwärzten.
Er blinzelte erstaunt.
Was bisher immer ein ziemlich weit entfernter Horizont gewesen zu sein schien, war nun erheblich näher gekommen.
Einen Augenblick später wurde deutlich, dass er immer noch herannahte.
Der Hauptmann rieb sich die Augen und sah erneut hin.
Über die trockene Ebene im Süden marschierte eine Schlachtformation heran, die sich in einzelnen Kolonnen näherte, welche allesamt die Zeichen und Farben des Herrschers von Sorbold trugen. Es handelte sich um berittene Kavallerie, Infanterie und eine große Anzahl von Wagen mit Geschossen, Katapulten und anderen Belagerungswaffen. Der Hauptmann überschlug ihre Anzahl rasch und kam auf fünf Divisionen mit jeweils einigen tausend Mann, die allesamt zielstrebig, aber ohne besondere Eile durch die Steppe marschierten.
An ihrem Ziel konnte es keinen Zweifel geben.
Wenn der Hauptmann kriegserfahrener gewesen wäre und schneller reagiert hätte, dann wäre seine Antwort ein paar Sekunden schneller erfolgt. Doch auch das hätte keinen großen Unterschied mehr gemacht.
Als er endlich seinen Schock überwunden hatte, rannte er zum nächsten Wachtturm, der sich links vom Tor befand. Im Gegensatz zu den Fallgattern, die von den anderen Städten bevorzugt wurden, bestand es aus zwei gewaltigen hölzernen Türen, in welche die heiligen, von dem fünfzackigen Stern des Patriarchen gekrönten Symbole aller fünf Elemente eingeschnitzt waren. Der Torwächter schlief; seine Aufmerksamkeit war nicht gefordert, da die Stadt versiegelt war. Fynn schüttelte ihn heftig durch.
»Läute Alarm! Verdammt, läute Alarm!. Sieh nur!«
Der Torwächter sprang auf die Beine und wäre beinahe von der Mauer gefallen. Er hastete aus der Sicherheit des Turmes und läutete das Signal, zu den Waffen zu greifen. Die schrille Glocke hallte laut über die Stadt, die sonst nur an das musikalische Geläut der Stundenglocken aus den Türmen der Gebetshäuser und an das große Glockenspiel der Basilika gewöhnt war, das jeden Tag zu Sonnenaufgang und Sonnenuntergang mit Hymnen zum Gebet rief.
Obwohl die Stadt versiegelt war, gab es doch innerhalb und außerhalb der Mauern morgendlichen Verkehr. Kaufleute zogen durch die Straßen, Frauen gingen von Geschäft zu Geschäft, von Zelt zu Zelt und suchten nach Lebensmitteln und anderen Gütern, die sie benötigten, Kinder rannten umher, und Mitglieder religiöser Orden liefen von einer heiligen Stätte zur nächsten. Der blecherne Ruf der Warnglocke brachte den Verkehr zum Erliegen; der gedämpfte Lärm des täglichen Lebens machte entsetzter Stille Platz.
»Geht in eure Häuser!«, rief der Hauptmann der Wache von den Zinnen herab.
Die Leute unten auf der Straße starrten ihn an und bewegten sich nicht.
»Geht, ihr hirnlosen Schafe!«, knurrte Fynn sie an. Dann wandte er sich an die Torwache.
»Schick einen Läufer ins Pfarrhaus, damit er den Abt und den Patriarchen warnt. Hol alle Bogenschützen hier herauf, und alle anderen sollen durch die Straßen gehen. Sag den Leuten … äh, also … sag ihnen …«
»Was soll ich ihnen sagen, Hauptmann?«
Der Hauptmann seufzte und versuchte sich an seine Ausbildung zu erinnern. »Ich weiß es nicht. Sag ihnen, sie sollen Wasser in Gefäßen sammeln, und schick zwei Reiter durch das Tor und den Weg hinunter. Sie müssen den Kaufleuten und Wirten mitteilen, dass sie sich sofort in den Schutz der Stadtmauern zu begeben haben – und auch die Pilger, die dort herumirren. Beeil dich; wir müssen das Tor sofort wieder schließen, sobald sie drinnen sind.«
»Was ist hier los, Herr?«, fragte der junge Soldat, dessen Augen vor Angst leuchteten. »Warum marschiert das sorboldische Heer auf die heilige Stadt zu?«
»Ich habe keine Ahnung, aber das ist unwichtig. Ich weiß nur, dass wir auf eine Belagerung nicht vorbereitet sind.« Fynn schaute wieder über die Mauer und wurde blass. »Bring vor allem die Nachricht zum Pfarrhaus. Vielleicht weiß der Patriarch, was zu tun ist, oder er schickt einen Hilferuf aus. Beeil dich. Und bete.«
Der Torwächter salutierte und kletterte die Leiter zur Straße hinunter. Er bahnte sich einen Weg durch die glotzende Menschenmenge zu den Quartieren der Wachleute.
Der Hauptmann schaute wieder nach Süden. Das Heer kam gemächlich heran, doch jetzt war es bereits so nahe, dass er die Kriegstrommeln von den Bergen widerhallen hörte. Dieser Klang hatte etwas Erschreckendes an sich; er war tief und hatte einen langsamen Rhythmus, doch er war beharrlich und gnadenlos.
Die Steine der Mauer erzitterten leicht, als der Boden unter den Erschütterungen durch die herannahenden Pferde und die Wagenräder zu beben begann.
Fynn starrte weiterhin auf das anrückende Heer, bis die Bogenschützen, die er hatte rufen lassen, sich um ihn und unter ihm versammelt hatten. Er schaute auf und schüttelte den Schock ab, der allmählich seinen Verstand betäubte und ihm ein Gefühl der Benommenheit und Dumpfheit verschaffte.
»Stellt euch in Position und schießt auf jeden, der versucht, die Mauer oder das Tor zu überwinden«, befahl er. »Zielt zuerst auf den Nächsten und feuert auf ihn, bis er tot ist. Falls sie einen Rammbock dabei haben – und das werden sie, wenn sie das Tor gewaltsam öffnen wollen –, dann feuert zuerst auf die Männer, die ihn tragen. Solange sie das Tor nicht aufbekommen, könnt ihr den Rest des Heeres draußen halten.« Die Bogenschützen, deren überwiegende Mehrheit nicht kriegserfahren war, nickten zitternd.
Fynn rief zu einem der Fußsoldaten hinunter: »Du – lauf zur Schmiede und sag ihnen, dass wir so viele Kohlen und heißes Pech brauchen, wie sie auftreiben können. Falls nötig, nehmen wir auch die Kohlenpfannen aus den Tempeln und der Basilika und den Weihrauch, einfach alles. Bring irgendetwas her, womit wir einen Angriff auf das Tor abwehren können.« Der Soldat lief los.
Nachdem die Mauer so gut wie möglich befestigt war, kletterte der Hauptmann die Leiter hinunter und war gerade auf der Straße angekommen, als die Glocken der Basilika das melodische Stundengeläut einstellten und stattdessen Alarm schlugen. Dieser Klang hallte über die ganze Stadt und hatte seinen Ursprung an der Basis des Turms – in ihm lag eine Autorität, die kein anderes Signal besaß.
Als die Bevölkerung dies hörte, geriet sie in Panik. Das schwere Tor wurde zum letzten Mal aufgezogen, und ein Meer aus Tierkarren und Menschen rauschte hinein, die all jene niedertrampelten, welche sich noch auf der Straße befanden. Die Torwächter versuchten, das Tor sofort wieder zu schließen, doch die Menge war zu gewaltig; in ihrem verzweifelten Versuch, Schutz vor dem herannahenden Heer zu suchen, das nun sogar bereits von unterhalb der Barrikade zu sehen war, machte sie alles nieder, was ihr im Weg stand.
»Begebt euch in die Basilika – sucht dort Unterschlupf!«, rief der Hauptmann, doch seine Worte gingen im Lärm der Menge unter, die nach Sepulvarta hineindrängte.
»Hol mir ein Fernglas«, sagte er zu einem der Soldaten, die vergeblich versuchten, die Kontrolle über die Menge zu erlangen. Der Soldat salutierte und rannte davon. Viele Minuten später kehrte er zurück; seine Uniform war durch den Kontakt mit der Menge zerrissen. Er übergab das Instrument dem Hauptmann, der wieder auf die Zinnen kletterte und durch das Glas in die Ferne blickte.
Die Abzeichen der vordersten Kolonne schienen die der Bergwacht von Jierna’sid zu sein – das Leibregiment des Herrschers. Sie trugen Rüstungen und Helme und schwere Armbrüste sowie gewöhnliche Kurzschwerter. Die steigende Frühlingssonne glitzerte auf ihren Rüstungen und Helmen und warf das Licht in blendenden Wellen zurück. Dem Hauptmann krampfte sich der Magen zusammen.
Am Kopf der Kolonne marschierte ein einzelner Soldat im Gleichschritt mit dem gesamten Heer. Der Hauptmann richtete das Fernglas auf ihn und justierte es neu, denn es hatte ihm nur ein verzerrtes Bild des Anführers gegeben. Er schaute wieder hinein und erkannte zu seinem großen Entsetzen, dass er vorhin doch kein verzerrtes Bild gesehen hatte.
Der Mann am Kopf der Kolonne schien beinahe ein Riese zu sein; er war mindestens zehn Fuß groß. Er wirkte farblos, und sein Gesicht zeigte so wenig Ausdruck, als wäre es aus Stein gemeißelt. Seine Bewegungen waren unbeholfen und schwerfällig, sein Gesicht primitiv, doch sein Schritt war fest. Dieser Soldat schien sich der marschierenden Reihen hinter ihm kaum bewusst zu sein; sein Gesicht war eine Maske, sein Ausdruck unveränderlich.
Er war fast doppelt so groß wie die übrigen Soldaten, die ihm folgten, als wäre er ein berühmter Held oder gar ein Halbgott.
Zwar war Sepulvarta ein Ort religiöser Seltsamkeiten, merkwürdiger Zeremonien und gelegentlich auftretender Wunder, doch der Hauptmann war von diesem Anblick so verblüfft, dass er glaubte, träumen zu müssen. In den ungefähr tausend Jahren seit ihrer Gründung hatte die Stadt Sepulvarta noch nie einen Angriff erlebt, vor allem weil sie als die Stadt des All-Gottes angesehen wurde. Der Gedanke, dass jemand der heiligen Stätte den Krieg erklären könnte, war einfach zu bizarr, besonders wenn es sich bei den Feinden um Sorbolder handelte, die demselben Glauben anhingen.
Doch die Reihen kamen näher.
Einige Nachzügler befanden sich noch außerhalb der Mauer und beobachteten nun das herannahende Heer mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination.
»Holt diese Idioten in die Stadt!« Er packte einen der Bogenschützen am Arm. »Ziel auf die Füße von einem von ihnen und schieß. Entweder bewegen sie sich dann endlich, oder sie bleiben draußen.« Er wandte sich an die Torwächter. »Macht euch bereit, die Tore zu schließen!«
Der Ruf schallte hinunter, während der Bogenschütze zielte und in die Menge feuerte. Sein Pfeil flog von der Sehne und fuhr in das Bein einer Bauersfrau, die mit offenem Mund auf das herannahende Heer starrte.
Nun brach Chaos aus.
Die hinter der Mauer verbliebene Menge drängte nach vorn und keilte alle anderen ein, auch Frauen und Kinder. Kreischend hasteten die Leute auf all jene zu, die hinter dem Tor darauf warteten, dass sich die engen Straßen ein wenig leerten. Der Hauptmann sah mit dumpfem Entsetzen zu, wie Blut floss, Kinder niedergetrampelt wurden und Gewalt unter den Pilgern ausbrach, die plötzlich zu Flüchtlingen geworden waren.
»Geht zur Basilika und sucht dort Unterschlupf!«, rief er wiederholt, doch der Lärm des Aufruhrs übertönte ihn.
Ein Soldat weiter hinten auf der Mauer gab ihm aufgeregt ein Zeichen. Fynn erkannte, dass hinter ihm ein großer, dünner Mann mittleren Alters mit einem grauen Haarkranz stand. Er war in die Roben der Basilika gekleidet und hielt vor Angst die Arme eng um den Bauch geschlungen. Der Hauptmann eilte die Mauer hinunter und umrundete dabei vorsichtig die Bogenschützen, die angesichts des feindlichen Heeres wie ein Eimer Wasser wirkten, mit dem man ein Buschfeuer löschen wollte.
Als er den Soldaten erreicht hatte, erkannte er den älteren Mann als Gregor, den Küster von Lianta’ar und einen der engsten Vertrauten des Patriarchen.
»Was … was ist hier los?«, wollte der Geistliche wissen. »Da muss ein Irrtum vorliegen.«
»Das ist durchaus möglich, Euer Gnaden«, sagte der junge Hauptmann, »aber sie rücken mit einer Entschlossenheit an, die sofortige Gegenmaßnahmen notwendig machen.« Er gab den Torwächtern ein Signal, und die gewaltigen Flügeltüren wurden unter erheblichen Anstrengungen und mit großem Lärm geschlossen und gegen das Heer verriegelt. Fynn wandte sich wieder an den Küster. »Was empfiehlt der Patriarch zu tun?«, fragte er nervös. »Hat er Befehle für uns? Nie zuvor mussten wir einen Angriff abwehren, Euer Gnaden. Wir brauchen Anleitung.« Das Gesicht des Küsters wurde schlaff. »Äh, nein, Seine Gnaden, der Patriarch, hat keine besonderen Befehle erlassen«, sagte er zögernd. »Ich glaube, er traut dir und den Männern zu, die heilige Stadt eigenständig zu schützen.« »Euer Gnaden …«
»Das ist alles, Hauptmann. Ich muss zum Vogelhaus gehen. Es könnte nötig werden, einen geflügelten Boten mit einer Bitte um Hilfe an das Bündnis zu schicken.« Der Hauptmann der Wache lächelte erleichtert. »Das wäre ein Segen, Euer Gnaden.« Der Küster nickte. »Macht weiter.« Er kletterte von der Mauer herunter und tauchte ein in das Meer der Flüchtlinge. Fynn schaute wieder durch sein Fernglas. Das Heer von Sorbold kam näher und folgte ihrem gigantischen Standartenträger. Nun war das Rumpeln hörbar, das sich zwischen den Bergen im Süden und dem Hügel brach, auf welchem die Stadt lag; es hallte immer drohender wider, je näher die Kolonnen kamen. Fynn und der Rest der Stadtwachen warteten ab.
Den ganzen Morgen hindurch und bis in den Nachmittag hinein rückte das Heer heran. Unbarmherzig marschierte es in stetigem Schritt zum Schlag der Kriegstrommeln. Als schließlich die Sonne hoch am Firmament stand und im roten Glanz des Frühlingsnachmittags brannte, waren die gegnerischen Soldaten auch ohne Fernglas deutlich zu erkennen.
Fynn hatte den ganzen Tag über gezählt. Nach seiner Rechnung waren es fünf Divisionen; jede bestand aus zehntausend Soldaten und Versorgungstruppen. Der Riese, der sie anführte, schien weder zu sprechen noch Befehle zu geben; das Heer folgte ihm lediglich durch die offene Steppe.
Die schweren Geschosse, Katapulte und anderen Belagerungswaffen waren an das Ende der Reihen verbannt. Das fand Fynn seltsam. Er erinnerte sich daran, dass er in der Ausbildung gelernt hatte, diese Waffen seien in der Mitte eines heranrückenden Heeres mitzuführen, damit man sie rasch einsatzfähig machen und gleichzeitig vor der ersten Abwehr schützen konnte.
Überdies sah er Dutzende gewaltiger Wagen mit flachen Ladeflächen, auf denen breite, niedrige Zelte errichtet worden waren. Fynn konnte nicht erkennen, was sich innerhalb dieser Zelte befand, doch ihr bloßer Anblick drohte seine Eingeweide in Aufruhr zu verwandeln.
»Gibt es Nachrichten vom Patriarchen?«, fragte er die Soldaten auf der Straße unterhalb der Mauer. Die Männer schüttelten nervös die Köpfe. Fynn seufzte. »In Ordnung, dann warten wir ab. Es bleibt uns kaum etwas anderes übrig. Sorgt dafür, dass so viele Leute wie möglich in Sicherheit gebracht werden.« Seine Worte klangen hohl. plötzlich hörten die großen Kriegstrommeln auf zu schlagen.
Vor der heiligen Stadt wurde der Lärm des herannahenden Heeres leiser. Das Knirschen der Wagenräder, das Ächzen des Holzes, das Stampfen der Stiefel, das Scheppern der Rüstungen, das Hufgetrappel der Pferde und das Rasseln der noch in den Scheiden steckenden Schwerter drangen nicht mehr so laut herbei.
Ein einzelner Offizier zu Pferd löste sich mit zwei Adjutanten aus den Reihen rechts des Riesen und ritt auf das Tor zu. Einer der Adjutanten hatte einen verhüllten Falken auf dem Arm. Sie hielten außerhalb der Bogenschussweite an. Der Offizier ritt noch ein Stück weiter, während der Adjutant die Lederriemen löste, welche die Krallen des Falken festbanden.
»Ich bin Fhremus, Kommandant des herrschaftlichen Heeres von Sorbold«, verkündete er. Seine Stimme drang mit einer Stärke durch den Wind, die von langen Jahren der Befehlsgewalt kündete. »Wenn ihr den Vogel verletzt, wird das als Angriff auf das ganze Heer angesehen werden.« Er nickte dem Adjutanten zu, und der Mann ließ den Falken los.
»Wo ist der Küster?«, wollte Fynn auf den Zinnen wissen.
Die Soldaten, die sich hinter dem Tor gesammelt hatten, traten beiseite, und der Geistliche kam hervor.
Der Vogel stieg auf, bis er sich über der Mauer befand. Er stieß einen lauten, anmutigen Ruf aus, sank steil nieder und warf eine in ein Öltuch eingewickelte Schriftrolle über die Zinnen. Dann drehte er eine Kurve und kehrte mühelos zu seinem Herrn zurück.
Die Botschaft wurde rasch aufgehoben und Gregor übergeben. Der Küster erbrach das Siegel mit zitternden Händen und las die Botschaft, die sowohl in der Volkssprache des Kontinents als auch in der heiligen Schrift des patriarchalischen Glaubens verfasst war.
Constantin, der Patriarch von Sepulvarta, ist ein Häretiker, der eine Ungeheuerlichkeit gegen den Schöpfer, das Volk von Sorbold und das Reich der Sonne begangen hat. Öffnet das Tor, schickt ihn hinaus, und wir werden die Stadt verschonen.
Gregor starrte die Botschaft an und warf sie dann wütend zu Boden.
»Sakrileg!«, schäumte er. »Sakrileg und Blasphemie!« Er wandte sich an Fynn. »Dies ist eine uneinlösbare Forderung, die nicht einmal wiederholt, geschweige denn erwogen werden darf. Halte das Tor, Hauptmann, und halte die Mauer, so lange es möglich ist.« Er schaute hoch zum Turm; der Stern darauf leuchtete im verdämmernden Licht. »Möge der All-Gott uns verteidigen.«
Er machte sich auf den Rückweg ins Pfarrhaus und wusste im Gegensatz zu jedem anderen in der Stadt, dass der Forderung auch deshalb nicht entsprochen werden konnte, weil der Patriarch bereits fort war.
»Wie lange sollen wir warten, Kommandant?«, fragte Minus, einer der Adjutanten von Fhremus, als der Falke zu Trevnor zurückkehrte, dem anderen Adjutanten.
»Wir geben ihnen eine Stunde«, sagte Fhremus. »Das scheint mir gerecht zu sein.«
Er warf einen Blick über die Schulter auf den Titan. Faron, wie der Herrscher ihn genannt hatte, stand still und reglos da, die Arme an den Seiten, und sah genauso aus wie die Statue, die er einst gewesen war. Vielleicht erinnert er sich an diesen Ort, wo der Patriarch ihn mit unnatürlichem und unheiligem Leben erfüllt hat, dachte Fhremus und war von diesem Gedanken angewidert. Er hatte keine Ahnung, zu welchen Gefühlen die Statue fähig war und ob sie überhaupt welche hatte, doch er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie nun Rache nehmen würde.
Als die Stunde vergangen war und keine andere Antwort als das Läuten der Alarmglocken aus der Basilika gedrungen war, wandte sich Fhremus an Minus. »Die Zeit ist um«, sagte er. »Bereitet die Iacxsis vor.« Er wandte sich nach Westen und sah zu, wie die Sonne ihren Abstieg zur Nacht fortsetzte und heiß über der weiten Ebene der Krevensfelder brannte.
Die hastig zusammengestellten Verstärkungstruppen hatten entlang der orlandischen Straße bei jeder Garnison und in jedem Ort angehalten. Vom westlichen Navarne bis zum südlichen Bethania hatten Anborn und Constantin Ashes Befehle bei jeder bewaffneten Poststation und jedem Außenposten der Bündnisreserven übergeben und gerade so viele Männer und Vorräte erhalten, wie man jeweils entbehren konnte.
Obwohl die Region nur spärlich besiedelt war und der Marschall Ashes Kriegsvorbereitungen sehr kritisch betrachtet hatte, waren er und der Patriarch doch auf viele willige Soldaten getroffen, die gut ausgebildet und innerhalb weniger Minuten abreisebereit waren. Sie hatten schon mehr als vier Jahre routinemäßig Kaufleute und Reisende durch den Kontinent geführt und kannten jede Nebenstraße und jeden Fußweg von Bethe Corbair und Canrif bis zu Port Fallon in Avonderre. Außerdem hatten sie sich des Systems der geflügelten Boten bedient, das Llauron eingeführt und Rhapsody vervollkommnet hatte, und wenn sie daher in das nächste Lager kamen, konnten sie zufrieden feststellen, dass alle verfügbaren Soldaten bereits im Sattel saßen und sie erwarteten. Sie passen sich hervorragend an und kümmerten sich um die wenigen schweren Waffen, die der Marschall mitgenommen hatte, sowie um den Wagen, auf dem die Gehmaschine transportiert wurde.
Als sie den letzten der Außenposten erreicht hatten, hatten sie eine kleine, aber schlagkräftige Truppe von etwas weniger als zehntausend Mann zusammengestellt, bei denen es sich hauptsächlich um Berufssoldaten, aber auch um einige Bauern und Kaufleute handelte, die im Kriegshandwerk ausgebildet waren. Erstaunt stellte Anborn fest, dass sogar Freiwillige aus den Gehöften und Dörfern in der Umgebung der letzten Garnisonen gekommen waren, um der Ehre teilhaftig zu werden, mit dem berühmten Marschall aus dem Cymrischen Krieg reiten zu dürfen, der die heilige Stadt retten wollte.
»Beim nächsten Mal erzählen wir ihnen, dass wir hinter den Damen aus den Bordellen in Jemehr her sind«, sagte er zu dem Patriarchen. »Dann bekommen wir dreißigtausend.« Der heilige Mann lächelte unter der Kapuze seines Bauernmantels.
In dem kleinen Dorf Streiftor, dem letzten Halt vor der südlichen Straße nach Sepulvarta, wartete eine Hand voll Knaben von elf oder weniger Sommern auf einem Esel, einem Pony und zu Fuß. Sie hatten Metalltöpfe auf dem Kopf und Hacken in den Händen. Die Soldaten in der Kaserne beim Dorf hatten sie mehrmals fortgeschickt, doch die Jungen waren immer wieder zurückgekommen und warteten auf ihre Gelegenheit, an der Schlacht teilzunehmen. Schließlich erlangten sie die Aufmerksamkeit des Marschalls, der seinen Soldaten befahl, auf der Straße zu warten, während er auf sie zuritt und sein Pferd vor ihnen anhielt.
»Wen haben wir denn hier? Noch mehr Rekruten?«
Fünf junge Gesichter starrten ihn mit offenen Mündern an.
»Ja, Herr«, erwiderte der Einzige von ihnen, der seine Stimme noch unter Kontrolle hatte.
»Sehr gut«, meinte Anborn nur. »Kommt mit.«
Die Soldaten sahen einander an und öffneten dann ihre Reihen, um die Jungen aufzunehmen.
»Also gut«, sagte der Marschall und setzte sich wieder an die Spitze, »ziehen wir weiter.«
Die Kohorte reiste nach Süden über die Pilgerstraße und hatte die aufgehende Sonne zu ihrer Rechten. Nach drei Meilen befahl der Marschall am Rande eines kleinen Wäldchens aus verkrüppelten Kiefern anzuhalten und löste sich erneut von der Gruppe.
»Ich brauche Reiter für eine heikle Mission, die mit den folgenden Siedlungen vertraut sind: Süddorf, Weidenfork, Hylans Landung und Streiftor. Wer die Wege zu diesen Orten kennt, trete hervor.«
Die Reihen teilten sich, und Soldaten aus den genannten Orten ritten nach vorn. Zum Schluss kamen die fünf Jungen aus Streiftor.
»Lagert hier«, befahl Anborn ihnen. »Ihr bildet die Nachhut. Auf der ganzen Straße bis Sepulvarta werde ich Reiter in Lagern positionieren, die den Befehl zur Evakuierung von Ost nach West verbreiten und die Felder bewachen. Schickt jeden zurück, der auf dieser Straße reist, bis ich wieder hier vorbeikomme oder ihr andere Befehle erhaltet. Verstanden?«
Die Soldaten nickten und stiegen ab, aber die Jungen blieben auf ihren Reittieren sitzen und hielten ihre behelfsmäßigen Waffen weiterhin fest in der Hand, während sie einander ansahen.
»Aber, Marschall«, platzte der Tapfere hervor, während Anborn sich umdrehte und bereits aufbrechen wollte, »wir wollen mit Euch gehen, Herr. Wir wollen in die Schlacht ziehen.«
Der General sah sie an. »Das werdet ihr«, sagte er brüsk und schenkte ihren bettelnden Blicken keine Beachtung. Er deutete auf das Kiefernwäldchen. »Ich brauche hier mit Holzpfählen verstärkte Erdwälle gegen einen möglichen Kavallerieangriff, tausend Schritte lang zu jeder Seite der Straße.« Dann ritt er zurück zur Kolonne, und die Kohorte setzte sich wieder in Bewegung und ließ die Nachhut zurück.
»Absitzen, Jungs«, sagte einer der Soldaten, die nun ihre Reittiere entluden. »Ihr wolltet sehen, wie der Krieg ist? Es gehört eine Menge Warten dazu. Aber vergesst nicht, dass die Vorbereitungen entscheidend für den Sieg sind. Nicht der Arm eines einzelnen Mannes, sondern die ganze Einheit landet den tödlichen Schlag.«
Die Jungen seufzten elend und machten sich an die Arbeit.
Der Ritt nach Sepulvarta wirkte belebend, wie Anborn feststellte. In seiner Jugend war tief in sein zynisches Innerstes die Hingabe an die militärische Bruderschaft eingepflanzt worden, die ihn sein ganzes Leben hindurch begleitet hatte. Im Nachtlager, draußen in der Dunkelheit zwischen den Feuern und den schlafenden Soldaten, dachte er an die vielen Jahrhunderte des Krieges und der Verwüstung zurück, an den Verrat und die Abscheulichkeiten, die er immer wieder zu einer Zeit beobachtet hatte, in der er von allem auf der Welt nur dieses eine begehrt hatte: ein Leben der Selbstlosigkeit und Verteidigung, des geteilten Opfers zusammen mit Waffenbrüdern. So war er über die Jahre verbittert, traute nur noch wenigem auf der Welt und hoffte noch weniger, doch in seiner schwarzen, verzerrten Seele steckte noch immer etwas, das von der Kameraderie und Hingabe an die Pflicht, die er nun wieder sah, angerührt wurde.
Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter in seiner Jugend nicht verstanden hatte, warum sein Verlangen, die Kriegskunst zu erlernen, ihn an Oelendra gebunden hatte. Sie war eine lirinische Meisterin aus Tyrian gewesen, eine Cymrerin der Ersten Generation und Heldin aus der alten Welt. Sie war die Iliachenva’ar gewesen, die Trägerin des Schwertes, das nun Rhapsody gehörte, und sie hatte ihn gut ausgebildet, auch wenn er nie ihre Anerkennung gespürt hatte, nach der er sich mehr als nach allem anderen gesehnt hatte. Anborn lehnte sich gegen seine Bettrolle zurück, schaute in den Nachthimmel, der von hellen Sternen durchglommen war, und erinnerte sich an die Worte, die sie zu ihm gesagt hatte.
Kämpfe mit deinen Stärken, so wie sie sind, und nicht so, wie du sie haben willst.
Er atmete tief ein, schmeckte die beißende Asche von den Feuern und roch den Eintopf und das lederne Sattelzeug der Pferde.
In jenen Tagen war er der ungebärdige jüngere Bruder gewesen, der sich hatte beweisen müssen. Edwyn Griffyth hatte bei seinem Vater die Kunst der Architektur, des Ingenieurwesens und der Erfindungen gelernt und mit ihm als sein Erbe gestritten; Llauron war den Lehren seiner Mutter gefolgt, war filidischer Priester geworden und hatte schließlich als Fürbitter der Filiden sowie als Beschützer des Großen Weißen Baumes gedient. Doch Anborn, der weder ein Anrecht auf den Thron noch eine Neigung zum religiösen Leben hatte, hatte seine Eltern durch Kühnheit auf dem Schlachtfeld stolz machen wollen.
Die lirinische Meisterin hatte ihn eines Besseren belehrt. Sie hatte ihm beigebracht, dass militärische Macht mit Rechtschaffenheit einhergehen musste. Das, was ihm als junger Mann an körperlicher Reife fehlte, musste er mit Schnelligkeit und Geschick ausgleichen, die sich nur aus Übung und Klugheit ergeben konnten. Er hatte damals im Spiegel denselben Eifer gesehen, den er nun auch bei den Jungen aus Streiftor bemerkt hatte, und begriff, wie heilig dieser Eifer war und wie leicht er verloren gehen oder in die Irre geleitet werden konnte, wenn er nicht von einem Helden wie der lirinischen Meisterin in die richtige Richtung geführt wurde.
Er lächelte trocken, denn er wusste, dass er für die Jungen ein solcher Held war.
Oelendra hatte ihn auch vor Götzenverehrung gewarnt. Du magst mein Geschick bewundern und mich nachahmen wollen, hatte sie ihm zu Beginn seiner Ausbildung gesagt. Aber verwechsele das nicht mit mir. Ich habe in meinem Leben viele Fehltritte und Taten begangen, auf die ich nicht stolz bin, weil ich trotz meiner gottgleichen Langlebigkeit dennoch sterblich bin. Genau wie du. Lerne, deinen Helden und dir selbst zu vergeben. Irgendwann wirst du beides tun müssen, wenn du dieses Leben als Blutsverwandter wirklich leben willst.
Sie beide hatten diese Ehre erlangt, dachte er, also mussten ihre Worte wahr gewesen sein.
Rhapsody hatte beim Abschied etwas Ähnliches zu ihm gesagt.
Du kannst dich von nichts reinigen, was dir zugestoßen ist, als wäre es nur eine Unreinheit im Stahl, die im Feuer der Schmiede weggeschmolzen wird. Alles Vergangene hat dich zu dem gemacht, was du bist – wie Noten einer Sinfonie. Gesund oder gelähmt, du bist, was du bist. Ryle hira, wie die Lirin sagen. Das Leben ist so, wie es ist. Vergib dir selbst.
Der Marschall zögerte, rollte sich dann steif auf die Seite, ergriff seinen Ledersack und zog ihn näher an sich heran. Er löste die Riemen und holte die Muschel hervor, die Rhapsody ihm gegeben hatte. Dabei erinnerte er sich zärtlich an ihr blasses Gesicht im Widerschein des Feuers.
Versuch wenigstens, so gesund wie möglich zu sein – wenn schon nicht für dich selbst, dann für die Männer, die du anführst. Und für mich.
»In Ordnung, meine Herrin«, sagte er leise zu sich selbst. »Ich vermute, es schadet nichts, wenn ich es versuche, denn schließlich bist du ja weit weg und kannst es nicht sehen.«
Er lehnte sich gegen die Bettrolle und hielt die Muschel ans Ohr. Alles, was er hörte, war das donnernde Rauschen des Seewindes über den Wellen. Er seufzte, trieb in den Schlaf und träumte von Gesichtern, von denen er wusste, dass er sie nie wieder sehen würde.
Die Schlacht um Sepulvarta war bereits verloren, noch bevor sie begonnen hatte.
Länger als eine Stunde warteten die Verteidiger furchtsam und starrten von der Mauer auf die fünfzigtausend Mann herunter, die vor der Stadt lagerten. Das Heer war ausgeschwärmt, bis die Mauer an allen Seiten umgeben war, doch dann schien alles langsam zum Stillstand zu kommen. Einige der Soldaten errichteten Kriegslager um kleine Kochfeuer, während die Kavallerie zwar nicht absaß, aber entspannt wirkte. Die Wagen mit den Geschossen und Katapulten sowie den anderen Belagerungswaffen blieben unberührt, während das Heer selbst wenig oder gar nichts tat, um hinter die Linie der ersten Konfrontation zu gelangen. Wenn es sich überhaupt um eine Belagerung handelte, dann schien es eine des festen Willens zu sein, denn es wurden keine weiteren Drohungen ausgesprochen und keine Waffen gegen das Tor eingesetzt.
»Sie wollen uns mürbe machen«, sagte Gregor, der Küster, mit brüchiger Stimme. Er hatte über die Einquartierung der Gläubigen und Pilger in der wundervollen Basilika gewacht und schien über die vielen Leute in der Kathedrale entsetzt zu sein. »Zum Glück ist genug Essen und Wasser da, und der cymrische Herrscher wird sicherlich nicht einfach dasitzen und zusehen, wie das sorboldische Heer die Auslieferung des Oberhaupts des patriarchalischen Glaubens fordert. Also stecken wir alle augenblicklich in einer Sackgasse. Wir werden niemals ihrem Wunsch entsprechen. Früher oder später werden wir entweder gerettet, oder sie geben aus Langeweile auf und ziehen sich zurück.«
»Ich hoffe, Ihr habt recht, Euer Gnaden«, sagte Fynn zweifelnd. Er beobachtete die Menschenmengen in den Straßen der Stadt; es waren einfach zu viele, um sie hinter sichere Türen zu bringen. Sie verstopften die schmalen Gassen in der Nähe der Geschäfte und Schreine.
Als die zweite Stunde vergangen war, erschien der Falkner des heiligen Stuhls.
»Ich bin bereit, die Botschaft nach Haguefort zu schicken, falls Ihr es noch wünscht, Euer Gnaden«, sagte er zu dem Küster.
»Ich sehe keine andere Möglichkeit«, erwiderte Gregor. »Nun gut, lass den Raubvogel los.«
Der Falkner verneigte sich ehrerbietig und löste die Bänder. Der Vogel flatterte zweimal mit den Schwingen während er noch auf dem Arm des Mannes saß, dann stieg er in einem warmen Aufwind nach oben und machte sich auf den Weg nach Norden. Er stieg bis zur Höhe der Gebäude auf, welche die Straßen zum Turm säumten.
Ein Schatten fiel von oben herab, segelte über das Tor und die Straßen der Stadt. Er war größer als ein Pferd und schoss hinter dem Falken durch die Luft, dann machte es ein schrecklich knirschendes Geräusch, als er den Vogel zwischen seine Kiefer nahm und ihn im Flug verschluckte. Ein Schauer aus blutigen Federn fiel in kreisenden Bewegungen auf die Soldaten herab.
Von den Straßen ertönte ein vielstimmiges Keuchen.
Einen Augenblick später verdunkelte sich der Himmel vor ähnlichen Schatten.
An allen Seiten der Stadt erschienen große Bestien über den Häusern und Geschäften, sie segelten mit gewaltigen, fledermausartigen Schwingen dahin. Ihre Bewegungen waren wie die von Schlangen, und sie hatten lange, stachlige Schwänze, die im Flug hin und her droschen. Ihre Beine und Kiefer hingegen waren insektenartig, scharfkantig wie die der Pestheuschrecken, die zu ihren Ahnen gehörten.
Auf jedem von ihnen saß ein Reiter mit einem brennenden Bündel aus Reisig, das mit Pech oder Öl durchtränkt war.
Innerhalb weniger Sekunden hatten die Riedgrasdächer einiger Häuser Feuer gefangen und brannten lichterloh. Schwarzer Rauch stieg von ihnen auf, gefolgt von den Rufen der Zuschauer auf den gepflasterten Straßen und den Entsetzensschreien all jener, die in den Gebäuden eingeschlossen waren.
»Was … was im Namen des All-Gottes geht hier vor?«, wollte Gregor mit bebender Stimme wissen und stellte sich vor Fynn.
»Bei allem nötigen Respekt, Euer Gnaden, geht mir aus dem Weg, verdammt noch mal!«, brüllte ihn der Hauptmann der Wache an, drückte den Priester zur Seite und eilte auf die Mauer zu. »Schießt auf die Bestien!«, schrie er den Bogenschützen zu, die starr vor Entsetzen nach oben schauten.
Eine neue Salve brennender Bündel fiel aus dem Himmel herab. Weitere Dächer brannten; die glitzernden weißen Steinhäuser, für die Sepulvarta berühmt war, glühten rosafarben im Feuerschein, während die Dächer und Wagen auf den Straßen in Flammen aufgingen. Glimmende Asche regnete auf die entsetzten Massen herab.
»Zur Basilika!«, brüllte Fynn den Soldaten auf der Straße zu, doch seine Stimme ging im Lärm der Panik unter. Er zeigte erneut auf die verblüfften Bogenschützen. »Schießt auf die verdammten Biester!«
Einem der Bogenschützen gelang es schließlich, sein Entsetzen abzuschütteln. Er zielte auf eine der fliegenden Eidechsen, die gerade auf einem benachbarten Dach landete. Er spannte den Bogen und schoss den Pfeil ab. Es war ein sauberer, heftiger Schuss, der das Tier in der Flanke knapp unterhalb des Flügels erwischte.
Der Pfeil prallte mit einem dumpfen Geräusch ab; es war derselbe Laut, den er verursacht hätte, wenn er auf einen Pflasterstein oder Ziegel getroffen wäre.
Nun ist es aus mit uns, dachte Fynn. »Also gut«, sagte er und bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten. »Schieß auf den Reiter.« Der zitternde Bogenschütze gehorchte, ein weiterer sauberer Schuss traf eine Ritze in der Rüstung des Mannes.
Der Reiter richtete sich abrupt auf und fiel schwer von seinem Tier auf die Straße unter ihm.
Der Hauptmann der Wache und der Bogenschütze keuchten vor Freude auf. »Das ist es!«, rief Fynn aus. »So kriegen wir sie. Zielt auf die Reiter!«
Die Bestie schien sie kurz anzustarren. Dann erhob sie sich, stieg mit einem gewaltigen Sprung ihrer insektenartigen Beine vom Dach auf, schoss hinunter in die Straße und schnappte gierig mit ihrem Schlangenkopf. Die Pilger, die sich in den Eingängen der brennenden Häuser verkrochen hatten, schrien wie mit einer Stimme auf, als die Bestie mit ihren rasiermesserscharfen Kiefern eine fliehende Frau erwischte, ihr mit einem einzigen Biss das Rückgrat zerschmetterte und dann mit der Beute im Maul einen großen Sprung in den Himmel hineintat.
Wahnsinn stieg herab auf die Stadt der Vernunft.
Fhremus beobachtete den ersten Angriff aus der Luft mit großer Zufriedenheit.
Er sah den Rauch, der aus dem Mittelpunkt der Stadt in den Himmel aufstieg; er war schwarz und ölig und stank nach Pech und brennendem Stroh. Eine Unmenge Vögel waren aufgestiegen; es waren nistende Schwalben und Tauben, die ihre Nester in den Giebeln der in Flammen stehenden Häuser gebaut hatten. Aus der Stadt drangen laute Schreie der Angst und des Grauens über die Mauern.
Er wandte sich im Sattel um und schaute den Titan an, der stocksteif dastand, seit sie vor dem Stadttor eingetroffen waren.
»Bist du bereit, Faron?«, fragte er und war sich dabei nicht sicher, ob das Wesen überhaupt wach und bei Bewusstsein war.
Die milchig-blauen Pupillen erschienen in den Steinaugen. Die gigantische Statue nickte mechanisch.
Fhremus schluckte und räusperte sich. »Also gut. Öffne das Tor.«
Die riesige Statue reckte Arme und Beine und schritt allein vor.
Der Kommandant wandte sich an seine Adjutanten. »Auf mein Signal«, sagte er. Sie salutierten vor ihm und ritten zurück an die Spitze ihrer Kolonnen.
Das gesamte Heer sah zu, wie ihr Standartenträger sich dem großen Tor von Sepulvarta näherte – dem Tor, das in den tausend Jahren, die es bereits in den Angeln hing, noch nie durchbrochen worden war.
»Schießt! Verdammt noch mal, schießt!«, schrie Fynn den Bogenschützen zu.
Die Männer, denen noch übel war von dem Luftangriff, vom Rauch und der glühenden Asche, die von den Häusern in der Umgebung auf sie niederregnete, wandten ihre ganze Aufmerksamkeit dem Riesen zu und schossen ihre Pfeile auf ihn ab.
Etwa die Hälfte der Geschosse fand ihr Ziel. Davon zerbrach wiederum ungefähr die Hälfte; der Rest prallte von der gewaltigen Statue mit demselben dumpfen Laut ab wie zuvor von den fliegenden Bestien.
»Gütiger All-Gott«, flüsterte Fynn. »Das kann doch nur ein Albtraum sein.«
Seine Worte wurden mit einem betäubenden Lärm beantwortet, als Stein auf Holz traf.
Die Bogenschützen legten neue Pfeile ein, schossen sie wieder ab – mit demselben Ergebnis. Jeder Pfeil, der den Steinmann traf, zerbrach oder prallte wirkungslos von ihm ab.
»Spart euch eure Pfeile«, warnte Fynn sie, während er über die Mauer auf die Streitmacht blickte, welche die Stadt umgab. »Sie bereiten sich darauf vor, das Tor zu erstürmen. Bewahrt euch die Pfeile für die Ziele auf, bei denen sie etwas ausrichten können. Harrt so lange aus, wie die Pfeile reichen, und dann kippt ihr die Pfannen über jedem aus, der durch das Tor gehen will. Das wird möglicherweise unsere letzte Waffe sein. Viel Glück, Männer – es war eine Freude, mit euch zu dienen.«
»Genau wie mit Euch«, ertönte ein Chor aus zitternden Stimmen.
Die Mauer neben dem Tor erbebte, als ein weiterer Schlag das Holz traf und Splitter durch die Luft flogen. Fynn zwang sich zur Ruhe und blickte über die Mauer.
Der Steinriese rammte die Faust in das heilige Tor von Sepulvarta und hinterließ tiefe Löcher im Holz. Dann riss er die uralten Baumstämme entzwei, die aus Lebendigem Stein bestanden. Das Tor kreischte, als lebe es.
In der Ferne ertönte eine Fanfare aus den Reihen der Sorbolder.
Die Bogenschützen hoben ihre Waffen und zielten auf die Frontlinie.
Mit einem Zischen schoss eine der fliegenden Bestien über die Mauer, schnappte nach einem der Schützen und stieß dabei etliche andere in die Tiefe.
Das Tor schwang mit einem Lärm wie Donnerhall auf, der von den Bergen zurückgeworfen wurde.
Mit einem Aufschrei strömten die Angreifer wie eine Flutwelle in die Stadt Sepulvarta, während die Sonne allmählich hinter dem Horizont verschwand.
»Verdammt und zugenäht!«
Entsetzt brachte Anborn sein Pferd zum Stehen. Die Streitkräfte des Bündnisses hinter ihm taten es ihm gleich.
Nachdem sie auf der Pilgerstraße angehalten hatten, blieb dem Heer, das in größter Eile zusammengestellt worden und so rasch wie möglich zur heiligen Stadt geritten war, nichts anderes übrig, als von den auf der Stelle tänzelnden Pferden aus auf den Anblick zu starren, der sich ihnen nun bot.
Rauch stieg von den Türmen und Dächern der Stadt auf und verschmutzte den Himmel mit Asche und öligem Ruß. Man konnte Flammen aus den Dächern schießen sehen; ihr Widerschein spiegelte sich im großen Turm und erhellte den Nachthimmel meilenweit.
Im flackernden Schein dieser Feuer kreisten schwarze, geflügelte Bestien durch die dunstige Luft über der Stadt und stießen bisweilen wie schnappende Nattern herab.
Selbst aus der Entfernung von fünf oder mehr Meilen waren die Schreie zu hören, die die Nacht zerrissen.
»Marschall …«
»Schweigt!«, donnerte Anborn und regte sich auf seinem Pferd.
Der Patriarch, der an seiner Seite geritten war, hatte neben ihm angehalten. Sein großes, zerfurchtes Gesicht, das er halb unter einem bäuerlichen Umhang verborgen hatte, war genauso weiß wie die Zeremonialgewänder, die er meist trug. »Was sind das für seltsame Wesen, die über die Stadt fliegen?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Anborn, »aber ihre Gegenwart ändert alles. Wir brauchen einen neuen Angriffsplan. Ich war nur darauf vorbereitet, eine einfache Belagerung zu durchbrechen, was uns möglich gewesen wäre, obwohl wir in der Minderzahl sind. Aber bei einem Feind, der aus der Luft angreift …«
»Denkt nicht weiter darüber nach«, sagte der Patriarch mit stärkerer Stimme. »Die Stadt ist verloren. Wenn wir uns jetzt einmischen, würden wir jeden Menschen in ihr und auch uns selbst zum Tode verurteilen.«
Anborns Augen flackerten vor Wut. »Ist das Eure Einschätzung als Feldherr?«, fragte er eisig.
Der Patriarch schüttelte den Kopf; auch in seinen Augen loderte ein grimmiges Feuer. »Das ist die Einschätzung des Rings der Weisheit«, erwiderte er. Er hielt die Hand hoch; der klare Stein im Ring glühte so heftig wie der Himmel über Sepulvarta. »Ich muss nun ins Exil gehen. Wenn ich die Stadt retten könnte, indem ich mich ausliefere, würde ich das tun. Aber das ist nicht die Absicht unserer Feinde. Sie haben lediglich die Grenze von Sorbold um die Ausdehnung meines Landes nach Norden verschoben.«
»In der Tat«, murmelte Anborn. »Und sie haben zweifellos vor, die Stadt als Stützpunkt zur Eroberung der Krevensfelder zu benutzen.« Er zerrte an den Zügeln und achtete nicht auf das erschrockene Jammern seines Reittieres. »Dieses Gebiet ist so groß und ungeschützt, dass wir es nicht verteidigen können. All die Leute in den Gehöften und Siedlungen sind Kriegsfutter, wenn wir sie nicht sofort nach Roland evakuieren. Werft einen letzten Blick auf die Zitadelle, Euer Gnaden. Ich vermute, dieser Ort wird in Schutt und Asche liegen, wenn Ihr das nächste Mal hier vorbeikommt. Und wenn sie den Turm in ihre Gewalt bringen, kann niemand vorhersehen, was sie damit machen werden.«
»Ich weiß«, meinte der Patriarch. »Das Grauen dieses Gedankens entzieht sich jeder Beschreibung.«
Anborn hörte schon nicht mehr zu. Er hatte bereits sein Pferd gewendet, ritt an den Truppen entlang und brüllte Befehle zur Massenevakuierung.
Als nach einer Nacht der Plünderungen das Tageslicht hereinbrach, gebot Fhremus den Ausschreitungen Einhalt.
»Leert die Basilika und versiegelt sie«, befahl er. Minus salutierte vor ihm und gab das Kommando weiter. »Sie ist wahrlich eines der Wunder der bekannten Welt. Ich bin sicher, der Herrscher will nicht, dass sie stärker beschädigt wird, als es zur Unterwerfung der Stadt nötig ist.«
Er sah sich um und betrachtete die Überreste von Sepulvarta. Die historischen weißen Gebäude waren mit Ruß überzogen; ganze Bereiche der Stadt, besonders die Pilgerstätten, standen noch in Flammen, und auf den gepflasterten Straßen lief das Blut in Strömen.
»Wo ist Faron?«, fragte er Trevnor.
Der Adjutant schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn zuletzt bei den Gärten gesehen, Herr. Er hat die Tür zum Haus des Patriarchen aufgebrochen, wie es ihm befohlen war, aber dann ist er auf eigene Faust losgezogen; in all dem Rauch konnten wir ihm nicht folgen.«
»Der Patriarch ist noch immer nicht gefunden worden?«
»Nein, Herr. Und die Priester und Akolythen im Haus schwören, dass sie nicht wissen, wo er ist. Sie haben nicht einmal unter der Folter etwas ausgesagt.«
»Hmm. Nun gut, haltet weiterhin nach beiden Ausschau. Es gibt nur ein einziges Tor in der Stadtmauer, und Faron ist nicht dorthin zurückgekehrt, also muss er noch irgendwo hier drinnen stecken. Er ist so groß, dass man ihn schlecht übersehen kann. Ich bin sicher, dass wir ihn sehr bald finden werden.«
Fhremus’ Gewissheit schwand kurz darauf, als ein Loch im nördlichen Teil der Stadtmauer entdeckt wurde, das wie von einer gewaltigen Hand gerissen worden war.
Als sich schließlich die Erde unter seinen Füßen ausreichend abgekühlt hatte, hielt Faron an.
Die Schlacht hatte ihm wenig bedeutet. Manchmal stellte Zerstörung für ihn ein großes Vergnügen dar, doch bei der Plünderung Sepulvartas hatte er es nicht empfunden. Faron wusste selbst nicht, warum das so gewesen war. Vielleicht war es die Knauserigkeit der Kommandanten und Soldaten gewesen, die ihm wie einem großen heidnischen oder animistischen Gott gefolgt waren und nicht erkannt hatten, dass dieser heidnische Gott einst ein zitterndes, gallertartiges, trauriges Bündel blassen, sterbenden Fleisches gewesen war, bis Talquist ihn auf der Waage von Jierna Tal in diesem Körper aus Lebendigem Stein eingeschlossen hatte. Faron hatte diese Verwandlung bestenfalls als Ironie des Schicksals empfunden, denn als Kind des Dämonengeistes, das er war, steckte er nun in einer Gruft aus Lebendigem Stein, so wie einst sein Vater.
Ob er nun ein Titan war oder nicht, ob er ein Soldat von unbegreiflicher Stärke oder nur eine scheußliche Jahrmarktsattraktion war, Faron vermisste seinen Vater schmerzlich. Trotz des Misshandlungen, die er von ihm erfahren hatte, hatte dieser Mann, in den der Dämon gefahren war, die meiste Zeit liebevoll für ihn gesorgt. Später in seinem Leben war dieser Mann der Seneschall genannt worden, doch zu früheren Zeiten war er als Michael, der Wind des Todes, bekannt gewesen. Er hatte den beeindruckten Faron mit Geschichten aus seiner Soldatenzeit ergötzt und in ihm das Verlangen hervorgerufen, einen Körper zu besitzen, mit dem er seinen Vater auf dessen Abenteuern begleiten und gemeinsam mit ihm so freudenvolle Dinge wie Morde und Plünderungen begehen konnte, doch die Natur war nicht freundlich zu ihm gewesen.
Nun aber, da er die vollkommene Gestalt für einen Soldaten angenommen hatte, war er allein und erhielt Befehle von Männern, die ihm gleichgültig waren und die er mit einem bloßen Gedanken zerschmettern konnte.
Irgendwo im Wind lag eine Spur dunklen Feuers. Faron wusste nicht, wieso er das bemerkte, doch in den Tiefen seines steinernen Innern regte sich etwas und rief ihn nach Norden; es war etwas, das er aus der Zeit kannte, bevor sein Leben so bitter geworden war.
Faron griff in den großen Ledergürtel, den er um die Hüfte trug und der einst das Zaumzeug eines Pferdegespanns gewesen war, und holte daraus unbeholfen die blaue Schuppe hervor.
Sie war sein Lieblingsgegenstand, denn sie erlaubte ihm, verborgene Dinge zu sehen oder solche, die sich in weiter Entfernung befanden. Auch liebte er das Bild, das darauf gezeichnet war. Eine Seite trug das Abbild eines klaren Auges, die andere das eines hinter Wolken verborgenen Auges, das seinen eigenen milchig-blauen glich.
Er konnte noch nichts erkennen, doch es befand sich so viel unsichtbare Asche in der Luft, dass die Schuppe vor heimlichem Leben summte, als er sie in nördliche Richtung hielt. Was immer dort war, es war noch so weit entfernt, dass er es nicht zu sehen vermochte, doch er konnte die Spur aufnehmen.
Und vielleicht jemanden seiner eigenen Art finden.
Faron hielt seinen ungeschlachten Kopf in jene Richtung, folgte dem schwachen Gewisper des bösen Kreosots und ließ den Lärm und das Chaos der brennenden Stadt hinter sich.