TEIL 3 Chaostheorie

Niemand wählt das Böse, weil es böse ist;

man verwechselt es lediglich mit Glückseligkeit,

mit dem Guten, nach dem man sich verzehrt.

Mary Wollstonecraft-Shelley



Siebzehn

In der Nähe des Hartsfield Airport hört es endlich auf zu regnen. Über ihnen schimmern die Wolken noch immer silbrig metallisch und hängen weiterhin tief. Die Temperatur ist zwar deutlich zurückgegangen, aber es fühlt sich trotzdem gut an, innerhalb einer knappen Stunde so weit gekommen zu sein. Der Highway 85 ist weniger verstopft als die Interstate 20, auf der sie gekommen waren, und die Anzahl von Beißern hat sich ebenfalls merklich verringert. Die meisten Gebäude zu ihrer Linken und Rechten sind noch unversehrt, die Fenster und Türen verriegelt und mit Brettern vernagelt. Die wenigen umherstreunenden Untoten stolpern durch die Gegend, als ob sie zur Landschaft gehörten. Das ganze Land scheint infiziert zu sein, sämtliche Städte sind tot. Als sie so dahinfahren, können sie sich eines Gefühls der Trostlosigkeit nicht erwehren. Trotzdem kommt es ihnen nicht wie das Ende der Welt vor.

Das einzige drängende Problem, vor dem sie stehen, ist die Tatsache, dass jede Tankstelle oder jeder liegen gebliebene Tanklaster vor Beißern nur so wimmelt. Außerdem macht sich Brian Sorgen um Penny. Bei jedem Zwischenhalt – entweder, um sich zu erleichtern oder um nach Essen zu suchen – wirkt ihr Gesicht abgespannter, und ihre kleinen Lippen sind rissiger. Brian befürchtet, sie könnte dehydrieren. Verdammt, sie alle haben schon viel zu lange nichts mehr getrunken.

Ein leerer Bauch ist eine Sache – man vermag lange Zeit ohne Essen auszukommen –, aber ohne Wasser kann die Lage rasch kritisch werden.

Fünfzehn Kilometer südwestlich von Hartsfield hat sich die Landschaft zu einem Flickwerk aus Kiefernwäldern und Sojabohnenfeldern aufgelockert. Brian überlegt inzwischen, ob sie nicht vielleicht das Wasser aus den Motorradkühlern trinken könnten. Auf einmal sieht er ein grünes Schild in der Ferne, auf dem die lang erwartete Ankündigung »Raststätte – 2 km« steht. Philip gibt ein Zeichen, die nächste Ausfahrt zu nehmen.

Als sie den Berg zum Parkplatz hinauftuckern, neben dem eine kleine Touristeninformation steht, fällt Brian ein Stein vom Herzen. Weit und breit ist niemand zu sehen – weder Lebende noch Tote.

»Philip, was ist in Atlanta passiert?«

Brian sitzt an einem Picknicktisch, der auf einer kleinen Grasfläche hinter den Toilettenhäuschen steht. Philip tigert vor ihm auf und ab und nimmt immer wieder einen Schluck aus der Evian-Flasche, die er aus einem Verkaufsautomaten genommen hat. Er blickt zu Nick und Penny hinüber, die ein Stück entfernt auf einem verwahrlosten Kinderspielplatz spielen. Penny sitzt auf einem kleinen Karussell unter einer kranken Eiche, und Nick schiebt sie an. Das Mädchen wirkt freudlos und starrt vor sich hin, während es sich im Kreis dreht.

»Ich habe mich doch klar und deutlich ausgedrückt. Ich will nicht darüber reden«, knurrt Philip.

»Ich glaube aber trotzdem, dass du mir eine Antwort schuldig bist.«

»Ich bin niemandem etwas schuldig.«

»Irgendetwas ist passiert, und zwar an jenem Abend oder in der Nacht«, drängt Brian weiter. Er hat keine Angst mehr vor seinem Bruder. Ein Ausbruch von Gewalt zwischen den beiden Blake-Brüdern scheint wahrscheinlicher als je zuvor, aber das lässt Brian kalt. Etwas ist mit ihm passiert, etwas Grundlegendes wie eine seismische Verschiebung. Wenn Philip ihn erwürgen will, dann soll es eben so sein. »War es etwas zwischen dir und April?«

Philip wird auf einmal ruhig und senkt den Blick. »Na und? Was würde das für einen Unterschied machen?«

»Das würde einen Riesenunterschied machen – jedenfalls für mich. Unser Leben steht hier auf dem Spiel. In der Wohnung standen unsere Chancen noch recht gut. Und nun hat sich das Ganze einfach in Luft aufgelöst …«

Philip blickt auf. Seine Augen sind jetzt auf Brian gerichtet. »Brian, lass es gut sein«, sagt er mit drohender Stimme.

»Verrate mir noch eines. Du warst doch so scharf darauf, von dort wegzukommen. Hast du auch einen Plan, wie es weitergehen soll?«

»Was?«

»Hast du so etwas wie eine Strategie? Irgendeine Idee, was als Nächstes kommen soll?«

»Was soll das? Bist du auf einmal Touriführer geworden oder was?«

»Was ist, wenn es wieder mehr Beißer werden? Wir haben kaum etwas anderes als unsere Fäuste, um sie zu bekämpfen.«

»Dann finden wir eben etwas.«

»Philip, was hast du mit uns vor?«

Philip wendet sich ab und schlägt den Kragen seiner Lederjacke hoch. Er starrt auf den Highway, der sich durch die Landschaft nach Westen bis zum Horizont hochschlängelt. »Noch einen Monat oder so und der Winter kommt. Ich bin dafür, dass wir weiter nach Südwesten fahren … Bis zum Mississippi.«

»Und was sollen wir da?«

»Von dort ist es einfach, nach Süden zu gelangen.«

»Und?«

Philip dreht sich um und fixiert Brian finster. In seinem tief gezeichneten Gesicht spiegelt sich eine Mischung aus Entschlossenheit und Verzweiflung wider, als ob er gar nicht an das glauben würde, was er sagt. »Wir finden schon einen Ort, an dem wir uns niederlassen können und zwar dauerhaft. Im Warmen. Wie Mobile oder Biloxi, vielleicht sogar New Orleans … Ich weiß noch nicht. Irgendwo, wo es angenehm ist.«

Brian stöhnt erschöpft auf. »Das hört sich so einfach an. Wir müssen nur nach Süden.«

»Wenn du einen besseren Plan hast, würde ich ihn gerne hören.«

»Ein langfristiger Plan ist ein Luxus, den ich mir schon lange nicht mehr leiste.«

»Wir schaffen das.«

»Wir müssen uns um Essen kümmern, Philip. Ich mache mir Sorgen um Penny. Sie muss etwas Vernünftiges in den Bauch bekommen.«

»Penny ist meine Tochter. Die Sorgen um sie kannst du mir überlassen.«

»Sie rührt nicht einmal einen Kuchen mit Cremefüllung an. Kannst du das verstehen? Ein Kind, das keinen Kuchen mag! Wo gibt es denn so was?«

»Kuchen! Das ist doch lächerlich«, knurrt Philip. »Würde ich an ihrer Stelle auch nicht. Wir finden schon etwas. Penny schafft das. Die Kleine ist zäh … wie ihre Mutter.«

Da hat er recht, denkt Brian. Bisher hat sich die Kleine verdammt gut über Wasser gehalten. Insgeheim ist sich Brian nicht einmal sicher, ob sie nicht diejenige ist, die ihre Gruppe zusammenhält und die Männer davon abhält, sich gegenseitig kaputt zu machen.

Er wirft einen Blick auf Penny. Verträumt fährt sie auf dem rostigen Karussell im Kreis. Nick hat keine Lust mehr, sie weiter anzuschieben und gibt dem Karussell stattdessen ab und zu nur einen Tritt.

Hinter dem Spielplatz hebt sich die Landschaft zu einer mit Bäumen bewachsenen Kuppe, auf der in der blassen Sonne ein kleiner, dem Wind ausgesetzter Friedhof liegt.

Penny und Nick reden ein wenig miteinander. Brian hat den Eindruck, als ob sie ihn über etwas ausfragen würde. Er wundert sich, was es sein könnte, denn die Kleine macht einen besorgten Eindruck.

»Onkel Nick?« Pennys kleines Gesicht ist vor Sorge ganz starr. Langsam dreht sie auf dem Karussell ihre Runden. Sie nennt Nick schon seit Jahren »Onkel«, obwohl sie weiß, dass er in Wirklichkeit nicht ihr Onkel ist. Die Bezeichnung hat in Nick schon immer etwas wie Sehnsucht ausgelöst – die Sehnsucht, dass er irgendwann einmal vielleicht ein richtiger Onkel wird.

»Ja, Kleines?« Ein bleiernes Gefühl legt sich auf Nick Parsons’ Gemüt, während er das Karussell geistesabwesend immmer wieder mal anschiebt. Er kann die Brüder Blake im Augenwinkel sehen. Sie scheinen sich zu streiten.

»Ist Daddy sauer auf mich?«, fragt Penny.

Nick versteht nicht, was sie meint. Das Mädchen starrt auf den Boden, während es langsam im Kreis herumfährt. Nick wählt seine Worte mit Bedacht. »Natürlich nicht. Er ist nicht sauer auf dich. Was hat dich denn auf diese Idee gebracht?«

»Er redet nicht mehr so viel wie früher mit mir.«

Nick bremst das Karussell langsam ab, bis es steht. Penny schaukelt jetzt mit dem Kopf vor und zurück. Nick klopft ihr sanft auf die Schulter. »Hör zu. Ich verspreche dir, dass dich dein Daddy mehr als alles andere auf der Welt liebt.«

»Ich weiß.«

»Er hat nur gerade sehr viel um die Ohren. Deshalb ist er so.«

»Glaubst du nicht, dass er sauer auf mich ist?«

»Nie und nimmer. Er hat dich sehr lieb, Penny. Das kannst du mir glauben. Er hat nur … nur viel um die Ohren.«

»Ja … Kann sein.«

»Wir alle haben viel um die Ohren.«

»Ja.«

»Ich bin mir sicher, dass keiner von uns in letzter Zeit viel geredet hat.«

»Onkel Nick?«

»Ja, Süße?«

»Glaubst du, dass Onkel Brian sauer auf mich ist?«

»Um Gottes willen, nein. Warum in aller Welt sollte Onkel Brian sauer auf dich sein?«

»Vielleicht, weil er mich die ganze Zeit durch die Gegend tragen muss?«

Nick lächelt traurig. Er mustert ihre Miene, ihre sorgenvoll gerunzelte Stirn und streichelt ihr über die Wange. »Jetzt hör mir mal zu. Du bist das mutigste kleine Mädchen, das mir je über den Weg gelaufen ist. Und das sage ich nicht einfach so. Du bist eine Blake … Und darauf kannst du stolz sein.«

Sie denkt über seine Worte nach, und ein Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. »Weißt du, was ich tun werde?«

»Nein, Liebes. Verrat es mir.«

»Ich werde die kaputten Puppen wieder heil machen. Du wirst schon sehen. Ich werde sie alle wieder gesund machen.«

Nick lächelt sie an. »Das ist ein prima Plan.«

Er fragte sich schon, ob er das kleine Mädchen jemals wieder fröhlich erleben würde.

Einen Augenblick später sieht Brian Blake aus dem Augenwinkel, wie sich etwas auf der anderen Seite der Raststätte zwischen den Picknicktischen bewegt. In hundert Meter Entfernung, hinter der Raststätte inmitten der zerfallenen Grabsteine mit ihren verblassten Inschriften und kaputten Plastikblumen braut sich etwas zusammen.

Brian starrt auf die drei Gestalten in der Ferne, die jetzt aus dem Schatten der Bäume treten. Unsicher stolpern sie auf Brian und die anderen zu – wie träge Bluthunde, die ihre Beute aufgespürt haben. Es ist schwer, es aus dieser Entfernung genau einzuschätzen, aber ihre Kleider machen den Anschein, als ob sie aus Versehen in einen Mähdrescher geworfen worden wären. Ihre Münder stehen in immerwährender Qual offen.

»Zeit, dass wir uns auf die Socken machen«, meint Philip locker und läuft zum Spielplatz. Sein Gang ist schwer und hat etwas beinahe Mechanisches an sich.

Brian eilt ihm hinterher. Plötzlich drängt sich ihm der Gedanke auf, dass sein Bruder, dessen muskulöse Arme an den Seiten herabhängen und auf dessen Schultern die Sorgen der Welt zu lasten scheinen, beinahe selbst ein Zombie sein könnte.

Sie fahren und fahren. Hauptsache weg von Atlanta. Immer wieder kommen sie an kleinen Städtchen vorbei, die so still in der Landschaft liegen, als ob sie Modellbauten in einem Museum wären. Das blaue Licht der Abenddämmerung zieht seinen Schleier über den bewölkten Himmel, und der Wind schlägt eiskalt gegen ihr Visier, während sie Autowracks und menschenleeren Wohnwagen ausweichen. Sie befinden sich noch immer auf dem Highway 85. Brian überlegt. Sie müssen bald ein Nachtquartier suchen.

Auf dem Sitz hinter Nick hat Brian mit tränenden Augen und dröhnenden Ohren vom Rauschen des Windes und dem Geräusch des Doppelnockenwellenmotors der Harley genügend Zeit, sich die perfekte Bleibe für den erschöpften Reisenden im Land der Toten vorzustellen. Er träumt von einer riesigen Festung mit Gärten und Wachtürmen. Er würde seine linke Hand für ein Steak mit Pommes geben. Oder für eine Flasche Cola. Selbst ein Stück des Fleisches, das die Chalmers immer aufgetischt haben …

Etwas spiegelt sich auf der Innenseite seines Visiers wider und reißt ihn abrupt aus den Gedanken.

Er wirft einen Blick über die Schulter.

Merkwürdig. Für einen winzigen Augenblick verspürte er etwas in seinem Nacken – flüchtig wie ein Kuss kalter Lippen. Es passierte genau im selben Moment, in dem er einen dunklen Punkt über sein Visier huschen sah. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er glaubt, auch etwas im Seitenspiegel gesehen zu haben – und zwar kurz bevor Nick nach Süden lenkte.

Er wirft erneut einen Blick nach hinten, sieht aber nichts als die leere Straße, die sich durch die Landschaft schlängelt und hinter einem Wäldchen verschwindet. Er zuckt mit den Achseln und widmet sich erneut seinen Fantasien.

Sie fahren immer tiefer ins Hinterland, bis sie an kaputten Farmhäusern und wilden Landstrichen vorbeikommen. Die sanfte Hügellandschaft mit ihren Bohnenfeldern fällt nach links und rechts ab. Das hier ist alte Erde – prähistorisch, müde und über Generationen hinweg zu Tode bewirtschaftet. Die Überreste alter Maschinen liegen überwachsen tief im Morast der Felder.

Die Dämmerung weicht langsam der Nacht, und das Grau des Himmels verfärbt sich zu einem tiefen Indigoblau. Neunzehn Uhr. Brian hat die Sache mit der Spiegelung in seinem Visier inzwischen vergessen. Sie müssen sich langsam um eine Unterkunft kümmern. Philip schaltet sein Licht ein. Das Motorrad wirft einen silbrigen Strahl auf die länger werdenden Schatten.

Brian will den anderen gerade Bescheid geben, dass sie nicht mehr viel Zeit haben, um etwas zu finden, aber Philip kommt ihm zuvor. Er gibt ein Handzeichen, ehe er nach rechts deutet. Brians Blick folgt der Geste nach Norden, und er sieht, worauf es sein Bruder abgesehen hat.

In der Ferne vor den Hügeln kann man die Silhouette eines Hauses erkennen. Es ist noch so klein, dass es wie aus Papier gemacht aussieht. Wenn ihn Philip nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, wäre es Brian nicht aufgefallen. Jetzt aber weiß er, warum es Philip darauf abgesehen hat. Es scheint eines dieser alten Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert, vielleicht sogar aus dem achtzehnten Jahrhundert zu sein – wahrscheinlich das ehemalige Herrenhaus einer Plantage.

Erneut bemerkt Brian etwas, das in seinen Augenwinkeln vorbeihuscht. Diesmal hat er auch einen Blick im Seitenspiegel erhascht … Es ist hinter ihnen und schnellt für den Bruchteil einer Sekunde durch sein Blickfeld.

Dann ist es wieder verschwunden, und Brian dreht sich auf seinem Sitz, um einen Blick über die Schulter zu werfen.

Sie nehmen die nächste Ausfahrt und schießen dann einen staubigen Feldweg entlang. Während sie sich dem Haus nähern, das einsam auf einer Hügelkuppe eines Gebirgsausläufers einen knappen Kilometer vom Highway entfernt steht, fährt Brian die Kälte so sehr in die Knochen, dass er zittern muss. Auf einmal erfüllt ihn eine Vorahnung, obwohl das Haus immer einladender aussieht, je näher sie kommen. Dieser Teil von Georgia ist für seine Pfirsich-, Feigen- und Pflaumenplantagen berühmt, und als sie die Auffahrt zum Haus entlangfahren, wird es immer offensichtlicher, dass es sich hier um ein in die Jahre gekommenes Prachtexemplar eines Herrenhauses handelt.

Von Pfirsichbäumen umsäumt, die sich wie die Speichen eines Rads mit dem Haus in der Mitte in die Landschaft hineinziehen, steht das zweistöckige Ziegelsteingebäude mit seinen kunstvoll verzierten Dachgauben und Dachfenstern und einem Dach, das bei einer alten, verfallenen italienischen Villa nicht fehl am Platz gewesen wäre, majestätisch da. Die Veranda ist ein fünfzehn Meter langer Säulenvorbau mit Balustraden und Fenstern, die gerade noch unter dem sprießenden Efeu und der Bougainvillea hervorlugen. In dem dahinschwindenden Licht erscheint das Gebäude wie ein Geisterschiff, das noch aus den Zeiten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg stammen könnte.

Der Lärm und die Abgase der Harleys wirbeln die staubige Luft auf, als Philip vor das Haus fährt, wo ein Springbrunnen aus Marmor steht; das Becken ist schon seit langem nicht mehr gesäubert worden. Rechts befinden sich mehrere Außengebäude, die Stallungen sein könnten. Ein mit Hirsegras überwachsener Traktor steht in der Nähe, während zur Linken der Villa ein Kutschenhaus in die Höhe ragt, in das locker sechs Autos passen.

Brian registriert diesen Überfluss alten Geldes allerdings überhaupt nicht, als sie sich langsam einer Seitentür zwischen Garage und Villa nähern.

Philip bremst und wirbelt eine große Staubwolke auf. Er schaltet den Motor ab und mustert das lachsfarbene Ziegelgebäude. Nick kommt neben ihm zum Stehen und klappt den Ständer herunter. Niemand sagt ein Wort. Philip steigt ab und wendet sich an Penny. »Warte hier auf mich, Liebling.«

Nick und Brian steigen ebenfalls ab und strecken sich.

»Hast du den Baseballschläger zur Hand?«, fragt Philip, ohne die beiden anzuschauen.

»Glaubst du, dass da noch jemand ist?«, will Nick wissen.

»Man weiß nie.«

Philip wartet, bis Nick den Baseballschläger geholt hat, der zwischen Rahmen und Staufach seiner Maschine klemmt. Er reicht ihn Philip.

»Ihr bleibt bei Penny«, verkündet Philip und geht auf die Veranda zu.

Brian ergreift den Arm seines Bruders und hält ihn fest.

»Philip …« Brian will ihm von den dunklen Schatten erzählen, die über Visier und Seitenspiegel gehuscht sind, entscheidet sich dann aber dagegen. Er ist sich nicht sicher, ob Penny das hören soll.

»Was ist denn schon wieder?«, fährt Philip ihn an.

Brian schluckt. »Ich glaube, wir werden verfolgt.«

Die ehemaligen Bewohner der Villa gibt es hier schon seit langem nicht mehr. Drinnen sieht es so aus, als ob sie bereits Jahrzehnte vor Ausbruch der Plage ausgezogen wären. Vergilbte Laken hängen über den antiken Möbeln. Viele Zimmer sind leer, staubige Mahnmale einer anderen Zeit. Eine Standuhr tickt leise im Salon vor sich hin, und Zeugen einer längst vergangenen Ära schmücken die Villa: kunstvoll gearbeiteter Stuck, Fenstertüren und eine riesige Rundtreppe sowie zwei Kaminsimse mit Feuerstellen, so groß wie begehbare Kleiderschränke. Unter einem Laken lugt ein Flügel hervor, unter einem anderen eine uralte Musiktruhe, und ein drittes Laken ist über einen Holzofen geworfen.

Philip und Nick suchen das obere Stockwerk nach Zombies ab, finden aber nichts weiter als staubige Überreste des Alten Südens: eine Bibliothek, ein Flur voller Ölgemälde von Generälen der Konförderierten in vergoldeten Rahmen, ein Kinderzimmer mit einer verstaubten alten Wiege, die noch aus Kolonialzeiten stammt. Die Küche ist überraschend klein – ein weiteres Überbleibsel aus dem neunzehnten Jahrhundert, als noch Sklaven oder Bedienstete das Kochen erledigten. Doch die Regale der gigantischen Speisekammer brechen beinahe unter der Last verstaubter Konserven zusammen. Jegliches Getreide und Reis sind bereits mehlig und voller Maden und Würmer, aber die Auswahl an konservierten Früchten und Gemüse ist atemberaubend.

»Du hast Wahnvorstellungen, Junge«, erklärt Philip leise, als sie vor dem prasselnden Feuer im Hauptsalon sitzen. Sie haben Feuerholz neben der Scheune gefunden. Es ist das erste Mal, dass sie sich wärmen, seitdem sie Atlanta verlassen haben. Die Wärme und der Schutz, den die Villa bietet, sowie die eingelegten Pfirsiche und Okraschoten lassen Penny auf der Stelle einschlafen. Im Augenblick liegt sie unter einer dicken Daunenbettdecke in einem Kinderzimmer im ersten Stock. Nick schläft im Zimmer daneben, aber die beiden Brüder leiden an Schlaflosigkeit. »Wer zum Teufel sollte uns schon folgen?«, fügt Philip hinzu und nimmt einen weiteren Schluck von dem Sherry, den er in der Speisekammer gefunden hat.

»Ich sage nur, was ich gesehen habe«, erwidert Brian und wippt nervös auf dem Schaukelstuhl vor und zurück. Er hat ein trockenes Hemd und eine Trainingshose übergezogen und fühlt sich beinahe wieder menschlich. Missmutig mustert er seinen Bruder, der in das Feuer starrt, als ob ihm darin ein Geheimnis offenbart werden würde.

Aus irgendeinem Grund bricht Philips hageres, besorgtes Gesicht, auf das die Flammen ihre Schatten werfen, Brian beinahe das Herz. Er erinnert sich an frühere gemeinsame Ausflüge in den Wald. Damals verbrachten sie die Nächte entweder im Zelt oder in einer Holzhütte. Er kann sich seines ersten Biers mit seinem Bruder entsinnen; Brian war damals dreizehn und Philip erst zehn. Schon damals trank ihn Philip förmlich unter den Tisch.

»Vielleicht war es ja ein Auto«, fährt Brian fort. »Oder ein Minivan. Kann ich nicht genau sagen. Aber ich schwöre, dass ich es gesehen habe … Und wenn es uns nicht hinterhergefahren ist, dann weiß ich nicht, was es sonst dort gemacht hat.«

»Was soll’s, wenn uns tatsächlich jemand verfolgt? Wen kümmert das?«

Brian überlegt eine Weile. »Nun … Wenn sie uns gut gesinnt sind … Ich nehme an, sie würden irgendwie Kontakt aufnehmen wollen. Entweder indem sie uns einholen oder uns irgendein Zeichen geben.«

»Wer weiß …« Philip starrt auf das prasselnde Feuer, aber seine Gedanken sind woanders. »Um wen auch immer es sich handeln mag … Wenn sie da draußen sind, dann geht es ihnen höchstwahrscheinlich genauso mies wie uns.«

»Könnte sein«, gibt Brian zu. »Vielleicht haben sie ja auch einfach Angst. Vielleicht … Vielleicht spionieren sie uns auch erst einmal aus.«

»Hier wird sich niemand einfach so an uns heranschleichen können, das verspreche ich dir.«

»Ist gut, Philip. Ist gut.«

Brian weiß genau, was sein Bruder damit sagen will. Die Lage der Villa ist ideal. Sie liegt auf einer Anhöhe, von der aus man kilometerweit in alle Richtungen über kahle Bäume hinwegblicken kann. Sie würden jeden Angreifer früh genug ausmachen können. Selbst bei Neumond ist die Obstplantage so still, dass es niemand schaffen würde, sich heranzuschleichen, ohne vorher entdeckt zu werden. Philip dachte zudem bereits laut über Stolperdrähte im Garten nach, damit sie rechtzeitig vor etwaigen Eindringlingen gewarnt werden würden.

Außerdem bietet das Haus alle Annehmlichkeiten, die man zum Leben braucht. Vielleicht könnten sie hier sogar den Winter verbringen. Im Hinterhof befindet sich ein Brunnen, der Traktor hat noch Diesel im Tank, es gibt eine Garage für die Harleys und Obstbäume, so weit das Auge reicht. An manchen hängen sogar noch essbare Früchte, wenn auch ihnen der Frost bereits arg zugesetzt hat. Und es ist genügend Feuerholz da, um den Ofen und die Kamine über Monate hinweg zu heizen. Das einzige Problem, das sie haben, sind Waffen. Sie durchsuchten die Villa von oben bis unten und fanden lediglich ein paar brauchbare Dinge in der Scheune: eine rostige, alte Sense und eine Heugabel. Schusswaffen waren jedoch nirgendwo zu entdecken.

»Alles klar?«, fragt Brian nach einer langen Schweigepause.

»Und wie.«

»Sicher?«

»Ja, Mutti.« Philip starrt weiterhin ins Feuer. »Nach ein paar Tagen hier werden wir alle fit wie Turnschuhe sein.«

»Philip?«

»Was?«

»Darf ich etwas sagen?«

»Mann, was kommt jetzt?« Philip starrt noch immer auf die lodernden Flammen. Er hat sein Unterhemd und eine trockene Jeans an. Seine Socken sind durchlöchert, sein großer Zeh lugt hervor. Der Anblick des großen Onkels in dem flackernden Licht – der Nagel hat auch schon bessere Tage gesehen –, bricht Brian erneut fast das Herz. Irgendwie lässt der Zeh seinen Bruder – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – verwundbar erscheinen. Ohne Philip würden sie allerdings wohl kaum mehr am Leben sein. Brian versucht also seine Gefühle runterzuschlucken.

»Ich bin dein Bruder, Philip.«

»Ach was.«

»Was ich damit sagen will … Ich verurteile dich nicht. Und werde es auch niemals tun.«

»Und?«

»Und … Ich finde es toll, was du für uns tust … Wie du dein Leben für uns auf Spiel setzt. Ich will nur, dass du Folgendes weißt: Ich rechne dir das hoch an.«

Philip antwortet nicht, starrt aber jetzt nicht mehr ganz so verkrampft ins Feuer wie zuvor. Stattdessen scheint er hinter sie zu blicken. Die Flammen lassen seine Augen geheimnisvoll funkeln.

»Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist«, redet Brian weiter. »Das weiß ich.« Er hält einen Augenblick lang inne. »Und ich weiß, dass dich etwas auffrisst.«

»Brian …«

»Lass mich ausreden.« Die Unterhaltung hat jetzt einen Punkt überschritten, nach dem es kein Zurück mehr gibt. »Wenn du mir nicht beichten willst, was zwischen dir und April passiert ist, habe ich damit kein Problem. Ich werde dich nie wieder danach fragen.« Es folgt eine noch längere Pause. »Aber du kannst es mir erzählen, Philip. Du kannst es mir erzählen, weil ich dein Bruder bin.«

Endlich wendet sich Philip vom Feuer ab und mustert seinen Bruder. Eine Träne läuft über sein markantes Gesicht, und Brians Magen verkrampft sich bei dem Anblick. Er kann sich nicht daran erinnern, Philip jemals weinen gesehen zu haben – selbst als Kind nicht. Einmal verprügelte ihr Vater den zwölfjährigen Philip erbarmungslos mit einer Haselnussrute. Die Striemen auf Rücken und Po ließen ihn die die ganze Nacht auf dem Bauch schlafen. Aber er vergoss auch damals keine Träne. Er tat es aus reinem Trotz nicht. Doch jetzt, da er in Brians Augen blickt, klingt seine Stimme tonlos, als er seinem Bruder sein Herz öffnet. »Ich habe Mist gebaut, Junge.«

Brian nickt, sagt aber nichts. Er wartet. Das Feuer prasselt leise.

Philip schaut auf den Boden. »Ich glaube, ich habe mich in sie verknallt.« Eine Träne tropft von seinem Kinn. Seine Stimme bleibt weiterhin tonlos und leise. »Ich will nicht behaupten, dass es Liebe war, aber was ist schon Liebe? Liebe ist eine Krankheit.« Er schüttelt sich, als ob ihn ein Dämon in seinem Inneren quälen würde. »Ich habe es zerstört, Brian. Aus uns hätte etwas werden können, etwas Solides. Du weißt schon – für Penny und so. Etwas Gutes.« Er verzieht das Gesicht, als ob er eine Woge der Traurigkeit zurückhalten müsste. Tränen steigen ihm bei jedem Blinzeln in die Augen und rinnen ihm übers Gesicht. »Ich konnte nicht mehr an mich halten. Sie hat mich gebeten, aber ich konnte nicht. Verstehst du … Die Sache ist so … Es hat sich so verdammt gut angefühlt.« Jetzt fließen die Tränen in Strömen. »Selbst als sie mich weggedrückt hat, fühlte es sich noch immer wahnsinnig gut an.« Stille. »Was ist nur mit mir los?« Stille. »Ich weiß, dass es dafür keine Entschuldigung gibt.« Schweigen. »Ich bin nicht blöd … Ich kann nur nicht glauben, dass ich je … Ich hätte nie und nimmer gedacht, dass ich so was in mir habe … Ich habe keine Ahnung gehabt …«

Seine Stimme versagt, und um sie herum gibt es nur noch das Prasseln des Feuers und die Dunkelheit um das Haus. Nach einer halben Ewigkeit hebt Philip endlich den Blick und schaut seinen Bruder an.

In dem tanzenden Licht der Flammen sieht Brian, dass Philip nicht mehr weinen kann. Sein Gesicht ist von echter Verzweiflung gezeichnet. Brian sagt noch immer kein Wort, sondern nickt nur stumm.

Es ist inzwischen Anfang November. Sie warten ab, um zu sehen, was das Wetter macht.

Ein eiskalter Schneeregen fegt eines Morgens über die Obstplantage. Wenige Tage später legt sich der Frost über die Felder und verdirbt die übrig gebliebenen Früchte an den Bäumen. Obwohl sich der Winter in großen Schritten nähert, machen sie keine Anstalten, die Villa zu verlassen. Schließlich ist hier ihre beste Chance, die bevorstehende harte Zeit zu überleben. Sie haben genügend konservierte Lebensmittel, um sich mit etwas Umsicht monatelang über Wasser zu halten. Holz ist auch da, um warm zu bleiben, und die Obstplantage scheint zumindest in der unmittelbaren Umgebung relativ frei von irgendwelchen Beißern zu sein.

Philip macht den Anschein, als ob es ihm jetzt besser gehen würde, da er seine Schuld offen ausgesprochen hat. Brian behält das Geheimnis für sich. Er denkt oft darüber nach, spricht aber nie wieder davon. Die beiden Brüder kommen mittlerweile besser miteinander aus, und selbst Penny scheint sich in dem neuen Leben, das sie langsam, aber sicher entwickeln, einigermaßen wohl zu fühlen.

Sie findet ein altes Puppenhaus in einem der Zimmer im ersten Stock und richtet sich und ihren kaputten Spielsachen eine Ecke im oberen Flur ein. Als Brian eines Tages die Treppe hochkommt, entdeckt er die kaputten Puppen ordentlich nebeneinander daliegen, ihre fehlenden Gliedmaßen neben ihnen aufgereiht. Er betrachtet eine Zeit lang das kleine Leichenschauhaus, ehe Penny ihn anspricht. »Los, Onkel Brian«, sagt sie. »Du kannst der Arzt sein … Du kannst mir helfen, sie wieder heil zu machen.«

»Gute Idee«, erwidert er nickend. »Die kriegen wir schon wieder hin.«

Ein anderes Mal hört Brian früh am Morgen ein Geräusch aus dem Parterre. Er geht die Treppe hinab zur Küche und sieht Penny, die auf einem Stuhl steht und von oben bis unten mit Mehl bedeckt ist. Sie hantiert mit Töpfen und Pfannen. Etwas, das wie Pfannkuchenteig aussieht, ist in ihr verfilztes Haar geschmiert. Die Küche gleicht einem Katastrophengebiet. Kurz darauf kommen Philip und Nick herunter, und die drei Männer stehen in der Tür und sehen Penny an. »Nicht böse sein«, verkündet sie und wirft ihnen einen Blick über die Schulter zu. »Ich mache alles wieder sauber.«

Die Männer schauen sich gegenseitig an. Seit Wochen muss Philip endlich wieder einmal lachen. »Wer soll dir denn böse sein? Wir sind nicht böse, sondern haben Hunger. Wann gibt es Frühstück?«

Die Tage vergehen, und sie treffen Vorkehrungen. Von jetzt an machen sie nur noch nachts Feuer, da man so den Rauch vom Highway aus nicht sehen kann. Philip und Nick bauen einen Zaun aus Bindedraht, den sie zwischen hölzernen Pfeilern straffziehen. Sie hängen leere Dosen an die Drähte, um sie vor etwaigen Eindringlingen zu warnen – ganz gleich, ob es sich um Beißer oder normale Menschen handelt. Auf dem Dachboden finden sie zudem eine alte Zwölfkaliber-Büchse mit Doppellauf.

Die Flinte ist mit einem feinen Staubfilm überzogen und mit Putten verziert. Sie sieht so aus, als ob sie einem das Gesicht zerfetzen würde, falls man auf die Idee käme, sie zu gebrauchen. Aber es gibt keine Munition. Philip glaubt dennoch, dass sie von Nutzen sein könnte. Schließlich sieht sie bedrohlich genug aus.

»Man kann nie wissen«, sagt er und lehnt die Flinte an den Kaminsims, ehe er es sich auf der Couch gemütlich macht und sich mit mehr Sherry betäubt.

Die Tage vergehen mit formloser Regelmäßigkeit. Mittlerweile sind sie alle ausgeschlafen, erkunden die Obstplantage und ernten die gerade noch essbaren Früchte. Sie stellen sogar Kastenfallen in der Hoffnung auf, das eine oder andere Tier zu fangen. Eines Tages finden sie tatsächlich einen abgemagerten Hasen. Nick meldet sich freiwillig, das Tier zuzubereiten, und zaubert dann geschmorten Hasenbraten auf dem Holzofen.

Währenddessen laufen ihnen nur wenige Beißer über den Weg. Eines Tages ist Nick gerade dabei, eine halb verdorrte Pflaume von einem Baum zu pflücken, als er einen herumwandelnden Untoten in Latzhose im Schatten des benachbarten Hofes sieht. Ruhig klettert er vom Baum runter, schleicht sich an den Beißer heran und rammt ihm eine Heugabel mit aller Wucht in den Hinterkopf, als ob er einen Ballon kaputt machen wollte. Ein anderes Mal macht sich Philip gerade am Traktor zu schaffen, als er einen verstümmelten Leichnam in einem der Wassergräben in der Nähe entdeckt. Mit zerfetzten Beinen, die sie mühsam hinter sich her zieht, scheint sich die Frau kilometerweit bis hierher geschleppt zu haben. Philip nimmt die Sense und trennt ihr kurzerhand den Schädel ab, bevor er die Überreste mit etwas Treibstoff aus dem Traktor verbrennt.

So einfach geht das.

In der Zwischenzeit scheint sich die Villa genauso an sie zu gewöhnen wie sie sich an das altehrwürdige Gebäude. Sie nehmen die Laken von den opulenten Möbeln, und schon wirkt alles wesentlich wohnlicher. Mittlerweile hat jeder sein eigenes Zimmer bezogen, und obwohl sie immer noch von Albträumen verfolgt werden, gibt es nichts Wohltuenderes, als die Treppe herunterzukommen und in die alte, elegante Küche zu treten, die von den Strahlen der Novembersonne erhellt wird. Dazu duftet es nach Kaffee, der die ganze Nacht über auf dem Ofen vor sich hingeköchelt hat.

Abgesehen von dem wiederkehrenden Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, ist alles ziemlich perfekt.

Die Ahnung, beobachtet zu werden, bestätigt sich für Brian schon ziemlich rasch – genauer gesagt in der zweiten Nacht ihres Aufenthalts. Er ist an diesem Abend in sein Zimmer im ersten Stock gezogen – einem schlichten Nähzimmer mit einem Himmelbett und einem Kleiderschrank aus dem achtzehnten Jahrhundert –, als er plötzlich mitten in der Nacht aufschreckt.

Er träumte, als Schiffbrüchiger auf einem Floß mitten in einem Ozean von Blut zu schwimmen, als er plötzlich einen Lichtstrahl sieht. Im Traum glaubte er einen fernen Leuchtturm erspäht zu haben, der ihn zu sich lockt, um ihn vor dem unendlichen Meer aus Blut zu erretten. Doch als er aufwacht, merkt er, dass er ein echtes Licht in der richtigen Welt gesehen haben muss – wenn auch nur für eine Sekunde. Es war ein rechteckiges Licht, das über die Decke wanderte. Doch kaum blinzelte er, war es verschwunden.

Er ist unsicher, ob er nicht nur geträumt hat. Aber jede Faser in seinem Körper drängt ihn dazu, aufzustehen und zum Fenster zu gehen. Er folgt seinem Drang und starrt in die tiefe, schwarze Nacht hinaus. Im Nachhinein könnte er schwören, ein Auto gesehen zu haben, das keinen halben Kilometer entfernt ist und am Ende des Feldwegs vor dem Highway umdrehte. Dann ist es wie vom Erdboden verschwunden.

Danach ist es für Brian so gut wie unmöglich, in jener Nacht noch ein Auge zuzumachen.

Als er Philip und Nick am nächsten Morgen davon erzählt, tun sie es als nichts weiter als einen Traum ab. Wer zum Teufel sollte schon vom Highway abbiegen, um dann wieder umzudrehen und weiterzufahren?

Doch der Verdacht erhärtet sich für Brian während der nächsten eineinhalb Wochen. Nachts sieht er immer wieder Lichter auf dem Highway oder am anderen Ende der Obstplantage. Manchmal kann er in den frühen Morgenstunden sogar das Knirschen von Reifen auf Kies hören. Zumindest könnte er darauf schwören, es gehört zu haben. Doch die Tatsache, dass er allein diese Geräusche wahrnimmt und zudem zu den unmöglichsten Zeiten, ist schier unerträglich für ihn. Er kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Villa langsam, aber sicher umzingelt wird. Da die anderen seine Mutmaßungen jedoch weiterhin als Verfolgungswahn abtun, hört er auf, ihnen davon zu erzählen. Vielleicht bildet er sich ja wirklich alles nur ein.

Jetzt erzählt er nichts mehr von seinen Wahrnehmungen. Er sagt diesbezüglich keinen Ton mehr – bis zu ihrem zweiwöchigen Jubiläum in der Villa, als er kurz vor Sonnenaufgang von einem Klirren von Dosen aus dem Tiefschlaf gerissen wird.

Achtzehn

Was zum Teufel …«, stammelt Brian in die Dunkelheit, die sein Zimmer einhüllt. Er tastet nach der Kerosinlampe auf seinem Nachttisch, stößt sie aber lediglich um, sodass das Glas zerbricht und die Flüssigkeit ausläuft. Er steht auf und geht zum Fenster. Der Boden ist so kalt, dass seine Füße fast daran kleben bleiben.

Das Mondlicht erhellt die kristallklare Herbstnacht und verleiht jeder Form einen silbrigen Schein. Brian kann noch immer die Dosen an den Stolperdrähten hören. Auch die anderen haben offenbar etwas mitbekommen, denn es dringen Geräusche aus den anliegenden Zimmern zu ihm. Jetzt sind alle wach, aufgeweckt von den klappernden Dosen.

Das Merkwürdigste ist – Brian ist sich allerdings nicht ganz sicher, ob er sich das nicht nur einbildet –, dass das Klappern aus allen Richtungen zu kommen scheint. Die Dosen lärmen sowohl hinter der Villa wie auch vor ihr. Brian reckt den Kopf, um besser sehen zu können, als die Tür zu seinem Zimmer aufgeht.

»Alles klar?« Philip steht mit nacktem Oberkörper im Türrahmen. Er trägt Jeans und Stiefel, die er aber noch nicht zugeschnürt hat. In einer Hand hält er die alte Flinte, und seine Augen sind vor Aufregung weit aufgerissen. »Du schnappst dir die Heugabel, sie steht hinten in der Diele. Schnell!«

»Beißer?«

»Jetzt mach schon!«

Brian nickt und eilt aus dem Zimmer. Vor Panik beginnt er zu keuchen. Er trägt nichts weiter als eine Jogginghose und ein ärmelloses T-Shirt. Als er durch die Villa rennt – die Treppe hinab, quer durch den Salon und in den Gang hinaus –, sieht er, wie sich draußen etwas bewegt. Es kommt näher. Näher.

Er schnappt sich die Heugabel, die an die Tür gelehnt ist, dreht sich um und eilt zum Salon.

Nick, Philip und Penny warten bereits am Treppenabsatz auf ihn. Zusammen eilen sie zum Erkerfenster, das einen guten Rundblick auf die umliegenden Gartenanlagen, die sanft abfallende Einfahrt zur Straße und die Obstplantage bietet. Die geduckten Schattenumrisse sind nicht zu übersehen. Sie nähern sich aus drei Richtungen dem Haus.

»Sind das Autos?«, fragt Nick kaum hörbar.

Als sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt haben, merken sie, dass es sich tatsächlich um Fahrzeuge handelt, die langsam über das Grundstück auf die Villa zufahren. Eines kommt die Auffahrt hoch, ein anderes nähert sich von Norden her durch die Obstplantage, und ein drittes ist im Süden erkennbar, wie es auf einem Kiesweg aus dem Wäldchen kommt.

Mit einer beinahe perfekten Synchronisation hält jedes Auto in gleicher Entfernung zur Villa an und wartet einen Augenblick lang. Sie sind jetzt keine fünfzehn Meter mehr entfernt. Die Windschutzscheiben sind zu dunkel, als dass man die Insassen erkennen könnte. »Das ist kein Begrüßungskomitee«, murmelt Philip trocken.

Plötzlich und beinahe wieder synchron gehen die Lichter an. Der Effekt ist recht dramatisch. Die Lichtstrahlen treffen auf die Fenster der Villa und erhellen das dunkle Innere. Philip ist bereits auf dem Sprung, nach draußen zu gehen, um den Eindringlingen mit seiner nicht funktionierenden Flinte ein Gefecht zu liefern, als aus dem hinteren Teil des Hauses ein lautes Krachen zu ihnen dringt.

»Schatz, du bleibst bei Brian«, bittet er Penny, ehe er Nick einen Blick zuwirft. »Nicky, ich will, dass du aus einem Seitenfenster kletterst. Nimm die Machete und versuch, sie von hinten zu überraschen. Verstanden?«

Nick weiß genau, was er machen soll, und verschwindet im Seitengang.

»Bleibt hinter mir, dicht hinter mir.« Philip hebt die Flinte, der Kolben ruht auf seiner Schulter. Vorsichtig und mit einer beinahe unheimlichen Ruhe schleicht er generalstabsmäßig zur Küche, aus der jetzt die Geräusche von Schritten auf zerbrochenem Glas zu ihnen dringen.

»Jetzt mal locker, Bürschchen!«, schlägt der Eindringling mit einem gut gelaunten Tennessee-Akzent vor und richtet den Lauf einer Neun-Millimeter-Glock auf Philip, als dieser die Küche mit erhobener Flinte betritt.

Ehe man ihn so unsanft unterbrach, sah sich der Einbrecher mit aller Seelenruhe in der Küche um, als ob er gerade erst aufgestanden und mal kurz zur Speisekammer getapst wäre, um sich einen Mitternachtssnack zu gönnen. Das Licht der Scheinwerfer dringt von draußen in die Küche. Die Fensterscheibe über dem Türknauf ist kaputt – so hat sich der Eindringling offensichtlich Zugang verschafft –, und das blasse Licht der Morgendämmerung steigt langsam über den Horizont.

Der Mann ist mindestens einen Meter neunzig groß, trägt eine abgenutzte Tarnhose, schmutzige Stiefel und eine blutbesudelte, kugelsichere Weste aus Kevlar. Auf seinem vernarbten Kopf wächst kein einziges Haar mehr, und seine Augen gleichen zwei Kratern, die von winzigen Meteoriteneinschlägen verursacht wurden. Bei genauerer Betrachtung macht er einen kranken Eindruck, so als ob er einer zu hohen Dosis Strahlung ausgesetzt worden wäre. Seine blassgelbe Haut ist von Wunden und Geschwüren übersät.

Philip zielt mit der nutzlosen Antiquität auf den Schädel des Eindringlings – sie stehen etwa zwei Meter voneinander entfernt. Philip tut so, als ob sie geladen wäre. Er scheint es beinahe selbst zu glauben. »Hm, ich drücke mal ein Auge zu«, sagt er, »und gehe davon aus, ihr habt gedacht, dass hier niemand mehr wohnt.«

»Du sagst, wie es ist, Bürschchen«, erwidert die Glatze gelassen und klingt beinahe so, als ob er unter Medikamenten- oder Drogeneinfluss stünde. Seine Zähne sind mit Goldkronen versehen und funkeln, als er ein reptilienartiges Grinsen zeigt.

»Dann bedanken wir uns schon mal, dass ihr uns in Ruhe lasst. So passiert euch auch nichts.«

Der Glatzkopf mit der Glock runzelt die Stirn. »He, das ist aber nicht nett von euch!« Der Mann leidet unter einer nervösen Zuckung, die seine Gewaltbereitschaft erahnen lässt. »Hab schon gesehen, dass ihr ein nettes, junges Ding da drinnen habt.«

»Das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen.« Philip weicht keinen Zentimeter. Er hört die Tür knarzen, dann nähern sich Schritte vom Salon her. Philip ist hin und her gerissen. Einerseits hat er Angst, was als Nächstes passieren könnte, andererseits will er dem Kerl zeigen, wer hier das Sagen hat. Er weiß, dass die nächsten Sekunden entscheidend sind – vielleicht sogar über Leben und Tod. Aber es fällt ihm erst einmal nichts anderes ein, als Zeit zu schinden. »Wir wollen kein Blut vergießen, Junge, und ich kann garantieren, dass es deines ist, das zuerst fließt, falls etwas passiert.«

»Große Klappe, wie ich sehe.« Plötzlich ruft er etwas zu einem Kumpan in der Dunkelheit. »Shorty?«

Eine Stimme antwortet. »Alles klar, ich habe ihn, Tommy!«

Im selben Moment taucht Nick vor der kaputten Fensterscheibe der Terrassentür mit einem großen Bowiemesser an der Kehle auf. Ihm folgt ein abgemagerter junger Kerl mit Pickeln und Bürstenhaarschnitt. Der Typ stößt die Tür mit dem Fuß auf und schubst Nick in die Küche.

»Tut mir leid, Philly«, ächzt dieser, ehe er gegen einen Schrank prallt und ihm einen Moment lang der Atem wegbleibt. Der schlanke Kerl mit dem Bürstenhaarschnitt hält das Messer an Nicks Adamsapfel gedrückt. Die Machete hat er in den Gürtel gesteckt. Das hibbelige, knöcherne Exemplar von Mann mit den fingerlosen Handschuhen macht den Eindruck, als ob es soeben aus dem Gefängnis ausgebrochen wäre. Er hat die Ärmel seiner Tarnjacke abgetrennt, und seine langen, dünnen Arme sind mit Tattoos nur so übersät.

»Jetzt mal ganz ruhig«, wendet sich Philip an die Glatze. »Es gibt keinen Grund …«

»Sonny!« Der haarlose Riese ruft einen weiteren seiner Schergen, und im selben Moment ertönen knarzende Schritte auf dem hundert Jahre alten Holzfußboden im Wohnzimmer. Philip hält seine Flinte noch immer auf den Glatzkopf gerichtet, wagt aber einen raschen Blick über die Schulter. Brian und Penny stehen zusammengedrängt hinter ihm, vielleicht eineinhalb Meter von ihm entfernt.

Zwei weitere Gestalten tauchen hinter Brian und Penny auf. Das kleine Mädchen zuckt verängstigt zusammen.

»Alles unter Kontrolle, Tommy!«, meldet einer der Neuankömmlinge und hält einen großen Revolver in die Luft, damit ihn alle sehen können – 357er Magnum oder 45er Army, ist nicht genau zu erkennen. Dann richtet er ihn auf Brians Hinterkopf. Philips Bruder erstarrt wie ein in die Enge getriebenes Tier.

»Es reicht«, meldet sich Philip erneut zu Wort.

Aus dem Augenwinkel sieht er, dass es sich bei den beiden Gestalten, die Brian und Penny in Schach halten, um einen Mann und eine Frau handelt … Allerdings fällt es ihm nicht leicht, die Bezeichnung Frau zu benutzen. Das Geschöpf, das Penny am Kragen hält, gleicht eher einer androgynen Marionette aus Haut und Knochen. Sie trägt eine Lederhose und diverse Netzoberteile. Die Augen sind mit einem rußigen Eyeliner geschminkt, sie hat stachelige Haare, und ihre Haut schimmert leicht grünlich gefärbt – wie die Haut eines Junkies. Nervös klopft sie mit dem Lauf ihrer Achtunddreißiger auf ihren dürren Oberschenkel.

Der Kerl neben ihr, der auf den Namen Sonny hört, macht ebenfalls den Eindruck, als ob er schon Bekanntschaft mit der Nadel gemacht hätte. Seine eingefallenen Augen starren aus einem pockennarbigen Gesicht, das ignorant und hinterhältig wirkt. Sein ausgemergelter Körper steckt in alten Armeeklamotten.

»Ich möchte dir danken, Kumpel«, sagt der Glatzkopf, steckt die Neun-Millimeter in sein Gürtelhalfter und tut so, als ob die Kraftprobe jetzt offiziell beendet wäre. »Ihr habt es euch hier recht gemütlich gemacht, das muss man euch lassen.« Er geht zur Spüle und trinkt in aller Ruhe etwas Wasser aus einem Krug, der auf der Arbeitsplatte steht. »Das wird ein nettes Quartier für uns.«

»Nette Pläne«, meint Philip und macht keine Anstalten, seine Flinte zu senken. »Es gibt nur ein Problem: Wir können nicht noch mehr Leute aufnehmen.«

»Ach, das macht nichts, Kumpel.«

»Und was habt ihr dann vor?«

»Vor?« Der Glatzkopf spricht das Wort so aus, als ob er erst überlegen müsste. »Wir haben vor, euch die Hütte hier abzunehmen. Sonst nichts.«

Jemand, den Philip nicht sehen kann, kichert amüsiert.

Philips Gehirn gleicht einem kaputten Schachcomputer, auf dem die Figuren wild hin und her tanzen. Er weiß genau, dass diese Kerle ihn und die anderen umbringen wollen. Er weiß, dass sie es mit Parasiten zu tun haben, die mit aller Wahrscheinlichkeit die Villa schon seit Wochen beobachtet haben. Offenbar litt Brian doch nicht unter Verfolgungswahn.

Es dringen weitere Geräusche an seine Ohren – gesenkte Stimmen, zerbrechende Äste –, und er zählt rasch zusammen: Das sind mindestens sechs an der Zahl, vielleicht mehr, und sie haben vier Autos – wenn das reicht. Außerdem scheint jeder eine Waffe und genügend Munition zu haben. Jede Menge Magazine und Schnelllader hängen an ihren Gürteln. Was ihnen jedoch anscheinend fehlt, ist Intelligenz. Vielleicht ist das Philips Chance. Selbst in den Augen des großen Glatzkopfs – allem Anschein nach der Anführer – scheint das Wort »Dumpfkiffer« geschrieben zu sein. Diese Kerle kennen keine Gnade, jeder Vorschlag guter Nachbarschaft wird auf taube Ohren stoßen. Philip sieht nur eine Chance.

»Kann ich noch was sagen?«, fragt er. »Ehe ihr euch falsche Hoffnungen macht.«

Der Glatzkopf hebt den Wasserkrug, als ob er einen Toast aussprechen wollte. »Klar, Kumpel.«

»Die Sache kann so oder so ausgehen.«

Das scheint die Aufmerksamkeit des Glatzkopfs zu wecken. Er stellt den Krug ab und wendet sich Philip zu. »So oder so?«

»Ja. Die erste Möglichkeit ist, dass wir mit dem Ballern anfangen, und ich kann dir jetzt schon sagen, wie das ausgehen wird.«

»Mach es nicht so spannend.«

»Deine Leute werden uns überwältigen, und das war es. Aber eines kann ich dir versprechen – und so sicher bin ich mir in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen.«

»Und was wäre das?«

»Ganz gleich was passiert – ich weiß, dass ich einen Schuss abfeuern werde, und das soll jetzt keine Geringschätzung dir gegenüber sein, aber ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass sich der Großteil dieser Stahlkügelchen in die obere Hälfte deines Körpers bohren wird. Willst du jetzt die zweite Möglichkeit hören?«

Der Glatzkopf hat anscheinend seinen Humor verloren. »Raus damit.«

»Die zweite Möglichkeit lautet folgendermaßen: Ihr lasst uns hier heil raus, und wir lassen euch die Villa. Das erspart das blöde Aufräumen nach der Schießerei, und du darfst deinen Oberkörper und deinen Kopf behalten.«

Eine Zeit lang scheint alles gut zu gehen. Der Glatzkopf gibt die Befehle. Das Junkie-Paar – Philip hat sie mittlerweile Sonny und Cher getauft – lässt von Brian und Penny ab, sodass Brian das Mädchen durchs Wohnzimmer zur Eingangstür tragen kann.

Die Abmachung, wenn man sie überhaupt so nennen kann, lautet folgendermaßen: Philip und seine Leute können verschwinden, lassen aber alles zurück. Brian sieht zu, wie Philip rückwärts durch das Wohnzimmer auf ihn zukommt, die Flinte noch gezückt. Zum Glück haben sie dieses funktionslose Dekostück! Nick folgt ihm. Die beiden treten neben Brian und Penny, und Brian öffnet langsam die Tür.

Sie drängen sich einer nach dem anderen hinaus. Philip richtet die Waffe weiterhin auf die Eindringlinge.

Brians Gehirn verarbeitet alle Eindrücke auf einmal: den kalten Wind, das blasse Morgenlicht, das langsam über die Obstplantage kriecht, die Silhouetten von zwei weiteren Schützen zu ihrer Linken und Rechten sowie die Autos mit den Scheinwerfern, die wie Theaterstrahler die nächste Szene dieses albtraumhaften Stücks erhellen.

Von drinnen ertönt die Stimme des Glatzkopfs: »Jungs! Lasst sie durch!«

Jeder der Schützen, in heruntergekommene Tarnanzüge gekleidet und mit schwerer Artillerie bewaffnet, hält eine Flinte mit abgesägtem Lauf in der Hand. Sie beäugen Brian mit der mörderischen Gier eines Raubvogels, als er Penny vorsichtig auf seinen Rücken hebt. Philip flüstert ihnen so leise zu, sodass sie es gerade noch hören können: »Bleibt in meiner Nähe und folgt mir. Die wollen uns immer noch etwas antun. Macht genau das, was ich euch sage.«

Brian folgt Philip, der mit nacktem Oberkörper und erhobener Waffe über den Vorplatz an einem der wachsamen Aufpasser vorbei auf den benachbarten Pfirsichbaumhain zuläuft.

Es scheint eine halbe Ewigkeit zu dauern, als Philip die anderen über das Anwesen und in die Schatten der nächsten Plantage führt. Tatsächlich sind nur wenige Minuten vergangen, aber Brian Blake ist mindestens um fünf Jahre gealtert. Er weiß, dass es mit der geregelten Übergabe der Villa vorbei ist.

Hinter ihm ertönen beunruhigende Geräusche, während er Penny so schnell wie möglich in die Sicherheit der Bäume trägt. Er ist barfuß, und der steinige Boden zieht die Sohlen seiner Füße ganz schön in Mitleidenschaft. Wütende Stimmen ertönen aus der Villa, und Schritte auf der Veranda dringen an sein Ohr.

Der erste Schuss fällt, als sich Philip, Nick, Brian und Penny auf dem Pfirsichfeld verstecken. Die Explosion lässt die Stille des Morgens erbeben, und die Kugel schlägt in einen Ast keine fünfzehn Zentimeter von Brians rechter Schulter entfernt ein. Holzsplitter regnen ihm ins Gesicht, und Penny schreit entsetzt auf. Philip gibt seinem Bruder einen Schubs. »LAUF!«, befiehlt er ihm. »LAUF, BRIAN! LAUF!«

Für Brian Blake vergehen die nächsten fünf Minuten wie in einem verwirrenden Traum. Hinter sich hört er weitere Schüsse. Kugeln sausen durch das Laub, während er tiefer in die rettende Dunkelheit taucht, die das schummrige Morgenlicht noch nicht durchdrungen hat. Brians geschundene nackte Füße tun ihm mit jeder Sekunde mehr weh. Sie versinken im weichen Boden aus herabgefallenem Laub und fauligen Früchten. Er weiß vor Panik nicht aus noch ein. Penny zittert bei jedem Schritt und keucht vor Angst. Brian hat keine Ahnung, wie weit oder wohin er rennen oder ob er besser warten soll. Er läuft also immer weiter in die schützende Dunkelheit der Bäume hinein.

Nach ungefähr zweihundert Metern kommt er zu einem großen, umgefallenen Baumstamm, hinter dem er mit Penny in Deckung geht.

Keuchend holt er tief Luft. Sein Atem ist in der kalten Morgenluft gut sichtbar. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er stellt Penny sanft auf den Boden neben sich.

»Immer schön geduckt bleiben, Kleines«, flüstert er ihr zu. »Vor allem musst du ganz, ganz still sein. Okay?«

Der Schusswechsel hört einen Augenblick lang auf, und Brian riskiert einen Blick über den Baumstamm. Durch eine Reihe von Pfirsichbäumen sieht er, wie eine Gestalt in etwa hundert Metern Entfernung auf sie zueilt.

Seine Augen haben sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er einen der fremden Männer erkennen kann. In einer Hand hält er ein Gewehr, das er offenbar jederzeit abzufeuern bereit ist. Dann sieht Brian, wie eine Gestalt auf den ersten Mann zusprintet.

Er geht erneut hinter dem Baumstamm in Deckung und wägt panisch sämtliche Alternativen ab. Wenn er jetzt losläuft, wird man ihn zweifelsohne bemerken. Wenn er sich jedoch nicht vom Fleck rührt, wird irgendwer mit Sicherheit über ihn stolpern. Wo zum Teufel sind Philip und Nick?

Plötzlich hört Brian in einer anderen Richtung das Brechen von Ästen. Jemand taucht hinter dem ersten Mann auf und wird immer schneller.

Erneut lugt Brian über den Baum und erkennt die Silhouette seines Bruders – etwa fünfzig Meter von ihm und Penny entfernt –, der durch das Unterholz auf den ersten Kerl zu schleicht. Brian läuft es eiskalt über den Rücken, und sein Magen verkrampft sich vor Panik.

Da sieht er, wie sich Nick Parsons aus dem Schatten auf der anderen Seite mit einem Stein in der Hand erhebt. Er wartet einen Augenblick und wirft dann das grapefruitgroße Geschoss dreißig Meter quer durch die Obstplantage.

Der Stein trifft mit einem lauten Knall auf einen Baum, sodass der Verfolger mit dem Gewehr verdutzt stehen bleibt.

Er dreht sich um und drückt in Richtung des Aufpralls ab. Der Schuss lässt die Obstplantage erzittern, und Penny schreckt zusammen. Brian duckt sich wieder. Zuvor sieht er noch, wie ein Schatten auf den Mann zuschnellt, ehe dieser eine Chance hat, einen zweiten Schuss auf die Buche abzufeuern.

Philip Blake taucht aus dem Gestrüpp auf und schwingt die antike Flinte. Der Gewehrkolben trifft den Schützen so hart mitten auf den Hinterkopf, dass er beinahe aus seinen Schuhen fliegt. Er lässt das Gewehr fallen und sackt wie ein nasser Sack auf moosbedeckten Boden.

Brian wendet sich ab. Er legt Penny eine Hand über die Augen, während Philip rasch und beinahe barbarisch dem Schädel vier weitere Hiebe verabreicht, um ganz sicherzugehen, dass der andere für immer schachmatt ist.

Die Verhältnisse haben sich nun fast unmerklich verändert. Philip entdeckt eine kleine Achtunddreißiger mit kurzem Lauf im Gürtel des Mannes. Dazu eine Tasche Munition und einen Schnelllader, und Nick und Philip fühlen sich besser. Brian schaut gebannt aus fünfzig Metern Entfernung zu.

Er atmet erleichtert auf. Ein Funken Hoffnung blitzt in ihm auf. Sie können sich jetzt aus dem Staub machen und wieder von vorne anfangen. Auf jeden Fall stehen die Chancen wesentlich besser als zuvor, den Tag zu überleben. Doch als Brian seinem Bruder und Nick signalisiert, zu ihm zu kommen, erstarrt er vor Schreck, als er Philips Miene in dem blassen Morgenlicht bemerkt. Panik breitet sich in Brians Eingeweiden aus.

»Wir werden diese Wichser allemachen«, knurrt Philip. »Bis auf den Letzten werden wir sie ausrotten.«

»Aber, Philip! Was, wenn wir einfach …«

»Wir holen uns unsere Villa zurück. Sie gehört uns, und die werden es nicht überleben.«

»Aber …«

»Jetzt hör mir gut zu.« Etwas in Philips Augen lässt Brian erschauern. »Du musst meine Tochter in Sicherheit bringen – ganz gleich, was passiert. Verstehst du, was ich sage?«

»Ja, aber …«

»Das ist deine Aufgabe – nicht mehr und nicht weniger.«

»Okay.«

»Pass gut auf sie auf. Schau mir in die Augen. Kannst du das für mich tun?«

Brian nickt. »Klar. Logisch, Philip. Aber ich will nicht, dass ihr euch in den Tod stürzt.«

Philip antwortet nicht. Er reagiert nicht einmal, sondern starrt ihn nur an, während er das Gewehr lädt und sich dann an Nick wendet.

In wenigen Augenblicken sind die beiden kampfbereit und verschwinden zwischen den Bäumen. Brian bleibt wieder allein mit Penny und ohne Waffe zurück. Er ist vor Angst gelähmt und panisch vor Unentschlossenheit. Seine nackten Füße bluten. Will Philip, dass er hierbleibt? Was ist eigentlich der Plan?

Ein Schuss hallt durch den Hain. Brian zuckt zusammen. Es folgt ein weiterer, dessen Echo über den Wipfeln widerhallt. Brian ballt die Hände so stark zu Fäusten, dass sie beinahe zu brechen drohen. Soll er einfach nur dasitzen und abwarten?

Er zieht Penny eng an sich. Ein weiterer Schuss ertönt. Diesmal näher. Ihm folgt ein gedämpftes, wässrig klingendes Würgen wie bei einem Todeskampf. Brians Gedanken beginnen erneut zu rasen.

Schritte kommen näher. Brian wagt einen raschen Blick über den Baumstamm. Es ist der Glatzkopf mit seiner Neun-Millimeter-Glock, die er wild durch die Gegend schwenkt.

Er steuert direkt auf sie zu, das vernarbte Gesicht vor Rage verzerrt. Der leblose Körper des dürren Jungen Shorty liegt dreißig Meter entfernt von ihm. Der Kopf ist halb weggeblasen.

Ein neuer Schuss hallt durch den Wald. Brian duckt sich hinter den Baumstamm. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er ist sich nicht sicher, ob es den Glatzkopf erwischt hat oder ob er derjenige war, der schoss.

»Los, Kleine«, flüstert Brian der erstarrten Penny zu, die sich im Gestrüpp zusammengeduckt hat. »Wir müssen jetzt von hier weg.«

Er zieht sie aus dem Unterholz und nimmt ihre Hand, da es zu gefährlich ist, sie auf dem Rücken zu tragen. Hastig zerrt er sie fort – fort von den Schüssen.

Sie kriechen zwischen den Pfirsichbäumen hindurch, wobei sie stets im Dickicht weitab von den Wegen bleiben, die durch die Obstplantage führen. Brians Fußsohlen sind so geschunden und eisig, dass er kaum noch etwas spürt. Plötzlich hört er Stimmen hinter ihnen, einige Schüsse und dann Stille.

Eine lange Zeit über weht lediglich der Wind durch die Äste. Ab und zu glaubt er rasche Schritte zu hören. Ganz sicher ist er sich aber nicht, da sein Herz so laut hämmert. Entschlossen arbeitet er sich mit Penny durch den Hain.

Nach weiteren hundert Metern stehen sie vor einem alten Heuwagen, hinter dem sie in Deckung gehen. Brian ringt nach Luft und drückt Penny eng an sich. »Alles okay, Kleines?«

Penny streckt ihm ihren Daumen entgegen, aber die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Plötzlich dringen ungewohnte Geräusche an Brians Ohr. Er erstarrt, duckt sich aber dann und späht durch die Bretter des Heuwagens. Ungefähr fünfzig Meter vor ihnen läuft eine Gestalt durch einen Wassergraben. Sie ist groß gewachsen und schlaksig und hält ein Gewehr in einer Hand. Dummerweise ist sie noch zu weit entfernt, als dass Brian mit Sicherheit sagen könnte, um wen es sich handelt.

»Daddy?«

Pennys Stimme lässt Brian zusammenzucken, auch wenn es kaum mehr als ein Flüstern ist – aber immerhin laut genug, um sie zu verraten. Er legt dem Kind die Hand auf den Mund, ehe er wieder hochblickt, um erneut einen Blick auf die Gestalt in dem Graben zu werfen.

Doch der Mann, der auf sie zukommt, ist nicht der Vater des kleinen Mädchens.

Der Schuss zerfetzt den halben Heuwagen. Brian wird in einer Wolke aus Staub zu Boden geschleudert. Er spuckt Erde und fasst so lange nach Penny, bis er endlich einen Zipfel ihres Oberteils erwischt. Hastig kriecht er tiefer in den Hain, Penny stets hinter sich. Nach ein paar Metern rappelt er sich auf die Beine. Jetzt sollte es wieder schneller vorangehen. Aber irgendetwas stimmt nicht.

Das kleine Mädchen macht keinerlei Anstalten mehr, sich selbstständig zu bewegen, so als ob es das Bewusstsein verloren hat.

Brian hört das Knirschen von Schritten hinter sich und wie das Gewehr erneut geladen wird. Der nächste Schuss soll tödlich sein. Panisch nimmt er Penny auf den Rücken und rennt dann so schnell er kann auf die nächsten Bäume zu. Es dauert nicht lange, bis er merkt, dass er blutverschmiert ist. Das Blut rinnt über sein Shirt und durchtränkt es.

»Um Gottes willen, nein! O Gott, o Gott, o Gott …« Brian legt Penny sanft auf den weichen Untergrund. Ihr blutleeres Gesicht ist kreidebleich. Ihr Augen sind glasig und starren in den Himmel. Sie zuckt, schluckt mehrmals, und ein rotes Rinnsal fließt ihr aus dem Mundwinkel.

Brian hört den Killer kaum noch, wie er sich mit raschen Schritten nähert, die zweite Patrone einlegt und durchlädt. Pennys T-Shirt ist von dem scharlachroten Lebenssaft völlig durchnässt. Er entdeckt die Stelle, an der die Schrotkugeln wieder aus ihrem Körper ausgetreten sind. Die Wunde hat einen Durchmesser von etwa fünfzehn Zentimeter. Schrot aus einer Zwanzig-Kaliber-Patrone hat genügend Durchschlagskraft, um Stahl zu durchschlagen. Es sieht ganz so aus, als ob das Kind mindestens die Hälfte des Schrots in den Rücken bekommen hätte und die Metallkügelchen aus seinem Bauch wieder ausgetreten wären.

Der Killer kommt näher und näher.

Brian hebt das T-Shirt hoch, und Penny gibt ein qualvolles Stöhnen von sich. Seine Hand reicht nicht, um den Blutfluss zu stoppen. Die klaffende Wunde hat die Form einer Sichel. Er presst die Hand noch stärker darauf, aber das Blut hört nicht auf zu fließen. Panisch reißt er ein Stück ihres T-Shirts ab und versucht, zumindest einige Löcher mit dem Stoff zu stopfen. Doch inzwischen ist das Blut überall. Brian wimmert. Er redet mit Penny, während das Rot durch seine Finger rinnt und der Killer immer näher kommt. »Das wird schon wieder. Du wirst schon wieder. Wir kriegen dich schon wieder hin. Du wirst schon sehen, so gut wie neu …«

Brians Arme und Hüfte werden von ihrem warmen, Lebenssaft bedeckt. Sie flüstert schwach: »… Weg …«.

»Nein, Penny. Nein! Du darfst nicht weg … Lass mich nicht allein, noch nicht, nicht jetzt … Geh nicht!«

Brian hört, wie ein Ast hinter ihm unter dem Gewicht eines Stiefels bricht.

Ein Schatten legt sich auf Penny.

Eine raue Stimme ertönt. »Eine verdammte Schande.« Dann spürt er, wie sich das kalte Ende eines Gewehrlaufs in seinen Nacken bohrt. »Schau sie dir noch einmal genau an.«

Brian dreht sich um und starrt den Mörder an. Es ist ein großer Kerl mit unzähligen Tattoos, einem Bierbauch und einem Bart. Er richtet die Schrotflinte jetzt direkt in Brians Gesicht. »Schau sie dir an … Es wird das Letzte sein, was du in deinem Leben siehst.«

Brian hält die Hand noch immer auf Pennys Wunde gedrückt, weiß aber, dass es zu spät ist.

Sie wird es nicht schaffen.

Mit dieser Gewissheit ist Brian ebenfalls bereit … Jetzt kann er sterben.

Die Explosion hat etwas von einem Traum an sich – als ob Brian plötzlich aus seinem Körper gerissen wird und hoch über die Obstplantage fliegt. Von oben kann er alles wie eine körperlose Seele verfolgen. Er ist bei dem lauten Knall nach vorne gefallen, zuckt aber beinahe im selben Augenblick zusammen. Ein Blutschleier legt sich über seinen Arm und über Penny. War der Einschlag der Kugel aus dieser minimalen Entfernung so katastrophal, dass er nichts mehr spürt? Ist er vielleicht bereits tot, ohne es zu wissen?

Der Schatten des Mörders sinkt wie in Zeitlupe zu Boden.

Brian dreht sich gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass der Bärtige von hinten erschossen wurde. Sein Schädel gleicht rotem Brei, sein Bart ist voller Blut und Gewebe. Die Augen sind zurückgerollt, als er zusammenbricht. Brian starrt auf das Spektakel. Wie ein fallender Vorhang gibt der zu Boden sackende Mann die Sicht auf zwei Gestalten frei, die auf Brian und Penny zulaufen.

»GOTT! NEIN!« Philip wirft das Gewehr – es raucht noch, so heiß ist es – zu Boden, um sich den Weg schneller bahnen zu können. Nick folgt dicht hinter ihm. Philip stößt Brian beiseite. »NEIN! NEIN!«

Philip fällt neben seinem sterbenden Kind auf die Knie. Penny droht jetzt am eigenen Blut zu ersticken. Er hebt sie hoch und berührt zärtlich die klaffende Wunde, als ob es nur ein Kratzer wäre – nichts Schlimmes, nur eine Schürfwunde. Er zieht das Mädchen an sich und umarmt es, während das Blut weiter aus seinem Körper strömt.

Philip wiegt sein blutbesudeltes Kind in den Armen hin und her.

Während er die Kleine hält, stößt sie ein paar röchelnde Seufzer aus. Ihr Gesicht ist so weiß und klar wie Porzellan. Philip schüttelt sie. »Schatz … Bleib bei uns … Bleib bei uns … Mach schon … Du musst bei uns bleiben … Bitte … Schatz? Schatz? Schatz?«

Eine grauenvolle Stille erfüllt die bedrückende Szene.

»O Gott«, murmelt Nick und senkt den Blick.

Philip hält sein Kind weiter in den Armen. Es scheint eine halbe Ewigkeit zu vergehen. Nick starrt die ganze Zeit auf den Boden und betet leise vor sich hin. Brian liegt der Länge nach keine zwei Meter entfernt auf dem Waldgrund. Er weint und stammelt unentwegt mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Ich habe es versucht … Alles ist so schnell gegangen … Ich konnte nicht … Es war … Ich kann nicht … Ich kann nicht … Penny war …«

Plötzlich packt ihn eine harte Pranke am Nacken.

»Was habe ich gesagt?«, knurrt Philip und reißt seinen Bruder auf die Füße, ehe er ihn gegen den nächsten Baumstamm schleudert. Brian sackt in sich zusammen.

»Philly! Nein!« Nick will sich zwischen die beiden Brüder werfen, aber Philip schubst ihn so hart beiseite, dass der kleinere Mann zu Boden taumelt. Philip legt die rechte Hand um Brians Hals.

»Was habe ich dir gesagt?« Er knallt ihn erneut mit aller Wucht gegen den Baumstamm. Brians Schädel prallt auf die Rinde, und Wogen aus Schmerz und grellem Licht verschleiern ihm den Blick. Er unternimmt keinen Versuch, sich zu wehren oder zu flüchten. Brian will nur noch sterben. Er will durch die Hände seines Bruders erlöst werden.

»WAS HABE ICH GESAGT?« Philip reißt Brian hoch, ehe er ihn wieder zu Boden schleudert. Eine Schulter wird mit ungeheurer Wucht in Brians Gesicht gerammt, ehe er sich einem Hagel von Tritten ausgesetzt sieht. Er rollt beiseite, und ein Tritt erwischt ihn im Gesicht. Der Tritt ist hart genug, um seinen Unterkiefer zu brechen. Ein weiterer zerfetzt drei Rippen, sodass ein scharfer Schmerz durch seine Seite schießt. Der nächste landet im Kreuz, und schimmernder, greller Schmerz schießt ihm durch das Steißbein. Nach einer Weile spürt Brian die Qualen kaum noch. Ihm bleibt sowieso nichts anderes übrig, als es über sich ergehen zu lassen. Er blickt von oben auf seinen demolierten Körper herab und gibt sich ganz seiner Strafe hin.

Neunzehn

Am nächsten Tag verbringt Philip eine Stunde im Geräteschuppen hinter der Villa. Er geht die Sammlung von Waffen durch, welche die Eindringlinge hinterlassen haben, und untersucht sämtliche auch nur andeutungsweise scharfen Werkzeuge und sonstige Gerätschaften, die vielleicht als Waffe genutzt werden könnten. Er weiß, was zu tun ist, aber sich für die Art der Exekution zu entscheiden, ist ihm beinahe unmöglich. Zuerst wählt er die Neun-Millimeter-Semiautomatik. Das geht am schnellsten und ist am saubersten. Dann kommen ihm Zweifel. Soll er wirklich eine Schusswaffe nehmen? Das scheint irgendwie unfair zu sein. Zu kalt, zu unpersönlich. Aber eine Axt oder eine Machete zu benutzen, das bringt er auch nicht übers Herz. Zu schmutzig, zu ungewiss. Was, wenn er nur einen Zentimeter daneben schlägt?

Endlich entscheidet er sich für die Neun-Millimeter-Glock. Er schiebt ein neues Magazin in den Griff und sichert es.

Dann holt er tief Luft und geht zur Tür. Dort hält er inne und bereitet sich innerlich auf das Bevorstehende vor. Ab und zu hört er ein Kratzen, welches das Innere des Schuppens zu füllen scheint. Die Villa und das Grundstück sind voller Beißer. Das Gemetzel von gestern hat sie in Scharen angezogen. Philip tritt gegen die Tür.

Eine Frau mittleren Alters in einer schmutzigen Schürze kriegt sie mitten ins Gesicht geknallt. Die Wucht des Schlags lässt sie zurücktaumeln und mit den Armen fuchteln. Aus ihrer verwesten Kehle dringt ein gespenstisches Stöhnen. Philip geht an ihr vorbei. Beiläufig hebt er die Waffe und befördert die Frau ohne innezuhalten mit einem einzigen Schuss in den Schädel ins Jenseits.

Das Echo hallt durch das Anwesen, als die Leiche durch die Kugel zur Seite geschleudert wird, ehe sie zu Boden sackt.

Philip marschiert um die Villa herum und verpasst zwei weiteren Beißern den letzten Segen – einem alten Mann in vergilbter Unterwäsche, vielleicht ein Ausreißer aus einem Altenheim, und höchstwahrscheinlich einem ehemaligen Obstbauern, dessen aufgedunsener, schwärzlicher Körper noch immer in einer verklebten Latzhose steckt. Ohne Aufhebens verpasst er ihnen jeweils eine Kugel und nimmt sich vor, ihre Überreste später mithilfe des Schneeschieberaufsatzes für den Mäher beiseitezuschaffen.

Seit Penny in seinen Armen gestorben ist, sind beinahe vierundzwanzig Stunden vergangen, und die Morgendämmerung enthüllt einen klaren, blauen Herbsthimmel über den Bäumen der Obstplantage. Philip hat beinahe einen ganzen Tag gebraucht, um sich im Klaren zu sein, dass es keinen Ausweg gibt. Jetzt nimmt er die Waffe in die feuchte Hand und betritt den Hain.

Im Magazin stecken noch fünf Kugeln.

Im Schatten der Plantage windet sich eine Gestalt an einem alten Baum. Sie stöhnt und ächzt. Trotz der Tatsache, dass sie mit Stricken und Klebeband festgebunden ist, versucht das gefangene Wesen immer wieder verzweifelt zu fliehen. Philip hebt die Waffe. Er zielt mit dem Lauf genau zwischen die Augen, und für einen winzigen Augenblick wünscht sich Philip nichts mehr, als dass alles ganz schnell vorbei ist. Wunde aufstechen, Tumor entfernen, Operation erfolgreich.

Die Laufmündung fängt zu zittern an, und Philips Finger am Abzug scheint zu erstarren. Er stöhnt auf. Dann murmelt er leise: »Ich kann es nicht.«

Er senkt die Waffe und blickt seiner Tochter in die Augen. Sie steht keine zwei Meter vom ihm an den Baum gebunden und faucht mit dem wilden Hunger eines tollwütigen Hundes. Ihr Porzellanpuppengesicht ist zu einer weißen, verschrumpelten Kalebasse eingesunken, und ihre sanften Augen haben sich zu Silbermünzen verhärtet. Ihre ehemals unschuldigen Lippen sind jetzt schwarz und kräuseln sich unnatürlich vor den schleimigen Zähnen. Sie erkennt ihren Vater nicht wieder.

Das ist es auch, was Philip beinahe den Verstand raubt. Er kann die Erinnerung an Pennys Blick nicht aus seinem Kopf verbannen. Wie sie ihn angesehen hat, wenn er sie vom Kindergarten oder von Tante Nina am Ende eines langen, harten Arbeitstags abgeholt hat. Das freudige Wiedererkennen und die Aufregung in den großen Kinderaugen, wenn sie Philip sah. Und verdammt noch mal, ja! Auch die Liebe, die er darin erkannte. Das reichte, sich ihretwegen sämtliche Gliedmaßen auszureißen. Doch jetzt war dieses Leuchten für immer verloren und durch den grauen Film der Untoten ersetzt worden.

Philip weiß, was er zu tun hat.

Penny faucht.

Philips Augen brennen vor Schmerz.

»Ich kann nicht«, murmelt er erneut und blickt zu Boden. Sie so zu sehen löst einen Zorn in ihm aus – wie der Lichtbogen eines Schweißgeräts, der ihn tief im Innersten trifft. Da hört er wieder die Stimme: Reiß die Welt in Stücke, zerfleische sie, reiß ihr das Herz aus der Brust … Warte nicht, tu es jetzt.

Er verlässt die Obstplantage, wobei es sein Herz vor Verzweiflung und Wut fast zerreißt.

Das Anwesen, das von der milden herbstlichen Morgensonne erwärmt wird, ist ein halbmondförmiges Stück Land mit der Villa in der Mitte. Hinter dem Haupthaus auf einer kleinen Anhöhe steht eine Reihe von Außengebäuden: das Kutschenhaus, ein kleiner Schuppen für den Aufsitzmäher und den Traktor, ein zweiter Schuppen für die Werkzeuge, ein Wagenschuppen auf Pfählen für Gäste und eine große hölzerne Scheune mit einer riesigen Windfahne auf dem Kuppeldach. Dorthin will Philip – zur Scheune, die von Holzwürmern zerfressen ist und von der Sonne zu einem hellen Pink gebleicht wurde.

Er muss unbedingt das Gift loswerden, das durch seine Adern pulsiert. Er muss Dampf ablassen.

Der Haupteingang besteht aus einer Doppeltür, die mit einem riesigen Balken auf Schulterhöhe gesichert ist. Philip reißt den Balken aus den Halterungen und öffnet die quietschenden Türen. Zahllose Staubmäuse fegen durch die Scheune. Philip tritt ein und schließt die Türen hinter sich. Es stinkt nach Pferden und verschimmeltem Heu.

In einer Ecke sitzen zwei Gestalten. Sie winden sich, zappeln herum, gefangen in ihrer eigenen privaten Hölle, an Händen und Füßen gebunden und mit Klebeband geknebelt: Sonny und Cher.

Die beiden zittern auf dem Scheunenboden, den Rücken an den Verschlag einer leeren Pferdebox gepresst. Ihre Zuckungen sind die Folge irgendwelcher Entzugserscheinungen – entweder Heroin oder Crack oder sonst etwas. Aber was geht das Philip an? Das Einzige, was ihn im Augenblick interessiert, ist, dass die beiden keine Ahnung haben, wie schlecht es ihnen gleich gehen wird.

Philip tritt zu dem Duo. Die dürre Frau zuckt spasmisch, ihr Gesicht ist mit einer Kruste getrockneter Tränen und Erde verklebt. Der Mann atmet schwer durch die Nase.

Philip baut sich vor den beiden auf, beleuchtet von einem einzigen staubigen Sonnenstrahl, und starrt wie eine zornige Gottheit auf sie herab. »Du«, sagt er zu Sonny. »Eine Frage: Ich weiß, dass es schwierig ist, mit festgeklebtem Kopf zu nicken. Also einmal Blinzeln für Ja und zweimal für Nein.«

Der Mann schielt mit seinen wässrigen Augen zu ihm auf. Er blinzelt einmal.

Philip blickt ihn an. »Willst du zuschauen?«

Blinzel, Blinzel.

Philip fährt mit der Hand zur Gürtelschnalle und fängt an, den Gürtel aufzumachen. »Schade. Das wird bestimmt eine unvergessliche Vorführung.«

Blinzel, Blinzel.

Erneut zweimal blinzeln.

Zweimal blinzeln, zweimal blinzeln, zweimal blinzeln.

»Immer mit der Ruhe, Brian, nicht so schnell«, sagt Nick am Abend danach im Nähzimmer im ersten Stock. Im Licht der Kerosinlampe hilft Nick Brian beim Trinken durch einen Strohhalm. Brians Mund ist geschwollen und unbeweglich. Die Hälfte des Wassers geht daneben. Nick hat alles getan, um Brian das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Am wichtigsten ist es, dass Brian genügend zu sich nimmt und dass es drinbleibt. »Versuch doch noch mal die Gemüsesuppe«, schlägt Nick vor.

Brian schafft zwei Löffel. »Danke, Nick.« Seine Stimme klingt gepresst. Der Schmerz schwingt hörbar mit. »Danke für alles.« Er lallt. Sein Gaumen ist angeschwollen und entzündet. Er redet zögerlich mit Unterbrechungen, während er im Bett liegt. Seine gebrochenen Rippen wurden verbunden. Das Gesicht und der Nacken sind mit Pflastern übersät, die Augen aufgedunsen und violett. Irgendetwas ist auch mit seiner Hüfte passiert, aber keiner weiß, was es genau sein könnte.

»Das wird schon wieder, Alter«, sagt Nick. »Bei deinem Bruder bin ich mir da nicht so sicher.«

»Wieso?«

»Der ist ausgeflippt.«

»Er hat viel durchgemacht, Nick.«

»Wie kannst du ihn auch noch in Schutz nehmen?« Nick lehnt sich zurück und seufzt gequält. »Schau dir nur an, was er mit dir gemacht hat. Und fang nicht wieder mit Penny an. Wir haben alle bereits Menschen verloren, die wir geliebt haben. Er war kurz davor, dich ins Jenseits zu befördern.«

Brian wirft einen Blick auf seine übel zugerichteten Füße, die aus der Bettdecke herausragen. Mit großer Anstrengung meint er schließlich: »Ich habe alles verdient, was er ausgeteilt hat.«

»Red keinen Quatsch! Es war nicht deine Schuld. Aber die Sache hat etwas bei deinem Bruder ausgelöst, was mir echt Sorgen macht.«

»Der schafft das schon.« Brian schaut Nick an. »Was ist denn los? Irgendetwas beschäftigt dich.«

Nick holt tief Luft und überlegt, ob er sich Brian anvertrauen soll. Die Blake-Brüder hatten schon immer eine komplizierte Beziehung. Nick Parsons verstand sich bisher mehr als Philips Bruder als Brian Blake. Dennoch verbindet die beiden Blakes etwas Besonderes. Es ist ein Bund, der tief in ihnen verwurzelt ist.

Endlich spricht Nick. »Ich weiß, dass du es mit der Religion nicht so hast und denkst, ich spinne ein wenig.«

»Das ist nicht wahr, Nick.«

Nick winkt ab. »Das macht nichts. Mein Glaube ist stark, und ich beurteile niemanden nach seiner Religion.«

»Was willst du damit sagen?«

Nick sieht Brian an. »Er hält sie am Leben, Brian … Leben ist in diesem Fall vielleicht nicht das richtige Wort.«

»Penny?«

»Er ist bei ihr da draußen.«

»Wo?«

Nick erklärt, was während der vergangenen zwei Tage seit Pennys Tod vorgefallen ist. Während sich Brian von den Schlägen seines Bruders erholte, war Philip nicht untätig. Er hält zwei der Eindringlinge – die einzigen, die das Gemetzel überlebten – in der Scheune gefangen und behauptet, er frage sie nach weiteren Überlebenden in der Umgebung aus. Nick aber glaubt, dass er sie foltert. Doch das ist nicht das Schlimmste. Penny Blakes Schicksal macht Nick am meisten zu schaffen. »Er hat sie an einem Baum festgebunden, also quasi angekettet wie ein gefangenes Tier«, berichtet er.

Brian runzelt mit der Stirn. »Wo genau?«

»Draußen auf der Obstplantage. Jeden Abend geht er zu ihr und bleibt eine Weile dort.«

»Gütiger Himmel.«

»Hör zu. Ich weiß, dass du davon nichts hältst, aber ich glaube nun einmal daran. Im Universum gibt es zwei Kräfte. Die eine ist gut, die andere böse.«

»Nick, ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist …«

»Nicht so schnell, lass mich ausreden. Ich glaube, dass die Plage oder wie auch immer du es nennen willst das Werk des Bösen, des Teufels, des Satans ist.«

»Nick …«

»Nein, ich will, dass du mir zuhörst. Ich habe viel darüber nachgedacht.«

»Na gut, ich höre.«

»Was hasst Satan am meisten? Die Macht der Liebe? Vielleicht. Wenn jemand wiedergeboren wird? Ja, auch möglich. Aber ich glaube, wenn jemand stirbt und seine Seele aufsteigt – das ist es, was ihn am meisten wurmt.«

»Verstehe ich nicht.«

Nick erwidert Brians verständnislosen Blick. »Das passiert gerade, Brian. Der Teufel hat einen Weg gefunden, wie er die Seelen auf der Erde behalten kann.«

Brian denkt eine Weile nach. Nick erwartet nicht, dass er ihm glaubt, aber vielleicht fängt er zumindest an zu verstehen, worum es gehen könnte.

Der Nordwind pfeift um die Fensterläden. Das Wetter schlägt um. Die Villa ächzt und stöhnt. Nick stellt den Kragen seines Wollhemds auf – vor einigen Tagen haben sie warme Klamotten auf dem Dachboden gefunden. Er beginnt zu frieren. Es ist kalt im ersten Stock. »Was dein Bruder macht, ist falsch, Brian. Es ist gegen Gottes Willen«, erklärt er. Noch lange hallen seine Worte in der eisigen Luft wider.

Zur gleichen Zeit prasselt draußen in der Dunkelheit der Obstplantage ein kleines Lagerfeuer und wirft seine unheimlichen Schatten in die Umgebung. Philip sitzt auf der kalten Erde vor den Flammen, das Gewehr neben ihm. Auf seinem Schoß liegt ein modriges, kleines Buch, das er in einem Kinderzimmer der Villa gefunden hat. »Lass mich rein, lass mich rein, kleines Schwein«, liest Philip in gequältem Singsang vor. »Ich werde strampeln und trampeln, ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten.«

Einen Meter entfernt, an einen Baumstamm gebunden, faucht und geifert Penny Blake bei jedem Wort. Ihre kleinen Zähne beißen erfolglos in die Luft.

»Bin ganz allein, bin ganz allein, ich lass dich nicht ins Haus herein«, fährt Philip fort und blättert die hauchdünne Seite um. Er hält inne und wirft einen Blick auf das Wesen, das einmal seine Tochter war.

Pennys Gesicht verzerrt sich im flackernden Licht der Flammen vor unstillbarem Hunger. Ihre Fratze ist faltig und aufgedunsen, um die Hüften mit Draht an den Baum gebunden, bebt und windet sich. Sie streckt ihre Finger aus und fasst immer wieder ins Leere.

»Und der Wolf strampelt und trampelt, er hustet und prustet und pustet das ganze Haus zusammen.« Eine qualvolle Pause folgt. Dann liest er mit niedergeschlagener Stimme weiter, in der sowohl Trauer als auch Wahnsinn mitschwingen. »Und er fraß das Schweinchen.«

Philip Blake findet im Laufe der Woche nur wenig Schlaf. Er versucht, zumindest ein paar Stunden pro Nacht zu erhaschen, aber er ist so nervös, dass er sich von einer Seite auf die andere wälzt, bis er aufsteht, um etwas – irgendetwas – zu tun. Die meisten Nächte geht er zur Scheune, um seine unbändige Wut an Sonny und Cher auszuleben. Sie sind die Auslöser, warum sich Penny verwandelt hat, und es ist Philips Aufgabe sicherzustellen, dass sie so sehr leiden, wie noch nie ein Mann oder eine Frau vor ihnen gelitten hat. Die Aufgabe, sie nicht sterben zu lassen, macht ihm zu schaffen. Ab und zu muss Philip ihnen Wasser geben, damit sie am Leben bleiben. Er muss auch aufpassen, dass sie sich nicht selbst umbringen, um ihren Qualen zu entkommen. Wie jeder gute Kerkermeister hält er sie gefesselt und außer Reichweite jeglicher scharfer Gegenstände.

In dieser Nacht aber – Philip glaubt, dass Freitag ist – wartet er, bis Brian und Nick eingeschlafen sind, ehe er aus seinem Schlafzimmer schlüpft, seine Jeansjacke überwirft und die Stiefel anzieht, um sich aus der Hintertür über den mondbeschienenen Hinterhof zu der verwitterten Scheune zu schleichen. Wie immer kündigt er sich laut an.

»Daddy ist wieder da«, flüstert er gespielt freundlich. Sein Atem ist in der kalten Nachtluft zu sehen, als er das Vorhängeschloss abnimmt und die Tore öffnet.

Er schaltet die batteriebetriebene Lampe an.

Sonny und Cher sitzen zusammengesackt in der Ecke, in die er sie gepfercht hat – zwei mitgenommene Geschöpfe, gefesselt wie zwei Schweine, Seite an Seite. Sie sitzen in einer Lache aus Blut und Fäkalien. Sonny ist kaum bei Bewusstsein. Sein Kopf hängt herab, seine Junkie-Augenlider rot umrandet, auch Cher ist wie bewusstlos. Sie liegt neben ihm, ihre Lederhose hängt ihr um die Fesseln.

Sie hören die Geräusche von Philips Folterwerkzeugen – eine Nadelzange, Stacheldraht, Kanthölzer mit rostigen Nägeln und diverse ungehobelte Hölzer und stumpfe Metallgegenstände, die Philip zusammengesammelt hat.

»Aufwachen, meine Liebe!« Philip dreht die Frau auf den Rücken. Die Fesseln schnüren sich in ihre Handgelenke, aber der Strick um ihren Nacken lässt nicht zu, dass sie allzu sehr protestiert. Er verpasst ihr einen Schlag, und ihre Augen öffnen sich für einen Moment. Er verpasst ihr eine weitere Ohrfeige. Jetzt kommt sie zu sich. Ihre Schreie werden durch das Klebeband über ihren Mund hörbar gedämpft.

Irgendwann schafft sie es, ihren blutigen Schlüpfer wieder hochzuziehen, um sich zu bedecken.

»Ich möchte euch noch einmal auf etwas hinweisen«, sagt Philip und reißt ihr den Schlüpfer wieder bis zu den Knien herunter. Er steht über ihr und drückt ihre Beine mit seinen Stiefeln auseinander, um den Weg frei zu machen. Sie windet sich unter ihm, als ob sie aus ihrer eigenen Haut fliehen will. »Ihr seid diejenigen, die mir meine Tochter genommen haben. Also gehen wir auch zusammen in die Hölle.«

Philip öffnet den Gürtel, lässt die Hose fallen und will sich gerade in eindeutiger Weise um Cher kümmern, als er draußen Schritte hört, die auf dem Kies knirschen. Schritte, die sich der Stelle nähern, wo Penny ist!

Philip verlässt die Scheune und sieht, wie die Gestalt im Schatten der Bäume verschwindet. Sie hat eine gedrungene Statur und wirkt wie ein Mann um die dreißig. Er trägt Jeans und einen Pullover und schultert eine große rostige Schaufel.

»Nick!«

Philips Ruf wird nicht erwidert. Nick ist zwischen den Bäumen verschwunden.

Philip zieht die Neun-Millimeter aus dem Gürtel und rennt zur Obstplantage. Auf dem Weg dorthin schiebt er ein neues Magazin hinein, ehe ihn die Dunkelheit erfasst und er die Taschenlampe anmachen muss.

In zehn Metern Entfernung sieht er, dass Nick Parsons seine Taschenlampe auf das bleigraue Gesicht der Penny-Kreatur richtet.

»NICK!«

Nick dreht sich um, die Schaufel bereits erhoben. Er lässt die Taschenlampe fallen. »Das ist schon zu weit gegangen, Philly. Viel zu weit.«

»Runter mit der Schaufel«, befiehlt Philip und tritt mit erhobener Pistole zu ihm. Der Schein der Taschenlampe erhellt die Blätter und taucht die Szene in ein unheimliches Licht – fast wie in einem grobkörnigen Schwarzweißfilm.

»Du kannst deiner Tochter so etwas nicht antun. Du weißt nicht, was du da verbrichst.«

»Runter mit der Schaufel!«

»Du hältst ihre Seele davon ab, ins Paradies zu kommen, Philly.«

»Halt’s Maul!«

Fünf Meter entfernt reißt das Penny-Geschöpf an seinen Fesseln. Der Strahl der Taschenlampe, die auf dem Boden liegt, erhellt ihre monströsen Gesichtszüge. In ihren Augen spiegelt sich das silbrige Licht wider.

»Philly, hör mir zu.« Nick senkt die Schaufel. In seiner Stimme schwingt tiefes Mitleid mit. »Du musst sie sterben lassen … Sie ist eines von Gottes Kindern. Bitte … Ich flehe dich an, als Christ … Bitte erlöse sie.«

Philip zielt mit dem Lauf der Pistole direkt auf Nicks Stirn. »Wenn sie stirbt … Dann bist du der Nächste.«

Einen Augenblick lang scheint es, als ob Nick Parsons verloren hätte.

Er lässt die Schaufel fallen, den Kopf hängen und macht sich dann wieder wortlos auf den Weg zur Villa.

Während dieser schrecklichen Auseinandersetzung hält das Penny-Wesen seinen gierig ausdruckslosen Blick auf den Mann gerichtet, der einmal sein Vater war.

Brian geht es immer besser. Sechs Tage nach den Schlägen fühlt er sich fit genug, um aufzustehen und durch das Haus zu hinken. Seine Hüfte tut bei jedem Schritt weh, und er leidet unter Schwindelanfällen, wenn er die Treppe hinauf- oder hinuntermuss. Aber im Großen und Ganzen kann er zufrieden sein. Seine Prellungen und Blutergüsse sind mehr oder weniger abgeklungen, und er verspürt die ersten Anzeichen von Appetit. Außerdem hat er sich mit Philip unterhalten.

»Ich vermisse sie so sehr«, beichtet Brian seinem Bruder eines Nachts in der Küche. Beide Männer leiden noch immer unter Schlaflosigkeit. »Ich würde sofort mit ihr tauschen, wenn sie nur wieder zu uns zurückkehren könnte.«

Philip blickt zu Boden. Er hat eine Reihe von kaum merklichen Eigenarten entwickelt, die nur zutage treten, wenn er unter Druck steht. Er schnüffelt, schürzt die Lippen und räuspert sich. »Ich weiß, Junge. Es war nicht dein Fehler … Das, was sich da draußen abgespielt hat. Ich hätte dir das nie antun dürfen.«

Brian steigen die Tränen in die Augen. »Ich hätte mich wohl nicht anders verhalten.«

»Vergessen wir es am besten.«

»Klar.« Brian wischt sich die Augen und schaut seinen Bruder an. »Und was ist mit den Leuten in der Scheune?«

Philip erwidert Brians Blick. »Was soll mit ihnen sein?«

»Die ganze Situation macht Nick nervös … Und dann diese Geräusche … Nachts, meine ich. Nick glaubt, dass du … äh … Ihnen die Fingernägel ausreißt.«

Ein kaltes Lächeln spielt um Philips Lippen. »Das ist doch krank.«

Brian verzieht keine Miene. »Philip. Ganz gleich, was du in der Scheune anstellst – es bringt Penny nicht zurück.«

Philip senkt den Kopf. »Das weiß ich … Glaubst du denn, dass ich mir dessen nicht bewusst bin?«

»Dann flehe ich dich an: Hör auf damit. Ganz gleich, was du dort anstellst – hör auf!« Brian starrt ihn an. »Das hat doch keinen Zweck.«

Philip hebt den Kopf und starrt seinen Bruder an. Seine Augen glühen vor Besessenheit. »Der Abschaum da draußen hat mir alles genommen, was mir jemals etwas bedeutet hat … Der Glatzkopf und seine Bande … Die beiden Junkies … Sie haben das Leben eines wunderschönen, unschuldigen, kleinen Mädchens zerstört. Aus Wahnsinn und Habgier. Es gibt nichts, das ich ihnen antun könnte, was auch nur annähernd eine gerechte Strafe wäre.«

Brian seufzt. Weitere Proteste würden auf taube Ohren stoßen, das weiß er. Also nimmt er seinen Kaffeebecher.

»Und du liegst falsch mit der Behauptung, dass es keinen Zweck hat«, fährt Philip nach einer Weile fort. »Es dient dem Zweck, dass es mir besser geht.«

Am nächsten Abend, nachdem sie die Lichter ausgemacht haben und die Feuer in den Kaminen verglühen, beginnt der Wind mit den Dachfenstern und den losen Schindeln zu spielen. Brian liegt in seinem Bett im Nähzimmer und versucht, sich einem unruhigen Schlaf hinzugeben, als er eine Tür hört und Nick Parsons’ Silhouette auf seiner Schwelle erscheint. Brian setzt sich auf. »Was ist los, Nick?«

»Still«, flüstert Nick, tritt zu ihm ans Bett und kniet sich hin. Er trägt einen Mantel und Handschuhe. Eine Ausbuchtung an der Hüfte lässt darauf schließen, dass er eine Pistole eingesteckt hat. »Nicht so laut.«

»Was ist los?«

»Dein Bruder schläft … Endlich.«

»Und?«

»Na, wir müssen also … Wie heißt es? Wir müssen … eingreifen.«

»Was? Meinst du Penny? Hast du etwa noch einmal vor, Penny ins Jenseits zu befördern?«

»Nein! Die Scheune, Mann! Die Scheune!«

Brian reibt sich die Augen und streckt seine schmerzenden Gliedmaßen. »Ich weiß nicht, ob ich mir das schon wieder antun will.«

Sie schleichen aus der Hintertür, jeder von ihnen mit einer Knarre bewaffnet. Nick hat die Waffe des Glatzkopfs eingesteckt, und Brian den Achtunddreißiger mit dem kurzen Lauf. Leise laufen sie durch den Hinterhof zur Scheune. Dort richtet Brian den Strahl seiner Taschenlampe auf das Vorhängeschloss. Sie nehmen ein Stück Holz von einem Stapel und brechen damit, so leise wie es geht, die maroden Tore auf.

Brians Herz schlägt ihm bis zum Hals, als sie sich in die dunkle Scheune wagen.

Der Gestank nach Schimmel und Fäkalien schlägt ihnen entgegen. Er wird immer penetranter, je tiefer sie sich in die düsteren Schatten der Scheune begeben. Endlich erkennen sie zwei dunkle Gestalten, die in einer Blutlache liegen, das so schwarz wie Öl ist. Sie scheinen kaum mehr etwas Menschliches an sich zu haben. Als Brian den Schein der Lampe auf ein blasses Gesicht richtet, verschlägt es ihm den Atem.

»Grundgütiger!«

Der Mann und die Frau sind noch am Leben – gerade noch. Ihre Gesichter sind entstellt und stark angeschwollen, auf ihren entblößten Körpern sind überall offene Wunden, aus denen Eiter quillt. Beide stehen kurz vor der Bewusstlosigkeit. Ihre halb geschlossenen Augen starren zu den Dachsparren. Die Frau wurde brutalst misshandelt und vergewaltigt. Sie gleicht einer gebrochenen Gliederpuppe. Ihre Beine sind auseinandergerissen, und ihre weiße, tätowierte Haut ist voll getrocknetem Blut.

Brian fängt zu stammeln an. »Mein Gott … Was ist … Grundgütiger …«

Nick kniet sich neben die Frau. »Brian, hol Wasser.«

»Und was ist mit …«

»Aus dem Brunnen, und zwar schnell!«

Brian überlässt Nick die Taschenlampe, dreht sich um und eilt aus der Scheune.

Nick richtet den Strahl auf die Wunden und Entzündungen – manche von ihnen sind bereits alt und halb verfault. Die Brust des Mannes hebt und senkt sich in raschen Abständen. Die Frau bemüht sich, ihre wässrigen Augen auf Nick zu fokussieren. Sie blinzelt wie eine Wahnsinnige.

Ihre Lippen bewegen sich unter dem Klebeband. Nick zieht es vorsichtig von ihrem Gesicht.

»B-b-biiittt-t-t-ttt …« Sie versucht, ihm etwas mitzuteilen, etwas Dringendes, aber Nick versteht kein Wort.

»Es ist alles gut. Wir sind hier, um euch zu helfen. Alles wird gut.«

»T-t-tttö …«

»Was? Ich verstehe nicht …«

Die Frau versucht noch einmal zu schlucken. »T-töte unssss … B-bitte …«

Nick starrt sie an. Sein Magen verkrampft sich. Er spürt, wie ihn etwas an der Hüfte berührt. Es ist die schorfbedeckte Hand der Frau, die nach dem Pistolengriff fasst, der aus Nicks Gürtel ragt. Nick gibt innerlich nach, und sein Herz rutscht ihm bis in die Hose.

Er zieht seine Waffe heraus, steht auf und starrt lange auf die beiden übel zugerichteten Geschöpfe vor ihm.

Dann spricht er ein Gebet. Den dreiundzwanzigsten Psalm.

Brian ist auf dem Rückweg zur Scheune. Er trägt einen Plastikeimer voll Brunnenwasser. Plötzlich hört er zwei gedämpfte Schüsse. Sie klingen wie Feuerwerkskörper, die in Dosen explodieren. Die Schüsse sind kurz und hart. Brian hält mitten im Schritt inne, sodass er etwas Wasser verschüttet. Überrascht stößt er einen leisen Schrei aus.

Da bemerkt er im Augenwinkel, wie ein kleines Licht hinter einem der Fenster im oberen Geschoss der Villa angeht. Philips Zimmer. Der Strahl einer Taschenlampe erscheint und verschwindet wieder, gefolgt von einer Reihe von Schritten die Treppe hinunter und durch das Haus – schnell und zielstrebig. Brian schüttelt sich.

Er lässt den Kübel stehen und rennt über den Hinterhof in die dunkle Scheune. Er sieht einen kleinen silbernen Lichtstrahl und rast auf Nick zu, der sich gerade über die zwei Gefangenen beugt.

Kordid steigt aus dem Lauf der Waffe in Nicks rechter Hand. Sie hängt jetzt locker an seiner Seite herab. Beide Männer starren auf die leblosen Körper vor ihnen.

Brian will gerade etwas sagen, als er den Blick auf die klaffenden Kopfwunden richtet, Blut und Gewebe bilden ein bizarres Gebilde auf der Stalltür, an der die beiden lehnten. Jetzt schimmern die menschlichen Überreste im Schein der Taschenlampe.

Mann und Frau sind tot. Beide liegen in ihrem Blut. Ihre Gesichter wirken fast friedlich, endlich befreit von den Qualen der Folter und der Pein. Brian versucht erneut, etwas zu sagen.

Aber es fehlen ihm die Worte.

Einen Moment später werden die Flügeltore aufgerissen, und ein zorniger Philip stürmt herein. Die Hände sind zu Fäusten geballt, das Gesicht vor Rage verzerrt, die Augen funkeln wahnsinnig. Er rennt durch die Dunkelheit auf das Licht zu. Es sieht so aus, als ob er die beiden verschlingen will. In seinem Gürtel stecken eine Pistole und eine Machete.

Dann wird er langsamer.

Nick hat sich von den Leichen abgewandt, weicht aber keinen Zentimeter zurück, als Philip auf sie zukommt. Brian hingegen tritt einen Schritt beiseite. Eine tiefe Scham erfasst ihn. Es ist, als ob seine Seele entzweigerissen würde. Er starrt zu Boden, als sein Bruder langsam näher kommt, und lässt dann den Blick nervös zwischen den beiden leblosen Körpern und Nick hin und her wandern.

Niemand sagt ein Wort. Philip schaut Brian an, der versucht, seine lähmende Scham zu verbergen. Je mehr er sich jedoch darauf konzentriert, desto schlimmer wird es.

Wenn Brian doch nur den Mut aufbringen könnte, würde er sich den Lauf seiner Pistole in den Mund stecken, um sich zu erlösen. Auf irgendeine perverse Art glaubt er, dass er an allem Schuld hat, aber er ist zu feige, um sich selbst das Leben zu nehmen – wie ein richtiger Mann das tun würde.

Also steht er nur da und weiß vor Scham und Schmach nicht, wo er hinsehen soll.

Die übel zugerichteten Körper der beiden Toten zusammen mit dem unerbittlichen Schweigen seines Freundes und seines Bruders lösen bei Philip etwas aus. Wie bei einer unsichtbaren Kettenreaktion fängt er an, innerlich zusammenzubrechen.

Er kämpft gegen Tränen an und reckt das bebende Kinn. Er verspürt eine Mischung zwischen Trotz und Selbstverachtung. Sein Mund bewegt sich, als ob er etwas Wichtiges mitzuteilen hätte, und doch muss er sich ungeheuer anstrengen, um etwas hervorzubringen. »Wie auch immer.«

Nick glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. Er starrt Philip ungläubig an. »Wie auch immer?«

Philip dreht sich um und geht. Er zieht die Glock aus dem Gürtel, entsichert sie und ballert auf die Bretterwand der Scheune. BUUUUMMMMM! Der Rückstoß fährt durch seine Hand ins Handgelenk, und der laute Knall lässt Brian zusammenzucken. BUUUUMMMMM! Ein weiterer Schuss. Das Mündungsfeuer erhellt kurz die düstere Scheune, und die Kugel zerfetzt einen Teil des maroden Tors. BUUUUMMMMM! Der dritte Schuss landet in den Dachsparren. Schutt, Staub und Heu regnen auf sie herab.

Wütend tritt Philip gegen das Flügeltor und stürmt aus der Scheune.

Dann herrscht Schweigen. Brian hat während der ganzen Zeit nicht aufgeschaut. Auch jetzt lässt er den Kopf gesenkt und starrt trostlos auf das verschimmelte Heu. Nick wirft einen letzten Blick auf die leblosen Körper und gibt ein langes, schmerzvolles Seufzen von sich, ehe er den Kopf schüttelt. »Nicht zu glauben«, sagt er schließlich.

Etwas schwingt in seiner Stimme mit – ein Anflug von Furcht? –, was Brian zeigt, dass sich etwas in ihrer kleinen Patchworkfamilie verändert hat – unwiderruflich für immer.

Zwanzig

Was zum Teufel macht er da?« Nick steht am Fenster des Wohnzimmers und starrt in den bewölkten Morgen hinaus.

Am anderen Ende des Vorhofs direkt hinter der Auffahrt zerrt Philip seine Tochter an einer Art Hundeleine aus diversen Teilen, die er im Geräteschuppen gefunden hat, hinter sich her. Von fern sieht es wie ein langes Kupferrohr mit einem Stachelhalsband. Philip zieht Penny hinter sich her zu dem Ford S-10 Pick-up, der auf dem Stück Gras geparkt ist. Der Wagen stammt von Glatzkopf und seiner Bande. Jetzt hat Philip ihn beschlagnahmt und mit Essen, Waffen und Bettzeug beladen.

Penny zischt und knurrt, während sie sich widerwillig durch die Gegend zerren lässt. Sie greift nach dem Kupferrohr und beißt Löcher in die Luft. Im wässrigen Morgenlicht ähnelt ihr totes Gesicht einer lebendig gewordenen Halloween-Maske aus wurmgrauem Ton.

»Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit klarzumachen«, meint Brian, der neben Nick steht und ebenfalls auf die bizarre Szene starrt, die sich draußen abspielt. »Er ist heute Morgen aufgestanden und hat behauptet, dass wir keinen Augenblick länger hierbleiben können.«

»Wieso?«

Brian zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung … Nach all dem, was passiert ist … Ich glaube, die ganze Gegend hier ist für ihn verseucht, voller Geister … Was weiß ich, was in seinem Kopf vorgeht.«

Brian und Nick haben die ganze Nacht über kein Auge zugemacht, sondern Unmengen von Kaffee getrunken und sich über die Situation unterhalten, in der sie sich befinden. Nick glaubt, dass Philip jetzt endgültig durchgedreht ist. Die schreckliche Geschichte mit Penny und der Druck, sich um Brian und ihn zu kümmern, seien einfach zu viel gewesen. Obwohl Nick es nicht klar ausspricht, glaubt er, dass der Teufel nun Besitz von Philip genommen hat. Brian ist zu erschöpft, sich mit Nick über metaphysische Themen zu unterhalten, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass sich die Lage drastisch verschlimmert hat.

»Lass ihn gehen«, meint Nick endlich und wendet sich vom Fenster ab.

Brian wirft ihm einen Blick zu. »Was soll das heißen? Willst du damit etwa sagen, dass du hierbleiben willst?«

»Genau das. Ich bleibe hier, und ich finde, das solltest du auch.«

»Nick, mach keine Scherze.«

»Wie können wir ihm weiter hinterherlaufen? Nach dieser ganzen Sache … Nach all dem, was hier passiert ist?«

Brian fährt sich über den Mund und überlegt einen Augenblick. »Pass auf. Ich sage es gerne noch einmal. Was er mit diesen Leuten angestellt hat, ist unvorstellbar. Er ist vom Weg abgekommen, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn jemals wieder mit gleichen Augen sehen werde … Aber wir müssen überleben – nicht mehr und nicht weniger. Wir dürfen uns nicht trennen. Unsere beste Chance besteht darin, dass wir zusammenhalten. Komme, was wolle.«

Nick schaut wieder aus dem Fenster. »Glaubst du wirklich, dass wir es bis zu Küste vom Golf von Mexiko schaffen? Das sind locker sieben-, wenn nicht achthundert Kilometer.«

»Ich wiederhole mich gern: Unsere beste Chance besteht darin zusammenzuhalten.«

Nick sieht Brian an. »Er hat seine tote Tochter an einem Halsband. Er hat dich beinahe zu Tode geprügelt. Brian, der Mann ist eine tickende Zeitbombe, die jederzeit hochgehen und uns um die Ohren fliegen kann.«

»Diese tickende Zeitbombe hat uns durch ganz Georgia gebracht – von Waynesboro bis hierher«, knurrt Brian. Allmählich wird er wütend. »Dann ist er eben verrückt, explosiv und hat mit Dämonen zu kämpfen. Mann, dann ist er eben der verdammte Fürst der Finsternis … Aber er ist noch immer mein Bruder und unsere beste Chance, am Leben zu bleiben.«

»Nennen wir das jetzt so? Überleben?«

»Wenn du hierbleiben willst, dann bitte. Ich werde dich nicht davon abhalten.«

»Vielen Dank. Genau das habe ich auch vor.«

Nick wendet sich vom Fenster ab und verschwindet im Haus. Brian starrt weiterhin nervös zu seinem Bruder hinaus.

Sie müssen Benzin sammeln und benutzen einen Kühlerschlauch zum Absaugen sämtlicher Tanks – der Traktoren, Autos und Harleys –, um den Treibstoff in den Ford S-10 zu füllen. Nach getaner Arbeit ist der Sechzig-Liter-Tank voll, und sie haben noch eine ganze Menge übrig. Philip richtet Penny einen Platz auf der Ladefläche ein, indem er die Kisten mit Proviant in einem Halbkreis aufstellt und den Boden mit Decken auslegt. Dann kettet er sie an einen Bügel in der Ladefläche, sodass sie nichts anstellen oder sogar abspringen kann.

Nick beobachtet das Treiben vom Zimmer im ersten Stock aus und tigert dabei wie ein Raubtier in einem Käfig auf und ab. Die Realität der Lage scheint sich jetzt auch ihm zu offenbaren. Er wird allein in dieser großen, zugigen Villa zurückbleiben. Er wird die Nächte hier ohne jemand anderen aushalten müssen. Er wird den ganzen Winter über einsam sein. Er wird den Nordwind hören, wie er durch die Fensterläden pfeift, und das Stöhnen der Beißer wird zu ihm dringen, während sie in der Obstplantage herumstreifen … Aber vor allem wird er allein sein. Er wird einsam aufwachen, einsam essen, einsam nach Essbarem suchen, einsam von besseren Tagen träumen und einsam Gott um Erlösung anflehen … Alles allein. Während er Philip und Brian bei den letzten Vorbereitungen zur Abreise zusieht, ergreift ihn ein Gefühl des Bedauerns. Ist es Reue? Er geht durch das Zimmer zum Schrank.

Es dauert nur Sekunden, um das Nötigste in seine Tasche zu werfen.

Dann stürzt er aus dem Zimmer und rennt die Treppe hinunter, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nimmt.

Brian macht es sich auf dem Beifahrersitz bequem, und Philip legt gerade den ersten Gang ein, als sie das laute Zuknallen der Haustür hören.

Brian wirft einen Blick zurück und sieht, wie Nick mit einer über die Schulter geworfenen Tasche auf sie zuläuft und ihnen zuwinkt.

Es ist kaum vorstellbar, dass Philip nicht auf die Idee gekommen ist, einen Blick unter die Motorhaube des Trucks zu werfen. Wenn er sich nur drei Minuten Zeit genommen hätte, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist, hätte er den kaputten Schlauch bemerkt. Aber Philip Blake ist in diesen Tagen nicht mehr das, was man hundertprozentig einsatzbereit nennt. Im Augenblick gleicht sein Kopf eher einem Kurzwellenradio, bei dem ständig die Station gewechselt wird.

Ganz gleich, ob die Eindringlinge den Schlauch absichtlich am Tag des Kampfes kaputt gemacht haben – um sicherzugehen, dass niemand flüchten kann? – oder ob es eine umherstreunende Kugel war, die sich erst durch den Kühler bohrte, um dann den Schlauch zu durchdringen oder ob es sich um reinen Zufall handelt – es ändert jedenfalls nichts an der Tatsache, dass der Truck keine acht Kilometer weiter zu qualmen beginnt.

Etwa achtzig Kilometer südwestlich von Atlanta, in einer Gegend, von denen die meisten Menschen behaupten würden, sie liegt in der Mitte von Nirgendwo, fängt der Pick-up zu stottern an. Philip lenkt ihn vom Highway auf den Standstreifen, wo der Wagen seinen Geist aufgibt. Sämtliche Warnleuchten auf dem Armaturenbrett blinken auf, und weißer Dampf schießt unter der Motorhaube hervor. Jegliche Versuche, ihn erneut zu starten, schlagen fehl. Philip beschimpft das Auto in unflätigster Weise und tritt vor Wut mit seinen Stiefeln beinahe ein Loch in die Karosse. Die beiden anderen Männer starren auf den Boden und warten schweigend darauf, dass der Anfall vorübergeht. Brian wundert sich, ob sich so eine misshandelte Ehefrau fühlt: Man hat zu viel Angst, um zu fliehen, aber auch zu viel Angst, um zu bleiben.

Nach geraumer Zeit beruhigt sich Philip wieder. Er steigt aus und öffnet die Motorhaube.

Brian geht zu ihm. »Und? Wie sieht es aus?«

»Total im Eimer.«

»Keine Chance, ihn zu reparieren?«

»Hast du zufällig einen Kühlschlauch dabei?«

Brian wirft einen Blick über die Schulter die Böschung hinab, an deren Fuß ein Haufen alter Autoreifen und Müll liegen. Er verfolgt die Spur Unrat und sieht etwa in fünfhundert Metern Entfernung eine Gruppe von Beißern, die sich im Müll tummeln. Sie stolpern durch die Gegend auf der Suche nach Frischfleisch und gleichen einer Herde Trüffelschweine. Noch haben sie das liegen gebliebene Auto nicht bemerkt, das dampfend auf dem Notstreifen steht.

Auf der Ladefläche beginnt Penny auf einmal, heftig an ihrer Kette zu zerren. Die Nähe zu den anderen Untoten scheint sie aufzuregen.

»Und jetzt?«, will Brian von seinem Bruder wissen, der vorsichtig und so leise wie möglich die Motorhaube wieder schließt.

Nick steigt ebenfalls aus und gesellt sich zu ihnen. »Und? Wie soll es weitergehen?«

Brian antwortet: »Der Plan lautet: alles beschissen.«

Nick kaut auf den Fingernägeln herum und schaut über die Schulter auf die Zombiegruppe, die sich langsam und unbeholfen durch den Müll auf sie zubewegt. »Philip, wir können hier nicht warten. Wir brauchen ein anderes Auto.«

Philip stößt einen Seufzer aus. »Okay, ihr wisst ja mittlerweile, wie es geht. Schnappt euch eure Sachen, und ich nehme Penny.«

Schwer beladen machen sie sich mit Penny an der Leine auf den Weg. Zuerst folgen sie den Notstreifen entlang dem Highway. Brian humpelt mit, ohne sich zu beschweren – trotz des stechenden Schmerzes in seiner Hüfte. In der Nähe von Greenville müssen sie einen Umweg in Kauf nehmen, weil eine Massenkarambolage ihnen den Weg versperrt. Um die Autowracks und die ausgebrannten Karossen, die sich über beide Fahrbahnen ausbreiten, wimmelt es nur so von Zombies. Es hat den Anschein, als ob sich dort die Erde geöffnet und eine Unmenge von Untoten ausgespuckt hätte.

Sie biegen in eine kleine zweispurige Straße ein – Rural Route 100 –, die sich nach Süden durch Greenville schlängelt und den Stau umrundet. Nach zwei oder drei Kilometern hebt Philip die Hand und hält an.

»Einen Augenblick«, meint er, runzelt die Stirn und neigt den Kopf zur Seite. »Was in aller Welt kann das sein?«

»Was?«

»Das Geräusch.«

Philip lauscht, und auch die anderen sperren die Ohren auf. Er dreht sich langsam im Kreis, um die Richtung besser bestimmen zu können, aus der das Geräusch kommt. »Ist das ein Motor oder was?«

Jetzt hört es auch Brian. »Klingt eher wie ein Panzer!«

»Oder vielleicht ein Bulldozer?«, mutmaßt Nick.

»Was auch immer«, sagt Philip. »Allzu weit weg kann es jedenfalls nicht sein.«

Sie machen sich wieder auf den Weg. Nach knapp eineinhalb Kilometern stehen sie vor einem verbeulten Schild:

WOODBURY – 1 MI.

Sie gehen weiter und betrachten verwundert den verqualmten Himmel im Westen.

»Mit wem auch immer wir es hier zu tun haben – an Treibstoff fehlt es ihnen jedenfalls nicht«, sagt Nick.

Brian mustert die Staubwolke am Horizont. »Glaubst du, dass sie uns freundlich gesinnt sind?«

»Ich will da nichts dem Zufall überlassen«, meint Philip. »Los … Suchen wir erst einmal weiter. Immer eins nach dem anderen.«

Philip führt die Truppe über den Notstreifen und die unkrautbewachsene Böschung hinab.

Sie eilen über einen Acker – ein riesiges, brachliegendes Feld mit weicher Erde, in die sie mit jedem Schritt tief einsinken. Der kalte Wind pfeift ihnen um die Ohren, und es dauert länger als erwartet, um die Vororte von Woodbury links liegen zu lassen und das verlassene Städtchen zu erreichen.

Ein Walmart-Schild ragt über eine Gruppe alter Eichen, die gelben Bögen eines McDonald’s erheben sich kurz dahinter. Müll wird durch die Straßen geblasen, vorbei an Ziegelgebäuden, die noch aus der Zeit kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg stammen. An der nördlichen Stadtgrenze, inmitten eines Gewirrs aus Maschendrahtzäunen, verrät das Brummen von Motoren, Hämmern und Stimmengewirr die Anwesenheit von Menschen.

»Sieht ganz so aus, als ob sie eine Mauer oder so etwas bauen«, mutmaßt Nick, als sie hinter einer Gruppe von Bäumen in Deckung gehen. In der Ferne, etwa zweihundert Meter im Norden, macht sich rund ein Dutzend Gestalten an einem Wall zu schaffen, der bereits eine Länge von fast zwei Häuserblocks aufweist.

»Sonst scheint hier alles tot zu sein«, meint Philip. »Gibt wohl nicht so viele Überlebende.«

»Was zum Teufel ist das?«, will Brian wissen und deutet auf eine Reihe von Flutlichtern, die halbkreisförmig über ein paar Häuserblocks westlich der Barrikade herausragen. Häuser, Zäune und Mauern verwehren den Blick auf das, was sie erhellen sollen.

»Vielleicht American Football für die Highschool?«, rät Philip und greift nach seiner Glock. Er zieht sie aus der Jeans und überprüft, wie viele Kugeln er im Magazin hat – noch sechs Hohlspitzgeschosse.

»Philip, was denkst du?«, will Nick mit nervöser Stimme wissen.

Brian überlegt, ob Nick Angst hat, erneut in eine Falle zu geraten. Vielleicht stellt er sich auch nur so an, weil Philip mit dabei ist.

Ehrlich gesagt ist auch Brian nicht sonderlich darauf erpicht, diese Leute aufzuscheuchen – insbesondere deshalb, weil sie einen vermodernden Zombie mit sich herumschleppen und der Vater des besagten Zombies nervlich derart angespannt ist, dass er jederzeit zu allem fähig zu sein scheint.

Aber haben sie eine Wahl? Am westlichen Horizont ballen sich schon wieder düstere Wolken zusammen, und außerdem wird es kälter.

»Was hast du da, Junge?«, will Philip von Brian wissen und weist mit dem Kopf auf Brians Gürtel. »Ist das etwa die Achtunddreißiger?«

»Ja.«

»Und du hast die 357er?«, fragt er Nick, der nervös nickt. »Alles klar. Hier ist der Plan …«

Sie nähern sich von Nordosten. Bei einem Wäldchen treten sie ins Freie auf die Schienen. Langsam und mit erhobenen Händen gehen sie den Strang entlang und signalisieren so, dass sie nichts Böses im Schilde führen. Es dauert überraschend lange, ehe sie von einem der mindestens zwölf Menschen überhaupt wahrgenommen werden, obwohl sie Fremde sind, die in eine unbekannte Stadt kommen.

»He!« Ein gewichtiger Mann mittleren Alters in einem schwarzen Rollkragenpulli springt von einem Bulldozer und zeigt auf die Neuankömmlinge. »Bruce! Schau mal, wir bekommen Gesellschaft!«

Ein weiterer Arbeiter – ein groß gewachsener schwarzer Mann in einem Parka mit glatt rasiertem Schädel – hört zu hämmern auf. Er blickt auf, und seine Augen weiten sich. Er greift nach dem Gewehr, das neben ihm an einer Kühlbox lehnt.

»He, immer mit der Ruhe, Leute!« Philip geht langsam über den staubigen Parkplatz voller Trucks auf sie zu, noch immer die Hände in der Luft. Sein Gesichtsausdruck soll ruhig wirken, und tatsächlich macht er einen einigermaßen freundlichen Eindruck. »Wir sind auf der Durchreise … Wir suchen keinen Streit.«

Brian und Nick folgen ihm langsam, ebenfalls mit erhobenen Händen.

Die beiden Männer nähern sich der Truppe. Jeder von ihnen hat ein Gewehr dabei. »Das sieht aber nicht so aus!«, sagt der Schwarze und weist mit dem Kopf auf ihre Gürtel. Er hat die Pistolen erspäht.

»Die sind alle gesichert«, antwortet Philip, hält inne und greift dann langsam nach seiner Glock. »Ich werde dir die Knarre zeigen. Ganz ruhig, versteht sich.«

Er zieht die Waffe vorsichtig aus der Hose und zeigt ihn den Männern.

»Und ihr beide?«, fordert der Mann im Rollkragenpulli Brian und Nick auf.

Sie folgen Philips Beispiel.

»Seid ihr nur zu dritt?« Dem Akzent nach kommt der Mann mit dem Rollkragenpulli aus dem Norden. Sein kurz geschorenes, blondes Haar weist hier und da graue Stellen auf, und er hat den Stiernacken und Brustumfang eines Schwergewichtsboxers. Sein Bauch quillt über den Gürtel.

»Nur wir drei«, entgegnet Philip und lügt nicht einmal. Er hat Penny an einen Baum gebunden – im Schutz des kleinen Wäldchens circa hundert Meter von der Barrikade entfernt. Philip hat sie außerdem noch mit weiteren Stricken gefesselt und sie mit einem Halstuch geknebelt, sodass sie keinen Laut von sich geben kann. Es hat ihm beinahe die Tränen in die Augen getrieben, ihr das Halstuch in den Mund zu stecken. Aber bis er weiß, mit wem und was er es hier zu tun hat, will er sie erst einmal verstecken.

»Was ist mit euch passiert?«, will der Mann mit dem Rollkragenpulli von Brian wissen und deutet auf seine Wunden.

»Er hat sich wacker geschlagen, als ein paar Zombies auf ihn los sind«, erklärt Philip.

Der Mann im Rollkragenpulli senkt sein Gewehr. »Seid ihr aus Atlanta?«

»Nein. Aus einem kleinen Kaff namens Waynesboro«, erwidert Philip.

»Seid ihr irgendwelchen Sicherheitskräften begegnet?«

»Nein.«

»Habt ihr den Weg allein zurückgelegt?«

»So gut wie«, erwidert Philip und schiebt seine Waffe wieder in den Gürtel. »Wir wollen uns nur ein wenig ausruhen, und dann sind wir wieder weg.«

»Habt ihr etwas zu essen dabei?«

»Nein.«

»Zigaretten?«

»Nein.« Philip deutet auf Brian und Nick. »Wenn wir nur ein Dach über dem Kopf bekommen, um ein Nickerchen zu machen, wären wir zufrieden. Wir wollen wirklich niemanden stören. Geht das in Ordnung?«

Die beiden Männer tauschen einen Blick, als ob sie sich amüsieren würden. Dann bricht der schwarze Mann in lautes Lachen aus. »Jungs, das hier ist der Wilde Westen! Niemand schert sich einen Dreck darum, was ihr tut oder bleiben lasst.«

Es stellt sich heraus, dass der Schwarze noch gehörig untertrieben hat.

Während der nächsten Stunden erfahren Philip, Brian und Nick von der Lage in der Stadt, die nicht unbedingt rosig ist. Es gibt etwa sechzig Überlebende, die sich in der sicheren Zone im Norden aufhalten. Sie versuchen, sich mit Überresten und Abfällen über Wasser zu halten, und die meisten von ihnen sind so paranoid und hegen so viel Misstrauen ihren Nächsten gegenüber, dass sie es nicht wagen, tagsüber aus ihren Löchern zu kommen. Sie leben in verlassenen Wohnungen und leeren Läden. Überall herrscht völliges Chaos. Es ist geradezu überraschend, dass einige wenige der Leute die Initiative ergriffen haben, diesen Wall überhaupt zu bauen. In Woodbury muss jede Frau, jedes Kind und jeder Mann selbst schauen, wo er bleibt.

Genau das gefällt Philip, Brian und Nick. Nachdem sie sich genauer umgesehen haben, suchen sie sich ein verlassenes Haus mit zwei Wohneinheiten an der südlichen Grenze der sicheren Zone in der Nähe des menschenleeren Gewerbegebiets. Schulbusse und leere Anhänger wurden in Reihen um die sichere Zone aufgestellt. Sie dienen als behelfsmäßige Barriere, damit die Beißer nicht einfach hineinspazieren können.

Es scheint alles relativ sicher zu sein.

Brian vermag in der folgenden Nacht kein Auge zuzumachen. Er steht auf, um die Stadt etwas genauer zu betrachten. Das Gehen fällt ihm schwer – die Rippen tun ihm noch weh, und das Luftholen ist mühsam und von Keuchen begleitet –, aber es fühlt sich gut an, an die frische Luft zu kommen und den Kopf frei zu machen.

In dem funkelnden Mondlicht liegen die Bürgersteige in dem ehemaligen Arbeiterviertel einsam da. Müll fegt über verlassene Spielplätze und durch kleine Parks. Schaufensterfronten der typischen Läden, wie man sie in jeder Kleinstadt findet – ein Zahnarzt, DeForest’s Bedarf für Landwirte, ein Milchladen und ein Supermarkt – sind alle ohne Licht und mit Brettern verschlagen. Die Folgen der Plage sind allgegenwärtig – in der Kalkgrube von Kirney’s Salvage Yard, in der verkohlte Leichen liegen ebenso wie im großen Pavillon auf dem Robert E. Lee Platz, der Blutspuren einer Schlacht aufweist, die wie schwarzer Teer im Mondlicht glänzen.

Brian überrascht es nicht, dass das offene Feld in der Stadtmitte – das ihm zuerst vom Ackerland aus auffiel, über das sie laufen mussten, um in die Stadt zu gelangen – früher einmal als Pferderennbahn diente. Die Einwohner scheinen über genügend Treibstoff zu verfügen, um Tag und Nacht Generatoren laufen zu lassen. Schon bald merkt er, dass riesige Flutlichter über der ehemaligen Rennbahn hin und wieder die dunkle Nacht erleuchten. Am anderen Ende der Rennstrecke kommt er an einem Sattelanhänger vorbei, der von den Generatoren im Inneren zu vibrieren scheint. Unzählige Kabel versorgen anliegende Gebäude mit Strom.

Als es am östlichen Horizont langsam hell wird, ist es an der Zeit, wieder nach Hause zu Philip und Nick zurückzukehren. Er überquert einen verlassenen Parkplatz und nimmt eine Abkürzung durch eine müllübersäte Seitengasse. In der nächsten Straße sieht er eine Gruppe alter Männer, die sich um ein brennendes Fass versammelt haben, ihre Hände am Feuer wärmen und eine Flasche Wein die Runde machen lassen.

»Sieh dich vor, Jungchen«, warnt einer der Alten Brian, als er an ihnen vorbeigeht. Die beiden anderen kichern freudlos vor sich hin. Bei den dreien handelt es sich um grauhaarige Kerle, die in mottenzerfressenen Mänteln der Heilsarmee stecken. Sie erwecken den Anschein, als ob sie schon seit Ewigkeiten um das Fass stünden.

Brian bleibt stehen. Er hat die Waffe mit dem kurzen Lauf im Gürtel unter der Jacke stecken, sieht aber keinen Grund, sie zu zücken. »Gibt es hier in der Gegend denn Beißer?«

»Beißer?«, wiederholt einer der Männer mit einem langen, weißen Bart und runzelt die Stirn.

»Er meint die toten Dinger«, erklärt der dritte, der dickste der drei.

»Klar, Charlie«, stimmt der erste der Gruppe mit ein. »Jetzt komm schon … Diese Eiterbeulen, die sich Yellow Mike geschnappt haben … Der Grund, warum wir hier in diesem gottverdammten Kaff feststecken.«

»Ich weiß schon, wen er meint«, gibt der Bärtige zurück. »Hab aber noch nie gehört, dass man sie so nennt.«

»Bist du neu hier, Junge?« Der Dicke mustert Brian von oben bis unten.

»Ja, bin ich.«

Sein Gegenüber grinst und entblößt dabei faulig grünliche Zähne. »Willkommen im Warteraum der Hölle.«

»Hör nicht auf ihn, Kleiner«, beschwichtigt der erste Penner Brian und legt einen dürren rheumageplagten Arm um seine Schultern. Er fügt mit einer leisen, vertraulichen und rauen Stimme hinzu: »Hier brauchst du keine Gedanken an die toten Dinger verschwenden. Aber auf die Lebenden, auf die solltest du aufpassen.«

Am nächsten Tag ermahnt Philip Brian und Nick, nichts auszuplaudern, solange sie in Woodbury sind. Sie sollen sich unauffällig verhalten, Kontakt mit den anderen vermeiden und den Mitbewohnern nicht einmal ihren Namen sagen. Sie haben Glück, denn das Haus ist kein schlechter Aufenthaltsort. In den fünfziger Jahren errichtet – die Möbel sind mindestens genauso alt, mit einem angeschlagenen Spiegel, einem mottenzerfressenen Schlafsofa und einem Aquarium neben dem Fernseher – weist es drei Schlafzimmer und fließend Wasser auf. Es stinkt zwar penetrant nach Katzen und faulem Fisch, aber wie Brians und Philips Vater zu sagen pflegte: »In der Not frisst der Teufel Fliegen.« Außerdem finden sie Lebensmittelkonserven in der Speisekammer und entscheiden sich, ein Weilchen zu bleiben.

Zu Brians Überraschung werden sie von den anderen Bewohnern der Kleinstadt zufriedengelassen. Er weiß nicht, ob es sich herumgesprochen hat, dass sie drei Neuankömmlinge in ihrer Mitte haben, aber niemanden scheint das zu kümmern. Nick sondert sich weitgehend ab, liest seine Bibel und sagt nicht viel. Philip und Brian, beide in der Gegenwart des anderen gereizt, gehen ihren Geschäften nach und reden so wenig wie möglich miteinander. Keiner von ihnen erwähnt die Frage, ob sie sich vielleicht auf die Suche nach einem Auto machen sollten, um ihre Reise nach Süden fortzusetzen. Brian empfindet es ein wenig so, als ob sie aufgegeben hätten. Sie haben aufgegeben, an die Küste zu gelangen, sie haben ihre Zukunft aufgegeben, und vielleicht haben sie sich auch selbst aufgegeben.

Brians Wunden heilen weiter. Philip kümmert sich immer mehr um seine Manie: Penny. Bei jeder Gelegenheit verschwindet er in dem Wäldchen.

Eines Nachts hört Brian, wie sich die Tür zur Wohnung öffnet und dann wieder ins Schloss fällt.

Er liegt im Bett und lauscht vielleicht für eine Stunde, ehe Philips schlurfende Schritte und ein gurgelndes Geräusch in sein Schlafzimmer dringen. Es ist schon die dritte Nacht, in der Philip heimlich ausbüxt – wahrscheinlich, um nach Penny zu schauen, wenn die anderen schlafen. Aber heute ist es das erste Mal, dass Brian mitbekommt, wie er zurückkommt. Jetzt hört er Philip im Wohnzimmer nach Luft schnappen. Außerdem murmelt er etwas, das aber von leisem Stöhnen und Knurren sowie dem Klappern einer Kette übertönt wird.

Brian steht auf und geht ins Wohnzimmer. Er hält inne, als er sieht, wie Philip Penny an der Leine hält und sie wie einen räudigen Hund über den Teppich zerrt.

Für einen Augenblick verschlägt es ihm die Sprache. Er starrt wortlos auf den kleinen Zombie in dem Schürzenkleid und hofft inbrünstig, dass es sich nur um einen kurzen Besuch handelt. Vor allem hofft er, dass es nicht ihre neue Mitbewohnerin wird.

Einundzwanzig

Was zum Teufel machst du da?«, will Brian von seinem Bruder wissen, während das tote Mädchen hungrig ins Leere beißt. Es richtet seine milchig weißen Augen auf seinen ehemaligen Onkel.

»Ach, lass mich«, entgegnet Philip und zerrt seine tote Tochter in den Flur hinaus.

»Du willst doch nicht …«

»Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten!«

»Aber was ist, wenn jemand …«

»Niemand hat etwas davon gemerkt«, unterbricht ihn Philip und tritt die Tür zur Waschküche auf.

Es ist ein winziger, mit Linoleumfliesen ausgelegter Raum, dessen Wände mit Kork beklebt sind. In der Ecke stehen eine kaputte Waschmaschine und ein ramponierter Trockner. Überall liegt Katzenstreu herum. Philip schleift das geifernde und fauchende Geschöpf in eine Ecke und befestigt die Kette an einer freiliegenden Wasserleitung. Er tut dies mit der sicheren und strengen, aber sanften Hand eines erfahrenen Dompteurs.

Brian sieht ihm vom Flur aus zu. Der Anblick widert ihn an. Philip hat Decken auf dem Boden ausgebreitet und sämtliche scharfen Ecken und Kanten abgeklebt, damit das Penny-Wesen weder Lärm machen noch sich verletzen kann. Es ist offensichtlich, dass Philip alles zuvor geplant hat. Er zieht dem Wesen ein behelfsmäßiges Ledergeschirr über, das er aus einem Gürtel und Stricken zusammengeschustert hat, und bindet es dann noch einmal an die Wasserleitung.

Philip geht mit der ruhigen Sorgfalt eines Betreuers vor, der ein behindertes Kind in einen Rollstuhl setzt. Mit dem Stück Kupferrohr hält er das Monster weit genug von sich entfernt, um das Geschirr festmachen zu können. Die ganze Zeit über knurrt, geifert und reißt das Geschöpf, das einmal Penny war, an seinen Fesseln.

Brian starrt auf das Schauspiel, das sich vor seinen Augen abspielt. Er weiß nicht, ob er sich abwenden, zu heulen anfangen oder aufschreien soll. Für einen winzigen Augenblick scheint er in eine andere Zeit zurückversetzt zu sein. Er ist wieder achtzehn und besucht seine sterbende Großmutter ein letztes Mal im Altersheim von Waynesboro. Ein letzter Abschied. Er wird den Ausdruck auf dem Gesicht des Betreuers nie vergessen. Er musste die alte Dame beinahe stündlich saubermachen, und die Miene, die er dabei an den Tag legte, wenn er dies in Anwesenheit ihrer Verwandten tat, war erschreckend – eine Mischung aus Ekel, stoischer Professionalität, Mitleid und Verachtung.

Jetzt zeigt Philip Blake den gleichen Gesichtsausdruck, während er mehrere Riemen um den Kopf des kleinen Monsters schnallt und mit größter Vorsicht ihre zuschnappenden Beißerchen vermeidet. Er singt ihr leise etwas vor, während sie sich gegen ihre Fesseln wehrt – ein Wiegenlied, das Brian nicht kennt.

Irgendwann ist Philip offenbar zufrieden. Zärtlich streicht er dem Penny-Zombie über den Kopf, ehe er ihn auf die Stirn küsst. Das untote Mädchen schnappt nach ihm und verfehlt seine Halsschlagader nur um wenige Zentimeter.

»Ich lasse das Licht an, Schatz«, verspricht ihr Philip mit lauter Stimme, als ob er mit jemandem sprechen würde, der nur schlecht Englisch versteht. Dann dreht er sich um, verlässt die Waschküche und schließt die Tür sorgfältig hinter sich zu.

Brian steht im Flur. Ihm gefriert beinahe das Blut in den Adern. »Möchtest du reden?«

»Ach, das wird schon«, sagt Philip und vermeidet es, seinem Bruder in die Augen zu sehen. Dann geht er in sein Zimmer.

Das Schlimmste ist, dass die Waschküche direkt neben Brians Zimmer liegt. Seit jener Nacht hört er das Penny-Wesen ständig, wie es kratzt, stöhnt und an den Fesseln zerrt. Es ist eine stete Erinnerung an … Ja, woran? An Armageddon, an den Weltuntergang? An den Wahnsinn, der ausgebrochen ist? Brian findet nicht die Worte dafür, was das Geschöpf verkörpert. Der Gestank ist tausendmal schlimmer als Katzenpisse. Philip verbringt viel Zeit mit dem lebenden Leichnam in der Waschküche. Wer weiß, was er mit ihm macht. Jedenfalls führt das Ganze dazu, dass die drei Männer sich mehr und mehr entfremden. Obwohl sich Brian noch immer zwischen Trauer, Kummer und Schock hin- und hergerissen fühlt, verspürt er sowohl doch auch Mitleid und Ekel. Natürlich liebt er seinen Bruder, aber dennoch wird es allmählich unerträglich. Nick sagt nichts mehr, aber Brian weiß, dass er aufgegeben hat. Das Schweigen zwischen den Männern wird immer länger, und Brian und Nick verbringen mehr und mehr Zeit außerhalb der Wohnung, sondieren die Umgebung und lernen so die kleine Stadt und ihre Bewohner nach und nach besser kennen.

Brian hält sich zwar bedeckt, wenn er umherstreift, aber er bringt bald in Erfahrung, dass die Bewohner in zwei Schichten aufgeteilt werden können. Zur ersten – den Mächtigen – gehören diejenigen, die einen nützlichen Beruf haben: zwei Maurer, ein Maschinist, ein Arzt, der Besitzer eines Waffenladens, ein Tierarzt, ein Installateur, ein Friseur, ein Automechaniker, ein Farmer, ein Koch und ein Elektriker. Die zweite Gruppe – Brian nennt sie für sich »die Abhängigen« – umfasst die Kranken, die Jungen und die früheren Büroangestellten, unter anderem auch Leute aus dem mittleren Management und Corporate Executives, die zuvor über ein sechsstelliges Einkommen verfügten und die Abteilungen multinationaler Firmen unter sich hatten. Jetzt jedoch sind sie nutzlos geworden und so sinnlos wie alte Musikkassetten. Brian muss immer wieder an seine Soziologiekurse an der Uni denken, während er sich fragt, ob sich diese lose Gemeinschaft verzweifelter Seelen jemals zu etwas entwickeln wird, das einer funktionierenden Gesellschaft ähneln könnte.

Drei Mitglieder der Nationalgarde, die zwei Wochen zuvor zu ihnen stießen, scheinen der Sand im Getriebe zu sein, denn sie kommandieren jeden herum, der ihnen über den Weg läuft. Diese kleine Clique – Brian bezeichnet sie als Tyrannen – wird von einem ehemaligen Marinesoldaten mit Bürstenschnitt und kalten blauen Augen angeführt, der auf den Namen Gavin hört – oder Major, wie ihn seine Schergen betiteln. Es dauert keine zwei Tage, und Brian ist klar, dass er ein Psychopath ist, der nichts anderes als Macht und Beuterecht im Kopf hat. Vielleicht war es die Plage, die Gavin so weit gebracht hat, aber Brian beobachtete in seiner erster Woche in Woodbury Gavin und dessen Truppe dabei, wie sie hilflosen Familien Lebensmittel abnahmen und einige Frauen nachts in der Nähe der Rennbahn mit gezückter Pistole vergewaltigten.

Brian hält Distanz und macht sich unsichtbar. Während er jedoch im Stillen Woodburys Machtstrukturen studiert, trifft er immer wieder auf einen Namen: Stevens.

Von seinen wenigen Unterhaltungen mit den Bewohnern und dem, was er mitbekommt, schlussfolgert Brian, dass sich Stevens nach Ausbruch der Plage zu neuen, besseren Ufern aufmachte – offenbar nach einer Scheidung, wie gemunkelt wird. Er ist ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der seine eigene Praxis in Atlanta hatte. Der Mann traf relativ frühzeitig auf die zusammengewürfelte Gruppe Überlebender in Woodbury und entschied sich angesichts der vielen Kranken, Unterernährten und Verwundeten dazu, hier seine Dienste anzubieten. Im Meriwether County Medical Center, drei Häuserblocks von der Pferderennbahn entfernt, machte er eine Art Praxis auf.

Am Nachmittag des siebten Tags in Woodbury kommt es Brian bei jedem Atemzug so vor, als ob ihm ein Messer in die Brust gestochen würde. Er nimmt also seinen Mut zusammen und sucht das niedrige graue Gebäude am südlichen Ende der Sicherheitszone auf.

»Sie haben Glück«, sagt Stevens und hängt ein Röntgenbild vor die beleuchtete Plexiglasscheibe. Er zeigt auf das verschwommene Abbild von Brians Rippen. »Keine schlimmen Brüche … Lediglich drei Mikrorisse an der zweiten, vierten und fünften Rippe.«

»Glück gehabt?«, murmelt Brian, der mit freiem Oberkörper auf der gepolsterten Bank sitzt. Sie befinden sich in einem bedrückend wirkenden, gefliesten Kellerraum im Meriwether County Medical Center – das ehemalige Pathologie-Institut –, das Stevens jetzt als Behandlungszimmer dient. Es stinkt nach Desinfektionsmittel und Schimmel.

»Nicht unbedingt ein Wort, das ich in letzter Zeit oft benutzt habe, das muss ich zugeben«, meint Stevens und geht zu einem Schränkchen aus Edelstahl, das neben der Plexiglasscheibe hängt. Er ist ein groß gewachsener, adrett aussehender Mann Ende vierzig und hat eine randlose Designerbrille, die auf seiner Nasenspitze sitzt. Seinen Arztkittel trägt er über einem weißen Hemd, und seine Augen wirken erschöpft, aber intelligent.

»Und das Keuchen?«, will Brian wissen.

Der Arzt durchforstet ein Fach mit Plastikampullen. »Das Anfangsstadium einer Rippenfellentzündung, die durch die angeknacksten Rippen hervorgerufen wurde«, murmelt er und sucht nach der richtigen Arznei. »Sie müssen so viel wie möglich husten … Es wird zwar wehtun, verhindert aber, dass sich septischer Katarrh in Ihrer Lunge sammelt.«

»Und was ist mit meinem Auge?« Der stechende Schmerz in Brians linkem Auge, der von seinem geprellten Kiefer ausgeht, ist während der letzten Tage schlimmer geworden. Jedes Mal, wenn er in den Spiegel blickt, scheint das Auge noch blutunterlaufener zu sein.

»Das sieht gut aus«, erwidert Stevens und holt ein Fläschchen Pillen aus dem Schrank hervor. »Ihr Unterkiefer weist eine nicht unerhebliche Prellung auf, aber das vergeht mit der Zeit von selbst. Ich werde Ihnen etwas gegen die Schmerzen geben.«

Stevens reicht Brian das Fläschchen und stellt sich mit verschränkten Armen vor ihn hin.

Aus Gewohnheit will Brian zum Portemonnaie greifen. »Ich weiß nicht, ob ich genug …«

»Hier wird nicht gezahlt«, meint der Arzt mit hochgezogenen Augenbrauen. Brians Geste scheint ihn etwas irritiert zu haben. »Es gibt keine Mitarbeiter, keinerlei Infrastruktur, keine Nachuntersuchungen – und wenn wir schon dabei sind, auch keinen vernünftigen Espresso oder halbwegs vernünftige Zeitungen, die man lesen könnte.«

»Oh … Verstehe«, stammelt Brian und steckt das Fläschchen mit den Pillen in die Tasche. »Und wie steht es um meine Hüfte?«

»Ein paar Quetschungen, aber nichts gebrochen«, lautet die Antwort. Stevens schaltet das Licht hinter der Plexiglasscheibe aus und schließt das Arzneimittelschränkchen. »An Ihrer Stelle würde ich mir darüber keine Sorgen machen. Sie können sich jetzt wieder anziehen.«

»Gut … Danke.«

»Mit dem Reden haben Sie es nicht so – oder?« Der Arzt wäscht sich die Hände und trocknet sie dann an einem schmutzigen Handtuch ab.

»Da haben Sie recht.«

»Ist vermutlich besser so«, sagt Stevens und wirft das Handtuch ins Waschbecken. »Sie wollen mir wahrscheinlich nicht einmal Ihren Namen verraten.«

»Nun …«

»Schon gut. Vergessen Sie es. In den Akten wird einfach nur ›unkonventioneller Mann mit angebrochenen Rippen‹ stehen. Möchten Sie mir verraten, wie es dazu gekommen ist?«

Brian zuckt mit den Achseln und knöpft das Hemd wieder zu. »Bin hingefallen.«

»Haben Sie gegen die Exemplare gekämpft?«

Brian wirft Stevens einen fragenden Blick zu. »Die Exemplare?«

»Tut mir leid … Meine Ausdrucksweise. Beißer, Zombies, Eiterbeulen – wie man sie auch nennen mag. Haben Sie sich dadurch so verletzt?«

»Ja … So ähnlich.«

»Wollen Sie meine professionelle Meinung hören? Eine Prognose sozusagen?«

»Gerne.«

»Hauen Sie ab, solange es noch geht.«

»Wie bitte? Warum?«

»Chaostheorie.«

»Hä?«

»Entropie … Imperien gehen unter, Sterne verlodern … Die Eiswürfel in unseren Drinks schmelzen.«

»Tut mir leid, da komme ich nicht ganz mit.«

Der Arzt schiebt seine Brille hoch. »Es gibt hier ein Krematorium im zweiten Untergeschoss … Heute haben wir zwei Männer verbrannt – einer hatte zwei Kinder. Gestern früh wurden sie am nördlichen Rand der Sicherheitszone von Beißern attackiert. Während der Nacht wurden sie reanimiert. Es kommen immer mehr Beißer durch … Die Barrikade ist so löchrig wie ein Sieb. Die Chaostheorie beschäftigt sich mit der Unmöglichkeit eines geschlossenen Systems, stabil zu bleiben. Diese Stadt ist dem Untergang geweiht. Es gibt niemanden, der die Zügel in der Hand hält … Gavin und seine Schergen werden immer unverschämter … Und Sie, mein Freund, sind nichts weiter als Futter.«

Brian antwortet nicht, sondern starrt an Stevens vorbei ins Leere.

Schließlich steht er auf und streckt die Hand aus. »Danke, Doc.«

Brian ist von den Schmerzmitteln ganz benebelt, als er nachts ein Klopfen an seiner Schlafzimmertür hört. Noch ehe er sich orientieren und das Licht anmachen kann, öffnet sich die Tür, und Nick kommt ins Zimmer. »Brian, bist du wach?«

»Klar«, knurrt er, pellt sich aus den vielen Decken und setzt sich auf die Bettkante. In der Wohnung haben nur wenige Steckdosen tatsächlich Strom, und in Brians Schlafzimmer gibt es keine einzige. Er schaltet die batteriebetriebene Lampe an und sieht, dass Nick ins Zimmer kommt, die Miene vor Anspannung verzerrt.

»Das musst du dir anschauen«, sagt er drängend, geht zum Fenster und schielt durch die Jalousie. »Ich habe ihn schon gestern Nacht gesehen. Heute ist es wieder das Gleiche. Zuerst hielt ich es für das Beste, es zu ignorieren.«

Brian ist zwar noch immer nicht ganz bei sich, stolpert aber ebenfalls zum Fenster. »Was gibt es?«

Hinter der Jalousie in der Dunkelheit des Parkplatzes taucht Philips Silhouette aus dem dahinterliegenden Wäldchen auf. In der Finsternis sieht er nach nicht viel mehr als einem Strich in der Landschaft aus. Seit Pennys Tod hat er stetig abgenommen, kaum noch geschlafen und so gut wie nichts gegessen. Er ist ein kranker, gebrochener Mann, und seine ausgebleichte Jeans scheint das Einzige zu sein, das seine langen dünnen Beine noch zusammenhält. Er trägt einen Eimer und wirkt merkwürdig hölzern – wie ein Schlafwandler oder ein Roboter.

»Was soll das mit dem Eimer?«, fragt Brian.

»Genau!« Nick kratzt sich nervös am Kopf. »Den hatte er letzte Nacht auch schon dabei.«

»Okay, Nick. Bleiben wir hier.« Brian schaltet die Lampe aus. »Und schauen wir, was passiert.«

Kurz darauf hören sie die Haustür. Waschküchen-Zombie wird nun lauter und rasselt mit den Ketten. Dann erklingen die typischen Grunzgeräusche, an die sich Brian und Nick schon beinahe gewöhnt haben. Plötzlich aber dringt etwas an ihre Ohren, das neu ist, das sie noch nicht kennen. Etwas Feuchtes fällt auf den gefliesten Boden, gefolgt von den animalischen Schmatzgeräuschen eines Zombies beim Fressen.

»Was zum Teufel tut er da?« Nicks Gesicht ist in dem dämmrigen Licht vom Grauen gezeichnet.

»Heiliger Strohsack«, flüstert Brian. »Das kann doch nicht wahr sein …«

Brian kommt nicht weiter, denn Nick ist bereits auf dem Weg zur Tür. Er ist unglaublich aufgebracht und will in den Flur hinaus.

Brian läuft ihm nach. »Nick, nicht …«

»Das darf doch nicht wahr sein!« Nick eilt den Gang entlang zur Waschküche. Er hämmert gegen die Tür und ruft: »Philip? Was geht da drin vor sich?«

»Hau ab!«

Obwohl man Philips Stimme nur undeutlich durch die geschlossene Tür hören kann, ist es eindeutig, dass er höchst angespannt ist.

»Nick …« Brian versucht sich zwischen Nick und die Tür zu drängen, aber es ist schon zu spät.

Nick dreht am Türknauf. Die Tür ist nicht abgeschlossen, und er stürmt hinein.

»Um Gottes willen!«

Brian nimmt seine entsetzte Reaktion wahr, ehe er selbst einen Blick in den Raum werfen kann.

Er zwängt sich in den Raum und sieht, wie das tote Mädchen an einer menschlichen Hand nagt.

Brians ursprüngliche Reaktion ist nicht die des Ekels oder der Empörung – im Gegensatz zu Nick, der fassungslos der Fütterung zuschaut. Stattdessen erfasst Brian eine große Trauer. Zuerst sagt er nichts und mustert nur seinen Bruder, der vor dem kleinen Leichnam kniet.

Ohne auf die beiden zu achten, zieht Philip ein menschliches Ohr aus dem Eimer und wartet geduldig darauf, bis das Penny-Monster die Hand verschlungen hat. Es schluckt die offensichtlich männlichen Finger mit unverhohlenem Appetit herunter und kaut genüsslich auf den blutleeren, behaarten Handknöcheln, als ob es sich um einen großen Leckerbissen handeln würde. Aus ihren Mundwinkeln läuft Speichel, und rosafarbene Spucke tropft von ihren Lippen.

Sie hat noch nicht runtergeschluckt, als Philip die Überreste des menschlichen Ohrs in die Nähe ihrer schwarzen Zähne bringt. Er hält dem Geschöpf den Leckerbissen mit der Hingabe und Fürsorge eines Priesters hin, der einem Gemeindemitglied die Hostie reicht. Die Penny-Kreatur verschlingt das menschliche Knorpelgewebe im Handumdrehen.

»Ich haue ab«, bringt Nick Parsons schließlich hervor, dreht sich auf der Stelle um und stürmt hinaus.

Brian kniet sich neben seinen Bruder. Er wird nicht laut. Er beschuldigt ihn keines Fehltritts, denn Brian selbst ertrinkt in Kummer. Er fragt nur: »Was geht hier vor sich, Junge?«

Philip lässt den Kopf hängen. »Er war schon tot … Sie wollten ihn verbrennen … Ich habe ihn in einem Sack hinter der Klinik gefunden … Er ist auf natürliche Weise gestorben … Ich habe mir nur ein paar Stücke geschnappt … Niemand wird etwas merken …«

Das Penny-Wesen hat das Ohr bereits verschlungen und knurrt schon wieder hungrig. Es will mehr.

Philip füttert es mit einem abgetrennten Fuß, aus dem noch Blut tropft. Ein scharfer Knochen ragt aus der Ferse wie ein schleimiger Elfenbeinzahn.

»Glaubst du, dass …« Brian sucht nach den richtigen Worten. »Glaubst du, dass das vernünftig ist?«

Philip senkt erneut den Blick. Die schmatzenden Geräusche der Zombie-Fütterung füllen die winzige Kammer. Das Mädchen beißt auf dem Knochen herum, und Philip spricht leise und voller Emotionen. »Er war sozusagen ein Organspender …«

»Philip …«

»Ich kann sie nicht loslassen, Brian … Ich schaffe das nicht … Sie ist alles, was ich habe.«

Brian holt tief Luft und kämpft gegen seine eigenen Tränen an. »Die Sache ist die … Das da hat nichts mehr mit unserer Penny zu tun.«

»Das weiß ich.«

»Warum also …«

»Ich sehe sie, und ich versuche, mich zu erinnern … Aber ich kann nicht … Ich kann mich nicht erinnern … Ich kann mich an nichts anderes erinnern als an diesen Albtraum, in dem wir leben … Und an diese Schweine, die sie erschossen haben … Und dabei ist sie doch alles, was ich habe …« Der Schmerz und die Trauer schnüren ihm die Kehle zu und verwandeln sich in etwas Finsteres. »Sie haben sie mir genommen … Das ganze Universum … Jetzt gibt es neue Regeln … Neue Regeln …«

Brian kann kaum mehr atmen. Er beobachtet das Penny-Ding, das noch immer an dem abgetrennten Fuß kaut. Schockiert wendet er sich ab. Es ist zu viel für ihn. Sein Magen schnürt sich zusammen, und er muss würgen. Er spürt, wie ihm heiß wird. Mühsam steht er auf. »Ich muss … Ich kann hier nicht bleiben, Philip … Ich muss weg.«

Brian dreht sich um, stolpert aus dem Zimmer und geht einige Schritte, ehe er auf die Knie sackt und sich übergibt.

Sein Magen ist fast leer, und so würgt er hauptsächlich Gallenflüssigkeit heraus. Sie kommt in quälenden Spasmen. Er würgt und würgt, und seine Magensäure breitet sich auf dem Boden zwischen Flur und dem Wohnzimmer aus. Er würgt, bis er nichts mehr in sich hat. Dann bricht ihm kalter Schweiß aus, ehe ihn ein Hustenanfall verkrampfen lässt. Er kniet minutenlang auf dem Boden und hustet, bis er endlich elend zusammenbricht.

Fünf Meter weiter packt Nick Parsons im Licht der batteriebetriebenen Lampe seinen Rucksack. Er stopft Klamotten, einige Dosen Bohnen in Tomatensauce, Decken, eine Taschenlampe und Wasser hinein. Schließlich sucht er auf dem überhäuften Couchtisch nach etwas Bestimmten, findet es aber nicht.

Brian setzt sich auf. Er wischt sich den Mund mit der Hand ab. »He, Junge. Du kannst jetzt nicht abhauen.«

»Und wie ich das kann«, entgegnet Nick, findet endlich seine Bibel unter einem Berg von Süßigkeiten und steckt sie ebenfalls in den Rucksack. Die gedämpften Geräusche der Zombiefütterung dringen aus der Waschküche zu ihnen und machen Nick sichtbar noch nervöser.

»Nick, ich flehe dich an.«

Nick schließt den Reißverschluss. Er würdigt Brian nicht einmal eines Blicks, als er sagt: »Du brauchst mich hier nicht.«

»Das ist nicht wahr.« Brian schluckt den bitteren Geschmack der Gallenflüssigkeit runter. »Ich brauche dich jetzt mehr denn je … Ich brauche deine Hilfe … Damit nicht alles noch weiter aus den Fugen gerät.«

»Aus den Fugen?« Nick schaut Brian in die Augen, ehe er den Rucksack auf die Schultern nimmt. Dann tritt er zu dem Blake-Bruder, der noch immer auf dem Boden sitzt. »Hier ist schon verdammt lange alles aus den Fugen geraten.«

»Nick, so warte doch …«

»Er ist zu weit gegangen, Brian.«

»Nick, hör mir zu … Ich weiß genau, was du meinst, aber gib ihm noch eine Chance. Das geht vielleicht vorüber. Vielleicht … Ich weiß auch nicht … Vielleicht ist es Trauer. Nur noch eine einzige Chance, Nick. Wir haben eine viel bessere Überlebenschance, wenn wir zusammenhalten.«

Für einen quälend langen Augenblick denkt Nick über das Gesagte nach. Dann seufzt er erschöpft und gleichzeitig verärgert auf und lässt den Rucksack mutlos wieder sinken.

Am nächsten Tag verschwindet Philip. Brian und Nick machen sich nicht einmal die Mühe, nach ihm zu suchen. Sie verbringen fast den ganzen Tag in der Wohnung, wobei sie kaum ein Wort miteinander wechseln und sich selbst beinahe wie Zombies fühlen. Leise schleichen sie durch die Zimmer – vom Badezimmer in die Küche zum Wohnzimmer, wo sie aus dem vergitterten Fenster in den stürmischen Himmel starren und versuchen, eine Antwort auf den Teufelskreis zu finden, in dem sie sich befinden und der immer teuflischer wird.

Gegen siebzehn Uhr dringt ein seltsames Summen an ihre Ohren. Es kommt von draußen – wie der Lärm einer Kettensäge oder eines großen Rasenmähers. Um Philip besorgt, geht Brian zur Hintertür, lauscht einen Moment lang und öffnet sie dann. Er tritt in den Hinterhof.

Der Lärm hat zugenommen. In der Ferne, am nördlichen Rand des Städtchens, zeigt sich sich eine Gewitterwolke am stahlgrauen Himmel. Das Heulen von Motoren wird vom Wind zu ihnen herübergetragen, und mit einiger Erleichterung stellt Brian fest, dass es sich wahrscheinlich um ein Rennen auf der stadteigenen Rennstrecke handelt. Ab und zu hört er Jubeln und Klatschen.

Plötzlich wird Brian flau im Magen. Wissen diese Idioten denn nicht, dass der Lärm jeden Beißer im Umkreis von fünfzig oder gar hundert Kilometern anlocken wird? Er lauscht dem Gesäge, das der Wind ebenfalls bis an seine Ohren trägt. Wie ein Radiosender, der einmal deutlicher, einmal weniger deutlich zu empfangen ist, dringt es in Brians Bewusstsein und berührt eine Wunde tief in seinem Inneren. Er sehnt sich nach den Zeiten vor der Plage. Schmerzvolle Erinnerungen fauler Sonntagnachmittage und durchschlafener Nächte drängen sich ihm auf – als er noch unbehelligt in einen Laden gehen konnte, um nichts weiter als harmlose Milch zu kaufen.

Brian geht wieder hinein, zieht eine Jacke an und verkündet Nick, dass er einen Spaziergang machen will.

Der Zugang zur Rennstrecke liegt an der Hauptstraße. Zwischen zwei Ziegelhaufen ist ein hoher Maschendrahtzaun gespannt. Als Brian näher kommt, sieht er Müll und alte Autoreifen um die Kasse verstreut. Der Bretterverschlag des dürftigen Gebäudes ist mit Graffiti verschmiert.

Der Lärm ist jetzt ohrenbetäubend. Das Heulen der Motoren und die jubelnde Menge von Zuschauern wird von dem beißenden Gestank von Benzin und verbranntem Gummi begleitet. Staubwolken und Rauch hängen in der Luft.

Brian findet ein Loch im Zaun und will gerade hindurchschlüpfen, als er eine Stimme hört.

»He!«

Er hält inne, dreht sich um und sieht drei Männer in heruntergekommener Militärkluft auf sich zukommen. Zwei von ihnen sind Mitte zwanzig mit fettigen langen Haaren und Sturmgewehren über den Schultern, als ob sie auf Patrouille wären. Der älteste der Bande – ein harter Hund mit Bürstenschnitt und einer olivgrünen Jacke mit einem Patronengurt über der Brust – geht voran. Er hat offensichtlich das Sagen.

»Der Eintritt kostet vierzig Dollar oder das Gleiche in Handelsware.«

»Eintritt?«, wiederholt Brian überrascht. Dann sieht er den Aufnäher auf der Brust der olivgrünen Jacke: Maj. Gavin. Bisher hat Brian die brutalen Mitglieder der Nationalgarde immer nur flüchtig aus der Ferne gesehen. Jetzt kann Brian dem Mann jedoch genau in die eisigen blauen Augen schauen. Er hat eine Alkoholfahne: Whiskey. Genauer gesagt: Jim Beam – vermutete Brian zumindest.

»Vierzig Dollar pro Erwachsener, Kleiner. Bist du schon erwachsen?« Die anderen lachen. »Kinder kommen umsonst rein. Aber du siehst mir so aus, als ob du schon über achtzehn wärst – gerade so.«

»Ihr verlangt Geld von den Leuten?« Brian versteht die Welt nicht mehr. »Jetzt? In diesen Zeiten?«

»Wir tauschen auch gerne. Hast du vielleicht ein Huhn? Oder irgendwelche Pornohefte, über denen du genug gewichst hast?«

Erneutes Lachen.

Brian erstarrt vor Wut. »Ich habe keine vierzig Dollar.«

Der Major hört abrupt auf zu grinsen, als ob er das Grinsen einfach abgeschaltet hätte. »Dann wünsche ich noch einen schönen Tag.«

»Wer bekommt das Geld?«

Plötzlich horchen die beiden anderen Nationalgardisten auf. Sie drängen sich um Brian. Gavin stößt mit seiner Nase an die von Brian und knurrt leise und bedrohlich: »Das ist für die Gemeinschaft.«

»Die was?«

»Die Gemeinschaft, das Kollektiv … Wird zum Wohlergehen aller ausgegeben und so.«

Brian spürt, wie er noch wütender wird. »Zum Wohlergehen von euch dreien?«

»Tut mir leid«, verkündet der Major mit eisiger Stimme. »Ich habe wohl die Aktennotiz übersehen, in der es heißt, dass du der neue Stadthalter bist. He, Jungs! Habt ihr das Memo gesehen, in dem steht, dass dieser Prolet hier der neue Stadthalter von Woodbury ist?«

»Nein, Sir«, antwortet einer der Lakaien mit den fettigen Haaren. »Haben wir nicht erhalten.«

Gavin zieht eine Fünfundvierziger-Semiautomatik aus dem Pistolenhalfter, entsichert sie und drückt den Lauf gegen Brians Schläfe. »Kleiner, du solltest dich mal ein bisschen über Gruppendynamik schlau machen. Hast du Staatsbürgerkunde in der Schule verpasst, oder was?«

Brian gibt keinen Ton mehr von sich. Stattdessen starrt er den Major an und beginnt rotzusehen. Seine Hände kribbeln, sein Kopf fängt an, sich zu drehen.

»Schön ›A‹ sagen«, befiehlt der Major.

»Was?«

»ICH HABE GESAGT, DU SOLLST DEIN GOTTVERDAMMTES MAUL ÖFFNEN!«, brüllt Gavin, und die beiden anderen Gardisten streifen ihre Sturmgewehre von der Schulter und legen an. Jetzt sind drei Läufe auf Brians Kopf gerichtet. Brian öffnet den Mund, und Gavin steckt Brian den Lauf seiner Waffe zwischen die Zähne – wie ein Zahnarzt, der nach Löchern sucht.

Irgendetwas zerbricht in Brian. Der kalte Stahl in seinem Mund schmeckt wie alte Geldmünzen und Bittermandelöl. Die Welt nimmt eine tiefe purpurrote Farbe an.

»Geh wieder dahin, wo du herkommst«, meint der Major. »Sonst könnte dir etwas passieren.«

Brian schafft es gerade noch zu nicken.

Wenn er jetzt nicht den Mund hält, kann es ihn sein Leben kosten.

Wie im Traum entfernt sich Brian langsam von den Nationalgardisten, dreht sich um und wird schneller. Er rennt dorthin zurück, wo er hergekommen ist – durch eine unsichtbare, blutrote Wolke.

Gegen neunzehn Uhr an jenem Abend kehrt Brian wieder in die Wohnung zurück. Allein. Er trägt noch immer seine Jacke und steht erneut vor dem vergitterten Fenster im hinteren Teil des Wohnzimmers. Aufgewühlt starrt er in das schwächer werdende Tageslicht hinaus, und seine Gedanken überschlagen sich wie Wellen an einem Wellenbrecher. Er presst die Hände auf die Ohren. Das gedämpfte Pochen und Hämmern des Miniaturzombies nebenan führt dazu, dass er noch stumpfer in die Gegend starrt und sich immer tiefer in sich selbst vergräbt.

Zuerst merkt Brian kaum, dass Nick ebenfalls zurückgekehrt ist. Er nimmt lediglich ein Schlurfen, gefolgt vom Öffnen der Schranktür wahr. Als er aber ein entferntes Murmeln im Flur hört, schreckt er aus seiner Trance auf und verlässt das Zimmer, um nachzusehen, was da vor sich geht.

Nick durchwühlt den Schrank. Seine Nylonjacke ist feucht, seine Turnschuhe voller Schlamm. Außerdem stammelt er immer wieder so etwas wie: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen … von welchen mir Hilfe kommt … Meine Hilfe kommt von dem Herrn … der Himmel und Erde gemacht hat.«

Brian sieht, wie Nick das Gewehr mit dem Pistolengriff aus dem Schrank holt.

»Nick? Was hast du vor?«

Nick bleibt ihm eine Antwort schuldig. Stattdessen klappt er die Waffe auf, um zu sehen, ob sie geladen ist. Sie ist es nicht. Panisch sucht er den Schrankboden ab, bis er endlich eine Schachtel mit Munition findet, die sie den ganzen Weg von der Villa bis nach Woodbury mitgebracht haben. Er hört mit dem Stammeln nicht auf. »Der Herr behüte dich vor allem Übel … er behüte deine Seele …«

Brian geht einen Schritt auf ihn zu und fragt erneut: »Nick, was geht hier vor sich?«

Aber er erhält noch immer keine Antwort. Nick versucht, die Munition mit zitternden Händen in den Lauf zu schieben, wobei er eine Patrone fallen lässt. Sie rollt über den Boden. Er sucht nach einer weiteren, steckt sie in den Lauf und klappt das Gewehr zu. »Siehe, der Hüter Israels schläft nicht noch schlummert er …«

»Nick!« Brian packt den Mann an der Schulter und dreht ihn zu sich. »Was ist los mit dir?«

Für eine Sekunde sieht es so aus, als ob Nick das Gewehr erheben will, um Brian eine Kugel in den Kopf zu jagen. Sein Gesicht ist vor Zorn völlig verzerrt. Dann gewinnt er wieder die Kontrolle über sich, schluckt, blickt Brian in die Augen und sagt: »Das kann so nicht weitergehen.«

Ohne noch ein Wort zu verlieren wendet er sich ab, marschiert den Flur entlang und verschwindet durch die Haustür nach draußen.

Brian schnappt sich seine Achtunddreißiger, schiebt sie hinten in den Gürtel und eilt ihm nach.

Zweiundzwanzig

Das violette Licht der Abenddämmerung legt sich über die Landschaft. Eisige Winde pfeifen in den Wäldern, die an Woodbury grenzen. Die Gerüche von Holzrauch und Kohlenmonoxyd hängen in der Luft und passen zu dem nicht enden wollenden Heulen der Motoren auf der Rennbahn. Auf den Nebenstraßen herrscht Ruhe. Die meisten Einwohner scheinen tatsächlich der Veranstaltung beizuwohnen … Dennoch gleicht es beinahe einem Wunder, dass niemand sieht, wie Brian und Nick über das brachliegende Land an der Grenze der Sicherheitszone stolpern.

Nick betet wie ein Wahnsinniger auf dem Weg zum Wald. Seine Waffe hat er über die Schulter geworfen. Irgendwie erinnert er an einen unheimlichen Gotteskrieger. Brian versucht immer wieder, ihn aufzuhalten, ihn festzuhalten, damit er endlich für eine Sekunde mit diesem Beten aufhört und wie ein normaler Mensch redet. Aber Nick ist nicht daran interessiert, sondern hat sich ganz und gar in seine Aufgabe hineingesteigert.

Endlich kommen sie an den Waldrand. Brian reißt jetzt so heftig an Nicks Jacke, dass dieser beinahe der Länge nach hinfällt. »Was hast du vor?«

Nick dreht sich um und starrt Brian an. »Ich habe gesehen, wie er ein Mädchen hierhergezerrt hat.« Nick kann die Tränen kaum zurückhalten.

»Wer? Philip?«

»Das kann nicht so weitergehen, Brian …«

»Welches Mädchen?«

»Eins aus der Stadt. Freiwillig ist sie wohl kaum mitgekommen. Was auch immer er im Schilde führt, es muss ein Ende haben.«

Brian schaut Nick an. Sein Kinn bebt, und seine Augen füllen sich mit Tränen. Brian holt tief Luft. »Okay, jetzt beruhige dich erst mal – nur für eine Sekunde.«

»Die Dunkelheit hat Besitz von ihm ergriffen, Brian. Lass mich los. Ich muss ihn aufhalten.«

»Du hast gesehen, wie er sich ein Mädchen geschnappt hat, aber nicht …«

»Lass mich los, Brian.«

Einen Augenblick lang steht Brian ratlos da und hält noch immer Nicks Jacke fest, ehe er auf einmal eine Gänsehaut bekommt und es ihm kalt wird. Er will es nicht akzeptieren. Es muss einen Weg geben, alles wieder in geregelte Bahnen zu bringen, alles wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Nach einer scheinbar unendlich langen Zeit sieht Brian Nick an und sagt: »Zeig es mir.«

Nick führt ihn einen schmalen, überwachsenen Fußweg entlang, der sich durch das Wäldchen aus Pekannussbäumen schlängelt. Schierlingsbecher und Wolfsmilch überwuchern den beinahe unsichtbaren Pfad. Es wird nicht mehr lange dauern, ehe die Sonne untergeht und die Temperaturen fallen.

Brombeerranken und Dornensträucher reißen an ihren Jacken, als sie auf eine Lichtung zueilen.

Zu ihrer Rechten können sie durch einen Vorhang von Laub die südliche Seite der Baustelle sehen, wo der neue hölzerne Abschnitt der Barrikade errichtet wird. Das Bauholz wartet bereits in ordentlichen Stapeln darauf, verbaut zu werden. Ein Bulldozer steht in der zunehmenden Dunkelheit regungslos da, als Nick auf die Lichtung vor ihnen deutet.

»Da ist er«, flüstert er, als sie direkt vor der Rodung zum Stehen kommen. Er versteckt sich hinter einem Haufen Baumstämme und gleicht dabei beinahe einem hysterischen Jungen, der Cowboy und Indianer spielt. Brian folgt seinem Beispiel. Er kauert sich ebenfalls hinter die Stämme und späht über das Holz hinweg auf die Lichtung.

Keine zwanzig Meter von ihnen entfernt, in einer natürlichen moosbewachsenen Senke, die von einem Baldachin alter Eichen überdacht ist, steht Philip Blake. Auf dem Boden liegt ein Teppich vermoderter Tannennadeln, Pilze und Unkraut. Knapp darüber scheint eine Schicht Methan in einem unheimlichen Magenta zu leuchten. Die Atmosphäre hat beinahe etwas Mystisches an sich. Nick hebt seine Waffe. »Gütiger Herr«, murmelt er leise. »bitte erlöse uns von dem Bösen …«

»Nick, hör auf damit«, flüstert Brian.

»Ich entsage allen meinen Sünden«, fährt Nick fort und starrt auf die entsetzliche Szene, die sich vor ihren Augen abspielt. »Denn sie vergrämen dich, o Herr …«

»Halt’s Maul, halt endlich dein Maul!« Brian versucht etwas zu erkennen. Er kann kaum sehen, was sich da abspielt. Zuerst glaubt er, dass sich Philip mitten auf der Lichtung hingekniet hat und einem Schwein die Läufe festbindet. Seine Jeansjacke ist vorn schweißnass und voller Kletten, und er bindet den Strick um die Gelenke einer sich unter ihm windenden Gestalt.

Dann durchfährt es Brian eiskalt. Jetzt sieht er, dass es sich wirklich um eine junge Frau handelt. Ihre Bluse ist aufgerissen, in ihrem Mund steckt ein Knebel. »Um Gottes willen. Was zum Teufel macht er …«

Nick betet noch immer leise vor sich hin. »Vergib mir, o Herr, für das, was ich tue. Mit der Hilfe Deiner Gnade werde ich Deinen Willen vollstrecken …«

»Halt endlich die Schnauze!«, schnauft Brian von Panik ergriffen, schier außer sich vor böser Vorahnung. Philip will das arme Ding entweder vergewaltigen oder töten, um es Penny zum Fraß vorzuwerfen. Sie müssen etwas tun – und zwar schnell. Nick hat recht. Er hat die ganze Zeit über recht gehabt. Es muss einen Weg geben, dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Es muss eine Lösung gefunden werden, ehe …

Plötzlich bewegt sich etwas neben Brian.

Nick stürzt sich über die Baumstämme und rennt geradeaus auf die Lichtung zu.

»Nick! Warte!«, brüllt Brian und schafft es bis zu den Dornensträuchern, als er die Szene, die sich in der schattigen Lichtung vor ihm abspielt, wie ein Bühnenstück surrealer Figuren wahrnimmt. Es scheint alles in Zeitlupe vor seinen Augen zu passieren.

Nick stolpert über die Rodung, das Gewehr auf Philip gerichtet. Dieser, von Nicks plötzlichem Auftauchen und Brians Warnruf überrascht, rappelt sich hoch. Unbewaffnet blinzelt er nervös von der auf dem Boden liegenden Frau zu der Tasche neben den Fliegenpilzen zu ihrer Linken. Philip hebt die Hände. »Runter mit der Waffe, Nicky.«

Nick aber hebt sie weiter, bis der Lauf auf Philips Gesicht gerichtet ist. »Der Satan steckt in dir, Philip. Du hast gegen Gott gesündigt … Seinen Namen geschändet und entweiht. Jetzt ist es in den Händen Gottes, dich zu richten.«

Brian taumelt auf die Lichtung und fummelt nach der Pistole in seinem Gürtel. Er bekommt vor Adrenalin, das durch seine Adern schießt, kaum noch Luft. »Nick, nein! NICK, TU ES NICHT!« Brians Gedanken rasen, als er drei Meter hinter Nick zum Stehen kommt.

Mittlerweile hat es die junge Frau auf dem Boden geschafft, sich umzudrehen – sie ist noch immer gefesselt und geknebelt. Ihre Tränen rinnen in den feuchten Boden, als ob sie sich danach sehnen würde, dass er sich auftun und sie verschlingen und töten würde, während Nick und Philip keine zwei Meter voneinander entfernt stehen und sich anstarren.

»Was soll das werden? Bist du jetzt der Racheengel oder was?«, fragt Philip seinen langjährigen Freund.

»Vielleicht, Philip, vielleicht.«

»Das hier geht dich nichts an, Nicky.«

Nick zittert vor Emotionen. Er muss wiederholt blinzeln, damit ihm die Tränen nicht die Wangen herunterlaufen. »Es gibt einen besseren Ort für dich und deine Tochter, Philly.«

Philip steht wie versteinert da, und sein eingefallenes Gesicht sieht in dem schwächer werdenden Licht geradezu grotesk aus. »Darf ich annehmen, dass du es sein wirst, der Penny und mich erlöst?«

»Irgendjemand muss diesem Wahnsinn Einhalt gebieten, Philly. Warum nicht ich?« Nick hebt den Lauf weiter, bis Kimme und Korn auf Philip zielen. »Herr, bitte vergib mir …«

»Nick, warte! Bitte, bitte! Hör mir zu!« Brian umkreist Nick und hält dabei seine Achtunddreißiger in die Luft. Er kommt wenige Zentimeter vor Nick zum Stehen, der den Lauf noch immer auf Philips Gesicht gerichtet hat. Brian redet weiter. »Die ganzen Jahre, die ihr in Waynesboro wart, die vielen Male, die ihr zusammen gelacht habt, die ganzen Meilen, die wir gemeinsam hinter uns gebracht haben – zählt das alles nichts mehr? Philip hat uns das Leben gerettet! Die Sache hier ist aus dem Ruder gelaufen, klar. Aber das kriegen wir schon wieder ins Lot. Runter mit der Waffe, Nick. Komm schon, ich flehe dich an.«

Nick beginnt zu zittern, hält die Waffe aber immer noch auf Philip gerichtet. Schweißtropfen treten auf seine Stirn.

Philip tritt einen Schritt auf ihn zu. »Mach dir nichts draus, Brian. Unser Nick hier ist schon immer etwas geschwätzig gewesen. Der hat es einfach nicht in sich, auf jemanden zu schießen, der noch am Leben ist.«

Nick zittert jetzt wie Espenlaub.

Brian sieht den beiden Freunden zu und ist vor Unentschlossenheit wie gelähmt.

Philip greift in aller Ruhe nach der Frau, packt sie am Genick, zieht sie vom Boden hoch wie ein Gepäckstück, dreht sich um und zerrt das sich windende Geschöpf bis an den Rand der Lichtung.

Nicks Stimme ist jetzt tiefer als zuvor. »Herr, sei uns gnädig.«

Plötzlich lädt er die Waffe durch.

Und drückt ab.

Eine Schrotflinte mit einer 12-mm-Bohrung ist ein kompromissloses Instrument. Die tödlichen Schrotkügelchen Kaliber dreiunddreißig können sich über eine kurze Distanz über mehr als dreißig Zentimeter ausbreiten und treffen ihr Ziel mit genügend Wucht, um einen Porenbetonstein in seine Bestandteile explodieren zu lassen.

Das grobe Schrot, das in Philips Rücken dringt, schießt erst durch das Fleisch seines Schulterblatts, ehe er die Bänder seines Genicks zerreißt. Das Schrot hat auch den Kopf der Frau erwischt und sie im Handumdrehen getötet. Die beiden wirbeln in einem purpurnen Nebel durch die Luft.

Sie landen Seite an Seite auf der Lichtung, alle viere von sich gestreckt. Die junge Frau ist bereits tot und bewegt sich nicht mehr, während Philip die letzten quälenden Sekunden von den Zuckungen eines heftigen Todeskampfes heimgesucht wird. Auf seinem Gesicht ist die völlige Überraschung zu sehen, die er empfindet. Er versucht zu atmen, doch sein Gehirn ist bereits dabei, sämtliche Körperfunktionen abzuschalten.

Der Schock über das, was soeben passiert ist, zwingt Nick Parsons in die Knie. Sein Finger ist noch am Abzug, und die Schrotflinte in seiner Hand qualmt von der Hitze der Explosion.

Er kann nichts anderes mehr sehen als das, was er den beiden Menschen vor sich angetan hat. Bestürzt lässt er die Schrotflinte zu Boden fallen, und obwohl sich sein Mund unentwegt bewegt, kommt kein Ton heraus. Was hat er getan? Er spürt, wie sich sein Inneres zusammenzieht – wie eine Samenschote, kalt und verlassen. Das Armageddon-Dröhnen hallt in seinen Ohren wider, die heißen Tränen der Scham fließen jetzt in Strömen über sein Gesicht. Was hat er getan? Was hat er verbrochen? Welche Schuld hat er nur auf sich geladen?

Brian Blake wird zu Eis. Seine Pupillen weiten sich. Der Anblick seines Bruders, der in einem blutigen Haufen auf dem Waldboden neben dem toten Mädchen liegt, brennt sich für immer in sein Gehirn ein und verdrängt alle anderen Gedanken.

Nur Nicks Wehklagen durchdringt die Benommenheit, die von Brian Besitz genommen hat.

Nicks lautes Heulen wird ab und zu von Schluchzern unterbrochen. Er ist noch immer auf den Knien. Jegliche Vernunft hat Nick Parsons verlassen, und bei dem Anblick des Gemetzels vor seinen Augen jammert und winselt er immer wieder laut auf. Er schwätzt irgendeinen Unsinn, während ihm der Rotz aus der Nase läuft – teils Stoßgebet, teils Flehen. Sein Atem wird in der kalten Luft der Abenddämmerung zu Dampf, und er richtet den Blick flehend zum Himmel hinauf.

Ohne nachzudenken hebt Brian seine Waffe und drückt, angetrieben von einem unbändigen Zorn, ab. Ein einziger Schuss aus nächster Nähe in Nick Parsons’ Schläfe.

Ein Strahl roter Flüssigkeit schießt mit der Wucht eines Rammbocks durch die Luft. Die Kugel zerfetzt Nicks Gehirn und tritt an der anderen Seite wieder aus, ehe sie sich in einer Baumwurzel vergräbt. Nick sackt in sich zusammen. Seine Augen rollen nach hinten in ihre Höhlen.

Er landet zusammengerollt wie ein schlafendes Kind auf dem Waldboden.

Die Zeit verliert ihre Bedeutung. Brian bemerkt die dunklen Silhouetten nicht, die sich ihm, angezogen von dem Tumult, durch den finsteren Wald nähern. Auch nimmt er die Gestalten nicht wahr, die sich über die Rodung auf die verstümmelten Leichen zubewegen. Irgendwie, ohne dass er sich es selbst erklären kann, endet Brian Blake auf dem Boden neben Philip und hält die blutigen Überreste seines jüngeren Bruders in seinem Schoß.

Er starrt auf Philips markantes, blutbespritztes Gesicht, das jetzt so weiß wie Alabaster ist.

Ein Lebensflimmer schimmert noch in seinen Augen, als sich die Blicke der Brüder treffen, und für einen Moment zuckt Brian angesichts der Trauer, die ihn durchschneidet, zusammen. Die Verbindung der beiden, das Blut, das sie teilen, ist dick und reicht tief bis ins Innerste. Jetzt zerreißt die Pein Brians Seele. Das Gewicht ihrer gemeinsamen Geschichte – die endlose Langeweile in der Schule, die willkommenen Sommerferien, das spätabendliche Geflüster von einem Bett zum anderen, die ersten gemeinsamen Biere auf dem unglückseligen Campingausflug in den Appalachen, ihre geteilten Geheimnisse, ihre Kämpfe, ihre kleinstädtischen Träume, die das Leben so grausam zerschlug – all das zerschneidet in diesem Augenblick sein Herz.

Er weint – so hell und durchdringend wie ein gefangenes Tier –, und sein Schluchzen steigt in den dunkler werdenden Himmel auf, bis es sich mit dem weit entfernten Heulen der Rennwagenmotoren vereint. Er heult so inbrünstig, dass er nicht merkt, wie Philip aus seiner Welt scheidet.

Als Brian wieder seinen Bruder ansieht, hat sich dessen Gesicht bereits in eine weiße marmorne Skulptur verwandelt.

In etwa fünf Metern Entfernung erzittert das Laub. Mindestens ein Dutzend Beißer jeglicher Couleur, Größe und Form stolpert durch das Unterholz.

Der Erste, ein erwachsener Mann in zerfetzten Arbeitskleidern, dringt durch das Gestrüpp, die Arme ins Nichts ausgestreckt. Seine dicht beieinanderliegenden Augen suchen die Lichtung ab, bis sie auf das ihm am nächsten liegende Mahl treffen: Philips abkühlender Leichnam.

Brian Blake rafft sich auf und wendet sich ab. Er kann nicht zusehen. Er weiß, dass das die beste Art ist – seine Art. Sollen die Zombies das Chaos auf ihre Weise aufräumen.

Er steckt die Waffe wieder in seinen Gürtel und verschwindet in Richtung Baustelle.

Auf der Fahrerkabine eines Trucks findet er einen sicheren Platz, von wo aus er den Futterrausch in Ruhe abwarten kann.

Sein Gehirn ähnelt einem Fernseher, der zig Stationen abspielt. Er zieht die Achtunddreißiger aus dem Gürtel und hält sich daran fest, als ob es das Einzige in der Welt wäre, das ihm jetzt noch Halt und Geborgenheit bringen könnte.

Stimmengewirr und die Fragmente halb geformter Bilder rasen unkontrolliert durch Brians Kopf. Die Abenddämmerung hat der Dunkelheit Platz gemacht. Die nächste Lichtquelle – die Stadionscheinwerfer – ist mehrere hundert Meter entfernt. Brian nimmt seine Umwelt in der Bildhelligkeit eines Negativs wahr, seine Sinne sind so scharf wie die Klinge eines japanischen Messers. Er ist jetzt allein … So allein wie noch nie zuvor … Und das macht ihm mehr zu schaffen als all die Zombies um ihn herum.

Die Geräusche des Futterrauschs, feucht, saugend und gurgelnd, sind kaum noch über dem konstanten Heulen der Motoren der Rennwagen zu hören. In einer hinteren Ecke seines Gehirns weiß Brian, dass der Lärm des Rennens den Tumult auf der Lichtung übertönt, was wahrscheinlich von Philip mit eingeplant war, damit seine Entführung nicht bemerkt werden würde.

Brian kann die Umrisse der dunklen Figuren auf der Rodung nur schwer erkennen. Er sieht, wie sich die Monster an den menschlichen Überresten laben …

Brian schließt die Augen.

Einen Moment lang ist er unentschlossen, ob er beten soll oder nicht. Oder wäre eine stille Grabrede für seinen Bruder besser? Und für Nick und die verstorbene Unbekannte? Für Bobby Marsh, für David Chalmers, für alle Toten, selbst für die noch Lebenden und diese ganze gottverdammte, kaputte Welt. Aber er tut es nicht, sondern sitzt einfach nur da, während sich die Zombies an den Überresten seines Freundes, seines Bruders und der unbekannten Frau satt fressen.

Brian hat keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen ist, als sich die Zombies wieder verziehen und die zerlegten, abgenagten Reste auf der ganzen Lichtung verstreut zurücklassen.

Dann gleitet er vom Dach der Fahrerkabine und schleicht durch die Dunkelheit nach Hause.

Brian sitzt die ganze Nacht über in der leeren Wohnung im Wohnzimmer – vor dem leeren, schäbigen Aquarium. Sein Kopf ist leer, da strahlt kein Sender mehr aus. Die Nationalhymne ist bereits gespielt, das Testbild ist verschwunden, und jetzt flimmert nur noch weißes Rauschen über seinen inneren Bildschirm.

Er steckt noch immer in der schmutzigen Jacke und starrt auf das Glas des Aquariums, das von grünem Schleim bedeckt ist und an dem hier und da etwas Fischfutter klebt. Der Anblick erinnert an ein monotones Stillleben, das direkt aus der Hölle zu stammen scheint. Brian sitzt da und glotzt in den von Glas umrahmten Raum, in dem einmal Fische schwammen. Aus Minuten werden Stunden. Sein Schädel gleicht einer Braun’schen Röhre. Er bemerkt kaum die aufgehende Sonne, die Morgenröte. Er hört weder den Tumult außerhalb der Wohnung noch die aufgeregten Stimmen oder die Motorengeräusche.

Der Tag nimmt seinen Lauf – Zeit hat für Brian keinerlei Bedeutung mehr –, bis der Abend hereinbricht und seinen Schleier der Dunkelheit über die Wohnung legt. Brian bleibt in der Finsternis sitzen und starrt weiterhin auf die bildlose Übertragung in dem leeren Aquarium. Der nächste Morgen kommt, dann der Mittag.

Irgendwann am folgenden Tag fällt bei Brian ein Groschen. Der Schimmer einer Nachricht huscht über den leeren Bildschirm seines Gehirns. Zuerst scheint alles weit entfernt und wirr zu sein, wie ein schlecht empfangener Sender, aber mit jeder Sekunde wird es klarer und die Nachricht lauter. AUF NIMMERWIEDERSEHEN.

Wie eine Wasserbombe in der Tiefe seiner Seele implodieren die beiden Worte in einem glühend heißen Fieberkrampf und reißen ihn endlich aus seiner Benommenheit. Er schnellt auf und öffnet die Augen.

AUF NIMMERWIEDERSEHEN –

Er ist dehydriert, und seine Knochen sind steif. Sein Magen ist leer, und seine Hose trieft vor Urin. Beinahe sechsunddreißig Stunden saß er einfach nur auf dem Stuhl wie bewusstlos, still wie ein Betonklotz, und es fällt ihm anfangs schwer, seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Aber er fühlt sich gereinigt und so klar im Kopf wie selten zuvor. Er humpelt in die Küche, sucht nach etwas zu essen, findet aber nichts außer einigen Dosen mit Pfirsichen. Er öffnet eine und verschlingt den Inhalt mit wildem Heißhunger. Der Saft tropft ihm vom Kinn. Pfirsiche haben ihm noch nie so gut geschmeckt. Es scheint ihm beinahe, als ob er noch nie zuvor Pfirsiche probiert hätte. Dann geht er ins Schlafzimmer und streift sich die verdreckten Kleider vom Leib, um sich eine neue Jeans und sein einziges anderes Hemd überzuziehen – ein AC/DC-T-Shirt. Er schnappt sich ein Paar Doc-Martens-Stiefel, schlüpft hinein und schnürt sie zu.

An der Tür hängt ein großer, gesprungener Spiegel.

Ein drahtiges, zerzaustes, leicht gedrungenes Frettchen von Mann starrt ihn an. Der Sprung im Spiegel spaltet sein schmales Gesicht und die Mähne seines langen, dunklen, unbändigen Haars. Seine Miene wird von einem strähnigen Backenbart eingerahmt, und die eingesunkenen Augen stecken tief in ihren Höhlen, umgeben von dunklen Umrandungen. Er erkennt sich kaum selbst wieder.

»Wie auch immer«, sagt er zum Spiegel und verlässt das Schlafzimmer.

Im Wohnzimmer holt er seine Achtunddreißiger, schnappt sich das letzte Magazin – die letzten sechs Kugeln, die er hat – und schiebt die Waffe hinten in den Gürtel. Das Magazin steckt er in eine Hosentasche.

Dann stattet er seiner Zombie-Nichte einen Besuch ab.

»Hallo, Kleines«, begrüßt er sie mit sanfter Stimme, als er die Waschküche betritt. Die kleine, mit Linoleum ausgelegte Kammer stinkt nach Tod. Brian bemerkt den üblen Geruch jedoch kaum, sondern geht sofort auf die Penny-Kreatur zu, die ihn anknurrt und an ihren Ketten reißt. Ihre Hautfarbe erinnert an Zement, und ihre Augen sind so glatt und ausdruckslos wie matt geschliffene Steine.

Brian kniet sich vor sie hin und wagt einen Blick in den Eimer. Er ist leer.

Dann schaut er sie an. »Du weißt, wie sehr ich dich liebe, oder?«

Das Penny-Ding faucht ihn an.

Brian streichelt ihre dünne, kleine Ferse. »Ich gehe jetzt fort, um etwas Proviant zu holen, Schatz, und bin gleich wieder da. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

Die kleine Untote legt den Kopf zur Seite und stößt ein Grunzen aus, das klingt, als ob Luft durch verrostete Rohre gepresst werden würde. Brian klopft ihr aufs Bein – stets darauf bedacht, außer Reichweite ihrer Zähne zu bleiben – und steht dann auf.

»Bis bald, Süße.«

In dem Augenblick, als Brian unbemerkt aus der Seitentür der Wohnung schleicht und sich mit gesenktem Kopf und den Händen in den Taschen durch die windgepeitschten Felder aufmacht, weiß er, dass etwas nicht stimmt. Die Pferderennbahn, die zum Autodrom umfunktioniert wurde, liegt still in der Ferne da. Einige der Ansässigen eilen an ihm vorbei, die Augen vor Panik weit aufgerissen. Die Luft trägt ihm den Gestank der Toten und Verwesenden zu. Links hinter der Barrikade aus Bussen und alleinstehenden Häusern wandern unzählige Untote an der Grenze entlang und suchen nach einem Loch, nach einem Weg nach drinnen. Vor sich sieht er schwarzen Rauch aus dem Schornstein des Krematoriums aufsteigen. Brian legt einen Zahn zu.

Als er sich dem Marktplatz nähert, erkennt er in der Ferne, dass mit Gewehren und Ferngläsern ausgerüstete Männer auf dem hölzernen Wall am nördlichen Ende der Sicherheitszone stehen, wo der Zaun noch gebaut wird. Sie machen keinen glücklichen Eindruck. Brian eilt weiter. Sein Schmerz, die steifen Glieder, seine angebrochenen Rippen – all das verschwindet bei den Unmengen von Adrenalin, die jetzt durch seinen Körper pumpen.

Die Lebensmittel von Woodbury werden in einem Lagerhaus aus Ziegeln dem Gerichtsgebäude gegenüber gehortet. Brian hält vor der Lagerhalle inne, als er die drei alten obdachlosen Männer vor dem Gebäude stehen sieht. Mehrere Leute warten auf den Stufen und ziehen nervös an ihren Zigaretten, während andere den Eingang versperren. Brian geht über die Straße und gesellt sich zu der Menge.

»Was ist hier los?«, fragt er den alten Mann im Heilsarmeemantel.

»Probleme in Gotham City, Kleiner«, erwidert der Alte und deutet mit einem verschrumpelten Daumen auf das Gerichtsgebäude. »Die halbe Stadt hat sich da drinnen versammelt und berät sich.«

»Wieso? Ist etwas passiert?«

»Gestern wurden drei weitere Anwohner gefunden. Im Wald. Fein säuberlich abgenagt bis auf die Knochen … Hier wimmelt es nur so von Beißern. Der Lärm des Rennens hat sie wahrscheinlich angelockt. Verdammte Verrückte! Warum haben sie nur so viel Krach gemacht?«

Einen Moment lang überlegt Brian, wie es jetzt weitergehen soll. Er könnte sich einfach aus der Affäre ziehen, indem er seine Siebensachen nimmt und abhaut. Er könnte sich einfach ein Auto schnappen, alles aufladen, Penny in den Kofferraum stecken und losfahren.

Hier schuldet er niemandem etwas. Am besten ist es, sich zu verdünnisieren und dem Kaff so schnell wie möglich den Rücken zuzudrehen. Das wäre eindeutig die beste Vorgehensweise. Aber etwas in Brian lässt ihn noch einmal darüber nachdenken. Was würde Philip tun?

Brian starrt auf die aufgebrachte Menge, die sich vor dem Eingang zum Regierungsgebäude drängt.

Dreiundzwanzig

Weiß denn überhaupt jemand, wie sie hießen?« Eine Frau Ende sechzig mit lockigen grauen Haaren steht im hintersten Teil des Versammlungsraums im Parterre des Gebäudes. Die Venen in ihrem Hals pulsieren vor Anspannung.

Etwa dreißig Einwohner von Woodbury haben sich hier zusammengefunden – Stadträte, Familienoberhäupter, ehemalige Kaufleute und Passanten, die hier zufällig gestrandet sind. Sie sitzen unruhig in zerfetzten Klamotten und schmutzigen Schuhen da und blicken nach vorn. Das Ganze strahlt Weltuntergangsstimmung aus. Putz fällt von den Wänden und Decken, Kaffeemaschinen liegen auf dem Boden, die Stecker sind abgerissen, und Drähte ragen aus den Wänden. Auf dem Parkett liegen Müll und Schutt.

»Das ist doch völlig gleich!«, brüllt Major Gene Gavin vom Rednerpult. Hinter ihm stehen seine Speichellecker mit M4-Sturmgewehren an den Hüften. Dem Major scheint es zu gefallen, am Rednerpult der kleinen Gemeinde zwischen der Flagge der USA und der von Georgia zu stehen und den großen Mann zu spielen. Ähnlich wie MacArthur, der Japan befreite, oder Stonewall Jackson bei der ersten Schlacht am Bull Run genießt es der Major, nun endlich einmal Kopf einer Truppe zu sein – auch wenn es sich nur um einen Haufen Feiglinge und sonstiger Ausschussware handelt. Knallhart steht er in seiner olivgrünen Jacke und dem Bürstenschnitt da. Er hat schon seit langem auf diesen Augenblick gewartet.

Gavin ist der geborene Tyrann, der alle Schwächeren das Fürchten lehrt, und er weiß, dass man Respekt braucht, um Menschen anzuführen. Respekt, den er sich durch Furcht erkauft. Genauso machte er es damals mit seinen Wochenendsoldaten im Camp Ellenwood. Damals war er noch Ausbilder für Überlebenstraining beim 221. Military Intelligence Battalion. Er packte diese Schwächlinge an den Eiern und schikanierte sie, wo es nur ging. Bei den Ausflügen und den Nachtlager in Scull Shoals urinierte er in ihre Taschen und tyrannisierte sie bei der geringsten Regelübertretung bis zum Umfallen. Aber das war schon so lange her, dass es kaum noch Bedeutung hatte. Diese Situation aber ist so verrückt, dass sich Gavin jeden Vorteil zunutze machen muss, um die Kontrolle zu bewahren.

»Das waren doch nur ein paar von diesen neuen Typen«, fügt Gavin hinzu, als ob die Sache damit erledigt wäre. »Und irgendeine Göre aus Atlanta.«

Ein älterer Herr in den ersten Reihen steht auf. Seine knochigen Knie schlottern. »Bei allem Respekt … Das war die Tochter von Jim Bridges, und sie war nicht irgendeine Göre, sondern ein anständiges Mädchen. Ich glaube, dass ich jedem hier aus der Seele spreche, wenn ich sage, dass wir Schutz brauchen, vielleicht sogar eine Ausgangssperre … Damit niemand mehr nach Anbruch der Dunkelheit auf die Straße geht. Vielleicht könnten wir ja darüber abstimmen.«

»Setz dich, alter Mann … Ehe du dir wehtust«, schnaubt Gavin und starrt ihn finster an. »Wir haben größere Probleme, um die wir uns kümmern müssen. Da draußen ist eine ganze Kompanie von Beißern, die nichts anderes im Kopf hat, als uns zu fressen.«

Der Herr nimmt Platz und brummt vor sich hin. »Der ganze Lärm der verdammten Rennen … Das ist der wahre Grund, warum uns die Beißer jetzt umzingeln.«

Gavin klappt sein Halfter auf, sodass der Griff seiner Fünfundvierziger für alle zu sehen ist, und macht einen Schritt auf den alten Mann zu. »Es tut mir sehr leid, aber ich kann mich nicht daran erinnern, Einwohnern des Altenheims das Wort erteilt zu haben.« Dann deutet er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn. »Ich rate dir, Freundchen, deine Schnauze zu halten, ehe du sie für immer hältst.«

Ein jüngerer Mann, der in der gleichen Reihe wie der alte Mann sitzt, springt auf. »Immer mit der Ruhe, Gavin.« Er ist groß gewachsen mit olivfarbenem Teint. Sein Haar ist unter einem Tuch versteckt, und er trägt ein ärmelloses Hemd, das seine muskulösen Bizepse zur Schau stellt. Seine dunklen Augen funkeln. »Das ist kein John-Wayne-Film hier. Reg dich ein bisschen ab.«

Gavin dreht sich langsam zu ihm und richtet den Lauf seiner Waffe auf den Mann. »Halt deine Fresse, Martinez, und park deinen verdammten Arsch wieder auf dem Stuhl.«

Hinter Gavin stellen sich auf einmal seine zwei Nationalgardisten auf und zücken ihre M4-Sturmgewehre. Ihre Blicke streifen durch den Versammlungsraum.

Der Mann namens Martinez schüttelt den Kopf und setzt sich wieder hin.

Gavin stöhnt frustriert auf.

»Ihr scheint den verdammten Ernst der Lage nicht zu verstehen«, fährt er mit militärisch abgehackter Stimme fort, steckt seinen Revolver wieder ins Halfter und geht zurück zum Rednerpult. »Wir sind hier nichts weiter als Lockvögel, leichte Beute, wenn wir uns nicht um die Barrikaden kümmern. Und gleichzeitig gibt es hier einen Haufen Schmarotzer, die den ganzen Tag nichts weiter tun, als herumzuhängen und von anderen zu erwarten, dass sie das Kind schon schaukeln. Keine Disziplin! Euch habe ich etwas zu sagen, denn euer Urlaub hat gerade aufgehört. Von jetzt ab wird es hier anders zugehen. Jetzt weht hier ein anderer Wind! Es gibt neue Regeln. Jeder hilft mit, und wehe, ihr macht nicht genau das, was euch gesagt wird! Wehe dem, der nicht spurt oder aufmüpfig wird! Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«

Gavin holt tief Luft, wartet auf die Wirkung seiner Worte und blickt für den Fall, dass jemand es wagt, ihm zu widersprechen, gebieterisch durch den Raum.

Die Menge sitzt auf ihren Plätzen und schaut wie Kinder drein, die gerade vom Rektor eine Standpauke gehalten bekommen. Stevens, der Arzt, steht zusammen mit einer jungen Frau in den Zwanzigern in einer Ecke. Sie trägt einen Kittel, ein Stethoskop hängt ihr um den Hals. Stevens macht den Eindruck, als ob er etwas riechen würde, das schon eine ganze Weile vor sich hin geschimmelt hat. Er hebt die Hand.

Der Major rollt mit den Augen und prustet genervt. »Was denn jetzt schon wieder, Stevens?«

»Berichtigen Sie mich bitte, falls ich mich täusche«, beginnt der Arzt, »aber wir sind schon jetzt nicht besonders gut aufgestellt. Jeder von uns tut, was er kann.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Der Arzt zuckt mit den Schultern. »Was genau wollen Sie von uns?«

»ICH WILL EUREN GOTTVERDAMMTEN GEHORSAM!«

Das Gebrüll macht so gut wie keinen Eindruck auf Stevens’ intelligente Gesichtszüge. Gavin atmet lange und tief ein und wieder aus, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Stevens schiebt seine Brille hoch, wendet den Blick ab und schüttelt den Kopf. Dann dreht sich der Major zu seinen Männern um und gibt ihnen ein Zeichen.

Die Gardisten nicken dem Major zu und legen den Finger an den Abzug.

Das wird offenbar doch nicht so leicht, wie Gavin es sich vorgestellt hat.

Brian Blake hält sich ganz hinten im Versammlungsraum. Er steht im Schatten eines staubigen, kaputten Verkaufsautomaten, hat die Hände in den Taschen und hört zu. Sein Herz pocht wie wild. Und er hasst sich für diese Tatsache. Er kann das Gefühl nicht abschütteln, eine Laborratte zu sein. Eine lähmende Angst – seine alte Nemesis – ist wieder da und begleitet ihn auf Schritt und Tritt. Das Magazin brennt ihm beinahe ein Loch in die Hosentasche und sticht doch kalt in seinen Schenkel. Seine Kehle ist zusammengeschnürt und trocken, die Zunge viel zu groß für seinen Mund. Was zum Teufel ist nur los mit ihm?

Vorne am Rednerpult beginnt Gavin vor den Gemälden der Stadtväter, die in Schaukästen an der Wand hängen, auf und ab zu marschieren. »Es ist mir völlig egal, wie ihr diese Anhäufung geballter Kacke nennen wollt, in der wir uns befinden. Ich nenne es Krieg … Und damit herrscht über dieses verdammte Kaff das Kriegsrecht.«

Ein unruhiges Raunen erfasst den Saal. Der alte Mann ist der Einzige, der sich traut, das Wort zu erheben. »Und was soll das heißen?«

Gavin geht auf ihn zu. »Das soll heißen, dass jeder hier meinen Befehlen Folge leisten und schön brav sein wird.« Dann tätschelt er dem alten Mann die Glatze, als ob es sich um ein harmloses Haustier handeln würde. »Immer schön gehorchen und genau das machen, was man euch sagt, und dann haben wir sogar den Hauch einer Chance, dies alles zu überstehen.«

Der alte Mann schluckt. Die meisten Leute starren zu Boden. Für Brian ist eines klar: Die Menschen in Woodbury stecken tief in der Klemme. Der Hass in dem Saal liegt so dick in der Luft, dass man sie zerschneiden könnte. Doch die Angst siegt. Sie steigt aus jeder Pore der Anwesenden – einschließlich Brian, der aber hart gegen sie anzukämpfen versucht. Er schluckt den Kloß, der in seinem Hals steckt, hinunter.

Jemand im vorderen Teil des Saales in der Nähe der Fenster meldet sich zu Wort. Brian ist zu weit entfernt, um es zu verstehen, und stellt sich auf die Zehenspitzen, damit er sehen kann, um wen es sich handelt.

»Gibt es etwas, das du uns mitteilen willst, Detroit?«, erkundigt sich der Major gereizt.

Der schwarze Mann mittleren Alters mit seiner fettigen Latzhose und dem grauem Bart sitzt auf einem Stuhl und macht einen unzufriedenen Eindruck. Finster starrt er aus dem Fenster. Seine langen gelbbraunen Finger sind mit Wagenschmiere überzogen. Der einzige Mechaniker vor Ort ist aus dem Norden hergezogen. Er murmelt etwas vor sich hin und beachtet den Major überhaupt nicht.

»Immer raus mit der Sprache, Homeboy.« Der Major kommt mit großen Schritten näher. Als er neben ihm steht, fährt er fort: »Was ist dein Problem? Gefällt dir etwa die Freizeitgestaltung nicht?«

Kaum hörbar erwidert der Schwarze: »Ohne mich.«

Er steht auf und dreht sich zum Ausgang, als der Major plötzlich seine Waffe zieht.

Mit einem beinahe unwillkürlichen Instinkt greift der schwarze Mann mit seiner großen, schwieligen Hand nach dem Revolver in seinem Gürtel. Aber ehe er ziehen kann, hat Gavin die Waffe schon auf ihn gerichtet. »Ach, tu mir doch den Gefallen, Detroit«, knurrt der Major und richtet den Lauf gegen dessen Kopf. »Ich wollte schon immer deinen krausen Schädel in tausend Stücke blasen.«

Die Soldaten reihen sich hinter ihrem Major auf und heben ihre Sturmgewehre. Alle starren sie den schwarzen Mechaniker an.

Mit der Hand am Griff seiner Waffe, den Blick starr auf Gavin gerichtet, murmelt er: »Es ist schon schlimm genug, dass wir die Toten da draußen bekämpfen müssen … Und jetzt kommst du und willst uns auch noch herumschubsen.«

»Setz. Dich. Hin. Sofort.« Gavin drückt den Lauf jetzt fester gegen den Schädel des Mechanikers. »Oder ich werde dich hinrichten. Hier und jetzt.«

Detroit seufzt genervt und nimmt wieder Platz.

Da wendet sich der Major an die restlichen Bewohner. »Das Gleiche gilt für euch! Glaubt ihr, dass ich hier auf Kur bin? Dass ich das aus Jux und Dollerei mache? Das ist hier keine Demokratie, Leute, es geht um Leben und Tod!« Er beginnt wieder, vor den Leuten auf und ab zu marschieren. »Wenn ihr nicht als Hundefutter enden wollt, müsst ihr mir gehorchen. Lasst die Profis ran!«

Die Stille legt sich über den Versammlungsraum wie Giftgas. Ganz hinten spürt Brian, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichten. Sein Herz pocht so heftig in seiner Brust, dass es droht, ein Loch in sein Brustbein zu schlagen. Er bekommt kaum noch Luft. Er will diesem Möchtegernsoldaten den Hals umdrehen, aber sein Körper verkrampft sich, und Brian weiß nicht, ob er flüchten oder sich dem Ganzen stellen soll. Durch seinen Kopf schwirren Fragmente von Erinnerungen, Szenen und Geräuschen eines angstbestimmten Lebens. Schon auf dem Spielplatz der Burke-County-Grundschule musste er kleinen Tyrannen aus dem Weg gehen und schlich immer um den Parkplatz des Supermarkts, um nicht den Schlägern in die Finger zu geraten. Er rannte vor einer Gang beim Kid-Rock-Konzert davon und hoffte stets auf Philips Hilfe … Wo zum Teufel ist Philip, wenn man ihn braucht?

Ein Geräusch aus der Richtung des Rednerpults rüttelt Brian auf.

Der Mann namens Detroit steht auf. Er hat die Nase gestrichen voll. Sein Stuhl knarzt, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtet – weit über einen Meter achtzig –, sich umdreht und davongeht.

»Wo zum Teufel willst du hin?« Gavin schaut zu, wie sich der Schwarze auf den Ausgang zu bewegt. »HE! ICH REDE MIT DIR, DETROIT! WOHIN, GLAUBST DU, BEWEGST DU DEINEN ARSCH?«

Detroit dreht sich nicht einmal um, sondern winkt nur genervt ab und murmelt: »Ich hau ab … Wünsch euch viel Glück … Und das werdet ihr brauchen, wenn die Idioten hier das Sagen haben.«

»PFLANZ DEINEN SCHWARZEN NIGGERARSCH SOFORT WIEDER AUF EINEN STUHL, ODER ICH MACHE DICH AUF DER STELLE KALT!«

Detroit achtet nicht auf ihn.

Gavin zieht seinen Revolver.

Detroit geht weiter.

Die gesamte Versammlung holt tief Luft, als Gavin die Waffe hebt und auf den Hinterkopf von Detroit zielt.

Der Schuss saugt die Luft aus dem Raum. Er ist so laut, dass die Wände wackeln. Eine Frau schreit auf. Die Kugel gräbt sich in den Hinterkopf des Schwarzen. Detroit wird nach vorne geschleudert und landet auf dem Verkaufsautomaten. Brian, der direkt daneben steht, zuckt zusammen. Der Mechaniker prallt auf den kalten Stahl, wird zurückgeworfen und sackt dann zu Boden. Das Coca-Cola-Logo ist mit seinem Blut beschmiert. Rote Spritzer kleben an der Wand darüber und an der Decke.

Noch ehe die vielen Schreie verklingen und das Echo des Schusses verhallt, passieren mehrere Dinge auf einmal. Beinahe gleichzeitig springen drei Gemeindemitglieder auf – zwei Männer mittleren Alters sowie eine Frau um die dreißig – und rennen zum Ausgang. Brian sieht ihnen wie in einem Traum hinterher. Es rauscht noch immer in seinen Ohren, und seine Augen sind geblendet. Er nimmt kaum die absonderlich ruhige Stimme des Majors wahr, die jegliche Reue vermissen lässt und in der keinerlei Gefühl mitschwingt, als sie den zwei Gardisten Barker und Manning befiehlt, die Fliehenden zu schnappen. Außerdem sollen sie den Rest zusammentreiben, »der sich da draußen wie feige Kakerlaken verkriecht«, denn Gavin will, dass jeder, der noch Blut in den Adern hat, seine Worte hört. Die beiden Nationalgardisten rennen aus dem Gerichtssaal und lassen eine fassungslose, gelähmte Gruppe von fünfundzwanzig Einwohnern zurück, den Major und … Brian.

Für Brian dreht sich alles, als Gavin seine Waffe wieder ins Halfter steckt und einen triumphierenden Blick auf den leblosen Körper des Schwarzen wirft, als ob es sich um eine Trophäe handeln würde. Dann dreht er sich um und schlendert nach vorne zum Rednerpult zurück. Jetzt hat er die Aufmerksamkeit, die er wollte, und er scheint jede Sekunde davon zu genießen. Brian merkt kaum, wie er droht, an jedem Weichei ein Exempel zu statuieren, das auch nur daran denkt, das Leben der Einwohner von Woodbury in Gefahr zu bringen, indem er sich auf eigene Faust auf und davon machen will. Solche verdammten Besserwisser gehörten ausgerottet. Diese Zeiten sind nach Gavin etwas ganz Besonderes. Sie wurden schon in der Bibel beschrieben und prophezeit. Tatsache sei, dass sie es vielleicht mit dem Weltuntergang zu tun hätten. Jeder Einwohner von Woodbury müsse es endlich in seinen dicken Schädel bekommen, dass dies womöglich die letzte Schlacht zwischen Satan und der Menschheit sei. Und Gavin höchstpersönlich sei von nun an der gottverdammte Messias.

Die durchgedrehte Predigt dauert zwar kaum länger als eine Minute, doch in dieser kurzen Zeit durchläuft Brian Blake eine Metamorphose.

Während er wie versteinert neben dem alten Verkaufsautomaten steht und das Blut des erschossenen Mannes unter seine Schuhsohlen läuft, wird Brian Blake klar, dass er keine Chance in dieser Welt hat, wenn er seinem bisherigen Verhaltensmuster folgt: nämlich jedem Streit aus dem Weg gehen, Gewalt vermeiden, sich Gefahren entziehen. Scham erfüllt ihn und nimmt von ihm Besitz. Er erinnert sich an seine erste Begegnung mit den wandelnden Toten. Es war in Deering bei seinen Eltern, Millionen von Lichtjahre entfernt. Sie stolperten hinter dem Geräteschuppen hervor, und Brian versuchte, mit ihnen zu reden, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Er warnte sie, sich von ihm fernzuhalten, und bewarf sie mit Steinen, ehe er zurück ins Haus flüchtete, die Fenster verbarrikadierte, sich in die Hose machte und generell wie ein Feigling aufführte, der er schon immer gewesen war und immer sein würde. Doch in diesem kurzen, fürchterlichen Augenblick, in dem Gavin seine gesammelten Weisheiten über die Einwohner von Woodbury ergießt, schießen ihm sämtliche Erinnerungen an seine Feigheit und Unentschlossenheit auf dem langen Weg ins westliche Georgia durch den Kopf. Hat er denn nichts gelernt? Zuerst versteckte er sich in der Abstellkammer im Haus in Wiltshire Estates, sein erster erlegter Zombie im Haus der Chalmers war eher so etwas wie Zufall, und ständig lag er seinem Bruder in den Ohren, nervte ihn mit seiner Schwäche und unnützen Ängstlichkeit. Plötzlich aber begreift Brian mit einem Schmerz, der sein Herz fast zerbersten lässt, dass er das alles nie und nimmer allein überleben wird. Jetzt, da Major Gavin die traumatisierten Menschen vom Rednerpult aus herumkommandiert, ihnen beinahe unmenschliche Pflichten aufbürdet und ihnen neue Regeln unterbreitet, spürt Brian, wie sich sein normales Verhalten gleich einem Schmetterling verabschiedet, der seinen Kokon verlässt. Zuerst wünscht er sich noch, dass Philip hier wäre, um ihn zu beschützen – wie er es seit Beginn der Plage getan hat. Wie würde Philip mit Gavin umgehen? Was würde er tun? Es dauert nicht lange, ehe sich diese Sehnsucht in einen akuten Schmerz um Philips Verlust verwandelt. Es quält ihn wie eine offene Wunde, und das scharfe Schwert der Trauer durchschneidet sein Innerstes. Er stützt sich an dem blutbesudelten Verkaufsautomaten ab und spürt, wie sich seine Seele von seinem Körper wie von einem urweltlichen Klumpen Erde löst, um den Mond zu formen. Ein Schwindelanfall droht, ihn zu Boden zu reißen, aber ehe Brian weiß, wie ihm geschieht, hat er seinen Körper verlassen. Sein Bewusstsein schwebt jetzt über seinem Leib. Er ist ein gespenstischer Zuschauer, der in diesem luftarmen, stinkenden, überfüllten Versammlungsraum im alten Gerichtsgebäude von Woodbury auf sich selbst hinabschaut und sich beobachtet.

Und Brian wächst weiter über sich hinaus.

Jetzt sieht er sein Ziel vorne am Rednerpult, circa zehn Meter von ihm entfernt.

Er staunt, wie sein Körper einen Schritt nach vorn macht, weg von dem Verkaufsautomaten, seine Hand nach der Waffe in seinem Gürtel greift und sich seine Finger um dessen Griff legen, während Gavin weiterhin Befehle brüllt und vor den Gründungsvätern der Stadt auf und ab stolziert.

Brian schaut zu, wie er drei weitere Schritte auf den Hauptgang zugeht und gleichzeitig die Waffe in einer eleganten, fließenden Bewegung aus dem Gürtel zieht. Er hält die Achtunddreißiger an der Seite, macht einen vierten Schritt. Jetzt ist er nur noch fünf Meter von Gavin entfernt und bekommt endlich dessen Aufmerksamkeit. Der Major hält inne und schaut auf. Brian hebt die Waffe und leert das gesamte Magazin der tödlichen Hohlspitzgeschosse in Gesicht und Oberkörper von Major Gavin.

Wieder herrscht Unruhe unter den Anwesenden, aber diesmal schreit niemand auf.

Alle sind schockiert, jedoch niemand stärker als Brian. Er steht einen scheinbar unendlich langen Augenblick wie angewurzelt im Hauptgang. Seine Waffe ist noch immer nach vorne gerichtet, obwohl sie jetzt leer ist. Er scheint keine Kontrolle mehr über seinen ausgestreckten Arm zu haben. Major Gavins Überreste liegen zusammengesackt auf dem Boden vor der Wand. Sein Oberkörper ist teilweise durchlöchert wie ein Sieb, und aus Hals und Kopf sprudelt dunkelrotes Blut in öligen Blasen.

Der Bann ist gebrochen, als das Geräusch quietschender Stühle und das Aufstehen von Personen an Brians Ohren dringen. Er lässt die Waffe sinken und schaut sich um. Einige der Anwesenden treten zum Rednerpult, andere starren Brian an. Einer der Männer kniet sich neben Gavins Leiche, macht sich aber nicht die Mühe, nach dem Puls zu suchen oder Erste Hilfe zu leisten. Der Mann namens Martinez geht auf Brian zu.

»Nimm das nicht persönlich, Kumpel«, meint Martinez mit rauer und ernster Stimme. »Aber es wäre sicher ratsam, wenn du von hier abhaust.«

»Nein.« Brian spürt, dass seine Seele wieder zu ihm zurückgekehrt ist. Er fühlt sich so, als ob man ihn neu gebootet hätte.

Martinez starrt ihn an. »Hier wird die Hölle los sein, sobald seine Gorillas zurückkommen.«

»Das wird schon«, antwortet Brian, greift in seine Tasche holt das Magazin hervor und lädt die Waffe. Obwohl er keinerlei Übung darin hat, bewahrt er eine ruhige Hand. Er steht jetzt mit beiden Beinen felsenfest auf dem Boden. »Wir sind ihnen zahlenmäßig bei weitem überlegen.«

Einige der Anwohner Woodburys haben sich um den Verkaufsautomaten versammelt, vor dem der Leichnam des Mannes namens Detroit liegt. Dr. Stevens sucht noch nach dem Puls, als Brian jemanden leise weinen hört. Er dreht sich zu der Gruppe um.

»Wer von euch ist bewaffnet?«, fragt er.

Ein paar Männer strecken die Hände in die Luft.

»Bleibt bei mir.« Dann eilt er durch die fassungslosen Anwesenden zum Ausgang, stellt sich unter dem Portal auf und blickt durch das Sicherheitsglas hinaus in den windigen, bewölkten Herbstnachmittag.

Selbst durch die Scheibe ist das untrügliche Dröhnen der Zombies aus der Ferne zu hören, das der Wind herüberträgt. Aber für Brian hört es sich jetzt irgendwie anders an. Getrennt durch die behelfsmäßigen Barrikaden, durch nichts weiter als durch dünne Bretter, Blech und Drahtzaun von der hartnäckigen, kleinen Gemeinde Überlebender abgegrenzt, scheint die allgegenwärtige Symphonie aus Ächzen und Stöhnen – so schrecklich und disharmonisch wie ein Windspiel aus menschlichen Knochen – nicht mehr der Verkünder von Schrecken und Finsternis zu sein. Vielmehr verheißt ihm das grässliche Raunen jetzt eine neue Chance. Brian vernimmt darin die Möglichkeit eines neuen Lebens, einer neuen Ordnung, die sich in ihm wie die Geburt einer neuen Religion auftut.

Eine Stimme neben ihm reißt ihn aus seiner Trance. Er dreht sich um und sieht Martinez, der ihm einen musternden Blick zuwirft. »Tut mir leid«, entschuldigt sich Brian. »Was hast du gesagt?«

»Dein Name … Wie heißt du eigentlich?«

»Mein Name?«

Martinez nickt. »Ich heiße Martinez … Und du?«

Brian zögert für einen winzigen Augenblick, ehe er antwortet. »Philip … Philip Blake.«

Martinez streckt die Hand aus. »Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Philip.«

Die beiden Männer tauschen einen kräftigen Händedruck aus, und mit dieser einfachen Geste nimmt die neue Ordnung endgültig Gestalt an.

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