I Ein böser Wind

1

Westliche Küste Avonderre

An einem Morgen von unübertrefflicher Schönheit stieg die Sonne über dem strahlenden Meer auf, dessen Kräuselungen so grell leuchteten, dass es schon beinahe schmerzhaft war. Der Winterwind tanzte über den glitzernden Wogen und brachte aus den südlichen Landen den frischen, süßen Duft des fernen Frühlings mit – und damit auch den Geruch von Blut.

Rath fluchte, senkte den Kopf auf die Brust und zog die braune Kapuze noch weiter über die stechenden Augen. Er wartete darauf, dass das Wasser unter seinen durchscheinenden Lidern klar wurde, blinzelte dann einige Male und sah wieder hoch zur Küstenlinie. Die See war so still, dass das Ufer in der Ferne kaum schwankte. Rath packte das Ruder mit seinen sehnigen Fingern, streckte den Rücken und ruderte auf den Strand zu.

Mit jedem Ruderschlag, mit jedem Knarren des Holzes in der Riemendolle seines kleinen Bootes sang er sich die Liste seiner Ziele vor, deren Namen unauslöschlich in sein Gehirn eingebrannt waren. Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken, flüsterte er in der seltsamen, sirrenden Sprache seiner alten Rasse, der einzigen Art von Rede, die für den Wind unhörbar war. Rath achtete immer darauf, keine Nachrichten in den Wind zu sprechen, besonders nicht in den Meereswind, der sie rastlos über die ganze Welt verteilte, sodass jeder sie hören konnte, der auf die rechte Weise zu lauschen wusste. Rath war sich der losen Zunge des Windes wohl bewusst; er war aus diesem vergänglichen Element geboren.

Während er ruderte, biss er die Zähne zusammen und verfluchte schweigend die Wellen, über die er glitt. Das Wasser hatte für lange Zeit seine Schwingungen unterbrochen und ihn von seiner Beute fern gehalten. Jeder Ruderschlag brachte ihn der Befreiung näher, doch das besänftigte seinen wachsenden Zorn keineswegs. Solange er nicht fern des Meeres und der Kakophonie aus dichten Schwingungen war, die es hervorbrachte, war er unfähig zur Jagd. Also richtete er seine ganze Aufmerksamkeit wie immer auf die Namen.

Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.

Als er seine zukünftigen Opfer aufgezählt hatte, die schon auf seiner Liste standen, solange er sich erinnern konnte, stimmte er stumm einen letzten Namen an, den er erst vor kurzem hinzugefügt hatte.

Ysk.

Das war kein Name in seiner eigenen Sprache, sondern einer, der seinem Träger von einer dummen, halbmenschlichen Rasse verliehen worden war, die nur selten Worte gebrauchte. Ysk war das Firbolg-Wort für Spucke und für das Austreten von etwas Faulem. Dass diese Ungeheuer jemandem einen solchen Namen gegeben hatten, sprach von tiefstem Abscheu und einer Verachtung, die keine Grenzen kannte.

Es war möglicherweise der schlimmste Name, den Rath je gehört hatte.

Auch war es ein toter Name, ein Name, dessen Macht vor mehr als einem Jahrtausend gebrochen worden war und dessen Geschichte tief im Meeresgrund auf der anderen Seite der Welt ruhte. Ein vollkommen vergessener Name, vollständig ausgelöscht von Wind und Erinnerung, gegenwärtig nur noch für Rath und seinesgleichen.

Es war der letzte Name auf seiner Liste, aber der erste, nach dessen Träger er suchen würde, sobald er an Land ging.

Als der Strand schließlich so nahe gekommen war, dass die Anstrengung des Ruderns in keinem Verhältnis mehr zum Fortkommen stand, kletterte Rath aus dem Boot und ließ es in der Tide treibend zurück. Er hatte die Stelle seines Landgangs sorgfältig ausgewählt und gelangte daher unbemerkt in einer kleinen, felsigen Bucht zwischen zwei Fischerdörfern ans Ufer. Sein Glück hielt an, weit und breit war niemand auf dem Strand zu sehen.

Mit einem letzten Blick über die Schulter wandte er sich vom Seewind ab. Das kleine Boot trieb in einem wenig anmutigen Tanz allmählich ins offene Meer zurück und drehte sich ziellos in der Strömung hin und her. Rath watete an Land und beachtete dabei weder das Seegras noch die Kiesel, die den Grund unter seinen Füßen bedeckten. Seine Sohlen hatten keine Nervenstränge; die Schwielen von jahrtausendelangem Wandern durch Feuer waren fast so dick wie eine Bootswand.

Als er am Strand angekommen war, eilte er weiter, bis ihn der bebende Schaum der Wellen nicht mehr erreichen konnte. Dann blieb er in dem kalten, trockenen Sand stehen, zog seine Kapuze zurück, hielt den Kopf in Richtung Südwesten geneigt und lauschte dem Wind.

Er wartete hundert Herzschläge lang, hörte aber keine Stimmen von der Art seiner eigenen. Keiner seiner Jagdgefährten hatte etwas zu berichten, so wie es die meiste Zeit hindurch üblich war.

So wie es schon seit Jahrhunderten und Jahrtausenden war.

Rath verweilte noch einen Augenblick und drehte dann seinen Rücken dem Westen zu, fort vom Donnern der Wellen und dem Rauschen der Gischt. Er atmete den salzigen Wind durch die vier Öffnungen seiner Luftröhre ein, biss die Zähne zusammen und ließ seinen Kirai los, die Schwingung des Seekönigs, mit der seine Rasse ihre Beute aufspürte. Der sirrende Laut drang aus der tiefsten Öffnung in seiner Kehle und war nur von ihm selbst zu vernehmen.

Dann öffnete er den Mund und gestatte der Luft, die aus seiner Lunge aufstieg, durch die oberste Öffnung seiner Kehle zu entweichen, wodurch er wieder hörbare Wörter bildete.

Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.

Einen nach dem anderen sang er die Namen der Dämonengeister heraus, die er jagte, und spürte die leichte Veränderung im Ton, während er von einem zum nächsten wechselte. Wenn der Kirai eine Übereinstimmung eines dieser Namen mit einer Schwingung in der Luft feststellte, würde Raths Kehle wie in beißendem Feuer brennen; er würde das Blut der Bestie in seinem Mund schmecken und seinen Herzschlag in der eigenen Brust spüren. Er würde sich an diesen Rhythmus festklammern und ihm folgen.

Doch wie üblich lag kein Geschmack dieser Namen im Wind.

Schließlich stimmte er den letzten Namen an.

Ysk.

Dieser Name war natürlich anders. Im Gegensatz zu den übrigen war es der tote Name eines lebenden Wesens – ein Name, der in einem anderen Leben einem Mann mit einer Seele gegeben worden war. Wie verdorben diese Seele auch immer durch die Verheerungen der Zeit und des persönlichen Versagens sein mochte, sie konnte dennoch nie so beißend böse wie die Essenz der dämonischen Wesen sein, auf die Rath und seine Gefährten für gewöhnlich Jagd machten. Auch wenn dieser Name tot war, so hatte Rath doch Grund zu der Annahme, dass sein Träger noch lebte, obwohl sich seine Schwingungssignatur sicherlich zusammen mit dem Namen verändert hatte.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte er den toten Namen laut im plaudernden Wind gehört. Er hoffte, seinen Geschmack wieder zu finden, da er nun das Meer überquert hatte und schließlich an dem Ort angelandet war, wo er den Namen aufgespürt hatte – an dem Ort, wo er zum letzten Mal laut ausgesprochen worden war.

Er sog die Luft ein, erlaubte dem Wind, über seine Zunge zu gleiten, und sang den Namen.

Ysk.

Noch immer lag eine Spur von ihm im Wind, der aus Südosten blies, auch wenn sie schwach und hohl war; es mochte viele Jahre her sein, seit sie erklungen war. Doch auf diesem Kontinent und an diesem Ort, der in den alten Überlieferungen als die Wyrmlande bekannt war, war zuletzt der Name ausgesprochen worden. So viel vermochte Rath zu schmecken.

Zufrieden holte er sein Bündel unter dem Mantel hervor und öffnete es vorsichtig auf dem sandigen Boden, während der Wind vom Meer herbeiwehte und über die Haut seines entblößten Kopfes fuhr. Rasch überprüfte Rath seinen Proviant und die wenigen Werkzeuge, die er für seine Tätigkeit benötigte, sowie den Dolch, den er in einer kalbsledernen Scheide trug. Die Waffe war kaum mehr als ein Kindermesser und lediglich zur Selbstverteidigung gegen Mensch oder Tier bestimmt, wenn alle anderen Mittel versagten. Niemand, der ihn ansah, würde auf den Gedanken kommen, dass er bewaffnet war.

Seine tödlichsten Waffen trug Rath in seinem Kopf.

Nachdem er beschlossen hatte, dass der Wasservorrat ausreichte, packte er seinen Proviant schnell wieder zusammen und schwang das Bündel unter seinen fließenden braunen Mantel. Dann warf er einen letzten Blick auf das Meer. Das kleine Boot war nicht mehr zu sehen; es war untergegangen im flammenden Schein der aufgehenden Sonne.

Einen Moment später war auch Rath für alle anderen Augen als die seinen unsichtbar geworden.

2

Gwynwald nördlich des Tar’afel

Dasselbe Sonnenlicht, das hunderte Meilen entfernt auf dem Meer glitzerte, erhellte auch den frostigen Tau in der Luft und badete den Wald in weißliches Strahlen. Lanzen aus staubigem Gold erleuchteten die kahlen Stämme und Äste der weißen Bäume, die sich dadurch noch stärker von den benachbarten immergrünen, von gefrorenem Schnee gefleckten Gewächsen abhoben.

Kein Wintervogel durchbrach die Morgenstille mit seinem Lied, kein Rascheln in den Zweigen oder im Unterholz deutete die Gegenwart eines jener Waldbewohner an, die für gewöhnlich den kalten Monaten trotzten; niemand spürte den Beginn der Zweiten Tauwetterperiode, die sich schon seit einer ganzen Mondumdrehung ankündigte. Dieser Ort, der sonst von wilder Musik erfüllt war, gab keinen Laut von sich. Keine Äste bewegten sich an den Nadelgehölzen, nirgendwo knackte die Last des Eises im ausgegossenen Sonnenlicht. Selbst der Wind, ein beharrlicher Sänger, der so oft auch dann noch die kahlen Zweige schüttelte und durch die schwer mit Schnee beladenen Kiefern fuhr, wenn alle anderen Geräusche den Wald verlassen hatten, war nun still.

Totenstill.

Als die Sonne höher stieg, löste sich die kalte Feuchtigkeit in der Morgenluft etwas auf und brachte der Szenerie Klarheit, wenn auch weder Wärme noch Geräusche. Der tief über dem Boden hängende Nebel hob sich allmählich, eisige Luft wirbelte über der Erde, die sich mit dem nahenden Ende des Winters erwärmte. Und als die Luft klarer wurde, fiel das Licht, das sich in die stille Klamm ergoss, auf ein gewaltiges Gebilde, das zwischen geborstenen Bäumen und inmitten verbrannter Grasflächen aufragte und die Stelle bezeichnete, an der ein Teil der Welt gestorben war.

Als das Gebilde noch in Nebel gehüllt gewesen war, hatte es wie eine Ansammlung von grauen Felsblöcken ausgesehen, gefleckt mit Glimmer, aufsteigend aus dem weichen Lehm des Waldbodens. Doch als die Sonne durch die eisige Luft brach, wurden die Umrisse des Steins klarer, und seine behauenen Ränder enthüllten Drachenmerkmale: Steinstacheln, die sich über ein zusammengerolltes Rückgrat erhoben, bekrallte Klauen, die schützend um die Gestalt geschlungen waren, und ein geschwundener Schweif, der in einem grausamen Widerhaken auslief. Das Licht des dämmernden Morgens zeigte immer deutlicher, dass es sich um die riesige Statue eines Drachen handelte, der in einer schützenden Haltung hingekauert dalag. Jede Einzelheit war vollkommen herausgemeißelt, bis hin zu den winzigsten Schuppen auf seiner Steinhaut, die von Aschenstreifen bedeckt war. Ein klaffendes Loch war in seine Flanke gebohrt.

Die Augen in dem verwitterten Gesicht waren geöffnet. Selbst der größte Bildhauer der bekannten Welt wäre nicht in der Lage gewesen, die Tiefe der Trauer und den Frieden des Sichergebens im Ausdruck des Drachen auch nur anzudeuten.

Der Nebel wirbelte umher, löste sich aber nicht auf, sondern hing immer noch schwer in der kalten Luft, so wie es jeden Morgen seit Neumond gewesen war.

Dann erschien unter dem Nebel ein Lichtwirbel, der sich flüchtig unter der eisigen Wolkendecke drehte.

Dann noch einer. Und wieder einer.

Aus allen Ecken des Waldes erschienen nun große, schlangenhafte Körper. Wenn ein menschliches Auge zugegen gewesen wäre, hätte es die Gestalten zunächst nicht erkennen können. Die meisten der Wesen, die sich hier versammelten, hatten eine ätherische Gestalt angenommen. Sie waren aus eigenem Willen körperlos und bestanden aus Sternenlicht, das älter als die Welt war. Leichter als Luft, schwebten sie im schweren Nebel der Klamm. Als ihre Reise zu einem Ende gekommen war und sie ihr Ziel erreicht hatten, verdichteten sich die großen Drachen der Welt und wurden zu dem Fleisch, das ihnen ihre Verbindung zum uranfänglichen Element der Erde gewährte.

Die Macht, die sie mitgebracht hatten, durchdrang die Luft des Waldes und machte sie schwer vor uraltem Leben. Mitten unter ihnen zu stehen, wäre wie ein Ertrinken in einer Lawine aus Quecksilber gewesen, oder wie ein Zerquetschtwerden durch Mühlsteine aus Rubin. Diese uranfänglichen Drachen, die gewaltigen Gefäße aller Überlieferungen der Welt, die Wächter der Erde verwalteten ihr Amt mit althergebrachtem Argwohn, Misstrauen und Herrschaftsanspruch.

Das erste Wesen, das hier eintraf, war Valecynos, Tochter des Stammvaters ihrer Rasse und Wächterin von Ashra, einem der fünf Weltenbäume, der eine halbe Welt entfernt innerhalb des Feuerriffes wuchs. Valecynos war eine der Ältesten ihrer Art und wurde auch als eine der Tapfersten und Tollkühnsten angesehen. Wie der Baum der lebenden Flamme, den sie bewachte, blieb sie in halbfeuriger Gestalt. Ihre glitzernde Haut wechselte von flackerndem Scharlachrot zu brennendem Gold, dann wieder zur Finsternis von Rauch, alles innerhalb der Spanne eines einzigen Herzschlags.

Einen Augenblick lang wartete sie im Nebel und sog den Anblick des steinernen Drachen in sich auf. Als sich der schwere Dunst in der Hitze ihrer Gegenwart allmählich auflöste, kam sie langsam näher und starrte mit ihren feurigen Augen auf das Bild vor ihr, als betrachte sie das Ende der Welt.

Nach ihr kam Mikanic, der Drache, der über Groß-Overward herrschte, die südlichste Landmasse der Erde. Seine Herrschaft war unter seinesgleichen unangefochten, und sein Rat wurde niemals verschmäht, auch wenn er ihn selten anbot und sich meist unter dem Sand der Wüste verbarg, welche den Mittelpunkt seines Herrschaftsgebietes bildete. Seine trockene braune Haut und die große Anzahl schlanker Rückenstacheln hoben sich deutlich gegen die flüchtigen Farben der Wächterin neben ihm ab. Unter normalen Umständen hätte er sich vor einer der Fünf Töchter ehrfürchtig verneigt, doch die Bedeutung dieses Augenblicks war so groß und so schrecklich, dass Umgangsformen keine Wichtigkeit mehr besaßen.

Der Waldboden erzitterte, als die anderen erschienen. Sie hatten sich entschieden, nicht in ätherischer Gestalt auf dem Wind, sondern durch die Erde zu reisen. Sidus, ein Kohledrache, drang aus einer gähnenden Kluft im Boden hervor, und seine flinken schwarzen Augen spähten misstrauisch umher. Neben ihm erschien kurz darauf Witheragh, der dazu bestimmt war, tief im Innern der Berge über einen Ort zu herrschen, an dem das Gold in heißen Strömen rann. Seine Haut war mit Edelsteinen übersät, welche die Minenarbeiter in Nain geschnitten, poliert und ihm als Tribut überreicht hatten. Er wurde von Salinus gefolgt, einem Drachen, dessen weiße Haut von Gelb und Grau durchzogen war und den gewaltigen Salzadern glich, über die er herrschte. Diese beiden verstummten wie alle anderen in der Klamm erschienenen Drachen angesichts dessen, was sie hier sehen mussten.

Schließlich trat Dyansynos, eine weitere Tochter und die Wächtern von Frothta, dem Baum des lebenden Wassers, an die Seite ihrer Schwester und nahm den erschreckenden Anblick in sich auf, als ob sie ihren Schmerz mit Valecynos teilen wollte. Wie alle Drachen hatte sie keine Stimmbänder, mit denen sie Worte hätte bilden können, doch ihre Gedanken waren für alle, die sich in diesem Wald versammelt hatten, deutlich zu verstehen.

»Es ist so, wie wir befürchtet hatten«, sagte sie sanft, während das Bilden der Worte in ihrem Kopf starke Schmerzen hervorrief. »Llauron ist an sein Ende gekommen.«

Wie in Zustimmung blies der Wind zum ersten Mal seit Sonnenaufgang durch die Klamm, riss an den Zweigen der Bäume und wisperte unheilverkündend.

Die großen Geschöpfe starrten noch immer den Steindrachen an. Die grauenvolle Ungeheuerlichkeit, dass ein Drache sein Leben in so vollkommener Weise aufgab, war in der Geschichte bisher nur ein weiteres Mal vorgekommen; es war ein Opfer von solcher Größe, dass man nur in den dunkelsten Zeiten davon sprach, und auch dann nur im Flüsterton. An sein Ende zu kommen war weitaus mehr, als nur zu sterben. Es bedeutete, dass alle Überlieferungen, die ein Drache in seinem Blut trug, an das Universum zurückgegeben und auf das gesamte Vermächtnis des Blutes verzichtet wurde, während der verwesende Körper des Drachen zur Erde zurückkehrte und Adern aus kostbaren Metallen oder Lagerstätten von Edelsteinen hinterließ, die eines Tages die Kronen mächtiger Männer schmücken, die hoch geschätzt, umkämpft und gehortet sein würden, so wie es der Drache zu seinen Lebzeiten mit seinem eigenen Schatz gehalten hatte. Diese großen Geschöpfe, die glaubten, sie besäßen keine Seele, und die der Meinung waren, dass im Jenseits kein Platz für sie wäre, sehnten sich wie jedes andere empfindende Geschöpf nach einer Spur von Unsterblichkeit.

An sein Ende zu kommen bedeutete, diese Möglichkeit auf ewig zu verlieren.

Noch schrecklicher war die Tatsache, dass es ein Loch in den Schild der Macht riss, mit dem die Drachen die Erde schützten. Mit dem Verlust eines Angehörigen der alten Rasse ging der Verlust der Kontrolle über die Mächte der chaotischen Vernichtung einher, die in die Tiefen der Erde gebannt waren.

Schließlich knisterte die harsche Summe Sinjafs, des dunstigen Drachens aus den großen Giftsümpfen der östlichen Inselkette, durch die stille Klamm. »Llauron war kein Drache, sondern ein Drachenähnlicher«, sagte er barsch. Seine Angst rief bei den Versammelten Kopfschmerz hervor. »Er war von Menschen geboren, hatte zwar Drachenblut in den Adern, aber er war keiner von uns. Sein Verlust ist tragisch, doch er hat kaum Auswirkungen auf den Schild …«

»Llauron hat geholfen, den Großen Weißen Baum der Erde zu bewachen, so wie die Töchter die drei anderen verbliebenen Bäume schützen«, warf Talasynos ein, die selbst eine der Töchter und die Wächterin von Eucos war, dem Baum der lebenden Luft. »Seit seiner Kinderzeit hat er sich um den Baum gekümmert, hat ihn geliebt, wie wir Töchter die Weltenbäume lieben. Als meine Schwester Elynsynos ihre körperliche Gestalt aufgab, um ihren Schmerzen zu entkommen, hat er als ihr Enkel ihre Aufgabe übernommen. Wenn er das nicht getan hätte, wäre der Baum zerstört worden, so wie in den Kriegen der Menschen große Teile des Wyrmlandes zerstört wurden. Seine Verwandlung in einen Drachen war vollständig; er gab seine Menschheit auf, um uns zu Diensten zu sein. Mach dir nichts vor, Sinjaf. Sein Verlust ist genauso groß, wie wenn Elynsynos selbst an ihr Ende gekommen wäre.«

Ihre letzten Worte verhallten hohl in der Klamm.

Schließlich sprach Mikanic das aus, was alle anderen dachten. »Wo ist Elynsynos?«

Die großen Drachen blickten umher, richteten dann ihre anderen, tieferen Sinne auf diese Frage und forschten nach den Schwingungen der Drachin an diesem Ort, über den sie seit ihrer Geburt herrschte. Sie suchten den Horizont ab, spürten ihr im rinnenden Saft der Bäume nach, unter dem Erdboden, prüften die Luft auf eine Spur ihrer ätherischen Gestalt, lauschten auf jedes Flüstern im Wind.

Sie fühlten nicht einen einzigen Widerhall.

Das Grauen des Endes stieg unter den Versammelten zu noch größerer Furcht auf.

»Sie kann nicht tot sein«, ertönte die beharrliche Stimme von Chao, einer glitzernden Kreatur aus den hellen Landen der aufgehenden Sonne. Er war zart und nervös und der flüchtigste seiner Art. »Wir hätten es gespürt, so wie beim Tod von Marisynos, welche die Sagia bewacht hat, als die Insel Serendair in der Sintflut unterging.«

»Vielleicht haben wir es gespürt«, sagte Sidus dunkel. »Der Nachhall von Llaurons Ende war stark genug, um uns alle herzulocken. Vielleicht ist Elynsynos’ Tod in ihm untergegangen. Sicherlich ist ihre Herrschaft gebrochen. Dieses Land hier ist ohne Schutz und verwundbar. Spürt ihr nicht den Verlust ihrer Magie?«

»Es sind schon etliche Löcher im Schild«, murmelte Valecynos. »Wie haben so viele unserer Art verloren. Seht euch uns doch nur an. Gerade mal ein paar hundert sind von dem übrig geblieben, was einmal die größte Rasse der Erstgeborenen war. Wie können wir wenigen die ganze Erde schützen? Ohne einen Wächter für den letzten der Weltenbäume?«

»Wir müssen uns auf das beschränken, was unten ist«, sagte Witheragh, »und alles andere den Menschen überlassen.«

»Die Menschen sind die Wurzel allen Übels!«, rief Dyansynos aus. »Du magst in Frieden mit den Nain existieren, Witheragh, aber die meisten von uns leben in ständigem Kampf mit den anderen Geschlechtern, haben entweder einen brüchigen Waffenstillstand geschlossen oder gehen ihnen aus dem Weg, indem wir uns in den Eingeweiden der Erde verstecken. Es ist ihre Narrheit, welche das Unausgesprochene einlädt; es sind ihre Körper, an die sich die Dämonen so gern klammern, da sie selbst Wesen ohne Gestalt sind. Die Menschen sind es, durch die sich die F’dor fortpflanzen, und durch die Menschen setzen sie ihren zerstörerischen Willen durch.«

»Die Menschen müssen jetzt für sich selbst sorgen«, sagte Mikanic. »Wir können nichts mehr für sie tun. Solange Elynsynos hier war, beherrschte sie diese Lande vollkommener, als es uns anderen seit Anbeginn der Welt in den eigenen Gebieten je möglich gewesen ist. Ihre Narrheit, ihre Verbindung mit einem Mann aus der Rasse der Erstgeborenen, führte zu Niedergang und Krieg. Es wäre dumm von uns, wenn wir die Menschen jetzt noch zu retten versuchten. Wir müssen tun, was wir können, um diese zerbrechliche Welt zusammenzuhalten und vor den Bösen aus der Tiefen Kammer der Unterwelt sowie vor jenen zu schützen, die über die Erde wandeln. Was immer der Rasse der Menschen zustoßen sollte, ist ohne Belang. Und aus diesem Grund sollten wir unseren Bruder segnen und von diesem Ort weggehen, zurück in unsere eigenen Länder, damit sie nicht verwundbar sind.«

In schweigender Zustimmung wandten sich die Drachen erneut dem steinernen Leichnam zu.

»Was hat er getan, als er an sein Ende gekommen ist?«, fragte Chao unruhig. »Warum hat er sich zusammengekauert, obwohl er den Kopf erhoben und die Augen geöffnet hat?«

Das dunkle Immergrün rauschte laut auf, als der Wind durch die Zweige fuhr.

»Er muss etwas beschützt haben«, sagte Talasynos. »Was immer es war, es war für ihn nicht nur wichtiger als sein Leben, sondern auch wichtiger als sein Erbe und all seine Überlieferungen.«

»Wir können ihm wenigstens etwas davon zurückgeben, indem wir ihn segnen«, sagte Valecynos. Sie schloss ihre weiß glühenden Augen und sang ohne Klang, ohne Worte, und einen Augenblick später fielen die anderen ein.

Llaurons Steinhülle war plötzlich von Flammen umgeben, von klarem, elementarem Feuer ohne Spuren von Asche oder Schlacke, wie es im Herzen der Erde brannte. Die Striemen von Asche, die ihn einst durchzogen hatten, wurden nun von den Flammen gereinigt. Dann wechselte der Gesang und rief kalten Regen aus dem klaren Morgenhimmel herbei. Sobald der Körper gesäubert war, wandelte sich das Lied erneut und rief den Wind, der die Regentropfen trocknete, so wie eine Mutter die Tränen ihres Kindes trocknet. Als der Körper schließlich von diesen drei Elementen gesegnet worden war, öffnete sich die Erde sanft unter ihm und empfing Llauron in einem tiefen Grab inmitten des Waldes, den er im Leben so geliebt hatte.

Als alle Elemente der natürlichen Welt den Ort gesalbt hatten, an dem Llauron an sein Ende gekommen war, verstummten die Drachen. Sie blieben in dem Hain, standen Wache, bis die Nacht kam, und Äther legte sich in Gestalt von Sternenlicht auf das Grab. Der Äther, das älteste der fünf Elemente, wurde als die Magie erachtet, die ihre Rasse mit dem übrigen Universum verband.

»Mag es dir Frieden bringen und so viel Unsterblichkeit, wie du erlangen kannst, Llauron«, stimmte Valecynos an. Und mag das, wofür du dich geopfert hast, den Preis wert gewesen sein, den du dafür gezahlt hast, dachte sie.

Als der Wind wieder auffrischte, lösten die gewaltigen schlangenartigen Körper ihr Band zu dem Fleisch der Erde. Sie wurden durchscheinend, glommen ätherisch, stiegen in den Wind auf wie Sommerfäden oder verbargen sich wieder in der Erde und kehrten in ihre eigenen Länder zurück.

Dabei zitterten sie vor Furcht.

3

Tief im Hintervold

Zumindest ein Mitglied der Drachenrasse hatte nicht an der Segnung von Llaurons Leichnam teilgenommen. Allerdings bedeutete die Abwesenheit der Drachin nicht, dass sie nicht das Ende beobachtet hätte.

Sie war sogar der Grund dafür gewesen.

Dass Llauron ihr Sohn gewesen war, stellte für sie nur eine bruchstückhafte Erinnerung dar. Sie hatte fast drei Jahre lang in einem Grab aus Asche und Ruß gelegen, war von ätherischem Feuer aus dem Himmel versengt worden, und daher war ihr Gedächtnis nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Sie besaß nur noch wenige verbliebene Erinnerungsfetzen, und keiner bezog sich auf eines ihrer Kinder. Schon lange hatte sie die Grundregel des Drachentums vergessen, dass kein Drache je einen anderen töten oder auch nur den Plan dazu fassen durfte, denn bereits der Verlust eines einzigen riss ein schreckliches Loch in den Schutzschild, der die Welt aufrecht erhielt.

Selbst wenn sie dies gewusst hätte, wäre es ihr gleichgültig gewesen.

Sie wusste kaum mehr, als dass sie vor kurzem in der Erde erwacht war, in Schmerz und Verwirrung. Ihre Qualen konnte sie ein wenig lindern, indem sie ihrer zerstörerischen Wut freien Lauf ließ.

Während sie in ihrem leeren Palast aus Eis und gefrorenem Stein lag, wusste sie auch, dass sie allmählich starb.

Anwyn hatte erst vor sehr kurzer Zeit ihre neue Gestalt angenommen; nur wenige ihrer tausendfünfhundert Jahre hatte sie als Drachin gelebt. Mehrere Male während ihres Daseins hatte sie sich verwandelt, immer um Böses zu wirken, und war beim letzten Mal von einem Blitz aus Sternenfeuer getroffen worden, der ihre Flügel verkrüppelt und sie zu einem todesähnlichen Schlaf in ihrem schwarzen Kohlengrab verdammt hatte. Sie hatte keine Ahnung, warum sie erwacht war. Sie vermochte nur Bruchstücke ihrer Erinnerung heraufzubeschwören; es waren Bilder, die sie oft nicht verstand. Doch der Hass, den sie empfand, fühlte sich ungeheuer befriedigend an, wenn sie ihn auf Gedanken der Vernichtung richtete.

Da war eine klare Erinnerung: der beständige Hass auf eine Frau mit goldenem Haar – auf die Frau, die Anwyn in ihr Gefängnis gestoßen hatte.

All das war in die Kavernen ihres Gedächtnisses zurückgewichen, während sie auf dem Steinboden ihrer Festung in den frostigen Bergen nach Atem rang. In ihrer Brusthöhle steckte ein Stück Metall, mit rauen Rändern, rund, dünn und rasiermesserscharf. Es war kalt geschmiedet und aus einem Metall gemacht, das sich stark ausdehnte, wenn es in Berührung mit Hitze kam, aber natürlich wusste Anwyn auch das nicht. Sie wusste nur, dass es an ihren Muskeln und ihrer Brust gezerrt und sich unter der Hitze ihres Körpers beständig ausgedehnt hatte, während sie an diesen Ort des ewigen Winters zurückgekehrt war. Immer näher hatte es sich an ihr dreikammeriges Herz herangearbeitet.

Nun lag sie so still wie möglich, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen und keine Panik zu bekommen und kämpfte sich durch die Ruinen ihres zerschmetterten Hirns auf der Suche nach irgendeiner Erinnerung, die ihr hilfreich sein konnte.

Heilung, dachte sie verzweifelt, während sie ganz flach atmete und zusah, wie sich ihr blutgefleckter Speichel auf dem Boden sammelte. Ich muss Heilung finden.

Aber in ihrem Leben hatte sich Anwyn wenig um die Heilkünste gekümmert und wusste daher nicht, wo sie diese Heilung finden sollte.

Aus der Richtung eines Fensters, das auf die Berge hinausblickte, hörte sie ein summendes Geräusch, das lauter war als der allgegenwärtige Nordwind, der um ihren Palast heulte. Einen Moment später begriff sie, dass sie dieses Geräusch nicht mit ihren Ohren, sondern mit ihrem Blut hörte. Langsam wandte sie den Kopf, zuckte vor Schmerzen zusammen und versuchte all ihre Aufmerksamkeit auf das zu richten, was nach ihr rief.

Auf einem Holzaltar mit reichem Schnitzwerk lag ein mattes Fernglas.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz.

Das Fernglas war während des größten Teils ihres Lebens eines ihrer Werkzeuge gewesen. Einst hatte es ihrem Vater gehört, einem Seemann, doch anstatt damit weit entfernte Dinge auf dem Meer zu erspähen, hatte Anwyn es in ihrer Eigenschaft als Seherin dazu verwendet, in die Vergangenheit zu blicken. Sie erinnerte sich an nichts davon, hatte aber das Gefühl, dass ihr das Fernglas zeigen würde, was sie tun musste, um sich selbst zu retten, wenn sie nur an es herankam. So wie sie sich abgemüht hatte, an diesen Ort zu gelangen, nahm sie nun ihre letzte Kraft zusammen und bewegte ihren gewaltigen, schwer verwundeten Körper auf den Altar zu.

Der Wind hinter den vereisten Glasscheiben kreischte triumphierend auf, als das Bild der Drachin, das sich im Fenster spiegelte, allmählich näher kam. Sie spürte, wie ihr verletztes Herz wild schlug, als sie über den Boden kroch und eine Spur aus dunklem Blut hinter sich herzog. Höchst vorsichtig tastete sie mit einer krallenbewehrten Klaue über das Holz und suchte nach dem Ursprung der Schwingung, die sie verspürt hatte. Als sie das kalte Metall unter ihrer Klaue fühlte, kämpfte sie gegen den Drang an, das Fernglas zu fest zu packen.

Mit letzter Kraft glitt sie zu den eisbedeckten Fenstern, die über den gewaltigen Abgrund unter ihr hinaussahen. Sie hob das Glas an ihr riesiges, schlangenartiges Auge und spähte so eindringlich wie möglich hindurch.

Sie hatte vergessen, dass ihr das Fernglas nur Dinge aus der Vergangenheit zeigen konnte, aber das war gleichgültig. Das Bild, das sich formte, als sie durch die Linse blickte, brachte in ihren Erinnerungen etwas zum Erklingen. Es war das Bild eines alten Ortes mit mystischer Heilkraft, eine verlassene Zitadelle, in der heiße Quellen flossen, ein Heilgarten mit blühenden Kräutern, die Geist, Körper und Seele besänftigten, wo sich die Wärme der Sonne mit den Heilwirkungen des lehmartigen Sandes verbanden, um auch die schwerste Infektion aus dem Körper oder die schrecklichste Erinnerung aus dem Kopf zu ziehen und nichts als süße Klarheit und Frieden zu hinterlassen. Dass diese Zuflucht für die Leidenden im Sand der Wüste versunken war, noch bevor ihr Vater vor fünfzehnhundert Jahren den Fuß auf diesen Kontinent gesetzt und sie selbst den sagenhaften Ort nie gesehen und erst recht nicht seine Heilkraft erfahren hatte, verstand sie ebenfalls nicht. Sie wusste nur, dass sie in der winzigen Linse des Fernglases genau das sah, wonach sie suchte.

Die untergegangene Stadt Kurimah Milani.

Die Drachin rang nach Atem und lachte rau auf.

4

Haguefort, Navarne

Aufgrund eines unerklärlichen Zufalls befand sich in dem Augenblick, da Rath an den Strand kam, der Mann, der einst den geschmähten Namen getragen hatte, nach dem der Jäger suchte, an einem nur wenige Meilen entfernten Ort. Dieser Mann starrte mit schweigender Verachtung das rosig-braune Steingebäude der kleinen Festung an, die als Haguefort bekannt war. Am liebsten hätte er ausgespuckt, als er die Wiedervereinigung beobachtete, die bei ihm den gleichen Abscheu hervorrief, den auch sein früherer Name bei anderen erweckt hatte.

Ysk.

Seit damals, da ihm verachtungsvoll dieser Name verliehen worden war, hatte der Mann auch schon andere Bezeichnungen getragen. Vor langer Zeit war er von dem Namen Ysk durch einen sehr erfahrenen Benenner gereinigt worden, der die Kunst der Schwingungen und ihrer Beeinflussung beherrscht hatte. Der Benenner hatte ihn einfach nur den Bruder genannt, denn er hatte gesagt, Ysk sei Bruder für alle, doch mit niemandem verwandt. Es war dieser Name, der ihm die Macht verliehen hatte, ein großer Heiler zu werden, doch stattdessen hatte er die andere Seite der Medaille gewählt und seine Zeit mit dem einsamen Geschäft eines gedungenen Mörders verbracht.

Jahrzehnte später hatte ihn ein weniger geschickter Vertreter derselben Zunft neu benannt, und da er nun über das Bergreich Firbolg herrschte, kannte ihn die dort lebende monströse Rasse, die ihm einst den Titel Ysk verliehen hatte, unter vielen gefürchteten und dummen Bezeichnungen: Das Glühende Auge, Der Erdenvertilger, Der Gnadenlose, Der Nachtmann. Er war knapp der Ehre entgangen, den geachtetsten traditionellen Titel zu erhalten, den die Bolg-Stämme ihren Häuptlingen und Kriegsherren gaben und den man grob mit »Der Oberste Geblähte« übersetzen konnte, denn so oder mit einem anderen Titel, der sich auf die Sinne bezog, konnte man ihn einfach nicht bezeichnen. In den dunklen Kavernen und Tunneln von Ylorc war er weder zu sehen noch zu hören und ganz bestimmt nicht zu riechen, es sei denn, er wollte es so.

Nun, in der gegenwärtigen Epoche der Geschichte, war er als Achmed die Schlange und König der Firbolg bekannt.

Der Name, den er bei seiner Geburt erhalten hatte, war mit der Zeit untergegangen und existierte nur noch in den tiefsten Grüften der Erinnerung. In den letzten zweitausend Jahren hatte er ihn lediglich ein einziges Mal genannt; er hatte ihn ganz leise in den Tiefen der Erde gegenüber der Benennerin ausgesprochen, die ihm seine augenblickliche Bezeichnung gegeben hatte.

Nun sah er zu, wie diese Frau die Stufen der rosig-braunen Festung hinaufgeführt wurde. Sie zitterte aufgrund ihrer kürzlich erfolgten Niederkunft und des beißenden Spätwinterwindes und atmete tief aus. Er wandte sich an seinen Sergeant-Major, ein gewaltiges Halbblut, das während des größten Teils seines Lebens sein ständiger Begleiter und Gefährte gewesen war.

»Niemand beobachtet uns. Wenn wir jetzt gehen, wird man unsere Abwesenheit erst nach unserer Heimkehr feststellen.«

Der Sergeant-Major schüttelte den Kopf und verbarg ein Lächeln.

»Nee, das war nich’ richtig«, sagte er und versuchte dabei, ernst zu klingen. »Der alte Ashe hat gesagt, wir sollen warten, damit wir ihm berichten können, was im Wald passiert is. Wir sollen nich drüber sprechen, bis wir zur Versammlung kommen, damit unsre Erinnerung noch frisch is.« Er deutete in die Richtung der beiden jungen Leute, des Herzogs und der Herzogin von Navarne, die ein kreischendes Bündel in ihren Armen hielten. »Scheint aber, wir haben was zu essen, solange wir warten müssen.«

Achmed lächelte schwach. »Meinst du, wir sollten Rhapsodys Kind verspeisen?«

»Ja. Warum nich?«

Das Lächeln des Firbolg-Königs verblasste, als die Wachen aus der Festung eintrafen, um ihn auf sein einsames Zimmer zu bringen.

»Weil es nicht für uns beide reicht«, sagte er in Hörweite der Soldaten.

»Hast recht, wie immer«, rief Grunthor liebenswürdig, während Achmed fortgeführt wurde. »Aber wie wär’s, wenn ich den Kopf abbeiße und du den Rest kriegst?«

Der Firbolg-König schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Es ist mit Ashe verwandt und schmeckt daher wahrscheinlich nach Schaf. Du weißt, wie sehr ich Schaf hasse.«

Das Kammermädchen, das inzwischen den Kindern den Säugling abgenommen hatte, stieß einen leisen Schrei des Entsetzens aus und hastete von den beiden ungeheuerlichen Männern fort. Der junge Herzog, seine neunjährige Schwester und die Festungswachen aber waren schon lange an die beiden gewöhnt und verzogen keine Miene.


Als der cymrische Herrscher befohlen hatte, dass alle Anwesenden in getrennte Zimmer geführt werden und die Zeit bis zur Versammlung schweigend verbringen sollten, hatten die meisten die Stirn gerunzelt. Jeder Einzelne, dem König Gwydion versprochen hatte, er werde sehr bald zu ihm gerufen, hatte dringende Geschäfte zu erledigen oder schreckliche Entdeckungen zu berichten, und sie alle ärgerten sich über die Verzögerung.

Alle außer Sergeant-Major Grunthor, dem gewaltigen Bolg-Kommandanten, der zustimmend nickte und gelassen dem unruhigen menschlichen Diener zu seinem Zimmer folgte. Sobald die Tür geschlossen war, sah sich der Sergeant rasch um, fand den Raum annehmbar und machte sich daran, sein persönliches Arsenal zu säubern.

So wie einige Männer Trinkflaschen, Jagdtrophäen oder Konkubinen sammelten, sammelte Grunthor Waffen mit Klingen. Er war noch stärker vernarrt in seine Kollektion als die meisten anderen Sammler, denn jedes Stück stand im Mittelpunkt einer bemerkenswerten Geschichte und war eine Erinnerung an einen blutigen Sieg, der in der Widerspiegelung des Stahls noch süßer erschien.

Wann immer es ihm sein Dienst erlaubte, schüttelte der riesige Bolg-Kommandant – der halb Firbolg und halb Bengard und ein siebeneinhalb Fuß großes Muskelpaket war, mit einer Haut, die die Farbe von alten Prellungen hatte – den Waffengurt ab, den er stets über den Rücken geschlungen trug, und breitete seine Waffen auf einem Tisch oder seinem Bett aus, wo er sie liebevoll polierte und dabei oft schräg und unmelodisch ein leises Kriegslied summte. Er nahm sich viel Zeit, jede einzelne Waffe zu benennen, und verspürte dadurch eine persönliche Beziehung zu ihnen. Sie waren für ihn Erinnerungen aus der alten Welt, in der das Leben einfacher, aber nicht leichter gewesen war.

Nun summte er wieder einmal vor sich hin, während er den massiven Patronengurt auszog. Das Knirschen von Leder und Metall bildete eine schöne Untermalung seiner Musik, einem angenehm blutigen Volkslied über die Plünderung einer Wüstenstadt, das er von seiner bengardischen Mutter gelernt hatte.

Die erste Klinge, die er herauszog, war zugleich die längste und die kürzeste Waffe, die er besaß. Es handelte sich um die Spitze eines Streitspießes, die er liebevoll Beggie genannt hatte, als Abkürzung für Begrüßung. Beggie hatte eine Doppelschneide und eine traditionelle Speerspitze mit einem Beilkopf an der einen Seite, allerdings fehlte der hölzerne Schaft. Grunthor hielt die Spitze gegen das Licht des Kaminfeuers in seinem Zimmer und erfreute sich an der Art und Weise, wie das schon seit langem getrocknete Blut in den von Zeit und Abnutzung gefrästen Scharten der Waffe glitzerte.

»Hallo, kleiner Freund«, murmelte er zärtlich. »Ich beschaff dir bald ’nen neuen Schaft. Tut mir leid, dass ich das noch nich getan hab.«

Die nächste Klinge, der er seine Aufmerksamkeit widmete, war das Alte Luder, ein schartiges, dünnes Schwert, das er im Gedenken an eine Hure mit stark behaarten Beinen benannt hatte, der er in der alten Welt sehr zugetan gewesen war. »Na, na, Liebchen, nich beißen«, murmelte er, während er vorsichtig die äußerst scharfe Schneide einölte. »Hab dasselbe vor vielen Jahren zu deiner Namenspatronin gesagt. Die hatte im Gegensatz zu dir aber keine Zähne.«

Mit unendlicher Sorgfalt kümmerte er sich um die Bedürfnisse jeder einzelnen Klinge, polierte den Stahl, sprach leise und sanft mit ihnen, fast wie zu einem Säugling, während er sie im Arm wiegte. Wenn der Anblick Grunthors, wie er die Klingen schärfte, die Ahlen anfeilte und die Metallgeißeln seiner Bullenpeitsche richtete, nicht so bedrohlich gewesen wäre, hätte er ein lustiges Bild für jedermann abgegeben, der tapfer oder dumm genug war, ihn zu stören.

Ein Stück seiner Sammlung nach dem anderen wurde geduldig in Bestzustand gebracht. Der Sergeant hatte genauso viel Freude daran wie an den Erinnerungen, die mit den Waffen verbunden waren. Schließlich kam er an die letzte, die man Triatine nannte, wie ihm ein Cymrer der Ersten Generation gesagt hatte. Es war eine Dreifachklinge aus drei dünnen Blättern, die im Mittelpunkt zusammengeschweißt und allesamt rasiermesserscharf waren. Sie diente nicht nur zum Aufschlitzen und war dabei lang und scharf genug, um den Gegner auf Abstand zu halten, sondern man konnte mit ihr auch große Stücke Fleisch und Muskeln herausschneiden, wenn man sie unter Anwendung von genügend Kraft mit der dreieckigen Spitze voran einsetzte und dann in der rechten Weise drehte. Dies war die letzte Waffe, die er seiner Sammlung in der alten Welt einverleibt hatte. Achmed hatte sie aus einem toten Soldaten gezogen, der Rhapsody verfolgt hatte, und es war die einzige seiner Waffen, die er noch nie eingesetzt hatte.

Das Säubern und Pflegen der Waffen half Grunthor dabei, seine Gedanken zu ordnen. Auf dem Weg von Gwynwald nach Haguefort hatte er kaum einen Augenblick gefunden, in dem er mit seinem König und besten Freund allein hatte reden können. Achmed hatte auf der ganzen Reise in der Kutsche zusammen mit Rhapsody, ihrem Gemahl und dem neugeborenen Sohn eisern geschwiegen, während sie sich allmählich der Festung aus rosig-braunem Stein, dem Herzogssitz von Navarne, genähert hatten. Dieser Ort war der erste gewesen, an dem die drei – ohne Ashe – in der neuen Welt, dem Wyrmland, zu dem sie von der anderen Seite der Zeit geflohen waren, ehrlich und aufrichtig willkommen geheißen worden waren.

Es war klar für Grunthor, dass sich ein Krieg zusammenbraute. Nach so langer Zeit ohne Übung als Feldkommandant war er bereit und sogar erpicht darauf, in die Schlacht zu ziehen, ob sie nun mit traditionellen Waffen oder solchen außerhalb seines Erfahrungshorizontes oder mit beiden zugleich geschlagen werden würde. Im Gegensatz zu Rhapsody, die sich auch dann noch nach Frieden sehnte, wenn er völlig unwirklich geworden war, und Achmed, der nie an die Möglichkeit des Friedens glaubte, empfand Grunthor den Frieden als eine Zeit der Unannehmlichkeit, in welcher die Waffen rostig und unbrauchbar und die Soldaten unaufmerksam und faul wurden, weil ihnen der Ansporn der Angst fehlte. Die Bengard-Rasse seiner Mutter hatte sich schon vor langer Zeit die Vorstellung vom andauernden Krieg als bestem Seinszustand zu eigen gemacht, selbst wenn sie diesen Krieg mit künstlichen Mitteln hervorrufen musste, denn er führte zu einem Zustand der gesteigerten Wachsamkeit und des gemeinsamen Opfers.

Und natürlich machte Krieg Spaß.

Als Grunthor das kleine Kurzschwert namens Luzi ölte, legte sich ein schiefes Grinsen über sein gebräuntes Gesicht, wodurch ein sorgsam polierter Stoßzahn unter den aufgeworfenen Lippen hervorlugte. Luzi war das Schwert, das er Rhapsody geliehen hatte, um ihr die Handhabung einer Klinge beizubringen. Sie hatte ihm alle Ehre gemacht und trug nun eine eigene historische Waffe, doch am liebsten sah er sie noch so vor sich, wie sie, die eine Armlänge kleiner als er war und höchstens ein Drittel seiner Körpermasse besaß, sich dazu gezwungen hatte, ihn in den ersten Übungsstunden nicht mit all ihrer Kraft anzugreifen. Er hätte sie wie eine Grille zertreten können, ohne sich die Stiefel besonders schmutzig zu machen, doch er hatte gelernt, sie und ihre Gaben hoch zu schätzen, auch wenn er sie nie ganz verstanden hatte.

Sein Grinsen verblasste, als ihm ein frischeres Bild von ihr in den Sinn kam: wie sie bleich und grau vom Blutverlust und den inneren Verletzungen bei der Geburt des Drachenjungen dagelegen hatte. Es war das Kind Ashes, der selbst Drachenblut in den Adern hatte. Sie und Achmed waren unter dem versteinerten Körper ihres Schwiegervaters Llauron hervorgekommen, eines hinterhältigen Mannes, dem Grunthor nie getraut hatte, auch als er noch menschliche Gestalt besessen hatte. Selbst seine Verwandlung in die ätherische Existenz eines Drachen hatte Grunthors Meinung nicht ändern können. Llaurons Opfertod, der nach Achmeds Ansicht sie beide vor der Raserei der Drachin Anwyn gerettet hatte, war das Mindeste, was der alte Mann in Grunthors Augen hatte tun können.

Als er Rhapsody im Wald gesehen hatte, wie sie in der Kutsche ihres Gemahls verschwunden war – die sie erst in Haguefort wieder verlassen hatte, um sich in die Festung zu begeben –, hatte sie in Grunthor ein Gefühl des Unbehagens hinterlassen, an das er nicht gewöhnt war. Er ließ den ledernen Waffengürtel schnalzen und beschloss dafür zu sorgen, dass er vor seiner Abreise mit ihr allein reden und sich von ihrem Zustand überzeugen konnte.

Er steckte gerade seine Waffen weg, als es an der Tür klopfte. Ashe hatte nicht gelogen und die Wartezeit kurz gehalten. Grunthor legte den Waffengürtel an und ging hinter den Wachen hinunter in die Halle, wo hoffentlich die fruchtbare Planung eines großen militärischen Abenteuers stattfinden würde.

Bei dieser Aussicht konnte er es einfach nicht sein lassen, ein fröhliches Liedchen zu summen.


Während Grunthor seine Waffen säuberte, hatte der Bolg-König die Wartezeit genutzt, um einen kleinen Schwarm Burgschwalben zu beobachten. Es waren Wintervögel, die das ganze Jahr über in den Spalten und Ritzen von Hagueforts hohen Mauern nisteten. Bei ihrem Anblick dachte Achmed über alte Verluste nach.

Das Zwitschern der Vögel schien heller zu sein, wenn sie höher im Wind dahinglitten, und ihre Rufe kitzelten die empfindlichen Nervenenden in Achmeds Kopfhaut. Das war an und für sich nicht ungewöhnlich; fast alles, was lebte oder sich bewegte, machte sich mit seinen Schwingungen auf der Haut des Bolg-Königs bemerkbar. Das Gewebe aus Adern und Nerven, das jeden Zoll seiner Körperoberfläche durchzog, war dafür verantwortlich, dass er auf der Jagd seine Beute erspüren konnte; zu allen anderen Zeiten hingegen ärgerte ihn seine Fähigkeit nur.

Doch was Achmed in den Vogelrufen bemerkte, war ein besonders musikalisches Zwischenspiel, ein hoher Triller, der alle acht Herzschläge wiederholt wurde und die Reizung seiner Haut durch all die anderen Vogellieder erträglich machte. Der Triller dämpfte die Nadelstiche zu einem besänftigenden Summen, das sich beinahe angenehm anfühlte. Er kannte dieses Gefühl.

Genauso empfand er Rhapsodys Nähe.

Achmed stieß langsam die Luft aus. Darin lag die Ironie: Obwohl ihn die Entscheidungen der cymrischen Herrscherin, die sie während der letzten anderthalb Jahrtausende getroffen hatte, immer wieder genauso verwirrt hatten wie ihr offenherziger und hohlköpfiger Idealismus, hatte sie eine angeborene musikalische Schwingung an sich, welche die unablässigen Qualen linderte, die ihm das Leben in jedem wachen und schlafenden Augenblick auferlegte.

Sobald ihm dieser Gedanke gekommen war, wurde die Tür geöffnet. Rhapsody betrat den Raum, was Achmed wusste, ohne in ihre Richtung zu schauen, denn plötzlich ließen die Schmerzen auf seiner Haut nach, wurden besänftigt durch die Schwingungen, die sie überallhin mitnahm.

Er drehte sich nicht einmal um, als sie zum Fenster kam. »Wo ist dieses kreischende Ding?«, fragte er, während er den Formationsflug der Schwalben über dem Balkongitter beobachtete und zusah, wie die Vögel dabei die warmen Aufwinde nutzten. »Ich dachte, es ist für immer und ewig an deiner Brust festgeklebt.«

Rhapsody kicherte. »Sein Vater hat ihn«, sagte sie, stellte sich neben ihren Gefährten und folgte seinem Blick, während die Vögel über den Turm der Festung und außer Sichtweite flogen. »Und für einen Neugeborenen ist er wirklich sehr ruhig. Aber vielleicht ist deine Rasse in ihrer ersten Zeit noch stiller, so wie sie es in allen Lebensaltern ist. Schreien dhrakische Kinder nie, wenn sie Hunger haben oder Kälte verspüren? Oder teilen sie ihre Bedürfnisse stumm mit, so wie es eure Erwachsenen tun?«

Achmed zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er nur. »Ich bin nicht von Dhrakiern, sondern von Bolg aufgezogen worden, wie du dich erinnern wirst. Ich weiß nicht mehr über dhrakische Kinder als du.«

Endlich drehte er sich um und sah sie an. Dabei zuckte er zusammen. Eines der schönsten Merkmale ihres Gesichts war immer die große Anzahl der Farben gewesen. Ihre rosige Haut hatte sich vom Smaragdgrün ihrer Augen abgehoben und war von blondem Haar eingerahmt gewesen, welches das Licht in jedem Raum eingefangen hatte. Achmed kannte sie aus einer Zeit, in der sie noch nicht die ernsthafte Herrin des Bündnisses, sondern eine lebhafte Straßenhure gewesen war. Zwar war für ihre sagenhafte Schönheit auch das elementare Feuer verantwortlich, das sie einst in sich aufgenommen hatte, doch sie war schon immer eine wunderbare Frau gewesen, auch in der schlechten alten Zeit auf der lange untergegangenen Insel Serendair, eine halbe Welt weit entfernt.

Als er sie nun betrachtete, sah er eine völlig andere Frau. Rhapsodys für gewöhnlich sonnengebräunte Haut war so blass wie Porzellan, ihre Augen hatten eine schwächere Grüntönung und waren wie Frühlingsgras statt wie ein Wald im Sommer. Ihr leuchtendes Haar hatte ein wenig von seinem Glanz verloren, und ihre Fingerspitzen sowie das Weiße in ihren Augen schienen blutleer zu sein. Sie wirkte müde und abgespannt, was nicht verwunderlich bei einer Frau war, die soeben eine schwierige Geburt überlebt und dabei dem Tod sehr nahe gewesen war.

»Ich dachte, dein Gemahl hätte uns alle gebeten zu schweigen«, sagte er und schaute wieder aus dem Fenster.

»Das hat er auch.« Rhapsody trat näher an ihn heran und legte ihre kleine Hand in seine. »Und ich werde mich an diese Bitte halten, sobald ich dir noch einmal dafür gedankt habe, dass du mein Leben und das meines Kindes gerettet hast. Wir können später weiterreden, aber es ist mir nicht möglich, noch einen einzigen Moment verstreichen zu lassen, ohne dir zu sagen, wie dankbar ich dafür bin, dass du mein Freund bist, was für schlimme Dinge ich auch immer in der Vergangenheit zu dir gesagt haben mag. Ich hoffe, du wirst mir dafür vergeben.«

Achmed sah sie nicht an, sondern nickte nur und starrte weiterhin aus dem Fenster. Rhapsody beobachtete ihn schweigend, aber er erwiderte ihren Blick nicht mehr, sondern folgte nur noch dem Flug der Schwalben im warmen Winterwind. Als die Stille schließlich beklemmend wurde, drückte sie seine Hand, verließ den Raum und nahm die besänftigende Musik der Schwingungen, die sie verbreitete, mit sich – und damit auch den Rest von Achmeds halbwegs guter Stimmung.

Als er den fernen Widerhall ihrer Schritte auf dem polierten Marmorboden der Halle hinter seiner Tür nicht mehr hören konnte, sprach er das aus, was er ihr in einem anderen Leben gesagt hätte. »Ich spüre, wie sich die ganze Welt enträtselt.«

In der Nähe der Grenze Zwischen den Provinzen Navarne und Bethania

Die Soldaten waren Veit, dem Obsthändler, lange auf der Straße gefolgt, bevor er sie bemerkte.

Für gewöhnlich hielt Veit sich für einen recht aufmerksamen Mann, doch der späte Winterwind hatte ihm fast den ganzen Tag über in die Augen gestochen, und die Straßen im östlichen Navarne waren hügelig und wanden sich um die frostigen Erhebungen und Heuschober herum, die den weiten, leeren Feldern dieses nur spärlich bewohnten Ackerlandes ihr unverwechselbares Aussehen verliehen. Er schaute erst hinter sich, als er sich auf der geraden, ebenen Straße hinter dem Dorf Byrony befand, und nun bestand für ihn keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken oder einen Grund für eine Rast auf seiner Reise zu finden.

Als er die dunkle Masse in der Ferne näher kommen sah, schnalzte er seinem Pferd zu und wurde langsamer. Er wollte ins Gras ausweichen, falls es nötig werden sollte.

Schweißperlen traten ihm auf die gerunzelte Stirn, die vorhin in der späten Morgensonne noch kühl und trocken gewesen war. Veit wusste nicht warum, aber plötzlich war er unruhig und sehnte sich stärker nach seinem Zuhause als noch einen Augenblick zuvor.

Beruhige dich, du Idiot, dachte er. Von Rolands Soldaten hast du nichts zu befürchten. Du hast nichts Unrechtes getan.

Trotzdem blieben die Haare in seinem Nacken aufgerichtet, als schmuggele er gestohlene Juwelen, anstatt bloß eine Ladung Winteräpfel zu transportieren, die er glücklicherweise in Kylis Torheit, einem Gehöft im südlichen Bethania, hatte erwerben können.

Als der Boden unter seinem Wagen erzitterte und die Erschütterungen sich bis zu der Fahrerbank fortsetzten, auf der er saß, erkannte Veit plötzlich, warum er so unruhig war. In den letzten Jahren waren die Kaufleute von der Krone ermuntert worden, sich den bewachten Postkarawanen anzuschließen, die über die transorlandische Straße rollten. Sie war in cymrischer Zeit erbaut worden und durchschnitt Roland von der Westküste bis zum Rande der Manteiden im Osten, jener Gebirgskette, die auch als die Zahnfelsen bekannt war. Es war zwar nicht ungesetzlich, die Abkürzung zu nehmen, auf der Veit unterwegs war, aber er vermutete, dass er von den herannahenden Soldaten dafür eine Abreibung erhalten würde.

Er warf einen verstohlenen Blick über die Schulter und seufzte schwer. Das Blau und Silber der Insignien war nun zu erkennen und bestätigte, dass es sich um Truppen handelte, die mit dem Herrscher der Cymrer verbunden waren. Veit zwang sich dazu, ruhiger zu werden, und bereitete sich auf ein paar Peitschenhiebe vor.

Sie kamen nicht.

Der Bolzen traf ihn im Rücken zwischen den Schulterblättern, knapp oberhalb des Brustkorbes.

Zuerst verstand Veit nicht, was geschehen war. Er wusste nur, dass er spürte, wie ihm die Luft ausging, als er versuchte, die Pferde ruhig zu halten, und kurz darauf wurden seine Beine taub. Dann war da nichts mehr, keine Empfindung mehr in seinem Unterkörper. Er versuchte sich umzudrehen und zu winden, aber er verlor dabei nur das Gleichgewicht, stürzte aus dem Wagen und hätte sich beinahe im Zaumzeug verfangen.

Zwar spürte der Obsthändler seine Beine nicht mehr, dafür aber jeden Kiesel der Straße, der sich ihm ins Gesicht drückte. Er fühlte den Schock und dann den Schmerz, als seine Nase unter seinem schlaffen Körper gegen den Boden gedrückt wurde. Er rang nach Atem, während ihn die Straße durchschüttelte. Ein Wirrwarr von Fragen bestürmte seinen verblüfften Geist, doch ein alles beherrschender Instinkt warnte ihn und riet, reglos zu bleiben und so zu tun, als wäre er tot.

Er hörte, wie sich die Soldaten näherten. Dumpfes Donnern mischte sich mit dem entsetzten Pochen seines Herzens. Er hielt die Augen geschlossen und versuchte sich nicht zu bewegen, als die Reiter herannahten. Es kam ihm nicht der Gedanke, im Namen des cymrischen Herrschers um Schonung zu bitten, und er fragte sich auch nicht, warum ein Regiment, das einem friedliebenden Herrscher diente, einen Obsthändler angriff, der sich nur um seine eigenen Belange kümmerte.

Er atmete weiterhin flach und sog dabei schneedurchsetzten Staub ein, als die Kohorte ihn endlich erreicht hatte. Veit betete darum, dass das Ende schnell kommen möge.

Zufällig war er beim Winterfest in Navarne vor vier Jahren dabei gewesen und hatte den schrecklichen Überfall sorboldischer Soldaten überlebt, indem er sich mit seiner Frau und seinen Kindern hinter der Festungsmauer versteckt hatte, während das Abschlachten scheinbar stundenlang dauerte. Als es vorbei gewesen war, hatte er sich zu denen gesellt, die den blutenden Opfern, die im rosig gefärbten Schnee lagen, Hilfe leisteten, und viele zitternde und zuckende Todeskämpfe miterlebt. Seit diesem Augenblick betete Veit um ein rasches Ende, wenn seine Zeit gekommen war.

Nun schien es so weit zu sein.

Er biss die Zähne zusammen, als die Pferdehufe ihn mit Kies bewarfen. Er wartete darauf, dass sie anhielten, doch die Soldaten ritten weiter, als hätten sie ihn gar nicht wahrgenommen.

Als der donnernde Lärm schließlich verblasste, fasste Veit wieder Mut und öffnete ein Auge einen Spalt weit. Die Kohorte war schon fast außer Sichtweite, doch er erkannte trotzdem, dass es sich bei den Tieren um graue Bergpferde handelte und nicht um die Braunen und Füchse, die man für gewöhnlich in diesem Teil der Ebene sah. Es waren auch nicht die Rotschimmel, die von den Lirin im Westen bevorzugt wurden. Veits Herz wurde plötzlich so kalt wie sein frierender Körper.

Zum letzten Mal hatte er solche Pferde unter den Soldaten aus Sorbold gesehen, die das Winterfest überfallen hatten.

Seine Glieder wurden taub, und Veits Geist tat es ihnen gleich. Als ihn der Nebel umhüllte, schaute er hoch zu dem Wagen über ihm.

Sie hätten wenigstens die Äpfel mitnehmen können, dachte er, bevor die Finsternis ihn überwältigte. Bis sie jemand gefunden hat, werden sie verschrumpelt und gefroren sein.

Genau wie ich.

5

Haguefort, Navarne

Gwydion Navarne lief auf dem dicken Teppich vor der großen Halle hin und her und wartete darauf, dass er in den Raum gerufen wurde. Es war sein erstes Konzil, seit er an seinem siebzehnten Geburtstag vor ein paar Monaten zum Herzog ernannt worden war, und das bedrückte ihn, während er unruhig über die dicht gewobenen Fäden des Teppichs eilte, der die Geschichte seiner Familie erzählte. Mit jedem Schritt fuhr er unbewusst die Linie der Tuatha Navarne nach, von ihrem cymrischen Stammvater, einem Mann namens Hague aus der Ersten Generation, der der beste Freund von Gwylliam dem Visionär gewesen war, bis hin zur Nachkommenschaft seines eigenen verstorbenen Vaters Stephen Navarne, der in seiner Jugend der beste Freund von Ashe gewesen war, dem augenblicklichen Herrscher der Cymrer, Gwydions Namensvetter, Pate und Beschützer. Die reichen Farben der geflochtenen Fäden – waldgrün und scharlachrot, tiefblau, königspurpurn und golden – erzählten eine traurige Geschichte, die zu Gwydions Stimmung passte.

Als er im Kreis umherlief, wiederholte er still immer wieder, was er in den Häfen und Vorposten Sorbolds gesehen hatte, der großen Nation voller bedrohlicher Berge und windgepeitschter Wüsten südlich von Roland, und bemühte sich darum, die Tatsachen und Zahlen fest in Erinnerung zu behalten.

Fünfundsiebzig dreimastige Kutter, dachte er und fuhr mit der Liste fort, weil er sich auf die Befragung vorbereiten wollte, die früher oder später kommen würde. Dreiundsechzig dreimastige Schoner, mindestens achtzig schwere Barken, alle im südwestlichen Hafen von Ghant, alle innerhalb eines einzigen Tages eingelaufen.

Alle mit Sklaven an Bord, mit Tausenden von Sklaven, vielleicht der Einwohnerschaft von zehn oder mehr Dörfern, möglicherweise unterwegs zu den Salzminen von Nicosi oder den heißen Stahlwerken von Keltar.

Gwydion hatte sein rasendes Herz nicht mehr beruhigen können, seit er das Löschen der menschlichen Ladung vor ein paar Wochen beobachtet hatte. Mitgefühl und Wut über diesen Anblick hatten sich rasch mit Angst vermischt. Der Anblick der kleinen, schläfrigen Hafenstadt, in der es plötzlich von Soldaten und Hafenarbeitern wimmelte, vor Bergwachen und Leibeigenen, hatte seinen Gefährten davon überzeugt, dass der Krieg, auf den sich Sorbold vorbereitete, größer werden würde als alles, was die bekannte Welt je gesehen hatte.

Da sein Gefährte Anborn ap Gwylliam gewesen war, der Marschall des ersten cymrischen Reiches und vielleicht das größte militärische Genie, das je auf dem Mittelkontinent gelebt hatte, teilte Gwydion Anborns Auffassung.

Der schwere Teppich unter seinen Füßen hatte sich neben der Stelle, wo Gwydion unbewusst eine Furche getreten hatte, zu einem kleinen Kamm aufgeworfen. Gwydion glättete ihn mit dem Fuß, drückte die Delle zu den Rändern und war gerade am Saum angekommen, als die Tür zu der großen Halle heftig geöffnet wurde.

Im Rahmen stand der Kammerherr und Vertraute seines Vaters, Gerald Owen, ein älterer Cymrer, der schon Gwydions Vater und Großvater und möglicherweise noch einigen Ahnen vor diesen gedient hatte. Der alte Mann trat überrascht einen Schritt zurück und stieß dann die Tür für den jungen Herzog noch weiter auf.

»Na endlich«, murmelte Gwydion, als er die Halle betrat. »Ich habe eine ganze Woche gewartet, um mit ihm zu reden.«

»Dessen ist er sich bewusst, Herr«, sagte Gerald Owen sanft und schloss die Tür hinter ihm. »Der cymrische Herrscher musste sich darum kümmern, dass die Herrin der Cymrer sowie ihr Neugeborenes angemessen behandelt wurden. Bei ihrer Rückkehr befand sie sich in keinem guten Zustand.«

Gwydion blieb stehen und schaute sich rasch um. »Geht es ihr jetzt besser?«, fragte er besorgt. Rhapsody hatte ihn und seine Schwester Melisande vor vier Jahren als Ehrenenkel adoptiert, auch wenn sie in vieler Hinsicht eher eine zweite Mutter für sie beide gewesen war. »Wird sie nicht an der Vollversammlung teilnehmen?«

»Ja und nein«, ertönte eine warme Baritonstimme hinter ihm. Gwydion warf einen Blick über die Schulter und sah seinen Paten in der Mitte des Korridors stehen, die zum Versammlungsraum der Festung führte. Ashe, wie der cymrische Herrscher von seinen Vertrauten genannt wurde, hatte jene blauen Augen, die oft mit der cymrischen Herrscherlinie in Verbindung gebracht wurden, doch sein Gesicht und Körper trugen sowohl Merkmale der Menschen als auch der Lirin. Er hatte drachenartige, senkrecht geschlitzte Pupillen und kupferfarbenes Haar, dessen Glanz beinahe metallisch wirkte. Beides waren Anzeichen für das Drachenblut in seinen Adern. »Man hat sich um sie gekümmert, und sie wird an der Versammlung teilnehmen. Wenn dem nicht so wäre, würden wir ihre Weisheit schmerzlich vermissen.«

»Gut«, meinte Gwydion und sah sich in dem leeren Raum um. »Aber wo ist sie? Und überhaupt, wo sind die anderen? Anborn habe ich früher am Tag gesehen und Achmed und Grunthor noch vor ein paar Augenblicken. Wohin sind sie gegangen?« Sein Blick fiel auf eine Gehmaschine aus Metall, die verlassen in einer Ecke des Raumes stand. Es war ein Wunder der Erfindungskunst, die Anborns Bruder, der Meeresmagier Edwyn Griffyth, ihm zur Verfügung gestellt hatte, damit der lahme Marschall wieder aufrecht gehen konnte. »Was ist hier los, Ashe?«

Vor den riesigen Fenstern der Großen Halle heulte ein eisiger Wind und stieß gegen das Glas, bis dieses erzitterte.

Der cymrische Herrscher schaute ihn ernst an, drehte sich dann um und ging hinüber zu einem schweren Wandteppich, auf dem die Abreise der cymrischen Flotten von der untergegangenen Insel Serendair dargestellt war. Er zog den Gobelin beiseite und drückte die Hand gegen einen der Mauersteine. Dunkelheit tat sich auf, als sich ein verborgener Korridor öffnete.

»Erinnerst du dich an diesen Ort?«, fragte er.

Gwydion spürte, wie plötzlich seine Kehle trocken wurde. »Ja«, sagte er. »Gerald Owen hat Melly und mich während des Überfalls auf das Winterfest vor vier Jahren hier versteckt.«

Ashe nickte. »Es ist zwar nicht der perfekte Ort für ein geheimes Treffen, aber es ist der beste, den wir haben, denn er liegt unter der Erde, fern des Windes und aller Ohren, die uns zuhören könnten.« Die senkrechten Pupillen seiner himmelblauen Augen fingen das Licht vom Fenster ein und zogen sich merklich zusammen. Gwydion fragte sich, ob dieser Wandel von mehr als nur vom Licht herrührte. »Beeil dich, Gwydion. Wir stehen vor der schwierigsten Unterredung, die je in der Geschichte dieses Kontinents geführt wurde.«

Der junge Herzog nickte und betrat den dunklen Korridor. Kurz darauf folgte ihm der cymrische Herrscher, der die Tür hinter sich schloss und dadurch sie beide tiefster Finsternis aussetzte.

Einen Augenblick später spürte er ein Knistern in der Luft, und die Wände des dunklen Ganges erglühten von einer Wärme, wie kein wirkliches Licht, sondern nur das Abstrahlen von Hitze sie hervorbrachte. Durch die schwache Beleuchtung konnte Gwydion die grob behauenen Stufen erkennen, die sich in die Schwärze hinunterbohrten, wo, wie er wusste, ein kleiner Raum, kaum mehr als ein Vorratskeller, hinter einer Steinmauer verborgen lag. Der cymrische Herrscher kicherte.

»Vielen Dank, Aria«, rief er in die Finsternis unter sich.

»Es war mir ein Vergnügen, Sam«, ertönte Rhapsodys Stimme. »Pass auf die Stufen auf, Gwydion.«

»Es ist gut zu wissen, dass sie wohlauf genug ist, um von ihrer Feuergabe Gebrauch zu machen und mich immer noch wie ein Kind zu behandeln«, murmelte Gwydion seinem Paten zu, während sie langsam über die Stufen in das Zwielicht hineinschritten. »Sam … Ich habe dich noch nie gefragt, warum sie dich so nennt.«

Der cymrische Herrscher lächelte, sagte aber nichts, sondern folgte der sich windenden Treppe hinunter zu dem unterirdischen Raum. Gwydion erzitterte unwillkürlich unter der Erinnerung, wie er als Dreizehnjähriger an diesem Ort gewesen war und auf seine fünfjährige Schwester sowie eine Hand voll schluchzender, ihm unbekannter Kinder hatte aufpassen müssen. Hier unten hatten sie auf die Nachricht gewartet, ob ihre Eltern den Angriff der Soldaten aus Sorbold auf das Winterfest überlebt hatten, das sie noch vor wenigen Augenblicken gemeinsam gefeiert hatten. Sein Vater hatte überlebt. Gwydion versuchte nicht an die Laute zu denken, die den Kehlen jener Kinder entstiegen waren, deren Eltern nicht so viel Glück gehabt hatten.

Am Fuß der Treppe in die Finsternis hinein wartete Rhapsody auf sie. Zuerst hatte Gwydion geglaubt, dass sich möglicherweise die Hitze in ihrem goldenen Haar verfangen hatte und es selbst in diesen lichtlosen Raum erglühen ließ, doch kurz darauf erinnerte er sich, dass ihre Bezeichnung als Trägerin der Tagessternfanfare, des uralten Schwertes aus elementarem Äther und Feuer, Iliachenva’ar lautete, was in der alten Sprache so viel bedeutete wie jemand, der Licht an einen dunklen Ort brachte. Seine »Großmutter« besaß sicherlich diese Fähigkeit. Als er sie nun hier im Zwielicht nach all den Monaten ihrer Abwesenheit sah, hatte er den Eindruck, dass sogar die stickige Luft von einer plötzlichen, hoffnungsvollen Frische durchzogen wurde.

Vielleicht war es auch nicht Rhapsody selbst, sondern die Gegenwart des winzigen, schlafenden Kindes, das sie in ihren Armen wiegte.

Ashe legte die Hand auf ihre Hüfte und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Wolltest du nicht drinnen bleiben?«, fragte er.

»Es hat mir nicht gefallen, wie Achmed und Grunthor Meridion angesehen haben«, erwiderte sie milde und presste das Kind enger an sich. »Sie haben sich andauernd darüber unterhalten, noch kein Frühstück gehabt zu haben.«

Ashe lächelte schwach und öffnete die Steintür, die in der grob behauenen Granitwand verborgen war.

Aus dem Raum dahinter ergoss sich ein beinahe blendendes Licht auf die finstere Treppe. Ein kleiner hölzerner Tisch war zu sehen, auf dem eine große Pergamentrolle lag und um den sich die beiden Firbolg Achmed und Grunthor sowie Anborn, der gereizt wie immer wirkte, und ein Lirin kauerten, den Gwydion rasch als Rial erkannte, Rhapsodys Statthalter von Tyrian, über das sie als Titularkönigin herrschte. Rials Gegenwart führte dazu, dass Gwydion plötzlich die Hände zitterten, denn wenn der lirinische Würdenträger den weiten Weg vom heiligen Wald bis in den Südwesten Rolands zurückgelegt hatte, dann lag unmissverständlich ein Geruch von Blut in der Luft.

»Schnell, kommt herein, ihr alle«, brummte Anborn.

Ashe wich beiseite, um Rhapsody als Erste eintreten zu lassen. Rial erhob sich und verneigte sich respektvoll vor ihr, doch die drei anderen Männer blieben sitzen. Anborn hatte keine andere Wahl, und die Firbolg wollten sich einfach nicht erheben. Als sie in den kleinen, versteckten Raum trat, beugte sich Gwydion taktvoll zu Ashe vor und murmelte ihm ins Ohr:

»Wie ist Anborn ohne seine Gehmaschine oder eine Sänfte hierher gekommen?«

Ashe räusperte sich laut, um seine Antwort vor den anderen zu verbergen. »Er hat dem einzigen anderen anwesenden Blutsverwandten erlaubt, ihn zu tragen«, erwiderte er leise. Gwydion nickte und verneigte sich vor Grunthor, denn er wusste, dass sich Ashes Bemerkung auf ihn bezog. Der Orden der Blutsverwandten war den Soldaten heilig. Es handelte sich um eine Brüderschaft, die tiefer als das Blut ging und durch lebenslanges Soldatentum oder ein großes Selbstopfer erlangt wurde, das vom Wind selbst bestimmt wurde. Rhapsody, Grunthor und Anborn waren die einzigen Blutsverwandten, die Gwydion auf der Welt kannte, auch wenn ihm seine »Großmutter« versichert hatte, dass es noch weitere gebe.

Der Herrscher der Cymrer zog die Steintür hinter sich zu. Im Licht der Laternen konnte Gwydion ihn und die Personen um ihn herum deutlicher erkennen. Trotz ihrer scheinbaren Ruhe hatte Rhapsody die Lippen zusammengepresst, auf Anborns Gesicht lag eine tiefe Röte, und Ashes Schultern waren angespannt und sprachen seiner Gelassenheit Hohn. Gwydion erbebte. Er hatte geglaubt, seine eigenen Neuigkeiten wären die schlimmsten, die die Versammlung sich anhören musste. Doch offenbar brachte nicht nur er schlechte Nachrichten.

Ein Summen unter dem Tisch erregte Gwydions Aufmerksamkeit, und er senkte den Blick. Auf dem Boden lagen Schwerter mit den Spitzen und Griffen gegeneinander in einem sechseckigen Stern. Drei von ihnen erkannte er sofort.

Das erste war die Tagessternfanfare. Flammen leckten über ihre Klinge, und nach wenigen Sekunden begriff Gwydion, dass das Licht im Raum nicht nur von den Laternen, sondern hauptsächlich von dieser Waffe herrührte. Über ihr lag eine schartige, namenlose Klinge, die er schon oft in der Hand Anborns gesehen hatte. Es war eine Waffe, von der er während seiner Übungskämpfe mit dem Marschall schon viele Schläge empfangen hatte. Er zuckte unter der Erinnerung zusammen, als er ihre Spitze nun gegen die historische Waffe gerichtet sah.

Der Griff der Tagessternfanfare stieß gegen ein lirinisches Langschwert mit einem Griff aus Mammutbaumholz. Das musste die Waffe von Rial sein, dem lirinischen Statthalter, dessen Pflicht es war, den Wald von Tyrian zu schützen. Gwydion hatte einige lirinische Schwerter aus der Nähe gesehen und wusste, dass dieses, obwohl es bescheiden aussah, Teil einer der größten und geheimsten Militärmaschinen des Kontinents war, wenn es im Einklang mit Zehntausenden anderen geschwungen wurde.

Der Griff von Anborns Schwert lag gegen eine andere legendäre Waffe namens Kirsdarke, dem Schwert des elementaren Wassers, das Gwydions Pate trug. Es handelte sich um ein Bastardschwert, dessen Klinge und Griff mit leuchtenden blauen Runen beschrieben waren. Wie es dort auf dem Boden lag, schien es aus silbernem Stahl geschmiedet zu sein, doch in der Hand seines Trägers, der in der alten Sprache als der Kirsdarkenvar bekannt war, nahm die Klinge das Aussehen von lebendem Wasser an, und Schaum rann in Wellen vom Griff bis zur Spitze. Es war mit einer seltsamen Waffe gekreuzt, die Grunthor ihm einmal gezeigt hatte und die man Triatine nannte. Aus seinem Geschichtsunterricht wusste Gwydion, dass sie vor mehr als einem Jahrtausend auf der untergegangenen Insel Serendair und sonst nirgendwo auf der bekannten Welt gebraucht worden war.

Zwischen Grunthors Waffe und der von Rial war ein leerer Zwischenraum.

Gwydion spürte die Blicke der anderen in seinem Rücken.

Unbewusst fuhr seine Hand an den Griff des Schwertes, das in der Scheide an seiner Hüfte hing. Die Bedeutung des leeren Raumes zwischen den anderen Waffen war ihm nicht entgangen. Als Erbe des Herzogtums von Navarne hatte er schon an vielen Versammlungen teilgenommen, die Ashe einberufen hatte, doch nun war er aus einem anderen Grund dabei, nämlich als Träger eines elementaren Schwertes. Nur fünf solcher Waffen waren je geschmiedet worden, und soweit bekannt war, existierten davon bloß noch drei.

Und sie alle befanden sich in diesem Raum.

Gwydion Navarne schaute nervös hinüber zu Achmed, der ihn mit seinen verschiedenfarbigen Augen beobachtete, während sein beinahe lippenloser Mund sich zur Andeutung eines Lächelns verzog. Gwydion dachte an den Tag vor nicht langer Zeit zurück, als ihm der Bolg-König die Waffe überreicht hatte.

Das ist eine uralte Waffe – das Elementarschwert der Luft, das unter dem Namen Tysterisk bekannt ist. Auch wenn du den Schaft und die Klinge nicht erkennen kannst, solltest du dir doch darüber im Klaren sein, dass sie da ist. Sie besteht aus reinem und unnachgiebigem Wind. Sie ist so scharf wie eine aus Stahl geschmiedete Klinge, aber weitaus tödlicher. Ihre Kraft strömt durch den Besitzer des Schwertes. Bis vor kurzem befand es sich in den Händen einer Kreatur, die Rhapsody entehrt hatte. Sie war teils Mensch, teils Dämon und ist jetzt tot. Zumindest scheint es so. Das Schwert war vom schwarzen Feuer der F’dor befleckt, doch es wurde in dem Wind gereinigt, der den Grivven umtost, den höchsten Berg der Zahnfelsen. Ich habe es nach dem Kampf, der seinem früheren Besitzer das Leben gekostet hat, für mich beansprucht, doch nur, weil ich es dir übergeben wollte. Ashe und ich sind der Ansicht, du solltest es haben. Wenn man es recht bedenkt, ist das vermutlich das einzige Mal, dass wir einer Meinung waren.

Anborn hustete ungeduldig.

Rasch zog Gwydion das Luftschwert aus der Scheide. Wenn Tysterisk nicht in der Schlacht gebraucht wurde, schien es aus kaum mehr als einem Griff zu bestehen, in den wirbelnde Symbole eingeritzt waren, die in der Hand zu tanzen und zu zucken schienen. In der summenden Gegenwart der beiden anderen Elementarschwerter aber war der ganz feine Umriss einer Klinge zu erkennen. Hastig legte der junge Herzog es auf den Boden, sodass sein Griff Grunthors Triatine berührte, und seine flüchtige Schneide kreuzte sich mit der festen von Rial und vollendete so den Kreis.

Anborn deutete auf den Stuhl neben sich, und Gwydion nahm Platz. Dabei bemerkte er, dass sich die Elementarschwerter unter dem Tisch mit den gewöhnlichen Waffen abwechselten. Er erkannte die Weisheit, die ungeheure Macht jener Schwerter getrennt zu halten, doch er erinnerte sich auch an das, was Achmed ihm gesagt hatte, als er Gwydion Tysterisk überreicht hatte.

Ich habe nichts vorzuweisen, das mich einer solchen Waffe würdig macht, hatte Gwydion damals zögernd gesagt.

Das ist ein Trugschluss, der von selbstverliebten Narren verbreitet wurde. Man kann sich einer Waffe erst als ›würdig‹ erweisen, wenn man sie gebraucht. Nur darin zeigt sich, ob du sie zu Recht führst. Das ist ein Elementarschwert, und niemand ist seiner wirklich würdig. In Wahrheit wählen sich Waffen von solch alter Macht ihre Träger selbst und formen sie in gewisser Weise.

Gwydion sah zu, wie Rhapsody sich bückte, wobei sie immer noch ihren neugeborenen Sohn in den Armen hielt, und eine Hand auf den Kreis der Schwerter legte. Gwydion wusste, dass sie ein gutes Beispiel für das war, das der Bolg-König damals gesagt hatte. Er wusste nicht viel über Rhapsodys Leben, doch eine Einzelheit hatte sie ihm mitgeteilt: Sie war nämlich von niedriger Geburt und das jüngste Kind einer Bauernfamilie. Ihre Verwandlung in die Herrin der Cymrer und die Lirin-Königin konnte man zwar vielen verschiedenen Umständen zurechnen, aber sie wäre sicherlich niemals die Kriegerin geworden, die sie war, wenn ihr die Tagessternfanfare dabei nicht geholfen hätte.

Vielleicht würde auch aus Gwydion noch mehr als bloß ein jugendlicher Herzog werden.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Rhapsody zu singen begann. Zunächst war es ein leiser Ton von derselben Höhe wie das Summen der Elementarwaffen. Gwydion lauschte bezaubert, als sie die Namen der Schwerter in ihren Gesang zusammen mit Namen einflocht, die er nicht verstand. Obwohl er nur wenig von Musik und nichts von der lirinischen Kunst des Benennens verstand, glaubte er einen Wechsel in der musikalischen Schwingung eines jeden Schwertes zu bemerken, bis alle drei gemeinsam mit Rhapsodys Stimme einen vollkommenen Akkord bildeten.

Als die Töne schwangen, packte Rhapsody die Tagessternfanfare beim Griff. Sobald ihre Hand ihn berührte, wurde die feurige Klinge lebendig, und ihre Flammen zuckten in strahlenden Farben auf, die in Gwydions Augen stachen. Rhapsody sang weiter und fuhr mit dem Schwert über den Ring aus Waffen, als ob sie unsichtbare Fäden aufhöbe.

Es erschien ein Kreis aus funkelndem Licht, der dicht über dem Tisch schwebte und sich dann ausdehnte, als sie ihn zur Decke des verborgenen Raums schob, wo er hängen blieb, pulsierte und immer noch im Einklang mit dem Akkord war. Dann legte sie ihre Waffe zurück zu den anderen. Der Akkord summte weiter, wurde leiser und kehrte zu seinem eintönigen Klang zurück, während Rhapsody ihr wortloses Lied beendete und verstummte. Einen Moment lang lauschte sie, nickte sich dann selbst zu, lächelte ihren Gemahl an und wollte sich setzen.

Ashe schob ihr den Stuhl zurecht, als sie mit dem Kind Platz nahm, und ließ sich auf seinem eigenen Stuhl am Tisch nieder. Er entrollte die dicke Schriftrolle und enthüllte eine Karte des Kontinents, auf der in Grün die Länder des cymrischen Bündnisses besonders hervorgehoben waren. Sie bestanden aus Tyrian, dem südwestlichen lirinischen Küstenbereich, den sechs zentralen Provinzen von Roland sowie den Firbolg-Bergen an der östlichen Grenze, die auch als die Zahnfelsen bekannt waren. Der nordwestliche Gwynwald sowie der kleine Stadtstaat Sepulvarta, die religiösen Bastionen der beiden größten Sekten des Kontinents, waren in Weiß eingezeichnet, aber mit grüner Farbe gesprenkelt, was sowohl ihre Zugehörigkeit zum Bündnis als auch ihre Eigenständigkeit anzeigte.

Sepulvarta, manchmal auch die Stadt der Vernunft genannt, war der Sitz des Patriarchen und der Kirche, die allgemein als der patriarchalische Glaube bekannt war, während Gwynwald der heilige Wald der Filiden war, der Naturpriester, die sich um den Großen Weißen Baum der Erde kümmerten. Als Herrscher Cymrias war Ashe das Titularoberhaupt beider Sekten, doch dies hatte nur zeremonielle Bedeutung. Bei der Ausgestaltung des cymrischen Bündnisses hatte er die Unabhängigkeit beider Orden anerkannt und Gespräche zwischen den Sekten in Gang gebracht, die während fast der gesamten vierzehn Jahrhunderte seit dem Eintreffen der cymrischen Flüchtlinge im Wyrmland Feinde gewesen waren.

»Vielen Dank für eure Geduld«, sagte Ashe. »Ich weiß, dass jeder von euch schreckliche Nachrichten bringt, genau wie ich selbst. Ich habe euch gebeten, Schweigen zu bewahren, bevor ihr sie mitteilt, damit der Eindruck eurer Worte so rein und genau wie möglich ist.«

Seine Stimme erklang innerhalb des schwebenden Lichtkreises und blieb in diesem gefangen. Der cymrische Herrscher griff in seine Tasche, holte eine Münze mit seinem eigenen Abbild hervor und warf sie auf den Boden außerhalb des schützenden, sich drehenden Lichts. Sie traf ohne das geringste Geräusch auf. Zufrieden fuhr er mit seiner Rede fort.

»Wir wissen, dass wir uns einem Krieg gegenübersehen. Die Frage ist, welche Ausmaße er haben wird und wer sich gegen uns verbündet hat. Jeder von uns besitzt ein Stück der Antwort, und es ist äußerst wichtig, dass wir so viele Informationen wie möglich zusammensetzen können, bevor wir unsere Verteidigung aufstellen. Wir müssen uns vergewissern, ob es um einen Eroberungsfeldzug geht, dessen Antrieb die menschliche Gier ist, oder ob es sich um etwas viel Dunkleres und viel Älteres handelt, das schon immer am Horizont gelauert hat. Rhapsody hat als Benennerin die Macht, nicht nur Worte für die Nachwelt aufzubewahren, sondern auch die unterschwellige Bedeutung dieser Worte zu ergründen. Sie hat durch ihren Gesang einen Schutzkreis erschaffen, sodass unsere Worte vor all jenen geheim bleiben, die sie hören könnten, und in unserem Ratszimmer sind wir für alle Augen verborgen. Rhapsody wird nun schweigen und all ihre Aufmerksamkeit auf unsere Geschichten richten. Ich werde als Erster sprechen.« Er wandte sich Anborn zu.

»Mein Vater, dein Bruder Llauron, ist tot, Onkel«, sagte er leise und mit kalter Stimme. »Schlimmer noch, er ist an sein Ende gekommen und hat all seine Drachenüberlieferungen aufgegeben, so wie es der Stammvater tat, weil er Rhapsody und unser Kind, seinen Enkel beschützen wollte.« Er machte eine Pause und wartete darauf, dass die Bedeutung seiner Worte allen klar wurde.

Anborn starrte ihn ganze siebzig Herzschläge lang an.

»Der Weltenschild ist gefährdet«, sagte er schließlich. »Das ist wirklich eine schwerwiegende Neuigkeit.«

Gwydion Navarne blinzelte, sagte aber nichts. Es verwunderte ihn immer wieder, wie leidenschaftslos die Mitglieder der cymrischen Herrscherdynastie den Tod eines ihrer Familienangehörigen hinnahmen, besonders wenn man bedachte, dass sie eine mehr als tausendjährige Geschichte miteinander teilten. Er hätte glauben können, dass Menschen mit Drachenblut nicht fähig zu Gefühlen waren, wenn er nicht selbst beobachtet hätte, wie sehr sie um den Verlust von anderen Menschen trauerten. Er hatte Ashes Kummer miterlebt, wenn Rhapsody verschwunden oder auch nur getrennt von ihm war, und den Schmerz gesehen, den Anborn über den Tod von Dorndreher, einem einfachen Soldaten, empfunden hatte. Das war ein Rätsel, das er nicht zu lösen vermochte, zumal dessen Einzelheiten für ihn einfach unsichtbar waren.

Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie sich die Jahrhunderte hindurch so oft gegenseitig getäuscht hatten. Sowohl Ashe als auch Llauron waren gezwungen gewesen, ihren eigenen Tod vorzuspielen und sich mehrere Jahre hindurch vor dem Angesicht der Lebenden zu verbergen. Möglicherweise war dieses mangelnde Gefühl von Verlust der Preis, den sie dafür zu zahlen hatten.

»Außerdem ist es mir nicht gelungen, meine Urgroßmutter Elynsynos zu finden, die sicherlich zur Stelle gewesen wäre, wenn sie es gekonnt hätte«, fuhr Ashe fort. Er warf einen Blick auf Rhapsody, deren Augen vor Tränen glitzerten, aber deren Miene reglos blieb. »Meine eigene Fähigkeit, ihre Gegenwart zu spüren, ist auf einen Radius von etwa fünf Meilen begrenzt, aber es liegt ein solcher Verlust von ätherischer Energie und von Wissen in Luft und Waldboden, dass ich das Schlimmste befürchte.«

Anborns Gesicht wurde merklich blass. Gwydion spürte, wie die Luft im Raum plötzlich trockener und beißender wurde.

»Gute Götter«, flüsterte er. »Wenn das stimmt, dann ist nach ihrem Tod und dem von Llauron der Große Weiße Baum jetzt unbewacht, und die Länder, die einst ihr Herrschaftsgebiet waren – der größte Teil des westlichen Kontinents bis nach Tyrian im Süden –, stehen nicht mehr unter Drachenschutz.« Seine Hand zitterte leicht, als er mit den Fingern das Gebiet auf der Landkarte abfuhr. »Auch wenn die Menschen nicht einmal wissen, dass die Drachen den Boden schützen, auf dem sie umhergehen, wird der Verlust dieser beiden das Bündnis viel verwundbarer machen, falls F’dor in der Gegend sein sollten.«

Ashe nickte; er hatte die Zähne zusammengebissen. Dann wandte er sich an Achmed und Grunthor.

»Sagt uns bitte, was ihr im Gwynwald erlebt habt. Rhapsody war nach ihrer Heimreise in der Kutsche zu krank, um darüber sprechen zu können.«

Die verschiedenfarbigen Augen des Bolg-Königs funkelten im flackernden Licht. »Nun, wenn du gerade dabei bist, die in der Welt verbliebenen Drachen zu zählen, und den Verlust dieser beiden betrauerst, dann habe ich vielleicht eine freudige Nachricht für dich«, sagte er voller Sarkasmus. »Einer, den wir für tot gehalten haben, lebt noch: deine verdammte Großmutter, Ashe.«

Die Miene des cymrischen Herrschers erstarrte, und die Drachenpupillen in seinen Augen dehnten sich.

»Anwyn?«, fragte er mit erstickter Stimme. »Anwyn lebt?« Er sah von dem Bolg-König zu Grunthor, der Habachtstellung angenommen hatte, was er in Achmeds Gegenwart immer tat, und dann zu Rhapsody. »Wie kann das sein? Ihr drei habt sie umgebracht und vor den Augen fast aller hier Versammelten in einem Grab aus versengter Erde beim großen Gerichtshof eingesperrt. Die Tagessternfanfare hat sie mit einem Blitz aus Sternenlicht vom Himmel geholt und dabei das Gras in einem Umkreis von vielen Meilen in Brand gesetzt. Wie kann das sein!«

»Verdammte Drachen«, murmelte Grunthor. »Bei denen is einmal nie genug, man muss sie mindestens zweimal umbringen, vielleicht sogar noch öfter.«

»Wenn das jemand weiß, dann bist du es, Ashe«, sagte Achmed. »Ich habe es bei dir in den letzten vier Jahren schon so oft versucht, und du bist immer noch da.«

Die Luft um ihn herum knisterte, und Gwydion Navarne zuckte unwillkürlich zusammen. Er wusste, dass die Worte des Bolg-Königs nur schwarzer Humor waren, aber es lag genug Wahrheit in ihnen, um den Drachen in Ashes Blut zu wecken – und möglicherweise auch den in Anborn.

»Vorsicht, Achmed, denn sonst könnte man deinen Ruf als erfolgreicher Meuchelmörder in Frage stellen«, meinte Ashe ruhig und glättete die Karte. »Wo hast du sie gesehen?«

Der Bolg-König senkte den Schleier, der üblicherweise sein scheußliches Gesicht sowohl vor dem Starren der Welt als auch vor den Schwingungen des gewöhnlichen Lebens abschirmte, die seine empfindlichen Nervenenden und Aderstränge in der Haut reizten und ein Anzeichen für sein dhrakisches Erbe waren.

»Sie hat Rhapsody, deinen Balg und mich durch den Wald vor Elynsynos’ Nest gejagt«, sagte er. »Zum letzten Mal habe ich sie an dem Ort gesehen, wo der versteinerte Leichnam deines Vaters jetzt liegt.« Rhapsody bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, erwiderte aber nichts, sondern konzentrierte sich weiterhin auf die einzelnen Berichte.

»Sie hat gelebt, als er sich zwischen euch gestellt und euch geschützt hat?«, fragte Ashe mit zusammengepresstem Kiefer, aber klaren Augen. »Als er an sein Ende gekommen ist und ihr drei von ihm umgeben wart?«

Der Bolg-König stieß die Luft aus. »Sie hat einen Schuss aus meiner Cwellan abbekommen, und jetzt steckt eine rasiermesserscharfe Scheibe aus kalt geschmiedetem Stahl in ihr, die sich unter Hitze unregelmäßig ausdehnt. Ich glaube, ich habe sie am Brustkorb oder etwas tiefer getroffen. Bei einem Drachen ist das schwer zu sagen. Die Scheibe könnte sich noch eine Weile ausdehnen und durch Muskeln und Sehnen schneiden, bis sie schließlich zerbricht und dann die einzelnen Stücke in Richtung Herz wandern. Diese Scheiben werden Drachentöter genannt. Ironie des Schicksals: dein eigener Großvater, ihr gehasster Gemahl Gwylliam, hat vor etwa vierhundert Jahren, bevor Anwyn ihn hat ermorden lassen, diese Waffe erfunden. Anscheinend hatte er eine erschaffen wollen, die auch Drachen auseinander reißen kann.« Er richtete den Blick auf Anborn. »Eure Eltern waren bezaubernde Leutchen. Die gemeinsamen Mahlzeiten in eurem Haus müssen sehr lustig gewesen sein.«

»Warum hatte wohl jeder von uns einen eigenen Vorkoster?«, gab Anborn gereizt zurück. »Können wir jetzt zum eigentlichen Thema zurückkehren?«

»Sie war hinter Rhapsody her«, erklärte Achmed. »Sie schien besessen von ihr zu sein und nichts anderes um sich herum wahrzunehmen. Sie hat weder mich noch sonst jemanden bedroht. Sie hat immer wieder Rhapsodys Namen gerufen und den Wind, das Rumpeln der Erde und alles andere, woraus sie Kraft ziehen konnte, dazu benutzt, um Rhapsody zu bedrohen.«

»Tut mir leid, dass ich nich früher gekommen bin«, murmelte Grunthor, wobei seine polierten Hauer unter den aufgeworfenen Lippen hervorstachen. »Ich hätte sie dazu gebracht, was anderes zu kreischen.« Rhapsody sah ihn an und lächelte schwach. Der Sergeant erwiderte dieses Lächeln und verstand den unausgesprochenen Dank in ihrem Blick.

»Es ist schwer zu sagen, ob sie an diesen Wunden gestorben ist oder nicht«, meinte Ashe und betrachtete die Landkarte. »Wie Anborn, ich selbst und alle anderen Abkömmlinge von Elynsynos ist sie kein richtiger Drache. Wenn sie es wäre, dann hätte sie niemals meinen Vater oder Meridion töten können oder auch nur wollen. Kein wahrer Drache bringt einen anderen Drachen um, nicht einmal in einem Streit über die Herrschaftsgebiete, um die sie sich meistens zanken. Anwyn hat nicht die Bedenken und das Gewissen der Rasse ihrer Mutter, und deshalb wird sie vor nichts Halt machen, um ihren Hass herauszulassen. Falls sie den Cwellan-Schuss überlebt hat, wird sie weiterhin aufs Geratewohl erscheinen, wann immer wir sie am wenigsten erwarten, bis sie das bekommen hat, was sie will – und das scheint dein Tod zu sein, Rhapsody.«

Die cymrische Herrscherin nickte und konzentrierte sich immer noch ganz auf den Bericht.

»Ich vermute, dass sie irgendwann an der Wunde sterben wird«, sagte Achmed. »Sie kann sich an niemanden wenden, der ihr die Splitter aus dem Körper zieht, also werden sie Anwyn innerlich zerreißen, sodass sie verbluten wird. Genau das war mir schon immer das Liebste an diesen Scheiben. Wahrscheinlich hat Rhapsody auf lange Sicht nichts mehr von ihr zu befürchten.«

»Ich glaube, das ist unsere geringste Sorge, so gern ich dich auch habe, Rhapsody«, sagte Anborn. »Anwyn mag zwar durch das reine Chaos ihrer Handlungen und Absichten eine gewisse Gefahr darstellen, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie sich mit einem unserer Feinde verbündet. Falls der Bolg-König seinen Bericht beendet hat, sollten wir uns jetzt um das kümmern, was sich an unseren Grenzen abzeichnet.« Rhapsody nickte abermals schweigend und hörte noch immer aufmerksam zu.

»In der Tat«, meinte Rial. Während er sprach, wurde die ledrige Haut seines Gesichts dunkler. »Ich kam uneingeladen her, um Euch den Winterbericht zu überbringen, Herrin. Die Späher an der südlichen und westlichen Grenze haben sehr beunruhigende Informationen gesammelt, die auf ein gewaltiges Zusammenziehen des sorboldischen Militärs, insbesondere der Elitesoldaten aus der Bergwacht an den Grenzen unserer Länder hindeuten. Nie zuvor haben wir die Bergwacht an einer unserer Grenzen gesehen. Das allein ist schon alarmierend genug, aber diese Nachricht hängt zusammen mit einer Zunahme der Blutspiele in den Arenen von Jakar, das an unsere südöstliche Grenze stößt.

Es stimmt, dass Sorbold schon immer Gladiatorenkämpfe erlaubt hat, auch wenn sie zumindest offiziell von der verstorbenen Königinwitwe verboten wurden. Doch nun hat der neue König Talquist das Ende seines Regentschaftsjahres erreicht, und der Verkehr durch unser Land zu den Arenen ist angeschwollen wie ein Fluss im Frühling. Die Massen, die sich auf dem Weg nach Jakar’sid machen, sind gewaltig und gewalttätig, trunken vor Blutlust und Alkohol. Der Waldrand ist schon mehrfach in Brand gesetzt worden, und die Grenzwachen haben bereits einige Aufstände niedergeschlagen, die scheinbar ohne Grund angezettelt wurden und sich einfach nur aus dem Abschaum ergeben, der aus dem Süden heraufzieht. Überdies haben die Wächter unserer Westküste eine zunehmende Zahl nach Norden segelnder Schiffe festgestellt.«

»Nach Norden?«, fragte Anborn. »Gwydion und ich haben gesehen, wie sie sich im Süden gesammelt haben. Berichte es ihnen, Junge.«

Gwydion räusperte sich. »Im Hafen von Ghant haben Anborn und ich fünfundsiebzig dreimastige Kutter, sechzig dreimastige Schoner und mindestens achtzig schwere Lastkähne ankommen und ihre Ladung löschen gesehen, und das alles während eines einzigen Tages. Das entspricht dem Verkehr in Port Fallon in Avonderre, dem geschäftigsten Seehafen Rolands.«

»Und übersteigt bei weitem den im Hafen von Tallono, Tyrians größtem Hafen«, fügte Rial hinzu.

»Nicht einmal in Argaut, das eine halbe Welt entfernt liegt, werden an einem Tag so viele Schiffe entladen. Nur Kesel Tai auf der Insel Gaematria hat ein größeres Handelsaufkommen«, bemerkte Ashe und deutete auf die Landmasse mitten im westlichen Meer. »Oder wenigstens hatte es das. Die Meeresmagier haben den Kontakt mit der übrigen Welt seit kurzem beschränkt. Sie hinken mit der Fertigstellung ihrer Schiffe dramatisch hinterher; die Schiffe, die ich bestelle, werden regelmäßig ein paar Wochen zu spät ausgeliefert. Hat Edwyn Griffyth dir einen Grund dafür genannt, Onkel?«

Anborn schnaubte verächtlich. »Als ob mein Bruder mir etwas sagen würde und als ob ich an dem interessiert wäre, was er zu sagen hat! In der Vergangenheit haben die Meeresmagier immer weniger am Handel mit der übrigen Welt teilgenommen und es vorgezogen, ihre Tage mit magischen Wissenschaften, mit Erfindungen und der Erforschung der Gezeiten sowie mit ähnlichem Unsinn zu verbringen. Schon seit Jahrhunderten sind sie ziemlich nutzlos. Sie waren im Großen Krieg abwesend und zeigen seitdem immer weniger Interesse an unserer Notlage.« Seine azurfarbenen Augen glänzten auf, als ihm ein Gedanke kam, und er wandte sich an Achmed. »Mit Ausnahme dieses Idioten von Botschafter, den mein Bruder im letzten Herbst zusammen mit der Gehmaschine hergeschickt hat. Dieser Kerl schien ja regelrecht darauf zu beharren, mit dir Kontakt aufzunehmen.«

Das abstoßende Äußere des Bolg-Königs verzerrte sich noch mehr. »Das hat er auch getan, dessen kannst du dir sicher sein«, meinte er. »Ich habe ihn trotzdem leben lassen. Das ist wieder einmal deine Schuld, Rhapsody.«

Die cymrische Herrscherin küsste das flaumige Blondhaar ihres Sohnes. Sie beachtete Achmed nicht, sondern schwieg weiterhin.

»Die Schiffe waren mit menschlicher Fracht beladen«, fuhr Gwydion fort. »Es schienen Sklaven oder solche zu sein, die es noch werden, ganze Dörfer von Gefangenen, die wie Vieh in Waggons abtransportiert wurden. Männer, Frauen, Kinder. Ihre Verteilung wirkte gut durchorganisiert. Sie wurden auf den Kais verteilt und in viele verschiedene Richtungen gesandt.«

»Also hat Sorbold in weniger als einem Jahr ein Heer und eine Marine aufgebaut und dadurch seine Kriegsfähigkeit erlangt«, sagte Ashe, als er die steigende Verärgerung seines Onkels über das Thema der Sklaverei bemerkte. »Anborn hatte schon immer einen diesbezüglichen Verdacht, aber wieso ist uns die Geschwindigkeit dieser Kriegsvorbereitungen bisher entgangen? Talquist ist noch nicht einmal als Herrscher inthronisiert, da er sich entschieden hat, ein ganzes Jahr lang nur den Titel eines Regenten zu tragen. Alle Treffen der Botschafter des Bündnisses mit dem neuen Sorbold sind herzlich verlaufen. Seit dem Tod der Herrscherwitwe hat es keine Feindseligkeiten mehr gegeben. Ich habe von keinerlei Überfällen auf Roland, Tyrian oder die Neutrale Zone gehört – außer dem Randalieren von Betrunkenen anlässlich der Gladiatorenkämpfe, von denen Ihr vorhin gesprochen habt, Rial, doch sicherlich wurden dabei keine Gefangenen genommen. Und wenn die Krone von Sorbold plötzlich weitere Schiffe in Manosse oder Gaematria bestellt hätte, wäre ich gewiss von den Hafenmeistern und den Meeresmagiern gewarnt worden.«

»Das sollte man annehmen, vor allem wenn man bedenkt, dass Manosse zum Besitz deiner verstorbenen Mutter gehörte und Gaematria Mitglied des Bündnisses ist«, stimmte Anborn ihm zu.

»Woher kommen all diese Schiffe und Sklaven?«

Während Ashe diese Worte sprach, richtete er sich ruckartig auf, als hätte ihn ein Pfeil im Rücken getroffen.

»Gerald Owen kommt die Treppe herunter«, sagte er leise. »Ich habe den Befehl gegeben, nicht gestört zu werden.«

Gwydion Navarne spürte, wie eine alte Angst in ihm aufquoll, eine staubige und verkümmerte Panik, die ein Überbleibsel aus dem Gemetzel auf dem Winterfest war und dem Speichel in seinem Mund den Geschmack von Metall und Schlacke verlieh. Ashes Drachensinn, der von den Umtrieben in der großen Halle über ihnen geweckt worden war, hinterließ eine knisternde Trockenheit in der feuchten Luft.

Der cymrische Herrscher erhob sich und schritt aus dem glitzernden Kreis zur verborgenen Tür. Er öffnete sie und trat in das dunkle Vorzimmer unter der grob behauenen Treppe.

»Was ist los, Owen?«, wollte er wissen.

Leise antwortete der alte Mann:

»Es ist ein Besucher hier, der Euch sehen will, Herr. Dieser Mann wusste, dass Ihr in einer Besprechung seid. Er hat mir aufgetragen, Euch um eine Audienz zu bitten. Als ich ihn nach seinem Namen gefragt habe, hat er nur gesagt, Ihr und er wäret als Fremde und Gefährten vor vier Jahren zum cymrischen Konzil gereist.«

Ashe stand eine Weile stumm da und warf dann einen Blick zurück in das von Lampen erhellte Zimmer, in dem seine Ratgeber warteten.

»Vielleicht ist soeben die Antwort auf einige unserer Fragen eingetroffen«, sagte er und wandte sich an Gerald Owen.

»Schick ihn herunter.«


6


Die Insassen des verborgenen Raumes sahen einander verblüfft an, als sie Schritte die Steinstufen hinunterkommen hörten.

»Ist er verrückt?«, meinte Anborn mit leiser Stimme. »Er wollte doch unbedingt, dass dieses Treffen im Geheimen stattfindet. Warum im Namen jeder Hure, die ich je beschlafen habe, lüftet er das Geheimnis dieses Zimmers und gestattet einem Eindringling Zutritt? Dein Gemahl ist ein Narr, Rhapsody.«

»Darüber wirst du von uns keine Widerrede hören«, sagte Grunthor.

Die cymrische Herrscherin erhob sich. Sie war noch immer schwach und trat mühsam hinüber zur Tür.

Aus der Dunkelheit am Fuße der Treppe trat eine in Umhang und Kapuze gehüllte Gestalt. Der Mann ging sofort zu Ashe und sprach mit sanfter Stimme ein paar leise Worte mit ihm, dann folgte er ihm in die verborgene Kammer. Der Herr der Cymrer schloss die Tür hinter ihm.

Trotz des unförmigen Umhangs aus grobem Stoff war es deutlich zu sehen, dass der Mann groß und breitschultrig war – größer als alle Anwesenden mit Ausnahme von Grunthor. Er verneigte sich nicht, sondern wandte sich kurz Rhapsody und dem Kind zu, streckte dann eine große, in einer Umhüllung aus Lammleder steckende Hand aus und legte sie vorsichtig auf den Kopf des Kindes.

Gwydion Navarne betrachtete das seltsame Schauspiel in tiefem Schweigen.

Mit der anderen Hand nahm der Mann die Kapuze ab und enthüllte Haare, die vom Alter grau und silbern waren, auch wenn noch genügend Weißblond aus seiner Jugend darin zu sehen war. Sein Bart war lang und an den Enden leicht gewellt, und die Augen waren klar und blau wie ein wolkenloser Sommertag. In ihnen spiegelte sich das flackernde Licht der Laterne.

Es war Constantin, der Patriarch von Sepulvarta.

Noch lange, nachdem Gwydion begriffen hatte, dass er eigentlich niederknien sollte, blieb er wie erstarrt an seinem Platz, und schließlich stand er auf, nur um sogleich auf ein Knie zu sinken. Sein Vater Stephen Navarne war ein Anhänger der patriarchalischen Religion gewesen, obwohl er ein guter Freund Llaurons des Fürbitters gewesen war, des früheren Oberhaupts des filidischen Ordens der Naturpriester; doch er war mit den religiösen Bräuchen beider Sekten vertraut gewesen und hatte beide geachtet. Stephens Haltung war in der engen und abgeschotteten Welt des Glaubens einzigartig gewesen und hatte sowohl von der Lage seines Herzogtums als auch seiner entgegenkommenden Art hergerührt. Navarne lag zwischen dem nördlichen Gwynwald, der östlichen Grenze des benachbarten Herzogtums Avonderre und dem Nordrand Tyrians und war so zur Kreuzung der verschiedenen Glaubensrichtungen des Kontinents geworden.

Daher war Gwydion Navarne die Bedeutung der Tatsache, dass der Patriarch im Heim seiner Familie erschien, durchaus bewusst. Der Patriarch verließ Lianta’ar, die Sternenbasilika in Sepulvarta, nur zu wichtigen Anlässen wie einem Staatsbegräbnis, einer Heirat in einem Herrscherhaus oder einer Krönung – oder in den schlimmsten Notfällen.

Soweit Gwydion wusste, sollte gegenwärtig kein Mitglied einer Herrscherfamilie beerdigt, verheiratet oder gekrönt werden.

Der Patriarch zog die weißen Brauen zusammen und deutete ungeduldig auf Gwydion.

»Steh auf«, sagte er knapp. »Es ist zu eng hier, um so etwas zu tun, und es geziemt sich nicht für einen Mann, der zum Herzog einer orlandischen Provinz gemacht wurde. Steh auf und setz dich.« Gwydion gehorchte beschämt.

»Was führt Euch hierher, Euer Gnaden?«, fragte Ashe rasch und bot dem Patriarchen einen Platz an.

Der Körper des heiligen Mannes war zwar alt, besaß aber immer noch Anzeichen großer Stärke aus seiner Jugend. Er machte eine zurückweisende Geste.

»Ich kann nicht lange hier bleiben, denn man darf nicht entdecken, dass ich Lianta’ar verlassen habe«, erwiderte Constantin. »Ich bringe beunruhigende Nachrichten – aber wie es aussieht, bin ich da nicht der Einzige.«

»Tretet in den Kreis. Rial, Anborn und Gwydion haben gerade von den Kriegsvorbereitungen Sorbolds berichtet«, erklärte Ashe, während er sich neben Rhapsody setzte. Liebevoll fuhr er mit der Hand über den Kopf seines Sohnes. »Es scheint so, dass Roland und vielleicht auch die anderen Mitglieder des Bündnisses die Ziele des beabsichtigten Angriffs sind.«

»Möglicherweise«, stimmte der Patriarch ihm zu, als er sich in den schützenden Lichtkreis begab. »Einige werden vor euch fallen, andere nach euch, wenn alles nach Talquists Willen geschieht.«

Die Stille im Raum wurde immer dichter, bis sie beinahe handgreiflich war.

»Sagt uns, was Eure Meinung ist, Euer Gnaden«, meinte Anborn schließlich.

Die durchdringenden blauen Augen des alten Mannes fingen das Licht der Laterne ein, spiegelten und verstärkten es.

»Der erste Ort, den Talquist angreifen wird, ist Sepulvarta. Schon jetzt ziehen sich seine Truppen an den Bergen südlich von uns zusammen. Der heilige Stadtstaat ist das Tor zu Roland und dem Mittleren Kontinent. Talquist wird seine Füße an uns abwischen, wenn er die Schwelle zu euren Ländern überschreitet. Daran hege ich keinen Zweifel.«

»Die heilige Stadt?«, fragte Gwydion, der vor Entsetzen nur langsam sprechen konnte. »Wie ist das möglich? Sorbold hängt dem patriarchalischem Glauben an! Eine der fünf Elementar-Basiliken befindet sich auf seinem Gebiet. Selbst in den schrecklichsten Schlachten des Cymrischen Krieges, als alles andere vernichtet wurde, blieb Sepulvarta verschont. Es wäre eine Beleidigung des All-Gottes …«

»War es nicht auch eine Beleidigung des All-Gottes – oder des Einzigen Gottes, wie die Lirin ihn nennen –, als die Dritte Flotte vor tausend Jahren den heiligen Gwynwald zerstört hat? Wir haben den Äußeren Kreis verbrannt und sogar den Großen Weißen Baum angegriffen«, sagte Anborn verbittert. »Ich – Elynsynos’ eigener Enkel – habe diese Angriffe angeführt. Im Krieg ist nichts heilig. Dass Sepulvarta bislang unzerstört geblieben ist, ist nichts als Zufall – ein Wunder.«

»Der Marschall spricht die Wahrheit«, bestätigte Constantin. »Der Krieg wird zuerst zu uns kommen; er hat schon begonnen. Einer der drei Gründe, warum ich heimlich hierher gereist bin, besteht darin, Euch davor zu warnen, Herrscher der Cymrer. Ich bin auch gekommen, um Euch zu sagen, dass Nielash Mousa, der Segner von Sorbold und einer meiner Hauptseligpreiser, im Sterben liegt und vielleicht sogar schon tot ist. Er hat sein Leben zum Schutz von Terreanfor hingegeben, der Basilika des Lebendigen Steins in Jierna’sid.«

»Es hat einen Anschlag auf Terreanfor gegeben?«, fragte Achmed, als Anborn seine Wut kaum mehr bezähmen konnte. »Warum sollte Talquist die einzige der fünf Basiliken angreifen, die innerhalb seiner eigenen Grenzen liegt?«

»Der Angriff kam nicht von außen, sondern von innen«, erklärte der Patriarch. »Als heilige Basilika der elementaren Erde ist Terreanfor die größte bekannte Lagerstatt Lebendigen Steins auf dem Kontinent. Talquist hat heimlich diesen wertvollen Rohstoff der Basilika für seine eigenen Zwecke abgeerntet. Der Mann, der mir von diesem Verrat berichtet hat, war Zeuge der Tat und hat unfreiwillig sogar daran teilgenommen. Dieses gesegnete Element, dieses Geschenk der Erdenmutter ist auf die unheiligste Weise benutzt worden. Ich vermute, dass die Ermordung der Herrscherwitwe und des Kronprinzen Vyshla das Ergebnis dieses Verbrechens waren, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie der Lebendige Stein das bewirken konnte.«

»Die Herrscherwitwe war eine verschrumpelte alte Schachtel, die älter geworden ist, als ihr zustand«, brummte Anborn. »Und ihr fetter Klops von einem Sohn konnte kaum ohne fremde Hilfe aus dem Sessel aufstehen. Wieso glaubt Ihr, dass ihr Tod keine natürliche Ursache hatte? Es ist höchst wichtig, dass wir nicht fremder Bosheit das zuschreiben, was auch auf andere Weise erklärt werden kann, denn sonst verlieren wir uns in der Frage, welche Bedrohung wirklich besteht und welche nicht.«

»Das stimmt«, gestand der Patriarch. »Zwar kann ich nicht beweisen, dass der plötzliche Tod der beiden Mord war, aber ich weiß, dass Talquist die Waage manipuliert hat, damit er zum Herrscher ernannt wird. All diese angebliche Bescheidenheit, ein Jahr lang nur als Regent aufzutreten, war nichts als Augenwischerei; Talquist hat schon seit langem seine Thronbesteigung geplant.« Der Patriarch kniff die sengenden blauen Augen zusammen. »Ich kenne diesen Mann und seine Grausamkeit bereits seit vielen Jahren.«

In dem kleinen unterirdischen Raum wurde es still; die Laterne flackerte. Über die Herkunft des Patriarchen war nicht viel bekannt. Wie aus dem Nichts war er auf dem ersten cymrischen Konzil des neuen Zeitalters erschienen und hatte sich unter die Abkömmlinge der Auswanderer von der untergegangenen Insel Serendair gemischt.

Ashe und Rhapsody wechselten rasche Blicke mit den beiden Bolg. Sie alle kannten seine Geschichte, hatten sie aber nie enthüllt. »Ihr braucht das nicht näher darzulegen, Euer Gnaden«, sagte Ashe.

Der Patriarch schüttelte den Kopf. »Wenn diese Männer Eure Ratgeber sind und Ihr ihnen vertraut, dann verdienen sie es zu wissen«, meinte er und sah nacheinander Anborn, Rial und Gwydion an. »Es braut sich ein Krieg zusammen, der möglicherweise einen großen Teil der bekannten Welt verwüsten wird. Alle Geheimnisse meiner eigenen Vergangenheit sind dagegen unwesentlich. Es ist besser, wenn alles Verborgene ans Tageslicht kommt, damit wir wenigstens einen Teil der kommenden Vernichtung abwenden können. So würde es auch der All-Gott wünschen.«

»Wie Ihr wollt«, brummte Ashe. »Niemand hier wird über Euch richten.«

»Der cymrische Herrscher spricht die Wahrheit«, bekräftigte Rial. »Jeder Einzelne von uns ist in den Augen des All-Gottes alles andere als vollkommen. Redet weiter, Euer Gnaden.«

»In meiner Jugend war ich Sklave in einer Gladiatorenarena im Bezirk Nikkid’sar im sorboldischen Stadtstaat Jakar«, erklärte der alte Mann. »Zwar sehe ich aus wie ein Greis, aber seit der Zeit meiner Gefangenschaft sind nach den Maßstäben der Welt nur wenige Jahre vergangen. Ich wurde von Dämonenblut geboren und bin ein Abkömmling des letzten bekannten F’dor, der dieses Land heimgesucht hat. Ich war ein grausamer Mörder und kannte keine Gnade, sondern nur Blutdurst.« Er machte eine Pause, während Gwydion, Anborn und Rial erstaunt blinzelten. »Es war die cymrische Herrscherin, die mich vor noch Schlimmerem bewahrt hat – und Ihr wart es, Marschall, der uns beide gerettet hat, auch wenn Ihr mich zweifellos nicht wieder erkennt.«

»Das tue ich in der Tat nicht«, meinte Anborn. »Wenn es mir nach gegangen wäre, dann hätte der Gladiator, den Rhapsody aus der Arena in Sorbold gezogen hat, den Tod durch meine eigene Hand erlitten. Wenn sie mir nicht in den Arm gefallen wäre, dann würde Eure befleckte Seele nun in der Tiefen Kammer der Unterwelt braten, falls Ihr wirklich die elende Brut des Dämons seid.«

Der Patriarch nickte; er schien nicht beleidigt. »Ich bin derselbe Mann, den Rhapsody vor vier Jahren hinter den Schleier des Hoen in das mythische Reich des Herrn und der Herrin von Rowan geführt hat – an jenen Ort auf der Schwelle des Todes, wo die Sterbenden auf die eine oder andere Weise Heilung finden und dann entweder durch das Tor des Lebens ins Nachleben schreiten oder wieder gesund werden und zu einem bestimmten Zweck in die stoffliche Welt zurückkehren.« Sein Blick fiel auf Ashe. »Ich glaube, Ihr kennt dieses Reich.« Der cymrische Herrscher lächelte schwach. »Ja.« »Da Ihr selbst dort geheilt worden seid, kennt Ihr den Druck der Verantwortung, der mit dem Geschenk des zweiten Lebens einhergeht. Nachdem an diesem schläfrigen Ort der Heilkunst zwischen den Welten das Dämonische aus meinem Blut getilgt worden war, war mir nicht mehr viel geblieben. Alles, was ich gekannt hatte, waren Gewalt und Mord gewesen. Also blieb ich dort und studierte und erlaubte mir, meine Zeit damit zu verbringen, mir die Heilkünste und die Weisheit der Rowans anzueignen. Meine ausgesprochene Langlebigkeit – die ich meiner cymrischen Mutter zu verdanken habe, welche ich nie kennen lernte – erlaubte es mir, Jahrhunderte hinter dem Schleier zu verbringen, ohne dort zu sterben. Als ich schließlich auf die andere Seite zurückkehrte, war ich alt und hatte mehr als sechshundert Jahre gelebt, doch in den Augen der Welt war nur eine kurze Zeit vergangen. Aus diesem Grund erkannte mich niemand. Der Name Constantin war nur mit dem jungen, rüstigen Mörder aus der Arena von Sorbold verbunden. Ich habe keinen Versuch unternommen, mich abzuschirmen und meinen Namen zu ändern, und niemand hat die Verbindung hergestellt – nicht einmal Talquist, dem ich gehörte, als ich noch Gladiator war.«

»Es überrascht mich nicht, dass Talquist in der Verbreitung und Beförderung dieses blutigen Sports tätig war, bevor er den Thron bestiegen hat«, bemerkte Rial. »Aber wie konnte er so rasch so viel Macht erlangen, ohne offiziell gekrönt zu sein?«

Der Patriarch schaute auf den Ring der Weisheit an seiner Hand. Es war ein schlichter Ring mit einem klaren, glatten Stein in einer Fassung aus Platin. Innerhalb des ovalen Steins steckten, als wären sie eingeätzt, die zwei einander gegenüberliegenden Symbole des Positiven und Negativen, die Zeichen des Gleichgewichts zwischen dem Leben und der Leere, den beiden großen Konstanten des Universums.

»Bevor er die Waage manipuliert und den Thron von Sorbold gestohlen hat, war Talquist Kaufmann«, sagte er ruhig. »Während die Herrscherklasse, die Adligen und sogar das Militär dazu neigen, die Kaufmannsklasse als untergeordnet anzusehen, hatte diese in Wirklichkeit schon immer die größte Machtbasis, weil sie den Handel und die Außenbeziehungen der Nation kontrolliert. Talquist hatte seit langem Zugang zu Verbündeten in fremden Ländern, mit denen die Herrscherwitwe lediglich lockere diplomatische Kontakte pflegte. Er besitzt eine Flotte von Handelsschiffen, die bereits seit vielen Jahren über die Meere kreuzen, und bleibt auf dem Laufenden über alles, was in der Bekannten Welt vor sich geht. Ich vermute, er ist ein Verbündeter des Magnaten von Marincaer und des Barons von Argaut, die ebenfalls große Flotten auf der anderen Seite des Zentralmeeres und der Welt besitzen. Seit Jahrzehnten befördert er die Waren aus den Minen und den Stofffabriken von Sorbold. Vermutlich ist er reicher und hat bessere Verbindungen, als allgemein bekannt war. Da er nun auch die sorboldische Marine unter seiner Kontrolle hat, beherrscht er die See von der Südspitze Tyrians bis nach Golgarn im Osten. Und vermutlich noch darüber hinaus.«

»Aber woher kommen die Sklaven?«, fragte Ashe. »Kaufmannsschiffe sind nicht dazu eingerichtet, Küstenstädte anzugreifen, und keine sorboldischen Marineschiffe greifen die Uferregionen des Bündnisses an. Wenn die sorboldische Marine über das Zentralmeer nach Manosse oder zu einem weit vom Kontinent entfernten Land gesegelt wäre, dann wäre Talquist zu Hause verwundbar gewesen. Das ergibt keinen Sinn. Irgendetwas fehlt noch.«

»Das stimmt«, pflichtete der Patriarch ihm bei. »Es fehlt sogar noch eine Menge – viel mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt.«

Etwas in der Stimme des heiligen Mannes ließ Gwydion das Blut gefrieren. Das Konzil hatte in geradezu unbeteiligter Haltung Informationen von schrecklichen Auswirkungen gesammelt, die unermesslichen Schmerz vorhersagten; es war, als könnte angesichts der bevorstehenden Invasion und eines Krieges, der Tausenden den Tod bringen würde, nur die kälteste Logik helfen. Doch in Constantins Worten lag etwas Tieferes, etwas Unweltliches. Ein rascher Blick verriet Gwydion, dass auch die anderen die unheilvolle Warnung verstanden hatten. Rhapsodys Augen schimmerten, und ihr Gesicht war erstarrt.

»Sagt es uns«, meinte Ashe schließlich.

Der Blick des Patriarchen schweifte von einem Anwesenden zum nächsten. Schließlich schlug er die Augen nieder, als wolle er die anderen nicht mit seinem Blick durchbohren.

»Es fehlt noch vieles, aber ich werde mit dem beginnen, das Eurer Familie am nächsten liegt. Marschall, Eure Tante Rhonwyn – und Eure Großtante, cymrischer Herrscher –, die Seherin der Gegenwart, ist aus der Abtei der Sonne in Sepulvarta entfernt worden.«

Die Mitglieder der Versammlung sahen einander verständnislos an. Rhonwyn war wie ihre Schwestern ein lebendes Relikt und besaß die Gabe, das Schicksal zu sehen. Obwohl sie im Gegensatz zu ihren Schwestern sanft und zerbrechlich war, war der größte Teil der Bevölkerung, der um ihre Existenz wusste, zu ängstlich oder schüchtern, um auch nur ihrem Blick zu begegnen. Ein paar wagemutige Seelen nahmen bisweilen all ihren Mut zusammen und näherten sich ihr, um eine Prophezeiung von ihr zu erlangen, doch oft liefen sie entsetzt davon, noch bevor sie das Gewünschte erhalten hatten.

»Was meint Ihr mit ›entfernt‹?«, fragte Ashe rasch.

»Auch wenn die Äbtissin es nicht gesehen hat, glaubt sie, dass die Seherin entführt wurde«, erklärte der Patriarch. »Ich habe Sepulvarta sofort verlassen, als ich diese Nachricht erhielt, obwohl ich bereits entschlossen war, mit anderen Botschaften zu Euch zu kommen. Als die Äbtissin vor elf Tagen die Treppe zum Turm der Seherin hochstieg, um ihr das Frühstück zu bringen, war sie verschwunden. Rhonwyn hat die Abtei in den letzten hundert Jahren nur verlassen, um an dem cymrischen Konzil teilzunehmen, auf dem Ihr, Herr und Herrin, als Herrscher eingesetzt wurdet. Sie ist unfähig, aus eigener Kraft draußen zu überleben.«

Stumm tauschten Achmed und Rhapsody einen raschen Blick aus. Vor ein paar Jahren waren sie dieselbe Treppe hochgestiegen, um die hinfällige Seherin zu besuchen, die eine der Töchter der Drachin Elynsynos und Merithyns war, des alten serenischen Erforschers, der ihr Liebhaber gewesen war. Die drei Schwestern, die in der Sprache der Cymrer als die Manteiden bekannt waren, hatten bei ihrer Geburt die überragende Gabe des Sehens mitbekommen, und alle drei waren gezwungen, über das, was sie sahen, nur die Wahrheit zu sagen, auch wenn diese nicht immer mit größter Genauigkeit ausgesprochen wurde.

Jede der drei Schwestern wurde – zumindest in gewisser Hinsicht – als geisteskrank angesehen. Anwyn, die Seherin der Vergangenheit, war die normalste der drei, denn die Vergangenheit war ein konkreteres Reich als die flüchtige Gegenwart oder die unsichere Zukunft, und sie war bekannt dafür, sehr zurückhaltend im Umgang mit ihrer Gabe zu sein und die Kenntnisse, die sie ihr verschaffte, zu horten und nur dann weiterzugeben, wenn sie es für richtig hielt.

Manwyn, die Seherin der Zukunft, war sowohl die unausgeglichenste als auch die begehrteste, denn ihre Fähigkeit, das zu sehen, was noch nicht geschehen war, schürte in vielen verzweifelten Pilgern die Hoffnung, dass sie mit Manwyns Hilfe das erlangen oder verhindern konnten, was sie anderweitig weder zu erlangen noch zu verhindern mochten. Allerdings verließen die meisten ihren zerfallenden Tempel enttäuscht oder verblendet, denn die Prophezeiungen, die diese Wahnsinnige ihnen vorsang, ließen oftmals die vielfältigsten Deutungen zu.

Rhonwyn, die zerbrechlichste der Schwestern, besaß hingegen den klarsten Blick auf die Wirklichkeit. Die Schwierigkeit bestand nur darin, dass dieser Blick so flüchtig war. Während die Sekunden vergingen, verwandelte sich die Gegenwart in Vergangenheit, und Rhonwyn erinnerte sich vom einen Augenblick auf den anderen nicht mehr daran, was sie gefragt worden war oder was sie gesagt hatte. Nur wenige besaßen die Geduld oder Einsicht, länger als ein paar Minuten mit ihr zu reden, doch auch sie gaben irgendwann enttäuscht auf und ließen sie in ihrer verfallenden Abtei allein zurück, während sie in sich hineinlächelte und mit ihren blinden Augen, die keine Iris hatten, in den Himmel starrte.

»Etwa eine Woche vor dem Verschwinden der Seherin war sie regelmäßig von einem Priester aus dem Pfarrhaus zu Sorbold in der Stadt Sepulvarta besucht worden«, fuhr der Patriarch bedeutungsschwer fort. »Jeden Tag war dieser Mann mit zwei Messdienern in die Abtei gekommen, war die Treppe hinaufgestiegen und hatte eine einzige Frage gestellt. Dann ging er und kam am nächsten Tag um dieselbe Zeit zurück.«

»Hat die Äbtissin zufällig die Gespräche mitbekommen?«, fragte Achmed.

»Nach einigen dieser täglichen Besuche hatte sie sich angewöhnt, im äußeren Garten unter Rhonwyns Turm zu arbeiten, wenn der Geistliche eintraf«, sagte Constantin. »Sie hat mir gesagt, dass bei drei Gelegenheiten dieselbe Frage gestellt wurde, und zwar an den letzten drei Tagen vor dem Verschwinden der Seherin.«

»Und wie lautete diese Frage?«, wollte Anborn wissen.

Der Patriarch warf einen raschen Blick auf Rhapsody. »Die Frage, die der Priester stellte, war: ›Wo ist das Kind der Zeit?‹ Bei zwei Gelegenheiten, zu denen die Äbtissin lauschen konnte, schwieg die Seherin zunächst darauf und sagte dann nur, es gebe kein Kind der Zeit. Aber anscheinend erhielt der Priester am letzten Tag eine andere Antwort. Nach meiner Schätzung muss das am Wechseltag des neuen Jahres gewesen sein.« Seine Stimme wurde leiser. »Wann wurde Euer Sohn geboren?«

Die cymrische Herrscherin wurde blass, und Achmed und Ashe tauschten einen raschen Blick aus.

»Am Neujahrstag«, sagte Ashe schließlich, »als die Nacht von einem Tag zum nächsten und von einem Jahr zum nächsten voranschritt. Aber warum sucht ein sorboldischer Priester dieses Kind – unser Kind, falls es das so genannte Kind der Zeit sein sollte?«

»Weil sein Herrscher und Gebieter schon seit langem unablässig nach diesem Kind sucht«, antwortete der Patriarch düster. »Ich habe es in seinen Gebeten und in denen der verbliebenen Priester von Sorbold gehört.« Er betrachtete Gwydion Navarne, den einzigen Anhänger dieser Religion im Konzil. »Im Gegensatz zum filidischen Orden von Gwynwald werden bei uns die Gebete nicht unmittelbar an den Schöpfer gerichtet, sondern durch den Pastor eines jeden örtlichen Tempels übermittelt, der diese und die anderen Gebete der Gegend den Äbten mitteilt, welche sie wiederum zu den Segnern ihres Bezirks bringen, die sie schließlich mir im Gebet zukommen lassen. Ich lege sie dann im großen Turm von Lianta’ar demütig dem All-Gott vor. Bei jedem Schritt werden die Anrufungen mächtiger und reiner, weil sie durch so viele andere Gaben und Danksagungen verstärkt werden. Üblicherweise kümmere ich mich nicht um den Inhalt der Gebete, denn es ist nur meine Aufgabe, meine eigenen Bitten um die Gnade des All-Gottes hinzuzufügen und die Gebete darzubringen.

Doch wie ich euch schon sagte, ist Nielash Mousa, der Segner von Sorbold, tot oder liegt zumindest im Sterben. Und Talquist hat viele unseres Ordens getötet, besonders jene, die im Pfarrhaus zu Jierna Tal lebten.«

»Warum?«, fragte Ashe ungläubig.

Constantin runzelte die Stirn. »Dazu kommen wir gleich«, sagte er düster. »Eine Auswirkung dieses Gemetzels besteht darin, dass die Gebete der Gläubigen aus Sorbold verstreut und in die Irre geleitet wurden. Also kommt man nun unmittelbar zu mir, und daher höre ich die Gebete, was mich von meinen anderen Aufgaben ablenkt. In der letzten Zeit habe ich immer wieder ein und dieselbe Bitte im Namen des Herrschers an den All-Gott gehört – nämlich, das Kind der Zeit zu finden.«

»Ich frage Euch noch einmal: warum?«, meinte Ashe mit dunklerem Tonfall. Die Luft wurde spürbar trockener, als der Drache in seinem Blut sich aufregte.

Der alte Priester erwiderte Ashes Blick und seufzte. Einen Moment lang spiegelte sein Gesicht sein wahres Alter wider.

»Wenn Ihr mich nach Talquists Gründen fragt, dann kann ich Euch keine Antwort darauf geben. Ich höre seine Gebete, doch ich kann nicht in sein Herz blicken, obwohl ich weiß, dass es schwarz und verzerrt ist. Aber ich kann mir einen möglichen Beweggrund vorstellen, auch wenn ich zum All-Gott bete, dass ich unrecht habe.«

»Sagt es uns«, befahl Anborn ungeduldig, doch Ashe hob eine Hand und gebot seinem Onkel Einhalt. Er hatte gesehen, wie sich in den stechenden blauen Augen des Patriarchen Wolken bildeten, und er wusste, dass Constantin nun auf etwas Schreckliches schaute. Er sah Rhapsody rasch an, die so weiß wie das Laken war, in dem sie ihr Kind wiegte.

»Bitte, Euer Gnaden«, sagte er gelassen. »Erklärt es uns, auf welche Weise Ihr es auch immer für angebracht haltet.«

Constantin schwieg weiterhin. Während er in Gedanken versunken wartete, schien es Gwydion, als werde der letzte Rest der zitternden Luft im Raum aufgesogen und verschwände. Als der Patriarch schließlich sprach, waren seine Worte sanft.

»Immer wieder hat es jene gegeben, die hinter das Reich des Sichtbaren auf die Orte blicken, in denen das Auge keine Herrschaft ausüben kann«, sagte er. »Manchmal ist diese besondere Hellsichtigkeit eine Gabe, die schon bei der Geburt gewährt wird, oder sie ist ein außergewöhnliches Erbe. Sie ist eine Fähigkeit, die allerdings auch unter besonderen Umständen erlernt werden kann, und zwar von jemandem mit großen Kenntnissen darüber. Manchmal handelt es sich nicht um die Fähigkeit zu sehen, sondern um die Möglichkeit, die Grenzen des gewöhnlichen Blicks mit Hilfe von Instrumenten zu überschreiten, die dazu in der Lage sind. Ich weiß nicht, welcher dieser Methoden sich Talquist bedient hat, aber ich vermute, dass er es mindestens einmal und vielleicht sogar öfter getan hat. Der Ort, auf den er einen unerlaubten Blick geworfen hat, ist möglicherweise jener Ort zwischen den Türen des Lebens und des Todes, also der Schleier des Hoen, von dem wir eben noch gesprochen haben.

Für jene von euch, die nicht dort gewesen sind, muss ich erklären, dass der Schleier des Hoen ein Ort der Träume und das Reich des Herrn und der Herrin Rowan ist. Die Herrin ist die Bewahrerin der Träume, die Wächterin des Schlafes, Yl Breudiwyr. Der Herr ist die Hand der Sterblichkeit, des friedlichen Todes, Yl Angaulor. An jenem Ort des Übergangs gibt es viele Dinge, die in unserer materiellen Welt nicht bekannt sind. Eines dieser Wesen wird die Weberin genannt. Kennt ihr sie?«

»Ihr habt sie mir gegenüber schon einmal erwähnt, aber außerhalb Eurer Welt weiß ich nichts über sie«, sagte Ashe.

»Die Weberin ist eine der Manifestationen des Elements der Zeit«, erklärte der Patriarch ernst. »Jene, die um die Gaben des Schöpfers wissen, zählen für gewöhnlich fünf weltliche Elemente, nämlich Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther. Doch außerhalb unserer Welt existieren noch weitere Elemente. Eines davon ist das Element der Zeit, und die Zeit in ihrer reinen Gestalt manifestiert sich auf viele Arten. Die Weltenbäume – die Sagia, der Große Weiße Baum und die drei anderen, die an den Geburtsorten der Elemente wachsen – sind Manifestationen der Zeit. Genau wie die Weberin.

Die Weberin tritt als Frau auf, oder zumindest scheint es so, obwohl man sich nie an ihr Gesicht erinnern kann, wenn man ihr begegnet ist, wie eingehend man es auch betrachtet haben mag. Sie sitzt an jenem schläfrigen, zeitlosen Ort vor einem gewaltigen Webstuhl, auf dem die Geschichte der Zeit in farbigen Fäden und Mustern mit Kette und Schuss gewoben wird.

Die Weberin ist die Manifestation der Zeit im Lauf der Geschichte«, fuhr er fort. »Sie mischt sich nicht in den Lauf der Dinge ein, sondern zeichnet sie lediglich für die Nachwelt auf. Sie webt einen faszinierenden Teppich mit ungeheuer verwickeltem Muster. Alle Dinge, alle Wesen sind Fäden im Gewebe; es ist ihr Zusammenspiel, was wir als Leben bezeichnen. Ohne die Verbindungen der Fäden untereinander gäbe es nur die Leere, die Abwesenheit von Leben.«

Ashe nickte. »Als Ihr mir dies früher einmal erklärt habt, sagtet Ihr, dass in diesen Verbindungen die Macht steckt – dass diese Fäden die Seelen auf der Erde und im Jenseits miteinander verbinden. Es sind die in diesem Leben geschlossenen Verbindungen, die es den Seelen im nächsten erlauben, einander wieder zu finden. Auf diese Weise überdauert die Liebe die Zeiten.« Er legte die Hand auf Rhapsodys, und sie tauschten einen Blick aus, der trotz der bevorstehenden Bedrohung ein Lächeln auf ihre Gesichter legte.

»Das habe ich gesagt«, stimmte ihm der Patriarch zu. »Aber ich habe Euch nicht gesagt, was ich in dem Teppich bemerkt habe, den sie webt. In dieser gewaltigen Aufzeichnung der Geschichte gibt es Millionen von Fäden, die miteinander zu einem vollkommenen Abbild der Geschichte der Zeit verwoben sind.

Aber an einer Stelle befindet sich ein Makel. Es handelt sich um eine Abweichung, die man bei einem Teppich auf dieser Seite des Schleiers kaum bemerken würde, falls man sie überhaupt erkennt. Es ist eine Unvollkommenheit im Faden oder in der Technik. Aber eine Unvollkommenheit in der Geschichte, die sich bereits ereignet hat, sollte im Teppich der Weberin unmöglich sein, denn es handelt sich nur um eine Aufzeichnung des Vergangenen ohne Veränderlichkeit oder Zweideutigkeit. Es ist beinahe so, als wären die Fäden der Zeit an dieser Stelle auseinander genommen und neu verwebt worden – als ob die Zeit selbst an diesem einen Punkt in der Vergangenheit verändert worden wäre.«

Lange Zeit war das einzige Geräusch das Knistern der Laternenflamme.

»Die Zeit – neu verwebt?«, fragte Ashe schließlich. »Wie kann das sein? Habt Ihr nicht gesagt, dass die Weberin sich nicht in die Geschichte einmischt, sondern sie nur aufzeichnet?«

»Ja«, meinte der Patriarch. »Soweit ich weiß, tut sie das nicht. Aber die gespaltenen Fäden, die Unvollkommenheiten in der Geschichte tauchen im ganzen Teppich nur an einer einzigen Stelle auf, soweit ich es erkennen konnte. Es muss im Dritten Zeitalter geschehen sein, zu Beginn des serenischen Krieges und Jahrhunderte vor Gwylliams Krönung und dem Auszug der Cymrer aus Serendair.«

Gwydion sah, wie das Blut aus allen Gesichtern im Raum wich; besonders seine Beschützer wurden leichenblass.

»Gibt es Hinweise darauf, wie die Zeit verändert wurde?«, fragte Rial.

Constantin schüttelte den Kopf. »Es ist nur eine Prophezeiung, die in die Fäden über dem Fehler eingewoben ist, ein Rätsel, welches dem Ereignis vorhergeht, das die Geschichte beeinträchtigt hat.«

»Erinnert Ihr Euch daran?«, fragte Anborn angespannt.

»Allerdings«, erwiderte der Patriarch. »Es war einer der Hauptgegenstände meiner Studien, während ich hinter dem Schleier war, aber ich konnte es nie mit anderen geschichtlichen Geschehnissen in Verbindung bringen. Es scheint die letzte Prophezeiung zu sein, die in der reinen Zeit ausgesprochen wurde, bevor sich das ereignete, was die Veränderung herbeiführte.«

»Sagt es uns, Mann, und zwar schnell!«, befahl Anborn harsch.

Der Patriarch warf ihm einen unwilligen Blick zu und wandte sich dann an die cymrische Herrscherin, deren Gesicht nun so bleich wie Milch war.

»Ich spreche diese Worte zu Euch als lirinische Benennerin, Herrin, in der glühenden Hoffnung, dass Ihr in der Lage seid, sie zu verstehen«, sagte er sanft. »Meines Wissens sind sie noch nie in dieser Welt ausgesprochen worden, denn sie haben ihren Ursprung vor der Veränderung der Zeit.« Er räusperte sich und sprach die Worte sorgfältig aus.

»Die Prophezeiung des Kindes der Zeit:

Hervorgebracht im Blut aus Feuer und Luft

Gezeugt von der Erde

Ein Kind von zwei Welten

Geboren frei von den Fesseln der Zeit.

Augen werden es beobachten auf der Erde und aus ihrem Inneren

Und die Erde selbst wird brennen unter ihm

Zum Gesang des Jammerns und Schreiens der Sterbenden.

Er wird das Unvermeidliche ungeschehen machen

Und sich damit

Selbst einst ungeschehen machen.

Dies widernatürliche Kind, geboren aus widernatürlichem Akt

Die Mutter wird sterben, doch das Kind wird leben

Bis alles, was vorherging, fortgewischt ist

Wie eine Träne aus dem Auge der Zeit.«

Rhapsodys Rücken versteifte sich. Sie drückte die Schultern durch, und ihre Arme zitterten. Dann schaute sie hinunter auf das schlafende Kind in ihren Armen. Ihre Lippen, die sie bisher fest zusammengepresst und weder in Hohn noch in Zärtlichkeit verzogen hatte, klafften nun auf, als sich die Worte aus ihrem Mund ergossen. »Gütiger All-Gott«, flüsterte sie.

7

An der Grenze zwischen Hintervold und Canderre

Die Drachin hielt an dem bitteren Fluss inne, dessen Eis silbrig schimmerte und der den südwestlichen Rand ihres Landes von der Nordspitze Rolands trennte. Ihr Körper zitterte vor Erschöpfung und Kälte, die sich im Hintervold bis weit in den Frühling hinein hielt. Sie hatte sich mühsam so weit geschleppt, hatte dem Wind getrotzt sowie dem Blutverlust und der Verwirrung, die sie andauernd überfiel, wenn sie sich länger als nur wenige Augenblicke auf etwas anderes konzentrierte als auf die Frau, die sie töten wollte.

Als sie am Rande des träge treibenden Eises hockte, schien es ihr, als verliere sie den Kampf.

Die Drachin wusste, dass der Fluss trotz seiner Stromschnellen seicht war. Der innere Sinn, mit dem sie seit ihrer Geburt begabt war, erlaubte ihr, die Welt in allen Einzelheiten wie jeder andere Drache wahrzunehmen – auch als sie sich in menschlicher Gestalt befunden hatte, allerdings erinnerte sie sich an jene Zeit nicht mehr. Nun erkannte sie die Temperatur des Wassers – sie lag nur knapp über dem Gefrierpunkt – und die Geschwindigkeit – zweieinviertel Mal so schnell, wie ein ungesattelter Hengst rennen konnte – sowie die Anzahl der kleinen Fische, die im Schlamm schliefen – siebenhundertsechsunddreißigtausendvierhundertachtundachtzig – und ferner ungezählte andere Informationen über die Höhe der Wolken, den Grad der Schneeschmelze am Flussufer, dessen Breite, die Bäume in der Umgebung und alle anderen Elemente des Lebens in ihrer Nähe.

Die Anzahl der Informationen umwölkten ihren Verstand. Die Drachin versuchte sich davon zu befreien und richtete all ihre Aufmerksamkeit auf den Fluss.

Die Gestalt, in der sie anscheinend für den Rest ihres Lebens gefangen war, hatte kaltes Blut, und daher wusste sie, dass es ihren Herzschlag bis zum Tod verlangsamen konnte, wenn sie sich einer so großen Kälte aussetzte. Andererseits wuchs das verhasste Ding in ihr, das ihr das Fleisch zerriss und ihr Schmerzen verursachte, unter der Wärme, die ihr Körper durch die Feuersteine in ihrem Bauch erzeugte, mit deren Hilfe sie ihrer Wut zu beißender Flamme verhelfen konnte.

Anwyn berechnete schnell, dass die Kälte des Flusses dieses Wachstum aufhalten konnte, auch wenn das dreikammerige Herz in ihrer schlangenartigen Brust dann möglicherweise nicht mehr weiterschlagen würde.

Sie entschied, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als es zu wagen.

Sie stählte sich, so wie sie sich gegen die Schmerzen ihrer Wunde gestählt hatte, und glitt langsam in die eiskalte Flut.

Ihre verkrümmten Füße rutschten beinahe sofort auf den glitschigen Felsen des Flussbettes aus, und ihre blutende Brust geriet mitten in eine der Stromschnellen hinein. Die Drachin keuchte vor Entsetzen auf und bemühte sich, nicht mit dem Kopf voran in das Wasser zu fallen und von ihm davongetragen zu werden. Das durchscheinende Wasser hatte etwas zugleich Altes und Junges an sich, denn Anwyn wusste, dass es sowohl schon vierzigtausend Jahre als auch erst vierzig Minuten alt war, denn noch vor weniger als einer Stunde war es Gletschereis gewesen. Trotz der Schmerzen und der Kälte gefiel dem Untier das Gefühl der Vergangenheit, das mit der Strömung dahinschoss. Es war, als glitte die Zeit über die Drachin hinweg, wie Wasser durch ein Loch am Boden strömt und dorthin zurückkehrt, wo es hingehört.

Ich werde leben, dachte sie wütend. Egal wie sehr sie auch versuchen mögen, mich zu vernichten. Ich werde siegen, weil mein Hass stärker ist.

Mitten im Strom hielt die Drachin an. Hier reichte das Wasser kaum bis zu ihren Waden. Als sie sich an die Temperatur gewöhnt hatte, fand sie heraus, dass die aufgelösten Eisschollen, die um sie herum wirbelten, ihr ein Gefühl der Stärke vermittelten und sie mit der Vergangenheit verbanden – mit der Vorzeit, in die nur sie allein blicken konnte. Auch ohne das Fernglas sah sie nun immer deutlicher ein fernes Land voller trockenem Wüstensand und heilender Quellen, mit Felsen, unter denen man im Mondlicht baden konnte, und mit Tempeln, die zwei Jahrtausende alter Lehm vor dem dahinjagenden Wind verbarg.

Kurimah Milani, dachte sie. Es war ein Ort, der schon lange vor ihrer Geburt an die Wüste verloren worden war und der in einem Land weit hinter Elynsynos’ Reich lag. Daher wusste Anwyn fast nichts über ihn; sie kannte nur seinen Ruf als Ort von beinahe göttlicher Heilkraft, der bereits fünfhundert Jahre, bevor ihr Vater seinen Fuß auf den Boden des Drachenlandes gesetzt hatte, vom Sand und dem heulenden Wind verschluckt worden war. Wahrhaft ein Ort der Vergangenheit, dachte sie, während sie um ihr Gleichgewicht kämpfte. Schließlich gab sie den Kampf auf und gestattete es ihren Füßen, in die schlammige Erde des Flussbetts einzusinken. Vielleicht wird er mich willkommen heißen, da auch ich ein Wesen der Vergangenheit bin.

Mit fest in den gefrorenen Schlick des Flussbetts eingekrallten Füßen machte sie sich langsam auf den Weg nach Osten und kämpfte mit jedem neuen Schritt gegen die Strömung an.

8

Haguefort, Navarne

»Rhapsody, ich bitte dich, gerate nicht in Panik«, sagte Ashe rasch und legte die Hand unter den Rücken des Kindes. Seine Frau war jedoch kaum blasser als er selbst. »Erinnere dich daran, was mein Vater über Prophezeiungen gesagt hat – dass sie nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen.«

Vorsichtig nahm er seinen Sohn in die Arme, während sich seine Frau gegen die Wand der unterirdischen Kammer lehnte. Er versuchte das Kleinkind anzulächeln, konnte aber den Rest der Bemerkung nicht vergessen, die sein Vater gemacht hatte. Oft ist es den Preis der Irreführung nicht wert, in die Zukunft zu sehen, hatte Llauron bemerkt. Ashe war zu dem Schluss gekommen, dass Prophezeiungen zwar in die Irre führen konnten, aber oft ergaben sich noch schlimmere Konsequenzen, wenn man sie erst gar nicht beachtete.

»Ich habe keine Panik«, sagte Rhapsody mit fester Stimme, obwohl ihr Gesicht noch immer sehr bleich war. »Aber es ist für mich keine Frage, dass Meridion das Kind ist, von dem diese Prophezeiung spricht, obgleich ich nicht verstehe, warum etwas im Teppich der Weberin aus einer Zeit, als die Geschichte in Verwirrung geraten zu sein scheint, auf ihn zutreffen soll. Als Jal’asee, der Botschafter der Meeresmagier aus Gaematria, zu Gwydions Amtseinsetzung hier war, hat er mir von dem Geheimnis erzählt, das durch die Vermischung deines Blutes mit dem meinen in mir gewachsen ist. Er hat denselben Begriff verwendet und mir gesagt, es werde ein Kind der Zeit sein.« Sie holte tief Luft und erinnerte sich an die genauen Worte des Magiers, in denen die Weisheit der ältesten aller Rassen erklang.

Euer Kind wird mit der Macht aller Elemente gesegnet und geschlagen sein, Rhapsody. Ihr seid durch das Feuer im Herzen der Erde geschritten. Habt keine Angst. Natürlich weiß ich das, denn Ihr habt es in Euch aufgenommen, was deutlich zu spüren ist. Was der Rest der Welt irrtümlicherweise für reine Schönheit hält, kann jemand wie ich, der die uranfänglichen Elemente in ihrer Rohform gesehen hat, als das erkennen, was es ist. Ihr und Euer Kind wurdet während Eurer kürzlich erfolgten Entführung in den Armen des Meeres gewiegt. Auch dies weiß ich – nicht weil ich es beobachtet hätte, sondern weil es mir die Wellen während meiner Reise von Gaematria nach hier erzählt haben. Euer Gemahl ist der Kirsdarken-va’ar, der Meister des Elements, also haben beide Eltern eine Verbindung zum Wasser. Auch die Erde ist in euch beiden – in Euch, weil Ihr durch ihr Herz gereist seid, und in Eurem Gemahl, weil er von der Drachin Elynsynos abstammt und auf diese Weise mit der Erde verbunden ist, so wie Ihr mit dem Stern Seren verbunden seid. Und schließlich seid Ihr als lirinische Königin ein Kind des Himmels, eine Tochter der Luft. Daher wird Euer Kind all diese Elemente in seinem Blut haben. Wisst Ihr, was die Summe dieser Elemente ist?

Sagt es mir, hatte sie geflüstert.

Zeit. Er wird die Macht der Zeit haben. Ich hoffe, Ihr werdet mir die Ehre erweisen, Eurem Kind beizubringen, wie es diese Macht einsetzen kann, wenn es alt genug ist und sich die Gelegenheit ergibt.

»Dann, als er geboren wurde«, fuhr sie fort, »benötigte er wie alle Drachen einen Namen, damit er Gestalt annehmen konnte, also habe ich ihm einen gegeben, der zurück bis zu Merithyn und seinem eigenen Vater reicht, aber schließlich habe ich die Bezeichnung Kind der Zeit ebenfalls in seine Benennung eingewoben.«

Ashe nickte, als er sich daran erinnerte. Er hatte nur wenig Zeit mit seinem neugeborenen Sohn verbringen können, aber wenigstens war das Schicksal so freundlich gewesen, ihm die Anwesenheit bei der Geburt in der Höhle des Untergegangenen Sees zu erlauben, dem Nest seiner Urgroßmutter Elynsynos, wo Rhapsody Unterschlupf gefunden hatte.

Elynsynos, die schon lange ihren irdischen Drachenkörper gegen eine Gestalt aus Äther eingetauscht hatte, hatte damals das Aussehen einer Frau angenommen, in dem sie sich auch Merithyn, seinem serenischen Urgroßvater, gezeigt hatte, damit sie der Bolg-Hebamme Krinsel bei der Geburt helfen konnte.

Als Ashe dem Wunder zugesehen hatte, war sein Blick vom Gesicht seiner Frau zu dem seiner Urgroßmutter geschweift, die trotz aller Anmut ihrer königlichen Schönheit den aufgeregten, kindlichen Ausdruck gezeigt hatte, den er oft an ihr bemerkt hatte, als sie noch in Drachengestalt bei ihnen gewesen war. In einer Mischung aus Angst und Ehrfurcht hatte er zugesehen, bis Rhapsodys Hand die seine gepackt hatte. Nun schloss er die Augen und genoss die Erinnerung wie einen Schatz.

Sam?

Ja, Arial. Das Wort bedeutete auf Lirinisch mein Leitstern, und es passte vollkommen zu der Rolle, die sie in seinem Leben spielte.

Sie hatte ihre kleine, zitternde Hand auf seinen Brustkorb gelegt.

Ich brauche das Licht des Sterns in dir. Unser Kind kommt.

Er hatte sich tiefer zu ihr herabgebeugt und seine Hand auf die ihre gelegt.

Was immer du brauchst. Wie kann ich es dir geben?

Öffne dein Herz. Heiße dein Kind willkommen.

Alles, was Ashe hatte tun können, war ihr zuzunicken, als Rhapsody langsam und leise mit der Elegie auf den verlorenen Stern Seren begonnen hatte, die sie von dem serenischen Meeresmagier gelernt hatte. Während des Singens hatte sie geweint und nur der Musik gelauscht, die von dem Stück desselben Sterns abstrahlte, welches ihm im Reich der Rowans in die Brust eingepflanzt worden war. Es war der reine, elementare Gesang des verlorenen Sterns gewesen, zusammen mit der Musik von Wind und Feuer, die als Geheimnis in ihr wohnten, und von Erde und Wasser, die von Ashes Blut gekommen waren.

Komm herbei, mein Kind. Komm in die Welt und lebe.

Ashe fühlte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte, als er daran dachte, wie nahe sie bei der Geburt seines Sohnes dem Tode gewesen war.

Elynsynos hatte sich ein letztes Mal mit Krinsel beredet, die Achmed auf Rhapsodys Bitten hin aus Ylorc mitgebracht hatte; dann hatte die Drachin in serenischer Gestalt die Hände in einer Geste der Demut gehoben und von oben in Rhapsodys Bauch gegriffen, wobei ihre Hände durch das Fleisch geglitten waren wie durch Nebel und Sternenstaub.

Das war der magischste Augenblick gewesen, dem er je beigewohnt hatte.

Nun hatte Elynsynos die Hände weggenommen und ein winziges, gleißendes Licht in die Höhe gehalten, das sie sanft aus dem verdämmernden Körper seiner Gemahlin gezogen hatte. Dann hatte sie es ihr auf die Brust und zwischen die Hände gelegt.

Benenne es, meine Schöne, damit es Gestalt annehmen kann.

Ashe hatte über dem donnernden Schlag seines dreikammerigen Herzens ihre Worte kaum gehört.

Rhapsody hatte ihre Hand nach ihm ausgestreckt. Als sich ihre Finger miteinander verwoben hatten, hatte sie die Benennung angestimmt.

Willkommen, Meridion, Kind der Zeit.

Einen Augenblick lang hatte nichts in ihrer anderen Hand gelegen als das gleißende Licht. Dann hatte sich allmählich eine Gestalt gebildet, ein winziges Haupt, kleine Hände, die nach oben ausgestreckt wurden und winkten. Ein leises Gurren war bald darauf zu einem lauten Jammern geworden, und plötzlich war die Höhle mit der gewöhnlichen Musik eines schreienden Kindes erfüllt gewesen.

Das war der wunderbarste Laut gewesen, den er je gehört hatte.

»Ich glaube immer noch, dass sich diese Prophezeiung möglicherweise nicht auf unser Kind bezieht«, sagte er zu den Versammelten. »Zu vieles passt nicht zusammen. Offenbar – und glücklicherweise – ist Rhapsody nicht gestorben, so wie es der Mutter in der Prophezeiung vorhergesagt wird. Überdies ist Meridion zwar einzigartig und ungewöhnlich wegen seiner Abstammung und seiner Gaben, aber er ist kein widernatürliches Kind.« Einen Moment lang gewann sein Gesicht wieder an Farbe. »Und er ist keinesfalls aus einem widernatürlichen Akt hervorgegangen. Er kam wie jedes andere Kind auf die Welt.«

»Ich bin mir nicht so sicher, ob das stimmt«, sagte Achmed. »Geschlechtsverkehr mit einem Drachen könnte von vielen vernünftigen Leuten als widernatürlicher Akt angesehen werden. Es ist zumindest nichts, worüber ich mit vollem Magen nachdenken möchte.«

Eine Hitzewelle durchschoss Ashe, und hässliche Worte ergossen sich von seinen Lippen, bevor er sie zurückhalten konnte.

»Und wie würdest du deine eigene Empfängnis beschreiben, Achmed? Ich erschauere bei dem Gedanken daran, welche Paarung ein Wesen hervorbringen kann, das halb Dhrakier, eine der ältesten Rassen der Welt, und halb Firbolg ist, eines der schlimmsten Bastardgeschlechter von halbmenschlichen Ungeheuern, die je das Antlitz der Erde beschmutzt haben. Es steht dir kaum zu, über widernatürliche Geburten zu reden.«

Rhapsody betrachtete ihn tadelnd, während der Rest des Konzils ihn stumm anstarrte. Der Bolg-König sagte nichts, aber der Sergeant-Major warf ihm einen düsteren Blick zu, unter dem die Luft in dem winzigen Geheimzimmer knisterte.

»Vielleicht ist es nicht Meridions Empfängnis, sondern seine Geburt, die die Prophezeiung mit den Worten hervorgebracht im Blut aus Feuer meint«, sagte Rhapsody. »Nicht einmal du, Sam, kannst die ungewöhnlichen Umstände seiner Geburt verleugnen. Sie hat fast das gesamte Blut in meinem Körper verbraucht, weswegen ich noch immer sehr schwach bin. In Anbetracht der Tatsache, was mit mir in der letzten Zeit geschehen ist, könnte man annehmen, dass ich das Feuer bin, aus dem er hervorgegangen ist, und du bist als Drache die Erde, die ihn gezeugt hat. Aber mir scheint, dass all das unwichtig ist. Falls es wirklich so sein sollte, dass Meridion das Kind der Zeit ist, nach dem Talquist sucht – oder falls Talquist dieser Meinung sein sollte –, dann müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um ihn zu beschützen, ob er nun das Kind aus der Prophezeiung ist oder nicht.«

»Dem stimme ich zu«, meinte Ashe. Er stieß die Luft aus und überlegte, was als Nächstes zu tun sei.

»Ich dachte, Rhapsody, dass du dazu schweigen solltest«, meinte Anborn. »Es gibt noch vieles zu berichten. Außerdem glaube ich nicht, dass Seine Gnaden mit seiner Geschichte schon fertig ist, und ich muss auch noch Etliches mitteilen. Wir sollten damit weitermachen.«

»In der Tat«, stimmte Constantin ihm zu. »Eines muss ich noch über die Taten des anmaßenden Herrschers berichten. Vor einiger Zeit entkamen zwei Priester aus Sorbold, die im Pfarrhaus in der Nähe von Jierna Tal und der Erdbasilika von Terreanfor lebten, dem Feuer, das ihr Haus zerstörte und in dem alle Äbte, Diener und anderen Priester starben. Zwar wurde dieses Feuer als tragischer Unfall angesehen, aber diese beiden haben etwas anderes beobachtet. Zuerst hatten die Geistlichen im Palast von Jierna Tal an einem rauschenden Fest teilgenommen, wo ihr Essen mit einer Droge versetzt worden war, die sie einschläferte. Diejenigen, die sich im Griff des Schlafmittels befanden, erwachten nie wieder, was eine Gnade angesichts des schrecklichen Todes war, der sie erwartete. Die anderen wurden durch Pfeilfeuer von Talquists Garden in das Haus zurückgetrieben, als sie den Flammen zu entkommen versuchten.«

»Warum, um alles in der Welt, hat er so etwas getan?«, fragte Gwydion Navarne in Erstaunen und Entsetzen.

»Wegen dem, worum er sie früher an jenem Tag gebeten hatte«, erwiderte Constantin düster. »Diese beiden Männer waren dem Feuer entkommen und hatten es bis nach Sepulvarta geschafft, ohne dass Talquist es bemerkt hätte. Bevor sie neu benannt und irgendwo versteckt wurden, kamen sie zu mir und berichteten, was sie gesehen hatten. Sie teilten mir mit, dass Talquist den Lebendigen Stein in der Basilika von Terreanfor ernten ließ, wie ich Euch bereits vorhin erzählt habe. Sie haben mir alle Einzelheiten mitgeteilt. Es war eine schreckliche Geschichte, der zufolge die gewaltige Steinstatue eines Kriegers von ihrem Postament in der Krypta der Kathedrale geschnitten und im Schutz der Dunkelheit auf den Markplatz von Jierna Tal gebracht wurde. Dort stellte man sie auf eine der Waagschalen der Großen Waage von Sorbold, durch die auch ich und Talquist unsere Ämter erhalten haben.

Auf die andere Waagschale wurde eine Kreatur gelegt, eine schreckliche Missgeburt, eine arme, beklagenswerte Seele in einem völlig verwachsenen Körper. Dann begann das Wiegen. Die Priester berichteten, dass Talquist einige Tropfen seines eigenen Blutes und noch etwas anderes in die erste Waagschale mit der Statue gelegt hat.

Und dann wurde sie in einer Beleidigung gegen die Natur und den All-Gott belebt und konnte sich aus eigener Kraft bewegen.«

»Gütiger Einziger Gott«, murmelte Rial. »Und was ist danach geschehen?«

»Zum Glück lief die titanische Statue in die Wüste hinter dem Vorgebirge zwischen Sorbold und Sepulvarta, wo sie wieder zu Sand zerfiel«, sagte Constantin. »Das Schwert aus Lebendigem Stein, das ihr aus der Hand gerissen worden war, bevor sie in die Nacht hineinrannte, löste sich in den Straßen von Jierna’sid ebenfalls in Sand auf. Diese Tat war eine Abscheulichkeit, die Besudelung eines heiligen Schreins, die allein bereits Talquists Entfernung aus dem Amt und in meinen Augen sogar seine Hinrichtung rechtfertigen würde. Es war eine Vergewaltigung der Kathedrale von Terreanfor, eine unverzeihliche Entweihung. Aber ich frage mich, zu welchem Zweck er dieses Experiment durchgeführt hat. Glücklicherweise ist es am Ende gescheitert, sodass wir zwar möglicherweise nie erfahren werden, was er vorhatte, aber dafür müssen wir auch nicht unter den Auswirkungen leiden.«

»Erlaubt mir, meine traditionelle Rolle als Stinktier beim Gartenfest zu spielen«, meinte Anborn. »Ihr habt Unrecht mit Eurer Annahme, Euer Gnaden. Die Statue, die Ihr erwähntet, ist nicht in der gottverlassenen Wüste von Sorbold zu Staub zerfallen. Ich habe diesen Titan vor wenigen Wochen selbst beobachtet, als ich einen Erkundungsgang in den Straßen von Jierna’sid gemacht habe. Es war ein ungeheuerlicher Anblick. Das Ding ist durch die Hauptverkehrsstraße der Stadt gelaufen und hat geschwankt, als wäre es betrunken, obwohl das sicherlich nur seinem unnatürlichen Wesen zuzuschreiben war. Alles, was ihm im Weg stand, wurde zerstört: Ochsenkarren, Heuwagen, Straßenbuden, und auch die Soldaten von Sorbold, die es aufzuhalten versuchten, wurden nicht verschont. Es war schrecklich. Die Statue wirkte zwar ungelenk und unbeholfen, aber sie war gegen gewöhnliche Waffen unempfindlich und hatte nichts anderes als Vernichtung im Sinn. Als ich sie zuletzt gesehen habe, hat sie über achtzig Soldaten zerschmettert, unzählige Geschäfte und Wagen beschädigt und war auf dem Weg zum Palast. Ich habe es nicht bedauert, dass sie anscheinend auf der Suche nach dem Herrscher war, aber wenn er immer noch lebt und Sepulvarta bedroht, dann hatte die Statue wohl anderes im Sinn, als ich angenommen hatte.«

»Möglicherweise«, bemerkte Achmed. »Ich bin mir nicht sicher, was dies bedeutet, aber zumindest beweist es, dass Talquist zur Erreichung seiner Ziele alles zu tun bereit ist. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich nicht von mir.«

»Gut gesagt«, gab Anborn zurück. »Nun, Rhapsody, was meinst du dazu? Hast du unsere Berichte vernommen und mit deinen Überlieferungen abgeglichen?«

Ashe erhob sich rasch von seinem Stuhl. »Vergib mir, Onkel«, sagte er, »und ihr anderen bitte auch. Bevor wir fortfahren, möchte ich draußen kurz mit meiner Frau allein sprechen. Ich bitte um Nachsicht.«

Rhapsody hielt die Hand hoch.

»Bevor wir das tun«, sagte sie, »muss ich Achmed eine Frage stellen. Auch auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen, werde ich sie auf Bolgisch stellen. Bitte entschuldigt meine mangelhaften Manieren, aber die Zeit drängt.« Die übrigen Männer im Kreis nickten, und sie wandte sich an den Bolg-König, während sich das Kind in Ashes Armen allmählich regte und leise Laute des Hungers ausstieß.

»Wenn du bereit bist, ihnen zu sagen, was du mit dem Berg vorhast«, sagte sie in der rauen, beschränkten Sprache der Firbolg, »und warum du es tun willst, dann werde ich dir die Hilfe für dein Unternehmen gewähren, die ich dir bisher verweigert habe.«

Achmeds verschiedenfarbige Augen glänzten. Sie lagen so eng beieinander, dass sie den Anschein erweckten, als blickten sie unablässig an einer Waffe entlang auf ein Ziel.

»In welchem Umfang?«, gab er zurück. »Zu deinen Bedingungen oder zu meinen?«

»Bisher habe ich mit dir nur die Grundlagen geteilt, die ich aus der alten Schriftrolle erfahren habe, welche ich für dich übersetzen sollte«, antwortete Rhapsody. »Wenn du dein Vorhaben diesem Konzil mitteilst und ihnen sagst, was du tust, werde ich dir alles verraten, was ich weiß und dir auf jede erdenkliche Weise helfen. Ich muss meinem Gemahl sagen können, warum ich angesichts des kommenden Krieges und meiner anderen Verantwortlichkeiten so viel Zeit mit dieser Sache verbringe.«

Die beiden Bolg tauschten einen raschen Blick aus.

»In Ordnung«, sagte der Bolg-König.

Die cymrische Herrscherin erhob sich und streckte die Hände ihrem Kind entgegen, das Ashe noch immer hielt.

»Wir werden sofort zurück sein«, sagte sie zu den Versammelten. »Meridion muss gestillt werden. Vielen Dank für eure Nachsicht.«

»Ich werde Gerald Owen anweisen, eine kleine Mahlzeit zu bringen, damit ihr etwas essen und euch erfrischen könnt«, sagte Ashe. Ich selbst werde das nicht brauchen, dachte er. Was ich gleich tun werde, wird mir jeden Appetit nehmen.

9

Anborn spürte den kommenden Krieg, aber das war nicht ungewöhnlich.

Jeder, der an dem Treffen in der winzigen Kammer hinter dem Wandbehang teilgenommen hatte, fühlte dasselbe. Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte es auf eine Dumpfheit schließen lassen, die sehr peinlich gewesen wäre. Was Anborn spürte, war nicht so sehr das Herannahen des Krieges, sondern seine eigene Rolle darin – oder zumindest das, was er als seine Rolle ansah.

Und zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten freute er sich insgeheim darauf.

Er lehnte sich so weit wie möglich zurück, packte seine nutzlosen Beine und streckte sie aus, während Gerald Owen und Melisande Navarne mit Tabletts voller Speisen den verborgenen Raum betraten.

Er kniff die Augen zusammen, als er das junge Mädchen mit den goldenen Ringellocken sah, das ein Tablett auf dem Tisch vor ihm abstellte.

»Wer ist das?«, wollte er schroff wissen. »Ich war der Meinung, dass dieses Treffen geheim ist, und du bringst ein unbekanntes Dienstmädchen her, bei dem es sich vermutlich um eine Spionin handelt.«

Das Mädchen rollte die schwarzen Augen in kühner Verärgerung. »Denk dir mal einen neuen Witz aus, Marschall«, sagte es, hob den Deckel vom Tablett und reichte ihm eine Leinenserviette. »Du weißt sehr wohl, dass ich Melisande Navarne bin, denn schließlich bist du mein Pate und hast mich wie einen Ball herumgeworfen, seit ich ein Kind war.«

»Genau deshalb weiß ich, dass du eine Betrügerin bist«, sagte Anborn selbstgefällig, während er sich die Serviette über die gelähmten Beine legte. »Melisande Navarne ist noch immer ein Kind; sie ist nicht länger als mein Unterarm zwischen Handgelenk und Ellbogen.« Wie um seinen Worten Nachdruck zu verliehen, schlug er sich mit der Hand gegen den Arm. »Du aber bist ein großes, unverschämtes Ding und kannst unmöglich dieses süße kleine Mädchen sein.«

Melisande nahm die Haltung einer Dienstmagd ein und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

»Auch wenn es mich schmerzt, dich daran erinnern zu müssen, dass du alt wirst, Marschall …«

»Autsch«, murmelte Grunthor, während Rial und Achmed lächelnd die Köpfe senkten.

»… so bin ich doch in der Tat dein Patenkind und die Herrin von Navarne, die Zweite in der Thronfolge dieses Herzogtums, wie ich wohl hinzufügen darf. Ich bin neun Jahre alt und werde am ersten Tag des Frühlings zehn, und ich bin mehr als viermal so lang wie dein Unterarm. Außerdem kann ich rennen, reiten, Bogen schießen und mit dem Dolch umgehen. Ich kenne mich sehr gut mit Pferden aus und kann sie striegeln und aufzäumen. Ich bekomme viel bessere Bewertungen von meinen Lehrern, als mein Bruder sie je erhalten hat, und ich bin es leid, im Kinderzimmer bleiben zu müssen, wenn wichtige Dinge besprochen werden. Ich könnte sehr wertvoll für das Konzil sein, zumindest als Botin oder vielleicht auch als Spionin.« Die dunklen Augen des Mädchens funkelten in einer Mischung aus Erregung und Groll. »Hiermit möchte ich deutlich, aber höflich mein Missfallen darüber zum Ausdruck bringen, immer ausgeschlossen zu sein. Wenn Rhapsody so unterdrückt aufgezogen worden wäre, hätte sie niemals die Herrscherin und Kriegerin werden können, die sie nun ist. Ich erachte das als schreckliche Verschwendung von wertvollem cymrischem Guthaben.«

»Ich werde gleich dein wertvolles cymrisches Guthaben verschwenden, junge Dame!«, rief der Marschall und schlug spielerisch nach ihrem Hintern. Melisande wich ihm aus, wie sie es immer an dieser Stelle des Spiels tat, und eilte rasch hinter Gerald Owen aus der verborgenen Kammer.

»Na, die hat aber ’n Mundwerk«, meinte Grunthor anerkennend. »Wenn ihr für die keine richtige Aufgabe findet, gebt sie mir. Ich weiß schon, wozu ich sie gebrauchen kann.«

»Führe mich nicht in Versuchung«, murmelte Gwydion Navarne. »Ich kann dafür sorgen, dass sie mit all ihren Sachen in weniger als fünfzehn Minuten auf der Treppe der Festung steht.«

»Das klingt eher wie ein genervter Bruder als wie ein frisch eingesetzter Herzog«, bemerkte Anborn knapp. »Denk an meine Worte, junger Navarne: Eines Tages wirst du stolz darauf sein, dass dieses Mädchen mit dir verwandt ist.«

»Vielleicht«, gab Gwydion reumütig zu. »Und wahrscheinlich dauert es eher fünfzehn Tage, bis sie gepackt hat.«


»Dass du zusammen mit Achmed ein Geheimnis vor mir hast, Rhapsody, verwirrt mich sehr, wie ich gestehen muss«, sagte Ashe, als sie hinter dem Wandbehang hervorkamen und die große Halle betraten. »Ich war der Meinung, dass wir voreinander nichts verheimlichen. Ich habe dir all meine Geheimnisse verraten, auch wenn manche davon scheußlich sind.«

Rhapsody drückte seine Hand. »Ich hätte dir schon lange alles gesagt, was ich darüber weiß, Sam, aber das stand mir nicht zu. Vor einiger Zeit, als du und ich in der Wüste von Yarim waren und die Bolg unter der Quelle der Entudenin nach Wasser gegraben haben, hat Achmed mir ein uraltes dünnes Dokument aus Pergament gezeigt, das aus der Zeit vor der cymrischen Ära datiert und vielleicht sogar von der untergegangenen Insel stammt. Es war die Risszeichnung einer Maschine, wie ich sie nie zuvor gesehen habe. Sie benutzt das Farbspektrum des Lichts und das Lautspektrum der Musik, um verschiedene Arten von Macht zu erschaffen – die Macht des Heilens, die Macht des Wahrsagens und Verbergens und viele andere, die ich noch nicht herausgefunden habe. Er hat mir diese Informationen nicht überlassen, obwohl ich sie als eine der elementarsten und ursprünglichsten Überlieferungen der Welt erkannte, und ich habe ihn gewarnt, vorsichtig damit umzugehen, denn sogar die Meisterbenenner sind nur in wenige dieser Geheimnisse eingeweiht.

Als er zu Gwydions Amtseinsetzung kam, hatte er das Dokument wieder dabei. Er hat mich gebeten, es zu übersetzen, und ich hatte es bei mir, als du mich zu Elynsynos’ Nest gebracht hast. Damals habe ich verstanden, was es bedeutet, um welche Überlieferungen es sich handelt und worin die Gefahren ihrer Anwendung liegen. Es hätte übrigens beinahe unsere Freundschaft beendet. Nach Meridions Geburt habe ich Achmed gesagt, dass ich ihn nie wieder sehen will, weil er trotz meiner Warnungen unbedingt die Übersetzung haben wollte. Aber nachdem ich lange darüber nachgedacht und mit ihm ein offenes Gespräch unter vier Augen darüber hatte, als wir im Schutz von Llaurons Körper gefangen waren, habe ich begriffen, was er wirklich will. Er hatte bereits früher im alten Land einige Erfahrungen mit dieser Maschine gesammelt und ist der Meinung, dass wir gegen Kräfte kämpfen werden, die in der Geschichte einzigartig sind; und deshalb sollten wir eine Waffe mit einzigartiger Herkunft und Macht besitzen.«

»Darin steckt eine gewisse Weisheit«, gab Ashe zu.

»Während Gwylliams und Anwyns Instrument das Schlafende Kind aufzuwecken drohte, also jenen Drachen, der im Mittelpunkt der Erde schläft, scheint Achmed eine Möglichkeit entdeckt zu haben, es mit Kraft zu speisen, die nicht aus dem Feuer oder der Erde stammt, wie es bei Gwylliam und Anwyn der Fall war. Achmed benutzt dazu das Licht der Sonne und der Sterne, was den Gebrauch sehr viel sicherer macht, auch wenn sie immer noch wohlüberlegt erfolgen muss. Die Maschine sollte auf diese Weise sogar noch mächtiger sein, denn die Macht eines jeden Elements bemisst sich nach der Reihenfolge, in der es erschaffen wurde. Daher übertrifft der Äther alle anderen, gefolgt von Feuer, Wasser, Wind und Erde. Wenn wir den Äther zum Betreiben unseres Lichtfängers benutzen, sollte er einerseits äußerst wirksam und andererseits sehr sicher sein. Wenn wir ihn einsetzen können, um das Erdenkind zu bewachen, die Berge zu beschützen sowie den Feind zu finden und zu überwinden, dann wird es das Risiko und den Schaden wert sein, den unsere Freundschaft deswegen genommen hat.«

»Ich bezweifle nicht deine Weisheit, Aria«, sagte Ashe und nahm ihre Hand zwischen die seinen. »Es ist vielleicht kleinlich, besonders wenn man bedenkt, was wir einander bedeuten, aber mich ärgert der Gedanke, dass du und Achmed ein Geheimnis miteinander teilt, welches uns beide trennt. Vermutlich ist das auch nur ein kindischer Widerwille, der dem besitzergreifenden Drachenblut zuzurechnen ist.«

Rhapsody küsste seine Hand. »Jetzt gibt es zwischen uns keine Geheimnisse mehr«, sagte sie, »aber es gibt einige, von denen niemand sonst weiß. Da ist eines, das nur wir beide miteinander teilen.«

Ashe lächelte wehmütig. »Wirklich?«, fragte er. »Mir scheint, zwischen dir und den beiden Firbolg gibt es keine. Du kennst sie schon viel länger als ich und hast mehr mit ihnen durchgemacht, auch wenn du noch nichts von ihnen wusstest, als wir beide uns zum ersten Mal begegnet sind.«

»Ja, aber nur du weißt das, und nur du kennst meinen wirklichen Namen«, sagte sie. »Ich habe ihn bisher erst einmal in dieser Welt ausgesprochen, und das war bei der Hochzeitszeremonie, die wir im Geheimen abgehalten haben. Nur in der Grotte von Elysian kann man den Widerhall dieses Namens finden, und selbst die größten Benenner würden Schwierigkeiten haben, ihn zu erkennen. Außerdem weiß niemand, dass wir einander schon auf der anderen Seite der Zeit begegnet sind. Nur wir beide teilen miteinander die Erinnerung an jene wundervolle Nacht, die mich und zweifelsohne auch dich in der Zwischenzeit schon so oft getröstet hat. Also bist in Wahrheit du der Wächter meiner verlorenen Kunde und meines Herzens. Du bist meine Vergangenheit und meine Zukunft. Und so wird es immer sein.«

Ashe seufzte. »Wenn ich bloß deine Gegenwart sein könnte«, sagte er.

Das Kind in seinen Armen stieß einen hungrigen Schrei aus, und sie beide lachten.

»Ich glaube, da ist jemand, der vorgeht«, meinte Rhapsody. »Und obwohl du so gut wie die Besten deiner Art brüllen kannst, gewinnt er immer noch, wenn es um reine Lautstärke und Stimmhöhe geht.« Sie legte sich das aufgeregte Kind an die Brust und streichelte sanft seine goldenen Locken.

Ashe stieß feierlich die Luft aus.

»Aria, ich möchte dich um etwas bitten, obwohl ich lieber sterben als zusehen würde, wie du es tust.«

Rhapsody sah ihn überrascht an. »Dann bitte mich nicht darum«, sagte sie nur. »Wenn es bei dir solche Gefühle auslöst …«

»Uns bleibt keine andere Wahl«, unterbrach Ashe sie. »Du musst mit Meridion noch heute Nacht von hier aufbrechen. Es wäre etwas anderes, wenn wir uns nicht den Mantel der Führerschaft umgelegt hätten. Dann könnte ich dich und das Kind übers Meer bringen oder euch im heiligen Gwynwald in der Nähe des Großen Weißen Baumes verstecken, und ihr wäret in Sicherheit. Aber wir haben unsere Treue der Nation und dem Bündnis geschworen, und nun, da Krieg droht, dürfen wir unseren Eid nicht brechen, auch wenn das bedeutet, dass wir nicht zusammenbleiben können. Aber die Welt kann mir gestohlen bleiben, wenn du oder unser Sohn in Gefahr geraten solltet. Diesen Gedanken vermag ich nicht zu ertragen. Ich würde verrückt werden, wenn dir oder ihm etwas zustoßen sollte. Die Raserei des Drachen mag nach Elynsynos’ Meinung ein erfundenes Manuskript sein, aber ich spüre in mir den unleugbaren Glauben, dass genau das geschehen wird, falls ich euch verlieren sollte. Schon mehr als einmal habe ich einen Wald in Brand gesetzt, nur weil ich geglaubt habe, du wärest für mich verloren. Bereits das Wissen darum, dass sich dort draußen Kreaturen befinden, die auf der Jagd nach Meridion sind, weckt den Drachen in meinem Blut, der nach Rache und Vernichtung schreit.

Obwohl ich glaube, dass die Hohe Warte die stärksten Verteidigungsanlagen hat, wäre es närrisch, selbstsüchtig und unklug, dich hier zu lassen, während wachsame Augen nach unserem Sohn Ausschau halten. Es gibt nur einen Ort, an dem ihr beide in Sicherheit seid, wenn die Welt einstürzen wird.«

»Was sagst du da, Sam?«, fragte Rhapsody mit bebender Stimme.

Ashe senkte den Kopf. »Mit deiner Erlaubnis werde ich Achmed darum bitten, euch in seine Obhut zu nehmen. Du und das Kind werdet heute Nacht mit ihm und Grunthor aufbrechen. Ihr werdet abseits der Straßen reisen, vermutlich eher durch Canderre und Yarim als durch Bethania und möglicherweise durch den nordöstlichen Zipfel von Bethe Corbair, wo es nichts als Wüste gibt und keine Landmarken oder Festungen, wo ihr von jemandem entdeckt werden könntet, der die Macht hat, euch aus der Ferne aufzuspüren.« Er atmete tief aus. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie übel mir in diesem Augenblick ist. Trotzdem glaube ich, dass wir uns beeilen müssen. Wenn der Bolg einverstanden ist – und ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass er es nicht sein wird – und wenn du ebenfalls zustimmst und dich zu dieser Reise in der Lage fühlst, werde ich sofort nach der Beendigung des Konzils dafür sorgen, dass du noch vor der Morgendämmerung aufbrechen kannst.«

Rhapsody lehnte sich gegen die Wand, während sie ihr Kind stillte.

»Welch ein wunderbares Liebeslied«, meinte sie sanft.

»Wie bitte?«

»Was du soeben zu mir gesagt hast, waren vielleicht die schönsten Liebesworte, die ich je gehört habe«, sagte sie und lächelte traurig. »Ich weiß sehr wohl, wie sehr du diese Vorstellung hasst, wie sehr sie dir die Seele vergällt und wie schwer es für dich war, diesen Vorschlag zu machen. Für mich wird es gleichermaßen schwer sein, deiner Bitte zu folgen. Aber da ich keine bessere Idee habe, fürchte ich, dass du recht hast. Alles andere würde unseren größten Schatz nicht angemessen schützen.« Sie sah hinunter auf das Kind, das an ihrer Brust eingeschlummert war.

»Also wirst du es tun?«, fragte Ashe. Seine Miene war eine Mischung aus Erleichterung und Grauen.

Rhapsody knöpfte ihre Bluse zu und wiegte das Kind erneut.

»Ich tue es für ihn«, sagte sie. »Ich werde nach Ylorc gehen und Achmed bei seinem höllischen Lichtfänger helfen in der Hoffnung, dass er sowohl die Berge schützt als auch den Krieg rascher beendet. Aber das sage ich dir, Sam: Sobald Meridion entwöhnt und in Sicherheit ist, werde ich an die Front zurückkehren. Ich bin die Iliachenva’ar; es ist sinnlos, ein Schwert elementaren Feuers zu tragen und sich zu verstecken. Es wäre eine Beleidigung gegenüber Oelendra und der Ausbildung, die sie mir gegeben hat, wenn ich mich nur um meine eigene Sicherheit kümmere, während die anderen sterben.«

»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Ashe. Rhapsody lächelte ihn an. »Falls du die Nachricht erhalten solltest, dass mir etwas zugestoßen ist, dann soll Anborn den Krieg fortführen, bis du bereit bist, das Oberkommando zu übernehmen.«

Rhapsodys Lächeln verblasste. »Komm, wir sollten zurückgehen«, sagte sie. Sie erhob sich und reichte Ashe wieder die Hand. Gemeinsam begaben sie sich zurück in den kleinen, dunklen Raum hinter der verborgenen Tür.

Kurz vor dem Wandbehang blieb Ashe ein letztes Mal beim Fenster in einem Teich aus Licht stehen und ließ sich dann auf eine Bank unter den Scheiben nieder. Rhapsody nahm langsam neben ihm Platz.

»Du hast mir noch nichts über Llaurons Tod berichtet«, meinte er gelassen. »Hat mein Vater am Ende leiden müssen? Ich weiß, du wirst mir die Wahrheit sagen, da du ihr als Benennerin verschworen bist. Du brauchst mich nicht zu schonen.«

»Nach meiner Einschätzung hat er nicht gelitten«, antwortete Rhapsody sanft. »Er ist zwischen Anwyn und mich getreten, während ich Meridion im Arm hatte, und hat uns mit seiner ätherischen Substanz umgeben. Dann war er plötzlich verschwunden, und zurück blieb nur seine Hülle aus elementarer Erde und Dunst. Es gab keine Schmerzen, und deine Großmutter konnte ihm nichts antun, aber ich vermute, er war traurig darüber, dass sie bereit war, ihm das Leben zu nehmen, nach allem, was er in der Vergangenheit für sie getan und geopfert hatte. Du hast den Ausdruck in seinen Augen gesehen, Sam. Es war Friede – und Resignation. Er wusste, dass er sein Enkelkind vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Zumindest das wird ihn an die Schwelle der Rowans und zum ewigen Leben führen.«

Rhapsody hielt nach einer Spur von Feuchtigkeit in seinen himmelblauen Augen Ausschau, die so seltsam und beeindruckend von den senkrechten Drachenpupillen durchschnitten wurden, doch es gab kein solches Anzeichen, und dessen Abwesenheit verriet einen noch tieferen Kummer jenseits aller Tränen.

»Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat, so grausam zu ihm zu sein, als wir uns das letzte Mal gesehen haben«, sagte Ashe. »Er war so aufgeregt wegen Meridion und wollte unbedingt am Leben seines Enkels teilhaben. Und ich habe ihn verschmäht, ich habe ihn zurückgewiesen und ihm gesagt, er werde niemals das bekommen, was er haben wollte. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe.«

Sie nahm seine Hand.

»Es war dasselbe, was mich dazu getrieben hat, alles hinter mir zu lassen, was ich kannte und liebte«, sagte sie einfach und ohne Gefühlsduselei. »Es war die Pflicht – und das Verlangen –, unseren Sohn um jeden Preis zu schützen.« Mit ihrer kleinen, schwieligen Fingerspitze fuhr sie ihm liebkosend über den Handrücken. »Llauron hat das verstanden, besser als jeder andere, der mir je begegnet ist. Er ist an sein Ende gekommen und hat dadurch sein Enkelkind geschützt. Nur ein einziges weiteres Mal ist in der Vergangenheit ein solches Opfer gebracht worden. Wenn Meridion älter ist, wird er wissen, wie sehr Llauron ihn geliebt hat, um so etwas für ihn zu tun. Ich bin mir zwar nicht sicher, aber es scheint, als ob Llauron etwas von seinem Wissen auf Meridion übertragen hat. Ich glaube, einen Dunst im Gefängnis von Llaurons Körper gesehen zu haben, den das Kind eingeatmet hat.«

Ashe starrte weiterhin aus dem Fenster der Festung auf die silbernen Bäume, die unter dem Herannahen der Zweiten Tauwetterperiode schwarz erglänzten.

»Es ist jedenfalls ein schöner Gedanke«, sagte er schließlich, stand von der Bank auf und zog Rhapsody mit sich. »Komm, wir gehen zurück und bringen das zu Ende, was wir entschieden haben. Dann können wir Meridions Benennungszeremonie abhalten, bevor du aufbrichst. Wenigstens eine einzige gute Erinnerung an diesen Tag sollte uns verbleiben.«

Er zog den Wandbehang beiseite, führte seine Gemahlin vorsichtig die Treppe hinunter zum geheimen Eingang und öffnete die Tür der verborgenen Kammer, in welcher der Rest der geheimen Versammlung gerade sein Mahl beendete.

Sie kehrten zu ihren Plätzen an der Tafel zurück.

»Vielen Dank für eure Geduld«, sagte Ashe. »Die Entscheidungen, die wir gefällt haben, sind hart und werden für uns alle schwierig umzusetzen sein. Jede erfordert ein Opfer, das in vielen Fällen fast zu groß ist, aber das ist nun einmal das Los der Führerschaft.«

»Leider«, sagte Anborn.

»Zuerst will ich den Firbolg-König offiziell um einen Gefallen bitten.« Ashe sah Achmed an.

»Du bittest mich um einen Gefallen?«, fragte Achmed ungläubig. »Wenn es um die Bereitstellung von Truppen geht, dann lautet meine Antwort: nein. Das Firbolg-Heer ist schon einmal Roland zu Hilfe gekommen – damals, beim großen Gerichtshof. Unter den gegebenen Umständen werde ich jeden Soldaten brauchen, den ich habe.«

»Dem kann ich nur zustimmen«, sagte Ashe schalkhaft. »Meine Bitte ist diese: Nimm meine Frau und meinen Sohn heute Nacht im Schutze der Dunkelheit mit und reise mit ihnen abseits der Straße durch die Wüste von Ylorc. Ich möchte, dass du sie in den Zahnfelsen in Sicherheit bringst. Irgendetwas macht Jagd auf unseren Sohn. Da ich das weiß, kann ich weder ruhen noch diesen Krieg in rechter Weise führen, wenn ich nicht sicher bin, dass ihm sowie seiner Mutter nichts zustoßen kann. Nachdem Rhapsody zugestimmt hat, dir beim Bau und der Entwicklung deines Lichtfängers zu helfen, kann sie dafür den Schutz der Berge für sich und das Kind in Anspruch nehmen. Bist du damit einverstanden?«

Achmed und Grunthor tauschten einen raschen Blick aus. Dann sahen die verschiedenfarbigen Augen des Bolg-Königs wieder Ashe an.

»Ylorc war Rhapsodys erste Heimat auf diesem Kontinent«, sagte er. »Sie besitzt dort ein kleines Herzogtum. Also wird sie in den Zahnfelsen immer willkommen sein.«

»Ja, und die Bolg werden sich freun, das Kind zu sehn«, kicherte Grunthor.

»Sobald ich das erste Rezept mit seinem Namen darin sehe, werde ich einen ganzen Stamm von euch in Flammen setzen«, meinte Rhapsody.

»Nun bitte ich die cymrische Herrscherin, all das, was sie von uns gehört hat, einzuschätzen und uns zu sagen, was sie darüber denkt«, meinte Ashe.

Die Herrin der Cymrer stieß die Luft aus.

»Für mich klingt es so, dass der kommende Krieg eher von menschlicher Habgier herrührt als von einem dämonischen Verlangen nach Vernichtung«, erklärte sie. »Aber das ist kaum von Bedeutung. Chaos und Anarchie sind sehr anziehend für die F’dor. Früher oder später werden wir uns einer Macht aus der alten Zeit gegenübersehen. Aus diesem Grund ist der Lichtfänger ein weises Instrument.

Aus dem, was ich gehört habe, schließe ich ebenfalls, dass es mehr Verbündete auf Talquists Seite gibt, als uns bisher bekannt war. Unter Leitha, der Herrscherwitwe, war Sorbold eine mehr oder weniger isolierte Nation, doch der neue Regent ist ein ehemaliger Kaufmann. Zweifellos hat er Freunde und Geschäftspartner auf der ganzen Welt. Wir müssen rasch herausfinden, wen er jenseits unserer Grenzen zu dem Versuch rekrutiert hat, den Mittleren Kontinent zu erobern.«

»Ich würde auf Hintervold tippen«, meinte Anborn.

»Vielleicht, aber Hintervold hängt von den Nahrungsmittellieferungen aus Roland ab, und Sorbold kann diese nicht leicht ersetzen«, gab Rhapsody zu bedenken. »Wir müssen so viele Steine wie möglich umdrehen und nachschauen, was darunter hervorkriecht.«

Dann wandte sie sich an Rial, ihren treu ergebenen Vizeregenten. »Dies ist mein letzter Befehl an Euch, mein Freund: Geht zurück nach Tyrian und dient wie bisher meinem Reich als Regent und Beschützer. Sichert den Wald. Noch brauchen wir die Lirin nicht in diese Sache hineinzuziehen. Allerdings solltet Ihr den Waldwächtern und den Soldaten an der lirinischen Grenze befehlen, alle Truppen aufzuhalten, die von Sorbold nach Roland ziehen wollen, selbst wenn es deswegen zum Kampf kommen sollte. Rial, Ihr müsst zum Palast von Tomingorllo gehen, wo das Diadem in seiner Schatulle ruht. Versucht es aufzunehmen, wie ich es einst versucht habe. Vielleicht ist es Zeit für die Sternenkrone, die Häupter zu wechseln. Ich werde zu lange zu weit entfernt sein, um dort als Titularkönigin herrschen zu können. Die Lirin haben Besseres verdient.«

»Die Krone und die Lirin haben ihre Wahl bereits getroffen, Herrin«, wandte Rial ein.

»Selbst ein Diadem aus ätherischen Diamanten hat das Recht, hin und wieder eine Entscheidung zu überdenken«, sagte Rhapsody und lächelte dabei ihren Vertrauten an. »Wir müssen uns dem stellen, was kommen wird. Zunächst wird es zwar nur ein oberirdischer Krieg sein, aber ich vermute, dass es nicht so bleiben wird.«

»Rhapsody hat recht«, fuhr Ashe fort. »Während die Spuren jener, die einst in der Tiefen Kammer der Unterwelt weilten, hier bei uns bisher nicht erkennbar sind, werden Gewalt und Blutvergießen ein Köder und eine Versuchung für die Dämonen darstellen, am Krieg teilzunehmen. Also müssen wir darauf vorbereitet sein, nicht nur diejenigen zurückzuschlagen, die von Habgier und Eroberungsgelüsten angetrieben werden, sondern auch gegen die dunkleren Mächte zu kämpfen, gegen das Böse aus dem Ersten Zeitalter, das nur durch Wissen aus derselben Zeit vernichtet werden kann. Aus diesem Grund wünsche ich, dass die Entscheidungen dieses behelfsmäßigen Konzils, bestehend aus den verschiedenen Parteien des Bündnisses und der Kirche, in Gegenwart einer lirinischen Benennerin ausgesprochen werden. Unsere Taten sollen als Akt der Verteidigung in die Geschichte eingehen, ergangen zum Schutz des Mittleren Kontinents und seiner Bewohner gegen die drohende Invasion durch jene, welche die Erde erobern wollen, und jene, die in ihrem Innern wohnen.«

»Tu das, Neffe«, sagte Anborn. »Ich bin froh, dass ich heute nicht an deiner Stelle bin. Erst in vielen Jahren, wenn die Geschichte ihr Urteil gefällt hat, wirst du wissen, wie schmerzhaft dieser Augenblick wirklich ist. Das kannst du mir glauben.«

Die Stimme des cymrischen Herrschers klang fest und königlich. »Sehr gut. Dies ist meine Entscheidung, gefällt in Übereinstimmung mit allen Anwesenden und vorbehaltlich ihrer Zustimmung«, sagte er. »Anborn ist immer schon der fähigste Kommandant gewesen. Wenn du einverstanden bist, Onkel, dir den Mantel, den du vor Jahrhunderten abgestreift hast, wieder umzulegen und erneut als Marschall der vereinigten Streitkräfte zu dienen, dann haben wir den besten Anführer im Feld. Außerdem verbinden dich persönliche Freundschaften mit einigen unserer schwierigeren Verbündeten – den Nain, den Eismännern aus dem Hintervold, dem Segner der Neutralen Zone –, die alle zu der einen oder anderen Zeit deine Waffenbrüder waren. Auch wenn es nicht nötig ist, einen dieser Verbündeten in den Krieg hineinzuziehen, solange sie nicht unbedingt gebraucht werden, wäre es gut zu wissen, dass wir im Notfall auf ihre Loyalität zählen können – entweder zum Bündnis oder zu ihrem militärischen Führer.«

»Wie du willst, Neffe«, meinte Anborn. Seine Stimme klang ruhig und besonnen und hatte nicht den herablassenden Tonfall, mit dem er für gewöhnlich sprach, vor allem wenn es um Kriegsangelegenheiten ging.

»Daher fällt mir die Aufgabe zu, das Land selbst zu halten«, fuhr Ashe fort. »Der Drachenanteil wird den Bau bewachen und den Schutzschild um die Welt erhalten. Der menschliche Anteil, also der cymrische Herrscher, muss zum Schutz der Menschen kämpfen, die auf seinem Land wohnen. Im Namen Llaurons, meines Vaters, und in dem von Elynsynos, meiner Urgroßmutter, werde ich beides tun. Ich werde sofort die Versammlung der Herzöge einberufen und das Oberkommando über alle Provinzstreitkräfte übernehmen und sie unter Anborns unmittelbaren Befehl stellen.«

»Das wird Tristan Stewart gar nicht gefallen«, sagte Gwydion Navarne. »Ich glaube, er hat erwartet, als Regent diesen Posten übertragen zu bekommen.«

»Er wird sich eines Besseren besinnen, sobald er den Umfang und die Reichweite dessen begreift, wogegen wir kämpfen«, wandte Ashe ein. »Aber wir haben keine Zeit, auf die Versammlung der Streitkräfte aller Provinzen zu warten, falls uns das, was Ihr befürchtet, Euer Gnaden, unmittelbar bevorsteht. Anborn sollte Euch sofort zurück nach Sepulvarta begleiten und alle Truppen mitnehmen, die in den Außenposten und Kasernen des südöstlichen Navarne und des südlichen Bethania auszuheben sind. Ich werde Befehlsschreiben aufsetzen, die Euch die Macht verleihen, so viele Soldaten einzuziehen, wie Euch möglich ist. Entlang Eurer Route sollten es mindestens zehntausend Männer sein, je nachdem wie viele gerade damit beschäftigt sind, die Karawanen zu bewachen.«

Dei Patriarch nickte. »Das erscheint mir weise. Ich hoffe, Ihr lasst Roland nicht schutzlos zurück, nur um Sepulvarta zu helfen. Das wäre sehr töricht.«

»Allerdings«, sagte Ashe. »Anborn, werden zehntausend Mann zur Rettung der heiligen Stadt ausreichen?«

»Es sind mehr als genug, um eine Belagerung zu beenden, falls es bereits zu einer solchen gekommen sein sollte‹›, meinte Anborn.« »Aber ich befürchte ernsthaft, Neffe, dass diese Soldaten nicht von ausreichendem Format sein werden. Schon seit drei Jahren, seit du diese verdammte Position als Herrscher angenommen hast, sage ich dir, dass es Krieg geben wird und du Vorbereitungen treffen musst.«

»Ich habe auf dich gehört«, sagte Ashe geduldig. »Du wirst angenehm überrascht sein, Onkel.«

»Ich bin nie angenehm überrascht«, murmelte der Marschall. »Bereits die bloße Vorstellung einer Überraschung ist mir äußerst unangenehm.«

»Ich werde mich von der Festung in der Hohen Warte aus um die strategischen Aspekte des Krieges kümmern, also um die Verteidigung des Mittleren Kontinents und der Gebiete des übrigen Bündnisses. Ich werde unverzüglich Schiffe zu unseren Verbündeten in Manosse und Gaematria jenseits des Großen Mittleren Meeres schicken, damit sie gewarnt sind und ich sie um Hilfe bitten kann. Auf dem Meer ist Talquist bisher im Vorteil, aber mit ihrer Hilfe können wir vielleicht gleichziehen.

Außerdem werde ich mich der Weisheit meiner Gemahlin beugen, auch wenn ich vor unserer gemeinsamen Entscheidung zurückschrecke«, fuhr Ashe fort. »Ich vertraue Rhapsody und unseren Sohn dem Firbolg-König Achmed an, der nicht nur unser Verbündeter, sondern auch Rhapsodys treuer Freund ist. Er soll sie und Meridion vor allen Gefahren beschützen. Rhapsody ist einverstanden, mit ihm nach Ylorc zu gehen und ihm bei der Entwicklung und Inbetriebnahme eines Apparats zu helfen, den Achmed den Lichtfänger nennt. Dabei handelt es sich um den Nachbau von Gwylliams Lichtschmiede, die von den Nain vor dem Cymrischen Krieg entworfen und gebaut worden war, um das Wissen zu schützen, das ihr zugrunde lag. Der Bolg-König hat seine enge Bindung an das Bündnis bestätigt, auch wenn er keine Truppen versprochen hat, und er versichert uns, den Apparat nur zum Schutz des besagten Bündnisses einzusetzen, falls er denn wirklich einsatzbereit sein wird. Habe ich deine Positionen richtig beschrieben, Achmed?«

Der Bolg-König schnaubte: »Im Hinblick auf die Geschichtsschreibung sicherlich. Mir bedeutet die Geschichte nichts; ich habe noch keinen Teil von ihr gesehen, der mir gefallen hätte.«

»Vielleicht wird dieser hier ja der erste sein«, meinte Ashe milde. »Die lirinische Königin und cymrische Herrscherin Rhapsody hat Rial, den Vizekönig von Tyrian, darum gebeten, auch die Position eines Reichsverwesers anzunehmen und herauszufinden, ob das Diadem in Tomingorllo ihn als Führer an ihrer statt für würdig befindet. Sie bekräftigt ihre Treue zu Tyrian, der nur die Treue zum Bündnis als Ganzes vorgeht.« Die cymrische Herrin stieß die Luft aus und nickte zustimmend.

»Ich kann Euch gar nicht sagen, wie traurig mich das macht, Herrin«, klagte Rial. »Ich erinnere mich so gern an den Tag, als Ihr das Diadem aufnahmt, das aus den Splittern des Reinen Diamanten zusammengesetzt ist, der von Anwyn durch den Pakt mit dem Dämon zerstört wurde, den sie eingegangen war, um ihrem Gemahl zu schaden. In Euren Händen wurde es wieder mit Leben erfüllt. Es war ein Symbol der Einheit, die Ihr den lirinischen Königreichen bringen würdet – und auch dem cymrischen Bündnis. Es ist ein tragischer Gedanke, dass Ihr es aufgeben müsst, um beides zu schützen.«

Rhapsody schüttelte den Kopf. »Ich gebe nichts auf, Rial. In meinem Herzen werde ich immer eine Tochter Tyrians bleiben, ob ich nun das Diadem oder nur ein Tuch auf dem Kopf trage. Ich wünschte nur, ich hätte diesem vereinigten Königreich eine Ära des Friedens bringen können, anstatt die Waffen ergreifen zu müssen, um es abermals zu verteidigen. Wenigstens kämpft diesmal Anborn an der Seite der Lirin und nicht gegen sie. Das allein ist schon den Verlust der Krone wert.«

»Das Kommende wird uns alle auf eine Art und Weise verändern, die wir jetzt noch nicht vorhersehen können«, meinte Ashe. »Es ist gewiss, dass nichts so bleiben wird, wie es jetzt ist. Wir können es nicht verhindern, aber wenigstens sind wir uns einig in unserer Entschlossenheit, gemeinsam dagegen anzukämpfen. In dieser Hinsicht könnte sich das zweite cymrische Zeitalter nicht stärker vom ersten unterscheiden.«

Anborn nickte. »Und wir werden siegen. Auch in dieser Hinsicht könnte es sich nicht stärker unterscheiden.«

»Obwohl ich sehr froh bin, dass Ihr bei uns seid, Marschall, so könnt doch auch Ihr nicht den tobenden Ozean aufhalten. Nichts kann sich dem Willen dieser Gewalten widersetzen«, sagte Rial ernst. »Man kann lediglich einen Damm errichten und ihn immer wieder ausbessern. Mit etwas Glück zieht der Sturm ab, bevor der Damm vollständig bricht.«

»Ich würde eher versuchen, das Meer trockenzulegen«, murmelte Anborn. »Aber da ich das nicht kann, bleiben uns nur die Sandsäcke.«

»Ja«, sagte der Patriarch, der sich gemeinsam mit den anderen erhob, als die Versammlung aufgelöst wurde. »Aber an dem Tag, an welchem Ihr einen Weg findet, das Meer trockenzulegen, werde ich an Eurer Seite stehen – mit einem Eimer in der Hand.«


Anborn ging unter ziemlichem Lärmen mithilfe seiner Maschine den Korridor entlang, der von der Großen Halle mit ihren vielen Säulengängen und Abzweigungen wegführte. Dabei griff er wie selbstverständlich hinter den Vorhang eines Alkovens, in dem die kleine Steinstatue Merithyns des Eroberers stand, und packte eine Hand voll goldener Haarlocken. An diesen zog er den Kopf hinter dem schweren Samtvorhang hervor. Ein hohes Keuchen hallte die Große Treppe hinauf bis in die oberen Stockwerke.

»O ja, du gibst eine prächtige kleine Spionin ab, nicht wahr, meine junge Dame?«, meinte er mit übertriebener Höflichkeit und lächelte angesichts des Entsetzens in den blitzenden schwarzen Augen. »Aber anscheinend sind deine Fähigkeiten noch nicht so überragend, wie du geglaubt hast. Du musst daran arbeiten.« Er ließ die Locken los und strich ihr sanft über den Kopf; dann schritt er weiter den Gang entlang. Das klappernde, metallische Geräusch seiner Gehmaschine hallte durch die gesamte ruhige Festung.

Das Mädchen war immer noch erschüttert und sah ihm nach, bis der Lärm allmählich verhallte. Dann eilte es im nächtlichen Dämmerschein zurück in die Speisekammer. Das Licht der großen Lampen machte ihren Schatten immer länger und ihr Haar immer dunkler, bis sie schließlich im Zwielicht verschwand.

10

Östliches Navarn, an der Grenze zu Bethania

Der Wind, der vom Meer her blies, frischte gegen Ende des Winters auf und wurde immer stärker, als der Frühling nahte. Die vorherrschenden Luftströmungen trugen das Wetter meilenweit ins Land hinein; der Dunst des sich erwärmenden Ozeans legte sich über die Küstenorte und Wälder wie ein Traum, aus dem das Land erwachen wollte, und machte sich auf den nebligen Weg nach Osten.

Rath fluchte, als ihm noch mehr eisiges Wasser um den Kopf peitschte und an seinem Hals herabrann. Die Fähigkeit, zwischen die einzelnen Windstöße zu treten und von den Strömungen über weite Strecken getragen zu werden, ersparte ihm langes Gehen und war ein großer Vorteil seiner Rasse und Art, doch sie war nicht umsonst zu haben. Der Weg, auf dem er so reiste, bestand aus einer Welle aus Klängen, die oft für das menschliche Ohr unhörbar waren. Sie trieben im Wind und verankerten sich je an zwei Enden in der körperlichen Welt. Rath befand sich schon lange genug in der Oberwelt, um Anfang und Ende solcher Wellen zu erkennen, und war daher häufig in der Lage, den Wind zu seinem Nutzen einzusetzen. Es war wie das Öffnen einer Tür, wodurch ein Luftzug bis zum anderen Ende blies. Dadurch sparte er Zeit auf seinen Reisen und gelangte unbemerkt über weite Strecken.

Doch manchmal war der Wind launisch und weigerte sich, wie ein bockiges Pferd oder ein Esel geritten zu werden. Wenn dies geschah, fand sich Rath weitab von seinem geplanten Kurs entfernt wieder. Manchmal stellte sich ein freundlicher Wind erst dann als böse heraus, wenn Rath sich bereits in dessen Armen befand und einer Strömung folgte, die zunächst klar und stark gewesen war, nur um dann weitab seines Zieles unsanft in einem Sumpf, einem Dunghaufen oder sogar mitten in einem Teich abgesetzt zu werden. Auch war es unvorhersehbar, welches Wetter der Wind mitbrachte, und so fand sich Rath bisweilen in Graupelschauern wieder, wurde von allen Seiten mit Hagelkörnern beworfen oder vom Regen durchtränkt, auch wenn er ursprünglich in einen angenehmen, trockenen Wind getreten war.

Um es kurz zu machen: Das Wandern im Wind war ein notwendiges Übel. Aber es war die einzige Möglichkeit, wie einer seiner Art die Welt rasch genug durchschreiten konnte, um dem einen verdämmernden Herzschlag oder dem Flüstern eines dämonischen Namens zu folgen.

Der Wind ließ am Ende der Klangwelle nach, und Rath taumelte aus der Strömung wieder in die fest gefügte Welt hinein.

Er zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und schaute sich um.

Der Ort, zu dem ihn der bockige Wind gebracht hatte, kam ihm entfernt bekannt vor, doch Rath wusste nicht, ob er vor langer Zeit schon einmal hier gewesen war oder ob jedes kleine, stinkende Bauerndorf in dieser hinterwäldlerischen Gegend einfach nur gleich aussah. Wie dem auch sei, er war an einem Ort aufgetaucht, der so verschlafen und gesichtslos wie nur möglich war.

Hinter ihm ragte ein dichter Hain aus Bäumen und Stechpalmen auf, den Rath schnell betrat. Zwar sah er keine Dorfbewohner, doch seine empfindliche Haut fing Schwingungen auf, welche die Nähe von Menschen anzeigten, die zwar vermutlich nichts von seiner Gegenwart ahnten, ihn aber sehen könnten, wenn er sich ihnen offen zeigte.

Sobald er außer Sichtweite war, sang er wieder seine Litanei.

Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.

Er schmeckte im Wind nach jedem einzelnen Namen und richtete seine ganze Aufmerksamkeit darauf, bis ihm die Kehle trocken wurde und seine Haut brannte, doch wie immer fand er nichts. Er lauschte auf die Kirais seiner Mitjäger, doch auch hier entdeckte er nur Schweigen oder nichts sagende Berichte. Die Suchlieder seiner Artgenossen hatten keine neuen Spuren oder Herzschläge gefunden – keine Anzeichen für die F’dor, nach denen die Jäger auf der Hatz waren.

So war es bisher fast immer gewesen.

Rath stieß langsam die Luft aus, als sich das Band zu den Gedanken seiner Mitjäger auflöste. Er wollte schon weitergehen, doch plötzlich war ein saurer Geschmack in seinem Mund, der Geschmack von etwas Bösem oder vielleicht auch nur von etwas Falschem, der nun dort war, wo sich noch einen Augenblick zuvor nichts als Luft befunden hatte. Gemeinheit, Bösartigkeit und Hass waren für ihn so deutlich spürbar, dass sie oft beißende Spuren im fließenden Wind hinterließen. Raths Herz schlug etwas schneller, doch seine inneren Sinne waren noch nicht entflammt. Während der Jahrtausende seines Lebens hatte er so etwas schon öfter verspürt; es waren immer falsche Fährten gewesen, die ihn von seinem Weg abgebracht hatten.

Schließlich waren die F’dor nicht die einzigen Wesen auf der Welt, die zu schrecklicher Bösartigkeit in der Lage waren.

Rath hatte keine Zeit für diese anderen Geschöpfe. Seine Mission war älter als der größte Teil der Welt und in sein Blut eingeschrieben, und so blendete er alles andere aus.

Er sog die Luft durch die Nase ein. Seine empfindsamen Nebenhöhlen spürten auch noch die geringsten Anzeichen auf, doch was immer sich im Wind befunden hatte, war verschwunden, falls es überhaupt je existiert hatte.

Rath richtete seine Aufmerksamkeit nicht länger auf die Ablenkung, sondern versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Erneut ließ er seinen Kirai los; diesmal rief er den Namen des lebenden Mannes, den er suchte.

Ysk.

Erneut kam ein leiser und ferner Ton zurück, der jedoch so deutlich war, dass Rath ihn zweifelsfrei erkannte. Er versuchte die Schwingung festzuhalten, doch auch sie entschlüpfte ihm.

Einen Moment später erkannte er den Grund dafür.

Sie kam aus einer anderen Richtung als der, in welcher er sie zuerst entdeckt hatte.

Das Signal, das er bei seiner Landung aufgenommen hatte, war aus Südosten gekommen. Er war den vorherrschenden Winden in diese Richtung gefolgt und hatte gehofft, bald auf eine stärkere Schwingung zu stoßen.

Rath hatte vermutet, dass der Name in jenem Land erklungen war, das die anderen Jäger, die vor nicht allzu langer Zeit diesen Kontinent bereist hatten, als Bolgland bezeichnet hatten – jenes Gebiet, in dem früher einmal Canrif, der Herrschersitz des cymrischen Reiches, gelegen hatte. Doch jetzt kam die etwas deutlichere und reinere Schwingung aus Nordosten von einem Ursprung, der nicht weit entfernt war.

Rath atmete tief ein und ließ dann alle Luft aus seiner Lunge entweichen. Sein Ziel hatte sich bewegt, und überdies war der tote Name erst kürzlich erklungen und hatte eine neue Schwingung erschaffen, der Rath nun folgen konnte.

Er schloss die Augen, hob eine Hand in den Wind, öffnete den Mund ein wenig und fischte nach der neuen Strömung einer starken nordöstlichen Brise, die ihn näher an sein Ziel heranbringen würde.

Ein Schock durchfuhr ihn, als er von hinten plötzlich einen heftigen Schlag erhielt, der ihm die Luft aus der Lunge trieb, während er mit Kinn und Zähnen voran auf den verschneiten Boden fiel.

Rath war in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit erwischt worden. Er keuchte auf und sog das Blut ein, das sich nun aus seinen empfindlichen Nebenhöhlen ergoss. Entsetzt hörte er raues Gelächter sowie Grunzen und Schlurfen, während er im Schnee auf den Rücken gedreht wurde. Beine und Bauch erhielten Schläge von etwas, das sich wie schwere Keulen anfühlte.

Nach einigen Sekunden wurde sein Kopf klarer, und er konnte wieder denken. Er spürte, dass er sich in der Gewalt von vier Banditen befand – oder eher von vier betrunkenen Taugenichtsen, dem Gestank nach zu urteilen. Zwei von ihnen hieben mit hölzernen Werkzeugen, Rechen oder Hacken, auf ihn ein, damit er auf dem Rücken liegen blieb, während ein Dritter die Tasche seines Umhangs durchsuchte und der Vierte in seinem Gepäck herumwühlte, wobei er Laute der Enttäuschung ausstieß. Rath lag reglos da, stellte sich bewusstlos und sammelte sich, bis der Mann, der mit seiner Kleidung befasst war, das Messer fand. Er zog es aus der Wadenscheide und hielt es unter dem derben Gelächter der anderen hoch.

»Seht euch das mal an, Jungs!«, krähte der Bandit. »Der hat ’n kleines Messerchen! Nein, wie süß! Damit kann man bestimmt ’nen Apfel erschrecken!«

»Du weißt doch, was man über Männer mit kleinen Messerchen sagt, Abner …«

»Ja, der arme Kerl. Verdammt, der hat nich’ mal Schuhe an. Ist auch noch ’n Glatzkopf, hat kein einziges Haar. Wirklich ’n armer Kerl.«

Das Gelächter wurde noch wilder. »Gute Arbeit, Peter. Da haste jemanden zum Ausrauben genommen, der noch weniger hat als wir. Was sollen wir mit dem?«

Einer der Banditen warf seine Hacke zu Boden und ergriff wütend das Messer.

»In einer Minute wird er noch weniger haben«, sagte er nur. Er schob den ersten Mann beiseite und griff nach Raths Robe unterhalb der Hüfte.

Mit windgeborener Schnelligkeit packte Rath den Räuber am Handgelenk und hielt ihn in dem schraubstockartigen Griff, der seiner Art zu eigen war. Mit grimmiger Befriedigung drückte er die Knochen gegeneinander und spürte, wie sie aus den Gelenken sprangen. Der Mann keuchte abgerissen und jaulte dann vor Schmerzen auf. Es war ein scheußlicher Laut, der an Raths Haut kratzte.

Er drehte dem Mann den Arm in einem unmöglichen Winkel um und schlitzte ihm mit seiner eigenen Hand, in der noch das Messer steckte, die Kehle bis zu den Knochen auf.

Die drei anderen Banditen erstarrten, als das Blut aus dem Hals ihres Kameraden spritzte und sie besprengte.

Rath stand vom Boden auf, trat den Leichnam beiseite, der im rosig gefärbten Schnee lag, ergriff sein Bündel und suchte rasch die Luft nach einem passenden Auftrieb ab. Er öffnete den Mund und stieß ein seltsames Summen aus; es war der Ruf, der jede zufällig vorbeiwehende Brise herbeibefahl.

Eine südöstliche Brise erfüllte seine Ohren und ertränkte die tierartigen Laute des Entsetzens, welche die verbliebenen Räuber ausstießen. Rath setzte seine Kapuze auf, bereitete sich auf die Abreise vor und senkte den Blick, um noch einmal seine Angreifer zu betrachten. Stumm verfluchte er sich, weil er von solch kläglichen Vertretern der Menschheit überrascht worden war. Vor seinen Augen verwandelte sich das Gesicht eines der Männer von der Maske des Entsetzens zu einem Ausdruck schwärzester Wut. Er kämpfte sich auf die Beine und sprang Rath wild an, während er sogleich von seinen wehklagenden Gefährten angefeuert wurde. »Pack ihn, Abner! Pack diesen verdammten Bast …« Raths Augen verengten sich in seinem kantigen Gesicht. Er änderte die Art der Schwingung, die er zum Herbeirufen des Windes benutzt hatte, zu einem misstönigen Brummen. Dabei verstärkte er die Modulation und erhöhte die Frequenz, und zusätzlich unterbrach er diesen Ton mit einem harschen Klacken seines Kehldeckels.

Die beiden Männer, die noch auf dem Boden hockten, kreischten vor Schmerz auf und packten sich an die klopfenden Schläfen, an denen die Adern zu platzen drohten. Rath griff nach unten und packte den Mann, der ihn angesprungen hatte, mit eisernem Griff am Nacken; dann trat er in die offene Tür des Windes.

Der Aufwind war sehr stark und hob ihn hoch hinaus. Rath erlaubte ihm, ihn selbst und seinen sich windenden Passagier in eine Höhe von zwanzig Fuß zu tragen. Dann ließ er den Mann los. Abner fiel mit dem Kopf voran auf seine Gefährten. Der Aufschlag hörte sich an, als werde eine Melone gewaltsam geöffnet. Der rosafarbene Schnee unter ihnen färbte sich dunkelrot.

Kein unangenehmer Anblick von hier oben, dachte Rath. Dann glitt er auf der Luftströmung wieder hinunter und über den Boden, wo der Wind kälter war. Er schloss die Augen und erlaubte dem Wind, ihn zuerst nordwärts zu tragen, dann nach Osten, wo er, sobald er wieder am Boden wäre, erneut nach dem Mann mit dem toten Namen suchen würde.

Nach Ysk.

Nach seiner nächsten Beute.

11

Haguefort, Navarne

Sobald sich das Konzil aufgelöst hatte, gingen der Herr und die Herrin der Cymrer gemeinsam zum Kammerherrn von Haguefort.

Gerald Owen war ein älterer Cymrer und hatte bereits mehreren Generationen der Familie von Navarne gedient. Er legte großen Wert auf Tüchtigkeit und Etikette und war stolz auf die übertriebene Genauigkeit, mit der er seine Untergebenen leitete. Er war gerade dabei, die junge Herrin Navarne für das Bett vorzubereiten, als sein Herr und seine Herrin in der Halle erschienen.

»Owen?«, rief Ashe, als sie sich ihm näherten.

Gerald Owen drehte sich überrascht um. »Ja, Herr?«

Ashe nahm den alten Kammerherrn beiseite. »Pack Melisandes Sachen und nimm auch für dich selbst genug für eine kleine Reise mit.« Er sah hinüber zu der jungen Herrin von Navarne, deren Gesicht bei seinen Worten blass geworden war. Rhapsody legte den Arm um die Schulter des Mädchens. »Du wirst sie zum Kreis im Gwynwald bringen, wo du sie in die Obhut Gavins, des Fürbitters der Filiden, geben wirst. Dann kehrst du nach Haguefort zurück, versammelst die Bediensteten und weist sie schriftlich an, sich zum Aufbruch bereit zu machen, bevor du wieder losziehst. Sie werden bei deiner Rückkehr bereits in der Festung in der Hohen Warte sein.«

»Ja, Herr«, sagte der alte Kammerherr sanft, doch seine Hände zitterten. »Wann soll die junge Herrin Navarne aufbrechen?«

Ashe warf Rhapsody einen raschen Blick zu. »Vor Sonnenaufgang«, entschied er, drehte sich um und verließ den Raum. Gerald Owen verneigte sich schnell vor Rhapsody und folgte ihm.

»Ihr … ihr schickt mich weg nach Gwynwald … allein?«, stammelte Melisande.

Rhapsody kniete sich und drehte das zitternde Mädchen so um, das es vor ihr stand.

»Psst«, flüsterte sie. »Ja. Hab keine Angst. Ich schicke dich auf eine Mission.«

Melisandes schwarze Augen, die eben noch vor Schreck geweitet gewesen waren, blinzelten, und in der nächsten Sekunde funkelten sie vor Neugier.

»Auf eine Mission? Eine richtige Mission?«

»Ja«, antwortete Rhapsody ernsthaft. »Warte einen Augenblick, dann werde ich dir alles darüber erzählen.«

Sie schloss die Augen und streckte beide Hände nach Melisande aus, die diese aufgeregt ergriff. Dann begann sie mit einem leisen Lied und sang in einer Sprache, die ihr Lehrer in der Kunst des Gesangs ihr vor mehr als tausend Jahren beigebracht hatte. Dies war eine Wissenschaft, die nur dem Volk ihrer Mutter, den Liringlas, bekannt war, die in der gewöhnlichen Sprache Sternensänger genannt wurden.

Die Luft im Raum wurde plötzlich trocken, als das Wasser aus ihr herausgezogen wurde, und um die beiden bildete sich ein dünner Nebelkreis, der wie Morgentau im Sonnenlicht erglänzte. Einen Moment später drangen Rhapsodys Worte in unregelmäßigen Intervallen durch den Dunst und schichteten sich übereinander, bis der Raum dahinter von einer leisen Kakophonie erfüllt war. Melisande hatte dieses Phänomen schon früher beobachtet. Rhapsody rief einen solchen Kreis aus verhüllendem Lärm immer dann ins Leben, wenn sie beide sich etwas zuflüsterten, miteinander kicherten oder sich Geheimnisse mitteilten, sodass kein Lauscher etwas davon verstehen konnte. Ganz tief in ihrem Innern wusste sie, dass diese Tage nun zu einem Ende gekommen waren.

Als Rhapsody überzeugt war, dass ihre Worte nicht mehr nach draußen dringen konnten, öffnete sie die Augen und schaute auf die kleine Herrin von Navarne hinunter.

»Du musst etwas für mich tun, das ich niemand anderem auf der ganzen Welt anvertrauen kann, Melly«, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. Die Worte ertönten in einer Klarheit, welche Melisande als die Benennergabe des Wahrsprechens erkannte. Sie reckte die Schultern und war bereit für das Wichtige, das nun kommen würde.

»In dieser Nacht werde ich einen Botenvogel zu Gavin schicken und ihn bitten, genau das zu tun, was du ihm bei deiner Ankunft befehlen wirst. Ich kann dir diese Botschaft nur mündlich mitteilen, denn wenn sie in falsche Hände geraten sollte, wäre das eine Katastrophe.« Melisande, die durch eine solche Katastrophe zur Waisen geworden war, nickte feierlich und begriff die ganze Schwere von Rhapsodys Worten.

»Sobald du im Kreis angekommen bist, bittest du Gavin darum, er möge dich und ein volles Kontingent seiner besten Waldläufer sowie seinen fähigsten Heiler zum Wald nordnordöstlich des Tar’afel schicken, dort wo die Stechpalmen am dichtesten stehen. Es ist heiliges Land, und ich kann dir keine Karte mitgeben, denn ‚auch sie könnte in falsche Hände geraten. Gavin kenn jedoch den Ort. Sag ihm, seine Waldläufer sollen dort ausschwärmen und einen Abstand von einer halben Neile zueinander halten. Sie müssen eine Barriere bilden die sich nach Nordwesten bis zum Meer erstreckt, und dabei sollen sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Fallen und Schlingen einsetzen, die zum Schutz der Barriere nötig sind. Dort müssen sie bleiben und keiner lebenden Seele den Zutritt erlauben. Sie sollen die Wälder nach einer vermissten Firbolg-Hebamme namens Frinsel durchkämmen, und falls sie auf sie stoßen, sollen sie ihr sowohl Ehrerbietung erzeigen als auch sie zurück zur bewachten Karawane geleiten, die sie nach Morc bringen wird. Hast du mich bis hierher verstanden?«

»Ja«, sagte Melisande. Sie wiederholte die Anweisungen in allen Einzelheiten, und die smaragdgrünen Augen der cymrischen Herrscherin glitzerten vor Anerkennung.

»Gavin wird dich persönlich von diesem Ort aus weiterführen. Ein Bach ergießt sich dort in den Tar’afel. Ihr werdet ihm nordwärts folgen, bis ihr zum Spiegelsee kommt. Ihr werdet ihn sofort erkennen, denn sein Name beschreibt ihn vollkommen. Bei diesem See wirst du Gavin verlassen und allein Weiterreisen. Er wird dort auf dich warten, aber nicht länger als drei Tage. Falls du dann noch nicht zurückgekommen sein solltest, muss er wieder zum Kreis gehen.« Sie machte eine Pause, und Melisande wiederholte die Anweisungen erneut fehlerlos mit ruhigem, ausdruckslosem Gesicht. »Du wirst auf die gegenüberliegende Seite des Sees gehen. Dort wirst du einen kleinen Hügel bemerken. In ihm befindet sich, versteckt vor allen Augen, eine Höhle. Ihr Eingang ist etwa zwanzig Fuß hoch, und auf der Höhlenwand vor der Öffnung wirst du eine Inschrift finden: Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land.«

Melisandes kleines Gesicht leuchtete vor Erregung.

»Elynsynos! Du schickst mich zu Elynsynos!«

»Psst«, warnte Rhapsody sie, auch wenn sie bei dieser Reaktion ein Lächeln nicht verbergen konnte. »Ja.«

»Ich erinnere mich aus dem Geschichtsunterricht an diese Worte«, sagte Melisande. »Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land. Wir kommen in Frieden aus der Umklammerung des Todes, um in diesem schönen Land zu leben. Das ist die Inschrift, die Merithyn der Entdecker in ihre Höhle gemeißelt hat, den Geburtsort des cymrischen Volkes. Und so sind wir zu diesem Namen gekommen.«

»Du musst ehrerbietig sein, wenn du dich ihrem Nest näherst«, fuhr Rhapsody nachdrücklich fort. »Geh leise, geh langsam und halte alle paar Schritte inne, um zu lauschen. Wenn du warme Luft aus der Höhle dringen spürst oder hörst, wie die Blätter der Bäume hörbar rascheln, dann bleib stehen und bitte um die Erlaubnis, eintreten zu dürfen.«

»Das werde ich tun«, versprach Melisande mit strahlendem Gesicht.

Rhapsody hockte sich hin und fuhr mit den Händen über die Arme des Mädchens.

»So sehr ich auch darum bete, dass es so sein wird, fürchte ich doch, du wirst nichts hören«, sagte sie, während die blassgoldene Haut ihres Gesichts rosig wurde. »Ich habe Angst, Melisande, dass du sie tot oder verletzt vorfinden wirst, oder vielleicht ist sie auch gar nicht da. Falls sie tot sein sollte, kehrst du zu Gavin zurück und berichtest ihm, was du gesehen hast. Falls sie verletzt ist, aber noch sprechen kann, fragst du sie, was du tun sollst. Sollte sie das nicht sagen können, gehst du ebenfalls zu Gavin zurück, begibst dich aber mit dem Heiler wieder in die Höhle und bleibst bei Elynsynos, während man sich um ihre Wunden kümmert.

Falls sie aber verschwunden sein sollte, beauftragst du Gavin, die Höhle zu versiegeln. Große Schätze liegen in ihr, von denen viele nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Wenn das Nest geplündert wird, bedeutet das noch größeren Schaden für den Kontinent als die mögliche Entdeckung von Elynsynos’ Tod. Und nimm dort nichts an dich, Melisande – nicht einmal einen Kieselstein. Das wäre eine Entweihung.«

»Ich verstehe.«

Rhapsody richtete sich wieder auf. Ihre Hände ruhten noch immer auf den Wangen des Mädchens. »Das weiß ich«, sagte sie, während ihre Augen vor Stolz leuchteten. »Du musst auch dies verstehen: Wenn durch deine Bemühungen Elynsynos gefunden und geheilt wird, dann erweist du damit dem gesamten Kontinent den größten Dienst, den er je von jemandem erfahren hat. Selbst wenn es zu spät sein sollte …« Sie schluckte; ihr Mund war plötzlich trocken geworden. »Selbst wenn es so sein sollte, ist deine Tat von größerer Wichtigkeit, als ich dir klarmachen kann.«

»Ich bin bereit«, sagte Melisande.

Rhapsody lächelte, beugte sich vor und küsste ihre adoptierte Enkeltochter.

»Wir würden dich nicht losschicken, wenn wir anderer Meinung wären«, meinte sie. Dann schwenkte sie die Hand in Richtung des Nebelkreises, und die plappernden Stimmen verstummten. Der glitzernde Kreis zerbrach und löste sich auf; die Wassertropfen stiegen langsam zum Boden herab wie die fallenden Funken eines Lagerfeuers.

»Wohin soll ich gehen, wenn meine Mission beendet ist?«, fragte die junge Herrin von Navarne besorgt, als Gerald Owen wieder den Raum betrat und höflich kurz hinter der Schwelle stehen blieb.

Rhapsody dachte nach, legte dann den Arm um das Mädchen und ging mit ihr zur Tür.

»Ich vermute, Ashe will dich dann in der Hohen Warte sehen«, sagte sie, während sie auf den Kammerherrn zugingen. »In den vier Jahren, die es gedauert hat, sie zu errichten, ist sie zur stärksten und bestkonstruierten Festung geworden, die ich je auf dem Kontinent gesehen habe. Sie übertrifft sogar die Bollwerke von Tyrian, die ihrerseits großartig sind. Es gibt keinen Ort auf dem ganzen Kontinent, an dem du sicherer aufgehoben wärest.«

Melisande küsste ihre Großmutter auf die Wange, dann trennten sich die beiden auf dem Gang.

»Es erscheint mir so, als bedeutet das nicht viel.«

Die cymrische Herrscherin seufzte.

»Da ich leider der Wahrheit verschworen bin, kann ich dir nicht widersprechen. Ich liebe dich, Melisande, und wünsche dir eine gute Reise.«

Der Kammerherr und das Mädchen sahen ihr nach, als sie in einem Rauschen von Brokat davonging. Ihr goldenes Haar fing das Laternenlicht ein, während sie an den Wandleuchtern des Korridors vorbeischritt. Es war, als nehme sie das Licht mit, denn im Korridor schien es dunkler geworden zu sein, als sie fort war.

12

Gwydion Navarne und Anborn waren damit beschäftigt, vor dem knisternden Kaminfeuer die Position der vereinigten Truppen und ihre Entfernung zu den bekannten Vorposten Sorbolds in eine Karte einzutragen, als plötzlich jemand an die Tür des Arbeitszimmers klopfte. Ohne auf Antwort zu warten, wurde sie geöffnet, und Rhapsody trat ein. Ihre Miene spiegelte Gelassenheit wider, aber ihre Haut wirkte blass und blutleer, entweder aus Schwäche oder aus Sorge.

Anborn sah verärgert auf.

»Was willst du?«

»Ich bin gekommen, um auf Wiedersehen zu sagen.«

Der Marschall nahm seine Brille ab und legte sie auf die Landkarte.

»Nein«, sagte er knapp. »Keine Zeit. Ich habe zu tun. Geh weg.«

»Aber ich werde schon in wenigen Augenblicken aufbrechen«, sagte Rhapsody verdutzt. So redeten sie oft miteinander; sie hatte sich schon seit langem an Anborns barsche Art gewöhnt und wusste, dass sie etwas tiefer Liegendes verbarg – vermutlich Angst um ihre Sicherheit und wohl auch um die des Kontinents. »Du kannst doch wenigstens eine kleine Pause machen und mir eine gute Reise wünschen.«

»Bist du taub? Nein. Das werde ich nicht.«

Rhapsody wandte sich an Gwydion Navarne, dem offensichtlich unbehaglich zumute war.

»Entschuldige uns für einen Moment, Gwydion«, sagte sie. »Ich glaube, Ashe braucht dich bei den Vorbereitungen. Wir reisen ab, sobald die Pferde gefüttert und gezäumt sind.«

Der junge Herzog nickte und verließ das Zimmer.

Rhapsody kam hinüber zu Anborns Stuhl und starrte auf den Marschall herunter. Sein Haar war noch immer schwarz wie die Nacht, wenn man von einigen silbernen Streifen absah, die in den vier Jahren ihrer Bekanntschaft etwas breiter geworden waren. Sein Oberkörper war ebenfalls noch muskulös und stark, aber Anborn hatte das Gebaren eines Mannes, der stärker gealtert war, als es die Jahre ahnen ließen. Er ist vor meinen Augen alt geworden, dachte Rhapsody. »In Ordnung«, sagte sie brüsk, »jetzt sind wir allein. Was soll dieser Unsinn?«

Anborn stieß müde die Luft aus. »Erinnerst du dich daran, dass ich dir je Lebewohl gesagt hätte, abgesehen von den wenigen kostbaren Gelegenheiten, zu denen ich dir sogar einen Abschiedskuss gegeben habe, als wir einander die Heirat versprochen hatten?«

Röte stieg in das Gesicht der cymrischen Herrin. Anborns Anspielung bezog sich auf eine Zeit, an die sie nur ungern dachte. Es waren verwirrende Tage gewesen, in denen sie ihn gebeten hatte, ihr in ihrer Eigenschaft als lirinische Königin ein nicht liebender Gemahl zu sein. Der Marschall hatte es gutmütig hingenommen und sie von ihrem Versprechen entbunden, als er ihre Liebe zu seinem Neffen entdeckt hatte, doch dies war das erste Mal, dass er sie im Scherz als seine Beinahe-Gemahlin bezeichnete.

»Nein«, sagte sie zögernd.

»Und ich habe es auch jetzt nicht vor. Wir beide haben Aufgaben zu erledigen, die uns von diesem Ort wegführen; du brichst lediglich als Erste auf. Ich habe nicht das Verlangen, diesen Aufbruch mit einem solchen Wort zu bezeichnen. Es sei denn, du willst, dass ich dich vorher küsse – so etwas nimmt dem Abschied normalerweise den Stachel.« Er zuckte zusammen, als ihre Augen feucht wurden, und schüttelte dann den Kopf. »Vergib mir. Ich bin grob und unhöflich zu dir, und das hast du nicht verdient. Nicht dir sollte ich das Lebewohl verweigern; ich hätte eher das gegenüber jemandem tun sollen, der vor sehr langer Zeit gelebt hat.« Er musste kichern, als er beobachtete, wie sie die Lippen zusammenkniff, um die Frage zu unterdrücken, die sie beinahe gestellt hätte. »Danke, dass du nicht fragst. Eines Tages werde ich dir die Geschichte erzählen, wenn wir zwanglos beisammensitzen und mit meinem Großneffen spielen.«

Rhapsody lächelte schwach und legte eine Hand an ihre Wange, die wieder blass geworden war. »Einverstanden«, sagte sie, »aber nur, wenn du es wirklich willst.«

Anborn seufzte. »Es gibt nicht mehr viel, was ich wirklich will, Rhapsody. Ich habe zu lange gelebt und zu viel gesehen, um mir noch irgendetwas zu wünschen. Diese verdammt lange Lebensspanne, die mir entweder durch meinen Vater und seine Versuche, die Zeit zu überlisten, oder durch das Drachenblut meiner Mutter verliehen wurde, hat mir eine bittere Weltsicht verschafft. So ist das nun einmal mit dieser dämlichen Langlebigkeit. Sie bringt Zynismus hervor, denn sie sorgt dafür, dass die beinahe Unsterblichen im Gegensatz zum Rest der nichts ahnenden Menschheit wissen, dass sie nie wirklichen Frieden haben werden. Du bist auf ähnliche Weise verflucht, hast es jedoch noch nicht bemerkt. Wenn man lange genug lebt, lernt man, dass es so etwas wie Frieden nicht gibt, sondern nur längere oder kürzere Abstände zwischen den Kriegen. Das Leben wird zu einer endlosen und oft anstrengenden Reihe von entsetzlichen Abschieden, es sei denn, man lernt, die Rückkehr aller Personen, um die man etwas gibt, nicht mehr zu erwarten. Ich habe diese Lektion auf die schlimmstmögliche Weise gelernt, Rhapsody. Ich wünsche dir eine sichere und glückliche Reise und drücke hiermit meine Hoffnung und Erwartung aus, dass du und dein Kind bei den Firbolg in Sicherheit sind und deine Bemühungen für den Ausgang des Krieges fruchtbar sein werden. Aber ich werde dir nicht auf Wiedersehen sagen.«

Die Herrin der Cymrer lächelte; ihr bleiches Gesicht nahm für kurze Zeit wieder etwas Farbe an. »Also gut.« Sie griff in ihre Ledertasche, holte eine große Muschel heraus und drehte sie in ihren kleinen Händen hin und her. Anborn sah ihr zu, wie sie geistesabwesend die gehörnte Spitze mit den schwieligen Kuppen ihrer langen, dünnen Finger liebkoste, die in den unzähligen Jahren, in denen sie auf ihren Saiteninstrumenten gespielt hatte, hart geworden waren, ähnlich den harten Stellen an seinen eigenen Fingern, die vom jahrhundertelangen Spannen der Bogen herrührten. Seltsam, dachte er, als sie seine Hand ergriff, die vernarbte Handfläche nach oben drehte und die Muschel hineinlegte, wonach sie die schon oft gebrochenen Finger sanft zusammendrückte. Ich vermute, wir beide machen jeder auf unsere eigene Weise Musik – sie, um die Herzen zu erfreuen, und ich, um sie mit Pfeilen zu durchbohren.

Rhapsody bemerkte den Ausdruck schwacher Belustigung auf seinem Gesicht und lächelte.

»Als ich vor langer Zeit auf der Insel zur Geschichtensängerin ausgebildet wurde, kannte ich einen Schankwirt namens Barney.« Sie kicherte. »Wusstest du schon, dass alle Schankwirte in Serendair Barney hießen? Jeder einzelne von ihnen?«

Anborn betrachtete die Muschel. »Nein. Warum?«

»Der Legende nach hat einmal ein Schankwirt namens Barney, während er seinen Rum ausschenkte, etwas mitbekommen, das er nicht mitbekommen sollte, und der gefährliche Mann, dessen Name in dem Gespräch erwähnt worden war, das nicht für Barneys Ohren bestimmt gewesen war, schickte einen gedungenen Mörder aus einer weit entfernten Stadt los, damit dieser den Schankwirt ausfindig machte und tötete. Also verließ jener Barney den Ort bei Nacht und Nebel und schlug sich nach Ostend durch, der größten Hafenstadt in Serendair. Dort fand er eine andere Stelle als Schankwirt in vermeintlicher Sicherheit. Es verging ein Jahr oder mehr, doch der Mörder war geduldig und fand schließlich heraus, dass Barney nun in Ostend lebte. Also begab er sich in diese Stadt, weil er seinen Auftrag ausführen wollte.

Die Nachricht vom Eintreffen des Mörders sprach sich schnell herum – Schankwirte hören alles als Erste –, und es wurde berichtet, dass er nach einem Mann suchte, den er nie zuvor gesehen hatte und der an einem Ort mit vielen Wirtschaften, Herbergen und Tavernen arbeitete. Bei seiner Ankunft ging der Mörder in die erste Wirtschaft, an der er vorbeikam. Dort arbeiteten zwei Männer am Tresen. Er fragte sie, wo er Barney finden könnte. Der Legende nach lautete die Antwort: ›Nach welchem sucht Ihr denn?‹ Nicht nur in jener Wirtschaft hießen beide Männer Barney, sondern auch in jeder anderen Taverne am Ort. Jeder Mann, der Bier oder Schnaps hinter einem Tresen verkaufte, trug ausnahmslos diesen Namen. Schankwirte kümmern sich um ihresgleichen; sie arbeiten in einem Beruf, in dem sie viel zu hören bekommen und nur wenig sagen dürfen. Als sie daher von der misslichen Lage hörten, in die einer ihrer Genossen geraten war, benannten sie sich geschlossen nach diesem Mann um, sodass sie fortan noch anonymer und sicherer vor den Nachstellungen und Racheakten ruchloser Menschen und gedungener Mörder waren. Falls der Attentäter nicht jeden einzelnen Mann töten wollte, der in jener Stadt Alkohol ausschenkte, würde er nie denjenigen finden, den sein Auftraggeber tot sehen wollte. Also gab er auf und kehrte nie zurück, denn auch ein Mörder hält sich an bestimmte Normen – und braucht ab und zu ein Bier.«

Anborn hatte während der Geschichte mehrmals gekichert, doch nun wurde sein Blick wieder ernst, als er Rhapsody ansah.

»War dieser Mörder Achmed?«, fragte er ruhig.

Rhapsodys Gesicht wurde schlaff. Sie ließ die Muschel und die Hand des Marschalls los und wandte sich zum Fenster des Raumes.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens, während sie Anborn den Rücken zugekehrt hielt. Ihr Umriss schien gegen die untergehende Sonne noch dünner und geisterhafter zu sein als nach ihrer schweren Prüfung. »Damals kannte ich ihn noch nicht. Ich bezweifle es aber. Soweit ich weiß, hat Achmed nur selten danebengeschossen oder seine Beute aus den Augen verloren.« Die letzten Worte drangen ihr etwas unbeholfen aus dem Mund. Sie schloss ihn abrupt, zerrte an dem Vorhang und ließ mehr verdämmerndes Licht ins Zimmer. Und er hätte keinerlei Bedenken gehabt, jeden einzelnen Barney in der Stadt zu töten, falls es nötig gewesen wäre. Achmed braucht sie nicht, er kann sich selbst ein Bier zapfen.

»Hast du je daran gedacht, dass deine Loyalität zu ihm unangebracht ist?«, fragte Anborn mit untypisch sanfter Stimme. »Versteh mich bitte nicht falsch, meine Liebe. Ich bin nicht in der Lage, einen Mann für Taten in seiner Vergangenheit zu verdammen. Es erscheint mir nur so, dass du vieles von dem, was du liebst, für jemanden aufs Spiel setzt, dessen gesamte Weltsicht allem, woran du angeblich glaubst, entgegengesetzt ist.«

Siebzig Herzschläge lang schwieg die Herrin der Cymrer.

»Ich habe immer geglaubt, du magst ihn«, sagte sie schließlich.

Anborn richtete sich auf und seufzte dann entmutigt.

»Das tue ich auch, aber das ändert nichts an meinen Sorgen um dich. Du wirst bemerkt haben, dass ich dich dasselbe im Hinblick auf meinen Neffen und auch auf mich selbst gefragt habe. Du bist eine Frau, die Dinge schätzt, um die sich niemand von uns schert. Indem du Gutes in uns siehst, das nicht wirklich existiert, bringst du dich in Gefahr. Und dein Kind.«

Rhapsody kehrte zu ihm zurück und setzte sich an seine Seite. »Ich wollte dir die Geschichte von Barney erzählen«, fuhr sie fort, als hätte sie nicht gehört, was er gesagt hatte. »Von meinem Barney – demjenigen, den ich in Ostend gekannt habe. Er war ein kleiner, alter Mann, und ihm gehörte ein Wirtshaus mit dem Namen Hut und Feder. Er hatte eine Frau namens Dee und ein großes Herz. Auch war er die erste Person, deren wahren Namen ich ausgesprochen habe – oder, genauer gesagt, habe ich ihn niedergeschrieben, nachdem ich die Notenschrift erlernt hatte. Ich habe ihm gesagt, er solle eines Tages einen Troubadour bitten, es für ihn zu spielen, falls einmal einer des Weges kommen sollte. Anscheinend ist einer gekommen. Er hat Barney das Lied seines eigenen Namens vorgespielt, auch wenn keiner von beiden wusste, was es war. Barney gefiel die Melodie, und so summte er sie täglich vor sich hin, während er Gläser spülte und Bier ausschenkte.« Ihre Augen wurden glänzender. »Das tut er immer noch, soweit ich weiß.« Sie senkte den Blick, als Anborn sie plötzlich scharf ansah.

»Sag endlich, was du mir sagen willst«, befahl der Marschall.

»Ich meine damit, dass vor all diesen Jahrhunderten im Dritten Zeitalter ein Mann gelernt hat, sich selbst seinen wahren Namen vorzusingen, Tag und Nacht, jeden Tag seines Lebens. Seine geliebte Frau wurde alt und starb; der Krieg kam auf die Insel und verließ sie wieder und nahm eine ganze Generation mit sich. Jahrhunderte des Wiederaufbaus vergingen, bis Gwylliams Vision des Untergangs enthüllt wurde, und als die Cymrer an diesen Ort hier auswanderten, ging Barney mit ihnen. Er hat das alles miterlebt, Anborn: den Aufbruch, die Reise, die Errichtung und Vernichtung des cymrischen Reiches, den Krieg, die Jahre des stillen Elends – und noch heute betreibt er eine Schankwirtschaft in einem kleinen Fischerort an der Westküste und sieht noch genauso aus wie der Mann, den ich vor zweitausend Jahren auf die Wange geküsst und dann verlassen habe. Das Lied seines Namens scheint ihn am Leben zu erhalten. Jedes Mal, wenn er die Melodie summt, erschafft sie ihn in gewisser Weise neu, und er wird wieder zu dem Mann, der er an jenem Tag war, als er sie gelernt hat.«

Sie berührte die Muschel in seiner Hand.

»Grunthor hat sie mir vor ein paar Jahren gegeben, als er zum ersten Mal hierher kam. Es war sehr aufmerksam von ihm; denn er glaubte, die Muschel könnte mir bei meinen Albträumen helfen, die ich seit meiner Kindheit habe. Er dachte, vielleicht würde mich der Klang des Meeres beruhigen. Und er hatte recht, auch wenn ich der Meinung bin, dass eher seine Freundlichkeit als das Rauschen der Wellen dafür verantwortlich war.« Ihr Lächeln wurde heller, obwohl der Blick ihrer Augen ernster wurde. »Seit jener Zeit habe ich sie bei mir getragen – als Erinnerung an das, was mir geholfen hat, alle Missgeschicke zu überleben. Das war weder meine Klugheit – falls ich überhaupt welche besitze – noch meine Stärke, so gering sie auch sein mag, sondern die Liebe all jener, die mir wichtig sind. Jetzt gebe ich sie dir. Ich habe das Lied deines wahren Namens hineingesungen, Anborn ap Gwylliam, Sohn von Anwyn.« Sie drückte seine Hand.

Der Marschall seufzte. »Ich brauche deinen Trost nicht«, sagte er so freundlich wie möglich. »Ich brauche nur Konzentration. Uns steht ein Krieg bevor. Das Letzte, was ich will, ist, von närrischem Trost abgelenkt zu werden.«

»Ich weiß«, sagte Rhapsody. »Ich gebe dir diese Muschel nicht zum Trost, sondern zur Heilung.« Ihre Stimme wurde leiser; es war, als bereiteten die Worte ihr Schmerzen. »Es ist meine Schuld, dass du gelähmt wurdest, denn du hast mich aufgefangen, als Anwyn mich in der Schlacht nach dem cymrischen Konzil aus großer Höhe fallen gelassen hat.« Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, als sie sah, dass er etwas entgegnen wollte. »Wegen mir hast du die Freiheit verloren, die du früher hattest – diese Freiheit, die du deinen eigenen Worten zufolge über alles geschätzt hast. Ich habe oft versucht, deine Verletzungen zu heilen und dich wieder gesund zu machen, aber meine Kenntnisse und Fähigkeiten sind dazu nicht stark genug.«

Der Marschall drückte ihre Hand. »Deine Fähigkeiten haben ausgereicht, mich vor dem Tod zu bewahren und mir meine Gesundheit zurückzugeben – wenn auch nicht meine gesamte Lebenskraft …«

»Das reicht nicht«, unterbrach Rhapsody ihn. »Wenn du die Streitkräfte des Mittleren Kontinents wieder in den Krieg führen willst, der vermutlich von bösartiger Gier und Eroberungslust bestimmt wird, oder vielleicht auch von dunkleren, dämonischen Gründen, dann musst du so gesund und wendig wie möglich sein. Seit Meridions Geburt und meiner Zeit in Elynsynos’ Nest habe ich gelernt, dass ich die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Ich konnte dich heilen und vor dem Tod bewahren, Anborn, aber ich kann dich nicht wieder zu dem Mann machen, der du früher einmal warst, weil du das nur selbst tun kannst. Nur du weißt, wie du einst warst, wie du jetzt bist und was du gesehen und getan hast. Nur du kannst dich an alles erinnern, was während deines sehr langen Lebens geschehen ist. Ob gut oder schlecht, diese Erinnerungen sind es, die dich ausmachen, und ich glaube, nur du vermagst sie so zu erfassen, dass sie dich wieder zu dem machen können, was du einmal warst.«

Die großen Hände, die ihre kleinen umfassten, zitterten leicht. Anborn schaute auf sie nieder.

»Ich weiß nicht, ob ich wieder zu diesem Mann werden will«, sagte er tonlos. »Ich habe in meinem Leben viele schreckliche Dinge getan, Rhapsody. Um manche davon weißt du, aber viele sind dir nicht bekannt. Vielleicht werde ich sie oder noch Schlimmeres im Verlauf des kommenden Krieges erneut tun. Wenn diese Lähmung der Preis für die Reinigung meiner Seele war, dann ist es richtig so.«

Rhapsody atmete tief ein. »Nein, so ist es nicht«, sagte sie, wobei in ihrer Stimme die Wahrheit der Benennerin mitschwang. »Du kannst dich von nichts reinigen, was dir zugestoßen ist, als wäre es nur eine Unreinheit im Stahl, die im Feuer der Schmiede weggeschmolzen wird. Alles Vergangene hat dich zu dem gemacht, was du bist – wie Noten einer Sinfonie. Gesund oder gelähmt, du bist, was du bist. Ryle hira, wie die Lirin sagen. Das Leben ist so, wie es ist. Vergib dir selbst.« Sie ließ seine Hände los und drückte die Muschel gegen seinen Brustkorb. »Versuch wenigstens so gesund wie möglich zu sein – wenn schon nicht für dich selbst, dann für die Männer, die du anführst. Und für mich.«

Das starre Gesicht des Marschalls entspannte sich ein wenig.

»Du bist erfüllt von Selbstbewunderung und scheinst von meiner Wertschätzung für dich nur allzu überzeugt zu sein«, meinte er scherzend. »Also gut. Was muss ich tun?«

»Halte dir die Muschel ans Ohr, vielleicht bevor du schlafen gehst, oder wenn du aufwachst. Lausche der Musik in ihr. Es kann eine Weile dauern, bis du den Gesang der rauschenden Wellen hörst. Summe ihn mit, oder singe, falls du die Worte verstehen kannst, obwohl das für einen nicht ausgebildeten Sänger sehr schwierig ist. Versuche es bitte. Versuche dich daran zu erinnern, wer du warst, und vermische das mit dem, der du jetzt bist. Ich weiß nicht, ob es einen Unterschied machen wird, aber wir werden bald voneinander getrennt sein – für eine sehr lange Zeit, wenn nicht sogar für immer. Ich bitte dich, Anborn, tu es für mich. Und wenn schon nicht für mich, dann tu es wenigstens, um dem Kampf um das Überleben des Mittleren Kontinents und vielleicht der ganzen Welt einen weiteren gesunden Körper hinzuzufügen.«

Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment erinnerten sie sich an ein anderes Gespräch, das sie vor vielen Jahren bei dem Treffen geführt hatten, auf dem sie ihn gefragt hatte, ob er ihr Gemahl werden wolle.

Wir sollten uns nicht so geziert unterhalten, General. Wir beide wissen, dass ein Krieg bevorsteht; er kommt jeden Augenblick näher. Und während du den Krieg aus eigener Anschauung kennst, habe ich unseren Gegner gesehen – oder wenigstens einen von ihnen. Wir brauchen alles, was wir haben – alles –, bloß um sein Erwachen zu überleben, vom Besiegen erst gar nicht zu reden. Ich will weder das Blut noch die Zeit der Lirin verschwenden, um etwa so Dummes wie eine Kriegserklärung wegen meiner Verlobung abzuwenden. Eine Vernunftheirat ist ein geringer Preis für die Sicherheit und den Frieden Tyrians. Wir brauchen jede lebende Seele, wenn die Zeit gekommen ist.

»Ich werde es tun«, versprach der Marschall schließlich. »Auch wenn ich die Ohren der Männer, die in meiner Nähe lagern, mit dem Gesang meiner schrecklichen Stimme zerfetzen werde, so werde ich doch für dich den Versuch unternehmen, Rhapsody. Dabei werde ich mir vorstellen, wie du meinem Großneffen etwas vorsingst, und vielleicht wird mir dies das Gefühl der Lächerlichkeit nehmen. Aber im Gegenzug musst du mir versprechen, dich nicht mehr für meine Lähmung verantwortlich zu fühlen. Dass ich dich rette, war bereits in einer Prophezeiung vorhergesagt, Jahrhunderte bevor ich dich zum ersten Mal gesehen habe, und wenn ich etwas von meiner verfluchten Mutter gelernt habe – mögen die Maden ihre Augen fressen –, dann ist es die Tatsache, dass man nicht gegen sein Schicksal ankämpfen kann.« Seine blauen Augen blinzelten in der dichter werdenden Dunkelheit. »Wenn ich aber das Schicksal kommen sehe, werde ich ihm trotzdem einen guten Kampf liefern.«

Ein Klopfen ertönte. Die Tür wurde geöffnet, und Ashes Schatten erschien im Rahmen.

»Die Vorbereitungen laufen und werden bald abgeschlossen sein, Aria«, sagte er. »Der Quartiermeister wird die Pferde in einer Viertelstunde zur Abreise bereitgemacht haben.« Er sah Anborn an und streckte dann seiner Frau die Hand entgegen.

Rhapsody stand auf, ging zu ihm und ergriff seine Hand. »Wer hat das Kind?«

»Grunthor.«

»Glaubst du, das ist klug? Hast du ihm vorher etwas zu essen gegeben?«

»Dem Kind?«

»Das habe ich damit nicht gemeint.« Rhapsody drehte sich ein letztes Mal um und lächelte den Marschall an. »Ich wünsche dir Glück in all deinen Unternehmungen«, sagte sie. »Und erinnere dich an dein Versprechen.«

Ungeduldig winkte Anborn ihr zu.

»Geh«, sagte er barsch.

Rhapsody sah ihn noch eine Weile an, dann ließ sie Ashes Hand los und stellte sich vor den Marschall. Sie verneigte sich leicht und drückte ihre Lippen auf die seinen, wobei sie ihm die Hände auf die Schultern legte. Sie ließ sich Zeit und atmete seinen Atem ein. Dann kehrte sie zu ihrem erstaunten Gemahl zurück und verließ das Zimmer, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Anborn wartete, bis sich die schwere Tür fest hinter ihnen geschlossen hatte und ihre Schritte im Korridor verhallt waren. Als er schließlich keinen Laut mehr hörte, nahm er seine Brille auf und kehrte an seine Arbeit zurück.

»Auf Wiedersehen«, sagte er leise zu der Karte auf dem Tisch vor ihm.

13

»Ich will nicht einmal fragen, was da eben geschehen ist«, murmelte Ashe, während sie den Korridor mit derselben beherrschten Eile entlanggingen, die sie seit dem Treffen zeigten. »Das war kein Anblick, den ich angesichts unserer bevorstehenden kriegsbedingten Trennung unbedingt in Erinnerung behalten will. Bitte sorge dafür, dass ich es nicht mitbekomme, wenn du dasselbe mit Achmed machst. Dann könnte ich wochenlang keinen Bissen mehr herunterwürgen.«

Rhapsody war so sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, dass sie ihn nicht gehört hatte.

»Weißt du, wer Anborn einen Abschiedskuss verweigert hat und danach nie wieder zurückgekehrt ist?«, fragte sie, als sie schließlich die Tür zu ihren Gemächern erreicht hatten.

Ashe sah sie verständnislos an, ergriff die Klinke und öffnete die Tür.

»Ich habe keine Ahnung«, meinte er und bedeutete ihr, vor ihm einzutreten. »Anborn lebt schon sehr lange, und es waren mitunter schreckliche Zeiten für ihn. Ich vermute, er hat viele Menschen verloren, die ihm am Herzen lagen, auch wenn mir kein besonderer einfällt außer vielleicht Dorndreher, aber ich glaube nicht, dass sich die beiden oft geküsst haben.«

Rhapsody ging zu dem Kerzenleuchter auf dem Tisch neben dem Bett, berührte die Dochte und entzündete sie auf diese Weise.

»Seine Frau vielleicht?«

Ihr Gemahl schloss die Tür. »Das möchte ich bezweifeln. Estelle war eine ziemlich schreckliche Frau, und als sie vor etwa einem Jahrzehnt starb, hat mein Vater mir gesagt, Anborn sei eher erleichtert als alles andere gewesen. Ich hielt mich damals versteckt und weiß daher nicht genau, was zu jener Zeit in Anborns Leben vor sich gegangen ist. Er hat eine allgemein bekannte Schwäche für Tavernenmädchen und Kellnerinnen; ich halte es daher nicht für unmöglich, dass er eine oder mehrere von ihnen verloren hat, für die er sehr viel empfunden hat.«

Rhapsody schüttelte den Kopf und schmiegte sich in Ashes Arme.

»Ich glaube nicht, dass das die Antwort ist, obwohl du vermutlich recht mit deiner Meinung hast, Estelle sei nicht diese Person gewesen.« Sie dachte zurück an eine vereiste Lichtung am Waldrand von Tyrian in der Nacht, als Constantin ihr anlässlich des Konzils seine Aufwartung gemacht hatte. Damals war der Marschall auf ihren Ruf der Blutsverwandten im Wind hin erschienen und hatte sie und den damaligen Gladiator verirrt und beinahe erfroren vorgefunden. Anborn hatte sie beide gerettet, hatte die frierende und fast nackte Rhapsody zu einer verborgenen Hütte gebracht, die ihm als Unterschlupf diente, und hatte ihr ein weiches, farngrünes Hemd gegeben, das lange Ärmel und Stickereien am Handgelenk gehabt hatte.

Es hat nicht den Anschein, dass es dir besonders gut passt. Wem gehört es?

Es hat meiner Frau gehört. Sie würde nichts dagegen haben, dass du es trägst. Sie ist schon seit elf Jahren tot. Übrigens steht es dir viel besser.

Es tut mir sehr leid.

Nicht nötig. Wir haben uns nicht sehr gern gehabt. Wir haben nicht zusammengelebt, und ich habe sie nur selten gesehen.

Aber du musst sie früher einmal geliebt haben.

Nein. Für eine so kluge Frau kannst du bezaubernd naiv sein, Rhapsody.

Warum habt ihr dann geheiratet?

Sie war eine hübsche Frau aus einer alten Familie, und sie hatte hohe Grundsätze. Falls sie mich je betrogen hat, habe ich es nie erfahren, und ich glaube, es wäre mir nicht unbekannt geblieben. Ich habe ihr ebenfalls bis zu ihrem Tod die Treue gehalten.

Dieser ehrliche Zynismus hatte ihr wehgetan.

Das ist alles? Warum?, hatte sie ihn gefragt.

Eine verständliche Frage. Ich fürchte, ich habe keine Antwort darauf.

Hattet ihr Kinder?

Nein. Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Rhapsody. Du kennst sicherlich meine Familie und weißt, dass wir nicht gerade eine sehr romantische Geschichte haben. Von Anfang an hatten Sex und Paarbildung in unserer Familie etwas mit Macht und Kontrolle zu tun, und so ist es bis heute geblieben. Ich kann nicht vorhersehen, wann sich das ändern wird. Du musst wissen, dass Drachenblut dominant ist.

Die Grausamkeit dieser Bemerkung hatte sie bis heute nicht vergessen.

Ashe zog sie näher an sich heran. »Vergib mir, wenn ich in diesen letzten Augenblicken vor unserer Trennung sage, dass es mir völlig egal ist, wen Anborn je geküsst hat – auch wenn es ziemlich unangenehm war, mit ansehen zu müssen, dass du dazugehörst.«

Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben, und lächelte ihren Mann an.

»Uns bleiben nur noch ein paar flüchtige Augenblicke – entweder wird der Quartiermeister bald verkünden, dass Tiere und Gepäck bereit sind, oder das Kind wacht schreiend in Grunthors Armen auf, und wir müssen sie beide retten. Vielleicht sollten wir Anborn erst einmal vergessen und uns nur um uns selbst kümmern, solange ich noch hier bin.«

»Einverstanden«, sagte der cymrische Herrscher. Ohne ein weiteres Wort hob er seine Frau hoch und legte sie vorsichtig auf das Hochzeitsbett, dann streckte er sich neben ihr aus. Er nahm ihr kleines Gesicht zwischen seine Hände und schaute hinunter auf sie, als wolle er sich jeden ihrer Züge einprägen, so wie er es jede Nacht während der letzten vier Jahre ihres Zusammenseins getan hatte. Die senkrechten Pupillen in seinen Augen zogen sich unter dem Kerzenschein zusammen, und die himmelblaue Iris glänzte viel stärker, als es bei einem gewöhnlichen Menschen je der Fall sein konnte.

Es war der Drache in seinem Blut, der sie nun betrachtete, wie Rhapsody wusste. Diese Natur war ihr sowohl fremd als auch vertraut; sie wollte jedes Wesen und jeden Gegenstand besitzen, den sie als Schatz erachtete. Rhapsody spürte, wie ihre Haut unter den Schwingungen seiner inneren Sinne prickelte, welche sogar die Länge ihrer Wimpern, die Anzahl ihrer Atemzüge und den Rhythmus ihres Herzens in sich aufnahmen. Sie fühlte seine Besorgnis steigen und wusste, dass ihm klar war, wie sehr die Geburt sie geschwächt und wie viel Blut sie verloren hatte. Ihre Gesundheit war brüchig geworden. Die Drachin Elynsynos, zu deren Nest Rhapsody von Ashe in jenem lange vergangenen wundervollen Frühling geführt worden war, hatte ihr Einsichten in diese Eigenschaften des Mannes verschafft, dessen Seele sie teilte.

Drachen sind nicht habgierig – wir verlangen nicht viel, meine Schöne, und wollen nur das haben, von dem wir glauben, dass es rechtmäßig uns gehört. Wir alle sind Teil eines Schildes, der die gesamte Welt schützt, und doch wünschen wir nichts auf dieser Welt unser Eigen zu nennen. Das, was Teil unseres Hortes, unseres Schatzes ist, ist nicht unser Gefangener. Wir hüten es eifersüchtig, doch nur weil wir es mit allem lieben, was in uns ist. Was die Menschen als besitzergreifend ansehen, ist für die Drachen die reinste Form der Liebe. Das ist so, egal ob es sich bei dem Schatz um eine einzelne Münze, ein lebendes Wesen oder eine ganze Nation handelt.

Aufgrund ihres eigenen unabhängigen Temperaments hatte Rhapsody dieses Element seiner Natur begriffen und wusste, dass er jeden Tag dagegen ankämpfte, damit die Drachenseite seines Selbst sie weder ängstigte noch unterjochte. Als sie nun wieder in seine Augen blickte, sah sie bis in seine Seele, und in ihrer eigenen verspürte sie ein überwältigendes Gefühl drohenden Verlustes. Sie hatte gelernt, ihn auf dieselbe Weise als ihren Schatz zu betrachten.

Ashe sah die Tränen in ihren Augen glitzern, bemerkte den Kloß in ihrem Hals und glitt mit den Fingern tiefer in ihre Haare. Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und drückte seinen Mund auf ihren. Die Zeit blieb stehen, als sie einen Atemzug teilten. Dieser musikalische Rhythmus des Ein- und Ausatmens war das Lied ihres gemeinsamen Lebens.

Als sich ihre Lippen trennten, sah er, dass ihr blasses Gesicht voller Tränen war, die sie so lange krampfhaft zurückgehalten hatte. Seine Drachensinne hatten ihr Weinen bereits bemerkt, doch der Anblick ihrer Tränen presste sein Herz jedes Mal stärker zusammen, als er ertragen konnte. Etwas in ihm empfand sie sogar noch schöner, wenn sie weinte, als wenn sie lächelte, und dieser Gedanke beunruhigte ihn sehr. Er zog sie näher an sich heran, während sie das Gesicht in seiner Schulter vergrub, und Ashe war froh, dass er sie nicht mehr ansehen musste.

»Eine Viertelstunde, nicht mehr«, murmelte sie. »Warum haben wir immer so wenig Zeit füreinander? Wir sind andauernd nur ein paar Herzschläge lang zusammen, bevor wir wieder getrennt werden. Wie soll ich es aushalten, unser Kind abermals zu verlieren? Ich habe Angst, Sam. Ich habe wirklich Angst, dass es diesmal mehr sein wird, als du ertragen kannst, ob du nun Mensch oder Drache bist. Ich weiß, dass ich es nicht aushalten würde, wenn du es wärest, der abreist und das Kind mitnimmt.«

Der cymrische Herrscher stieß langsam die Luft aus. Er hatte soeben voller Furcht über dasselbe nachgedacht.

»Ich werde mich an den wenigen Trost halten, der mir bleibt: an das Wissen, dass du und Meridion in Sicherheit seid, was auch immer kommen mag. Wenn der Drache in mir ungeduldig und wütend wird, werde ich mir in Erinnerung rufen, dass ich dich und das Glück, das du mir von Anfang an geschenkt hast, nie verdient hatte.« Er legte die Hand über ihren Mund, um ihre Einwände zu unterdrücken. »Du magst mich lieben, Rhapsody, aber du weißt nicht, wie sehr ich dich liebe. Die Unzulänglichkeit meiner Zunge hält mich davon ab, es in Worte zu kleiden. Jedes Mal, wenn ich dir unrecht getan habe, wenn ich einen Fehler begangen habe, wenn ich es zugelassen habe, dass du leiden musst, hat es ein tieferes Loch des Bedauerns in mich gebohrt, das sich wie alles in mir mit dem beständig größer werdenden Verlangen füllt, in deiner Nähe zu sein. Manchmal glaube ich, dass mein Atem zu Eis erstarren wird, wenn ich dich einmal verletzen sollte, auch wenn es unbeabsichtigt geschähe. Es würde die Gefahr einer solchen Verletzung bedeuten, wenn ich dich jemand anderem als Achmed und Grunthor anvertrauen würde – und das könnte ich weniger als alles andere ertragen. Ich bitte dich um des All-Gottes willen, bring weder dich noch unser Kind in Gefahr. Das Wissen darum, dass ihr in Sicherheit seid, wenn die Welt auseinander bricht, ist das Einzige, das mich davon abhält, meinem Vater in den Äther zu folgen – oder vielleicht an ein Ende zu kommen, das dem seinen nicht unähnlich ist.«

Rhapsody versteifte sich. »Gute Götter, so etwas darfst du niemals laut aussprechen«, keuchte sie, doch in seinen Augen erkannte sie die Wahrhaftigkeit seiner Worte und wusste, dass er nicht übertrieb.

Ashe lächelte und fuhr mit seiner schwieligen Hand durch ihr glänzendes Haar.

»Oh, da ist noch etwas anderes. Ich habe bisher nicht das Versprechen eingelöst, das ich dir vor langer Zeit gegeben habe: dass ich dich an dem Tag, an dem all das hier vorbei ist und andere Personen die Last der Führerschaft übernommen haben – und keinen Tag später – in den Wald und auf die Lichtung deiner Wahl bringen und dir dort die Schäferhütte errichten werde, nach der du dich schon so lange sehnst. Dort werden wir ein einfaches Leben führen, unsere Kinder aufziehen und vergessen, dass es jenseits unserer Hecke noch eine Welt gibt.«

Rhapsody entspannte sich unter der Wärme seines Lächelns, auch wenn ihr klar war, dass die unausgesprochene Möglichkeit eines tödlichen Endes für einen von ihnen oder gar für beide bestand.

»Abgemacht«, sagte sie.

Ein höfliches Klopfen kam von der Zimmertür.

»Fertig, Herr«, ertönte die gedämpfte Stimme des Quartiermeisters.

Ashe und Rhapsody erhoben sich rasch vom Bett und eilten gleichzeitig in ihre eigenen Ankleidezimmer, aus denen sie bereits einen Augenblick später wieder hervorkamen und etwas in den Händen hielten.

Ashe streckte seine Hände zuerst aus, in denen er einen zerknitterten Umhang hielt, der außen grau war und ein blaues Innenfutter hatte. Ein Schatten aus Dunst leckte zwischen den Falten hervor – wie Nebel, der am Morgen über einem See liegt.

Rhapsody lächelte. Das war der Nebelumhang, der Ashe während all der Jahre, in denen er sich hatte verstecken müssen, vor Entdeckung bewahrt hatte. Er war unsichtbar durch die Welt gestreift, und selbst in seiner nächsten Umgebung hatte ihn damals niemand bemerkt. In dieser Gewandung hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen, zumindest auf dieser Seite der Zeit, und zwar während eines verpfuschten Taschendiebstahls, der einen großen Tumult auf der Straße verursacht hatte. Die Erinnerung an das folgende Handgemenge war sowohl komisch als auch bitter. Der Dunst war auf Ashes Kommando in den Mantel gefahren, denn als Träger des Schwertes Kirsdarke beherrschte er das Element des Wassers. Er hatte den Umhang so lange getragen, dass der Dunst an ihm haften geblieben war und das Gewebe durchtränkt hatte. So war sein Träger allen neugierigen Blicken entzogen gewesen.

»Nimm das hier mit, Aria«, sagte er lebhaft. »Es ist groß genug, um dich und das Kind zu verbergen. Falls die Prophezeiung stimmt und es Augen gibt, die Meridion beobachten, dann sollte sie dieser Umhang blind machen, zumindest so lange, wie er sich unter dem Mantel befindet. Versuche, ihn wenigstens bis Canrif und vielleicht noch darüber hinaus zwischen den Falten zu verstecken.«

Rhapsody nickte und nahm den Mantel entgegen. »Das werde ich tun. Vielen Dank, Sam.« Auch sie streckte nun eine zur Faust geballte Hand aus und hielt sie über Ashes Hände. Sie öffnete ihre Hand und ließ in seine Handfläche eine Perle fallen, die schillerte und glänzte wie der gleißende Mond. Darin enthalten war die Erinnerung an ihre erste Hochzeit, eine selbst erdachte und ohne Zeugen abgehaltene Zeremonie in der Grotte von Elysian, ihrem versteckten unterirdischen Heim im Bolgland. Es war eine Erinnerung, die nur sie beide miteinander teilten, und sie bezog sich auf einen Ort, an dem sie sich immer sicher gefühlt hatten. »Und du behältst diese Perle. Sie soll dich an glückliche Zeiten erinnern und an die noch besseren Zeiten, die anbrechen werden, wenn das hier vorbei ist.«

Er umschloss die Perle mit seinen Fingern und nickte.

»Du weißt, dass die Träume zurückkehren werden«, sagte er.

»Ja.«

Ashe betrachtete sie traurig. In jener Nacht in ihrer Jungend, als sie sich auf der anderen Seite der Zeit zum ersten Mal begegnet waren, hatte sie ihm von ihren beunruhigenden Träumen erzählt. Als sie sich auf dieser Seite der Zeit wieder getroffen hatten, waren jene prophetischen, hellsichtigen Träume zu nächtlichen Schrecken geworden, unter denen sie sich im Schlaf wild hin und her geworfen hatte, doch manchmal hatten sie den Schlüssel zu zukünftigen oder vergangenen Ereignissen gebildet. Ashes Drachennatur besaß die Möglichkeit, diese Albträume fortzuscheuchen, die sie früher im Schlaf so gequält hatten. Mit den Jahren hatte sie schließlich Frieden in seinen Armen gefunden. »Wer wird dir jetzt die Albträume vertreiben, Aria?«, fragte er leise.

»Sie sind das kleinste Problem, vor allem da sie manchmal die Zukunft voraussagen«, meinte sie. »Ich glaube, die Antwort lautet, dass du es weiterhin sein wirst, Sam. In gewisser Weise könnte das Opfer, das du bringst – das wir alle bringen –, die einzige Möglichkeit sein, uns vor noch schlimmeren Albträumen zu bewahren, die beim Erwachen nicht mehr schwinden werden.«

Sanft legte sie ihm die Hand auf die Wange. »Ich werde im Traum zu dir kommen, wenn ich kann«, sagte sie leise.

»Du bist immer bei mir, Aria.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich meinte damit, dass ich versuchen werde, auf eine Weise zu dir zu kommen, die mehr als ein Traum, aber weniger als körperliche Gegenwart ist. Als ich einige Monate lang allein mit Elynsynos war und die Texte über die alten Weisheiten studieren konnte, habe ich viel mehr davon begriffen, wie die Magie einer Benennerin wirkt. Eines, was ich tun kann, ist dich von Zeit zu Zeit zu besuchen, und zwar so, dass es uns beiden bewusst ist. Es wird mir besonders dann möglich sein, wenn Achmed sein Projekt beendet hat.«

Ashe küsste sie und öffnete dann die Tür.

»Wie dem auch sei, du bist immer bei mir.«

Plötzlich fuhren sie beide zusammen, als hätte ein Pfeil sie getroffen.

»Meridion weint«, sagten sie gleichzeitig zueinander.

Ashe trat zur Seite, damit Rhapsody als Erste durch die Tür eilen konnte. Während sie zusammen den Korridor entlangliefen, schaute er hinunter auf seine Frau.

»Du kannst das unmöglich gehört haben«, sagte er sanft. »Du scheinst einen eigenen Drachensinn ausgebildet zu haben. Offenbar habe ich auf dich abgefärbt.«

Rhapsody schnaubte und verdoppelte ihre Geschwindigkeit. Sie war vier Schritte vor ihm an der Treppe.

»Wohl kaum. Jede neue Mutter hat etwas von einem Drachen an sich.«

Ashe sah ihr zu, wie sie die Treppe hinunterhastete und dabei je zwei Stufen auf einmal nahm.

»Hm. Das würde die wilden Stimmungsschwankungen erklären.«


Der Quartiermeister hatte vier Pferde vorbereitet: zwei leichte zum Reiten und zwei stämmigere Kriegspferde. Eines der beiden letzteren war von enormer Größe und trug nur sehr wenig Gepäck. Grunthor untersuchte es und nickte zustimmend. Das andere der beiden schweren Pferde und eines der leichteren trugen den größten Teil der Ausrüstung und Vorräte für die lange Reise.

Das zweite leichte Pferd war mit einem besonders langen Sattel ausgerüstet.

»Ich glaube, du solltest wenigstens zu Beginn mit Achmed reiten«, sagte Ashe ernst zu Rhapsody. »Deine Prüfung im Gwynwald, Meridions Geburt und die lange Rückreise hierher haben dich sehr mitgenommen, Aria.

Ich bin mir nicht sicher, ob du in deinem augenblicklichen Gesundheitszustand die Strapazen eines scharfen Ritts ertragen kannst, vor allem weil du auch noch das in den Nebelmantel gehüllte Kind festhalten musst. Deshalb gebietet es die Klugheit, mit Achmed einen Sattel zu teilen – wenigstens für den ersten Teil der Reise. Ich werde beruhigter sein, wenn ich weiß, dass du nicht vom Pferd fallen kannst.«

Rhapsody lächelte und gab ihm einen Kuss.

»Du wirst immer in meinen Gedanken sein, und ich weiß, dass ich immer in deinen sein werde«, sagte sie. »Jede Nacht, bevor ich schlafen gehe, werde ich mich bemühen, dich in deinen Träumen zu besuchen. Erinnere dich an die Lieder, die ich dir immer vorsinge, wenn wir zusammen sind. Ich werde sie dir und Meridion auch vorsingen, wenn wir getrennt sind. Behalte dieses Bild in deinen Gedanken, und wir werden nie weit von dir entfernt sein.«

Als Erwiderung lächelte Ashe traurig.

»Jetzt kann ich deine Wimpern und deine Herzschläge zählen. Ich weiß, wie du atmest und wie du dort, wo du stehst, die Luftzüge beeinflusst und sie veränderst, wenn du dich bewegst. Sobald du mehr als fünf Meilen von mir entfernt bist, ist es, als wärest du für mich auf ewig verloren«, sagte er. »Bring dich und unseren Sohn in Sicherheit, meine Liebste. Ich kann nur dann geistig gesund bleiben, wenn ich weiß, dass du das tust.«

Rhapsody umarmte ihn und wusste, dass er die Wahrheit sprach.


»Hab da ’ne Neuigkeit, die du vielleicht hören willst«, sagte Grunthor gelassen, als Rhapsody und Ashe sich Lebewohl sagten. »Während du weg warst, hat sich die Großmama vom alten Ashe, diese verdammte Drachin Anwyn, auf den Weg zum Bolgland gemacht und versucht, bei uns reinzukommen. Mach dir aber keine Sorgen, wir haben sie ganz leicht zurückgeschlagen.«

»Wie ist denn das gelungen?«, fragte Achmed ungläubig. »Ich besitze die einzige Waffe im ganzen Bolgland, die in der Lage ist, Drachenhaut zu durchdringen, und die trage ich bei mir. Wie habt ihr sie vertrieben?«

»Wir haben die Fließrichtung im Abwasserkanal umgedreht und sie mitsamt dem ganzen Hrekin aus den Tunneln gepumpt«, antwortete Grunthor. »War ungefähr hunderttausend Gallonen Inhalt von Bolg-Hintern, das war wohl ’ne angemessene Waffe. Außerdem haben Drachen ziemlich scharfe Sinne, wenn ich mich richtig erinnere. Das hat sie ziemlich verblüfft. Hat ’ne richtige Sauerei gegeben, die wir eigentlich aufräumen wollten, bevor du nach Hause kommst, aber wir haben uns entschieden, dass es ’ne nette Verteidigung abgibt. Also haben wir ’ne Barriere draus gemacht, die jetzt den Ort hübsch einstinkt. Dieses Biest kommt so schnell nicht wieder zurück.«

»Und du hast vergessen, das auf dem Kriegskonzil zu erwähnen?«, fragte Achmed erheitert.

»Jawoll«, meinte Grunthor. »Wenn alle gewusst hätten, dass die Drachin schon im Bolg-Land war, dann hätte Rhapsodys Mann sie bestimmt nich’ gehen lassen. Doch meiner Meinung nach ist sie bei uns am sichersten, Drachin hin oder her.«

»Da stimme ich dir zu«, sagte Achmed und stieg auf sein Pferd. »Es wird interessant sein, ihre Reaktion auf deine neue Barrikade zu beobachten. Rhapsody erachtet Sauberkeit als heilig. Wir sollten jetzt aufbrechen, sobald Ashe seine Lippen von ihr und dem kreischenden Balg losreißen kann.«

14

An der Kreuzung Östliches Navarne

Die Kohorte der Zweiten Bergwacht von Sorbold hielt an jener Stelle an, wo die nach Norden in die Provinz Canderre hineinführende Straße die waldige Handelsroute kreuzte, die von Osten und den Waldländern von Navarne bis zur Hauptstadt von Bethania führte.

Der Wind war kalt, aber der Himmel war klar. Wegen der Dunkelheit und den im Winter kaum anzutreffenden Reisenden war ihre Reise von der südlichen Heimat bis hierher kaum bemerkt worden. Sie hatten sich jedes verirrten Kaufmanns oder Bauern mit Leichtigkeit entledigt, was wie erwartet in dem nur spärlich besiedelten Gebiet zu keinerlei größerem Aufruhr geführt hatte.

Als sie sich allmählich der Festung in dem ummauerten Dorf Haguefort näherten, gab der Kommandant still den Befehl, heimlich über die Waldstraße zu gehen und sich in Einer- und Zweierreihen im Schutz des Waldrandes zu halten, wobei sie keinesfalls die Aufmerksamkeit der Patrouillen erregen durften, die sicherlich im ganzen Gebiet verteilt waren und das Heim von Gwydion von Manosse, dem cymrischen Herzog, bewachten.

Und das seiner Familie.

Schweigend gab der Kommandant seinen Truppen ein Zeichen, und sie folgten ihm beinahe lautlos in den Wald. Ihre Reittiere hatten einen sicheren Tritt und verursachten kaum ein Geräusch.

Sie hatten bereits den größten Teil einer Meile hinter sich gebracht, als sie Pferde im Wald nördlich von ihnen herannahen hörten.

Rasch gab der Kommandant zweien seiner Späher ein Zeichen und stieg ab. Sie folgten ihm und glitten ebenfalls aus dem Sattel, während der Rest der Kohorte tiefer im Wald leise zum Halten kam.

Der Kommandant und die Späher überquerten die Waldstraße und krochen durch das Unterholz, das trocken und tot vom Schnee war, der diesen Teil des Kontinents noch im Griff hielt. Hier war es so anders als in ihrer trockenen und unfruchtbaren Bergheimat. Mühelos huschten sie durch den Wald, denn dazu waren sie unter großem Aufwand ausgebildet worden. Im dichten Unterholz aus Immergrün blieben sie stehen und warteten.

Hinter den Bäumen am Rande ihres Blickfelds befand sich ein Waldpfad, eine schmale Route, auf der die Bauern reisten, wenn sie die Hauptstraße vermeiden oder die Früchte des Waldes, nämlich Beeren und Kräuter, ernten oder jagen wollten. Nun war von Westen das Geräusch einiger Pferde im vollen Galopp zu vernehmen. Die drei Soldaten duckten sich tiefer und warteten.

Nach einigen Augenblicken kamen die Pferde und ihre Reiter in Sichtweite. Es waren vier Tiere, zwei leichte Reitpferde und zwei schwere. Auf je einem von ihnen saßen Reiter, die anderen beiden trugen das Gepäck. Der Mann auf dem schweren Pferd war unglaublich groß und breit; sein Tier atmete keuchend.

Die Reisenden verloren keine Zeit. Sie überquerten den Waldpfad und wurden schneller, als sich der Wald ausdünnte; dann verschwanden sie in der Ferne.

Der Kommandant stand rasch auf.

»Nimm das dritte Fähnlein und folge ihnen«, sagte er zum ersten Späher. »Es mag vielleicht nicht von Bedeutung sein, aber mein Instinkt sagt mir, dass diese Reiter uns nicht entkommen dürfen. Bringt ihre Pferde mit, wenn es euch möglich ist; sie werden uns bei der Heimreise nützlich sein.«

Der Späher nickte, und alle drei Männer machten sich eilends zurück zur Hauptstraße durch den Wald.

Die Kohorte teilte sich rasch und leise auf. Das dritte Fähnlein preschte nach Norden, um die Reiter zu verfolgen, das zweite wich nach Südwesten zurück, um als Flanke zu dienen, und das erste machte sich auf den Weg nach Westen.

Nach Haguefort.

15

Der kleine Wagen stand am Westtor bereit, kurz nachdem die neiden Firbolg und die cymrische Herrscherin durch dis Nordtor davongeritten waren.

Gerald Owen hustete, als die fallenden Temperaturen in seiner Lunge ein stechendes Gefühl verursachten. Er schaute vom Innenhof, der nur von einer einzelnen Blendlaterne erhellt wurde, hoch in den kalten Nachthimmel und zu den Sternen, die sich hinter dem Baldachin jener Bäume erstreckten, welche den Beginn des Waldes westlich von Haguefort bezeichneten. Im Norden ging er allmählich in den heiligen Gwynwald und den Kreis über, der ihr Ziel darstellte. Obgleich die bittere Kälte zurückgekehrt war, war der Himmel klar, und es herrschte nur eine sanfte Brise. Es schien, dass sie angenehmes Wetter haben und die Reise recht rasch hinter sich bringen würden.

Leise unterhielt er sich mit den Fahrern und ihren beiden Begleitern, dann gab er das Zeichen, das Fenster zu schließen.

Einige Augenblicke später öffnete sich die Tür zur Vorratskammer, und die beiden Navarne-Kinder erschienen. Sie waren in dunkle Hemden und Hosen und in graue Mäntel gekleidet, die mit der Nacht verschmolzen. Gwydion Navarne schloss leise die Tür zur Speisekammer, nahm dann die Hand seiner Schwester und führte sie durch den Kräutergarten und quer durch den von Kieselsteinen bedeckten Hof bis zu der Baumreihe, vor welcher der Wagen wartete.

»Oh, gut, sie haben die Rotschimmel angespannt«, flüsterte Melisande. »Das wird eine schnelle Fahrt werden.«

»Ist alles fertig, Gerald?«, fragte der junge Herzog nervös, während er Melisandes Hand losließ und den Sack mit ihren letzten Vorräten dem Kutscher übergab. Melisande entwand ihm den Wasserschlauch und befestigte ihn an ihrem Gürtel.

»Es ist alles bereit, Herr«, antwortete der Kammerherr. »Die cymrische Herrin hat durch einen Wintervogel eine Nachricht zu Gavin beim Kreis geschickt, also wird er uns zweifellos erwarten. Ich werde dafür sorgen, dass die Herrin Melisande schnell und sicher dorthin gelangt.«

Gwydion nickte und unterdrückte ein flaues Gefühl. Melly war damals zu klein gewesen, um sich nun daran erinnern zu können, wie sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen hatten, doch für Gwydion war es, als ob es nicht vor neun Jahren, sondern erst gestern geschehen wäre. Damals war er acht Jahre alt und ein stiller Bücherwurm gewesen, der überdies genau wie seine Mutter die Wälder geliebt hatte. Auch hatte sie seine Neigung zur Schüchternheit geteilt und damit im Gegensatz zu seinem Vater und seiner Schwester gestanden, die herzlich und gesellig waren. Er vermisste sie immer noch – den Duft von Lavendel oder Limonen in ihrem Haar, die Sanftheit ihrer Hände, wenn sie nachts die Laken um ihn herum geglättet hatte, die Art, wie sich ihre Mundwinkel beim Lachen nach oben gezogen hatten. Wenn er sich diesen Erinnerungen hingab, verursachten sie ihm jedes Mal Magenschmerzen.

Die schlimmste Erinnerung war die letzte, als seine Mutter und deren Schwester, seine Tante, an die er sich kaum entsann, in genau eine solche Kutsche geklettert waren, weil sie in die Stadt fahren und Melisande Schuhe kaufen wollten, in denen sie laufen lernen sollte. Sie hatten gelacht; Mutters schwarze Augen, denen die von Melly so ähnlich sahen, hatten geglitzert, und sie hatte sein Gesicht zwischen ihre Hände genommen, ihn auf Wange und Stirn geküsst und ihm Worte ins Ohr geflüstert, an die er sich noch genauso gut erinnern konnte wie an den Klang ihrer Stimme.

Sei ein guter Junge. Hilf deinem Vater. Denk daran, dass ich dich liebe.

Er hatte sich bemüht, diese Bitten zu erfüllen. Die meiste Zeit über war das nicht schwierig gewesen.

»Das weiß ich«, sagte er mechanisch zu dem Kammerherrn.

Melisande, die sich für eine ausgezeichnete Pferdekennerin hielt, hatte bereits zur stillen Erheiterung der Kutscher das Zaumzeug der Tiere untersucht und stand nun vor der Tür des Fahrzeugs.

»Es reicht«, sagte sie ungeduldig. »Es ist Zeit zum Aufbruch.«

Gwydion atmete tief aus, trat zur Kutschentür und legte Melisande eine Hand auf die Schulter.

»Hör auf Gerald«, ermahnte er sie ernst. »Und geh bloß kein dummes Risiko ein.« Er sah, wie sich ihre Augen verengten, und erinnerte sich plötzlich daran, wie es war, wenn man wegen seines Alters unterschätzt wurde. Rasch griff er in den Schaft seines Stiefels und zog daraus ein kleines Messer in einer Scheide hervor. »Hier«, sagte er freundlicher. »Du kannst besser damit umgehen als ich. Es hat Vater gehört.«

Melisandes Ausdruck der Verärgerung wich dem der Freude.

»Vielen Dank«, sagte sie eifrig, nahm das Messer entgegen und drehte es in ihren Händen hin und her. Rasch umarmte sie ihren Bruder und griff dann nach der Wagentür. Gwydion kam ihr zuvor, öffnete die Tür für sie und klappte das Trittbrett aus. Sie kletterte hinauf, beugte sich zurück und küsste ihn auf die Wange.

»Mach keine Dummheiten«, sagte sie, während ihre schwarzen Augen tanzten. »Und hab nicht zu viel Spaß ohne mich.«

»Das kann ich nur zurückgeben«, erwiderte Gwydion. »Beides.« Melisande grinste. Die goldenen Locken unter ihrer Kapuze hüpften auf und ab. Dann trat sie in die Dunkelheit des Wageninneren. Gerald kletterte ihr nach.

»Macht Euch keine Sorgen, Herr. Ich kümmere mich um ihre Sicherheit.«

Melisande lehnte sich aus dem Kutschenfenster. »Ich kann mich selbst um meine Sicherheit kümmern. Und du solltest dasselbe tun, Bruder.«

Gwydion nickte, schloss die Tür und fühlte sich, als wäre das Ende der Welt gekommen.

Wieder einmal.

Er stand in der Finsternis des Hofes und sah hinter der Kutsche her, bis sie von den dunklen Zweigen der Bäume und von der Nacht verschluckt wurde.


Melisande war noch nie in dem Wald nordwestlich ihres Zuhauses gewesen.

Einmal hatte sie Tyrian besucht, und zwar zur Hochzeit von Rhapsody und Ashe, und einmal war ihr erlaubt worden, zusammen mit ihrem Vater in die Provinz Canderre nordöstlich von Navarne zu reisen und dort entfernte Verwandte zu besuchen. Sie hatte ihn auch gebeten, sie nach Yarim im Osten mitzunehmen, weil das exotische Wüstenklima ihre Phantasie beflügelt hatte und sie den Ort sehen wollte, von dem die Familie ihrer Mutter und damit auch ihre eigenen schwarzen Augen stammten, doch Stephen Navarne hatte es immer abgelehnt, weil die Reise zu weit und die Zeiten zu gefährlich waren. Eines Tages, wenn du älter bist und die Welt besser geworden ist, werden wir dorthin gehen, Melly, du und ich, hatte er gesagt. Eine der traurigsten Lektionen in Melisandes jungem Leben war das Wissen, dass sie zwar eines Tages vielleicht wirklich Yarim sehen würde, doch dann wäre nur die eine Voraussetzung aus Vaters Versprechen erfüllt: nämlich der, dass sie dann älter geworden war.

Gelegentlich war sie auch nach Südwesten gereist, besonders zur Küstenprovinz Avonderre, wo ihre Familie bisweilen an den religiösen Feiern in der großen Strandbasilika von Abbat Mythlinis teilnahm, die dem Element des Wassers geweiht war. Dieser Ort faszinierte und beängstigte sie zugleich.

In der Dunkelheit lehnte sich Melisande gegen den weichen Stoff des Sitzes und lauschte eine Weile Gerald Owens Schnarchen. Dann schloss sie die Augen und dachte über die Basilika nach. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie das Bauwerk gesehen hatte. Es war am Benennungstag irgendeines Kindes gewesen, das ihrem Gedächtnis entfallen war, und sie hatte Angst gehabt, nach drinnen zu gehen. Es war eine ihrer frühesten Erinnerungen; damals war sie nicht älter als vier Jahre gewesen. Die Basilika stand am Ufer und glich einem der großen, zerschellten Schiffe der Ersten Cymrischen Flotte. In solchen Schiffen waren ihre Vorfahren zu diesem Kontinent aufgebrochen, als sie vor dem drohenden Untergang ihrer Heimat, der Insel Serendair, auf der anderen Seite der Welt geflohen waren. Aufgrund ihrer Jugend hatte sie damals nicht begriffen, dass es sich bei der Basilika um ein Bauwerk handelte. Sie hatte geglaubt, sie beträte das gewaltige Wrack eines wirklichen Schiffes, das auf den Strand aufgelaufen war, und diese Vorstellung hatte sie sehr verwirrt.

Im Innern war sie sich noch sicherer gewesen, dass sie sich nicht geirrt hatte. Die gewaltigen Eingangstüren, die aus Planken von unterschiedlicher Länge mit Einkerbungen am oberen Ende bestanden, schienen ein riesiges Loch zu bilden, das in den Kiel des Schiffes gerissen worden war, und der Turm, der sich darüber in einem verrückten Winkel erhob, hätte der Mast sein können. Große zerbrochene Stämme – die Knochen von Schiffen, die auf ihrer Reise untergegangen waren – waren in die dunklen Steinwände eingelassen und verliehen dem Inneren eine Ähnlichkeit mit dem Skelett eines ungeheuren, auf dem Rücken liegenden Tieres. Seine Wirbelsäule war der Mittelgang, und die Stämme waren die uralten Rippen, die zerbrochen in die Dunkelheit ragten.

Wenn das Hochschauen sie schon geängstigt hatte, dann war der Blick zu den Seiten sogar noch schlimmer gewesen. Eine Reihe dicker, durchscheinender Glasblöcke war etwa in Schulterhöhe in die Wände eingelassen. Dahinter war die bewegte See undeutlich sichtbar, die das Innere der Basilika und die Gesichter der darin Versammelten in ein grün-blaues Glühen badete.

Statt die Macht des All-Gottes zu spüren oder die Feier des neugeborenen Kindes zu genießen, war sie in Panik geraten und hatte geschrien, bis ihr; wütender Vater sie aus der Basilika entfernt hatte.

Nun war sie auf dem Weg zum Kreis – zu einem Ort, den ihr Vater hoch geachtet, aber als zu unsicher für sie angesehen hatte. Außerdem hatte sie den Auftrag erhalten, zum Nest einer Bestie weiterzureisen, die zu ihrer Zeit der Mutter-Drache des gesamten Kontinents gewesen war. Die Geschichtsbücher waren voller entsetzlicher Geschichten über dieses Wesen, angefangen von der Preisgabe ihrer drei Töchter bis zu jener Raserei, welche die Westhälfte des Mittleren Kontinents in Brand gesetzt hatte. Rhapsody hatte diese Geschichten als Lügen bezeichnet. Sie hatte die Drachin geliebt und war sogar während ihrer Schwangerschaft bei Elynsynos gewesen und hatte dabei alles zu erfahren versucht, was es über die Geburt und Pflege eines Kindes mit Drachenblut zu wissen gab. Sie hatte der Drachin vertraut, und Melisande traute ihrer Adoptivgroßmutter bedingungslos, aber sie fragte sich trotzdem, ob nicht ein Körnchen Wahrheit in den alten Geschichten verborgen lag.

Welche anderen Eigenschaften Melisande auch immer haben mochte, sie war vor allem gesegnet mit einem furchtlosen Geist und einer neugierigen Natur. Als jüngeres Kind eines Adelsgeschlechts mit nur geringen Aussichten, jemals den Titel ihres Vaters übernehmen zu können, der ihrem Bruder zustand, war ihr erlaubt worden, zu erforschen, worauf immer sie Lust hatte, und sich mit Dingen und Fähigkeiten abzugeben, die normalerweise nur den männlichen Nachkommen zustanden, sowie alles auf der Welt zu hinterfragen. Als sie gebeten worden war, die Mission zu übernehmen, auf der sie sich nun befand, hatte sie gewusst, dass sie eigentlich sehr nervös sein sollte.

Stattdessen war sie nur aufgeregt.

Eingehüllt ihn leichte Träume über die Wasser-Basilika und das Drachennest im verschwundenen See, döste sie dahin, bis der Angriff erfolgte und der erste Pfeil den Wagen traf.


Gerald Owen war von dem Einschlag entsetzt.

»Kutscher … Kutscher.«

»Wir werden angegriffen«, ertönte die gedämpfte Antwort. »Bleibt unten.«

Der alte Kammerherr riss die Augen weit auf. Melisande ergriff seine Hand, und gemeinsam legten sie sich unbeholfen auf den Boden des Wagens, der nun an Fahrt gewann. Die Karosserie erzitterte unter dem Donnern der Pferdehufe.

Auf dem Dach des Wagens hörten sie einen leisen Aufprall; dann wurde eine Armbrust abgefeuert.

»Der Lakai ist sehr geschickt mit seiner Waffe«, sagte Owen zu dem Mädchen und versuchte das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten. »Der Herr … hat dafür gesorgt. Er sollte jeden Angreifer zurückschlagen können.« Melisande nickte und lächelte ihm aufmunternd zu.

Es waren noch einige dumpfe Einschläge im hinteren Teil der Kutsche zu hören – genau dort, wo sie beide vorhin noch gesessen hatten. Melisande erbebte, als sie vier Pfeilspitzen aus dem Stoffpolster ragen sah.

Draußen vor dem Wagen hörten sie den Lärm von Verfolgung und Flucht, von gebrüllten Kommandos und Flüchen. Die Kutsche klapperte und schwankte hin und her, als die Steine und Fahrrinnen auf der Straße wegen der hohen Geschwindigkeit zu ernsten Hindernissen wurden.

»Keine … keine Angst, Herrin«, stammelte Gerald Owen.

»Ich habe keine Angst«, erwiderte das Mädchen. »Aber dein Fuß drückt auf meine Hand.«

»Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte der Kammerherr und zog rasch seinen Fuß weg.

Geschosse zischten hinter dem Kutschenfenster vorbei. Von oben ertönte das Geräusch eines Pfeils, der sein Ziel gefunden hatte, und wie ein Echo wurde die Armbrust erneut abgefeuert. Die Kutsche schwang von einer Seite zur anderen, das Gepäck auf den Sitzen wurde zu Boden geworfen und landete auf den beiden ausgestreckt daliegenden Passagieren. Mit einem entsetzlichen Rumpeln und einem weiteren heftigen Schütteln machte die Kutsche einen Sprung nach vorn, als ob sie über etwas Großes auf der Straße gefahren wäre. Melisande erzitterte. Dem Klang und der Richtung nach schien es der Kutscher gewesen zu sein.

Ihre Vermutung wurde einen Moment später bestätigt, als der Wagen plötzlich ausbrach. Von oben waren Rufe zu hören, die von anderen hinter ihnen beantwortet wurden.

»Ich … ich glaube, die Tür ist nicht abgeschlossen«, sagte Melisande und beobachtete, wie sie auf und zu schlug.

Gerald Owen kämpfte sich auf die Knie, kroch hinüber zur Tür und verriegelte sie. Gerade als er sich wieder zurücklehnte, erschien ein Reiter an der linken Seite des Wagens. Er war nur undeutlich durch den Samtvorhang zu sehen und schlug mit der Hand gegen die Wagentür, dann griff er durch den Vorhang nach drinnen. Neben ihnen war das Donnern von Pferdehufen zu hören.

»Geht weg!«, rief Melisande. »Geht doch einfach weg! Lasst mich in Ruhe!«

»Psst, Herrin«, warnte Gerald Owen sie und griff nach ihr.

Die Hand kam erneut durch das Fenster, wurde diesmal weiter hineingestreckt. Es war eine raue, schwielige Hand mit Schwertblasen auf der Innenfläche. Sie fuhr wild umher und wurde dann wieder zurückgezogen.

Melisande wich ihr aus, als sie ihr auf Haaresbreite nahe kam. Sie kämpfte sich zur rechten Seite durch, während die schwankende Kutsche zwischen den einzelnen Straßenfurchen hin und her pendelte und die Pferde durch den Kampf aus dem Takt gerieten.

Der Arm stieß wieder in das Innere. Diesmal fuhr er über Melisandes Wange, packte dann ein Büschel ihrer Haare und zerrte sie zum Fenster zurück. Die Herrin von Navarne keuchte laut auf.

Gerald Owen sprang unbeholfen auf sie zu, packte ihre Beine und versuchte sie von der Tür fortzuzerren, doch die Hand ließ nicht los, sondern wickelte sich Melisandes Haare wie ein Seil um das Gelenk und riss wieder an ihnen.

In den schwarzen Augen machte Wut der Panik Platz. Melisande zog das Messer, das Gwydion ihr gegeben hatte, aus ihrem Stiefel und stach mit einem kunstvollen Bogen nach dem Arm. Sie traf ihn nicht.

Erneut wurde an ihrem Haar gezerrt, und ihr Kopf berührte die Fenstervorhänge.

Melisande kauerte nun mit dem Rücken zur Tür auf dem Boden und stach über ihrem Kopf blindlings zu. Sie traf ihr Ziel und zog das Messer über das Gelenk der Hand, die sie vor kurzem noch so fest gehalten hatte.

Der Arm wurde rasch zurückgezogen, und es ertönte ein Fluch in einer Sprache, die sie nicht kannte. Doch dann schoss der Arm erneut durch das Fenster. Er blutete leicht und tastete wild im Wageninneren herum.

Nun packten die Finger den Türgriff und drehten ihn.

Das Kind richtete sich auf. Es wartete, bis die Hand den Knauf ganz umschlossen hielt, holte tief Luft und vergrub ohne mit der Wimper zu zucken die Klinge bis zum Griff im Fleisch unterhalb der Knöchel.

Ein Schmerzensschrei, gefolgt von ersticktem Keuchen, fuhr durch die Luft vor dem Wagenfenster.

Melisande packte das Messer, das noch in der Hand steckte, und zog es am Griff nach unten. Dabei durchschnitt sie Fleisch und Sehnen und tauchte sich und Gerald Owen in pulsierendes Blut.

»Ich habe gesagt: Lasst mich in Ruhe!«, kreischte sie. »Ich schneide dir deine verdammten Finger ab, wenn du mich noch einmal anfasst!«

Die Kutsche erzitterte heftig, als Ross und Reiter gegen ihre Seite stießen. Dann sprang sie mit einem schrecklichen Geräusch in die Luft. Weiter hinten verblasste ein Schrei. Die Kutsche schlug wieder auf den Boden, schaukelte furchtbar hin und her und fiel schließlich auf die rechte Seite. Das ganze Gepäck wirbelte umher und landete auf den verblüfften Passagieren.

Benommen kämpfte sich Melisande auf die Beine. Von draußen hörte sie noch Kampflärm, doch ihre ganze Aufmerksamkeit war nun auf Gerald Owen gerichtet, der zusammengesunken auf dem Boden lag. Über einem Auge hatte er eine klaffende Wunde.

»Gerald …«

»Geht, mein Kind«, flüsterte der alte Kammerherr. »Flieht von hier … wenn Ihr könnt.«

Das Mädchen sah sich wild um, griff über den Kopf und drückte die Tür auf. Langsam kletterte es hinauf, benutzte dabei die Tür als Schutzschild und schaute sich um.

Ein graues Bergpferd stand quer auf der Waldstraße. Sein Zaumzeug hatte sich verheddert, und die Sattelriemen waren zerrissen, aber ansonsten war es unverletzt. Weiter hinten auf der Straße lag ein verkrümmter Körper, auf dem die Spuren der Kutschenräder deutlich zu sehen waren. Eine Hand lag leblos auf dem Boden ausgestreckt in einer Pfütze aus Blut. Der Leichnam des Kutschers lag ein wenig weiter hinten am Rand der Straße.

Noch weiter entfernt sah sie zwei Soldaten aus ihrer eigenen Eskorte im Kampf zu Pferde mit vier Männern in ähnlicher Uniform. Sie konnte die beiden Parteien nur an der Farbe ihrer Reittiere unterscheiden. Melisande zitterte; der Schock drohte sie zu überwältigen. Sie zog sich aus der umgekippten Kutsche und schaute hinter sich.

Der Lakai mit der Armbrust lag auf dem Boden vor dem Wagen unter der zerbrochenen Deichsel und jammerte unzusammenhängende Worte. Eines der Pferde war ebenfalls eingeklemmt, das andere tänzelte nervös in seinem Zaumzeug. Melisande erstarrte. Sie sah sich um, bemerkte niemanden in der Nähe und kroch über die umgeworfene Kutsche auf den Lakai zu.

Sie versuchte die Deichsel von ihm zu heben, aber sie war zu schwer. Er war ganz grau im Gesicht und von Schweiß überzogen, doch es gelang ihm, sie anzusehen.

»Flieht, Herrin«, sagte er. Dann erbebte er und wurde bewusstlos.

Ihr Sinn fürs Praktische gewann die Oberhand. Melisande überlegte, ob sie das Bergpferd nehmen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder, als sie sich klarmachte, dass sie keine Ahnung von diesem Tier hatte und es für die Waldpfade ungeeignet war. Sie hoffte dass die Soldaten zu beschäftigt waren, um sie zu bemerken, und eilte hinüber zu den Rotschimmeln. Mit ihren kleinen, geschickten Fingern und einer Schnelligkeit, die sie sich durch lange Übung erworben hatte, zäumte sie das noch stehende Pferd los und stieg mit großer Leichtigkeit auf. Dieses Pferd war ihr nicht fremd; es erkannte sie ebenfalls und scheute nicht vor ihr zurück.

Sie schmiegte sich an seinen Hals, trieb es zuerst zu einem Trab und dann zum leichtfüßigen Galopp über den Waldweg an.

Melisande behielt diesen Galopp fast eine halbe Meile bei und fiel dann wieder in einen langsameren Trab. Der Weg wurde zu einem bloßen Pfad, und der Nachthimmel färbte sich grau in der frühen Morgendämmerung. Als die Wolken rosig wurden, hatte sie den Weg bereits verlassen und reiste so direkt wie möglich nordwärts, angetrieben von Panik und einer inneren Stimme, die ihr angesichts des Grauens, dessen Zeugin sie geworden war, die schnellstmögliche Flucht gebot.

Als die Sonne schließlich über den Horizont stieg und den eisigen Wald mit schwachem Licht erfüllte, in dessen Strahlen die Bäume silbern und weiß erschienen, hielt Melisande endlich an. Sie lauschte, hörte aber nichts hinter ihr außer den Lauten des Waldes, dem knirschenden Eis an den Zweigen, dem Rascheln der Kiefernnadeln im Morgenwind und den Rufen der Wintervögel, die nun allmählich aufwachten.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie hatte sich vollkommen verirrt.

Als sie schließlich wieder durchatmen konnte, stieg sie ab und sah sich um. Dann kamen die Empfindungen, die sie während ihres Überlebenskampfes ausgeblendet hatte, mit großer Macht zurück. Sie spürte durch die Stiefel und die dicken Wollsocken ihre frierenden Füße; sie bebte vor Kälte, Angst und Hunger, hatte aber keinerlei Vorräte außer dem Wasserschlauch an ihrem Gürtel und keine Gerätschaften mit Ausnahme des Messers in ihrem Stiefel.

Sie sah sich in dem schier endlosen Wald um und bemerkte, dass sie nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen konnte, wo sich der Pfad befand. Der Kreis sollte nördlich von hier liegen, schloss sie, oder vielleicht westlich. Ihr Kinn zitterte, aber sie zwang es zur Ruhe. Dann reckte und streckte sie sich, packte die Zügel des Pferdes und machte sich auf den Weg nach Norden.

Sie hatte etwa tausend Schritte zurückgelegt, als sie von Kummer überwältigt wurde. Melisande setzte sich auf den unebenen Boden unter einem hohen, struppigen Nussbaum und schluchzte so heftig, als breche ihr das Herz.

Nach einiger Zeit hatte sie sich wieder beruhigt. Sie stand auf, ging zurück zum Pferd und durchschritt weiter den Wald auf der Suche nach dem Kreis und nach Gavin.

16

Am Rande der Krevensfelder

Auch wenn diejenigen, die in der Oberwelt lebten, den Schlummer der Dhrakier nicht als richtigen Schlaf ansahen, war er doch für diese Rasse etwas Entsprechendes, eine Zeit des Stillstands von Denken und Handeln, eine Schläfrigkeit, die es ihrem Körper erlaubte, auszuruhen und sich zu erholen, so wie es jedes lebende Wesen tat – ein Heilmittel der Wiederbelebung, dessen alle Kreaturen mit einem schlagenden Herz bedurften. Selbst die annähernde Unsterblichkeit, die ihnen als zum Anbeginn der Zeit geborenen Söhnen des Windes verliehen war, ersparte ihnen nicht die Notwendigkeit einer Rast.

Rath schloss die Augen, während er darüber nachdachte. Er hatte Unterschlupf an der windabgewandten Seite eines grasbewachsenen Hügels gefunden, und das Donnern des Windes um ihn herum lullte ihn ein. Zwar befreite die uranfängliche Elementarmacht ihrer Rasse und all jener, die ihnen ähnlich und in der Sprache der Menschenwelt als die Erstgeborenen bekannt waren, sie von vielen Beschränkungen, mit denen die später gekommenen Völker geschlagen waren; aber es lag etwas Unausweichliches in der Notwendigkeit des Ausruhens, selbst wenn sie auf der endlosen Jagd nach ihrer Beute durch die Oberwelt streiften. Manchmal fragte sich Rath müßig, ob Tod und Verdammnis dieser andauernden Wachsamkeit vorzuziehen wären, die von ihm und seinen Gefährten verlangt wurde – dieser drängenden, grenzenlosen Notwendigkeit, die jeden anderen Lebenszweck ausschloss und sich in dem Wunsch nach der Vernichtung der Feuerdämonen manifestierte, welche als die F’dor bekannt waren.

Sicherlich wäre es einfacher, sterblich zu sein.

Aber es machte keinen Unterschied, ob es einfacher oder einem Leben als Jäger vorzuziehen war.

Es war unausweichlich.

Als er in einen Zustand der Entspannung hinüberglitt, wurde Rath von dem heimgesucht, was man unter seinesgleichen als Träume bezeichnete. Es war dieselbe Art von Bildern und Erinnerungen, die seinen Geist jede Nacht erfüllten, wenn er den letzten seiner Kirai ausgesandt hatte und nicht mehr den Wind nach Spuren von F’dor-Gestank absuchte – wenn seine Pflichten für wenige Stunden aufgehoben waren, während der Rest der Welt schlief. Wie die anderen seiner Rasse hatte er irgendwann alle sieben Kontinente durchschritten, alle Sieben Meere befahren, war über beinahe jeden Fußpfad und jede Nebenstraße gereist, war durch Bereiche der Welt gewandert, die sonst nur von den Vögeln gesehen oder von Bergziegen bewohnt wurden, ständig auf der Suche nach den Entkommenen, die ihnen immer wieder entwischten.

Es war eine erbarmungslose Jagd, eine nie endende Suche, und all die vergangenen Jahrhunderte hatten nur wenig gute Erinnerungen hinterlassen.

Rath rollte sich in seinem Schlummer auf die Seite. Trotz aller Anblicke, die seine Augen in dieser Welt in sich aufgenommen hatten, lag in seinem Geist eine deutliche Erinnerung an einen anderen Ort, den er seit Tausenden von Jahren nicht mehr gesehen hatte. Während sein Atmen tiefer und langsamer wurde, besuchte er diesen Ort wieder, wie er es jede Nacht getan hatte, seit er von dort fortgegangen war.

Aus den Tiefen seines Geistes drangen Gedanken an eine Zeit, lange bevor die Menschheit den Planeten bevölkert und unterjocht hatte, als hier nur fünf Rassen lebten und seine eigene eine von ihnen war.

Sein Muttervolk, das die Menschen die Kith nannten, glaubte an die Geschichten über die Schöpfung der Welt, die ihnen von den Seren erzählt worden waren, der einzigen anderen Rasse, die älter als sie war. Die Sänger der Seren berichteten von der Geburt der Erde als einem Sternenstück, das von seiner Mutter abgebrochen und durch das Universum gesegelt war, bis es in einer Umlaufbahn um jenes gleißende Wesen, das ihm zu Leben verholfen hatte, zur Ruhe gekommen war. Die Seren sagten, der Stein hätte weiterhin mit Flammen aus weltlichem Feuer gebrannt, dem ersten Element, das der Erde eigen war. Als es bereits den Anschein hatte, dass die Flammen den neuen Planeten verschlucken würden, sanken sie allmählich in den Kern der neuen Welt zurück, wo sie weiterhin heiß und rein brannten. Es hieß, dass der neue Planet dann vom Element des Wassers überzogen worden war, und die lebende See hatte sich bald über den ganzen Globus ausgebreitet und vor erwachendem Leben gebrodelt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte das Bewusstsein seiner Rasse begonnen. Die Legende besagte, dass sich aus der Bewegung des Wassers ein Wind erhoben und die Wellen zurückgeblasen hatte, bis schließlich das Land, das letzte Element, enthüllt wurde. Von diesem Wind stammten die Wesen ab, die unter der Bezeichnung Kith bekannt waren. Rath erinnerte sich deutlich an die Geschichten, die ihm in der Dunkelheit erzählt worden waren und die davon berichteten, wie die Welt zu jener Zeit gewesen war, als die Söhne des Windes frei, unbehindert und ledig aller Pflichten über die Erde wandeln konnten. Es war eine raue Rasse ohne jedes Interesse an einer Verbindung oder Gemeinsamkeit mit den Wesen, die aus den anderen Elementen hervorgekommen waren – den großen, dünnen, goldenen Kreaturen, die angeblich aus dem Äther, dem Element des Sternenlichts, geboren und als die Seren bekannt waren; den flüchtigen, membranartigen Wesen, die Mythlin genannt wurden, deren Haut porös und deren Fleisch beinahe gallertartig war und die sich im Meer ausbreiteten, aus dem sie stammten; den Wyrmril oder ›Drachen‹ in der Menschensprache, jenen schlangenartigen Bestien, die eine andere Gestalt als die gewählt hatten, welche der Schöpfer ihnen eigentlich zugedacht hatte, und die eifersüchtig die Erde bewachten, aus der sie gemacht waren. ’Sie trugen die Spuren aller anderen Elemente in sich, die mit der Erde in Berührung gekommen waren. Die Kith waren stärkere Einzelgänger als jede andere Rasse, die am glücklichsten waren, wenn sie auf den Armen des Windes die weite Welt durchstreifen konnten.

Doch das war vor Raths Zeit gewesen.

Lange vor seiner Geburt hatte es eine große Schlacht gegeben, in der vier der uranfänglichen Rassen gezwungenermaßen zu Verbündeten geworden waren, die sich zu dem Zweck zusammengetan hatten, die Welt vor der Vernichtung durch das erste Element, das zerstörende und verzehrende Feuer, zu bewahren. Für eine Weile hatte das Feuer eine natürliche Quelle gehabt, doch sehr früh im Leben der Welt waren einige Formen dieses Elements abtrünnig und bösartig geworden und hatten nicht mehr dem Schöpfer, sondern der Vernichtung, der Leere, der Antithese des Lebens gedient. Diese Wesen, die aus dem Feuer hervorgegangen waren und sich dem Ziel der Zerstörung hingegeben hatten, waren die flüchtigen Geister, die als F’dor bekannt waren. Dies war die Rasse, nach der er und seine Bruderjäger suchten.

Wie immer war Raths Atmen schwer geworden, als die Erinnerung ihm die Tiefe Kammer in der Erde zeigte, in der die F’dor von den vier Rassen des Bündnisses eingesperrt worden waren. Er war vor dieser Kammer geboren worden und zu Bewusstsein gelangt, das Kind zweier dhrakischer Eltern aus dem Stamm der Kith, die geschworen hatten, als Gefängniswärter der F’dor zu dienen und unablässig Wache vor der Tür der Tiefen Kammer zu stehen. Rath und die anderen seines Stammes waren noch rauer und gefühlloser als die übrigen seiner Art, was hauptsächlich der nackten Erde und den Korridoren in der Finsternis zuzuschreiben war, in denen sie gehaust hatten. Dhrakier zu sein bedeutete, in endlosen Schmerz hineingeboren zu werden, eine Verirrung der Natur zu sein, ein Kind des Windes, dass von jeder Luft und Freiheit abgeschnitten und durch das Versprechen früherer Generationen dazu verdammt war, gefangen in der Erde für alle Ewigkeit in endloser Dunkelheit Wache zu stehen.

Oder wenigstens wäre es so gewesen, wenn da nicht das Schlafende Kind gewesen wäre.

Raths Herzschlag wurde schneller, wie immer, wenn er schlief und von dem Tag träumte, als der niedergehende Stern auf die Erde geprallt war und die Kuppel der Tiefen Kammer gesprengt hatte. Es war eine Sintflut hereingebrochen, die jeder Beschreibung spottete. Die Tunnel und Korridore um das Gefängnis aus Lebendigem Stein herum, das die zerstörerischste Kraft enthielt, welche das Universum je hervorgebracht hatte, waren eingestürzt, und er hörte noch die Schmerzensschreie der Wächter sowie das Freudengeheul der Gefangenen, als diese ausbrachen und sich wie Wolfsmilch im Wind ausbreiteten. Damals war Rath noch jung gewesen, doch er erinnerte sich an den Geschmack von Salzwasser in seinem Mund, an das Brennen in der Nase, als das Meer hereindonnerte, und an das Entsetzen seiner ertrinkenden dhrakischen Gefährten – Entsetzen nicht über ihren drohenden Tod, sondern über das Wissen, dass die Welt, die sie beschützt hatten, nun nicht länger ein sicherer Ort war. Seine Mutter war damals unter den Toten gewesen. Er wurde noch immer vom Klang des Gelächters heimgesucht, das in seinen Ohren donnerte und in seinem Trommelfell brannte, doch noch schlimmer war die Erinnerung an die leiser werdenden Stimmen und die darauf folgende Stille, als sich die Dämonen in die Welt zerstreut hatten.

Als einer der überlebenden Wächter hatte er mit grimmiger Freude den Kampf aufgenommen, die verbliebenen Dämonen zurück in die Tiefe Kammer zu bringen, und er hatte dabei geholfen, sie rasch wieder zu versiegeln, sodass wenigstens einige der F’dor aufs Neue in der Erde gefangen waren. Es verschaffte ihm ein wenig Befriedigung, wenn er sich an das Wutgeheul und an die rauen Stimmen erinnerte, die wieder in ihrem Grab aus Lebendigem Stein verschwunden waren, doch er hatte genug vom Innern der Kammer gesehen, um zu wissen, dass es nur eine zeitweilige Einkerkerung sein würde. Jene F’dor, die hatten fliehen können, kannten neben der Vernichtung alles Lebendigen nur ein einziges Ziel.

All jene zu befreien, die den Ausbruch beim ersten Mal nicht geschafft hatten.

Der schlafende Dhrakier zuckte zusammen, als er sich in seinem Traum an den kurzen Blick erinnerte, den er auf den Blutdorn geworfen hatte, einen Baum, der jenen nicht unähnlich war, die an den Orten wuchsen, wo die Zeit ihren Ausgang genommen hatte. Doch dieser hier war verzerrt und bösartig gewesen, eine abscheuliche Verirrung, nicht so sehr Pflanze als vielmehr lebendes Wesen, mit Zweigen und Ästen voller sich windender Dornen, die ausschlugen wie die Tentakel eines Seeungeheuers auf der Jagd nach Beute. Dieser Baum hatte eine große Zahl seiner Gefährten aufgepfählt und verschlungen, bevor die Tiefe Kammer wieder versiegelt worden war. Wenn Rath sich an ihre Schreie erinnerte, krampfte sich seine Seele noch immer schmerzhaft zusammen.

Sein Vater war einer von ihnen gewesen.

Er wachte ruckartig auf, wie er es oft tat, und war in Schweiß gebadet, der rasch in der kühlen Brise trocknete. Der Traum war vorbei, genau wie sein Schlummer, doch er hatte Rath wieder einmal gezeigt, warum diese Jagd so wichtig war und warum die Nadeln, die in seinen Adern stachen, notwendig waren, um die Welt vor etwas zu beschützen, das sie wieder in Flammen setzen wollte, so wie sie zu Beginn der Schöpfung gewesen war. Es war eine düstere Erinnerung, doch sie war unerlässlich und versetzte ihn in die Lage, einen weiteren Tag hinter sich zu bringen und seine Suche nach jenen zerstörerischen Wesen fortzusetzen, die sich gestaltlos und flüchtig selbst vor dem Wind verbargen.

Und nach jedem lebenden Wesen, das jenen Dämonen bewusst oder unbewusst half.

Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.

Wie üblich brachte sein Kirai nichts.

Rath versuchte es noch einmal.

Ysk.

Der salzige Geschmack kehrte in seinen Mund zurück; es war ein Widerhall gemeinsamen Blutes.

Rath erhob sich, schüttelte den Staub der Straße von seinen Kleidern und folgte abermals dem Klang.

Auf den Feldern von Canderre

Achmed hielt sein Reittier an und drehte das Gesicht von dem Rücken und den Schultern der Frau weg, die vor ihm im Sattel saß. Sie war in einen Umhang aus Nebel gehüllt, der einen fauligen Gestank verströmte.

»Hrekin«, sagte er säuerlich. »Rhapsody, bei allem, was heilig und unheilig ist, was ist das für ein ekliger Geruch?«

»Ich glaub, jetzt hast du’s zum ersten Mal bemerkt«, sagte Grunthor fröhlich. »Kinder gehören zu den Dingen, die besser schmecken als riechen.«

Rhapsody kicherte. »Falls du dir auch nur eine Armeslänge von ihm entfernt die Lippen lecken solltest, werde ich dich mit der Tagessternfanfare ausweiden. Glaub nicht, dass ich dazu nicht in der Lage wäre, du kinderfressender Tölpel«, erwiderte sie.

Achmed stieß verärgert die Luft aus. »Als ich dir angeboten habe, auf meinem Pferd mitzureiten, habe ich das nur getan, weil dein Mann Angst hatte, du könntest in deinem geschwächten Zustand aus dem Sattel fallen« ,sagte er und hielt seine Nase so weit wie möglich vom Ursprung des Gestanks entfernt. »Du hast mich nicht gewarnt, dass dein Kind ein feines Wurfgeschoss abgeben würde – besser noch als verfaulter Küchenabfall oder toter Fisch.«

»Willst du eine Pause einlegen, damit ich ihm die Windeln wechseln kann?«, fragte Rhapsody und öffnete die Falten ihres Umhangs. Achmed zuckte zur Seite und bedeckte seine empfindlichen Nebenhöhlen. Das kleine Kind schlummerte tief; die schwarzen Wimpern säumten das rosige Gesicht, das im Licht des Mondes kaum sichtbar war. »Ich weiß, dass er schlecht riecht, aber ich glaube, es ist das Beste, wenn man schlafende Kinder in Ruhe lässt.«

Die drei verstummten und tauschten einen raschen Blick aus. Rhapsodys Bemerkung hatte sie unbeabsichtigt auf ihre missliche Lage aufmerksam gemacht.

Vor langer Zeit war in einem Gedicht eine Prophezeiung von drei schlafenden Kindern ausgesprochen worden, die allesamt unterschiedslos »das Schlafende Kind« genannt wurden.

Das Schlafende Kind, sie, die Jüngstgeborene,

Lebt weiter in Träumen, doch weilt sie beim Tod,

Der ihren Namen in sein Buch zu schreiben gebot,

Und keiner beweint sie, die Auserkorene.

Die Mittlere, sie liegt und schlummert leise,

Zwischen dem Himmel aus Wasser und treibendem Sand,

Hält stille, geduldig, Hand auf Hand,

Bis zu dem Tag, an dem sie antritt die Reise.

Das älteste Kind ruht tief, tief drinnen

Im immer stillen Schoß der Erden.

Noch nicht geboren, doch mit seinem Werden

Wird das Ende aller Zeit beginnen.

Das erste Kind in der Prophezeiung lag sicher in den Bergen von Achmeds Königreich. Es war das Erdenkind, bestand aus Lebendigem Stein und stammte aus der Zeit, als die Welt geboren worden war. Vielleicht war es sogar das Letzte seiner Art, das die Drachen aus der elementaren Erde geformt hatten und als ihren Nachkommen ansahen. Die Rippen des Kindes bestanden aus demselben Lebendigen Stein wie die Tiefe Kammer, in der die Dämonen gefangen gehalten wurden, und daher konnten sie als Schlüssel dienen, wenn das Kind in die Hände der F’dor fallen sollte.

Sie wussten, wo es sich befand.

Das zweite in der Prophezeiung erwähnte Kind war der Stern, der auf der anderen Seite der Welt ins Meer gestürzt war – derselbe Stern, der die Kammer zerschmettert hatte. Jener brennende Stern, der Tausende von Jahren unter den Meereswellen geschlafen hatte, war irgendwann wieder an die Oberfläche gekommen und hatte die Insel Serendair vor vierzehn Jahrhunderten in einer feurigen Sintflut überspült.

Doch trotz all der Vernichtung und der Leben, die dabei untergegangen waren, hatte das mittlere Kind weitaus weniger Schaden angerichtet, als es den anderen beiden möglich war.

Das dritte Schlafende Kind des Gedichts, das älteste, hatten sie während ihrer Reise entlang der Axis Mundi gesehen, der Wurzeln der Weltenbäume, die sie durch den Erdmittelpunkt geleitet hatten. Es war ein Wyrm von gewaltigen Ausmaßen, der beinahe ein Sechstel der Erdmasse einnahm und in den kalten, dunklen Wüsten unter dem Erdmantel schlief.

Und auf den Tag wartete, an dem die F’dor seinen Namen riefen und ihn weckten.

Worauf er die Erde verschlingen würde.

»Du musst die Windeln sofort wechseln«, sagte Achmed, während die Pferde auf der Stelle tänzelten. »Der Gestank brennt mir die Haut von der Innenseite meiner Augenlider.«

In der Ferne erregte eine rasche Bewegung seine Aufmerksamkeit. Wenn er sich nicht abgewandt hätte, um dem Gestank des Kindes zu entgehen, wäre sie ihm nie aufgefallen. Da war es wieder. Es war ein versteckter Hinweis darauf, dass sie zu Pferd verfolgt wurden.

Auch Grunthor hatte es gesehen. Er schnalzte den beiden Tieren zu, die als Packpferde dienten, und trottete mit ihnen weiter nach Osten.

Mit einer Schnelligkeit, die von jahrelanger Erfahrung herrührte, sprang Achmed still vom Rücken seines Pferdes. Überrascht schwankte Rhapsody im Sattel.

»Halt nicht an«, sagte er leise zu Grunthor. »Ich kümmere mich um sie.« Er wartete, bis die Pferde weitergetrabt waren, und suchte dann in einem blattlosen Busch am Wegesrand Unterschlupf.

Kurz darauf spürte er im Boden den Klang und die Schwingungen von herannahenden Hufen. Einen Moment später erschien eine Hand voll Soldaten in Ashes Uniformen, die rasch und leise den anderen Pferden vor ihnen folgten, aber keine Anstalten machten, diese einzuholen.

Die Art, wie sie im Sattel saßen, erregte Achmeds Aufmerksamkeit. Er hatte zugesehen, wie Anborn die cymrischen Krieger ausgebildet hatte, und wusste, dass seine Schüler nach vorn gebeugt auf ihren Pferden saßen, damit sie nicht leicht abgeworfen werden konnten und ihre Eingeweide geschützt waren. Aber die Soldaten, die nun die Straße hinabritten, saßen hoch aufgerichtet im Sattel und befanden sich damit im vollkommenen Gegensatz zu den vom Bündnis ausgebildeten Reitern.

Außerdem ritten sie auf den grauen Bergpferden Sorbolds.

Der Bolg-König kauerte sich zu Boden und fluchte stumm. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er sie bereits in einer Entfernung von einer Viertelmeile kommen gespürt. Er hätte ihre Herzschläge auf seiner Haut gefühlt und sie aus dieser Entfernung unter Beschuss nehmen können. Aber seine Blutgabe, die ihm als dem Erstgeborenen seiner Art auf der Insel Serendair verliehen worden war, war von ihm gewichen, als er die Insel verlassen hatte und im Wurzelgewirr der Sagia verschwunden war, dem Baum des elementaren Sternenlichts. Als er vierzehn Jahrhunderte später in diesem Land eingetroffen war, hatte er seine Fähigkeit, unbeirrbar dem Herzschlag jeder lebenden Kreatur zu folgen, verloren. Sie stand ihm ironischerweise nur dann noch zur Verfügung, wenn er mit jenen zusammen war, die gemeinsam mit ihm von Serendair gekommen waren.

Trotzdem besaß er noch beträchtliches Geschick und eine gute Ausbildung.

Leise lud Achmed den Arm seiner Cwellan mit drei hauchdünnen kreisförmigen Klingen. Diese Waffe hatte er vor einem ganzen Leben für sich selbst entworfen.

Er spannte sie und wartete.

Als die Kohorte ihn passierte, ohne ihn zu bemerken, schoss er den Männern zu Pferd in Rücken und Hals.

Die Klingen schnitten durch die Nähte in ihren Rüstungen. Er lud erneut, feuerte wieder und wieder, noch bevor der erste Körper auf den Boden schlug.

Er hörte, wie die reiterlosen Pferde in einiger Entfernung verwirrt stehen blieben.

Achmed ging auf sie zu, trat dabei über die Leichen und durchsuchte ihr Gepäck. Wie er erwartet hatte, gab es nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass sie keine Soldaten aus Roland waren. Er durchstöberte ihre Vorräte, verscheuchte die Pferde und suchte die Körper nach besonderen Merkmalen ab.

Weit vor sich sah er, wie Grunthor und Rhapsody anhielten und ihre Pferde wendeten. Er lief ihnen entgegen und ärgerte sich dabei, dass es nicht sein eigenes empfindsames Netz aus Nerven und Blutgefäßen, sondern die ekelhaften Absonderungen eines Neugeborenen gewesen waren, die ihn auf die Gegenwart ihrer Verfolger aufmerksam gemacht hatten.

»Ich werde allmählich zu alt für diesen Hrekin«, murmelte er.


Nachdem sie in jener Nacht ihr Lager aufgeschlagen hatten, das Kind gestillt war, seine Windeln gewechselt waren und es genauso friedlich wie die beiden Firbolg schlief, holte Rhapsody eine kleine Flöte aus ihrem Gepäck. Es war ein einfaches rotes Instrument, das sie auf Reisen immer mit sich führte. Während Meridion in ihrem Schoß schlummerte und wie immer in den Umhang aus Nebel gehüllt war, begann sie mit einer einfachen Melodie, die sie Ashe in ihren gemeinsamen Tagen oft am Feuer vorgespielt hatte.

Die Wolken im tintenschwarzen Himmel segelten still und gemächlich in der nächtlichen Brise. Rhapsody stellte sich vor, sie binde die Noten des Liedes an ihnen fest, um sie wie eine Liebesbotschaft durch den Himmel zu schicken. Dabei hoffte sie, dass ihr Gemahl unter demselben Firmament stand und dieselben Sterne betrachtete.

Als sie spielte, war sie sich zunächst der Tränen auf ihren Wangen nicht bewusst.

Das Gefühl eines tiefen und erstickenden Verlusts stieg brüllend in ihr auf und machte ihr Lied bitter und schrill. Rhapsody legte das Kinn auf die Brust und erinnerte sich an die gemeinsamen Reisetage, wo sie einander nicht vertraut und sich doch in der Gegenwart des anderen wohl gefühlt hatten, während sie sich langsam und unwiderruflich ineinander verliebt hatten.

Sie konnte nicht glauben, dass sie nun wieder getrennt waren.

Sie räusperte sich, wischte sich wild die Tränen aus dem Gesicht und begann erneut mit dem Lied, wobei sie das musikalische Muster seines Namens hineinwob. Als die Melodie vollständig war, sang sie sie leise nach, während sie noch in der Luft schwebte.

Gwydion ap Lianron ap Gwylliam tuatha d’Anwynen o Manosse, ich vermisse dich, stimmte sie an und lenkte die langen Klangwellen in den Wind, an die mit einem unsichtbaren Faden sein Name gebunden war. Ich liebe dich – vergiss mich nicht.

Dann rollte sie sich mit ihrem Kind zusammen, küsste es und fiel in einen Schlaf voller verwirrender Träume.


Weit entfernt, in der Festung von Haguefort, stand ihr Gemahl auf dem Balkon der Bibliothek und beobachtete den östlichen Himmel.

Der Wind fuhr ihm durch die Haare und brachte eine Wärme mit, die bisher noch nicht bis zu dem vom Winter eingehüllten Land vorgedrungen war. In diesem Wind lag ein Lied – ein Lied, das er vor langer Zeit gehört hatte, als Rhapsody ihn zu der Grotte von Elysian gerufen hatte, um ihm ein verloren geglaubtes Stück seiner Seele, das sie gefunden hatte, zurückzugeben.

In dieser Erinnerung hörte er ihre Stimme.

Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’Anwynen o Manosse, ich vermisse dich.

Ashe lächelte.

»Ich vermisse dich ebenfalls, Emily«, sagte er, auch wenn er wusste, dass sie ihn nicht würde hören können. »Aber ich werde dich heute Nacht in meinen Träumen wieder sehen. Mögen die deinen süß sein.«

Ich liebe dich – vergiss mich nicht.

»Als ob ich dich je vergessen könnte.« Der cymrische Herrscher stand lange unter dem Sternenhimmel, aber keine weitere Botschaft erreichte ihn.

Schließlich seufzte er und ging zu Bett, umhüllt von den warmen Erinnerungen an ein Mädchen auf einer Wiese – auf der anderen Seite der Zeit.

17

Am Waldrand zwischen Navarne und Gwynwald

Melisande war schon fast einen ganzen Tag gereist, als sie allmählich befürchtete, dass sie sich im Kreis bewegte.

Und sie war schon fast zwei Tage gereist, als sie befürchtete, dass sie verfolgt wurde.

In der Ferne hörte sie das Plätschern von Wasser und trieb ihr Pferd vorwärts, denn sie wusste, dass es durstig war. Unter einem Baum befand sich ein teilweise zugefrorener Teich, der von einer Quelle gespeist wurde. Sie glaubte, hier bereits am vergangenen Tag Rast gemacht zu haben. Melisande schluckte ihre Verzweiflung herunter, stieg ab und führte das Pferd zum Wasser. Während es trank, füllte sie ihren Wasserschlauch.

Aus den Augenwinkeln heraus glaubte sie eine Bewegung in nördlicher Richtung zu sehen, die kaum weiter als einen Steinwurf entfernt war, aber als sie genauer hinschaute, erkannte sie nichts als den verschneiten Wald, die immergrünen Bäume, deren Zweige sich schwer unter der eisigen Last beugten, und die Hecken sowie das Unterholz, das von kürzlich gefallenem Schnee überzogen war.

Melisande stand aufrecht da. Sie blickte noch angestrengter in das Grün, sah aber immer noch nichts. Trotzdem zog sie ihr Messer aus dem Stiefel und hielt es drohend vor sich.

»Zeigt euch«, verlangte sie von den Bäumen und Hügeln.

Nichts als der Wind antwortete ihr.

Sie wartete lange, dann kam sie sich närrisch vor und trank aus dem Teich. Sie bekämpfte die Stiche des Hungers und der Verzweiflung, kehrte zu ihrem Pferd zurück und wollte sich wieder auf den Weg machen.

Hinter ihr stand in einem Dickicht aus jungen Bäumen ein Mann, dem Aussehen nach ein Bauer oder Jäger. Er war mittleren Alters, hatte einen Bart und schaute düster drein. Sein Gesicht und seine Kleidung waren unauffällig. Er trug einen Mantel aus grobem braunem Tuch minderer Qualität und Stiefel aus Hirschleder. Wenn er nicht aus dem Dickicht getreten wäre, hätte sie ihn nicht bemerkt, so einfach und farblos war sein Äußeres. Ein langer, unten spitz zulaufender Weidenkorb und ein Köcher mit Pfeilen waren an seinem Rücken festgezurrt, und er trug einen Bogen in der Hand, doch andere Waffen waren nicht zu erkennen. Er sagte nichts, sondern beobachtete sie mit dunklen Augen, deren Blick scharf und ein wenig einschüchternd war.

Rasch zog Melisande wieder ihren Dolch.

»Bleib da, wo du bist«, sagte sie mit einer Stimme, von der sie hoffte, dass sie bedrohlich klang.

Der Fremde regte sich nicht.

Melisande ergriff die Zügel. »Keine Bewegung«, sagte sie.

Der Mann gehorchte und schwieg.

Das Mädchen drehte sich um und wollte gerade aufsteigen, doch da erinnerte es sich an sein Messer. Melisande umfasste es mit der rechten Hand und dachte noch einmal nach. Falls der Mann sie angreifen sollte, wäre sie im Nachteil, denn sie war Linkshänderin. Der Fremde sah ihr einfach nur zu, während sie überlegte. Schließlich steckte sie sich das Messer wie ein Pirat zwischen die Zähne und kletterte in den Sattel.

Der Mann beobachtete sie immer noch.

Melisande nahm das Messer aus dem Mund und zog an den Zügeln. Als sie bereit zur Abreise war, sagte der Fremde endlich etwas. Seine Stimme klang kehlig, als spreche er nicht oft.

»Bist du verletzt?«

Wenn ich es wäre, würde ich es dir sicherlich nicht sagen, dachte Melisande. »Nein«, antwortete sie, »aber du wirst es bald sein, falls du versuchen solltest, mich aufzuhalten.«

Der Mann zuckte die Achseln. »Du hast dich verirrt.«

»Ich bin die Herrin Melisande von Navarne, und inzwischen sucht bereits eine große Zahl Soldaten nach mir«, erwiderte Melisande und kämpfte hart darum, weiterhin tapfer zu wirken. »Du wirst dich jetzt wieder auf den Weg machen, genau wie ich selbst.«

Der Mann faltete die Hände.

»Und wohin seid Ihr unterwegs, Herrin Melisande Navarne? Ich kann Euch den Weg zeigen, es sei denn, Ihr wandert gern ziellos durch den Winterwald.« Der Mann schluckte, als wäre es für ihn unangenehm, so viele Wörter hintereinander hervorzubringen.

Melisande atmete tief ein. Sie würde ihm gern vertrauen, aber da sie vor kurzer Zeit noch die Freundlichkeit von Fremden im Wald hatte erleben dürfen, wollte sie diesen Mann nicht zu nahe an sich heranlassen.

»Ich bin auf dem Weg zum Kreis und will mit dem Fürbitter Gavin sprechen«, sagte sie schließlich.

Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. »Da seid Ihr aber auf dem falschen Weg. Der Kreis liegt westlich von hier, und Ihr reitet nach Süden.«

Melisande seufzte erbarmungswürdig.

»Ich könnte Euch dorthin bringen«, bot ihr der Mann an.

Das Pferd tänzelte auf der Stelle. Melisande rutschte im Sattel hin und her; ihre Beinmuskeln hatten sich verkrampft und schmerzten. »Warum sollte ich dir vertrauen?«, fragte sie und hoffte insgeheim, er werde ihr einen guten Grund nennen.

Der Mann schien gehen zu wollen. »Kommt mit mir, wenn Ihr wollt. Lasst es sein, wenn es Euch lieber ist. Wenn Ihr recht habt, werden die Soldaten Euch bald finden.« Er machte sich auf den Weg durch das Unterholz.

»Bist … bist du jemals dort gewesen?«, rief sie ihm nach.

»Wo?«

»Beim Kreis. Bist du schon einmal dorthin gegangen?«

Der Fremde blieb stehen und dachte nach. »Gelegentlich. Allerdings nicht oft.« Dann wandte er sich wieder ab und verschwand zwischen zwei Baumstämmen.

Melisande zögerte zunächst, doch da sie keine andere Möglichkeit sah, trieb sie ihr Pferd vorwärts, hielt allerdings einigen Abstand zu der braunen Gestalt, die auf verwirrende Weise mit dem Wald verschmolz.


Nach einigen Stunden fragte sich Melisande allmählich, ob der Fremde wollte, dass sie sich in diesem Wald noch mehr verirrte.

Er war zwar zu Fuß unterwegs, während sie ritt, doch er bewegte sich viel schneller als sie durch das Gehölz.

Ihr Magen knurrte und schnürte sich zusammen; seit dem Abendessen vor ihrem Aufbruch hatte sie nichts mehr zu sich genommen und war schwach vor Hunger. Als der Mann endlich zur Nacht anhielt, nahm sie all ihren Mut zusammen und redete ihn so höflich wie möglich an.

»Hast du … etwas zu essen, das du entbehren könntest?«

Der Fremde drehte sich zu ihr um und bedachte sie mit einem scharfen Blick. Kurz darauf nahm er den Weidenkorb von seinem Rücken, fischte darin herum und nahm ein in Stoff eingewickeltes Päckchen heraus. Er wickelte es aus, und es kam ein kleiner Laib hart gebackenen Schwarzbrotes zum Vorschein. Er trat auf sie zu und bot es ihr an. Rasch zog Melisande ihr Messer.

»Du isst zuerst etwas davon«, sagte sie und schwang dabei das Messer.

Der Mann nickte. Er ergriff den Laib und biss ein Stück vom Ende ab, kaute und schluckte es herunter. Er nahm einen weiteren Bissen, dann noch einen und steckte sich schließlich auch den gesamten Rest in den Mund. Er drehte sich um, lief in den Wald und ließ das niedergeschlagene Mädchen allein zurück.

Melisande stieß enttäuscht die Luft aus, trieb dann ihr Pferd an und folgte ihm. Nun, das war dumm von mir, tadelte sie sich. Vielleicht tut er ja das Richtige. Jedenfalls werde ich von nun an still sein.


Schweigend gingen sie weiter. Kein Laut war zu hören außer dem Winterwind und dem Geklapper der Pferdehufe. Allmählich bemerkte Melisande, dass der Wald sich veränderte. Zuerst schien er heller zu werden. Vielleicht lag hier mehr Schnee auf den Zweigen und Ästen der Bäume. Bald jedoch stellte sie fest, dass viele der Bäume selbst eine weiße oder blassgraue Rinde hatten. Es waren Erlen, Birken und Silberahorne. Aus ihren Studien wusste sie, dass die Vorsilbe Gwyn Weiß bedeutete, aber erst jetzt, als sie diesen Ort mit eigenen Augen sah, begriff sie, warum er so benannt worden war.

Auch gab es viele Stellen, an denen der Boden unter dem Tuch aus Schnee schwarz und versengt war und die Bäume Anzeichen von Brandschäden zeigten. An diesen Orten wuchsen neue Schösslinge und dichtes Unterholz. Die jungen Bäume trotzten aufrecht dem Winterwind und richteten sich dort ein, wo ein Unglück ihre Vorfahren vernichtet hatte. Melisande fühlte sich mit ihnen verwandt; genauso war es bei ihr und Gwydion.

Als die Sonne bereits sank, kamen sie tief im Wald schließlich zu einer größeren Lichtung, auf der ein kleines Dorf lag. Es gab etliche Häuser und Hütten, einige aus Stein und andere aus Lehm oder Fachwerk mit Torfdächern. Darüber hinaus sah Melisande mehrere große, aus Holz errichtete Gebäude mit schweren Türen und kegelförmigen Rieddächern.

Rauch stieg gemütlich aus den Kaminen der Gebäude auf.

Über den Türen der Hütten und Häuser hingen Amulette aus hell bemaltem oder eingelegtem Holz oder aus Emaille, die verzwickte und wunderschöne Muster trugen. Die meisten Gebäude hatten Gärten an der Seite oder im Hinterhof, die winterfest gemacht worden waren und im Frühling zweifellos eine Nahrungsquelle für die Bewohner der Häuser darstellten, die entweder getüncht waren oder Steinornamente als Schmuck besaßen.

Der Mann hatte die Hauptwege durch das Walddorf gemieden, aber Melisande sah dennoch, dass die Leute trotz der Kälte in Wollmänteln umherliefen, die mit Indigo, Goldrute oder Blattgrün gefärbt waren, um Blau, Gelb oder Grün hervorzubringen. Andere waren in Nussschalen oder Heidekraut getränkt, um erdigere Töne zu erzeugen: trauriges Braun und ernstes Grau. Diese Männer und Frauen trugen Körbe und Werkzeuge, und den Beschreibungen zufolge, die Melisande von ihrem Vater und von Rhapsody gehört hatte, vermutete sie, dass es sich um die Filiden handelte, die Naturpriester, die ihren Gottesdienst in dem von ihnen als heilig erachteten Wald abhielten und sich um den Großen Weißen Baum kümmerten, der am letzten der Orte stand, an denen angeblich die Zeit ihren Ausgang genommen hatte.

Zusätzlich zu den in Roben gekleideten Geistlichen sah sie bewaffnete Männer, die Bogen, Speere, Äxte und andere für Waldläufer und Späher typische Waffen mit sich führten und lederne Rüstungen trugen. Melisande bemerkte, dass die Kleidung des Fremden ähnlich der der Waldläufer war. Vermutlich war er einer von ihnen. Sie entspannte sich ein wenig. Wenn er Gavin diente oder ihn kannte, dann würde er ihr sicherlich nichts antun.

Kurz bevor die Sonne hinter dem Horizont versank, kamen sie zu einer großen Wiese mitten im Wald. Dort erhob sich der Große Weiße Baum, dessen Stamm heller als der Schnee war und dessen große, elfenbeinfarbene Zweige sich wie gewaltige Finger in den dämmerigen Himmel erhoben. Seine blasse Borke glimmerte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, und seine schiere Größe brachte Melisande dazu, ihr Pferd anzuhalten und ihn verblüfft anzustarren. An seiner Basis besaß er einen Durchmesser von mehr als fünfzig Fuß, und die ersten seiner gigantischen Äste erstreckten sich höher als hundert Fuß über dem Erdboden. Die Gesamtheit der Zweige bildete einen gewaltigen Baldachin, der über die anderen Bäume des Waldes reichte, als wolle er diese vor dem Himmel beschützen.

Um den Stamm war etwa hundert Ellen von den Stellen entfernt, wo die großen Wurzeln den Boden durchstachen, ein Ring von Bäumen gepflanzt, jeder von einer anderen Art. Noch weiter zurück säumten niedrige Steinmauern Wintergärten ein, die mit Bändern und grünen Zweigen geschmückt waren, zweifellos zur Feier des nahenden Frühlings. Vom Rücken ihres Pferdes aus betrachtete Melisande die überwältigende Schönheit, die man ihr bereits früher beschrieben hatte, doch bis jetzt hatte sie sich diesen Ort nicht recht vorstellen können.

Sie wusste nicht, wie lange sie in Gedanken verloren still dagesessen hatte; es hatte beinahe den Anschein, als wäre sie vor Erschöpfung und Anstrengung sowie unter dem Eindruck der Schönheit, die sie hier sah, auf dem Pferd eingeschlafen. Eine Stimme neben ihr weckte sie aus ihrem Tagtraum.

»Kind? Kann ich dir helfen?«

Melisande schaute nach unten. Der Mann war verschwunden.

Eine Frau stand neben dem Pferd. Sie trug eine indigorote Robe mit zurückgeschlagener Kapuze, war schlank und hatte dunkles Haar, durch das sich Silberfäden zogen. Ihr Gesicht und Körper zeigten viele Merkmale, die auch Rhapsody aufwies. Sie muss eine Lirin sein, bemerkte Melisande. Sie hatte schon früher Lirin gesehen, wenn auch selten, und jedes Mal hatte sie bei solchen Begegnungen an ihren Vater gedacht, der dieses Volk sehr geschätzt hatte.

»Äh, ja«, sagte sie und versuchte, ihre Erschöpfung abzuschütteln. »Ich bin hier, weil ich mit dem Fürbitter Gavin sprechen will.«

Die Augen der Frau weiteten sich, und sie lächelte. »Wirklich? Und wer bist du, mein Kind?«

Sie dachte daran, wie aufgeblasen und dumm sie geklungen hatte, als sie dem Mann begegnet war, und wie unbeeindruckt er gewesen war; also versuchte sie, eine größere Demut in ihre Stimme und ihre Worte zu legen.

»Ich heiße Melisande.«

»Also gut, Melisande, du scheinst sehr müde zu sein. Steig ab, und ich werde mich um dich kümmern. Mein Name ist Elara.«

Die Herrin von Navarne schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Ich muss wirklich mit Gavin reden. Ich komme von weit her, und er erwartet mich.«

Die Frau seufzte. »Ich weiß nicht einmal, ob er hier ist«, sagte sie und schaute unbehaglich drein. »Eigentlich glaube ich, dass er fortgegangen ist. Aber ich werde ihm eine Nachricht schicken, dass du eingetroffen bist. Komm jetzt herunter, ansonsten fällst du noch vom Pferd.«

Dankbar stieg Melisande ab. Als sie auf den Boden traf, stolperte sie. Sie war vom Hunger geschwächt und ihre Beine waren kraftlos. Die Naturpriesterin legte einen Arm um sie und führte sie zu einem großen Gebäude mit kegelförmigem Dach am äußeren Rand des Wintergartens, in dem viele Männer und Frauen in erdfarbenen Umhängen ein- und ausgingen.

Elara hielt ihr die seltsam beschnitzte Tür auf, über der ein Amulett aus fein gearbeitetem Holz hing, und bedeutete dem Kind mit einer Handbewegung, vor ihr einzutreten. Melisande gehorchte; in ihrem Kopf pochte es.

In dem hölzernen Gebäude, das von einem großen Kamin mit einem knisternden Feuer darin gewärmt wurde, standen viele lange, niedrige Tische und kurzbeinige Stühle, auf denen die Naturpriester saßen, aßen und miteinander redeten. Im Raum wurde es still, als Elara sie zu einem solchen Tisch führte und sie bat, sich zu setzen; dann wurden die Gespräche wieder aufgenommen.

»Warte hier, ich hole dir etwas zu essen«, sagte die Priesterin.

»Bitte, ich muss mit Gavin sprechen«, platzte Melisande heraus. Panik stieg in ihr auf. »Bitte. Du verstehst das nicht. Ich muss ihn unbedingt sehen.«

Elara drückte ihre Schulter. »Iss erst etwas«, meinte sie. »Ich werde eine Nachricht zu seinem Haus schicken. Wenn er da ist und dich auch sehen will, dann wird er nach dir schicken.«

»Vielen Dank«, sagte Melisande und kämpfte darum, nicht zu weinen. Sie biss die Zähne zusammen und nickte dankbar, als die Priesterin ihr einen Becher mit warmem, gewürztem Apfelwein und einen Teller mit dunklem Brot und Hartkäse brachte. Dann sagte sie leise etwas zu einem Mann in einer braunen Robe ohne Kapuze, der daraufhin Melisande kurz anstarrte und das Gebäude verließ.

Elara bedeutete ihr noch einmal, sich hinzusetzen. »Wie bist du hergekommen?«

»Ein Mann hat mich im Wald entdeckt«, erklärte sie zwischen einigen Schlucken warmen Apfelweins. »Er hat nicht viel geredet, aber als ich ihm gesagt habe, dass ich Gavin sehen muss, hat er mich zu dem Baum gebracht.«

»Das war vermutlich einer der Waldläufer«, sagte Elara. »Sie sind ziemlich wortkarg und still. Es ist ihre Aufgabe, den Wald zu durchstreifen und Hilfe zu leisten, wenn es nötig ist. Warum willst du denn unbedingt mit Gavin sprechen, Melisande?«

In ihrem Bauch breitete sich ein Gefühl aus, das demjenigen nicht unähnlich war, das sie immer bekam, wenn sie krank wurde und sich übergeben musste. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, doch sie überwanden alle Hindernisse und ergossen sich aus ihren Augen. »Wir wurden angegriffen. Die Kutscher sind tot, und die Soldaten vermutlich auch«, sagte sie und bekam einen Schluckauf. »Und vielleicht auch Ger … Gerald. Ich bin losgeschickt worden, um mit Gavin zu reden … und …«

Die Naturpriesterin machte ein entsetztes Gesicht und legte den Arm wieder um das Mädchen.

»Von wem bist du geschickt worden, Melisande? Wer sollte ein Kind zum Fürbitter der Filiden schicken? Verstehst du überhaupt, worum du bittest? Gavin ist der Anführer einer Religionsgemeinschaft mit mehr als drei Millionen Gläubigen. Es ist, als würdest du in die Basilika zu Sepulvarta gehen und mit dem Patriarchen sprechen wollen – oder zum Palast und den Herrn und die Herrin der Cymrer zu sehen wünschen.«

Melisande legte den Kopf auf die Arme. »Nun, der Herr und die Herrin der Cymrer haben mich zu ihm geschickt«, sagte sie unglücklich, »daher habe ich geglaubt, es wäre nicht schwierig.«

»Der … was?« Elara war sprachlos. Sie zog den Apfelwein und das Brot näher heran und sah schweigend zu, wie das Mädchen aß und trank.

Die geschnitzte Tür des Hauses wurde wieder geöffnet, und der Mann in der braunen Robe kehrte mit weit aufgerissenen Augen zurück. Er nickte Elara zu. Die filidische Priesterin schaute auf das Mädchen herunter und lächelte.

»Nun, dein Wunsch wird dir erfüllt werden. Komm, ich bringe dich zu Gavin.«

18

Die beiden filidischen Geistlichen warteten, bis Melisande mit dem Apfelwein und dem Käse fertig war. Sie stopfte das Brot in die Tasche ihres Umhangs und erntete dabei ein Lächeln von den beiden. Dann wurde sie wieder hinaus in den winterlichen Garten geführt, vorbei an vielen weiteren Leuten in Gewändern, die sich um die schlafenden Beete und widerstandsfähigen Sträucher kümmerten. Bald waren sie am Baumkreis angelangt, der den Großen Weißen Baum umgab.

Die Sonne war inzwischen hinter dem Horizont verschwunden und hinterließ tintenschwarze Wolken im Rest von Blau am Rande der Welt. Der Mond ging gerade auf; er hing tief am Himmel und verbreitete kaltes Licht auf der Wiese. Ein Pfad von dem Gebäude zum Kreis der Bäume und darüber hinaus bis zur anderen Seite der Wiese war von Laternen erhellt, die an hölzernen Pfosten hingen.

Je näher sie dem gigantischen Baum kamen, desto wärmer wurde es Melisande. Es war etwas Verzauberndes an diesem Baum, das bis in ihr Herz hineinreichte. Rhapsody hatte ihr von ihrer eigenen Zeit an diesem seltsamen Ort der Naturmagie berichtet und von den Waldläufern wie dem Mann, der sie zu dem Kreis gebracht hatte. Sie kümmerten sich um die Waldpfade, geleiteten Pilger an die Stätten, die all jenen heilig waren, welche dem Glauben der Filiden anhingen. Auch hatte Rhapsody Melisande von den ausgedehnten Kräutergärten erzählt, wo man die Arzneien und Kräuter zog, die bei den Ritualen benutzt wurden, und von den Heilern, die Verletzungen und Krankheiten sowohl bei Menschen als auch bei Tieren heilen konnten, und vor allem von dem Baum, der angeblich ein uraltes Lied sang, das in seiner Schönheit unbeschreiblich war. Melisande hörte dieses Lied nicht, aber sie spürte seine Macht.

Sie versuchte sich daran zu erinnern, was die cymrische Herrscherin über Gavin selbst gesagt hatte. Rhapsody hatte zusammen mit ihm Forschungen betrieben, hatte in seiner Gegenwart einen großen Teil des Waldes durchstreift und schien ihn sehr zu mögen, doch sie hatte wenig über ihn mitgeteilt, vor allem deshalb, weil niemand ihn wirklich gut zu kennen schien – nicht einmal die Waldläufer, die er persönlich ausbildete. Als Rhapsody ihm zum ersten Mal begegnet war, war er der Oberläufer gewesen und hatte das Amt des Fürbitters erst angenommen, als Ashes Vater Llauron seine menschliche Gestalt aufgegeben hatte und in die eines Drachen geschlüpft war. All das bildete ein ziemliches Durcheinander in Melisandes Kopf; sie war noch sehr klein gewesen, als diese Ereignisse stattgefunden hatten, und daher erschienen sie ihr kaum mehr als ein Märchen – ein Märchen, dessen Akteure sie kannte.

Als sie die dunkle Wiese überquerten, glaubte sie wieder Anzeichen eines kürzlich ausgebrochenen Feuers zu erkennen. Viele der Bäume im Kreis um den Großen Weißen Baum waren neu angepflanzt oder schlimm verbrannt, einschließlich des dichten Waldes aus uralten, hohen und ausladenden Bäumen, die um das Haus herum standen, auf das sie nun zugingen.

Im Gegensatz zu dem Haus, in dem Llauron gelebt und das sie auf Zeichnungen im Museum ihre Vaters gesehen hatte, war dieses kaum mehr als eine große Hütte mit einem hohen Walmdach und Wänden aus duftendem Zedernholz. Llaurons Haus war von seinem Vater Gwylliam dem Visionär zwischen den Bäumen errichtet worden und hatte diese in vielen seltsamen Winkeln umgeben. Teile davon hatten bis in den Baldachin aus Blättern gereicht, und ein Turm in der Mitte war so hoch gewesen, dass er über den Wald hinausgeblickt hatte. Das ganze Anwesen war von vielen schönen, gemütlichen Gärten umgeben gewesen. Melisande war von den Zeichnungen begeistert gewesen, und ihr Vater hatte ihr die großartigen Erfindungen beschrieben, die Gwylliam darin installiert hatte, um es den Pflanzen zu ermöglichen, in Glashäusern auch im Winter zu wachsen. Außerdem hatte es Röhren im Haus gegeben, durch welche die Leute mit anderen Leuten in anderen Räumen hatten sprechen können, und eine hoch gelegene Voliere mit Botenvögeln darin, die in wunderschönen Bambuskäfigen lebten; diese glichen den Zielgebäuden, zu welchen sie ihre Botschaften bringen sollten. Dort hatten Stephen und Ashe als Jungen viele glückliche Stunden verbracht. Der Gedanke an seine Miene, wenn er sich an jene Zeiten erinnerte, schmerzte sie trotz ihrer bezaubernden Umgebung.

Im Gegensatz zu diesen Beschreibungen war das neue Haus klar gegliedert und einfach; es war kaum größer als der Marstall in Haguefort, der eine Festung im Kleinen war. Die Fenster waren rund und hatten vorgelegte Holzläden mit einfachen Kästen darunter. Das Haus war einstöckig bis auf einen schmalen, weit über die Baumwipfel reichenden Aussichtsturm mit einer eingebauten Treppe. Zwei Laternen flankierten die Hütte, und ihre Flammen brannten hell, wenn auch nicht warm.

Das einzig Bemerkenswerte an diesem Gebäude war die Tür. In den Schatten, die die Laternen warfen, erschien sie von Ruß überzogen, aber nicht verbrannt. Sie war gewölbt und bestand aus einem Holz, das Melisande nicht kannte. Außerdem war sie von Salz angefressen. Die winzigen Überreste eines Bildnisses waren kaum mehr sichtbar; es war nur noch eine abgeblätterte Vergoldung zu erkennen, die einst ein mythisches Wesen, vielleicht einen Drachen oder einen Greif, bedeckt hatte.

Eine große, von schlafenden Gärten gesäumte Steinmauer führte zu der schweren Holztür, die von Waldläufern bewacht wurde.

»Hier lebt Gavin«, erklärte Elara. Sie ging zu den Wächtern und redete mit ihnen in einer Sprache, die Melisande nicht verstand. Die Wächter antworteten ihr in derselben Sprache. Elara nickte und drehte sich zu dem Mädchen um.

»Gavin ist beim Baum«, sagte sie. Mit dem Kopf deutete sie hinüber zu der Wiese, auf der sich eine große Anzahl Filiden und Waldläufer befanden. Einige kümmerten sich um den Wächterkreis der Bäume, andere berieten sich, wieder andere waren in rituelle Gebete versunken. »Komm.«

Melisande folgte ihr den Pfad zurück und bis hinter den Kreis der Wächterbäume zu einer Stelle unter einem gewaltigen weißen Ast, der im Licht des aufgehenden Mondes leuchtete.

Einige bärtige Männer in einfacher grüner und brauner Kleidung sprachen leise miteinander. Derjenige, der mit dem Rücken zu ihr stand, deutete in Richtung Norden, dann verneigten sich die anderen und verließen ihn. Er stand für einen Augenblick da, als ob er auf etwas lausche, das nur er allein hören konnte. Schließlich drehte er sich um und sah hinunter zu Melisande.

Es war der Waldläufer, der sie zum Kreis gebracht hatte.

»Gavin, das hier ist das Mädchen, von dem wir Euch berichtet haben«, sagte Elara. »Sein Name ist Melisande.«

Der Waldläufer nickte und verbarg ein Lächeln, als er das Entsetzen auf dem Gesicht des Mädchens sah. »Guten Tag, Herrin Melisande von Navarne.«

»Ihr seid Gavin?«, platzte Melisande heraus.

»Das bin ich.«

»Warum habt Ihr mir das nicht schon vorher gesagt?«

Der düstere Mann sah sie noch eingehender an. »Ihr habt mich nicht gefragt«, meinte er. »Ihr habt mir lediglich gesagt, wer Ihr seid.« Er gab Elara ein Zeichen. Die filidische Priesterin verneigte sich vor ihm, lächelte Melisande an und zog sich zurück, wobei sie den anderen im Kreis bedeutete, ihr zu folgen.

Gavin wartete, bis sie allein unter dem Großen Weißen Baum waren, und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen zu. »Ich rate Euch respektvoll, in Zukunft nach den Namen derjenigen in Eurer Umgebung zu fragen und bezüglich Eures eigenen weniger mitteilsam zu sein, Herrin. Ein tapferer Sinn kann nicht immer einen närrischen Kopf bezwingen.«

Im Licht der Laternen wurde Melisande rot. Der Fürbitter sah ihre Verlegenheit und bedeutete ihr, zusammen mit ihm näher an den Großen Weißen Baum heranzugehen.

»Wir befinden uns jetzt außerhalb des Windes und im Schutz des Baumes«, erklärte er, als sie unter den überhängenden Ästen Halt machten. »Hier ist der sicherste Ort im ganzen Wald für eine Unterredung, ohne dass man fürchten muss, belauscht zu werden. Sagt mir, Herrin Melisande von Navarne, warum hat die cymrische Herrscherin Euch zu mir geschickt?« In seinen dunklen Augen funkelte es. »Abgesehen von Eurem ausnehmend tapferen Geist und der bei jemand von Eurem Alter selten so ausgeprägten Fähigkeit zu überleben.«

Melisande holte tief Luft und versuchte sich an Rhapsodys Worte so zu erinnern, wie diese sie gesprochen hatte.

»Die cymrische Herrscherin hat mir aufgetragen, Euch zu bitten, mich zusammen mit einem vollen Kontingent Eurer besten Waldläufer und mit Eurem fähigsten Heiler zum Wald nord-nordöstlich des Tar’afel mitzunehmen, dort wo die Stechpalmen am dichtesten stehen. Sie hat gesagt, Ihr kennt den Ort.« Der Fürbitter nickte nachdenklich. »Ich soll Euch weiterhin bitten, Eure Waldläufer dort ausschwärmen zu lassen; sie sollen einen Abstand von einer halben Meile zueinander halten und eine Barriere bilden, die sich nach Nordwesten bis zum Meer erstreckt, und dabei alle ihnen zur Verfügung stehenden Fallen und Schlingen einsetzen, die zum Schutz der Barriere nötig sind. Dort sollen sie bleiben und keiner lebenden Seele den Zutritt erlauben.«

Der Fürbitter seufzte und betrachtete Melisande eingehend. Seine Augen glommen hell in der Dunkelheit.

»Wenn das geschehen ist, bittet sie darum, dass Ihr mich persönlich von diesem Ort aus weiterführt. Ein Bach ergießt sich dort in den Tar’afel. Wir sollen ihm nordwärts folgen, bis wir zum Spiegelsee kommen.«

Der Fürbitter schüttelte den Kopf. »Das ist heiliges Land, das ich noch nie betreten habe. Es ist das Reich der Drachin Elynsynos. Ich kenne keinen solchen See.«

»Sie hat gesagt, wir würden ihn sofort erkennen, denn sein Name beschreibt ihn vollkommen. Bei diesem See soll ich Euch verlassen und allein Weiterreisen. Sie bittet Euch, dort auf mich zu warten, aber nicht länger als drei Tage. Falls ich dann noch nicht zurückgekommen sein sollte, müsst Ihr wieder zum Kreis gehen.«

»Ich soll Euch Eurem Schicksal überlassen?«, fragte der Fürbitter.

Melisande seufzte. »Ich vermute es, ja.«

»Und Ihr habt Euch mit all dem einverstanden erklärt, Herrin Melisande von Navarne?«

Das Mädchen reckte die Schultern und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Nun reichte es dem Mann bis knapp über die Hüfte.

»Das habe ich. Und mir sind die Folgen vollkommen klar.«

»Und das ist alles? Ihr braucht mich lediglich als Geleitschutz in den verbotenen Ländern und wollt Euch dort einfach Eurem Schicksal überlassen?«

»Nein«, erwiderte Melisande rasch, als sie sich an den Rest ihrer Anweisungen erinnerte. »Ich erwarte, innerhalb der angegebenen Zeit mit einer oder zwei Bitten zu Euch zurückzukehren. Entweder werde ich Euch darum ersuchen, mich zusammen mit dem Heiler zu begleiten, oder wir müssen die Höhle der Drachin versiegeln.«

Plötzlich wurde der Fürbitter starr. »Was ist mit Elynsynos geschehen?«, fragte er besorgt.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Melisande offen. »Aber Rhapsody befürchtet das Schlimmste.«

»Das sind in der Tat schlechte Neuigkeiten«, meinte der Fürbitter und drehte sich dem silbernen Stamm des Großen Weißen Baumes zu. Er schwieg eine Weile und wandte sich dann wieder an Melisande.

»Wenn Ihr wirklich bereit seid, diese Aufgabe zu übernehmen, dann ist es mir eine Ehre, Euch zu begleiten«, sagte er schließlich. »Ich habe noch zwei letzte Fragen an Euch, Melisande von Navarne.«

»Ja?«

»Wie alt seid Ihr?«

»Neun«, antwortete sie. »Aber ich werde am ersten Frühlingstag zehn, was also nicht mehr lange dauert.«

Der Fürbitter nickte. »Und wie alt fühlt Ihr Euch heute?«

Melisande zog zunächst verwirrt und dann nachdenklich die Brauen zusammen.

»Viel älter«, sagte sie. »Mindestens zwölf.«

»Sehr gut«, meinte der Fürbitter.

»Darf ich Euch jetzt auch etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Wie habt Ihr mich im Wald gefunden? Wisst Ihr, ob mein Kammerherr und die Soldaten noch leben?«

Der Fürbitter lächelte. Es war ein ungewöhnlicher Gesichtsausdruck, den er offenbar nur sehr selten aufsetzte.

»Zuerst zur zweiten Frage. Euer Kammerherr lebt wirklich noch und auch zwei Eurer Soldaten. Sie wurden von meinen Waldläufern entdeckt und sind unter Geleitschutz nach Haguefort zurückgekehrt.

Und zu der Frage, wie ich auf Euch gestoßen bin – die Wälder haben mir gesagt, dass da eine tapfere junge Frau ist, die ihre Angreifer abgeschüttelt und sich dann verirrt hat. Ich bin auf die Suche nach Euch gegangen, denn eine solche Person wie Ihr darf nicht den Launen des Schicksals und Unglücks überlassen werden. Und das werde ich wieder tun, Herrin Melisande Navarne. Glaubt mir, was auch immer geschehen wird, ich werde Euch zu Hilfe kommen.«

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