TEIL 2 Atlanta

Wer mit Ungeheuern kämpft,

mag zusehen, dass er nicht dabei

zum Ungeheuer wird.

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,

blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Friedrich Nietzsche



Neun

Wenige Autos – zumindest die aus den USA – fahren schnell rückwärts. Zuallererst ist da das Problem mit der Umsetzung. Die meisten Wagen, die von der Fertigungsstraße rollen, ganz gleich ob Van, SUV, Kombi oder Sportler, sind mit fünf oder sechs Vorwärtsgängen, aber nur einem Rückwärtsgang ausgestattet. Zweitens ist die Federung einzig und allein auf das Vorwärts- und nicht das Rückwärtsfahren ausgerichtet. Das bedeutet, dass es dem Fahrer unmöglich gemacht wird, mit Geschwindigkeit rückwärtszupreschen. Und drittens muss man beim Rückwärtsfahren über die Schulter schauen und gleichzeitig lenken. Sollte man es trotzdem schaffen, mit Schwung nach hinten zu fahren, so endet dies meistens mit spektakulären Missgeschicken.

Der Schlitten, den Philip Blake fährt, ist ein Platinum Cadillac Escalade aus dem Jahre 2011 mit Allradantrieb und fein ausgeklügelten Torsionsfedern, sodass der Meistermechaniker Calvin R. Donlevy aus der Greencove Lane so ziemlich alles offroad unternehmen konnte, was das Hinterland von Mittel-Georgia in glücklicheren Zeiten zu bieten hatte. Das Auto wiegt knappe vier Tonnen, ist über fünf Meter lang und rühmt sich eines sogenannten StabiliTrak, eines elektronischen Stabilitätssystems, dem Standard für alle Platinum-Modelle. Am coolsten aber ist die Tatsache, dass es mit einer Kamera zum Rückwärtsfahren ausgestattet ist. Das Bild wird auf einem relativ großen Display wiedergegeben, das in das Armaturenbrett eingebaut ist.

Ohne zu zögern – sein Nervensystem scheint direkt mit seiner rechten Hand verbunden zu sein –, wirft Philip den Rückwärtsgang ein und starrt auf das gelb flackernde Bild auf dem Display vor seinen Augen. Er sieht einen teilbewölkten Himmel über dem Horizont aus Beton hinter ihnen: der Scheitelpunkt der Brücke.

Ehe das immer näher rückende Bataillon von Zombies bis auf fünfzig Meter an sie herankommt, schießt der Escalade rückwärts.

Die Insassen werden beinahe aus den Sitzen gerissen. Brian und Nick schaffen es dennoch, sich umzudrehen, um einen Blick auf die Brücke durch die Heckscheibe zu werfen. Das Auto droht zu schleudern, fängt sich aber wieder und wird noch schneller. Philips Bleifuß lässt den Motor aufheulen. Aber er dreht sich nicht um, sondern richtet die Augen auf das Display, auf dem die Brücke immer größer wird.

Ein winziger Fehler, eine minimale Abweichung beim Steuern, und der Escalade gerät außer Kontrolle und fängt zu schleudern an. Aber Philip lässt ihn nicht entgleisen. Die Hände am Steuerrad, den Fuß auf dem Gaspedal und die Augen auf das Display gerichtet schießt der Wagen immer schneller dorthin zurück, von wo sie gekommen sind. Der Motor kreischt. Plötzlich erkennt Philip etwas Neues auf dem Display.

»Mann … Mist! Schau mal!«

Das ist Brian. Seine Stimme durchdringt das Motorengeräusch, aber Philip muss gar nicht erst hinsehen. Auf dem gelblich schimmernden Monitor sieht er eine Reihe dunkler Gestalten hinter ihnen auftauchen und sich an der obersten Stelle der Brücke wie ein Zaun aufstellen. Sie bewegen sich, wenn auch langsam und unkoordiniert, und strecken die Arme nach dem Wagen aus, der auf sie zuschießt. Philip knurrt genervt.

Mit beiden Stiefeln steigt er auf das große Bremspedal, und der Escalade kommt mit quietschenden Reifen auf der Auffahrt zur Brücke zum Stehen.

Wie auch die anderen realisiert Philip, dass sie nur noch eine Chance haben und – je mehr Zeit verstreicht – diese Chance immer kleiner wird. Die Untoten, die von vorne auf sie zu stolpern, sind noch knappe hundert Meter entfernt, während die Horde hinter ihnen auf der Brücke, die immer weiter anschwillt, mit erstaunlicher Geschwindigkeit näher eilt. Im Seitenspiegel entdeckt Philip eine Lücke zwischen zwei umgestürzten Lastern, die einen Duchgang zum Memorial Drive ermöglicht. Das Problem ist nur, dass die Armee hinter ihnen diese Lücke gleich schließen wird.

In null Komma nichts trifft er eine Entscheidung und tritt erneut aufs Gaspedal.

Der Escalade schießt nach hinten. Alle halten sich fest. Philip fährt direkt auf die Scharen der schlurfenden Leichname zu. Auf dem Display kann er sehen, wie sie gierig die Arme ausstrecken, die Münder weit offen. Sie werden immer größer, je näher er ihnen kommt.

Als er das gelbliche Schild des Memorial Drive auf dem Monitor erkennt, tritt er erneut auf die Bremse.

Das Heck des Escalade trifft mehrere Untote. Es gibt ein widerliches, ekelerregendes Geräusch, während Philip den Vorwärtsgang des Automatikgetriebes einlegt, ehe er mit Vollgas davonbraust. Die Mannschaft wird in die Sessel gedrückt, als der SUV nach vorne prescht und Philip das Steuer scharf nach links reißt, um durch die knappe Lücke zu kommen, die zwischen den beiden Lastern vor ihnen zu sehen ist.

Funken fliegen, als der SUV einen der umgestürzten Lkws rammt. Doch gleich darauf haben sie es geschafft und rasen den relativ freien und vor allem endlich zombielosen Memorial Drive hinunter.

Sie fahren sechs Häuserblocks entlang, schießen über Schienen und gelangen immer weiter ins Stadtinnere, ehe sie wieder vermehrt auf Zombies stoßen. Die Straßen, die sich durch die Häuserschluchten schneiden, sind voller Trümmer – Reste von Explosionen, ausgebrannte Autos mit verkohlten Leichen, zerborstene Fenster, Müll und Schutt, wo man nur hinblickt.

Philip nimmt eine von Süden nach Norden verlaufende Straße, die sie noch weiter ins Zentrum bringt. Aber als er rechts abbiegen will – sie rasen gerade um einen demolierten Lieferwagen, der mitten auf der Kreuzung liegengeblieben ist –, tritt er plötzlich auf die Bremse, sodass der Escalade abrupt anhält.

Einen Augenblick lang stehen sie einfach da, der Motor im Leerlauf. Philip bewegt sich nicht. Seine Hände halten noch immer das Steuer fest. Er kneift die Augen zusammen und schielt zu den Schatten der Wolkenkratzer direkt vor ihnen.

Zuerst begreift Brian nicht, was los ist. Er reckt den Kopf, um einen Blick auf die mit Trümmern überhäufte Straße zu werfen, die sich über viele Häuserblocks vor ihnen erstreckt. Durch die getönten Scheiben sieht er Wolkenkratzer links und rechts der vierspurigen Avenue. Müll wird vom Herbstwind hochgewirbelt und fegt durch die Häuserschlucht.

Nick ist ebenso ahnungslos. »Philip? Warum stehen wir mitten auf der Kreuzung?«

Philip antwortet nicht. Stattdessen starrt er schweigend nach vorn. Die Stille, die nun herrscht, wird nur von seinen knirschenden Zähnen unterbrochen.

»Philip?«

Keine Antwort.

Nick dreht sich zur Heckscheibe und starrt die Straße hinunter. Jetzt verändert sich auch sein Gesichtsausdruck. Er versteinert förmlich. Er sieht, was Philip sieht, und schweigt ebenfalls.

»Was ist hier eigentlich los?«, fragt Brian und lehnt sich nach vorne, um besser sehen zu können. Einen Augenblick lang kann er nur die vor ihm liegende, mit Trümmern übersäte Avenue ausmachen. Aber schon bald muss er feststellen, dass er eine verwüstete Stadt vor Augen hat, die sich innerhalb von Sekundenbruchteilen wie ein gigantischer Organismus durch das Eindringen fremder Bakterien verändert. Das, was Brian durch die getönten Scheiben sieht, ist so grauenhaft, dass er zwar den Mund bewegt, aber keinen Ton herausbringt.

Während dieses einen Augenblicks totaler Ohnmacht kehrt Brian Blake kurzfristig in Gedanken in seine Kindheit zurück. Der Wahnsinn dessen, was er sieht, packt ihn. Einmal nahm seine Mutter ihn und Philip mit zum Zirkus Barnum & Bailey in Athens. Sie waren damals vielleicht zehn und dreizehn Jahre alt, und die Hochseilakte, die Tiger, die durch Reifen sprangen, die Männer, die aus Kanonen durch die Luft geschossen wurden, die Akrobaten, die Zuckerwatte, die Elefanten, die Nebenvorstellungen, der Schwertschlucker, die menschliche Zielscheibe, die Feuerschlucker, die Frauen mit Bärten und der Schlangenbeschwörer hatten es ihnen angetan. Doch das, woran sich Brians am besten erinnert und woran er auch jetzt wieder denken muss, ist das Auto mit den Clowns. An jenem Tag in Athens, mitten in der Vorstellung, fuhr ein merkwürdig aussehendes Gefährt ins Zentrum der Manege. Es war eine Limousine mit bemalten Scheiben wie aus einem Trickfilm. Das Auto war tiefergelegt und mit einem Muster aus Leuchtfarben bemalt. Brian kann sich noch genau daran erinnern, wie er vor Lachen kaum an sich halten konnte, als sich die Clowns aus dem Auto kämpften. Zuerst war es einfach nur lustig, doch dann musste er immer mehr staunen, bis es richtiggehend bizarr wurde. Denn es hörte nicht auf. Immer wieder kam ein weiterer Clown aus dem Wagen. Sechs, acht, zehn, zwanzig, groß und klein – alle kletterten aus dem Auto, als ob es sich um einen speziellen Container für gefriergetrocknete Clowns handeln würde. Selbst als Dreizehnjähriger war Brian völlig gebannt, obwohl er wusste, dass es ein Trick sein musste – wie eine Luke unter den Sägespänen, auf denen der Wagen geparkt war. Doch das spielte keine Rolle. Das Schauspiel, das sich ihm bot, faszinierte ihn unglaublich.

Genau das gleiche Phänomen – oder zumindest eine perverse Kopie – spielt sich jetzt erneut vor Brians Augen auf einer Straße mitten in der Innenstadt von Atlanta ab. Er starrt fassunglos auf die Szene und versucht vergebens, die richtigen Worte für den Horror zu finden, der sich vor ihren Augen abspielt.

»Dreh um, Philip.« Brians Stimme klingt selbst für ihn auffallend hohl, als er die Scharen der Untoten an jeder Ecke der Stadt aufwachen sieht. Wenn man die vorherige Horde auf ihrem Weg in die Stadt mit einer römischen Legion vergleichen konnte, dann war das hier ein ganzes Imperium.

So weit das Auge reicht, strömen Untote aus jedem Loch, jedem Gebäude, hinter jedem Auto hervor – aus Wracks, aus den Seitengassen, aus zerborstenen Schaufenstern, aus den marmornen Eingängen der Regierungsgebäude, hinter den dünnen Stämmen ornamentaler Bäumchen und aus den traurigen Resten zerbombter Straßencafés. Man kann sie selbst in weiter Ferne erkennen, dort, wo die Straße im Schatten der Wolkenkratzer verschwindet. Ihre zerlumpten Silhouetten erinnern an einen riesigen Schwarm langsamer Insekten, die aufgeweckt wurden, weil man den Stein, unter dem sie lagen, wegnahm. Ihre gewaltige Anzahl scheint allen Regeln der Vernunft zu widersprechen.

»Nichts wie weg hier!«, presst Nick hervor.

Philip, stoisch und noch immer still, klammert sich weiterhin ans Lenkrad.

Nick wirft einen nervösen Blick nach hinten. »Wir müssen zurück!«

»Er hat recht, Philip«, sagt Brian und legt eine Hand auf Pennys Schulter.

»Was hast du vor?«, fragt Nick und sieht Philip an. »Warum drehst du nicht um?«

Brian starrt auf den Nacken seines Bruders. »Philip, das sind zu viele. Viel zu viele.«

»Um Gottes willen, wir sind im Arsch … Wir sind im Arsch!«, stottert Nick, der von dem atemberaubenden Hindernis, das sich ihnen in den Weg stellt, wie gelähmt wirkt. Die Untoten sind kaum einen halben Häuserblock entfernt und scheinen wie die erste Welle eines Tsunamis zu sein. Es sind Büroangestellte, Männer und Frauen, noch immer in Nadelstreifenanzügen und Kostümen. Doch die Kleidung hängt nur noch in Fetzen von ihnen herab, als ob sie sich gegenseitig angebissen und durch Wagenschmiere gezogen hätten. Sie stolpern umher wie seltsam aufgebrachte Schlafwandler.

Hinter ihnen drängen sich einen Häuserblock nach dem anderen unzählige weitere Zombies auf den Bürgersteigen und der Straße. Falls es Stoßzeiten in der Hölle gibt, dann können sie diesem Schauspiel ganz bestimmt nicht das Wasser reichen. Die dissonante Symphonie aus Jammern und Stöhnen Hunderttausender Untoter, die durch die Entlüftungsschlitze und Fenster des Escalade dringt, stellt Brian die Nackenhaare auf. Er lehnt sich nach vorne, um seinem Bruder vorsichtig auf die Schulter zu klopfen. »Philip, die Stadt ist verloren.«

»So ist es. Erledigt. Wir müssen sofort umdrehen«, drängt Nick panisch.

»Einen Augenblick«, erklärt Philip mit kalter Stimme. »Wartet noch.«

»Philip, lass das«, ermahnt ihn Brian. »Die Stadt gehört den Zombies.«

»Ich habe gesagt, dass wir noch etwas warten!«

Brian starrt erneut auf den Nacken seines Bruders, und ihm läuft es kalt den Rücken hinunter. Jetzt weiß er, was Philip vorhat. ›Einen Augenblick‹ bedeutet nicht ›Wartet mal kurz, während ich überlege‹ oder ›Mir kommt gleich die zündende Idee‹.

Was Philip Blake mit ›Einen Augenblick‹ meint, ist …

»Seid ihr alle angeschnallt?«, fragt Philip eher rhetorisch. Brian wird es erneut eiskalt.

»Philip, bitte …«

Aber Philip hört nicht auf ihn, sondern tritt aufs Gaspedal. Der Escalade explodiert förmlich, als er losschießt. Philip steuert schnurstracks auf den wimmelnden Mob zu. Brian verschlägt es einen Moment lang die Sprache.

»PHILLY! NEIN!«

Nicks Schrei wird von Aufprallgeräuschen übertönt. Als ob ein Riese unentwegt auf eine gewaltige Trommel schlagen würde, fegt der Escalade über den Bürgersteig und zerfetzt dabei mindestens drei Dutzend Untote in Stücke.

Gewebe und Blut regnen auf das Auto nieder.

Brian ist so geschockt, dass er sich auf den Boden wirft und gemeinsam mit Penny den Ort namens Weg aufsucht.

Die kleineren Zombies stellen kein großes Hindernis dar. Sie sind eher wie Schießbudenfiguren. Sie zerplatzen unter dem Gewicht der Reifen und hinterlassen lediglich eine Spur verwesender Innereien. Die Größeren aber prallen von den Kotflügeln ab und fliegen durch die Luft, bis sie gegen Gebäude klatschen und wie überreife Früchte platzen.

Die Toten scheinen lernresistent zu sein. Selbst eine Motte flattert davon, sobald sie einmal der Flamme zu nahe gekommen ist. Aber dieser gewaltige Verband herumwandelnder Leichen in Atlanta hat offensichtlich nicht den geringsten Schimmer, warum man das glänzende schwarze Etwas, das auf sie zurast, nicht fressen kann – das gleiche schwarze Etwas, das ihre Kumpanen Sekunden zuvor in Brei verwandelt hat. Sie kommen weiterhin und denken nicht einmal daran, innezuhalten oder die Richtung zu ändern.

Philip ist über das Lenkrad gebeugt. Die Knöchel weiß vor Anstrengung, betätigt er immer wieder die Scheibenwischer, damit die Windschutzscheibe nicht völlig verschmutzt und er noch sehen kann, wohin er das Auto lenkt. Mit einer Geschwindigkeit zwischen fünfzig und achtzig Kilometer die Stunde pflügt er den Weg zur Innenstadt frei.

Manchmal schlägt er eine Schneise durch die dichte Menge, dass man meinen könnte, sie befänden sich in einem Wald voll blutender Früchte. Die herumfliegenden Arme und Finger gleichen Ästen, die sich an den Seiten des Escalade verklemmen. Es gibt auch freie Straßenabschnitte, auf denen der SUV lediglich einige wenige Zombies auf den Bürgersteigen oder am Rande der Straße trifft und Philip richtig Gas geben kann, während er von einer Seite zur anderen kurvt, um jeden Untoten mitzunehmen, den er kriegen kann. Dann kommt plötzlich wieder eine Wand aus Kreaturen auf sie zu. Das macht ihm am meisten Spaß, denn nur so fliegen die Fetzen so richtig.

Er fährt um eine Kurve und rast in eine neue Wand von Untoten, die auf den Wagen zustolpern.

Das Merkwürdigste sind die sich wiederholenden Einschläge des gleichen Gewebes und der gleichen Organe. Manche sind zu erkennen, andere weniger. Eingeweide fliegen wahllos umher, landen auf der Windschutzscheibe und rutschen über die Motorhaube. Bruchstücke von Zähnen sammeln sich wiederholt in den Scheibenwischern, und etwas anderes, pinkfarbenes wie Fischrogen verfängt sich im Falz zwischen Kotflügel und Motorhaube.

Philip sieht ein totes Gesicht nach dem anderen. Jedes ist nur für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar, ehe es dem nächsten Platz macht. Er befindet sich jetzt in einer Zwischenzone – irgendwo anders, aber nicht hier, nicht im SUV, nicht hinter dem Steuer, sondern mitten im Mob, in der Stadt der Untoten. Er arbeitet sich durch ihre Reihen, verschlingt Unmengen von Monstern. Was sie können, kann Philip schon lange. Er ist das schlimmste Monster von allen, und er wird es durch dieses Meer von Grauen schaffen, selbst wenn das gesamte Universum daran glauben muss.

Brian weiß genau, was passiert. Dazu muss er nicht erst die Augen öffnen. Zehn quälende Minuten, nachdem sie angefangen haben, sich durch das Meer von Zombies zu kämpfen – immerhin dreiundzwanzig Häuserblocks weiter –, gerät der Escalade ins Schlingern.

Die Zentripetalkraft drückt Brian noch tiefer zu Boden. Er schafft es erst wieder, sich aufzurichten und einen Blick über den Vordersitz zu wagen, als der SUV seitwärts über unzählige Kadaver schlittert. Er hat keine Zeit, aufzuschreien, um die anderen zu warnen. Er kann sich und Penny lediglich so gut wie möglich festhalten und auf den unweigerlichen Aufprall warten.

Der Wagen, die Reifen schmierig vor Blut und Gewebe, dreht sich einmal um sich selbst. Das Heck befördert noch die letzten wandelnden Leichen in die Hölle. Draußen rast die Stadt an ihnen vorbei. Philip reißt am Lenkrad und versucht den Wagen unter Kontrolle zu bekommen, aber die Reifen schlingern auf einem Meer von Eingeweiden, Blut und glitschigen Organen.

Brian schreit erneut auf, ehe ihm die Luft im Hals stecken bleibt, als das Auto auf eine Schaufensterfront zuschlittert.

Im Augenblick vor dem Aufprall erkennt Brian eine Reihe geborstener Schaufenster – Schaufensterpuppen ohne Perücke, leere Schmuckvitrinen, durchtrennte elektrische Kabel, die aus dem Boden ragen, alles hinter scharfen Scherben, in denen noch der Sicherheitsdraht steckt. Doch alles ist wie hinter einem Schleier, denn der Wagen schlittert derart heftig, dass Brian nichts deutlich erkennen kann.

Dann kracht der Escalade mit der rechten Seite zuerst in ein Schaufenster.

Der Aufprall lässt die Fensterscheibe in tausend Stücke bersten. Für Brian bleibt die Zeit einen Moment lang stehen. Der Lärm des explodierenden Glases erinnert an eine Flutwelle, die auf einen Wellenbrecher trifft. Der Escalade durchtrennt die Gitterstäbe und verschwindet seitlich in dem dunklen Schatten von Goldberg Fine Jewelry Center of Atlanta.

Verkaufstische und Vitrinen detonieren, und eine funkelnde, silberne Schicht breitet sich im ganzen Laden aus, während alle nach rechts geschleudert werden. Die Airbags des Escalade öffnen sich bereits beim kleinsten Aufprall. Große Ballons aus Nylon füllen den Innenraum. Nick wird seitlich gegen den weißen Stoff gedrückt. Philip knallt gegen Nick, während Penny mit voller Wucht gegen Brian geschleudert wird.

Der Escalade schlittert eine halbe Ewigkeit lang durch den leeren Laden.

Erst als er mit voller Wucht gegen einen tragenden Pfeiler in der Mitte des Geschäfts prallt, kommt er zum Stehen. Die gesamte Mannschaft wird noch einmal mit voller Wucht in die Airbags gedrückt. Eine ganze Weile nach dem Aufschlag bewegt sich niemand.

Die Luft in dem Juwelierladen füllt sich mit einer weißen feinen Substanz, die auf sie herabschneit. Ein Knarzen unterbricht die laute Stille. Etwas scheint jeden Moment einzustürzen. Brian wirft einen Blick durch die kaputte Heckscheibe auf die Ladenfront und entdeckt heruntergefallene Stahlträger, die das Loch versperren, wo einmal das Fenster war. Die Straße ist vor lauter Staub kaum auszumachen.

Philip dreht sich um, das Gesicht aschfahl und vor Panik ganz verzerrt. »Schatz? Schatz? Geht es dir gut? Sprich mit mir, Kleines. Wie geht es dir?«

Brian wendet sich Penny zu, die noch immer auf dem Boden liegt. Sie wirkt benebelt, als ob sie unter Schock stehen würde, scheint aber sonst keinen Schaden genommen zu haben. »Es geht ihr gut, Philip. Es geht ihr gut«, versichert Brian seinem Bruder und tastet ihren Kopf nach Blut oder sonstigen Verletzungen ab. Doch er findet nichts Beunruhigendes.

»Wie sieht es mit euch aus?« Philip schaut sich im dichten Staub um. Nur ein dünner Sonnenstrahl erhellt den ansonsten düsteren Laden. In den spärlichen Lichtverhältnissen kann Brian die Gesichter der anderen gerade so ausmachen. Sie sind verschwitzt und vor Angst wie versteinert. Ihre Augen funkeln panisch.

Nick hebt den Daumen. »Alles klar.«

Brian erklärt, dass auch ihm nichts passiert sei.

Philip hat bereits die Fahrertür geöffnet und kämpft sich unter dem Airbag ins Freie hinaus. »Nehmt alles mit, was ihr tragen könnt«, befiehlt er. »Am wichtigsten sind Gewehre und Munition. Verstanden?«

Klar haben sie ihn verstanden. Jetzt klettern auch Brian und Nick aus dem Wagen. Innerhalb einer Minute bemerkt Brian eine Reihe von Dingen, von denen Philip die meisten anscheinend schon in Betracht gezogen hat. Es fängt mit der Ladenfront an.

Das Stöhnen, Ächzen und die Tausende von schlurfenden Schritten lassen Brian vermuten, dass die Zombie-Horde ihnen dicht auf den Fersen ist. Der Escalade hat einen Totalschaden, die Frontpartie ist zerquetscht, die Reifen sind geplatzt, und die gesamte Karosserie ist mit Blut, Gewebe und diversen Organen verschmiert.

Hinten im Laden ist ein Gang zu erkennen, dunkel, eng und mit Trockenbauplatten verkleidet. Vielleicht führt er zu einem Ausgang. Zeit zum Sondieren haben sie nicht. Rasch packen sie ihre Taschen, Jacken und Waffen. Noch immer benommen von dem Aufprall, vor Panik schwindlig, grün und blau von der Achterbahnfahrt im Escalade und mit einem hohen schrillen Ton in den Ohren schnappen sich Nick und Brian jeweils ein Gewehr, während Philip so viele Messer und Äxte mitnimmt, wie er an seinem Körper unterbringen kann. Dazu gehören selbstredend auch die beiden kleinen scharfen Äxte, die er sich beidseitig in den Gürtel steckt, die Ruger und drei Extramagazine.

»Los, Kleine. Wir müssen weiter«, fordert Brian Penny auf, aber das Kind macht einen lethargischen und verwirrten Eindruck. Er versucht, es aus dem demolierten Wagen zu zerren, doch es klammert sich an einen Rücksitz.

»Trag sie«, befiehlt Philip, der um die Ecke des SUV biegt.

»Los, Kindchen, du darfst auf meinen Rücken. Wir spielen Huckepack«, lockt Brian das Mädchen.

Widerwillig lässt Penny von dem Sitz ab und klettert aus dem Auto, sodass Brian sie hochnehmen und auf den Rücken hieven kann.

Die drei Männer schleichen durch den Schmuckladen zum Gang.

Sie haben Glück. Direkt hinter der Glastür des Büros im hinteren Teil des Geschäfts treffen sie auf eine gesichtslose Metalltür. Philip legt den Riegel um, öffnet sie wenige Zentimeter und wagt einen Blick durch den Spalt. Der Mief ist unerträglich – ein schmieriger Gestank, der Brian an einen Schulausflug zum Turner-Viehhof in der Nähe von Ashburn erinnert. Der Geruch im Schlachthof war damals genauso penetrant wie der, welcher ihm jetzt in die Nase steigt. Philip signalisiert den anderen innezuhalten.

Brian kann über Philips Schulter hinweg eine lange, dunkle Gasse ausmachen, die voll von überquellenden Müllcontainern ist. Was ihm am meisten ins Auge sticht, ist jedoch der Inhalt der Container: Bleiche menschliche Arme sowie abgerissene und eiternde Beine hängen über die Seiten, verfilzte Haare lugen hier und da hervor, und unter jedem Container schimmert eine Lache dicken, getrockneten Bluts.

Philip hat bereits einen Plan. »Ihr folgt mir und macht genau das, was ich euch sage.« Er entsichert seine Waffe. Jetzt sind acht Zweiundzwanziger-Kaliber-Kugeln bereit, durch die Luft zu tanzen. Dann tritt er hinaus.

Sie folgen ihm.

So leise und schnell wie möglich eilen sie durch den Gestank und die Überreste eines weiteren Gemetzels die Gasse entlang zu einer Seitenstraße. Mit der Tasche auf einer Schulter und dem Mädchen auf dem Rücken, hastet Brian zwischen Nick und Philip in Richtung Licht. Pennys dreißig Kilo haben sich noch nie so schwer angefühlt wie jetzt. Nick, der hinter ihm die Nachhut bildet, hält sein Marlin-Gewehr in den Armen. Brian hat sich seine Flinte zwischen Tasche und Rücken geklemmt; nicht, dass er überhaupt wüsste, wie er sie gebrauchen sollte.

Jetzt sind es nur noch wenige Meter bis zur Seitenstraße. Sie sind kurz davor, aus dieser schrecklichen Gasse zu entfliehen, als Philip aus Versehen auf eine menschliche Hand tritt, die unter einem der Müllcontainer liegt.

Die Hand, die an einem Zombie hängt, der noch nicht ganz am Ende ist, verschwindet augenblicklich unter dem Container. Philip zuckt vor Schreck zusammen.

»MANN!«, entfährt es Nick, als die Hand erneut erscheint und Philip am Fußgelenk packt und daran reißt.

Philip fällt der Länge nach zu Boden. Die Pistole entgleitet ihm und schlittert außer Reichweite.

Der tote Mann – ein aschfahler, bärtiger Obdachloser in blutbesudelten Lumpen – kriecht auf Philip mit der Geschwindigkeit einer riesigen Spinne zu.

Philip streckt sich nach der Pistole, während die anderen krampfhaft mit ihren Waffen herumfuchteln. Brian fasst nach seiner Flinte und versucht dabei, Penny nicht zu verlieren, während Nick sein Marlin-Gewehr entsichert.

Das tote Ding hält sich an Philips Fußgelenk fest und öffnet knarzend seinen Kiefer. Philip tastet panisch nach den Äxten an seinem Gürtel.

Der Zombie will gerade in Philips Wade beißen, als er am Hinterkopf von Nicks Gewehr zu Boden gedrückt wird.

Kurz darauf lässt eine Kugel das Gehirn des Zombies explodieren, sodass die Hälfte seines Gesichts in die Luft fliegt. Das dröhnende Echo des Schusses hallt in den Schluchten aus Glas und Stahl wider.

»Das ist schlecht«, meint Philip, rafft sich auf und zieht die Ruger heraus.

»Wieso?«, fragt Brian und rückt Penny zurecht.

»Du brauchst nur die Ohren aufzusperren«, entgegnet Philip trocken.

Sie lauschen. Tatsächlich ändert sich auf einmal das tosende Stöhnen und Ächzen. Die Laute scheinen die Windrichtung gewechselt zu haben: Jetzt wandern die Untoten unaufhaltsam auf den Knall des Gewehrschusses zu.

»Nichts wie zurück!«, schlägt Nick mit schriller Stimme vor. »Zurück zum Juwelier. Da gibt es doch garantiert ein Obergeschoss.«

»Zu spät«, erwidert Philip und kontrolliert seine Pistole. Er hat noch vier Runden Hohlspitzgeschosse im Magazin. Dazu kommen die drei Magazine mit je acht Kugeln in einer seiner Gesäßtaschen. »Ich wette, dass sie den Laden bereits von vorne gestürmt haben.«

»Was können wir tun?«

Philip starrt Nick an und wendet sich an seinen Bruder: »Wie schnell, glaubst du, kannst du mit Penny rennen?«

Sie laufen los – Philip voran, Brian hinter ihm her, Nick wieder als Nachhut. Sie laufen an eingestürzten Ladenfronten und verkohlten, steifen Leichen auf Scheiterhaufen vorbei, die wahrscheinlich von unternehmungslustigen Überlebenden angesteckt worden waren.

Brian ist sich nicht sicher, aber er glaubt, dass Philip verzweifelt nach einem Ausweg sucht – nach einer einigermaßen sauberen Tür, einer Feuerleiter, nach irgendetwas. Doch die immer häufiger auftauchenden Toten, die hinter jeder Straßenecke auf sie lauern, lenken ihn ab.

Philip erschießt den ersten aus einer Entfernung von fünfzig Metern. Die Kugel durchdringt den Kopf, sodass der Mann wie ein Kartoffelsack zu Boden fällt. Der zweite Zombie taucht überraschend und in viel größerer Nähe auf. Er stolpert aus einem dunklen Eingang. Philips erster Schuss verfehlt ihn, sodass er noch einmal abdrücken muss. Mehr und mehr Horrorgestalten tauchen wie aus dem Nichts hinter Veranden oder aus zerstörten Geschäften auf. Auch Nick nutzt sein Gewehr. Zwei Jahrzehnte Wildschweinjagd zeigen ihre Wirkung, und er befördert mindestens ein Dutzend Zombies innerhalb von zwei Häuserblocks ins Jenseits.

Die Schüsse hallen durch die Stadt wie Überschallflugzeuge in der Stratosphäre.

Sie laufen um eine Ecke und eilen eine schmale Seitenstraße hinunter, die mit Backsteinbauten im Fischgrätenmuster gesäumt ist – vielleicht eine Vorzeigestraße, die noch aus den Zeiten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg stammt, in der es hier einmal vor Kutschen und Pferden gewimmelt haben dürfte. Doch jetzt sind die Wohn- und Bürogebäude mit Holzplanken vernagelt. Immerhin scheinen sie sich von den Zombiemassen zu entfernen. Mit jedem Häuserblock, den sie zurücklegen, treffen sie auf weniger Monster.

Dennoch haben sie das Gefühl, in einer Falle zu stecken. Sie spüren, wie sie die Stadt umzingelt, sie auffrisst und durch ihren gläsernen, stählernen Schlund herunterschluckt. Die Sonne hat mittlerweile ihren Zenit überschritten, und die Schatten der Skyline werden immer länger.

In der Ferne, vielleicht einen oder zwei Häuserblocks weg, entdeckt Philip etwas, das ihn instinktiv Schutz hinter einem heruntergerissenen Vordach suchen lässt.

Die anderen kauern sich hinter ihn und drücken sich gegen das vernagelte Fenster einer ehemaligen Reinigung. Sie machen sich so klein wie möglich und nutzen die Gelegenheiten, kurz etwas Luft zu holen.

Brian keucht vor Anstrengung. Die kleine Penny klammert sich wie ein halb dösendes, traumatisiertes Äffchen an seinem Nacken fest. »Was ist los?«, will Brian wissen, als er bemerkt, wie Philip hinter dem Vordach hervorlugt, um genauer zu sehen, was in der Ferne vor sich geht.

»Ich spinne wohl«, erwidert Philip nach einer Weile.

»Wieso?«

»Das graue Gebäude da vorne rechts«, meint er und weist mit dem Kopf nach Norden. »Seht ihr das? Ungefähr zwei Häuserblocks entfernt. Könnt ihr den Eingang ausmachen?«

In der Ferne erhebt sich ein dreistöckiges Wohngebäude über einer Reihe verfallener zweistöckiger Häuser – ein Block aus kreideweißem Stein und mit ausladenden Balkonen aus den Nachkriegsjahren. Es ist das größte Gebäude weit und breit. Sein Dach ragt aus den Schatten der Stadt, wobei die fahle Sonne auf die Antennen und Schornsteine fällt und diese in ein seltsames Licht taucht.

»Ich sehe es«, stammelt Brian fassungslos. Er balanciert noch immer Penny auf seinem Rücken, die sich an seinen Schultern festhält.

»Das ist keine Fata Morgana, Philly«, sagt Nick mit einer Spur von Ehrfurcht in der Stimme.

Sie starren auf die menschliche Gestalt in der Ferne. Sie ist zu weit weg, um zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, ob es ein Erwachsener oder ein Kind ist. Aber da ist jemand – jemand, der ihnen zuwinkt.

Zehn

Vorsichtig nähert sich Philip auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die Ruger entsichert, aber nicht auf die winkende Gestalt gerichtet. Die anderen folgen ihm im Gänsemarsch, angespannt und mit weit aufgerissenen Augen. Sie sind auf alles vorbereitet.

Die Frau auf der anderen Straßenseite ruft ihnen mit gedämpfter Stimme zu: »Beeilt euch! Schnell!«

Sie scheint um die dreißig Jahre alt zu sein und hat lange blonde Haare, die sie in einem Pferdeschwanz straff nach hinten gekämmt hat. Sie trägt Jeans und einen übergroßen Strickpullover mit Zopfmuster, dessen ursprüngliche Farbe vor Schmutz kaum noch auszumachen ist. Selbst aus dieser Distanz kann Philip die roten Blutflecken und Spritzer darauf erkennen, während die Frau sie zu sich winkt. In einer Hand hält sie eine kleinkalibrige Pistole, vielleicht eine Polizeiwaffe Kaliber achtunddreißig. Sie schwingt sie durch die Luft, als ob sie ein Flugzeug an seinen Platz weisen würde.

Philip wischt sich den Mund ab und überlegt. Er weiß nicht, wie er die Frau einschätzen soll.

»Los!«, drängt sie die Gruppe. »Ehe sie uns riechen!« Sie will, dass die Leute ihr ins Gebäude folgen. Wahrscheinlich hat sie nicht vor, ihnen etwas anzutun. Aber so, wie sie mit der Pistole in der Luft herumfuchtelt, würde es Philip nicht wundern, wenn die Waffe überhaupt nicht geladen wäre. Da erklärt sie: »Und wehe, wenn ein Beißer euch hier hereinkommen sieht!«

Philip ist die Sache nicht ganz geheuer. Er hält inne, ehe er die Straße überquert. »Wie viele seid ihr?«, ruft er der Frau leise zu.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite seufzt die Frau genervt auf. »Heilige Scheiße! Wir bieten euch Essen und einen Zufluchtsort. Jetzt aber schnell!«

»Wie viele?«

»Verdammt! Willst du, dass wir euch helfen oder nicht?«

Philip umklammert den Griff seiner Pistole noch fester. »Erst will ich eine Antwort.«

Erneut seufzt sie auf. »Drei. Wir sind drei. Zufrieden? Jetzt ist wirklich eure letzte Chance. Ich gehe sonst allein wieder hinein, und dann wird es euch hier draußen schlecht ergehen.« Sie hat den typisch schleppenden Akzent von Georgia, doch es ist auch klar, dass sie längere Zeit in einer großen Stadt gelebt haben muss. Vielleicht sogar im Norden der Vereinigten Staaten.

Philip und Nick wechseln einen Blick. Das ferne Geräusch der Zombies wird vom Wind zu ihnen getragen und kündet den bevorstehenden Ansturm der Monster deutlich an. Nervös rückt Brian Penny auf seinem Rücken zurecht und wirft einen Blick über die Schulter die Straße hinunter. Dann fixiert er seinen Bruder. »Was bleibt uns anderes übrig?«

»Er hat recht, Philly«, flüstert Nick und schluckt seine Angst hinunter.

Erneut mustert Philip die Frau auf der anderen Straßenseite. »Wie viele Frauen, wie viele Männer?«

Ihre Antwort lautet: »Hast du einen Fragebogen zum Ausfüllen? Ich gehe jetzt rein. Viel Glück. Das werdet ihr brauchen.«

»Warte!«

Philip nickt den anderen zu, und sie überqueren gemeinsam die Straße.

»Habt ihr Zigaretten dabei?«, fragt die Frau, als sie in die Vorhalle des Gebäudes tritt, die Tür hinter ihnen zumacht und mithilfe eines behelfsmäßigen Riegels sichert. »Zehn Zigarettenstummel, mehr gibt es hier nicht.«

Sie hat offenbar schon einiges mitgemacht. Ihr Kinn ist vernarbt, an den Wangen sind Blutergüsse und Quetschungen zu sehen, und das eine Auge ist so blutunterlaufen, dass es eine leichte Blutung haben könnte. Aber hinter diesem heruntergekommenen Äußeren sieht Philip eine attraktive Frau mit kornblumenblauen Augen und einer Bräune, die man sonst nur von Farmermädchen kennt – eine Art schlichte, wartungsarme Schönheit. Mit der trotzigen Neigung ihrer Kopfes und den üppigen Kurven unter dem übergroßen Pullover macht sie allerdings eher den Eindruck eines Vollblutweibs – und mit Vollblutweibern legt man sich besser nicht an.

»Sorry, wir sind alle Nichtraucher«, erwidert Philip.

»Ihr seht so aus, als ob es euch da draußen ganz schön durchgeschüttelt hätte«, sagt die Frau und führt sie durch einen übel riechenden Hausflur voller Müll und mit achtzehn Briefkästen und Klingeln an einer Seite. Brian setzt Penny ab. Das Mädchen wankt einen Moment lang, fängt sich aber. Der Gestank von Zombies und Schimmel hängt in der Luft. Das Gebäude macht keinen sonderlich sicheren Eindruck.

Die junge Frau kniet sich vor Penny hin. »Du bist aber ein süßes Mädchen.«

Penny antwortet nicht, sondern starrt zu Boden.

Die Frau blickt zu Brian auf. »Gehört die zu dir?«

»Nein, zu mir«, antwortet Philip.

Die Frau streicht Penny eine schwarze, verfilzte Strähne aus dem Gesicht. »Ich heiße April, mein Kleines. Und wie heißt du?«

»Penny.«

Pennys Stimme klingt so zittrig und erschöpft, dass sie eher an das klägliche Miauen eines jungen Kätzchens erinnert. Die Frau lächelt und legt Penny sanft eine Hand auf die Schulter, ehe sie sich aufrichtet und die Männer anblickt. »Dann gehen wir besser mal hinein, ehe wir noch welche von diesen Monstern auf uns aufmerksam machen.« Sie geht zu einer Klingel mit einer Gegensprechanlage und drückt auf den Knopf. »Dad, lass uns bitte rein.«

Es ertönt ein Rauschen, dann eine Stimme. »Nicht so schnell, mein Mädchen.«

Philip packt April am Arm. »Ihr habt hier Strom

Sie schüttelt den Kopf. »Leider nein … Die Gegensprechanlage funktioniert mit Batterien.« Sie drückt erneut auf den Knopf. »Dad, nun mach schon.«

Wieder ein Rauschen, gefolgt von der Stimme: »Und wie sollen wir wissen, dass wir diesen Kerlen vertrauen können?«

Klick. »Lässt du uns jetzt hinein oder nicht?«

Rauschen. »Sag ihnen, dass sie ihre Gewehre und Waffen vorher abgeben müssen.«

Sie seufzt erneut und wendet sich an Philip, der den Kopf schüttelt und ihr einen Blick zuwirft, der so viel sagt wie: nie im Leben.

Klick. »Um Himmels willen, sie haben ein kleines Mädchen bei sich. Ich vertraue ihnen.«

Rauschen. »Und Hitler mochte Tiere … Wir haben keine Ahnung, mit wem wir es hier zu tun haben.«

Klick. »Dad. Jetzt öffne endlich die verdammte Tür!«

Rauschen. »Du hast selbst erlebt, was in Druid Hills passiert ist.«

April schlägt mit der Faust auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Das hier ist nicht Druid Hill! Und jetzt lass uns verdammt noch mal endlich rein, ehe wir hier Wurzeln schlagen!«

Es ertönt ein metallenes Surren, das von einem lauten Klicken abgelöst wird, als das automatische Schloss der inneren Sicherheitstür aufgeht. April führt sie durch den Eingang in einen verstaubten, sauer riechenden Flur, von dem aus drei Wohnungstüren abführen. Am Ende des Flurs ist eine Metalltür, auf der das Wort TREPPE steht. Allerdings ist sie mehr oder weniger komplett mit Brettern vernagelt.

April klopft an der letzten Tür rechts – Apartment 1C. Kurz darauf öffnet eine schwergewichtigere, ältere und gröbere Version von April die Tür. »Ach, ist das ein süßes Mädchen! Wie reizend!«, verkündet die Frau, nachdem sie Penny erspäht hat, die Brians Hand hält. »Rein mit euch … Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, endlich mal Leute zu treffen, die ihren Speichel im Mund halten können.«

Aprils Schwester, die sich als Tara vorstellt, ist mollig und etwas grobschlächtig. Sie riecht nach Tabak und billigem Shampoo und trägt ein verschossenes hawaiianisches Blumenkleid, um ihre Wülste zu verhüllen. Ihr Dekolleté quillt wie Brotteig aus dem Stoff, und auf dem Ansatz einer Brust hat sie ein Tattoo von Woody Woodpecker. Sie besitzt die gleichen auffallenden Augen wie ihre jüngere Schwester, hat diese aber stark mit Kajalstift und einem stahlblauen Lidschatten geschminkt. Ihre langen künstlichen Fingernägel machen den Eindruck, als ob sie auch Dosen öffnen könnten.

Philip betritt als Erster die Wohnung. In der Hand hält er noch immer die Ruger.

Die anderen folgen ihm.

Er bemerkt kaum das unordentliche Wohnzimmer mit den Kleidern, die über Stuhllehnen geworfen wurden, den ramponierten Taschen an einer Wand und den merkwürdig geformten Instrumentenkoffern, die an einer Schiebetür lehnen. Auch die kleine Kochnische mit den Kisten voller Dosen und Proviant und dem schmutzigen Geschirr in der Spüle zu seiner Linken nimmt er fast nicht wahr. Selbst den Geruch nach abgestandenem Zigarettenrauch, muffigen Klamotten und altem Schweiß registriert er nur schwach.

Das Einzige, worauf er sich in diesem Augenblick konzentrieren kann, ist der Lauf eines Zwölf-Kaliber-Gewehrs, der direkt auf ihn gerichtet ist.

»Keinen Schritt weiter«, sagt der alte Mann, der das Gewehr in Händen hält und auf dem Schaukelstuhl an der gegenüberliegenden Wand sitzt. Er ist ein schlaksiger alter Kauz mit der gleichen Farmerbräune wie seine Töchter und einem Gesicht, das wie aus Holz geschnitzt aussieht. Dazu kommen seine stahlgrauen Haare im kurzen Bürstenschnitt und klare blaue Augen. Der dünne Schlauch einer Sauerstoffanlage verläuft unter seiner Nase, und das dazugehörige Gerät steht direkt neben ihm wie ein nicht von seiner Seite weichendes Haustier. Er passt kaum in die engen Jeans und das Flanellhemd, seine weißen, haarigen Knöchel lugen zwischen Schuhen und Hosenbein hervor.

Instinktiv hebt Philip seine Achtunddreißiger und schaltet auf Kampfmodus. Er zielt auf den alten Mann und sagt: »Sir, da draußen gibt es schon genug Probleme. Wollen wir uns wirklich hier drinnen noch mehr schaffen?«

Niemand rührt sich.

April schiebt Philip beiseite und stellt sich zwischen die beiden Männer. »Jetzt habe ich genug, Dad. Runter mit der Flinte.«

Der alte Mann gibt seiner Tochter mit dem Lauf seines Gewehres zu verstehen, dass sie beiseitetreten soll. »Sei still, kleine Göre.«

April aber weicht keinen Millimeter zurück. Sie stemmt die Hände in die Hüften und blickt ihren Vater wütend an.

Auf einmal sagt Tara: »Könnt ihr nicht alle eine Stufe runterfahren? Bitte!«

»Wo kommt ihr überhaupt her?«, fragt der alte Mann, das Gewehr immer noch schussbereit auf Philip gerichtet.

»Aus Waynesboro, Georgia.«

»Noch nie gehört.«

»In Burke County.«

»Das ist ja beinahe schon South Carolina.«

»Yes, Sir.«

»Seid ihr auf Drogen? Speed? Crack? … Sonst irgendwas?«

»Nein, Sir. Wie zum Teufel kommen Sie auf solche Schnapsideen?«

»Deine Augen, Junge. Die sehen so auf, als ob Speed durch deine Adern pumpen würde.«

»Ich nehme keine Drogen.«

»Und wie seid ihr auf die Idee verfallen, hierher nach Atlanta zu kommen?«

»Wir haben erfahren, dass es in Atlanta ein Flüchtlingslager geben soll. Sieht aber nicht danach aus.«

»Da hast du recht«, meint der alte Mann.

April mischt sich ein. »Hört sich so an, als ob wir etwas gemeinsam hätten.«

Philip starrt weiterhin auf den alten Mann, spricht aber mit der Frau, als er sagt: »Und wieso?«

»Wir sind aus dem gleichen Grund in dieser gottverlassenen Wohnung gelandet«, erwidert sie. »Wir haben auch nach diesem Flüchtlingslager gesucht, von dem alle geredet haben.«

Philip starrt auf den Lauf des Gewehrs. »Tja, selbst die besten Pläne …«

»Genauso sieht es aus«, stimmt der alte Mann zu. Philip kann jetzt das leise Zischen des Sauerstoffs hören. »Ich nehme an, ihr habt nicht die leiseste Ahnung, was ihr uns gerade angetan habt?«

»Ich höre.«

»Ihr habt die Beißer aufgewühlt. Bei Sonnenuntergang wird es da draußen eine gottverdammte Tagung geben – direkt vor unserer Tür.«

Philip zieht die Nase hoch. »Das tut mir leid. Aber wir hatten keine Alternative.«

Der alte Mann stöhnt. »Da wirst du wohl recht haben.«

»Ihre Tochter hat uns von der Straße geholt … Wir haben keine bösen Absichten … Außer, dass wir nicht gebissen werden wollen.«

»Tja, das ist verständlich.«

Es folgt eine lange Pause. Alle warten. Die beiden Waffen senken sich langsam.

»Was ist das da?«, fragt Philip und weist mit dem Kopf auf die vielen Instrumentenkoffer, die überall herumliegen. Er hat die Pistole zwar noch immer auf den alten Mann gerichtet, aber das Adrenalin in seinen Venen ist abgeebbt. »Sind da Maschinengewehre drin?«

Der alte Mann kann ein freudloses Lachen nicht verkneifen. Er legt das Gewehr quer über den Schoß, sichert es, und die Anspannung verschwindet auf einmal aus seinem hageren Gesicht. Der Sauerstofftank pfeift weiter vor sich hin. »Mein Freund. Du blickst auf die Reste der einst weltberühmten Chalmers Family Band – Stars der Bühne, Leinwand und der Volksfeste im ganzen Süden der Vereinigten Staaten.« Er nimmt das Gewehr und lehnt es an die Wand neben sich. Er blickt Philip an. »Ich sollte mich wohl besser für die unfeine Begrüßung entschuldigen.« Er rappelt sich mühsam hoch, und es dauert ein Weilchen, bis er ganz aufgerichtet ist. Irgendwie erinnert er an einen verdorrten Abraham Lincoln. »Ich heiße David Chalmers. Mandoline und Gesang sowie Vater dieser beiden Lumpenkinder.«

Philip steckt seine Pistole in den Gürtel. »Philip Blake. Das ist mein Bruder Brian. Und das Mauerblümchen da drüben ist Nick Parsons. Vielen Dank, dass Sie uns vor den Horrorgestalten da draußen gerettet haben.«

Die beiden Männer schütteln einander die Hand, und die Anspannung im Zimmer verpufft.

Es stellt sich heraus, dass es ursprünglich noch ein viertes Mitglied der Chalmers Family Band gab – Mrs. Chalmers –, eine beleibte kleine Frau aus Chattanooga, die bei Bluegrass und älteren Stücken der Gruppe Sopran sang. Laut April war es Glück im Unglück, dass ihre Mutter vor fünf Jahren an einer Lungenentzündung erkrankte und starb. Wenn sie dieses Desaster miterlebt hätte, würde es ihr wohl das Herz gebrochen haben. Sie hätte das Ganze als Apokalypse gedeutet und wäre wohl direkt vom Pier des Clark’s Hill Lake in die Fluten gesprungen.

So kam es, dass die Chalmers Family Band zu einem Trio wurde. Sie führten weiterhin ihre Stücke auf und tourten hauptsächlich durch die drei anliegenden Staaten. Tara spielte Bass, April Gitarre und Daddy die Mandoline. Als alleinerziehender Vater hatte der sechzigjährige David keine Zeit, um auf dumme Gedanken zu kommen. Tara war eine Kifferin, und April hatte das Temperament und die Sturheit ihrer Mutter geerbt.

Als die Plage über das Land fegte, befanden sie sich gerade auf einem Bluegrass-Festival in Tennessee und fuhren in ihrem Camper zurück nach Hause, kamen aber nur bis zur Grenze nach Georgia, als auf einmal der Wagen streikte. Sie hatten Glück und fanden eine Bahnstation in der Nähe. Die Züge liefen noch zwischen Dalton und Atlanta. Das Dumme war nur, dass sie in der Southeastside ausstiegen, an der King-Memorial-Station, wo es mittlerweile von Untoten nur so wimmelte. Irgendwie schafften sie es, sich nach Norden durchzuschlagen, ohne dass man sie angriff. Nachts nahmen sie einen leer herumstehenden Wagen und suchten nach dem Flüchtlingslager.

»Und so sind wir hier gelandet, in unserem kleinen, nicht gerade exklusiven Paradies«, erklärt April Philip mit leiser Stimme spätnachts. Sie sitzt auf dem abgenutzten Sofa, während Penny unter einem Berg von Decken unruhig neben ihr döst. Philip hört April interessiert zu.

Auf dem Kaffeetisch brennen Kerzen. Nick und Brian haben es sich bereits auf dem Boden bequem gemacht und sind eingeschlafen, während das Schnarchen von David und Tara aus den angrenzenden Zimmern zu hören ist.

»Wir haben zu viel Angst, um oben im Haus nachzusehen, was es dort noch so gibt«, fährt April fort. Bedauern schwingt in ihrer Stimme mit. »Obwohl wir das alles gut gebrauchen könnten, ganz gleich, was wir finden – ob Batterien, Konserven, was auch immer. Verdammt, ich würde meine linke Brust für etwas Toilettenpapier hergeben.«

»Das wäre dann wohl ein verdammt schlechter Tausch – so ein Schmuckstück für etwas Papier«, kontert Philip mit einem Lächeln. Er sitzt barfuß in seinem schmutzigen T-Shirt und der Jeans am anderen Ende des Sofas, und er ist noch immer satt vom Abendessen – Reis mit Bohnen. Der Proviant der Chalmers wird langsam knapp, aber sie haben noch immer einen fünf Kilo schweren Sack Reis, den sie vor einer Woche aus einem Lebensmittelladen mitgenommen haben, und genügend Bohnen, damit niemand Hunger leiden muss. April hat gekocht. Das Essen war gar nicht schlecht. Danach drehte Tara ein paar Joints mit den letzten Krümeln ihres Red Man Tabaks und gab reichlich Gras dazu. Philip nahm den einen oder anderen Zug, obwohl er sich schon vor Jahren geschworen hatte, das Zeug nicht mehr anzurühren. Er vernahm dann Dinge in seinem Kopf, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Jetzt aber fühlt sich sein Kopf von dem Gras angenehm schwer an.

April lächelt ihn an. »Tja, nun … So nah und doch so fern.«

»Was?« Philip starrt sie an und hebt den Blick dann langsam Richtung Decke. »Ach ja … Richtig.« Er hat die Geräusche von oben auch gehört. Jetzt herrscht wieder Ruhe, aber das Schlurfen und die ächzenden Böden der über ihnen liegenden Wohnungen meldeten sich mit Unterbrechungen den ganzen Abend lang immer wieder. Sie waren da. Man konnte sie zwar nicht sehen, aber sie waren in unmittelbarer Nähe. Die Tatsache, dass Philip die Geräusche kaum noch beachtet, zeigt, dass ihn die Untoten und ihre Präsenz kaum noch berühren. »Wie sieht es mit den anderen Wohnungen in dieser Etage aus?«

»Die haben wir bereits leer gegessen und jedes noch so kleine, brauchbare Teil mitgenommen.«

»Was ist in Druid Hills passiert?«, erkundigt er sich nach einer kurzen Pause.

April seufzt. »Man hat uns gesagt, dass es dort ein Flüchtlingslager gibt. Gab es aber nicht.«

Philip sieht sie an. »Und?«

April zuckt mit den Schultern. »Wir sind dort angekommen und haben einen Haufen Leute getroffen, die sich bei einem Altmetallhändler verschanzt hatten. Leute wie wir. Sie hatten Angst und waren verwirrt. Wir haben versucht, mit ihnen zu reden, denn wir wollten, dass sie mit uns kommen. Zusammen sind wir stark und so.«

»Und dann?«

»Sie hatten wohl zu viel Angst, um mit uns zu kommen, wollten aber auch nicht bleiben.« April blickt zu Boden. Das Licht der flackernden Kerzen spielt in ihrem Gesicht. »Wir haben ein Auto gefunden, das noch funktionierte. Also sammelten wir etwas Proviant und machten uns auf. Doch dann hörten wir Motorräder, als wir losfuhren.«

»Motorräder?«

Sie nickt und reibt sich die Augen. »Wir waren gerade mal eine Viertelmeile gefahren und kamen um diesen Hügel. Da hörten wir Schreie in der Ferne. Als wir uns umdrehten und das Tal zurück zum Altmetallhändler blickten … Ich weiß auch nicht. Das war wie aus Mad Max II – Der Vollstrecker oder so ähnlich!«

»Wie denn?«

»Diese Motorradtypen haben alles verwüstet, ganze Familien wurden ausgerottet und wer weiß, was sie sonst noch angestellt haben. Das war kein schöner Anblick. Und das Komische daran ist: Es ist uns nicht nur nahegegangen, dass wir dem nur knapp entgingen. Ich glaube, das Schlimme war das Schuldgefühl. Wir wollten zurück und helfen und gute Mitmenschen sein und so. Aber wir sind nicht umgekehrt.« Sie blickt Philip in die Augen. »Weil wir keine guten Mitmenschen sind. Von den Leuten hat niemand überlebt.«

Philip betrachtet nachdenklich Penny. »Ich kann verstehen, warum dein Dad nicht entzückt von der Idee war, hier Untermieter zu haben.«

»Seitdem wir das mit dem Altmetallhändler durchmachten, ist er geradezu paranoid, sobald wir Überlebende treffen – vielleicht schlimmer als den Beißern gegenüber.«

»Beißer … So nennt ihr die immer. Wem ist das denn eingefallen?«

»Mein Dad hat das Wort das erste Mal benutzt. Und danach hat es sich so eingebürgert.«

»Finde ich gut.« Philip lächelt sie erneut an. »Und ich mag deinen Vater. Er kümmert sich, und ich kann es ihm nicht ankreiden, dass er skeptisch uns gegenüber war. Er scheint ein harter Brocken zu sein, und das respektiere ich. Wir brauchen mehr von der Sorte.«

April seufzt. »Er ist nicht mehr so hart, wie er es früher einmal war. Leider.«

»Was hat er? Lungenkrebs?«

»Eine Lungenaufblähung.«

»Hört sich nicht gut an«, meint Philip und bemerkt dann etwas, was ihn tief ins Herz trifft.

April Chalmers fährt mit der Hand über Pennys Schulter und streichelt sie beinahe abwesend, während das kleine Mädchen schläft. Es ist eine solch zarte und unerwartete Geste – so natürlich –, dass sie Philip tief im Innersten berührt und etwas weckt, das er schon fast vergessen hatte. Zuerst erkennt er das Gefühl kaum wieder. Seine Verwirrung muss sich in seiner Miene widergespiegelt haben, denn April sieht ihn fragend an.

»Alles klar?«

»Ja … Mir geht es gut.« Er fährt mit den Fingern über das Pflaster an seiner Schläfe, wo er sich während der Autofahrt den Kopf angeschlagen hat. Die Chalmers holten ihren Verbandskasten hervor, und die Neuankömmlinge wurden noch vor dem Abendessen medizinisch versorgt. »Wie wäre es?«, beginnt Philip. »Du legst dich jetzt hin, und morgen früh werden die Jungs und ich die oberen Stockwerke ausräumen.«

Sie mustert ihn einen Moment lang, und es hat den Anschein, als ob sie sich fragt, ob sie ihm trauen kann oder nicht.

Am Tag darauf, kurz nach dem Frühstück, beweist Philip April, dass er seine Versprechen hält. Er ruft Nick zu sich, schnappt sich die Magazine für die Ruger und eine Schachtel Munition für eines der Marlin-Gewehre. Die beiden scharfen kleinen Äxte steckt er in den Gürtel und reicht Nick vorsichtshalber einen Pickel für einen etwaigen Nahkampf.

Unter der Tür hält er noch einmal inne und kniet sich hin, um die Schuhe noch einmal zuzuschnüren. Seine Stiefel sind so schmutzig von Blut, Gewebe und Schlamm, dass man meinen könnte, die schrecklichen Muster wären aus schwarzer und lilafarbener Seide aufgestickt.

»Passt auf«, mahnt der alte David Chalmers aus der Kochecke. Er sieht grau aus. Im frühen Morgenlicht macht er einen ausgelaugten Eindruck, während er sich auf den Metallrahmen lehnt, an dem sein Sauerstofftank befestigt ist. Aus dem Schlauch unter seiner Nase entweicht bei jedem Atemzug ein leiser Pfeifton. »Ihr habt keine Ahnung, was euch dort erwartet.«

»Keine Angst«, versichert Philip, steckt sein Jeanshemd in die Hose und holt noch einmal die Äxte hervor, um sich zu vergewissern, dass sie locker aus dem Gürtel gleiten. Nick steht neben ihm, das Gewehr über die Schulter geworfen. Sein Gesichtsausdruck ist ausdruckslos – eine Mischung aus grimmiger Entschlossenheit und Erwartung.

»Die meisten von ihnen werden im ersten Stock auf euch warten«, fügt der alte Mann hinzu.

»Denen werden wir zeigen, wo es langgeht.«

»Haltet euch einfach den Rücken frei.«

»Werden wir«, erwidert Philip, richtet sich auf und rückt die Äxte zurecht.

»Ich komme mit.«

Philip dreht sich um und sieht sich Brian mit einem sauberen T-Shirt gegenüber. Es hat ein M.-Logo auf der Brust, der Stolz von Athens. Seine Miene ist finster und ebenfalls entschlossen. In den Armen hält er das andere Gewehr, als ob es ein lebendiges Tier wäre.

»Bist du dir sicher?«

»Klar.«

»Und was ist mit Penny?«

»Die Frauen passen auf sie auf.«

»Ich weiß nicht.«

»Komm schon«, drängt Brian. »Ihr braucht noch ein paar Augen da oben. Ich mache mit.«

Philip überlegt. Er lässt seinen Blick durch das Wohnzimmer wandern und sieht seine Tochter, die im Schneidersitz auf dem Boden zwischen den beiden Chalmers-Töchtern sitzt. Sie sind beim Kartenspielen, die Karten sind alt und speckig, aber es ist das erste Mal seit langem, dass Philip Penny lächeln sieht. Außerdem ist sie richtig aktiv am Mitspielen. Philip wendet sich seinem Bruder zu, lächelt ihn an und meint: »Also gut, einverstanden!«

Sie nehmen die Treppe am Ende des Flurs, denn die Lifte am anderen Ende des Gangs sind so tot wie die Zombies. Doch zuerst müssen sie die Bretter abreißen, mit denen die Treppe vernagelt ist. Die Schläge und das Quietschen der Nägel scheinen die Zombies oben in den dunklen Zimmern aufzuwecken. Vor Anstrengung muss Philip einmal kurz furzen – eine Erinnerung an Aprils Bohnengericht am Abend zuvor.

»Der reicht, um mehr Zombies auszulöschen als jedes Gewehr«, bemerkt Nick.

»Sehr witzig«, meint Philip und reißt das letzte Brett von der Wand.

Die Treppe liegt düster vor ihnen. Philip meldet sich zu Wort: »Also, noch einmal. Ihr müsst schnell sein. Die Kerle sind zwar glitschig, aber langsamer als ein Stück Mist – und dümmer als unser guter Nick hier.«

»Ha, ha«, erwidert Nick und lädt seine Waffe mit zwei Kugeln Kaliber zwanzig.

Oben angekommen, stehen sie vor einer Feuertür, die zum Flur im ersten Stock führt. Sie ist geschlossen. Brian fängt zu zittern an.

»Immer ruhig, Junge«, sagt Philip zu ihm, als er sieht, wie der Lauf des Gewehres durch die Luft schwingt. Er drückt den Lauf beiseite und fügt hinzu: »Pass auf, dass du nicht aus Versehen Nick oder mich mit einer Kugel beglückst.«

»Klar, wird gemacht«, antwortet Brian mit angestrengter Stimme, die seine Angst verrät.

»Also dann, los«, ruft Philip. »Und immer entschlossen und schnell auf sie zugehen.«

Ein harter Tritt mit der Sohle seines Stiefels stößt die Tür auf.

Elf

Für einen kurzen Augenblick stehen sie nur da, und ihre Herzen schlagen in einem Stakkato wie ein Hammerwerk. Außer einigen herumfliegenden Schokoriegelverpackungen, leeren Cola- und Limoflaschen und einem Haufen Staub ist der Flur leer. Er ist genauso geschnitten wie der darunterliegende. Trübes Tageslicht dringt durch die in der gegenüberliegenden Wand eingelassenen Fenster und erhellt Staubmäuse, die an den geschlossenen Wohnungstüren entlanggeblasen werden. 2A, 2C und 2E liegen auf der einen, 2B, 2D und 2F auf der anderen Seite.

Nick flüstert: »Die haben sich alle in ihren Löchern verkrochen.«

Philip nickt. »Scheint so schwierig, wie Fische aus einem Fass zu angeln.«

»Los, fangen wir an«, drängt Brian nicht besonders überzeugend. »Ich möchte es hinter mich bringen.«

Philip wirft seinem Bruder einen Blick zu, ehe er sich zu Nick wendet: »Anscheinend ist Rambo unter uns.«

Sie schleichen zur ersten Tür auf der rechten Seite – 2F – und heben die Waffen. Philip entsichert seine Achtundreißiger.

Dann tritt er die Tür ein.

Eine Stinkwolke schlägt ihnen entgegen. Das ist das Erste, was sie bemerken: ein fürchterlicher Gestank menschlicher Verwesung, Urin und Kot – Zombiegestank – kämpfen um die Vorherrschaft mit anderen üblen Gerüchen wie ranzigem Essen und verschimmelten Badezimmerfliesen und Kleidung. Der Gestank ist so überwältigend und unausstehlich, dass jeder der Männer einen halben Schritt zurückweicht.

»Da bricht ja sogar das Jesuskind in Tränen aus«, würgt Nick hervor und wendet das Gesicht ab.

»Und? Stinkt mein Furz immer noch so schlimm?«, fragt Philip und bewegt sich vorsichtig auf die stinkenden Schatten in der Wohnung zu. Er hebt seine Pistole.

Nick und Brian folgen ihm, die Gewehre gezückt und mit weit aufgerissenen Augen, die angespannt glänzen.

Einen Augenblick später entdecken sie vier Exemplare, die sich gerade auf dem Boden des verwüsteten Wohnzimmers auszuruhen scheinen. Jedes von ihnen hockt in einer Ecke, lethargisch, fast wie gelähmt. Beim Anblick der Neuankömmlinge knurren sie träge, sind aber zu dämlich oder zu krank, um sich zu bewegen – als ob sie sich an den Gedanken gewöhnt hätten, für immer in diesem höllischen Zustand zu verweilen. Sie scheinen sogar vergessen zu haben, wozu man Möbel hat. Im trüben Licht ist es schwer zu sagen, aber es sieht ganz so aus, als ob es sich um eine Familie handeln würde: Mutter, Vater und zwei beinahe erwachsene Kinder. An den Wänden gibt es Kratzspuren, die an ein abstraktes Gemälde denken lassen – ein Beweis, dass die Wesen doch irgendeinem Instinkt gefolgt sein müssen und versuchten, sich hier herauszukratzen.

Philip geht zu der ersten Gestalt, deren Augen schimmern, als sie den Lauf der Waffe erblicken. Der Knall kreiert im Handumdrehen einen großen Jackson Pollock auf der dahinterliegenden Wand. Der Zombie sackt zu Boden. In der Zwischenzeit hat sich Nick einen anderen vorgenommen, um auch ihn aus seinem Elend zu befreien. Der Widerhall des Jagdgewehrs klingt wie eine aufgeblasene Papiertüte, die man zerschlägt. Das Gehirn verteilt sich über der Wand. Philip kümmert sich bereits um den dritten Zombie, der sich langsam aufrafft, während sich Nick auf den vierten zubewegt und … KNALL! Das Geräusch der auf die Wände spritzenden Flüssigkeit geht durch das Dröhnen in ihren Ohren unter.

Brian steht zehn Schritte hinter ihnen, die Waffe erhoben. Doch sein Kampfgeist wird von einer Welle aus Ekel und Übelkeit verdrängt. »Das hier … Das ist nicht …«, beginnt er, aber eine Bewegung zu seiner Linken lässt ihn nicht zu Ende reden.

Der umherstreunende Zombie stolpert aus den Tiefen des Gangs auf Brian zu und wirft sich wie ein schrecklicher Clown mit schwarzer Perücke und Augen aus Zuckerguss auf ihn. Ehe Brian die Chance hat, sich den Untoten genauer anzuschauen und festzustellen, ob es sich um eine weitere Tochter oder eine Freundin handelt, die sich da in einem zerfetzten Bademantel und mit einer entblößten Brust wie ein angebissenes Schnitzel auf ihn werfen will, wirft sich das Ding mit der Wucht eines American-Football-Spielers auf ihn.

Brian geht zu Boden. Alles passiert so schnell, dass weder Nick noch Philip die Chance haben einzugreifen. Sie sind einfach zu weit weg.

Der wandelnde Kadaver landet auf Brian, fletscht seine schwarzen, schmierigen Zähne und öffnet in dem winzigen Augenblick, ehe Brian merkt, dass er noch immer das Gewehr in Händen hält, seinen Mund.

Brian wirft einen Blick in den fürchterlichen Schlund der Kreatur – ein nicht enden wollender schwarzer Schlauch, der direkt in die Hölle zu führen scheint –, ehe er instinktiv die Waffe hebt. Zufälligerweise endet der Lauf genau zwischen den Zähnen des Monsters. Brian stößt einen lauten Entsetzensschrei aus, als er abdrückt.

Der hintere Teil des Schädels explodiert und schickt eine Wolke aus Blut und feuchtem Gewebe in die Luft. Brian liegt noch immer wie vom Blitz getroffen auf dem Boden. Die Überreste des Kopfes wurden vom Lauf der Flinte aufgespießt. Brian blinzelt. Die silbrigen Augen der Tochter oder Freundin oder wer auch immer das gewesen sein mochte, fixieren Brian.

Er hustet und wendet sich ab, als der Kopf des Mädchens wie ein Stück Fleisch auf einem Spieß den Lauf herunterrutscht. Die toten Augen starren ihn unentwegt an. Er spürt den kalten, feuchten Schleim ihrer Fratze an seinen Händen und schaut weg. Er kann sich nicht bewegen. Sein rechter Zeigefinger ist noch immer um den Abzug gelegt, während die linke Hand am Schaft klebt. Unwillkürlich schneidet er eine Grimasse.

Gelächter befördert ihn wieder in die Gegenwart. »Sieh mal an, wer da gerade seine Unschuld verloren hat«, spottet Philip Blake, der in einer Wolke aus Korditpulver über seinem Bruder steht und ihn freudlos angrinst.

Nick findet eine Luke zum Dach, und Philip kommt auf die Idee, sämtliche Leichen dort zu verstauen, damit sie mit ihrem Gestank nicht noch alles schlimmer machen, als es sowieso schon ist.

Es dauert eine gute Stunde, bevor sie sämtliche Überreste der Toten den Treppenaufgang zum zweiten Stock und die engen Stufen bis zur Feuertür hinaufgeschleppt haben. Sie müssen das Schloss aufschießen und arbeiten dann als Kette, indem einer die stinkenden Leichen erst den Flur entlang und ein anderer die zwei Treppen zum Dach hochzerrt. Eine lange Spur aus Gedärmen und Blut bleibt auf dem rosa-grünen Teppich zurück.

Sie erwischen jede der Kreaturen – insgesamt sind es vierzehn – und verbrauchen dabei zwei Magazine Zweiundzwanziger-Kugeln und eine halbe Schachtel Munition für die Gewehre. Alle Leichen werden auf dem Dachboden deponiert.

»Schau dir das an«, bestaunt Nick ihr Werk, als er den letzten Körper auf den Boden an der östlichen Seite des Flachdachs legt, der mit Teerpappe abgedichtet ist. Der Wind fährt ihm in die Haare und lässt seine Jeans flattern. Die Überreste sind wie gespaltenes Holz für den Kachelofen aufgereiht. Brian steht am anderen Ende und mustert einen Toten nach dem anderen mit einer merkwürdig unerbittlichen Miene.

»Cool«, sagt Philip und geht zum Rand des Flachdachs.

Das Gebäude ist so hoch, dass er die entfernten Bauten des exklusiven Stadtteils Buckhead, Peachtree Plaza und eine Reihe von gläsernen Wolkenkratzern im Westen sehen kann. Die Türme der Stadt ragen weit in den Himmel hinauf, seltsam teilnahmslos und stoisch dem Sonnenlicht trotzend, unberührt von der Apokalypse. Unten auf den Straßen erkennt Philip die umherwandernden Zombies, die wie kaputte Spielzeugsoldaten dahinstolpern.

»Kein schlechter Blick. Überhaupt ganz nett hier«, sagt er, dreht sich um und inspiziert das übrige Dach. Es ist ein mit Kies gefülltes Areal, auf dem sich die Antennen, Satellitenschüsseln, Schornsteine und Luftschächte für die Klimaanlagen befinden und das groß genug ist, um eine Runde Touch-Football spielen zu können. Vergessene Gartenmöbel lehnen an einem Entlüftungsschacht. »Schnappen wir uns einen Stuhl und machen eine Pause.«

Jeder nimmt einen Liegestuhl, dann machen sie es sich am Rand des Daches bequem.

»Ich könnte mich glatt daran gewöhnen«, sagt Nick und blickt auf die Skyline.

Philip sitzt neben ihm. »Meinst du das Dach oder überhaupt an hier?«

»An alles.«

»Verstehe.«

»Wie schafft ihr das nur?«, fragt Brian, der hinter ihnen steht und noch immer dagegen ankämpft, nicht die Nerven zu verlieren. Er will sich nicht setzen, sich nicht entspannen. Seine Begegnung mit dem aufgespießten Kopf lässt ihn nicht zur Ruhe kommen.

»Was?«, will Philip wissen.

»Ich weiß nicht, das ganze Töten und so. Und im nächsten Augenblick tut ihr so, als ob …«

Brian hält mitten im Satz inne, unfähig, seine Gefühle in Worte zu fassen. Philip dreht sich um und starrt seinen Bruder an. »Setz dich, Bri. Du hast dich da unten tapfer geschlagen.«

Brian zieht einen Stuhl heran, setzt sich und spielt mit seinen Händen. Offensichtlich ist er mit sich selbst am Kämpfen. »Ich meine ja nur …«

Aber er schafft es nicht, sich weiter zu artikulieren, und bricht erneut ab.

»Das hat nichts mit Töten zu tun, Junge«, beginnt Philip. »Sobald du das verstanden hast, wird es dir garantiert besser gehen.«

»Was ist es sonst?«

Philip zuckt mit den Schultern. »Nick, wie würdest du es nennen?«

Nickt starrt immer noch auf die imposante Skyline. »Gottes Arbeit?«

Laut auflachend sagt Philip: »Ich habe eine Idee.«

Er steht auf und geht zu einem Leichnam; es handelt sich um einen kleineren Zombie.

»Sieh dir das an«, sagt er und zerrt die Überreste an den Rand des Daches.

Nick und Brian stehen auf und stellen sich neben ihn. Der stinkende Wind weht ihnen entgegen, als sie zehn Meter hinunter in die Tiefe blicken.

Philip stößt mit einem Fuß gegen die Leiche – oder ist es ein Kadaver? Keiner weiß es so genau –, bis er hinunterfällt.

Der Tote scheint in Zeitlupe zu stürzen. Seine schlaffen Gliedmaßen flattern wie gebrochene Flügel, ehe er auf dem Bürgersteig direkt vor ihrem Gebäude aufkommt. Der Aufprall zerfetzt den Körper wie eine überreife Wassermelone, und er explodiert in einem pinkfarbenen Regen aus Gedärmen, Gewebe und Blut.

Im Schlafzimmer im Parterre sitzt David Chalmers in seinem Unterhemd und Boxershorts und saugt an einem Inhalator, um genügend Ipratropiumbromid in seine Lunge zu befördern, damit er nicht mehr so keuchen muss. Plötzlich vernimmt er Geräusche, die hinter den verbarrikadierten Glastüren herzukommen scheinen.

Sofort richten sich seine Nackenhaare auf. Er greift rasch nach seinen Klamotten und dem Atemschlauch, den er aber nur halb befestigen kann, sodass er ihm über den Mund herabhängt.

Er stürmt so schnell aus dem Zimmer, wie ihn seine abgenutzten Knie tragen, und erspäht im Augenwinkel seine zwei Töchter und Penny, wie sie angsterfüllt auf der Schwelle zur Küche stehen. April und Tara wollten mit dem kleinen Mädchen Kekse backen – sie hatten die letzten Reste Mehl und Zucker zusammengesucht –, aber jetzt stehen die drei da und starren in Richtung der Geräuschquelle.

David humpelt zu den Schiebetüren hinüber, die mit Gitterstäben, Sicherheitsglas und Brettern vor Eindringlingen geschützt sind.

Er findet einen schmalen Spalt in den Sperrholzbrettern und kann durch die Äste skelettartiger Bäume gerade noch die andere Seite des Innenhofs und ein Stück der dahinterliegenden Straße ausmachen, die parallel zur Gebäudefront verläuft.

Eine Leiche regnet vom Himmel herab, als ob sie von Gott höchstpersönlich heruntergeworfen worden wäre. Als sie aufkommt, macht sie ein feuchtes, schmatzendes Geräusch, das wie ein zerberstender Wasserballon klingt. Aber das ist nicht der Grund, warum David Chalmers so außer sich ist. Das sind nicht die Geräusche, die in der kleinen Wohnung hin und her hallen und in Wellen wie eine ferne Symphonie erklingen.

»Ach du lieber Gott«, murmelt er keuchend und dreht sich so schnell um, dass er beinahe über das Metallgestell fällt, das er immer mit sich trägt.

Dann zieht er es so rasch wie möglich hinter sich her zur Tür.

Auf dem Dach machen Philip und Nick eine kleine Pause, nachdem der fünfte Zombie über die Kante gegangen ist.

Vor Anstrengung nach Luft schnappend und mit einem morbiden Sinn von Humor meint Philip: »Die platzen so richtig gut, findest du nicht?«

Nick versucht erfolglos, nicht zu lachen. »Mann, das ist zwar krank, aber irgendwie fühlt es sich gut an.«

»Wo du recht hast, hast du recht.«

»Und was soll das?«, mischt sich Brian ein, der hinter den beiden steht.

»Was soll das, was soll das! Genau das ist es ja – es soll rein gar nichts.«

»Ist das irgendwie Zen?«

»Es ist, was es ist.«

»Ich kapiere überhaupt nichts mehr. Ich meine, ich verstehe nicht, was ihr damit erreichen wollt, indem ihr diese Toten vom Dach feuert.«

Philip dreht sich zu seinem Bruder um und wirft ihm einen prüfenden Blick zu. »Mach dich locker, Junge. Du hast heute deine erste Trophäe geschossen. Es war zwar nicht schön, aber es hat geklappt. Wir lassen nur ein bisschen Dampf ab.«

Nick sieht etwas in der Ferne, das ihm bisher noch nicht aufgefallen ist. »He, schau dir das mal an …«

»Ich meine ja nur«, unterbricht ihn Brian. »Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren.« Er hat die Hände in den Hosentaschen und spielt nervös mit seinem Taschenmesser und ein paar Münzen. »April und ihre Familie sind nett, Philip. Wir sollten uns dementsprechend benehmen.«

»Ja, Mom«, antwortet Philip mit einem kalten Lächeln.

»He, ihr beiden. Seht mal – das Gebäude da unten an der Ecke.«

Nick zeigt auf ein großes, hässliches Backsteinhaus an der nordöstlichen Ecke der nächsten Kreuzung. Die Ecken sind schwarz von den Abgasen der Stadt, aber man kann noch die verblassten Buchstaben über den Schaufenstern ausmachen: DILLARD’S HOME FURNISHINGS.

Philip sieht Nick fragend an. »Und?«

»Die vordere Ecke – da ist so ein Fußgängerding.«

»Ein was?«

»So ein Laufgang, siehst du ihn nicht? Eine überdachte Brücke!«

Jetzt hat auch Philip sie entdeckt. Eine verschmutzte, glasverkleidete Brücke, die das schräg gegenüberliegende Bürogebäude mit Dillard’s erstem Stock verbindet. Die überdachte Brücke hat an beiden Enden Türen und ist menschenleer. »Was hast du vor?«

»Weiß auch nicht.« Nick starrt auf die Fußgängerbrücke und überlegt. »Vielleicht …«

»Gentlemen!«, ertönt die rauchige Stimme des alten Mannes auf einmal hinter ihnen.

Brian dreht sich um und sieht David Chalmers, der sich aus der Dachluke zwängt und hinkend auf sie zukommt. Seine Augen funkeln, und er zieht seinen Sauerstofftank hektisch hinter sich her. Brian geht auf ihn zu. »Mr. Chalmers. Haben Sie sich allein den ganzen Weg hierherbemüht?«

Der alte Mann schnauft schwer, als er näher kommt. Sein keuchendes, rasselndes Atmen macht ihn fast unverständlich. »Ich bin vielleicht krank, aber nicht hilflos … Und du kannst mich ruhig David nennen. Ich habe gesehen, wie ihr die Stockwerke aufgeräumt habt. Alles schön sauber. Dafür danke ich euch – wirklich.«

Philip und Nick drehen sich zu David Chalmers um. »Gibt es ein Problem?«, fragt Philip.

»Und was für eines!«, bejaht der alte Mann, und seine Augen funkeln vor Wut. »Was zum Teufel denkt ihr euch dabei, einfach die Toten hinunterzuschmeißen? Damit schneidet ihr euch doch nur euren Fluchtweg ab!«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Der alte Mann grunzt frustriert. »Seid ihr taub oder was? Könnt ihr das nicht hören?«

»Was hören?«

David schlurft bis zum Dachrand. »Überzeugt euch selbst.« Mit einem knochigen Finger deutet er auf zwei ferne Gebäude. »Seht ihr jetzt, was ihr angestellt habt?«

Philip starrt Richtung Norden. Plötzlich trifft es ihn wie ein Schlag. Er hat schon eine ganze Viertelstunde lang dieses infernalische Geräusch von tausendundeinem Stöhnen gehört. Jetzt weiß er, warum. Legionen von Zombies ziehen auf sie zu, angezogen von dem Lärm und dem Spektakel, das er und Nick seit geraumer Zeit veranstaltet haben.

Noch sind sie zehn, vielleicht zwanzig Häuserblocks entfernt. Aber sie kommen mit der Sicherheit eines Blutgerinnsels, das durch die Arterien gespült wird. Für einen Moment kann Philip die Augen nicht von dem grausamen Schauspiel abwenden.

Sie wanken aus allen Richtungen auf sie zu. Sie sickern aus den Schatten, erscheinen aus Gassen, verstopfen die Hauptverkehrswege, treffen und vermehren sich an jeder Kreuzung wie eine gewaltige Amöbe, die an Größe und Kraft ständig zunimmt, unaufhaltsam durch die Präsenz von Menschen in ihrer Mitte angelockt. Philip schafft es endlich, die Augen abzuwenden und klopft dem alten Mann auf die Schulter. »Unser Fehler, David … Unser Fehler.«

Abends essen sie zusammen und geben sich Mühe, alles ganz normal wirken zu lassen. Aber das nicht enden wollende Kratzen, das von draußen ertönt, tötet jedes aufkommende Gespräch sofort wieder ab. Die Geräusche sind ein andauernder Beweis ihrer Exilexistenz, der tödlichen Gefahr, die auf der anderen Seite der Wand auf sie lauert, ihrer Isolation. Sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten und versuchen, das Beste aus dem Abend zu machen. Doch die fürchterlichen Geräusche lassen niemanden wirklich entspannen.

Angesichts der Tatsache, dass es siebzehn weitere Wohnungen im Haus gibt, hatten sie sich eine große Beute aus den oberen Stockwerken erhofft. Aber sie fanden lediglich Essen wie Müsli und Spaghetti, vielleicht ein halbes Dutzend Konservensuppen, einen Haufen alter Kräcker und die eine oder andere Flasche billigen Wein.

Seit Wochen steht das Gebäude leer, ist ohne Strom und von Untoten heimgesucht. Das Essen ist dementsprechend schon lange schlecht geworden. In den meisten Kühlschränken fanden sie Maden, und selbst Bettwäsche und Kleider waren von Schimmel befallen und stanken nach Zombies. Vielleicht hatten die Leute auch das Nötigste mitgenommen, als sie flohen. Vielleicht rafften sie Wasserflaschen, Batterien, Taschenlampen, Streichhölzer und Waffen zusammen, um gewappnet zu sein – für oder gegen was auch immer.

Doch die Medizinschränke sind nicht geplündert. Tara hat im Handumdrehen eine Ansammlung aus Pillen und Tabletten zusammengesucht – von Antidepressiva bis zu Aufputschmitteln, Blutdruckmitteln, Diätpillen, Beta-Blockern, Beruhigungstabletten und Cholesterin-Blockern. Außerdem stößt sie auf ein paar Flaschen Bronchodilatator, die genau das Richtige für ihren Vater sind. Philip amüsiert es, wie Tara eine fadenscheinigen Ausrede nach der anderen entwickelt und sich um das Wohlbefinden der anderen besorgt gibt, obwohl er sich absolut sicher ist, dass Tara nur eines im Sinn hat: Sie sucht alles, was sie irgendwie high machen könnte. Aber kann man ihr das ankreiden? In der Situation, in der sie sich befinden, ist pharmazeutische Hilfe genauso gut oder schlecht wie alles andere.

Philip hat die Chalmers-Familie schon am zweiten Abend ins Herz geschlossen – trotz des konstanten Dröhnens, das von draußen unentwegt an ihre Ohren dringt. Er mag sie einfach. Er mag ihren Stil, der unkompliziert und bodenständig wie er ist. Er mag ihren Mut, und außerdem gefällt es ihm, andere Überlebende um sich zu haben. Auch Nick scheint neue Kraft getankt zu haben, und Penny spricht sogar. Das erste Mal seit Wochen sind ihre Augen wieder klar. Die Gegenwart von zwei Frauen tut seiner Tochter gut – soweit Philip das beurteilen kann.

Selbst Brian, dessen Erkältung so gut wie überstanden ist, scheint stärker und selbstbewusster zu sein. Philip glaubt zwar, dass er noch einen weiten Weg vor sich hat, aber die Möglichkeit einer Art Gemeinschaft, ganz gleich wie klein und provisorisch diese auch sein mag, stärkt ihm offensichtlich ebenfalls den Rücken.

Am nächsten Tag entwickeln sie rasch einen Plan. Philip und Nick beobachten die Zombies vom Dach des Gebäudes aus, während Brian die Schwachstellen im Parterre im Auge behält – die Fenster, die Notausgänge, den Innenhof und den Eingangsbereich. Penny spielt mit den Chalmers-Töchtern, und David sitzt allein auf seinem Schaukelstuhl. Er kämpft so gut er kann gegen seine Lungenerkrankung. Zwischen zwei Nickerchen nimmt er seinen Sauerstofftank und stattet den Neuankömmlingen so oft wie möglich einen Besuch ab.

Am Nachmittag macht sich Nick an einem behelfsmäßigen Laufsteg zu schaffen, der sie vom Dach ihres Gebäudes zum nächsten bringen soll. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, dass sie sich auf diese Art bis zu der Fußgängerbrücke an der Kreuzung vorarbeiten können, ohne auch nur einen Fuß auf den Boden zu setzen. Philip hält das Ganze für eine Schnapsidee, hat aber nichts dagegen, dass Nick seine Zeit verschwendet.

Dieser ist fest davon überzeugt, dass sein Plan ihren einzigen Ausweg, den Schlüssel zum Überleben darstellt – vor allem, da ihr Proviant nicht ewig reichen wird, wie jeder von ihnen genau weiß. Das spiegelt sich in jedem Gesicht wider, das einmal kurz in die Küche schaut. Außerdem gibt es kein fließendes Wasser mehr. Doch die Tatsache, dass sie ihre Ausscheidungen im Eimer vom Badezimmer zum Hinterzimmer tragen müssen, um sie dann in den Hinterhof zu werfen, stört sie allerdings noch am wenigsten. Viel schlimmer ist, dass ihnen langsam das Wasser ausgeht.

Nach dem Abendessen, kurz nach zwanzig Uhr, verstummt das Gespräch angesichts der unheimlichen Kratzgeräusche, die von draußen zu ihnen dringen. Plötzlich hat Philip eine Idee. »Warum spielt ihr nicht etwas für uns?«, schlägt er vor. »Dann müssen wir uns wenigstens diesen Lärm von draußen nicht mehr anhören.«

»He«, stimmt Brian mit ein. »Das ist eine Superidee!«

»Uns fehlt ein bisschen die Übung«, erklärt der alte Mann in seinem Schaukelstuhl. Er macht einen müden, abgespannten Eindruck. Seine Krankheit macht ihm sichtbar zu schaffen. »Ehrlich gesagt haben wir kein Instrument mehr in Händen gehabt, seitdem das alles hier angefangen hat.«

»Feigling«, spottet Tara, die es sich auf der Couch bequem gemacht hat und gerade etwas aus den letzten Tabakbröseln, Samen und Stängeln bastelt.

»Los, Daddy«, fordert April David auf. »Wir könnten ›The Old Rugged Cross‹ versuchen.«

»Quatsch. Die wollen doch kein religiöses Gesülze hören. Insbesondere nicht jetzt.«

Tara hievt bereits ihren nicht unbeträchtlichen Körperumfang durch das Wohnzimmer zu dem Koffer, in dem sich ihr Bass befindet. In ihrem Mundwinkel steckt der behelfsmäßige Joint. »Daddy, sag, was wir spielen, und ich schaue, was ich auf dem Bass zusammenbekomme.«

»Ach, was soll’s? Kann ja nicht schaden«, meint David Chalmers schließlich und rappelt sich auf.

Die Chalmers holen ihre Instrumente aus den Koffern und stimmen sie. Als sie so weit sind, stellen sie sich nebeneinander auf. Sie wirken ungefähr so entschlossen wie eine Einheit der Marines. April ist vorne an der Gitarre, während David und Tara seitlich etwas weiter hinten mit Bass und Mandoline stehen. Philip kann sich gut vorstellen, wie sie auf der Bühne der Grand Ole Opry stehen. Er sieht, wie Brian die Atmosphäre in sich aufsaugt und es sichtlich genießt. Wenn sich Brian Blake mit etwas auskennt, dann mit Musik. Philip hat seinen Bruder schon immer wegen seiner Kenntnisse bewundert, und er ist sich sicher, dass er jetzt geradezu im siebten Himmel ist, da er endlich wieder Musik hören darf.

Die drei fangen zu spielen an.

Philip wird ganz ruhig.

Es kommt ihm so vor, als ob sein Herz plötzlich mit Helium gefüllt würde.

Es liegt nicht nur an der schlichten und unerwarteten Schönheit der Musik – die erste Nummer ist ein wunderbarer irischer Volkstanz mit einer traurigen, kräftigen Bassstimme und einem energischen Gitarrenriff, der an einen hundert Jahre alten Leierkasten erinnert. Es ist auch nicht die süße kleine Penny, die anscheinend von dem Lied ergriffen ist und mit einem völlig verträumten Ausdruck auf dem Boden sitzt. Es hat auch nichts mit der einfachen, aber doch zarten Melodie zu tun, die angesichts der ganzen Schrecklichkeiten, die um sie herum passieren, Philip das Herz bricht. Nein, es ist der Augenblick, als April zu singen anfängt, in dem sich Philips Seele mit Honig füllt:

There’s a shadow on my wall, but it don’t scare me at all

I’m happy all night long in my dreams

So klar wie eine Glasglocke, kein Ton sitzt falsch. Aprils spektakuläre, samtige Altstimme erfüllt das Wohnzimmer. Sie streichelt die Noten und verleiht dem Ganzen etwas beinahe Sakrales. Sie besitzt einen Touch Soul, eine Keckheit, die Philip an eine Kirchenchor-Sängerin in einer Kapelle auf dem Land erinnert.

In my dreams, in my dreams

I’m happy all night long in my dreams

I’m safe here in my bed, happy thoughts are in my head

And I’m happy all night long in my dreams

Die Stimme ist die Antwort auf ein schmerzhaftes Verlangen in Philip – etwas, das er seit Sarahs Tod nicht mehr erfahren hat. Plötzlich entwickelt er fast einen Röntgenblick. Während sie ihre Gitarre spielt und singt, bemerkt er auf einmal sämtliche kleinen Einzelheiten bei April Chalmers, die ihm vorher nicht weiter auffielen. Zum ersten Mal sieht er ein kleines Kettchen um ihren Fußknöchel, das Tattoo einer kleinen Rose neben ihrem Ellenbogen und die blassen Rundungen ihrer Brüste – so weiß wie Perlmutt – zwischen den Knöpfen ihrer Bluse.

Das Lied ist zu Ende, und jeder im Zimmer applaudiert – Philip am lautesten von allen.

Am nächsten Morgen gibt es ein dürftiges Frühstück aus altem Müsli und Trockenmilch. Philip sieht zu April hinüber, die in der Nähe der Eingangstür ihre Wanderstiefel anzieht und die Ärmel ihres Sweatshirts mit Klebeband zuklebt.

»Ich dachte, du möchtest vielleicht noch einen zweiten«, meint Philip freundlich. Er hält in jeder Hand einen Becher mit Kaffee. »Ist zwar nur Pulverzeug, aber besser als nichts.« Er sieht, wie sie auch ihre Fesseln mit Klebeband umwickelt. »Was machst du da eigentlich?«

Sie blickt auf den Becher. »Hast du den Rest der Fünf-Liter-Flasche dafür genommen?«

»Sieht ganz so aus.«

»Jetzt haben wir nur noch fünf Liter für uns sieben. Das reicht nicht mehr lange.«

»Was hast du vor?«

»Mach jetzt bitte kein Theater.« Sie schließt den Reißverschluss ihres Sweatshirts und zieht sich den Pferdeschwanz zurecht, ehe sie ihn in der Kapuze versteckt. »Das habe ich schon eine Weile geplant und will es alleine durchziehen.«

»Was?«

Sie öffnet den in die Wand eingelassenen Kleiderschrank und holt einen Baseballschläger aus Metall hervor. »Den haben wir in einer der Wohnungen gefunden. Wir dachten uns, dass er irgendwann einmal nützlich sein würde.«

»April, was hast du vor?«

»Kennst du die Feuerleiter auf der Südseite?«

»Du gehst da nicht alleine raus.«

»Ich schlüpfe aus der Wohnung 3F, steige die Leiter hinab und lenke die Beißer vom Gebäude fort.«

»Nein … nein

»Nur lange genug, bis wir uns neuen Proviant organisieren können. Dann komme ich wieder.«

Philip sieht seine eigenen Holzfällerstiefel bei der Tür stehen – genau dort, wo er sie letzte Nacht ausgezogen hat. »Reich mir doch bitte mal die Stiefel«, fordert er sie auf. »Wenn du schon den Entschluss getroffen hast, will ich nicht dazwischenfunken. Aber auf eigene Faust machst du das auf gar keinen Fall.«

Zwölf

Wieder einmal ist es der Gestank, der ihn beinahe umwirft, als er sich aus dem Fenster der Wohnung 3F lehnt – ein nach Kupfer riechender Cocktail aus menschlichen Ausscheidungen, die langsam in schimmeligem Schinkenspeck angebraten werden, ein Geruch, der so widerlich ist, dass sich Philip konzentrieren muss, um bei Sinnen zu bleiben. Seine Augen beginnen zu tränen, als er sich durch den Spalt zwängt. An diesen Gestank wird er sich nie gewöhnen.

Er klettert auf den rostigen Absatz aus Gusseisen. Dreimal muss er die Treppe im Zickzack hinunter – bei jeder Kurve wartet eine Standfläche auf ihn –, ehe er in einer Seitenstraße landet. Bereits beim ersten Schritt wackelt das gesamte Gerüst unter Philips Gewicht. Sein Magen macht einen Satz, als eine der Standflächen beinahe nachgibt. Hastig hält er sich am Geländer fest.

Das Wetter hat sich verändert. Es ist jetzt trist und feucht. Der Himmel ist grau in grau, und der Nordostwind fegt durch die tiefen Stadtschluchten. Zum Glück gibt es unten in der Seitenstraße nur vereinzelte Beißer, die an der südlichen Seite des Gebäudes herumirren. Philip blickt auf seine Armbanduhr.

In circa einer Minute und fünfundvierzig Sekunden wird April ihr Leben aufs Spiel setzen. Mehr braucht Philip nicht, um sich zu fangen. Rasch klettert er die erste Treppe hinunter. Das wackelige Gestell ächzt unter seinem Gewicht und droht bei jedem Schritt zusammenzubrechen.

Während des Abstiegs merkt er, wie sich die silbernen Augen der untoten Kreaturen unter ihm auf ihn richten. Das Klappern der Treppe hat sie aus ihrer Stumpfheit gerissen. Jetzt sind ihre primitiven Sinne auf ihn ausgerichtet, verfolgen ihn, riechen ihn, spüren die Vibrationen wie eine Spinne, die eine Fliege im Netz weiß. Dunkle Silhouetten, die er im äußersten Augenwinkel wahrnimmt, schlurfen langsam in seine Richtung. Immer mehr kommen um die Ecke des Haupteingangs zu ihm herüber, um nachzusehen, was da vor sich geht.

Das wird lustig, denkt er, als er vorsichtig zu Boden gleitet, um rasch über die Straße zu rennen. Fünfundsechzig Sekunden. Der Plan lautet, so schnell wie möglich alles über die Bühne zu bringen. Philip schleicht sich geschmeidig an den vernagelten Schaufenstern vorbei. Als er an der östlichen Ecke des Gebäudes ankommt, findet er einen zurückgelassenen Chevy Malibu mit einem Kennzeichen, das davon zeugt, dass er nicht in Georgia zugelassen wurde.

Fünfunddreißig Sekunden.

Als sich Philip neben den Malibu hinkniet und rasch seinen Rucksack abnimmt, hört er, wie die schlurfenden Schritte hinter ihm näher kommen. Seine Hände sind ruhig, als er die kleine benzingefüllte Colaflasche hervorholt. Das Benzin hat April im Keller des Hauses in einem Reservekanister gefunden.

Fünfundzwanzig Sekunden.

Er schraubt den Verschluss auf, steckt einen benzingetränkten Putzlappen hinein und stopft das Ganze in den Auspuff des Malibus. Der Lappen dient als Lunte und ragt gut zwanzig Zentimeter aus dem Rohr heraus. Er holt ein Feuerzeug hervor, entzündet es und hält es an den Stofflappen. Dann rennt er so schnell es geht in Deckung.

Zehn Sekunden.

Er schafft es über die Straße, drängt sich an ein oder zwei Beißern vorbei und springt in eine düstere Gasse hinter zwei Müllcontainer, ehe er die erste Explosion hört – das war die Colaflasche im Auspuff –, gefolgt von einem zweiten, viel lauteren Knall.

Philip duckt sich und bleibt kauernd auf dem Boden. Die ganze Straße vibriert, und ein Feuerball steigt empor, der selbst die dunkelsten Ecken im gesamten Umkreis erhellt.

Genau nach Plan, denkt April, während sie im Schatten des Eingangsbereichs wartet. Die Erschütterung reißt an der Glastür. Die Glühbirne, die über ihr zerplatzt, schimmert wie das Stroboskoplicht eines unsichtbaren Fotografen. Sie schielt durch die untere Hälfte der verriegelten Tür und beobachtet eine Veränderung in den Scharen der Untoten. Wie die Wogen eines Meeres, die von der Anziehungskraft des Mondes hin und her bewegt werden, beginnen die Horden dem Licht und den Geräuschen zu folgen. Die chaotische Masse trampelt langsam, aber stetig zur südlichen Seite des Gebäudes.

Silberpapier könnte einen Schwarm Spatzen kaum besser in den Bann ziehen als die beiden Explosionen die Beißer. Kaum ist eine Minute vergangen, ist die Straße vor dem Haupteingang so gut wie leer gefegt.

April wappnet sich und holt tief Luft. Sie rückt noch einmal die Tasche auf ihrem Rücken zurecht und schließt die Augen. Ein rasches, stilles Stoßgebet später springt sie hoch, schiebt den Riegel beiseite und öffnet vorsichtig die Tür.

Sie schleicht nach draußen. Der Wind weht ihr um die Nase, und der Gestank lässt sie beinahe würgen. Als sie über die Straße rennt, hält sie sich geduckt, um möglichst keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Die plötzliche Reizüberflutung – der Gestank, die Nähe der Horde um die Ecke und das wilde Pochen ihres Herzens – droht einen Augenblick lang, sie abzulenken. In Windeseile kämpft sie sich von einer düsteren Ladenfront zur anderen vor. Zum Glück kennt sie sich hier einigermaßen aus und findet bald den Lebensmittelladen.

Wenn man es genau nimmt, brauchte April Chalmers elf Minuten und dreiunddreißig Sekunden, um sich durch die Eingangstür zu zwängen, den verkommenen Laden zu betreten und alles Nötige zu erledigen. Nur elfeinhalb Minuten, um eineinhalb große Taschen mit genügend Essen, Trinken und sonstigen Dingen zu füllen, damit sie, ihre Familie und die Neuankömmlinge wieder eine Weile Ruhe haben würden.

Aber für April Chalmers fühlt es sich nicht wie elfeinhalb Minuten, sondern wie eine halbe Ewigkeit an.

Sie schnappt sich zehn Kilo Lebensmittel, zehn Liter gefiltertes Wasser, drei Schachteln rote Marlboros, Feuerzeuge, Beef-Jerky, Vitamintabletten, Hustensaft und Medikamente gegen Erkältung, antibakterielle Salben und sechs Rollen Klopapier. All das befördert sie mit unglaublicher Geschwindigkeit in die bereitgestellten Taschen.

Das Ticken der Uhr begleitet sie ständig. Sie spürt es förmlich im Nacken. Schon bald wird sich die Straße wieder mit Kreaturen füllen. Die Beißer werden ihr garantiert den Weg abschneiden, wenn sie sich nicht innerhalb weniger Minuten auf den Rückweg macht.

Philip verballert ein weiteres halbes Magazin seiner Kugeln, während er sich zur Rückseite des Gebäudes zurückkämpft. Der Großteil der Beißer hat sich jetzt um die brennenden Überreste des Malibu versammelt. Sie gleichen einem Schwarm Insekten, der vom Licht angezogen wird. Philip räumt den Weg zum Innenhof frei, indem er nur zweimal abdrückt. Der erste Schuss lässt den Schädel eines Zombies in einem Jogging-Anzug explodieren, sodass er wie eine Marionette, deren Fäden abgeschnitten wurden, zu Boden stürzt. Der zweite Schuss gräbt eine Furche in den Kopf einer ehemaligen Obdachlosen. Ihre aufgedunsenen Augen flackern noch einmal auf, ehe auch sie leblos in sich zusammensackt.

Bevor die anderen Beißer eine Chance haben, sich auf ihn zu stürzen, springt er über den Zaun in den Innenhof und sprintet über das braune Gras.

Er klettert auf ein Vordach, von wo aus eine weitere Feuerleiter circa eineinhalb Meter über ihm an der weiß verputzten Mauer lockt. Philip greift nach einer Sprosse und klettert die Leiter hoch.

Plötzlich aber hält er inne. War der Plan vielleicht doch nicht so gut wie gedacht?

April befindet sich jetzt kurz vor dem kritischen Punkt ihrer Mission. Mittlerweile sind knapp zwölf Minuten vergangen, seitdem sie aus der Haustür geeilt ist, aber sie riskiert es trotzdem, noch einem anderen Laden einen Besuch abzustatten.

Einen halben Häuserblock weiter südlich wartet ein Ace Hardware Store auf sie. Das Schaufenster ist wie alle anderen eingeschlagen und leer geräumt, aber die Eisenstäbe sind weit genug auseinandergebogen, sodass sich eine schmale Frau wie April hindurchzwängen kann. Kurz darauf steht sie in der düsteren Eisenwarenhandlung und schaut sich um.

Sie füllt die zweite Tasche bis oben mit Wasserfiltern, um das Wasser der Toiletten und Spülkästen reinigen und trinken zu können, einer Schachtel Nägel, denn die alten wurden für die Barrikaden verwendet, Filzstiften und großen Rollen Papier, für Schilder, um etwaige andere Überlebende auf sich aufmerksam zu machen, Glühbirnen, Batterien, einigen Flaschen Spiritus und drei kleinen Taschenlampen.

Als sie zurück in Richtung Schaufenster eilt – die Taschen wiegen jetzt weit über zwanzig Kilo –, kommt sie an etwas vorbei, das auf dem Boden neben einigen Rollen Isoliermaterial liegt und nach einem Menschen aussieht.

April hält inne. Das tote Mädchen auf dem Boden hat nur ein Bein. Es ist zusammengekauert und lehnt mit dem Rücken an der Wand. Die Spuren aus Blut und Gewebe deuten darauf hin, dass sich das Geschöpf bis hierher geschleppt hat. Die Untote ist nicht viel älter als Penny. April kann sich nicht von ihr abwenden.

Ihr ist klar, dass sie sich so schnell wie möglich auf den Weg machen muss. Aber sie vermag sich nicht von der erbärmlichen, zerstückelten Leiche abzuwenden, die in ihrem eigenen Blut sitzt. Es kommt offensichtlich aus dem schwarzen Stumpen, der einmal ein Bein gewesen ist.

»Um Gottes willen! Ich kann es nicht«, flüstert April. Sie ist sich nicht sicher, was sie damit eigentlich meint: die Kreatur erlösen oder sie bis in alle Ewigkeit in dieser verlassenen Eisenwarenhandlung schmoren lassen.

April zieht den Baseballschläger aus dem Gürtel und stellt die Taschen ab. Vorsichtig nähert sie sich dem Mädchen. Die Tote auf dem Boden bewegt sich kaum …

»Es tut mir leid«, flüstert April und versenkt den Baseballschläger im Schädel des Mädchens. Der Schlag wird von einem feuchten Geräusch begleitet, das an brechendes Holz erinnert.

Der Zombie gleitet lautlos ganz zu Boden. April steht da, schließt für einen Moment die Augen und versucht, den Anblick aus ihrem Gehirn zu löschen – ein Anblick, der sie wahrscheinlich trotzdem für den Rest ihres Lebens verfolgen wird.

Zu sehen, wie der Schaft des Schlägers ein klaffendes Loch in einen Schädel reißt, ist schlimm genug. Aber was April in dem kurzen, fürchterlichen Augenblick mitbekam, bevor sie auf das Wesen einschlug, war noch schrecklicher: Entweder war es ein unbedeutendes Aufflattern bereits abgestorbener Nerven oder ein echtes Begreifen. Jedenfalls wandte sich das untote Mädchen in jenem Augenblick ab, als der Baseballschläger auf es niederzischte.

Ein Geräusch aus dem vorderen Teil des Ladens reißt April aus ihren Überlegungen. Rasch schultert sie die Taschen und eilt zum Ausgang. Doch sie kommt nicht weit. Abrupt hält sie inne, als sie bemerkt, dass ihr ein zweites Mädchen den Weg versperrt.

Es steht keine fünf Meter vor April zwischen den demolierten Metallgittern und trägt das gleiche Kleid wie das Geschöpf, das April gerade ins Jenseits befördert hat.

Zuerst glaubt April ihren Augen kaum zu trauen. Handelt es sich vielleicht um den Geist des Zombies, den sie soeben erlöst hat? Verliert sie jetzt den Verstand? Aber als das zweite Mädchen schlurfend den Gang entlang auf sie zukommt und schwarzer Speichel über ihre aufgeplatzte Lippe läuft, fällt bei April der Groschen: Zwillinge – dieses Mädchen hat noch beide Beine!

Eineiige Zwillinge.

»Na dann«, sagt April laut. Sie ist bereit, sich den Weg freizukämpfen.

Langsam geht sie, den Baseballschläger wieder in den Händen, auf das kleine Monster zu und holt aus, als ein lauter Knall hinter dem Zwilling ertönt. April blinzelt überrascht.

Die Kugel schlägt in eine übrig gebliebene Scheibe und zerschmettert den Schädel des wandelnden toten Zwillings. April zuckt zusammen, als sie ein feuchter, schwarzer Nieselregen trifft, während das Mädchen in sich zusammensackt. April seufzt erleichtert auf.

Philip Blake steht vor dem Laden auf der leeren Straße und schiebt gerade ein neues Magazin in seine Ruger.

»Bist du das?«, fragt er leise.

»Ja, ich bin hier! Es geht mir gut!«

»Ich weiß, dass es nicht höflich ist, eine Lady zu drängen, aber sie kommen!«

April nimmt ihre geplünderten Schätze, steigt über die blutigen Überreste des Mädchens, die ihr den Weg versperren, und zwängt sich durch die Gitterstäbe hinaus auf die Straße. Sofort begreift sie, in welcher Situation sie sich befinden: Eine Masse von Zombies kommt mit dem kollektiven Eifer einer ausgeflippten Gemeinde um die Ecke.

Philip nimmt April eine der Taschen ab, und beide rennen so schnell sie ihre Beine tragen zum Haus zurück.

Wenige Sekunden später stolpern bereits fünfzig Beißer von beiden Seiten auf sie zu.

Brian und Nick spähen durch das verstärkte Glas der Eingangstür und sehen, wie sich die Situation blitzschnell ändert.

Horden von Zombies kommen jetzt von beiden Seiten die Straße herunter auf sie zu. Wohin sie auch immer verschwunden waren – jetzt sind sie jedenfalls auf dem Rückmarsch.

Mitten unter ihnen befinden sich zwei Menschen – ein Mann und eine Frau, wie Balljungen bei einem perversen, surrealen Sport –, die mit Taschen auf dem Rücken auf das Haus zulaufen.

»Da sind sie!«, ruft Nick, der Philip und April inmitten der Menge erspäht.

»Gott sei Dank«, erwidert Brian und senkt sein Marlin-Gewehr. Er zittert wie Espenlaub. Hastig schiebt er die linke Hand in die Hosentasche und versucht, sich zu beruhigen. Er will nicht, dass sein Bruder ihn so sieht.

»Los, öffnen wir die Tür«, drängt Nick und stellt sein Gewehr in eine Ecke.

Er schafft es gerade noch rechtzeitig, denn Philip und April schießen schon den Bürgersteig entlang – mit einer Schar Beißer dicht auf den Fersen. April schlüpft als Erste durch den Spalt. Das Adrenalin in ihren Adern lässt sie am ganzen Körper zittern.

Philip folgt ihr kurz darauf. Seine Augen funkeln wie bei einem Testosteron-Feuerwerk. »Unglaublich!«

Nick wirft die Tür ins Schloss. Drei Beißer krachen gegen die Stäbe, die das Sicherheitsglas schützen. Ihr schwarzer Speichel spritzt gegen die Scheibe. Dutzende von milchig weißen Augen starren durch die Tür auf die Menschen dahinter. Tote Finger kratzen an dem Glas, während sich immer mehr Zombies zu ihnen gesellen.

Brian hat sein Gewehr längst wieder in der Hand und richtet es auf die Kreaturen auf der Straße. Dann weicht er einen Schritt zurück. »Was geht hier vor sich? Wo seid ihr denn so lange gewesen?«

Nick führt sie durch eine weitere Tür in den inneren Teil des Hauses. Endlich kann April ihre schwere Tasche abstellen. »Das war … Verdammt! Das war knapp!«

Philip lässt auch seine Tasche vom Rücken gleiten. »Frau, du hast echt Mumm! Beeindruckend.«

Nick tritt zu ihnen. »Was soll das, Philly? Ihr haut einfach ab, ohne jemandem zuvor Bescheid zu geben?«

»Das hat nichts mit mir zu tun, da musst du mit ihr reden«, antwortet Philip und schiebt die Ruger in den Gürtel.

»Wir haben uns solche Sorgen gemacht!«, empört sich Nick. »Wir waren kurz davor, auf der Straße nach euch zu suchen! Tara ist völlig außer sich!«

»Das ist allein meine Schuld«, sagt April und wischt sich den Schmutz aus dem Nacken.

»Seht euch mal unsere Beute an, Mann!«, fordert Philip die anderen auf. Er zeigt auf die zwei Taschen zu Nicks Füßen.

Nick hat die Fäuste geballt. »Dann hören wir plötzlich eine verdammte Explosion! Was glaubt ihr, was wir uns dabei dachten? Habt ihr das verbrochen? Wart ihr das?«

Philip und April blicken einander an. Philip antwortet: »Tja, das haben wir zusammen ausgeheckt.«

April kann ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken, als Philip zu ihr geht und eine Hand hochhebt. »Wie wär’s mit High-Five?«

Sie schlägt ein. Nick und Brian starren die beiden ungläubig an.

Nick will gerade protestieren, als jemand aus dem Inneren des Gebäudes um die Ecke kommt.

»Um Gottes willen!« Tara steuert direkt auf ihre Schwester zu, um April voller Inbrunst an sich zu drücken. »Nein, nein, nein. Ich habe mich so was von aufgeregt! Gott sei Dank geht es dir gut! Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

April tätschelt ihrer Schwester beruhigend den Rücken. »Tut mir sehr leid, Tara. Das war einfach etwas, was ich machen musste.«

Tara lässt ihre Schwester los. Ihre Miene wirkt jetzt wütend. »Ich sollte dich windelweich schlagen. Ehrlich! Der Kleinen erzähle ich, dass du nur schnell hochgegangen bist, aber jetzt ist sie genauso aus dem Häuschen wie ich! Was sollte ich tun? Das war verdammt dumm von dir, verdammt verantwortungslos! Aber von dir kann man wohl auch nichts anderes erwarten!«

»Was soll das heißen?«, will April wissen. »Warum sagst du nicht einmal im Leben, was du wirklich meinst?«

»Dumme Kuh!« Tara ist drauf und dran, ihrer Schwester eine Ohrfeige zu verpassen, als sich Philip einmischt und zwischen die beiden stellt.

»Jetzt mal sachte!«, versucht er Tara zu beruhigen und legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Eine Sekunde. Atme erst einmal durch, Schwester.« Philip weist mit dem Kopf auf die Taschen. »Ich zeige dir etwas, okay? Aber schrei mich nicht schon vorher an – versprochen?«

Er kniet sich hin, öffnet einen Reißverschluss und zeigt den anderen, was alles in der Tasche ist.

Sie starren wortlos auf die Beute. Philip richtet sich wieder auf, blickt Tara in die Augen und sagt: »Die ›dumme Kuh‹ dort hat uns heute das Leben gerettet – jetzt haben wir wieder Wasser und Essen. Die ›dumme Kuh‹ hat Kopf und Kragen riskiert und wusste nicht, ob ihr Plan aufgehen würde. Am wichtigsten war ihr, dass niemand sonst dabei in Gefahr gerät. Du solltest dieser ›dummen Kuh‹ die Füße küssen.«

Tara wendet den Blick von den Taschen ab und schaut zu Boden. »Wir haben uns nur Sorgen gemacht. Sonst nichts«, verteidigt sie sich mit schwacher Stimme.

Nick und Brian stürzen sich bereits auf die Taschen und durchwühlen die Beute. »Philly«, meldet sich Nick. »Eines muss ich euch lassen: Das war echt cool von euch!«

»Super! Einfach super!«, stammelt Brian fassungslos, während er das Toilettenpapier, das Beef-Jerky und die Wasserfilter betrachtet. Die Angespanntheit lässt nach, die Wolken verschwinden, und jetzt ist auf jedem Gesicht ein breites Lächeln zu sehen.

Lange kann sich auch Tara nicht der Neugier erwehren. Sie wirft einen verstohlenen Blick auf die Taschen. »Sind da auch Zigaretten drin?«

»Hier ist was in der Richtung«, erwidert April, bückt sich und nimmt eine Packung mit Glimmstängeln. »Viel Spaß damit, du dumme Kuh!«

Sie lächelt ihre Schwester an und wirft ihr die Schachtel zu.

Alle lachen.

Niemand sieht die kleine Gestalt, die hinter einer halb geöffneten Tür in die Eingangshalle schielt, bis Brian sie bemerkt. »Penny? Ist alles in Ordnung?«

Das kleine Mädchen stößt die Tür ganz auf und tritt heraus. Es trägt einen Schlafanzug, und sein niedliches Gesicht ist voller Ernst, als es sagt: »Der Mann da drinnen. Mr. Chalmers. Der ist gerade hingefallen.«

Sie finden David Chalmers auf dem Boden des Schlafzimmers mitten zwischen unzähligen Papiertaschentüchern und Medikamenten. Die Scherben einer zerbrochenen Flasche mit Aftershave liegen um seinen zitternden Kopf und lassen ihn aussehen, als ob er einen Heiligenschein hätte.

»O Gott! Daddy!« Tara kniet sich neben den alten Mann und reißt ihm den Sauerstoffschlauch von der Nase. Davids graues Gesicht hat jetzt eine gelbliche Farbe angenommen. Er keucht wie ein Fisch nach Luft, der auf Land versucht, Wasser zwischen die Kiemen zu bekommen.

»Er erstickt!« April eilt auf die andere Seite des Bettes und entwirrt den Schlauch des Sauerstofftanks, der vor dem Fenster auf dem Boden liegt. Der alte Mann hat ihn bei seinem Sturz vom Nachttisch gerissen.

»Daddy? Kannst du mich hören?« Tara gibt ihrem Vater in kurzen Abständen ein paar leichte Schläge auf die Wangen.

»Schau dir seine Zunge an!«

»Daddy? Daddy?«

»Tara, schau dir die Zunge an!« April stürzt mit Tank und Schlauch zu Tara und ihrem Vater. Philip, Nick, Brian und Penny schauen dem Drama unter der Tür zu. Philip fühlt sich machtlos. Er weiß nicht, ob er ins Zimmer treten oder stehen bleiben soll. Die beiden Frauen machen den Eindruck, als ob sie wüssten, was sie tun.

Vorsichtig öffnet Tara dem alten Mann den Mund und wirft einen Blick in seinen Rachen. »Alles in Ordnung.«

»Dad?« April kniet jetzt ebenfalls neben ihm und versucht, den Schlauch unter die Nase zu klemmen. »Daddy? Kann du mich hören? Daddy?«

David Chalmers keucht weiter, ohne ein Wort hervorzubringen. Seine Kehle knarzt schmerzhaft wie eine alte Schallplatte mit einem Sprung. Seine Augenlider – alt und durchsichtig wie die Flügel einer Eintagsfliege – fangen zu flattern an. Beinahe panisch tastet Tara seinen Nacken und Hinterkopf nach Verletzungen ab. »Keine Anzeichen von Blut«, verkündet sie. »Daddy?«

April legt eine Hand auf seine Stirn. »Eiskalt.«

»Ist der Sauerstoff an?«

»Natürlich!«

»Daddy?« April dreht ihren Vater vorsichtig um, bis er mit dem Sauerstoffschlauch über der Oberlippe auf dem Rücken zu ruhen kommt. Dann verpasst sie ihm erneut ein paar leichte Ohrfeigen. »Daddy? Daddy, kannst du uns hören? Daddy?«

Der alte Mann hustet. Seine Augenlider flattern noch immer. Dann öffnet er sie kurz und versucht, sich die Lunge mit Luft vollzusaugen, aber sein flacher Atem bleibt ihm im Hals stecken. Seine Augen sind nach hinten gerollt, und er scheint nur halb bei Bewusstsein zu sein.

»Daddy! Schau mich an!«, befiehlt April und dreht sein Gesicht vorsichtig zu sich. »Daddy, kannst du mich sehen?«

»Wir müssen ihn aufs Bett legen«, schlägt Tara vor. »Männer, könnt ihr uns helfen?«

Philip und Nick sind auf einer Seite, während Tara und Brian auf der anderen stehen. Sie zählen bis drei, heben dann David vorsichtig hoch und legen ihn aufs Bett. Die Federn ächzen unter seinem Gewicht, und der Sauerstoffschlauch verwickelt sich erneut.

Sofort entwirren Tara und April das Durcheinander und decken den alten Mann mit Decken zu. Nur noch sein aschfahles, eingesunkenes Gesicht lugt unter der Bettdecke hervor. Die Augen sind geschlossen, der Mund steht offen, und er atmet stoßweise. Sein Rasseln klingt wie ein alter Verbrennungsmotor, der nicht recht laufen will. Immer wieder flattern seine Lider, und in seinen Augen, wenn man sie sehen kann, ist ein leichter Schimmer zu erkennen. Die Lippen verziehen sich zu einer Grimasse. Schon entspannt sich sein Gesicht wieder, und er atmet weiter … Mehr schlecht als recht.

Tara und April sitzen einander gegenüber neben ihm und streicheln ihm die Wangen. Eine ganze Weile fällt kein einziges Wort. Aber es ist dennoch klar, dass alle das Gleiche denken.

»Glaubst du, dass es ein Schlaganfall war?«, fragt Brian einige Minuten später neben der gläsernen Schiebetür.

»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht.« April läuft nervös auf und ab und kaut unentwegt an ihren Fingernägeln, während die anderen hilflos herumsitzen und sie anschauen. Nur Tara ist noch im Zimmer bei ihrem Vater. »Ohne medizinische Versorgung hat er so oder so schlechte Chancen.«

»Ist so etwas das erste Mal passiert?«

»Er hatte schon mehrmals Probleme mit dem Atmen, aber so schlimm war es noch nie«, erklärt April. Sie bleibt stehen. »Verdammt, ich wusste, dass es einmal so weit kommen würde.« Sie wischt sich die Augen, die tränenfeucht sind. »Außerdem ist das der letzte Sauerstofftank. Das war es dann.«

Philip erkundigt sich nach den Medikamenten.

»Klar haben wir seine Medizin. Aber die hilft ihm jetzt wenig. Er braucht einen Arzt. Der alte Dickkopf hat schon seinen letzten Termin vor einem Monat sausen lassen.«

»Und was haben wir so an Pillen und Arzneien?«, will Philip wissen.

»Keine Ahnung. Da ist ein Haufen Zeug aus den Wohnungen. Antihistamin und so.« April beginnt wieder, ihre Runden zu drehen. »Außerdem gibt es ein paar Erste-Hilfe-Kästen. Toll. Das mit Dad ist ernst, und ich habe keine Ahnung, wie wir damit umgehen sollen.«

»Wir müssen Ruhe bewahren und überlegen.« Philip fährt sich über den Mund. »Im Augenblick scheint er ruhig zu sein – oder? Seine Atemwege sind frei. Man kann nie wissen, aber vielleicht … Vielleicht erholt er sich ja einfach wieder.«

»Und was ist, wenn nicht?« April starrt ihn an.

Philip steht auf und geht zu ihr. »Hör zu. Wir müssen einen kühlen Kopf behalten.« Er legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Wir passen gut auf ihn auf. Uns wird schon etwas einfallen. Der ist hart im Nehmen, dein Dad.«

»Hart im Nehmen, aber am Sterben«, sagt April, und eine Träne läuft ihr über die Wange.

»Das weißt du nicht«, versucht Philip sie zu beruhigen und wischt ihr die Träne aus dem Gesicht.

Sie blickt ihn an. »Guter Versuch, Philip.«

»Ernsthaft.«

»Guter Versuch.« Sie wendet das Gesicht ab, und ihr niedergeschlagener Gesichtsausdruck drückt ihre tiefe Verzweiflung aus. »Guter Versuch.«

Die gesamte Nacht über sitzen die Frauen am Bett ihres Vaters. Eine batteriebetriebene Lampe erhellt sein blasses Gesicht. Die Wohnung ist so eisig wie ein Kühlhaus, und April kann Taras Atem über das Bett hinweg sehen.

Der alte Mann liegt fast die ganze Zeit über bewegungslos da. Lediglich seine eingefallenen Wangen ziehen sich ab und zu beim Versuch zu atmen zusammen. Die grauen Bartstoppeln an seinem Kinn gleichen Metallspänen, die sich nach dem Magnetfeld richten. Immer wieder beginnen sich seine trockenen, aufgeplatzten Lippen ohne ersichtlichen Sinn zu bewegen. Will er etwas sagen? Außer etwas trockener Puste kommt nichts heraus.

Am frühen Morgen merkt April, dass Tara eingenickt ist. Ihr Kopf liegt auf dem Bett. April nimmt eine Decke und legt sie vorsichtig über ihre Schwester. Dann hört sie eine Stimme.

»Lil?«

Sie kommt von dem alten Mann. Seine Augen sind noch immer geschlossen, aber sein Mund bewegt sich unentwegt. Er scheint wütend, seine Miene ist zerfurcht. Lil war die Abkürzung von Lilian, Dads verstorbener Ehefrau. April hat den Kosenamen seit Jahren nicht mehr gehört.

»Daddy? Ich bin’s, April«, flüstert sie und legt eine Hand auf seine Wange. Er zuckt zusammen, die Augen noch immer geschlossen. Sein Mund ist verzerrt. Die Stimme lallt durch den Nervenschaden, der eine Seite seines Gesichts lähmt.

»Lil, pfeif die Hunde rein! Da zieht ein Sturm auf – ein großer Sturm. Er kommt mal wieder aus Nordosten!«

»Daddy! Wach auf«, flüstert April leise. Ihr Herz krampft sich zusammen.

»Lil? Wo bist du?«

»Daddy?«

Schweigen.

»Daddy?«

Tara wacht auf, streckt sich und setzt sich gerade hin. Die gepresste Stimme ihres Vaters hat sie aus dem Schlaf gerissen. »Was ist los?«, fragt sie und reibt müde die Augen.

»Daddy?«

Das Schweigen hält an, aber der alte Mann atmet jetzt viel schneller.

»Da …«

Das Wort bleibt April im Mund stecken, als sie etwas Fürchterliches über das Gesicht ihres Vaters huschen sieht. Seine Augenlider öffnen sich leicht, und die weißen Augäpfel lugen darunter hervor. Plötzlich spricht er mit einer erschreckend deutlichen Stimme: »Der Teufel hat etwas vor mit uns.«

In dem düsteren Schein der schwachen Lampe tauschen die beiden Schwestern ängstliche Blicke aus.

Die Stimme, die aus dem Körper von David Chalmers kommt, ist tief und rau. »Der Tag des Jüngsten Gerichts ist nah … Der Missetäter ist unter uns.«

Dann kehrt wieder Stille ein. Sein Kopf rollt zur Seite, als ob man die Nervenstränge zu seinem Gehirn plötzlich durchtrennt hätte.

Tara fühlt seinen Puls.

Sie schaut ihre Schwester an.

April mustert das Gesicht ihres Vaters. Seine Miene ist jetzt entspannt. Er sieht so aus, als ob er sich zuversichtlich einem ruhigen, tiefen und unendlich langen Schlaf hingeben würde.

Pünktlich bei Sonnenaufgang fängt Philip in seinem Schlafsack auf dem Boden des Wohnzimmers an, sich zu regen. Er setzt sich auf und massiert sein steifes Genick. Seine Gelenke sind von der Eiseskälte wie eingerostet. Es dauert ein Weilchen, ehe sich seine Augen an das trübe Licht gewöhnt haben und er sich orientiert. Er sieht Penny in Decken auf dem Sofa eingehüllt. Sie schläft tief. Sein Blick schweift zu Nick und Brian auf dem Boden, ebenfalls in Decken gewickelt. Auch sie schlafen noch. Die Erinnerung der Totenwache am Abend zuvor drängt sich ihm auf und der hoffnungslose Versuch, dem alten Mann zu helfen und gleichzeitig Aprils Befürchtungen zu zerstreuen.

Er blickt durch den Raum. In den Schatten des Flurs kann er die Tür zum Schlafzimmer ausmachen. Sie ist geschlossen.

Rasch klettert er aus dem Schlafsack und zieht sich hastig und leise an. Nachdem er die Hose übergestreift hat, fährt er in die Stiefel. Dann streicht er die Haare zurück und geht in die Küche, um sich den Mund auszuspülen. Plötzlich ertönt eine Stimme. Er folgt ihr zum Schlafzimmer und lauscht an der Tür. Es ist Tara, die vor sich hin murmelt.

Sie betet.

Philip klopft leise an.

Einen Augenblick später öffnet sich die Tür. April steht vor ihm. Ihre Augen sind so verquollen, dass man sie kaum erkennen kann. »Guten Morgen«, begrüßt sie ihn mit leiser Stimme.

»Wie geht es ihm?«

Ihre Lippen erbeben. »Er ist tot.«

»Wie bitte?«

»Er hat es hinter sich, Philip.«

Er starrt sie an. »O Gott …« Er schluckt. »Es tut mir leid, April.«

»Ja.«

Sie fängt zu weinen an. Nach einem kurzen peinlichen Augenblick – eine Welle widersprüchlicher Gefühle durchläuft Philip – nimmt er sie in die Arme. Er drückt sie an sich und streichelt ihr den Hinterkopf. Sie zittert in seiner Umarmung wie ein verlorenes Kind. Philip weiß nicht, was er sagen soll. Über ihre Schultern hinweg blickt er in das Schlafzimmer.

Tara Chalmers kniet am Totenbett und betet leise mit dem Kopf auf dem Betttuch vor sich hin. Sie hat eine Hand auf die kalten, knorrigen Finger ihres Vaters gelegt. Aus irgendeinem Grund fällt es Philip schwer, die Augen von Tara zu lösen, wie sie die blassen Finger des Toten streichelt.

»Sie lässt nicht mit sich reden, sondern will bei ihrem Daddy bleiben.« April sitzt am Küchentisch und trinkt eine Tasse schwachen, lauwarmen Tee, den sie auf einem Brennspirituskocher gekocht hat. Seitdem sie aus dem Totenzimmer gekommen ist, sind ihre Augen zum ersten Mal wieder klar. »Das arme Ding … Ich glaube, sie will ihn wieder lebendig beten.«

»Für so etwas muss man sich nicht schämen«, meint Philip. Er sitzt ihr gegenüber. Eine halb gegessene Schüssel Reis steht vor ihm. Er hat keinen Appetit.

»Hast du schon darüber nachgedacht, was ihr jetzt tun wollt?«, erkundigt sich Brian, der vor der Spüle steht und Wasser aus den Toiletten der oberen Stockwerke filtert.

Ab und zu kann man Nick und Penny hören, wie sie im Wohnzimmer Karten spielen.

April blickt Brian an. »Wie was tun?«

»Mit eurem Vater … Du weißt schon … Begraben und so?«

April seufzt. »Du hast das Ganze doch schon hinter dir, oder?«, fragt sie Philip.

Philip starrt auf den Reis vor sich. Er hat keine Ahnung, ob sie damit auf Bobby Marsh oder Sarah Blake anspielt. Er hat ihr sowohl von seinem Freund als auch von seiner Frau erzählt. »Ja, das habe ich.« Dann erwidert er ihren Blick und fügt hinzu: »Was auch immer ihr entscheidet, wir werden euch auf jeden Fall helfen.«

»Selbstverständlich werden wir ihn beerdigen.« Ihre Stimme klingt tonlos. Sie senkt die Augen und mustert den Boden. »Ich habe mir das nie so vorgestellt – nicht an so einem Ort wie diesem.«

»Das schaffen wir schon«, versichert ihr Philip. »Wir machen das so, wie es sich gehört.«

April hat den Blick noch immer zu Boden gesenkt, und eine Träne tropft in den Tee. »Ich hasse das alles.«

»Wir müssen zusammenhalten«, erklärt Philip ohne großen Enthusiasmus. Er sagt es nur, weil er nicht weiß, was er sonst sagen könnte.

April wischt sich das Gesicht ab. »Da gibt es ein Fleckchen Erde unter dem …«

Aus dem Flur dringt ein lautes Geräusch zu ihnen. Sie drehen sich um.

Ein gedämpfter Schlag gefolgt von einem Knall – das Umfallen von Möbeln.

Philip schnellt hoch, ehe die anderen verstanden haben, dass der Krach aus dem Schlafzimmer kommt.

Dreizehn

Philip reißt die Tür auf. Der Teppich steht in Flammen, und die rauchige Luft erzittert vor Gebrüll. In der Dunkelheit kann Philip eine Bewegung ausmachen. Es scheint eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er weiß, was er in dem flackernden Halbschatten vor Augen hat.

Die Kommode, die diese Geräusche verursacht hat, ist knapp neben Tara umgestürzt. Diese liegt auf dem Boden und versucht verzweifelt, sich von dem eisernen Griff toter Finger um ihr Bein zu befreien.

Toter Finger?

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubt Philip, dass sich etwas durch das Fenster hereingeschlichen haben muss. Doch dann sieht er die verdorrte Gestalt von David Chalmers – mittlerweile völlig verwandelt – auf dem Boden. Er krallt sich an Taras Bein. Mit seinen gelben Fingernägeln kratzt er Tara die Haut auf. Das eingefallene Gesicht des alten Mannes ist bleigrau, und seine Augen sind mit milchig weißen Sprengseln überzogen. Aus seiner Kehle dringen hungrig klingende Grunzlaute.

Tara gelingt es, sich freizukämpfen und aufzurichten, ehe sie mit dem Rücken gegen die Wand prallt.

Plötzlich geschehen mehrere Dinge gleichzeitig: Zuerst fällt bei Philip der Groschen, was hier vor sich geht. Außerdem merkt er, dass er seine Pisole in der Küche vergessen hat und dass ihm die Zeit davonläuft, die Gefahr zu bannen.

Die Tatsache, dass es den netten alten Mandolinenspieler nicht mehr gibt, sondern dass dieses Ding, diese Masse toten Gewebes, einfach aufsteht, hungrig knurrt und nach seiner Tochter schnappt, erschüttert Philip zutiefst. Diese Kreatur ist eine Bedrohung. Schlimmer noch als die Flammen, die auf dem Teppich lodern, schlimmer als der Rauch, der bereits einen undurchdringlichen Nebel bildet, ist die Tatsache, dass eine solche Abscheulichkeit mitten unter ihnen weilt – mitten in ihrem Zufluchtsort.

Es bringt sie alle in Gefahr.

Ehe Philip auch nur eine Hand heben kann, stoßen die anderen zu ihm und drängen sich unter dem Türrahmen zusammen. April stößt einen schmerzerfüllten Schrei aus. Es ist kein Kreischen, sondern Ausdruck ihrer Qual und Pein – wie ein Tier, das angeschossen wurde. Sie will sich ins Schlafzimmer drängen, aber Brian hält sie zurück. April windet sich verzweifelt und versucht, seinem Griff zu entkommen.

All das passiert innerhalb weniger Sekunden. In diesem Moment erspäht Philip den Baseballschläger.

In der Aufregung des Abends zuvor ließ April den von Hank Aaron signierten Metallschläger in einer Ecke neben dem vergitterten Fenster stehen, und so ist er jetzt keine vier Meter von Philip entfernt. Die lodernden Flammen spiegeln sich in seinem glänzenden Metall wider. Philip hat keine Zeit, seinen nächsten Schritt zu überdenken oder einen Plan zu schmieden. Jetzt muss er sich nur noch auf den Baseballschläger stürzen.

Nick rennt ins Wohnzimmer und holt sein Gewehr. Brian versucht noch immer, April festzuhalten und tut sein Bestes, sie aus dem Schlafzimmer zu zerren. Aber sie ist stark und außer sich. Sie hat zu schreien begonnen.

Einen Sekundenbruchteil später hält Philip den Baseballschläger in der Hand. Doch in der Zwischenzeit hat sich das Ding, das einmal David Chalmers gewesen war, auf Tara gestürzt. Ehe sich die gewichtige Frau orientieren und flüchten kann, ist der Untote auf ihr.

Kalte, graue Finger bearbeiten unbeholfen ihre Kehle. Sie wird gegen die Wand gedrückt und versucht sich mit Schlägen zu wehren und das Monster von sich zu stoßen. Aus dem bereits verwesenden, aufgerissenen Kiefer entweicht ein widerlicher Gestank. Die schwarzen Zähne blitzen gierig auf, und die Kreatur beäugt das weiße Fleisch über ihrer Halsschlagader.

Tara schreit auf. Doch ehe die Zähne zuschnappen können, schnellt der Baseballschläger hernieder. Halleluja?

Bis zu jenem Moment war der Akt, eine untote Leiche außer Gefecht zu setzen, etwas beinahe Alltägliches – insbesondere für Philip. Es war genauso leicht wie ein Schwein vor dem Schlachten zu betäuben. Aber das hier fühlt sich anders an. Der Untote benötigt drei gut gezielte, heftige Schläge.

Der erste gegen die Schläfe des ehemaligen David Chalmers lässt die Kreatur erstarren, sodass die Gefahr für Tara erst einmal gebannt ist. Sie sinkt zu Boden. Tränen fließen ihr über die Wangen, und Rotz läuft ihr aus der Nase.

Der zweite Hieb ist gegen die Schädelseite gerichtet, als sich das Ding seinem Angreifer zuwendet. Der gehärtete Stahl des Schlägers zerschmettert das Scheitelbein und Teile der Nasenhöhlen, sodass ein rosafarbener Schauer durch die Luft spritzt.

Der dritte und letzte Schlag knackt die gesamte linke Hälfte des Kopfs, und die Kreatur sackt in sich zusammen. Das Monster, das einmal David Chalmers war, landet auf einer der heruntergefallenen Kerzen, und sein Speichel, das Blut und die klebrige graue Hirnmasse fängt in den Flammen zu zischen an.

Philip stellt sich vor den Überresten auf. Er schnappt nach Luft, die Hände umfassen noch immer den Schläger. Um die furchtbare Situation noch zu verstärken, ertönen jetzt schrille und durchdringende Pieptöne. Der batteriebetriebene Feuermelder im Flur meldet sich. Es dauert eine Weile, bis Philip realisiert, woher der Ton kommt. Er lässt den blutigen Baseballschläger fallen.

Erst jetzt merkt er den Unterschied. Diesmal, bei dieser Exekution bewegt sich niemand. April starrt ihn an. Brian lässt sie los und blickt ebenfalls fassungslos. Selbst Tara, die sich mittlerweile wieder hochgezogen hat und immer noch schluchzt, schaut ihn ungläubig, beinahe wie gelähmt an.

Das Merkwürdigste ist, dass sie nicht den blutigen Haufen auf dem Boden anstarren, sondern dass alle Augen auf ihn gerichtet sind.

Sie löschen die Flammen und räumen auf. Die Überreste des Zombies werden eingewickelt und in den Korridor getragen. Dort liegt er sicher bis zur Beerdigung.

Zum Glück hat Penny kaum etwas von dem grausamen Schauspiel im Nebenzimmer mitgekriegt. Aber sie hat genug gehört, um sich erneut in ihre einsame Welt zurückzuziehen.

Auch den anderen hat es die Sprache verschlagen. Eine bedrückende Stille beherrscht den Rest des verbleibenden Tages.

Die Schwestern scheinen in eine stumpfe Benommenheit verfallen zu sein. Obwohl sie alles sauber machen, reden sie kein Wort miteinander. Die beiden haben sich die Augen trocken geweint und starren immer wieder Philip an, der ihre Blicke wie kalte Finger spürt, die über seinen Rücken streifen. Was hatten sie erwartet? Sollte sich das Monster erst an Tara laben, ehe es auf sie losgegangen wäre? Wollten sie, dass Philip sich gemütlich mit dem Wesen hinsetzt?

Gegen Mittag des folgenden Tages halten sie einen behelfsmäßigen Gedenkgottesdienst auf einem kleinen, umzäunten Flecken Erde im Hinterhof ab. Philip besteht darauf, das Grab selbst zu schaufeln, und lehnt jegliche Hilfe von Nick ab. Es dauert Stunden. Atlanta ist auf gutem, solidem Georgia-Lehm gebaut, der auch für die vielen Hochhäuser der Stadt hartnäckig genug ist. Aber im Laufe des Nachmittags ist der in Schweiß gebadete und kaputte Philip endlich so weit.

Am Grab singen die Schwestern Davids Lieblingslied – »Will the Circle Be Unbroken«. Sowohl Brian als auch Nick brechen in Tränen aus. Der Song ist herzzerreißend, insbesondere als er in den wolkenlosen, blauen Himmel aufsteigt und sich mit dem allgegenwärtigen Ächzen, Stöhnen und Jammern vermengt, das von der anderen Seite der Umzäunung kommt.

Später sitzen alle bis auf Penny am Tisch im Wohnzimmer und teilen sich eine Flasche Schnaps, die sie in einer der Wohnungen fanden. Die Chalmers-Schwestern erzählen Geschichten von ihrem Dad – aus seiner Kindheit, seinen Anfängen mit der Barstow Bluegrass Boys Band und seinen Tagen als DJ für den WBLR-Sender, der Macon und Umgebung beschallte. Sie erzählen von seinem Temperament, seiner Großmut, seinen Frauengeschichten und seinem Glauben an Jesus.

Philip lässt sie reden. Es ist gut, endlich wieder ihre Stimmen zu hören, und die Anspannung des Tages scheint ein wenig nachzulassen. Vielleicht ist das ein Teil des Loslassens. Oder sie müssen sich an die neue Situation gewöhnen.

Später sitzt Philip allein in der Küche und schenkt sich den letzten Rest Whiskey ein, als April zu ihm tritt.

»Hör zu … Ich wollte mit dir reden … Darüber, was heute passiert ist …«

»Vergiss es«, erwidert Philip und starrt in das Whiskeyglas.

»Nein. Ich hätte … Ich hätte schon früher etwas sagen sollen. Ich stand unter Schock.«

Er blickt sie an. »Aber das weiß ich doch. Tut mir leid, dass es so gelaufen ist. Wirklich. Es tut mir sehr leid, dass du das hast mit ansehen müssen.«

»Du hast das getan, was du tun musstest«, sagt April.

»Ich danke dir, dass du mir das sagst.« Philip legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich habe deinen Daddy vom ersten Moment an gemocht. Er war ein Prachtkerl. Und er hatte ein gutes und langes Leben.«

Sie kaut auf der Innenseite ihrer Wange. Philip merkt, dass sie an sich halten muss, um nicht wieder loszuweinen. »Ich dachte, ich hätte mich damit abgefunden, ihn einmal zu verlieren.«

»Niemand ist auf so etwas vorbereitet.«

»Stimmt. Aber so … Ich versuche immer noch, das Ganze zu verstehen.«

Philip nickt. »Verdammt dumm gelaufen.«

»Ich meine … Das kann doch nicht einfach so passieren … Da weiß man ja gar nicht mehr, woran man sich noch festhalten soll.«

»Ich weiß, was du damit sagen willst«, erwidert Philip.

Sie senkt den Blick und schaut auf ihre zitternden Hände. Vielleicht spielt sich die Szene noch einmal vor ihrem inneren Auge ab, wie Philip mit dem Baseballschläger auf ihren Vater eindrischt. »Was ich eigentlich sagen wollte … Ich gebe dir keine Schuld für das, was du getan hast.«

»Danke.«

Sie mustert sein Glas. »Haben wir noch etwas von dem billigen Wein übrig?«

Philip findet den Wein und gießt ihr ein Glas davon ein. Eine Weile sitzen sie schweigend da und trinken. Endlich ergreift Philip das Wort. »Und was ist mit deiner Schwester?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Sie scheint nicht …« Er verstummt, da er die richtigen Worte nicht findet.

April nickt. »Nachtragend zu sein?«

»So ähnlich.«

Sie lächelt ihn bitter an. »Sie hat mir immer noch nicht verziehen, dass ich ihr in der Grundschule einmal ein paar Cent stibitzt habe.«

Während der nächsten Tage rückt die neu gefundene Familie enger zusammen. Die Chalmer-Schwestern durchleben ihre Trauer, indem sie sich über Nichtigkeiten streiten, die anderen mit Schweigen strafen oder sich für längere Zeit in ihre Zimmer einschließen, um zu weinen oder beleidigt zu sein.

April scheint diese Zeit besser zu verkraften als ihre Schwester. Sie räumt die Sachen ihres Vaters aus und zieht mit Sack und Pack ins Schlafzimmer, sodass Philip ihr altes Zimmer haben kann. Er richtet es für Penny gemütlich ein und stellt unter anderem einige Malbücher, die er in den anderen Wohnungen gefunden hat, auf die Regale.

Das Mädchen hat April ins Herz geschlossen. Sie verbringen Stunden zusammen, erkunden die anderen Zimmer, spielen miteinander und experimentieren, wie man ihre kargen Essensrationen auf einem Spiritusbrenner zu einem kreativen Abendessen umgestalten kann. Paradebeispiel wird ein Auflauf aus zerbröseltem Beef-Jerky, Pfirsich und Rosinen mit Gemüse aus der Dose – und dazu weiteres zerbröseltes Beef-Jerky als Garnitur.

Allmählich lösen sich die Schwaden der Untoten in der unmittelbaren Umgebung des Hauses auf. Einzelne Nachzügler hängen noch herum, sodass die Blake-Brüder und Nick bei ihren Einsätzen in der Nachbarschaft noch einmal so richtig wüten können. Philip merkt, dass Brian immer verwegener wird und sich sogar aus dem Haus traut – wenn auch nur kurz. Nick Parsons blüht geradezu auf.

Er richtet sich in einem Zimmer in einem Apartment am östlichen Ende des Flurs im ersten Stock ein – es ist Wohnung 2F –, und sucht Bücher und Magazine aus den anderen Wohnungen zusammen, bis er sich einigermaßen bequem eingerichtet hat. Zudem verbringt er viel Zeit auf dem Balkon, wo er Skizzen von der Umgebung anfertigt, Karten herstellt, die Bibel liest, Gemüse anbaut und viel über den Zustand der Menschheit im Allgemeinen nachdenkt.

Außerdem baut er die wackelige Laufplanke zum angrenzenden Gebäude fertig.

Der schmale Steg besteht aus Sperrholz und Malerleitern, die mit Stricken und Isolierband – und einer großen Portion Hoffnung – zusammengehalten werden. Die Brücke weist immerhin eine Spannweite von acht Metern auf und führt vom Sims ihres Gebäudes über eine Gasse hin zur Feuerleiter des gegenüberliegenden Hauses.

Die Fertigstellung der Planke bewirkt so einiges bei Nick, denn schon bald nimmt er seinen ganzen Mut zusammen und läuft über die wackelige Konstruktion. Genau wie er es vorhergesagt hat, gelingt es ihm, sich bis zu dem Gebäude an der südöstlichen Ecke der Kreuzung vorzuarbeiten, ohne einen Fuß auf die Straße setzen zu müssen. Drüben findet er den Zugang zu der überdachten Fußgängerbrücke des Kaufhauses. Als er abends zurückkommt, bringt er eine Ladung Geschenke mit, die er bei Dillard’s eingepackt hat. Seine Wiederkehr gleicht der eines Kriegshelden.

Als Erstes packt er feinste Naschereien und Nüsse aus, dann folgen warme Kleidung, Schuhe und gestanztes Briefpapier, teure Federhalter und Kulis, ein zusammenklappbarer Camping-Kocher, Bettlaken aus Satin und luxuriöse, dicht gewebte Bettwäsche. Für Penny hat er Stofftiere mitgebracht. Auch Tara freut sich beim Anblick schön eingepackter europäischer Zigaretten. Nick treibt noch etwas anderes während seiner Soloausflüge an – etwas, das er allerdings vorerst für sich behält.

Eine Woche nach David Chalmers’ Tod schlägt Nick vor, Philip solle ihn einmal bei einem seiner Ausflüge begleiten. Dann würde er ihm auch zeigen, womit er seine Zeit verbracht habe. Philip ist bei dem Gedanken, den wackeligen Laufsteg zu überqueren, nicht gerade begeistert. Er gibt vor, sich Sorgen zu machen, ob das Gebilde sein Gewicht auch trägt. Aber in Wirklichkeit leidet er unter Höhenangst. Das weiß nur niemand. »Philly, das musst du dir anschauen«, schwärmt Nick auf dem Dach. »Die Gegend hier ist eine einzige Goldmine. Du wirst schon sehen, Mann!«

Trotz seines inneren Widerstands willigt Philip endlich ein, sich über den Laufsteg zu wagen. Auf Händen und Knien krabbelt er Nick hinterher und murrt dabei unentwegt, um seine Todesangst vor seinem Freund zu verbergen. Er traut sich nicht, nach unten zu schauen.

Endlich kommen sie am anderen Ende an, springen auf das Dach, klettern die Feuerleiter hinab und verschwinden durch ein offenes Fenster im benachbarten Haus.

Nick führt Philip durch die menschenleeren Korridore der Bürogebäude, in denen Steuerformulare und Dokumente herumflattern oder wie gefallenes Laub auf dem Boden liegen. »Wir sind gleich da«, versichert Nick seinem Freund und tänzelt eine Treppe hinunter, die in einem trostlosen Vorraum voll umgestürzter Möbel endet.

Philip macht sich Sorgen wegen der hallenden Schritte in den leeren Fluren. Jedes Mal, wenn er auf ein Stück Holz oder Schutt tritt, knarrt und knarzt es laut. Jeder blinde Fleck oder leere Raum lässt sein Herz schneller schlagen. Er nimmt jedes Geräusch wahr und wartet nur auf den Augenblick, in dem Zombies hervorkommen und sie attackieren. Seine Hand ruht stets auf dem Griff seines Revolvers, der wie gewöhnlich in seiner Jeans steckt. »Hier, wir müssen zum Parkhaus«, meint Nick und deutet in die Richtung.

Um die Ecke, vorbei an einem umgeworfenen Verkaufsautomaten, eine Treppe hoch, durch eine unmarkierte Metalltür – und plötzlich, ohne Vorwarnung, eröffnet sich für Philip eine neue Welt.

»Heiliger Strohsack!«, staunt Philip, als er Nick über die Brücke folgt. Sie ist voll Unrat und stinkt nach Urin. Die dicken Sicherheitsglasscheiben sind so mit Ruß verschmutzt, dass das Stadtbild von draußen nur verzerrt in den übel riechenden Gang eindringt. Aber der Ausblick ist nichtsdestoweniger spektakulär. Die Brücke ist lichtdurchflutet, und man kann kilometerweit in alle Richtungen blicken.

Nick bleibt stehen. »Nicht schlecht, oder?«

»Wahnsinn, Mann.« Sie befinden sich zehn Meter über der Straße. Der Wind peitscht gegen den überdachten Gang. Unter ihnen sieht Philip vereinzelte Zombies wie exotische Fische in einem Aquarium vorbeipendeln. Er fühlte sich wie in einem Glasbodenboot. »Wenn es diese üblen Monster nicht gäbe, würde ich das Penny zeigen.«

»Ich habe dich eigentlich aus einem anderen Grund mitgenommen«, erklärt Nick und geht etwas weiter. »Siehst du den Bus? Ungefähr einen halben Häuserblock von hier?«

Philip kann ihn gut erkennen – ein großes, silberfarbenes Fahrzeug des städtischen Transportunternehmens MARTA.

»Über der Tür beim Spiegel rechts. Siehst du es?«

Tatsächlich. Philip erkennt eine Art Symbol. Es steht über der Eingangstür und wurde mit der Hand hingekritzelt. Ein hastig gesprühter roter Stern mit fünf Zacken. »Und was soll das?«

»Die Zone ist sicher.«

»Die was?«

»Ich habe mich ein bisschen in der Gegend umgeschaut – die Straße hier hinunter und die andere wieder hoch«, erklärt Nick mit dem naiven Stolz eines kleinen Jungen, der seinem Vater die erste selbstgebastelte Seifenkiste zeigt. »Da drüben ist ein Friseur. Lupenrein sauber und sicher wie eine Bank. Die Tür ist nicht einmal abgeschlossen.« Dann deutet er weiter die Straße hinauf. »Da um die Ecke steht ein leerer Sattelanhänger, der noch relativ in Ordnung ist. Er steht einfach da und hat eine richtig widerstandsfähige … Wie heißt es noch mal? Falttür? Hinten – du weißt schon.«

»Nick, was soll das?«

»Es sind alles sichere Zonen. In denen man sich schnell mal verstecken kann. Sagen wir, du bist gerade dabei, Proviant zu holen, und es passiert etwas. Sichere Zonen gibt es überall. Jeden Tag finde ich eine neue. Und ich markiere sie, sodass wir alle Bescheid wissen. Es gibt so viele Verstecke, man sollte es nicht glauben.«

Philip blickt ihn an. »Du bist bis zum Ende der Straße gegangen? Allein?«

»Natürlich. Weißt du …«

»Verdammt noch mal, Nick! Du solltest dich nicht so weit hinauswagen. Vor allem nicht ohne Verstärkung.«

»Philly …«

»Nein! Dein ›Philly‹ kannst du dir in diesem Fall sparen, Mann. Ich meine es ernst. Ich will, dass du dich vorsiehst, verstehst du mich? Ich meine es todernst.«

»Okay, okay. Ist ja gut.« Nick schlägt Philip zur Beruhigung auf den Oberarm. »Ich hab’s kapiert.«

»Gut.«

»Aber du musst zugeben – das hier ist cool. Vor allem, wenn man bedenkt, in welcher Scheiße wir stecken.«

Philip zuckt mit den Schultern und schaut auf die Straße mit den kleinen Kannibalenfischen, die ziellos umherirren. »Ja, nicht übel.«

»Wir könnten es schlechter getroffen haben, Philly. Die Gebäude hier sind niedrig, sodass man die Gegend gut überblicken kann. Außerdem haben wir genügend Platz in unserem Haus, um uns nicht gegenseitig auf die Zehen zu treten, und es gibt Lebensmittelläden und andere Geschäfte direkt um die Ecke. Ich glaube, wir könnten sogar einen Generator auftreiben und vielleicht ein Auto kurzschließen, um ihn zu uns zu transportieren. Ich kann mir vorstellen, dass wir es uns in diesem Haus noch ein wenig gemütlicher einrichten, Philly … Ich weiß nicht … Vielleicht sogar für länger.« Er scheint den Gedanken zu mögen. »Vielleicht für immer … Verstehst du?«

Philip starrt durch die schmierigen Scheiben auf die Totenstadt voll leerer Gebäude und umherwandelnder Zombies. »Inzwischen ist alles für immer, Nicky.«

Brian fängt in der Nacht wieder zu husten an. Das Wetter hat umgeschlagen. Mit jedem Tag wird es kälter und feuchter, und Brians Immunsystem hat mit den neuen Bedingungen zu kämpfen. Kaum ist die Sonne untergegangen, kühlt die Wohnung radikal ab. Am nächsten Morgen fühlt sie sich wie eine Tiefkühltruhe an, und der Boden unter Brians Socken hat sich in eine Eisfläche verwandelt. Mittlerweile trägt er drei Pullover und einen gestrickten Schal, den ihm Nick von Dillard’s mitgebracht hat. Mit seinen fingerlosen Handschuhen, dem Schopf widerspenstiger schwarzer Haare und seinen eingefallenen Edgar-Allan-Poe-Augen sieht er immer mehr wie ein Obdachloser aus einem Charles-Dickens-Roman aus.

»Ich glaube, dass es Penny guttut, hier zu sein«, meint Brian zu Philip, als sie abends auf einem Balkon im ersten Stock stehen. Die Blake-Brüder genießen ein Glas des billigen Weins nach dem Abendessen und betrachten die desolate Skyline. Die kühle Abendbrise zerzaust ihnen die Haare, und der Gestank der Zombies lauert hinter dem Geruch frischen Regens.

Brian starrt auf die entfernten Silhouetten dunkler Gebäude, als ob er in Trance verfallen wäre. Für jemanden im Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist es so gut wie unmöglich, eine große Metropole stockfinster zu sehen. Aber genau das ist der Anblick, der sich jetzt den Blake-Brüdern bietet: eine Skyline so schwarz, dass sie einem Gebirgszug bei Neumond gleicht. Ab und zu glaubt Brian, das Flackern eines Feuers oder ein aufblitzendes Licht inmitten des schwarzen Nichts zu erkennen, aber vielleicht bildet er es sich auch nur ein.

»Ich glaube, dass diese Frau, diese April, für Penny am besten überhaupt ist«, gibt Philip zu bedenken.

»Ja, die beiden verstehen sich.« Brian hat sich selbst mehr als nur an April gewöhnt. Auch die Tatsache, dass sich Philip vielleicht in sie verliebt hat, ist ihm nicht entgangen. Nichts würde Brian glücklicher machen, als dass sein Bruder endlich wieder etwas Ruhe und Stabilität in der Beziehung zu einer Frau finden könnte.

»Die andere ist allerdings völlig daneben«, meint Philip nach einer Weile.

»Tara? Ja, die ist unberechenbar.«

Während der letzten Tage hat Brian versucht, Tara Chalmers aus dem Weg zu gehen. Sie gleicht einem wandelnden Geschwür – gereizt, paranoid und in tiefer Trauer um ihren Vater. Aber Brian glaubt, dass sie das irgendwann verarbeiten und überwinden wird. »Eigentlich scheint sie ganz nett zu sein.«

»Sie begreift nicht, dass ich ihr das Leben gerettet habe«, giftet Philip.

Brian hustet drei- oder viermal und meint dann: »Darüber wollte ich mit dir reden.«

Philip blickt ihn an. »Worüber?«

»Darüber, dass sich der alte Mann so verwandelt hat.« Brian wählt seine Worte mit Bedacht. Er weiß, dass er nicht der Einzige ist, der sich darüber Sorgen macht. Seit David Chalmers von den Toten zurückgekehrt ist, um seine ältere Tochter zu verschlingen, hat sich Brian den Kopf darüber zerbrochen, wie so etwas passieren kann, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht und welche Regeln man in dieser wilden, unkontrollierten Welt aufstellen kann. Überhaupt: Wie soll es mit der Menschheit weitergehen? »Denk doch mal nach, Philip. Er ist nicht gebissen worden – oder?«

»Nein, ist er nicht.«

»Warum also hat er sich verwandelt?«

Einen Augenblick lang starrt Philip seinen Bruder ausdruckslos an, und die Finsternis um sie herum scheint sich zu vertiefen. Es ist, als ob die Stadt in der unendlichen Weite eines Traumes stecken würde. Brian läuft es kalt den Rücken runter – als ob die Tatsache, dass er es jetzt endlich ausgesprochen hat, einen übel gesonnenen Flaschengeist freigelassen hätte. Einen Flaschengeist, den man nicht wieder einfangen kann.

Philip nimmt einen Schluck Wein. Sein Gesicht ist wie versteinert. Das kann Brian trotz der Dunkelheit sehen. »Wir wissen so gut wie nichts. Vielleicht hat er sich schon früher infiziert. Vielleicht muss man einen von denen ja nur berühren, und dann arbeitet sich der Virus langsam in einen hinein. Auf jeden Fall hat der alte Mann so oder so auf dem letzten Loch gepfiffen.«

»Wenn das der Fall ist, dann sind wir alle …«

»He, Professor. Jetzt hör mal auf. Wir sind alle gesund, und ich habe nicht vor, dass sich daran etwas ändert.«

»Ich weiß. Ich will damit nur sagen … Vielleicht sollten wir uns Gedanken darüber machen, welche Vorsichtsmaßnahmen wir noch treffen können.«

»Vorsichtsmaßnahmen? Ich habe eine Vorsichtsmaßnahme direkt hier in meiner Hand.« Er greift an die Waffe in seiner Jeans.

»Ich rede von gründlich Hände waschen und Sachen sterilisieren.«

»Und womit?«

Brian seufzt und blickt zum Himmel hinauf. Die Wolken hängen tief – eine dunkle Suppe so finster wie schwarze Wolle. In der Ferne braut sich ein Unwetter zusammen. »Wir haben Wasser in den Toiletten«, fährt er fort. »Wir haben Filter und Propan, wir kommen sogar an Reinigungsmittel, wenn wir uns die Straße hinunterwagen – und Seife und Putzmittel und so.«

»Wir filtern doch das Wasser bereits, Junge.«

»Ja, aber …«

»Und waschen tun wir uns mit diesem Ding, das Nick gefunden hat.« Das ‚Ding’ ist eine Campingdusche, die Nick in der Sportabteilung von Dillard’s mitgenommen hat. Sie ist ungefähr so groß wie eine kleine Kühlbox und hat genug Platz für einen Zwanzig-Liter-Tank. Sie besitzt einen Schlauch mit Duschkopf und wird von einer batteriebetriebenen Pumpe versorgt. Schon seit fünf Tagen genießt jeder den Luxus einer kurzen Dusche, wobei sie das Wasser so gut es geht wiederverwenden.

»Ich weiß, ich weiß … Ich meine doch nur. Vielleicht ist es besser, wenn wir es mit der Sauberkeit ruhig etwas übertreiben. Zumindest so lange, bis wir mehr wissen.«

Philip wirft ihm einen Blick zu. »Und was ist, wenn es nichts weiter herauszufinden gibt?«

Brian antwortet nicht.

Die Stadt brummt weiter finster vor sich hin, und ein fauler, widerlicher Gestank weht ihnen ins Gesicht. Er sagt so viel wie: Fuck you!

Vielleicht ist es die merkwürdige Mischung unappetitlicher Zutaten, die April und Penny zum Abendessen auf dem Campingkocher zubereitet haben – ein Fraß aus Spargel im Glas, Formschinken und zerbröselten Kartoffelchips, der Philip wie ein Stein im Magen liegt. Vielleicht sind es aber auch der Stress, die Wut und die Schlaflosigkeit der letzten Wochen, die ihm zu schaffen machen. Oder war es doch die Unterhaltung mit seinem Bruder auf dem Balkon? Ganz gleich, woran es liegt – auf jeden Fall hat Philip Blake in jener Nacht einen langen und schrecklichen Traum.

Er liegt in seinem neuen Zimmer auf dem großen Doppelbett und wälzt sich unruhig von einer Seite auf die andere. Aprils ehemaliges Schlafzimmer war offensichtlich einmal ein Heimbüro, denn während sie es aufräumten, stießen April und Philip auf allerlei Bestellformulare für Kosmetika, Proben und Muster. Im Schlaf fällt er immer wieder in eine fiebrige Horrorshow. Es ist ein Traum ohne feste Form. Er besitzt weder Anfang noch Mitte oder Ende, sondern dreht sich einfach um den fürchterlichen, allgegenwärtigen Terror.

Philip ist zurück in seiner Kindheit in Waynesboro – zurück in dem heruntergekommenen kleinen Bungalow an der Farrel Street, im Kinderzimmer, das er sich mit Brian teilte. Aber Philip ist kein Kind mehr. Doch nicht nur er hat die Zeitreise zurück in die siebziger Jahre unternommen – die Plage ist ihm gefolgt. Der Traum wirkt erschreckend lebendig und echt. Die Tapete mit den Maiglöckchen, die Iron-Maiden-Poster und der zerkratzte Schreibtisch. Auch Brian befindet sich irgendwo im Haus. Aber anstatt ihn zu sehen, hört Philip nur seine Schreie. Penny ist auch irgendwo und verlangt weinend nach ihrem Vater. Philip eilt auf den Flur, der einem endlosen Labyrinth gleicht. Putz fällt von den Wänden. Eine Horde Zombies wartet draußen, tobt und zetert. Sie wollen herein. Die zugenagelten Fenster sind am Vibrieren. Philip hat einen Hammer und versucht, sie erneut zu sichern. Er klopft weitere Nägel durch die Bretter und in die Holzwand, aber der Hammerkopf fällt vom Stil. Ein Krachen – etwas knarzt. Philip sieht, wie eine Tür langsam dem Druck von außen nachgibt. Er sprintet hin, aber der Türknauf fällt ab, sobald er die Hand danach ausstreckt. Er durchsucht Schubladen und Kommoden nach Waffen. Das Furnier pellt sich von den Holzmöbeln, während der Putz von der Decke rieselt. Die Wände stürzen ein, das Linoleum wölbt sich, und die Fenster fallen aus ihren Rahmen. Philip hört ständig Pennys verzweifeltes Rufen, er hört ihre Schreie, wie sie nach ihm verlangt: »DADDY!«

Knochige Arme schießen durch die kaputten Fenster, und schwarze, gekrümmte Finger greifen nach ihm.

»DADDY!«

Philip entringt ein lautloser Schrei, als der Traum in tausend Scherben zerbirst. Er wacht auf.

Vierzehn

Philip schreckt keuchend auf. Ruckartig setzt er sich hoch und blinzelt ins blassen Morgenlicht. Irgendjemand steht am anderen Ende des Bettes. Nein. Es sind zwei Personen. Jetzt sieht er sie – eine ist groß, die andere eher klein.

»Guten Morgen«, begrüßt ihn April, deren Hand auf Pennys Schulter ruht.

»Verdammt.« Philip lehnt sich ans Kopfteil des Bettes. Er trägt ein Unterhemd und eine Trainingshose. »Mann, wie spät ist es denn?«

»Noch nicht ganz Mittag.«

»Heiliger Strohsack«, murmelt er und versucht, sich zu orientieren. Seine sehnige Gestalt ist von einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Sein Nacken tut weh, und sein Mund schmeckt abgestanden. »Unglaublich.«

»Wir müssen dir etwas zeigen, Daddy«, verkündet Penny, die Augen vor Spannung aufgerissen. Der Anblick seiner Tochter, die so fröhlich vor ihm steht, löst eine wohltuende Welle der Erleichterung in ihm aus und verdrängt die letzten Fetzen seines fiebrigen Traums.

Er steht auf und zieht sich an. »Bin gleich so weit. Gebt mir einen Augenblick, damit ich mich schminken kann«, sagt er mit heiserer Whiskey-Stimme und fährt sich mit den Fingern durch die ungewaschenen Haare.

Dann begleitet er die beiden aufs Dach hinauf. Als sie die Feuertür öffnen und ihnen die kühle Luft entgegenschlägt, kann Philip das grelle Licht kaum ertragen. Obwohl es bewölkt ist, bekommt Philip Kopfschmerzen, und das Tageslicht lässt seinen Kopf fast explodieren. Er blinzelt in den Himmel hinauf und entdeckt die bedrohlichen Gewitterwolken, die von Norden her immer näher rollen. »Sieht nach Regen aus.«

»Das ist gut«, meint April und zwinkert Penny zu. »Zeig ihm warum, Kleine.«

Das Mädchen ergreift die Hand seines Vaters und zerrt ihn quer über das Dach. »Schau mal, Daddy. April und ich haben einen Garten gemacht, um Gemüse anzubauen.«

Sie zeigt ihm das kleine, behelfsmäßige Gärtchen mitten auf dem Dach. Es dauert einen Augenblick, ehe Philip versteht, dass er vor vier zusammengebundenen Schubkarren steht, denen die Räder fehlen. In jeder Wanne liegt eine etwa fünfzehn Zentimeter dicke Schicht Erde, aus der bereits einige Triebe ragen. »Das ist ja prima«, lobt er Penny und drückt ihre Hand. Dann wendet er sich an April. »Das ist wirklich prima.«

»War Pennys Idee«, erwidert April, und der Stolz spiegelt sich in ihren Augen wider. Sie deutet auf eine Reihe Eimer. »Außerdem sammeln wir jetzt Regenwasser.«

Philip saugt April Chalmers hübsches, etwas zerschrammtes Gesicht, ihre meerblauen Augen und die aschblonden Haare, die offen über die Schultern ihres mitgenommenen Wollpullovers mit Zopfmuster hängen, förmlich in sich auf. Er kann sich nicht von ihr abwenden. Selbst als Penny anfängt zu erzählen, was sie alles anbauen möchte – unter anderem Zuckerwattepflanzen und Kaugummibüsche –, kann Philip nur an eines denken: So wie April sich zu Penny gekniet und ihr konzentriert zugehört, wie sie die Hand auf Pennys Rücken gelegt hat, der liebevolle Gesichtsausdruck, die lockere Art und Weise, wie die beiden miteinander umgehen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit – all das signalisiert etwas Tieferes als lediglich den gemeinsamen Wunsch zu überleben.

Philip traut sich kaum, das Wort zu formulieren, und trotzdem überwältigt es ihn auf dem windgepeitschten Dach: Familie.

»Oh! Entschuldigung!«

Die schroffe Stimme kommt von der Feuertür hinter ihnen auf der anderen Seite des Dachs. Philip dreht sich um und entdeckt Tara in einem ihrer schmuddeligen hawaiianischen Fummel. Finster blickend steht sie da und hält einen Eimer in der Hand. Ihr Gesicht mit den riesigen Wangen und den geschminkten Augen sieht noch düsterer und verdrießlicher als gewöhnlich aus. »Wäre es zu viel verlangt, wenn sich jemand beizeiten dazu herablassen könnte, mir zu helfen?«

April steht auf und dreht sich um. »Ich habe doch gesagt, dass ich gleich da bin.«

Offensichtlich hat Tara Wasser aus den Toiletten geholt. Philip überlegt, ob er sich einmischen soll, entscheidet sich aber dagegen.

»Das war vor einer halben Stunde«, knurrt Tara. »In der Zwischenzeit habe ich einen Eimer nach dem anderen durch die Gegend geschleppt, während ihr euch hier oben vergnügt und Sesamstraße spielt.«

»Tara, bitte … Reg dich ab«, stöhnt April. »Warte noch einen Augenblick, und ich bin sofort bei dir.«

»Wunderbar! Wie auch immer!« Eingeschnappt macht Tara eine Kehrtwende und verschwindet genervt im Haus.

April senkt den Blick. »Es tut mir leid, aber sie ist noch nicht so weit. Sie muss noch immer daran denken … Du weißt schon …«

Aprils Miene lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es viel zu lange dauern würde, all die Dinge aufzulisten, die ihrer Schwester gerade auf die Nerven gehen. Philip ist nicht auf den Kopf gefallen. Er weiß, dass es kompliziert ist und Eifersucht und Rivalität zwischen den beiden ebenfalls mit im Spiel sind. Vielleicht wird das Ganze ja noch verschlimmert, da sich April während ihrer Trauer um ihren Vater nicht ausschließlich um Tara kümmert.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, meint Philip. »Aber da gibt es etwas, das ich dir sagen möchte.«

»Ja?«

»Ich wollte dich eigentlich nur wissen lassen, dass ich unheimlich dankbar bin, wie du dich um meine Tochter kümmerst.«

April lächelt. »Sie ist einfach großartig.«

»Ja … Das ist sie … Und du bist auch nicht so schlecht.«

»Oh, vielen Dank!« Sie lehnt sich zu ihm und gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, der seine Wirkung nicht verfehlt. »Und jetzt muss ich wirklich hinunter, sonst erschießt mich meine Schwester noch.«

April verlässt die beiden, während Philip wie vom Donner gerührt zurückbleibt.

Als Kuss war es nichts Besonderes. Philips verstorbene Frau Sarah war eine ausgezeichnete Küsserin. Verdammt – seit Sarahs Tod hat Philip die Dienste von Prostituierten in Anspruch genommen, die sich mehr ins Zeug legten. Auch diese Frauen haben Gefühle, und Philip fragte für gewöhnlich immer zu Anfang, ob es ihnen etwas ausmache, wenn er sie ab und zu küssen würde – wenn auch nur, um so zu tun, als ob Liebe mit im Spiel wäre. Aber dieses Küsschen von April war eher wie ein Hors d’œuvre, ein Hinweis darauf, was noch alles geschehen könnte. Philip versteht den Kuss nicht als ein Spiel – genauso wenig, wie er platonisch gemeint war. Nein, dieser Kuss befindet sich in jenem unwiderstehlichen Zwischenstadium zwischen zwei Polen. So wie Philip es sieht, war es ein Anklopfen. Sie hat an die Tür geklopft, um zu sehen, ob jemand zu Hause ist.

Nachmittags wartet Philip vergebens auf den Regen, er will einfach nicht kommen. Es ist bereits Mitte Oktober – Philip hat keine Ahnung, welcher Tag –, und jeder erwartet die üblichen Regengüsse, die Zentral-Georgia normalerweise um diese Zeit heimsuchen. Aber irgendetwas hält sie zurück. Die Temperaturen fallen, und die Luftfeuchtigkeit steigt, aber der Regen bleibt noch immer fern. Vielleicht hat die Dürre ja etwas mit der Plage zu tun. Aus welchem Grund auch immer – Tatsache ist, dass der unruhige Himmel mit seinen dunklen Gewitterwolken die merkwürdig unerklärliche Anspannung widerspiegelt, die sich langsam immer stärker in Philip aufbaut.

Am späten Nachmittag fragt er April, ob sie ihn nach unten auf die Straße begleiten will.

Sie zu überreden stellt sich als ein hartes Stück Arbeit heraus, obwohl die Anzahl der Zombies seit dem letzten Mal, als sie sich hinaustrauten, drastisch zurückgegangen ist. Er gibt vor, sie für einen Aufklärungseinsatz zu brauchen, um Baumärkte wie Home Depot oder Lowe’s nach Generatoren zu durchforsten. Es wird immer kälter, insbesondere nachts, und es wird nicht mehr lange dauern, bis Elektrizität überlebenswichtig für sie wird. Schließlich überredet er sie, indem er ihr sagt, dass er jemand Ortskundigen brauche.

Er will ihr zudem die Sicherheitszonen zeigen, die Nick ausgemacht und markiert hat. Nick bietet sich an, ebenfalls mitzukommen, aber Philip lehnt ab. Er versichert ihm, dass er besser hier aufgehoben sei, wo er sich zusammen mit Brian um die anderen kümmern könne.

April lässt sich schließlich überreden. Ihr wird aber bei dem Anblick der wackelnden Brücke Marke Eigenbau etwas mulmig. Was ist, wenn es tatsächlich zu regnen anfängt und sie rutschig wird? Philip erklärt ihr, dass es ganz einfach sei, insbesondere für jemand so Leichten, wie sie es sei.

Sie ziehen sich also Mäntel und feste Schuhe an und bewaffnen sich. April nimmt eins der Marlins. Schließlich sind die beiden bereit, die Sicherheit der Wohnung zu verlassen. Tara ist sauer und empört über ihre »dämliche, gefährliche, kindische und grenzdebile Zeitverschwendung«. Philip und April ignorieren ihre Schimpftirade höflich.

»Nicht hinunterschauen!«

Philip ist schon zur Hälfte über die Laufplanke gekrochen. April folgt ihm in einem Abstand von drei Metern und hält sich so fest, wie sie nur kann. Philip wirft einen raschen Blick über die Schulter und lächelt. Das Mädchen hat echt Mumm in den Knochen!

»Kein Problem«, ruft sie zurück und arbeitet sich mit zusammengebissenen Zähnen und angespannten Muskeln weiter vor. Der Wind weht ihr durch die Haare. Zehn Meter unter ihr starren zwei Untote dumpf durch die Gegend und suchen nach dem Ursprung der Stimmen.

»Gleich haben wir es«, ermutigt Philip sie. Er erreicht die andere Seite.

Sie hat noch sechs Meter vor sich, ehe er ihr hilft, auf den Vorsprung der Feuerleiter zu steigen. Das gusseiserne Gerüst ächzt unter dem Gewicht.

Dann sind sie bei dem offenen Fenster und klettern in das Gebäude der ehemaligen Steuerberater Stevenson & Sons. Die Korridore sind dunkler und kälter als beim letzten Mal, als Philip hier war. Es ist, als ob der drohende Sturm sämtliches Licht verschluckt hätte.

Sie eilen die leeren Flure entlang. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigt Philip April, als sie über Müll und zerknitterte Steuererklärungen steigen. »Hier sind wir sicher. Zumindest so sicher, wie man es heutzutage überhaupt noch sein kann.«

»Das ist nicht besonders beruhigend«, gibt sie zurück, die Waffe gezückt und den Zeigefinger am Hahn.

Sie trägt ein zerfetztes Fleecehemd und Jeans und hat wie immer Ärmel und Hosenbeine mit Klebeband zugeschnürt. Sie ist die Einzige, die sich diese Mühe macht. Philip fragte sie einmal, was sie damit eigentlich bezwecke. Sie erklärte ihm, dass sie einmal ein TV-Programm gesehen habe, in dem ein Trapper – immerhin ein gutes Vorbild – dieses Verkleben als gute Vorsichtsmaßnahme gegen Verletzungen bezeichnet hatte.

Sie durchqueren die Empfangshalle und gelangen zur Treppe und den Verkaufsautomaten.

»Schau dir das an«, sagt Philip und steigt die Treppe zur unmarkierten Metalltür empor. Er hält inne, ehe er sie öffnet. »Kennst du Kapitän Nemo?«

»Wen?«

»Aus einem alten Film: 20.000 Meilen unter dem Meer. Der alte, verrückte Kapitän spielt Orgel in einem U-Boot, während ein Riesenkrake an den großen Panoramafenstern vorüberschwimmt.«

»Nie gesehen.«

Philip lächelt sie an. »Nun, das wird sich gleich ändern.«

April Chalmers ist es inzwischen gewöhnt, dass ihr nichts außer brutalste Gewalt die Sprache verschlägt. Sonst nichts. Mit dieser Erwartung folgt sie Philip durch die Metalltür auf die Fußbrücke hinaus. Auf der Schwelle hält sie inne.

Eine solche Fußgängerbrücke ist nichts Neues für sie, vielleicht war sie sogar schon einmal hier gewesen. Aber heute Abend ist es mit den letzten Lichtstrahlen und dem großen, überdachten Raum zehn Meter über der Kreuzung etwas ganz Besonderes. Durch das gläserne Dach sind feine Blitze in der Ferne zu erkennen, welche die Wolken erhellen. Die transparenten Wände geben den Blick auf die länger werdenden Schatten der Stadt frei, die vor Zombies nur so wimmelt. Ganz Atlanta gleicht einem riesigen Brettspiel, auf dem allerdings eine chaotische Unordnung herrscht.

»Jetzt verstehe ich«, sagt sie schließlich. Es ist eher ein Murmeln, so beschäftigt ist sie damit, alles in sich aufzunehmen. Außerdem spürt sie eine merkwürdige Mischung aus Emotionen: Schwindelgefühl, Angst und Aufregung.

Philip stellt sich in die Mitte der Brücke und wirft seine Tasche zu Boden, ehe er nach Süden nickt. »Ich möchte dir noch etwas zeigen«, erklärt er. »Komm bitte mal hierher.«

Sie tritt zu ihm und lehnt ihr Gewehr an das Plexiglas. Die Tasche stellt sie daneben.

Philip deutet auf die roten Sterne, mit denen Nick Parsons die leer stehenden Autos, Busse und Eingänge markiert hat. Dann erklärt er die Idee mit den sogenannten Sicherheitszonen und lobt Nick für seine Umsicht und Cleverness. »Ich glaube, dass er das richtig gut macht.«

April stimmt Philip zu. »Wir können die Verstecke gut gebrauchen, um den Generator zu finden, von dem jeder redet.«

»Das denke ich auch.«

»Nick ist ein netter Kerl.«

»Das ist er.«

Dunkelheit legt sich über die Stadt, und in den blauen Schatten der Brücke erscheint Philips markantes Gesicht noch rauer und schroffer als gewöhnlich. Mit seinem schwarzen Fu-Manchu-Schnurrbart und den dunklen, in Lachfalten eingenisteten Augen erinnert er April an eine Mischung aus einem jungen Clint Eastwood und … An wen noch? An ihren Vater als jungen Mann? Ist das der Grund, warum sie immer wieder diese Anziehung zu diesem großen, schlaksigen Landei verspürt? Geht es ihr denn so schlecht, dass allein die Ähnlichkeit zu ihrem Vater reicht, einen Mann attraktiv zu finden? Oder hat diese verrückte Schwärmerei mehr mit dem Stress zu tun, in einer Welt zu leben, die dem Untergang geweiht ist? Um Himmels willen, das ist der Mann, der ihrem Vater den Schädel gespalten hat! Aber das war nicht mehr David Chalmers. Wie heißt es so schön? Die Seele ihres Vaters war schon längst zum Himmel gestiegen. Sie war bereits im Jenseits, als er aus dem Bett kletterte, um seine älteste Tochter zu beißen.

»Übrigens glaube ich«, fährt Philip fort und beobachtet in der Finsternis einige Zombies und streunende Hunde, die auf der Suche nach Nahrung durch die Straßen ziehen, »dass wir gar nicht so viel brauchen, um es uns auch längerfristig in der Wohnung gemütlich machen zu können.«

»Das denke ich auch. Zuerst aber brauchen wir Valium, damit wir es Tara heimlich zum Frühstück verabreichen können«, scherzt sie.

Philip lacht – ein sonores, echtes Lachen – und zeigt April eine Seite von ihm, die sie bisher noch nicht kannte. Er blickt sie an. »Das ist unsere Chance. Wir könnten das schaffen, und wir können mehr als nur überleben. Und ich spreche jetzt nicht nur von einem blöden Generator.«

April erwidert seinen Blick. »Wie soll ich das verstehen?«

Er tritt näher zu ihr. »Ich habe ja schon die eine oder andere Frau in meinem Leben kennengelernt, aber keine war so zäh wie du. So stark … Doch die Zuneigung und Zärtlichkeit, die du Penny gegenüber an den Tag legst … Ich habe noch nie erlebt, dass Penny einen Menschen so schnell in ihr Herz schließt. Verdammt, und du hast uns vor dem sicheren Tod gerettet, als du uns von der Straße aufgelesen hast. Du bist eine ganz besondere Frau – weißt du das?«

Plötzlich wird es April ganz heiß. Im Bauch hat sie ein flaues Gefühl, und sie begreift, dass Philip sie auf einmal anders wahrnimmt. Seine Augen schimmern. Sie weiß, dass er das Gleiche gedacht haben muss wie sie. Sie blickt peinlich berührt zu Boden. »Da kannst du aber keine hohen Erwartungen haben«, murmelt sie.

Er streckt den Arm nach ihr aus und berührt ihre Wange mit seiner großen, schwieligen Hand. »Ich habe sogar deutlich höhere Erwartungen als die anderen.«

Draußen am Himmel donnert es, die Brücke bebt, sodass April zusammenzuckt.

Philip küsst sie auf die Lippen.

Sie tritt einen Schritt zurück. »Ich weiß nicht, Philip … Ich meine … Ich weiß nicht, ob … Verstehst du?«

April wird von unterschiedlichen Gefühlen erfasst. Wenn sie sich darauf einlässt, es zulässt, was wird dann aus Tara? Wird es die Gemeinschaft in der Wohnung durcheinanderbringen? Wird dadurch alles noch komplizierter? Welche Auswirkungen hat es wohl auf ihre Sicherheit, auf ihre Überlebenschancen, ihre Zukunft – wenn sie denn eine haben?

Philips Miene holt sie wieder in die Gegenwart zurück. Er sieht sie mit einem beinahe glasigen, gefühlvollen Blick an, der Mund ein wenig offen vor Verlangen.

Er beugt sich vor und küsst sie erneut. Diesmal kann sie nicht anders, als auch ihre Arme um ihn zu legen und seinen Kuss zu erwidern. Sie bemerkt gar nicht, dass die ersten Regentropfen auf die Plexiglasscheiben fallen.

April spürt, wie sich ihr Körper Philips starker Umarmung hingibt. Ihre Lippen öffnen sich, und sie erbebt immer wieder, als sie sich mit ihren Zungen erkunden. Ihre Sinne sind von Philips Geschmack nach Kaffee, Pfefferminzkaugummi und seinem männlichen Geruch ganz benommen, sodass sich ihre Brustwarzen unter dem gestrickten Pullover zusammenziehen.

Ein bläulicher Blitz erhellt die Finsternis und taucht alles in ein silbriges Licht.

April weiß nicht, wie ihr geschieht. Ihr wird fast schwindelig, und sie bemerkt gar nicht, dass Regen auf das Glasdach prasselt. Sie nimmt nicht einmal wahr, dass Philip sie langsam auf den Boden der Fußgängerbrücke zieht. Ihre Lippen sind aufeinandergepresst, während Philips Hände ihre Brüste liebkosen. Vorsichtig drückt er sie mit dem Rücken gegen eine Glaswand, und ehe sie weiß, wie ihr geschieht, drängt er sich gegen sie.

Ein Sturm tobt jetzt über der Stadt, und es gießt in Strömen. Der Donner rollt, Blitze schlagen in die hohen Gebäude ein und jagen Funken in die Luft, während Philip in dem blauen Licht Aprils Pullover über ihren nackten Bauch und ihren BH zieht.

Seine Finger öffnen ihre Gürtelschnalle. Der Donner rollt unentwegt über sie hinweg. April spürt die drängenden Bewegungen von Philips Lenden zwischen ihren Beinen. Blitze flackern. Ihre Jeans sind schon über die Knie gestreift, ihre Brüste entblößt.

Ein Finger liebkost ihren Bauch, und ganz plötzlich, als ob jemand einen Schalter in ihrem Inneren umgelegt hätte – gerade als ein lauter Donnerschlag ertönt –, schießt ihr der Gedanke durch den Kopf: WARTE.

BUUUUUUUUM!

WARTE!

Eine Flutwelle des Verlangens spült Philip Blake ins tosende Wasser der Lust.

Aus unendlicher Ferne glaubt er, Aprils Stimme zu hören. Sie fleht ihn an: Halt, warte, stopp, hör zu, hör zu, das ist mir zu viel, ich bin noch nicht so weit, bitte, bitte, hör auf, jetzt. Aber Philip nimmt sie kaum wahr. Sein Gehirn schwimmt auf einer Woge der Begierde, der Sehnsucht, des Schmerzes, der Einsamkeit und der absoluten Notwendigkeit, endlich wieder etwas zu spüren. In diesem Augenblick ist sein ganzes Wesen mit seiner Leistengegend verkabelt, und sämtliche angestauten Gefühle strömen an seinem Kopf vorbei in seine Lenden.

»Um Gottes willen, ich flehe dich an, hör endlich auf!«, ertönt die Stimme in der Ferne erneut, und Aprils Körper erstarrt.

Philip reitet die sich windende Frau unter ihm, als ob er eine Pipeline weißen Rauschens surft. Er weiß, dass sie ihn insgeheim will, ihn liebt, obwohl sie etwas anderes sagt. Also stößt er immer und immer wieder in großen, magnesiumhellen Blitzen und roher Energie in sie, füllt sie aus und verwandelt sie, bis sie unter ihm erschlafft und es still wird.

Die sanfte weiße Explosion der Lust startet wie eine Rakete in Philip.

Er rutscht von April auf den Boden neben ihr und starrt eine Weile in den Regen, der auf das Dach prasselt. Für einen Moment ist er sich der untoten Seelen zehn Meter unter ihm nicht mehr bewusst, die von dem stroboskopartigen Licht wie Monster in einem Stummfilm erhellt werden.

Philip versteht Aprils Schweigen als ein Zeichen, dass vielleicht mit viel Glück alles okay ist. Als der Sturm zu einem stetigen Dauerregen abgeklungen ist – das Dröhnen erfüllt noch immer die überdachte Brücke –, ziehen sich die beiden wieder an und bleiben lange Seite an Seite liegen. Sie starren auf die Tropfen, die auf das durchsichtige Dach niederprasseln, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.

Philip ist in einem Schockzustand. Sein Herz rast, die Haut ist feucht und kalt. Er kommt sich wie ein zerbrochener Spiegel vor – als ob eine Scherbe seiner Seele abgebrochen wäre und sich darin ein Monster widerspiegelt. Was hat er getan? Er weiß, dass er etwas falsch gemacht hat, aber es fühlt sich beinahe so an, als ob es jemand anderes gewesen wäre.

»Ich habe mich da etwas mitreißen lassen«, sagt er endlich nach Minuten fürchterlicher Stille.

Sie antwortet nicht. Er wirft ihr einen heimlichen Blick zu und beobachtet ihr Gesicht in der Dunkelheit. Die flüssigen Schatten des Regens spiegeln sich auf ihrer Haut. Sie sieht aus, als ob sie kaum bei Bewusstsein wäre, als ob sie einen Wachtraum durchleben würde.

»Es tut mir leid«, meint er kurz darauf, aber die Worte klingen hohl. Er sieht sie erneut an und versucht ihre Stimmung einzuschätzen. »Alles okay?«

»Ja.«

»Sicher?«

»Ja.«

Ihre Stimme klingt mechanisch, ohne Farbe und kaum hörbar über dem Getöse des Regens. Philip öffnet erneut den Mund, hält dann aber inne, als ihm unterschiedliche Gedanken durch den Kopf schießen. Plötzlich donnert und rumpelt es so heftig, dass die Fußgängerbrücke zu wanken und zu wackeln beginnt. Philip zuckt zusammen.

»April?«

»Ja?«

»Wir sollten uns auf den Rückweg machen.«

Der Heimweg erfolgt schweigend. Philip folgt April durch die menschenleere Eingangshalle, die Treppe hinauf und dann durch die langen, zugemüllten Korridore. Ab und zu zieht er in Erwägung, etwas zu sagen, doch er entscheidet sich jedes Mal dagegen. Jetzt ist es sowieso schon zu spät, noch etwas zu tun. Sie wird zu ihrem eigenen Schluss kommen. Wenn er jetzt das Wort an sie richtet, macht er es vielleicht nur noch schlimmer. April läuft vor ihm den Korridor entlang, das Gewehr auf der Schulter. Sie gleicht einem Soldaten, der von einer anstrengenden Patrouille zurückkehrt. Sie befinden sich jetzt im obersten Stockwerk und stehen vor dem offenen Fenster. Der Wind peitscht den Regen durch die mit Scherben eingerahmte Öffnung. Sie reden nur das Nötigste. »Du zuerst« oder »Pass auf«, während Philip ihr hilft, auf die Feuerleiter zu gelangen. Der Sturm zusammen mit dem starken Regen pfeift ihnen um die Ohren, als sie sich auf den Weg über den wackeligen Laufsteg machen. Philip gefällt es beinahe. Er muss sich vorsehen. Das Unwetter weckt ihn auf und lässt ihn hoffen, dass er vielleicht doch alles wiedergutmachen kann, was er dieser Frau an diesem Abend angetan hat.

Als sie wieder vor der Wohnungstür stehen – beide bis auf die Haut durchnässt, erschöpft und benommen –, ist Philip fast guten Mutes.

Brian ist zusammen mit Penny in Philips Zimmer und bringt sie gerade ins Bett, während Nick im Wohnzimmer an seiner Karte der Sicherheitszonen arbeitet. »He, wie war es?«, fragt er und blickt von seinen Papieren auf. »Ihr seht ja wie begossene Pudel aus. Habt ihr einen Baumarkt oder so etwas Ähnliches gefunden?«

»Nein, leider nicht«, antwortet Philip und geht zu seinem Zimmer. Davor bleibt er stehen, um sich die Schuhe auszuziehen.

April sagt kein Wort und meidet Nicks fragenden Blick, als sie in den Flur tritt.

»Schaut euch beide an«, meint Tara, die mit grimmiger Miene aus der Küche kommt, eine Zigarette im Mundwinkel. »Genau, wie ich es mir gedacht habe – ein total fruchtloses Unterfangen!«

Sie steht da, die Hände in die Hüften gestemmt. April verschwindet in ihrem Zimmer am Ende des Flurs, ohne auf Taras Worte zu reagieren. Tara wirft Philip einen fragenden Blick zu und geht dann ihrer Schwester hinterher.

»Ich lege mich schlafen«, verkündet Philip halb an Nick und halb an sich selber gerichtet und geht in sein Zimmer.

Am nächsten Morgen wacht Philip vor Sonnenaufgang auf. Der Regen prasselt noch immer gegen die Scheiben, und sein Zimmer ist kalt und dunkel. Es stinkt nach Schimmel. Er setzt sich auf die Bettkante und starrt unendlich lange auf Penny, die zusammengerollt in ihrem Bett schlummert. Nicht ganz klare Erinnerungen an einen Traum hallen in seinem benebelten Kopf nach – genauso wie die erschreckende Erkenntnis, dass er keine Ahnung hat, wann die Albträume angefangen und der Vorfall mit April am vorigen Abend aufgehört haben.

Wenn er doch nur alles geträumt hätte, was gestern auf der Fußbrücke vorgefallen ist! Aber die gnadenlose Gewissheit der Realität holt ihn in dem dunklen Zimmer in Gestalt von ein paar Erinnerungen ein. Es ist, als ob er jemand anderem bei der Tat zuschauen würde. Philip lässt den Kopf hängen und versucht, die Schuldgefühle und die Angst zu verdrängen.

Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar und redet sich ein, dass er eigentlich voller Hoffnung sein sollte. April und er können das schon verarbeiten, einen Weg finden, es hinter sich zu lassen. Er muss sich entschuldigen und alles wiedergutmachen.

Er betrachtet Penny, wie sie schläft.

In den zweieinhalb Wochen, die Philip und seine Bande jetzt schon bei den Chalmers verbracht haben, ist Penny aus ihrem Schneckenhaus gekommen. Zu Anfang waren es noch kleine Dinge, die ihm auffielen: Penny freute sich immer darauf, das schreckliche Essen zu kochen. Ihre Miene hellte sich auf, wenn April das Zimmer betrat. Mit jedem Tag wurde das Kind gesprächiger und offener, es hat sich sogar an Erlebnisse vor der Plage erinnert, ein paar Worte über das Wetter verloren und Fragen zur »Krankheit« gestellt: »Können Tiere angesteckt werden? Hört es irgendwann wieder auf? Ist Gott wütend auf uns?«

Philips Brust schmerzt, als er das schlafende Kind betrachtet. Es muss einen Weg geben, seiner Tochter ein gutes Leben zu bieten, eine Familie zu gründen, ein Heim einzurichten – sogar inmitten dieses Albtraums … Es muss doch einfach einen Weg geben.

Für einen kurzen Augenblick erträumt sich Philip eine kleine Insel mit einer Hütte und Kokospalmen. Die Plage ist eine Million Lichtjahre entfernt. Er stellt sich April und Penny vor, wie sie vor dem Gemüsegarten zusammen mit der Schaukel spielen. Er sitzt auf der Veranda, braungebrannt und gesund, und schaut den beiden glücklich zu. In dieser Vision führt er ein zufriedenes Leben.

Er steht auf und geht zu Penny hinüber, kniet sich hin und legt eine Hand auf ihre daunenweichen Haare. Sie muss sich endlich einmal duschen, denn ihre Haare sind verfilzt und fettig, und ihr kindlicher Schweiß steigt ihm in die Nase. Der Geruch berührt ihn im Tiefsten seiner Seele. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Er hat noch nie jemanden mehr geliebt als sein Kind. Selbst Sarah, die er vergöttert hat, belegte den zweiten Platz. Seine Liebe für Sarah – wie bei den meisten Ehepaaren – war kompliziert, an diverse Bedingungen geknüpft und unterlag Schwankungen. Aber als er vor siebeneinhalb Jahren das erste Mal sein kleines Baby sah, als es noch ganz blutig war, verstand er, was wahre Liebe heißt.

Es heißt, Angst zu haben. Es heißt, für den Rest des Lebens verletzlich zu sein.

Irgendetwas reißt ihn aus den Gedanken. Seine Tür steht offen. Er erinnert sich daran, dass er sie gestern Abend geschlossen hat. Das weiß er genau. Jetzt aber steht sie zwanzig Zentimeter offen.

Zuerst achtet er kaum darauf. Er macht sich keine Gedanken. Schließlich ist es möglich, dass er sie aus Versehen nicht richtig zumachte, sodass sie von allein wieder aufging. Oder vielleicht stand er in der Nacht zum Pinkeln auf und vergaß, sie wieder zu schließen. Oder Penny musste mal und ließ sie dann offen. Verdammt, vielleicht ist er ja sogar ein Schlafwandler und weiß es nicht! Doch dann, als er sich wieder umdreht, um seiner Tochter erneut beim Schlafen zuzusehen, bemerkt er noch etwas.

Es fehlen einige Dinge aus seinem Zimmer.

Philips Herz beginnt zu pochen. Sein Rucksack – der Rucksack, den er vor zwei Wochen dabeihatte, als sie den Chalmers über den Weg liefen – stand immer an der Wand. Aber jetzt ist er nicht mehr da. Und auch seine Pistole ist verschwunden. Er legte die Ruger samt dem letzten Magazin auf den Nachttisch. Aber auch die Munition ist wie vom Erdboden verschluckt.

Philip springt auf.

Er lässt einen Blick durch das Zimmer schweifen. Das trübe Morgenlicht reicht, um den Raum zu erhellen und Schatten des Regens draußen vor dem Fenster an die Wand zu werfen. Seine Stiefel stehen auch nicht mehr da, wo er sie hingestellt hat. Die waren hundertprozentig unter dem Fenster! Wer zum Teufel sollte ihm seine Stiefel wegnehmen? Er ermahnt sich, Ruhe zu bewahren. Es muss eine einfache Erklärung geben. Überhaupt gibt es keinen Grund, sich aufzuregen. Doch dass seine Pistole verschwunden ist, macht ihm Sorgen. Er entschließt sich, nichts zu überstürzen und die Sache Schritt für Schritt anzugehen.

Leise, damit Penny nicht aufwacht, schleicht er durchs Zimmer und schlüpft aus der Tür in den Gang.

Die Wohnung ist still. Brian schläft im Wohnzimmer auf dem ausziehbaren Bett. Philip geht in die Küche und macht den Campingkocher an, um sich aus dem Regenwasser in einem der Eimer einen Kaffee zu machen. Er wäscht sich oberflächlich das Gesicht und versucht, Ruhe zu bewahren und erst einmal tief Luft zu holen.

Mit dem Kaffee in der Hand untersucht er den Rest der Wohnung. Er geht den Gang entlang zu Aprils Schlafzimmer.

Ihre Tür steht offen.

Er späht hinein und sieht, dass das Zimmer leer ist. Sein Puls schlägt schneller.

»Sie ist nicht da«, sagt jemand hinter ihm.

Er dreht sich um. Tara Chalmers steht direkt vor ihm. Sie hat seine Ruger in der Hand und richtet den Lauf auf Philips Kopf.

Fünfzehn

Äh, Schwester … Immer schön locker bleiben.« Philip bewegt sich nicht vom Fleck, sondern steht wie angefroren da – die eine Hand erhoben, in der anderen den Kaffeebecher. Er hält diese Hand so von sich gestreckt, als ob er den Kaffee anbieten wollte. »Was auch immer los ist, ich bin mir sicher, dass wir darüber reden können.«

»Ehrlich?« Tara Chalmers blickt ihn mit ihrem geschminkten Gesicht finster an. Ihre Augen funkeln. »Das glaubst du wirklich?«

»Hör zu … Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, Schwester, aber …«

»Was hier vor sich geht«, unterbricht sie ihn ohne ein Anzeichen von Nervosität oder Angst, »ist Folgendes: Es werden sich ein paar Dinge ändern.«

»Tara. Was auch immer du …«

»Lass mich eines klarstellen.« Ihre Stimme klingt ruhig und emotionslos. »Du hältst jetzt deinen Mund und tust genau das, was ich dir sage, oder ich werde dich wegpusten. Und glaub bloß nicht, dass ich bluffe.«

»Das ist …«

»Weg mit dem Becher.«

Philip gehorcht und stellt den Kaffee langsam auf den Boden. »Okay, Schwester. Wie du willst.«

»Hör auf, mich Schwester zu nennen.«

»Ja, Ma’am.«

»Und jetzt holen wir deinen Bruder, deinen Freund und die Kleine.«

Adrenalin schießt durch Philips Adern. Er glaubt nicht, dass Tara es in sich hat, ihm wirklich wehzutun, und er zieht in Erwägung, sich auf sie zu werfen, um sich seine Waffe zurückzuholen. Immerhin sind es von ihm bis zum Lauf der Ruger nicht einmal zwei Meter. Aber er widersteht der Versuchung. Es ist besser, erst einmal zu gehorchen und sie zum Reden zu bringen.

»Darf ich etwas sagen?«

»SETZ DEINEN HINTERN IN BEWEGUNG!«

Ihr plötzliches Schreien durchschneidet die Stille und ist laut genug, um nicht nur Penny und Brian aufzuwecken, sondern wahrscheinlich auch Nick, der sowieso ein Frühaufsteher ist, im oberen Stockwerk aufzuschrecken. Philip macht einen Schritt auf Tara zu. »Wenn du mir nur eine Chance geben würdest …«

Die Ruger explodiert.

Der Schuss geht daneben – vielleicht absichtlich, vielleicht auch nicht –, und die Kugel schlägt ein Loch in die Wand einen halben Meter über Philips linker Schulter. Der Knall der Pistole hallt in dem winzigen Flur ohrenbetäubend laut wider. Philips Ohren dröhnen. Ein Stück Putz fliegt ihm mit voller Wucht ins Gesicht und bleibt an seiner Wange kleben.

Er kann Tara durch den dichten Rauch kaum ausmachen. Entweder lächelt sie oder schneidet eine Grimasse – schwer zu sagen.

»Der nächste Schuss landet in deinem Gesicht«, hört er sie sagen. »Willst du jetzt ein guter Junge sein oder was?«

Nick Parsons hört den Schuss, kurz nachdem er die Bibel für seine Morgenandacht aufgeschlagen hat. Er sitzt im Bett, den Rücken an das Kopfteil gelehnt, und zuckt bei dem Knall zusammen, wodurch er das Buch fallen lässt. Es war an der Stelle der Johannes-Offenbarung, Kapitel eins, Vers neun aufgeschlagen, wo Johannes verkündet: »Ich, Johannes, euer Bruder, teile mit euch die Bedrängnis und die Hoffnung auf Gottes neue Welt und die Standhaftigkeit, die Jesus uns schenkt.«

Nick springt aus dem Bett und eilt zum Schrank, um sich sein Gewehr zu schnappen, das dort eigentlich an der Wand stehen sollte. Tut es aber nicht. Panik kriecht Nicks Rückgrat empor, und er dreht sich um, lässt den Blick durchs Zimmer schweifen und bemerkt, was alles fehlt. Sein Rucksack – weg. Seine Schachtel mit Munition – weg. Seine Werkzeuge, sein Pickel, seine Stiefel, seine Karten – alles weg.

Zumindest ist seine Jeans noch da, schön sorgfältig zusammengefaltet und über die Rücklehne des Stuhls gelegt. Er springt förmlich in die Hose und rennt dann aus dem Schlafzimmer durch die kleine Wohnung aus der Tür hinaus den Flur entlang. Die Treppe lässt er in Windeseile hinter sich, ehe er in den Gang im Parterre einbiegt. Er glaubt, ein Schreien zu hören. Irgendjemand scheint sehr wütend, aber ganz sicher ist er sich nicht. Er läuft auf die Wohnung der Chalmers zu. Die Tür ist nicht abgeschlossen, und er tritt ein.

»Was ist los? Was zum Teufel ist hier los?«, fragt Nick, als er im Wohnzimmer abrupt anhält. Er sieht etwas, was keinen Sinn ergibt. Vor ihm steht Tara Chalmers mit erhobener Waffe – Philips Waffe – und bedroht seinen besten Freund, der eine merkwürdige Grimasse zieht. Daneben ist Brian, der Penny an sich gezogen und seine Arme schützend um sie gelegt hat. Und was noch merkwürdiger ist: All ihre Sachen sind als großer Haufen mitten im Wohnzimmer vor dem Sofa aufgetürmt.

»Los, du auch. Zu den anderen«, befiehlt Tara und weist ihm den Weg mit dem Lauf der Waffe zu Philip, Brian und Penny.

»Was ist passiert?«

»Ruhe. Ihr tut, was ich sage.«

Nick gehorcht zwar, aber er ist verwirrt. Was um Himmels willen geht hier vor sich? Unwillkürlich wirft Nick Philip einen Blick zu und sucht in den Augen des großen Mannes nach einer Antwort. Aber zum ersten Mal, seitdem Nick Philip Blake kennt, macht er einen beinahe kleinlauten, belämmerten Eindruck. Frustration und Unschlüssigkeit stehen ihm im Gesicht geschrieben. Nick schaut Tara an. »Wo ist April? Was ist passiert?«

»Das geht dich nichts an.«

»Was hast du vor? Was soll das, unsere ganze Sachen in einem Haufen auf …«

»Nicky«, meldet sich Philip zu Wort. »Vergiss es. Tara wird uns schon sagen, was sie mit uns vorhat. Und wir werden brav gehorchen, und alles wird sich in Wohlgefallen auflösen.«

Philip hat zwar mit Nick gesprochen, sieht aber die ganze Zeit über Tara an.

»Hör auf deinen Freund, Nick«, rät diese. Auch sie richtet sich zwar an Nick, starrt aber unentwegt Philip an. Ihre Augen funkeln vor Abscheu, Rache und irgendetwas anderem – etwas, das Nick nicht versteht, etwas das eine beunruhigend intime Qualität an sich zu haben scheint.

Plötzlich meldet sich Brian zu Wort: »Und was genau hast du mit uns vor?«

Tara behält Philip weiterhin im Auge, als sie befiehlt: »Raus mit euch!«

Zuerst klingt dieser einfache Imperativ für Nick Parsons wie reine Rhetorik. Er glaubt nicht, dass Tara sie herumkommandiert, sondern es kommt ihm so vor, als ob sie ein Zeichen setzen will. Aber dieser erste Eindruck – oder ist es vielleicht nur eine vage Hoffnung – verschwindet in dem Augenblick, in dem er Taras Gesicht bemerkt.

»Raus!«

Philip starrt sie weiterhin an. »Wo ich herkomme, heißt so etwas Mord.«

»Nenne es, wie du willst. Schnappt euch eure Sachen und verschwindet.«

»Willst du uns ohne Waffen auf die Straße schicken?«

»Ich werde noch viel mehr tun als das«, erwidert sie. »Ich werde mit einem eurer Gewehre auf das Dach steigen und sicherstellen, dass ihr auch wirklich die Kurve kratzt.«

Nach einem langen Augenblick des Schweigens schaut Nick seinen Kumpel fragend an.

Endlich wendet Philip den Blick von der beleibten, vollbusigen Frau mit der Pistole in der Hand ab. »Nimm dein Zeug«, fordert er Nick auf und wendet sich dann an Brian, »Ich habe einen Regenumhang in meinem Rucksack – kannst du ihn Penny umwerfen?«

Sie brauchen kaum Zeit, um zu packen und sich fertigzumachen – vielleicht fünf Minuten. Tara Chalmers steht die ganze Zeit über Wache. Brian kann es nicht so recht fassen, aber er hält den Mund und überlegt. Was hat das alles ausgelöst? Er schnürt seine Stiefel, legt den Regenumhang um Penny und kommt zu dem Schluss, dass alles auf irgendeine kranke Dreiecksbeziehung hinweist. Allein die Tatsache, dass April nicht hier ist, spricht Bände. Genau wie Taras unnachgiebige, selbstgerechte Wut. Aber worin liegt der wahre Grund für ihr Verhalten? Es kann nichts mit Philip zu tun haben. Nichts mit dem, was er gesagt oder getan hat. Also – was konnte die beiden Frauen so tief verletzen?

Für einen verrückten Augenblick wird Brian zurück in die Vergangenheit katapultiert, zurück zu seiner wahnsinnigen Exfrau. Zwanghaft, explosiv und unzuverlässig, war Jocelyn durchaus imstande, ebenfalls solche Dinge durchzuziehen. Plötzlich war sie für Wochen verschwunden. Einmal, als Brian auf der Abendschule war, warf sie sein ganzes Hab und Gut auf die Treppe vor ihr Mietshaus, als ob sie einen Schmutzfleck aus ihrem Leben wischen wollte. Aber das hier ist anders. Die Chalmers-Frauen haben bisher nicht den Eindruck gemacht, als ob sie irrational oder verrückt wären.

Was Brian am meisten Sorgen macht, ist das Verhalten seines Bruders. Unter der Oberfläche seiner Verärgerung, seiner Wut und Frustration wirkt Philip Blake beinahe hoffnungslos. Das ist ein Hinweis, ein wichtiger Hinweis. Nur dumm, dass er nicht genügend Zeit hat, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

»Los, dann lasst uns gehen«, verkündet Philip, den Rucksack bereits geschultert. Er trägt seine Jeansjacke – der schwarze, schmierige Schmutz und das getrocknete Blut ihrer ersten Begegnungen mit den Zombies sind noch sichtbar – und geht zur Tür.

»Warte!«, hält Brian ihn auf und wendet sich an Tara. »Lass uns zumindest etwas zu essen mitnehmen. Für Penny.«

Sie wirft ihm einen kalten Blick zu. »Ihr kommt hier lebendig raus. Das reicht.«

»Los, Brian« fordert Philip seinen Bruder unter dem Türrahmen auf. »Es ist vorbei.«

Brian wirft ihm einen Blick zu. Etwas in Philips tief gefurchtem, verwitterten Gesicht rührt Brian. Philip gehört zur Familie. Sie haben viel zusammen durchgemacht und zu viel gemeinsam erlebt, um jetzt auf der Straße wie ausgesetzte Haustiere zu krepieren. Brian verspürt ein ungewohntes Gefühl, das sich in ihm zusammenbraut und ihn mit einer fremden Empfindung erfüllt, die ihm Kraft verleiht. »Gut«, sagt er schließlich. »Wenn es so sein soll …«

Er spricht den Satz nicht zu Ende. Es gibt nichts mehr zu sagen. Er legt einen Arm um Penny und führt sie aus der Wohnung, ihrem Vater hinterher.

Der Regen ist sowohl ein Fluch als auch ein Segen. Er prasselt ihnen ins Gesicht, als sie aus der Tür auf die Straße treten. Aber als sie sich unter einem verkümmerten Baum in der Parkanlage zusammenkauern, um sich zu orientieren, merken sie, dass der Regen auch die Beißer von der Straße gefegt hat. Die Gullys fließen über, die Wassermassen bahnen sich einen Weg über den Teer, und die grauen Wolken hängen tief herab.

Nick schielt nach Süden in die Ferne. Die Straßen sind relativ frei. »Da entlang ist der beste Weg! Da sind die meisten Sicherheitszonen.«

»Alles klar, dann gehen wir nach Süden«, erklärt Philip und wendet sich an Brian. »Kannst du sie wieder auf die Schultern nehmen? Ich zähle auf dich, Kumpel. Pass auf sie auf.«

Brian wischt sich den Regen aus dem Gesicht und streckt dann den Daumen hoch, um sein Einverständnis zu signalisieren.

Er dreht sich zu Penny und erklärt ihr, dass er sie gleich auf seine Schultern heben wird, als er plötzlich innehält und sie ungläubig anstarrt. Auch sie streckt einen Daumen in die Luft. Brian wirft seinem Bruder einen Blick zu. Die beiden bedürfen keiner Worte, um einander zu verstehen.

Penny Blake steht da und wartet. Trotzig streckt sie ihr Kinn in die Höhe. Ihre sanften Augen blinzeln, um den Regen zu vertreiben, und ihr Gesichtsausdruck erinnert an den ihrer Mutter, wenn sie wieder einmal den Unsinn der Männer über sich ergehen lassen musste. Endlich sagt das Mädchen: »Ich bin kein Baby mehr … Können wir jetzt gehen?«

Sie arbeiten sich zur nächsten Ecke vor, wobei sie stets geduckt bleiben. Auf dem glitschigen Bürgersteig rutschen sie immer wieder aus. Der Regen verlangsamt ihr Vorankommen ungemein. Die Tropfen klatschen ihnen ins Gesicht, durchdringen ihre Kleidung und kriechen in ihre Gelenke. Es ist ein eisiger Herbstregen, der keine Anzeichen macht, besser zu werden.

Vor ihnen hat sich eine kleine Horde Zombies an einer Bushaltestelle versammelt. Die klebrigen Haare hängen ihnen wie verfilztes Moos in die verwesten Gesichter. Sie sehen aus, als würden sie auf einen Bus warten, der nie kommen wird.

Philip führt seine Gruppe über eine Kreuzung und sucht unter einem Vordach Schutz. Nick zeigt in Richtung der ersten Sicherheitszone: Der Bus wartet einen halben Häuserblock südlich hinter der Fußgängerbrücke auf sie. Eine rasche Geste von Philip, und die vier Gestalten eilen – an Schaufensterfronten gedrückt – auf den Bus zu.

»Ich bin dafür, dass wir zurückgehen«, murrt Nick Parsons, als er sich auf den Boden des Busses kauert und seinen Rucksack durchwühlt. Der Regen prasselt wie gedämpfte Maschinengewehrsalven auf das Blech. Nick holt ein T-Shirt heraus und wischt sich damit den Regen aus dem Gesicht. »Das ist nur eine einzige Frau, mit der wir es zu tun haben. Wir können die Wohnung von ihr zurückerobern. Ich schlage vor, dass wir zurückschleichen und sie verdammt noch mal hinauswerfen.«

»Du glaubst, dass wir ihr die Wohnung einfach so abnehmen können?« Philip steht neben dem Fahrersitz und durchsucht die Ablagefächer in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden. »Hast du deine kugelsichere Weste dabei?«

Der Bus – ein neun Meter langes Gefährt mit Plastiksitzen, die seitlich aufgereiht sind und nach innen blicken – riecht nach den gespenstischen Ausdünstungen seiner ehemaligen Passagiere. Der Geruch erinnert an einen nassen Hund. Hinten im Bus, auf dem vorletzten Sitz, hat Penny es sich bequem gemacht. Brian sitzt neben ihr und zittert in seinen durchnässter Jeans und dem Sweatshirt. Er hat ein schlechtes Gefühl, und es hat nichts mit dem Sturm oder der urbanen Wildnis Atlantas zu tun.

Seine Befürchtungen des bevorstehenden Untergangs stehen viel mehr mit den Geschehnissen der letzten Nacht in Zusammenhang. Er kann nicht anders als darüber nachzugrübeln. Was ist zwischen siebzehn Uhr, als sich Philip und April auf den Weg machten, und fünf Uhr am nächsten Morgen geschehen, als alles schon passiert war? Der rauen Anspannung in der Stimme seines Bruders und der kalten Entschlossenheit in seinem Gesicht nach zu schließen, wird es nicht einfach sein, das Rätsel zu lösen. Ihre erste Aufgabe lautet sowieso erst mal zu überleben. Aber die Sache will Brian nicht aus dem Kopf. Das Geheimnis spricht ihn auf einer tieferen Ebene an – einer Ebene, die er nicht mit Worten fassen kann.

Draußen blitzt es. Für einen Augenblick wird alles grell erhellt.

»Uns ist es dort gut gegangen«, fährt Nick mit jammernder Stimme fort. Er steht auf und findet an einer herunterhängenden Handschlaufe Halt. »Mann, das sind unsere Waffen. Soll die ganze Arbeit, die wir da reingesteckt haben, für die Katz gewesen sein? Die Wohnung gehört uns genauso wie den Chalmers!«

»Runter mit dir«, befiehlt Philip tonlos. »Ich will nicht, dass uns so ein Ekelbrocken da draußen sieht.«

Nick duckt sich.

Philip hat auf dem Fahrersitz Platz genommen. Die Federn quietschen unter seinem Gewicht. Er betrachtet eine Karte auf dem Armaturenbrett, findet aber nichts, was ihnen nützlich sein könnte. Der Schlüssel steckt im Zündschloss. Philip dreht ihn um. Aber es passiert nichts, außer dass sich der Starter vergebens bemüht. »Ich will mich eigentlich nicht noch mal wiederholen, aber die Bude können wir abschreiben. Das Thema ist abgeschlossen. Aus, vorbei.«

»Aber warum? Warum können wir sie uns nicht einfach zurückholen, Philly? Die Schlampe machen wir doch locker fertig. Zu dritt.«

»Nick, lass es gut sein«, ermahnt ihn Philip, und selbst Brian hinten im Bus hört den warnenden Tonfall, der in der Stimme seines Bruders mitschwingt.

»Ich verstehe es einfach nicht«, beschwert sich Nick leise. »Wie kann so etwas geschehen …«

»Bingo!« Endlich hat sich Philips Suche gelohnt. Ein hundertzwanzig Zentimeter langer Stahlstab, in etwa so breit und so schwer wie Bewehrungsstahl, hängt unterhalb des Fahrerfensters. Er hat einen Haken an einer Seite, sodass der Fahrer die Tür schließen kann, ohne aufstehen zu müssen. Jetzt, da ihn Philip in der Dämmerung hin und her schwingt, scheint er eine formidable Waffe zu sein. »Das ist doch gar nicht so schlecht für den Anfang«, murmelt er.

»Wie ist es passiert, Philly?«, hakt Nick erneut nach und kauert sich inmitten der Blitze auf den Boden.

»VERDAMMT NOCH MAL!«

Philip schlägt den Stahlstab mit voller Wucht auf das Armaturenbrett, und Plastikfetzen sprühen durch den vorderen Teil des Busses. Alle zucken zusammen. Dann schlägt er erneut zu und zerbricht das Funkgerät. Er holt zum dritten Mal aus und vergräbt den Stab mit voller Wucht im Tacho, wobei auch der Geldhalter zerbricht und Münzen durch die Gegend fliegen. Philip will nicht mehr aufhören. Er drischt so lange auf das Armaturenbrett ein, bis er es zerstört hat.

Endlich, als die Adern in seinem Kopf schon zu platzen drohen und sein Gesicht vor Wut blutrot angelaufen ist, wendet er sich an Nick Parsons. »Würdest du jetzt endlich deine verdammte Schnauze halten!«

Nick starrt ihn ungläubig an.

Im hinteren Teil des Busses hat sich Penny weggedreht, starrt still aus dem Fenster und folgt dem Regen, wie er in Rinnsalen die Fenster hinunterströmt. Ihr Gesicht ist versteinert, als ob sie ein verzwicktes mathematisches Problem ausarbeiten würde, das für ihr Alter viel zu kompliziert ist.

Vorne ist Nick noch immer vor Schock gelähmt. »He, Philly … Immer mit der Ruhe … Ich meine doch nur … Verstehst du? Sollte nichts bedeuten. Nur – ich habe mich da ganz wohl gefühlt.«

Philip fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Das Lodern in seinen Augen lässt nach. Er holt tief Luft und atmet langsam und schmerzvoll aus. Er legt den Stahlstab auf den Fahrersitz. »Hör zu … Tut mir leid … Ich verstehe ja, was du meinst. Aber so ist es besser. Ohne Strom wird das Haus sowieso bald wie ein riesiger Eisschrank sein – spätestens Mitte November.«

Nick starrt auf den Boden. »Ja … Vielleicht hast du recht.«

»Es ist besser so, Nicky.«

»Klar.«

Brian flüstert Penny zu, dass er gleich wieder zurückkommen würde, und rutscht von seinem Sitz.

Gebückt kriecht er den Gang entlang, sodass man ihn von draußen nicht sehen kann, bis er bei Nick und seinem Bruder angelangt ist. »Also – wie sieht unser Plan aus, Philip?«

»Wir suchen uns einen Ort, an dem wir ein Feuer machen können. Das geht schlecht in diesen Wohnblöcken.«

»Nick, wie viele von diesen Sicherheitszonen gibt es eigentlich?«, will Brian wissen.

»Genug, um von hier wegzukommen. Allerdings brauchen wir hier und da etwas Glück.«

»Früher oder später benötigen wir auch ein Auto«, gibt Brian zu bedenken.

»Ach was«, knurrt Philip spöttisch.

»Glaubst du, dass der Bus noch Super im Tank hat?«

»Wenn, dann Diesel.«

»Ist doch egal, was es ist. Wir haben sowieso nichts zum Absaugen.«

»Und nichts, womit wir den Sprit auffangen können«, ergänzt Philip.

»Das Gleiche gilt für den Transport«, fügt Nick hinzu.

»Das Ding da«, sagt Brian und deutet auf den Stahlstab auf dem Fahrersitz. »Ist das scharf genug, um ein Loch in den Tank zu bohren?«

»Den Tank des Busses?«, fragt Philip und überlegt. »Könnte klappen. Aber wozu?«

Brian schluckt. Er hat eine Idee.

Sie schlüpfen einer nach dem anderen aus der Tür in den Regen hinaus, der sich mittlerweile zu einem andauernden, kalten Nieseln abgeschwächt hat. Das Tageslicht ist nur dürftig. Philip hat den Stahlstab in der Hand. Nick trägt die drei Miller-Light-Flaschen, die Brian unter den hinteren Sitzen gefunden hat, und Brian passt auf Penny auf. Egal, in welche Richtung sie blicken – überall sind dunkle Gestalten zu sehen. Die nächste ist vielleicht einen Häuserblock von ihnen entfernt. Die Zeit läuft.

Alle paar Sekunden erhellt ein Blitz die gesamte Stadt und taucht sie in grelles Licht, sodass man die Untoten sehen kann, die von beiden Enden der Straße auf sie zukommen. Einige der Beißer haben die Menschen bemerkt, die um den Bus gehuscht sind, und kommen jetzt mit wesentlich gezielteren Stolperschritten näher.

Philip weiß, wo sich der Tank im Bus befindet. Er ist schließlich nicht umsonst Lkw-Fahrer gewesen.

Er kniet sich neben den riesigen Vorderreifen und greift rasch unter die Karosse, um den Tank ausfindig zu machen. Der Regen tropft ihm über das Kinn. Der Bus hat zwei separate Tanks mit jeweils dreihundert Litern.

»Beeil dich, Mann, die kommen!« Nick kniet hinter Philip, die Flaschen in der Hand.

Philip schlägt mit dem spitzen Ende des Stahlstabs gegen den unteren Teil des Tanks, jedoch ohne viel Erfolg. Seine Bemühungen haben nicht mehr als eine kleine Beule hinterlassen. Er schreit wütend auf und holt weit aus, ehe er den Stab erneut mit aller Wucht gegen den Treibstoffbehälter rammt.

Diesmal durchbricht die Spitze den Tank, ein dünner Strahl gelber, schmieriger Flüssigkeit schießt hervor und spritzt auf Philips Arme und Hände. Rasch lehnt sich Nick nach vorn und füllt die erste der kleinen Bierflaschen.

Es donnert, gefolgt von Blitzen. Brian wagt einen Blick über die Schulter und sieht ein ganzes Regiment wandelnder Leichen auf sie zukommen. Die grellen Blitze lassen sie noch näher erscheinen, vielleicht sind es nur noch zwanzig Meter. Er kann ihre Gesichter deutlich in dem Stroboskoplicht erkennen.

Eine von ihnen hat keinen Kiefer mehr, während eine andere ihre Eingeweide aus einem Loch im Magen beim Gehen zu verlieren droht.

»Beeil dich, Nick! Schnell!« Brian hält ein zerfetztes Hemd in der einen und ein Feuerzeug in der anderen Hand. Er hüpft nervös von einem Fuß auf den anderen, während Penny neben ihm ihr Bestes tut, nicht die Nerven zu verlieren, indem sie die Hände zu Fäusten ballt und auf der Unterlippe herumkaut. Aber sie behält die heranstolpernde Masse genau im Auge.

»Hier die erste – los! LOS!« Nick reicht Brian eine Flasche mit Treibstoff.

Brian stopft einen Fetzen in die Öffnung und dreht ihn rasch um, bis er sich vollgesogen hat. Der Vorgang dauert nur wenige Sekunden, aber Brian spürt, wie ihm die Zeit davonrennt und sie Hunderte von Beißern umzingeln. Er versucht, den Molotowcocktail anzuzünden, aber das Feuerzeug will bei dem Wind nicht so recht angehen.

»Los, Junge … Los, los!« Philip wendet sich der immer näher kommenden Horde zu und hebt den Stahlstab. Hinter ihm versucht Brian verzweifelt, den Stofffetzen anzuzünden. Plötzlich hat er eine Flamme, und das dieselgetränkte Material beginnt zu brennen. Die Flammen züngeln an der Flasche entlang.

Brian wirft den Molotowcocktail in die erste Reihe der schlurfenden Untoten.

Die Flasche landet eineinhalb Meter vor den Zombies, explodiert in einem gelben Schein aus Feuer und prasselt unheilvoll in der Luft. Durch das unerwartete Licht und die Hitze stolpern die Leichen rückwärts. Sie kommen sich in die Quere und fallen wie Dominosteine um. Eigentlich sieht es fast lustig aus, aber keiner von ihnen denkt auch nur an Lachen.

Philip schnappt sich die zweite gefüllte Flasche und stopft einen Hemdfetzen hinein. »Her mit dem Feuerzeug!« Brian reicht es ihm. »Und jetzt nichts wie weg!«, befiehlt Philip, zündet den Molotowcocktail an und wirft ihn in die Armee der Beißer, die sich ihnen von der anderen Seite nähert.

Diesmal landet die Flasche mitten unter ihnen und explodiert kurz darauf, sodass mindestens ein Dutzend von ihnen in Flammen aufgehen.

Brian will gar nicht hinschauen, als er sich Penny schnappt und wie ein Wahnsinniger hinter Nick in Richtung Friseurladen rennt.

Brian, Penny und Nick haben schon den halben Weg zur nächsten Sicherheitszone zurückgelegt, als sie auf einmal merken, dass Philip fehlt.

»Was zum Teufel treibt der denn schon wieder?« Nicks Stimme klingt schrill und hektisch, als er neben einer weiteren, mit Brettern verschlagenen Schaufensterfront in Deckung geht.

»Woher soll ich das wissen?«, gibt Brian zurück und drängt sich zusammen mit Penny in den Eingang, während er nach hinten in die Richtung seines Bruders blickt. Philip ist noch hundert Meter von ihnen entfernt und brüllt die Monster an, während er mit dem Stahlstab in der Luft herumfuchtelt und auf einen Beißer einschlägt. Ein brennender Zombie kommt in einer Wolke von rauchenden Funken auf ihn zu.

»Um Gottes willen!«, stöhnt Brian und hält Penny die Hand vor Augen. »Runter mit dir – RUNTER MIT DIR!«

In der Ferne sehen sie, wie sich Philip Blake von dem Mob entfernt, in der einen Hand ein brennendes Feuerzeug und in der anderen den blutigen Stahlstab. Er scheint von einer Urkraft besessen zu sein, in der sich seine gesamte angestaute Wut sammelt.

Er hält inne und zündet eine Diesellache an, die sich unter dem Bus gebildet hat. Dann dreht er sich um und nimmt Reißaus – wie ein Soldat, der vor einer Granate flüchtet.

Hinter ihm breiten sich die Flammen lauffeuerartig aus. Das blaue Lodern erreicht schon bald die stählerne Karosse des Busses. Philip legt circa fünfzig Meter auf dem durchnässten Teer zurück und zerfetzt dabei die Schädel eines halben Dutzend Beißer, während das Feuer den Bus angreift.

Ein tiefer, dumpfer Schlag übertönt plötzlich sowohl Regen als auch das Stöhnen der Untoten. Inmitten der Feuersbrunst und des Nebels verliert Philip seinen Bruder aus den Augen.

»PHILIP! HIER!«

Brians Rufe helfen Philip, der Richtung zu folgen, aus der die Stimme kommt, als plötzlich eine weitere Explosion den Boden erschüttert und den dunklen, grauen Nachmittag in ein grelles, heißes Licht taucht.

Keiner von ihnen versteht so ganz, was passiert. Sie sind alle zu sehr damit beschäftigt, sich in den Eingang zu ducken und ihre Gesichter vor fliegenden Schrapnellgeschossen zu schützen. Einzelteile des Busses schießen in Form von scharfen Metallsplittern und zerborstenen Glasscherben am Türeingang vorbei. Brian kann in der Spiegelung eines noch halb vorhandenen Schaufensters die Explosion sehen: Einen halben Häuserblock entfernt fliegt der zwanzig Tonnen schwere Bus in die Luft, und ein Rauchpilz aus grellem, alles vernichtendem Feuer, das die Fahrerkabine zerreißt, steigt in die Luft. Danach rollt eine flüssig heiße Stoßwelle mit dem violetten Glanz einer Supernova durch die Masse von Zombies. Unzählige Untote werden von ihr mitgerissen, eingeäschert in ihrem Hochofen. Einige werden von unzähligen Schrapnellen in tausend Stücke zerfetzt. Ihre Überreste steigen wie ein Schwarm Vögel in den sturmumtosten Himmel auf.

Eine brennende Stoßstange landet keine fünf Meter von ihnen entfernt auf dem Boden.

Alle schrecken zusammen und reißen die Augen auf. »Verdammt! VERDAMMT!«, schreit Nick und schützt den Kopf mit beiden Händen. Brian hält Penny fest an sich gedrückt. Es hat ihm die Sprache verschlagen, und er ist starr vor Entsetzen.

Philip wischt sich das Gesicht mit dem Handrücken ab und schaut benommen wie ein Schlafwandler, der gerade zu sich kommt, um sich. »Alles klar.« Er wirft einen Blick über die Schulter und wendet sich an Nick. »Und wo ist jetzt dieser Friseur?«

Sechzehn

Einen halben Häuserblock weiter südlich – in der Dunkelheit eines fauligen, luftarmen Raums mit Fliesen an den Wänden, inmitten herumfliegender Reste von True-Detective-Magazinen, Kämmen, Staubmäusen aus menschlichem Haar und Tuben mit Haargel – trocknen sie sich die Gesichter an Handtüchern und Friseurkitteln und entdecken weitere Zutaten für ihre Molotowcocktails Marke Eigenbau.

Sie leeren Flaschen mit Haarwasser und füllen sie mit Alkohol, um sie danach mit Baumwollwatte zuzustopfen. Ein alter, von diversen Einsätzen in Mitleidenschaft gezogener Louisville-Baseballschläger steht neben der Kasse. Er hat wohl dazu gedient, unbequeme Kunden oder Raudis abzuschrecken, die sich auf unredliche Weise bereichern wollten. Philip schnappt ihn sich und reicht ihn Nick mit den Worten, weise damit umzugehen.

Sie durchforsten den Laden nach sonstigen Dingen, die ihnen nützlich sein könnten. Ein alter Verkaufsautomat beherbergt einige Schokoriegel, Kuchen mit Cremefüllung und eine uralte Dauerwurst. Während sie die ergatterten Sachen in ihre Taschen stopfen, mahnt Philip, hier keine Wurzeln zu schlagen. Er hört Geräusche von draußen – mehr Tote, die näher kommen, wahrscheinlich von der Explosion angezogen. Der Regen hat nachgelassen, sodass jeder Laut besser zu hören ist. Sie müssen sich beeilen, wenn sie vor Sonnenuntergang aus der Stadt sein wollen. »Los, macht schon«, drängt Philip. »Wir müssen hier raus und zur nächsten Sicherheitszone. Nick, du zuerst.«

Widerwillig führt Nick sie aus dem Friseurladen in den Nieselregen. Erneut drücken sie sich an Schaufensterfronten vorbei. Philip bildet die Nachhut, den Stahlstab gezückt. Er hat ein Auge auf Penny gerichtet, die sich wie ein Äffchen an Brians Rücken festklammert.

Sie haben den halben Weg hinter sich, als plötzlich ein Zombie hinter einem Autowrack erscheint und bedrohlich auf Brian und Penny zuwankt. Philip holt aus und trifft ihn mit dem Hakenende am Hinterkopf – genau über dem sechsten Halswirbel. Er schlägt so hart zu, dass er das Rückgrat durchtrennt. Der Kopf sackt nach vorn und baumelt an Luft- und Speiseröhre auf der Brust. Dann sinkt die Kreatur auf den nassen Pflastersteinen zusammen.

Noch mehr Beißer tauchen aus Gassen und dunklen Türeingängen auf.

Nick sieht das nächste Symbol an der Ecke einer Kreuzung.

Der rote Stern steht über der Glastür eines Geschäfts, dessen Front mit eisernen Gitterstäben gesichert ist. Außer einigen abgerissenen Drähten, kaputten Neonröhren und einem Haufen Klebeband sind die Schaufenster leer. Die Tür ist zwar geschlossen, aber nicht verriegelt – genau wie sie Nick vor drei Tagen zurückgelassen hat.

Er reißt sie auf und winkt die anderen hinein. Sie hasten ins Innere des Geschäfts.

Alle sind derart darauf erpicht, rasch in Sicherheit zu geraten, dass niemand auf das Schild über der Tür achtet, auf dem mit schwarzen kalten Neonröhren geschrieben steht: TOM THUMB’S TINY TOY SHOPPE.

Der kleine Laden, höchstens fünfzig Quadratmeter groß, ist mit bunten Dingen aller Art übersät. Der schmutzige Inhalt umgestürzter Regale – Puppen, Autos und Spielzeugzüge – liegt über den Boden verstreut. Ein Tornado der Verwüstung ist offenbar durch das Geschäft getost. Wo mal Mobiles hingen, baumeln jetzt nur noch vereinzelte Fäden. In den Ecken liegen die Reste von LEGO-Flugzeugen und Bausätzen. Die flauschigen Innereien von Stofftieren werden wie herabgefallenes Laub von dem Wind aufgewirbelt, mit dem die Neuankömmlinge hereinstürmen und die Tür ins Schloss werfen.

Einen Augenblick lang stehen sie triefend nass da und holen Luft. Sie starren auf die Verwüstung, die vor ihnen liegt. Niemand bewegt sich. Etwas fasziniert sie an der ganzen Unordnung und hält sie im Eingang wie gebannt fest. »Niemand rührt sich von der Stelle«, verkündet Philip schließlich, kramt ein Taschentuch hervor und wischt sich den Nacken ab. Er steigt über einen kaputten Stoffbären und dringt dann weiter in den Laden vor. Dort ist eine Tür. Vielleicht führt sie zu einem Lager, vielleicht aber auch nach draußen. Brian läst Penny sanft von seinem Rücken auf den Boden gleiten und untersucht sie nach Verletzungen.

Sie sieht traurig auf die Trümmer enthaupteter Barbiepuppen und zerfetzter Stofftiere.

»Als ich das erste Mal hier war«, erklärt Nick, der seinen Blick durch den Laden schweifen lässt, »dachte ich mir, dass wir hier vielleicht etwas finden – Gadgets, Walkie-Talkies, Taschenlampen … irgendetwas.« Er geht zur Ladentheke und ein paar Stufen zur Kasse hoch. »Mann, so ein Laden und in dieser Gegend … Es würde mich nicht wundern, wenn wir hier sogar eine Knarre finden.«

»Was ist da?«, fragt Philip und deutet mit dem Daumen auf einen Flur im hinteren Teil des Geschäfts, der mit einem Vorhang abgetrennt ist. Der schwarze Stoff hängt bis zum Boden herab. »Hast du dir das angeschaut?«

»Ist wohl ein Warenlager, aber das ist nur eine Vermutung. Sei vorsichtig, Philly. Da ist es so dunkel und finster wie unter Tage.«

Philip hält vor dem Vorhang inne, streift sich den Rucksack von den Schultern und holt eine Taschenlampe hervor, die er in einer der Seitentaschen verstaut hat. Er schaltet sie ein und schiebt sich durch einen Spalt, um in der Finsternis zu verschwinden.

Penny ist noch immer von den kaputten Puppen und den ausgenommenen Stofftieren fasziniert. Brian behält sie ununterbrochen im Auge. Er will ihr unbedingt helfen und erreichen, dass alle wieder ein Ziel vor Augen haben. Aber im Augenblick kann er nicht mehr tun, als sich neben dem Mädchen hinzuknien und es abzulenken, so gut es geht.

»Willst du vielleicht einen Schokoriegel?«

»Nein.« Ihre Stimme klingt so mechanisch wie die einer Aufziehpuppe.

»Sicher?«

»Ja.«

»Wir haben auch Kuchen – mit Cremefüllung«, lockt Brian, um die Stille zu füllen. Aber er kann den Blick nicht von dem Ausdruck in Philips Gesicht und der brutalen Gewalt in seinen Augen abwenden. Seine Welt – ihre Welt – ist am Zusammenbrechen, das ist eindeutig.

»Nein, mir geht es gut«, erwidert Penny. Unter einem Haufen kaputten Spielzeugs erspäht sie einen kleinen Hello-Kitty-Rucksack. Zielstrebig geht sie darauf zu, zieht ihn hervor und mustert ihn. »Stört es jemand, wenn ich mir paar Sachen mitnehme?«

»Was denn, Kleine?«, will Brian wissen und schaut sie an. »Spielzeug?«

Sie nickt.

Brian verspürt einen Stich von Trauer und Scham in der Brust. »Bedien dich ruhig«, murmelt er.

Sie liest zertrampelte Puppen und ramponierte Stofftiere vom Boden auf. Brian kommt es beinahe wie ein Ritual vor, als sie Barbies ohne Gliedmaßen und Teddybären mit aufgetrennten Nähten mustert und dann die gewissenhaft, ausgewählten Spielzeuge mit einer Vorsicht in ihren Rucksack steckt, als ob sie sich der Verletzungen bewusst wäre. Brian seufzt.

Plötzlich ertönt Philips Stimme aus dem dunklen Korridor im hinteren Teil des Ladens. Brian springt auf und ruft: »Was ist los?«

Hinter der Kasse spitzt Nick die Ohren. »Ich hab keine Ahnung. Hab’s auch nicht verstanden.«

»Philip?« Brian eilt zu dem schwarzen Vorhang. Vor nervöser Anspannung läuft es ihm kalt den Rücken hinunter.

»Ist bei dir alles klar?«

Schritte sind hinter dem Vorhang zu hören. Dann zieht eine Hand den Stoff zurück, und Pilips Gesicht zeigt sich – verzerrt vor Aufregung. »Schnappt euch eure Sachen! Wir haben gerade einen Sechser im Lotto!«

Philip führt die Gruppe durch den dunklen Flur, vorbei an Regalen voller Spielzeug und Brettspiele. Sie treten durch eine Sicherheitstür, die bei der Flucht des Ladeninhabers wahrscheinlich offen gelassen wurde. Es folgt ein weiterer schmaler Korridor, der von Philips Taschenlampe dürftig beleuchtet wird, bis sie zu einem Notausgang kommen. Die Metalltür steht einen Spalt breit offen. Sie können einige Schatten im Flur auf der anderen Seite ausmachen.

»Schaut euch an, was sich hinter diesem Laden befindet.« Philip tritt gegen die Tür. »Unser Fahrschein aus dieser verdammten Hölle.«

Die Tür schwingt auf, und Brian sieht nichts weiter als einen weiteren Flur, der genauso aussieht wie der, den sie gerade durchlaufen haben.

Am anderen Ende befindet sich eine weitere Metalltür, die ebenfalls offensteht. Brian lugt hindurch und erkennt in der Dunkelheit eine Reihe glänzender Speichen. »Wahnsinn«, stammelt er. »Sehe ich da richtig?«

Der Raum ist riesig – er umfasst das gesamte Erdgeschoss des angrenzenden Gebäudes – und auf drei Seiten mit Sicherheitsglas ausgestattet. Durch die Fenster kann man die Straßenecke sehen, an der schemenhafte Gestalten ziellos durch die Gegend stolpern. Aber hier, in der blitzsauberen Welt des Champion Cycle Centers, Atlantas erster Adresse für alles, was Motorräder angeht, ist es warm, aufgeräumt und auf Hochglanz poliert.

Der Ausstellungsraum scheint von der Plage unberührt geblieben zu sein. Das schwache Tageslicht, das durch die riesigen Scheiben dringt, beleuchtet vier lange Reihen unterschiedlicher Motorräder, die sich durch die gesamte Länge der Halle erstrecken. Es riecht nach Gummi, geöltem Leder und fein geschliffenem Stahl. An den Seiten ist die Halle mit Teppichboden ausgelegt, auf dem das Logo des Champion Cycle Centers zu sehen ist – wie in einem Fünfsternehotel. Stromlose Leuchtreklamen hängen an mehreren Stellen von der Decke und preisen die verschiedenen Hersteller an: Kawasaki, Ducati, Yamaha, Honda, Triumph, Harley-Davidson und Suzuki.

»Glaubst du, dass in irgendeinem dieser Bikes Benzin ist?«, fragt Brian und dreht sich staunend um die eigene Achse.

»Unglaublich, was, Junge?« Philip weist mit dem Kopf über die Motorräder, die Verkaufstheke und Tische hinweg zu Regalen, die von oben bis unten mit Ersatzteilen voll sind. »Dahinten gibt es eine Werkstatt und eine Garage … Da finden wir schon, was wir brauchen.«

Penny starrt emotionslos auf die Auswahl von fahrbaren Untersätzen. Auf dem Rücken trägt sie ihren neuen Hello-Kitty-Rucksack.

Brians Kopf dreht sich. Unterschiedlichste Gefühle wallen in ihm auf: Aufregung, Angst, Hoffnung und Panik. »Da gäbe es nur ein Problem …«, beginnt er leise. Die erneute Verunsicherung lastet schwer auf ihm.

Philip blickt seinen Bruder an. »Was soll denn jetzt schon wieder ein Problem sein?«

Brian fährt sich über den Mund. »Ich habe keine Ahnung, wie man so ein Ding fährt.«

Die anderen lachen laut auf. Es war an der Zeit, etwas Dampf abzulassen, und die allgemeine Nervosität schwingt hörbar mit. Aber sie lachen. Wenn auch nur über Brian. Philip versichert seinem Bruder, dass es nicht das Geringste ausmache, ob er jemals auf einem Motorrad gesessen habe oder nicht. Denn selbst ein Idiot könne so etwas innerhalb von zwei Minuten lernen. Sowohl Philip als auch Nick hatten zudem jahrelang eines besessen, weshalb Brian und Penny problemlos bei den beiden mitfahren können. Sie müssen sich nur entscheiden, wer bei wem hintendraufsitzt.

»Je schneller wir aus Atlanta rauskommen, desto bessere Chancen haben wir«, verkündet Philip kurz darauf, während er sich durch die Hosen, Jacken und Kombianzüge aus Leder und sonstiges Zubehör in der Nähe der Verkaufstheke wühlt. Er zieht eine braune Harley-Jacke und schwere schwarze Motorradstiefel hervor. »Ich schlage vor, dass jeder aus seinen nassen Klamotten steigt und in fünf Minuten fertig zur Abfahrt ist. Brian, du hilfst Penny.«

Sie wechseln die Kleidung. Der Regen draußen lässt immer mehr nach.

»Siehst du, wie sich die Beißer da draußen sammeln?«, flüstert Nick Philip zu. Nick trägt bereits trockene Klamotten und schließt den Reißverschluss seiner schwarzen Lederjacke. Er nickt in Richtung der Schaufensterfront. »Ein paar von denen sind schon ganz schön weit fortgeschritten.«

»Und?«

»Na ja, manche sind vielleicht schon drei oder vier Wochen alt.«

»Wenn nicht mehr.« Philip lässt sich das durch den Kopf gehen, während er seine nasse Jeans auszieht. Die Unterwäsche klebt an seinem Körper, und er hat fast Schwierigkeiten, sich herauszupellen. Er wendet sich von Penny ab, damit sie ihn nicht nackt sieht. »Das Ganze fing vor mehr als einem Monat oder so an … Was willst du damit sagen?«

»Sie verwesen.«

»Was?«

Nick senkt die Stimme weiter, damit ihn Penny nicht hören kann. Sie ist gerade dabei, einen etwas zu kleinen Wintermantel anzuziehen. Brian hilft ihr dabei und versucht, ihn zuzumachen. »Denk mal nach, Philly. Die Natur hat es so eingerichtet, dass ein toter Körper innerhalb eines Jahres zu Staub wird.« Er spricht jetzt noch leiser. »Insbesondere einer, der den Elementen ausgesetzt ist.«

»Was willst du damit sagen, Nick? Dass wir nur Tee trinken und abwarten müssen? Dass wir die Arbeit den Maden überlassen sollen?«

Nick zuckt mit den Achseln. »Na ja. Ich habe laut nachgedacht …«

»Nun pass mal auf, mein Freund«, sagt Philip. »Hör mir mit deinen verdammten Thesen auf.«

»Ich wollte doch nur …«

»Die verschwinden nicht einfach so, Nicky. Schreib dir das hinter die Ohren. Ich will nicht, dass meine Tochter deine Thesen hört. Die ernähren sich von Lebenden, und sie vermehren sich, und wenn sie verrotten, wird es neue Beißer geben, die an ihre Stelle treten. Wenn wir etwas von der Sache mit dem alten Mann Chalmers gelernt haben, dann braucht man nicht erst gebissen zu werden, um so zu enden. Das heißt, dass das Ende der Welt gekommen ist. Also wach auf, Junge. Es ist später, als du denkst.«

Nick senkt den Blick. »Ist gut, Mann … Verstehe … Du kannst dich wieder abregen, Philly.«

Mittlerweile hat es Brian geschafft, Pennys Mantel zuzumachen. Er nimmt sie an der Hand, und die beiden gehen zu Philip und Nick hinüber. »Wir sind so weit.«

»Wie spät haben wir es?«, fragt Philip seinen Bruder, der in seiner zu großen Harley-Jacke etwas lächerlich aussieht.

Er blickt auf die Uhr. »Kurz vor zwölf.«

»Gut … Das heißt, wir haben sechs, vielleicht sieben Stunden Tageslicht, um diese verdammte Höllenstadt endlich hinter uns zu lassen.«

»Habt ihr euch eure Motorräder schon ausgesucht?«, fragt Brian.

Philip schenkt ihm ein herablassendes Lächeln.

Sie suchen sich zwei der größten Motorräder im ganzen Laden aus: zwei Harley-Davidson Electra Glides, eine in Graublau und die andere in Mitternachtsschwarz. Sie sind nicht nur groß und schwer, sondern strotzen vor Zugkraft, haben breite Sitze, bieten sogar etwas Stauraum und vor allem – es sind verdammte Harleys! Philip will Penny mitnehmen, sodass Brian bei Nick aufsteigt. Die Tanks sind zwar leer, aber in der Werkstatt stehen genügend Motorräder mit Sprit herum. Sie zapfen das Benzin ab und füllen die Harleys bis obenhin auf.

Es dauert eine Viertelstunde, bis die Motorräder startbereit sind, sie sich passende Helme ausgesucht und ihre Taschen festgezurrt haben. Mittlerweile geht es auf der Straße vor dem Motorradladen geradezu hektisch mit Untoten zu. Hunderte von Beißern drängeln sich auf der Kreuzung und wandern ziellos im grauen Nieselregen umher. Manche knallen gegen das Sicherheitsglas und ächzen vor sich hin, während schwarzer Speichel aus ihren Mündern fließt. Ihre zinngrauen Augen starren gierig auf die beweglichen Schatten hinter dem Sicherheitsglas des Champion Cycle Centers.

»Viel los da draußen«, murmelt Nick mehr zu sich selbst, als er das gewichtige Zweirad zum Seitenausgang schiebt, der durch eine Tür auf den Parkplatz führt. Er stülpt sich den Helm über und zieht ihn fest.

»Wir müssen sie überraschen«, meint Philip und rollt seine schwarze Harley ebenfalls zur Tür. Sein Magen knurrt vor Hunger und Nervosität, als er sich den Helm aufsetzt. Das letzte Mal, dass sie etwas zwischen die Zähne bekamen, ist inzwischen fast vierundzwanzig Stunden her. Philip steckt den Stahlstab zwischen Lenker und Frontscheibe, damit er jederzeit griffbereit ist. »Los, Schatz. Auf geht’s!«, ruft er Penny zu, die schüchtern mit ihrem Kinderhelm ein wenig abseits steht. »Wir machen eine Spritztour – okay?«

Brian hilft der Kleinen auf den Sozius, einen gepolsterten Sitz über dem schwarz lackierten Staufach, in dem er sogar einen Sicherheitsgurt findet. Er schnallt ihn um ihre schmale Taille und spricht ihr ermutigend zu. »Keine Sorge, Kleine! Das wird schon alles.«

»Zuerst geht es Richtung Süden, und dann biegen wir nach Westen ab«, meint er und steigt auf. »Nicky, fahr mir einfach hinterher.«

»Alles klar.«

»Alle Mann bereit?«

Brian tritt zur Tür und nickt nervös. »Alles klar.«

Philip startet seine Harley. Der Motor heult auf und füllt den Ausstellungsraum mit Abgasen. Nick steigt ebenfalls auf den Kickstarter, und zusammen singen die beiden Motoren eine laute Arie in dissonantem Einklang, die den Raum erfüllt. Philip dreht am Gas und gibt Brian ein Zeichen.

Brian zieht den Riegel heraus und reißt die Tür auf. Der Wind fegt ihnen um die Ohren. Philip legt den ersten Gang ein und schießt ins Freie.

Brian springt auf Nicks Sozius, und die beiden machen sich ebenfalls auf den Weg.

»MIST! VERDAMMT! PHILIP! PHILIP! SCHAU NACH UNTEN! SCHAU VERDAMMT NOCH MAL NACH UNTEN! NACH UNTEN!«

Brians hektisches Gebrüll wird von seinem Helm gedämpft und vom lauten Motorengeräusch völlig übertönt.

Es passiert Sekunden, nachdem sie durch eine Horde Beißer auf der Kreuzung gerast sind. Die Leichen wurden vom Vorbau der Harleys in die Luft geschleudert. Nach einer Linkskurve sausen die Männer auf der Water Street Richtung Süden und lassen die Scharen Untoter hinter sich, als Brian vor sich auf die Straße blickt und eine verstümmelte Leiche sieht, die von Philips Harley mitgeschleppt wird.

Die untere Hälfte der Kreatur gibt es nicht mehr. Ihre Eingeweide wehen im Wind wie flatternde Kabel, aber der Oberkörper funktioniert noch, und der vermodernde Kopf ist auch noch ganz. Mit den beiden toten Armen hält sich das Ding an der hinteren Stoßstange der Harley fest und beginnt, sich langsam aber sicher hochzuarbeiten.

Weder Philip noch Penny merken etwas.

»HOL AUF, NICK! FAHR NEBEN IHM HER!«, brüllt Brian, die Arme um den Fahrer geschlungen.

»VERSUCH ICH DOCH!«

Sie schießen die menschenleere, nasse Nebenstraße entlang, und die Motorräder drohen, auf dem Wasser ins Schlingern zu geraten. Endlich bemerkt Penny die Kreatur, die sich verkrampft festhält und immer höher klettert. Penny fängt an zu schreien und gestikuliert wild wie eine Schauspielerin in einem Stummfilm.

Nick dreht am Gas und holt Philip allmählich ein.

»HOL DEN BASEBALLSCHLÄGER RAUS!«, brüllt er über den Motorenlärm hinweg, und Brian versucht, den Schläger aus ihrem Gepäck zu ziehen.

Jetzt hat auch Philip bemerkt, dass er einen blinden Passagier an Bord hat. Nick hat weiter aufgeholt. Er ist keine zwei Meter mehr vom Rücklicht der schwarzen Harley entfernt. Aber ehe Brian etwas mit dem Baseballschläger ausrichten kann, sieht er, wie Philip den Stahlstab aus seiner behelfsmäßigen Scheide zwischen Lenker und Bike zieht.

Mit einer raschen, brutalen Bewegung, welche die Harley ins Schwanken bringt, dreht sich Philip, den Lenker in der linken Hand, um und schlägt den Stahl mitten in den Rachen der untoten Kreatur.

Der aufgespießte Kopf des Monsters hält, nur wenige Zentimeter vor Penny, inne. Doch der Stahlstab ist nun zwischen den glänzenden Auspuffrohren der Harley eingeklemmt, und die Kreatur hängt noch daran. Philip zieht das rechte Bein an und tritt mit der Wucht eines Rammbocks auf den halben Leichnam und den Stahlstab, sodass beides lose kommt. Das Wesen verliert den Halt und fällt auf die Straße. Nick muss ein wildes Ausweichmanöver hinlegen, damit es sich nicht stattdessen an seiner Harley festhält.

Philip gibt Gas und fährt weiter Richtung Süden ohne einen Blick zurück.

Und so geht’s weiter im Zickzackkurs durch das südliche Atlanta. Sie wollen immer auf Nebenstraßen bleiben und nicht über große Kreuzungen fahren. Nach eineinhalb Kilometern stoßen sie jedoch auf eine Hauptverkehrsstraße mit wenigen Wracks und einer überschaubaren Anzahl von Zombies. Also biegt Philip dort ab. Immerhin haben sie bereits fünf Kilometer zurückgelegt.

Der Horizont ist unverbaut, und im Westen hellt es sogar ein wenig auf.

Sie haben genug Benzin für gute sechshundert Kilometer, ehe sie die Bikes erneut auffüllen müssen.

Was sie in der ländlichen, grauen Landschaft erwartet mag, kann nur besser sein als das, was sie in Atlanta hinter sich gelassen haben.

Es muss besser sein.

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