TEIL 1 Die hohlen Männer

Sterben hat nichts Heldenhaftes.

Das kann jeder.

Johnny Rotten




Eins

Brian Blake hat sich in der muffigen Dunkelheit in eine Ecke gekauert. Blankes Entsetzen schnürt ihm die Brust zu, der Schmerz lässt ihn bis ins Mark erzittern. Plötzlich stellt er sich vor, ein zweites Paar Hände zu haben. Dann könnte er sich zumindest die Ohren zuhalten, um nicht mit anhören zu müssen, wie die menschlichen Schädel zu Brei gestampft werden. Leider sind Brians zwei Hände jedoch damit beschäftigt, die Ohren des kleinen Mädchens neben ihm in der Abstellkammer zuzuhalten.

Die Siebenjährige erzittert immer wieder in seinen Armen. Sie zuckt bei jedem BUMM BUMM BADONG zusammen. Den Geräuschen folgt Stille, lediglich durchbrochen von dem klebrig klingenden Stapfen von Stiefeln auf blutigen Fliesen und einem hektisch wütenden, klingenden Flüstern aus dem Flur.

Brian fängt erneut an zu husten. Er kann nichts dafür. Seit Tagen schon kämpft er gegen diese gottverdammte Erkältung an, eine Plage, die seine Gelenke und Nebenhöhlen lahmlegt und die er nicht abschütteln kann. Jeden Herbst erkältet er sich, sobald die Tage in Georgia dunkel und düster werden. Die Feuchtigkeit dringt in seine Knochen, zehrt an seinen Kräften und raubt ihm den Atem. Inzwischen spürt er mit jedem Husten das pochende Stechen des Fiebers.

Bei jedem keuchenden Hustenanfall krümmt er sich zusammen, presst die Hände aber weiterhin auf die Ohren der kleinen Penny. Er weiß, dass seine Hustgeräusche hinter der Tür in den endlosen Gängen des Hauses bemerkt werden müssen, aber es gibt nichts, was er dagegen tun kann. Mit jedem unterdrückten Röcheln sieht er Lichtblitze vor seinen Augen – wie winzige Kometenschweife, die einem Feuerwerk gleich hinter seinen geschlossenen Lidern hin und her schießen.

Die Abstellkammer, gerade einen Meter breit, ist schwarz wie Tinte und riecht nach Mottenkugeln, Mäusedreck und altem Zedernholz. Kleidersäcke aus Plastik hängen in der Dunkelheit und streifen immer wieder Brians Gesicht. Sein jüngerer Bruder Philip hat ihm versichert, dass er in der Abstellkammer ruhig husten könne. In Wahrheit darf sich Brian hier ruhig die Lunge raushusten – das lockt die Monster aus ihren Verstecken –, doch er darf auf keinen Fall Philips Tochter anstecken. Sonst würde Philip seinen Kopf mit einem Beil bearbeiten.

Der Hustenanfall ebbt ab.

Gleich darauf wird die Stille vor der Tür erneut von schwerem Stapfen durchbrochen. Noch eine tote Kreatur, die in die Killzone tritt. Brian presst die Hände fester auf Pennys Ohren. Sie zuckt trotzdem zusammen, als erneut zu hören ist, wie ein Schädel zerquetscht wird – diesmal in d-Moll.

Falls man Brian fragen würde, wie man die Geräusche vor der Tür beschreiben könne, würde er sich wahrscheinlich auf seine Zeit als Betreiber einer Musikalienhandlung berufen und die Schädelbrüche mit einer Percussion-Symphonie vergleichen, die direkt aus der Hölle kommt – etwa wie ein Stück von Edgar Varèse oder ein berauschtes Schlagzeugsolo von John Bonham – mit sich wiederholenden Leitmotiven und Refrains: dem schweren Atmen von Menschen … dem schwerfälligen Schlurfen eines lebenden Toten … der Axt, wie sie pfeifend durch die Luft schwingt … dem Geräusch des Stahls, wie er sich in menschliches Fleisch gräbt …

… Und schließlich das große Finale: das dumpfe Klatschen eines feuchtkalten, leblosen Körpers, der aufs glibberige Parkett aufschlägt.

Eine erneute Pause in dem grauenhaften Tohuwabohu lässt Brian bis ins Knochenmark erzittern. Die Stille legt sich erneut bleischwer auf sie. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, bemerkt er das Glitzern von dickflüssigem Blut, das unter dem Türspalt durchsickert. Es sieht wie Motoröl aus. Behutsam zieht er seine Nichte von der größer werdenden Lache weg und drückt sie gegen die Stiefel und Regenschirme, die an der Wand hinter ihnen stehen.

Der Saum von Pennys kleinem Jeanskleid berührt einen Moment lang das Blut. Rasch reißt er es hoch und reibt panisch an dem Fleck, als ob die rote Flüssigkeit irgendwie ansteckend sein könnte.

Ein weiterer krampfhafter Hustenanfall zwingt Brian in die Knie. Er kämpft dagegen an und schluckt mit rauem Hals. Es kommt ihm so vor, als ob er Scherben hinunterwürgen würde, während er das kleine Mädchen noch enger an sich drückt. Er weiß nicht, was er tun oder was er sagen soll. Er will seiner Nichte helfen, will ihr etwas Beruhigendes zuflüstern. Doch er kann kein besänftigendes Wort finden.

Ihr Vater würde wissen, was er jetzt sagen müsste. Philip würde es wissen. Er weiß immer, was er sagen muss. Philip Blake ist ein Mann, der stets genau das sagt, was allen anderen auch gerne eingefallen wäre. Er spricht das aus, was ausgesprochen werden muss, und tut das, was getan werden muss. So wie jetzt. Jetzt ist er da draußen mit Bobby und Nick und tut das, was getan werden muss … Während Brian sich hier wie ein Angsthase zusammenkauert und den Kopf darüber zerbricht, was er seiner Nichte Beruhigendes sagen kann.

Angesichts der Tatsache, dass Brian Blake der ältere der beiden Brüder ist, scheint es merkwürdig, dass er stets der Schwächere gewesen ist. Nicht einmal einen Meter siebzig groß samt den Absätzen seiner Stiefel wirkt er wie eine Vogelscheuche von einem Mann, der es nicht einmal schafft, seine besonders enge Jeans und das schlampige Weezer-T-Shirt auszufüllen. Ein mickriger Ziegenbart, Makramee-Armbänder und dunkle Haare wie Ichabod Crane aus Sleepy Hollow vervollständigen das Bild eines fünfunddreißigjährigen Tagträumers, der in einem Peter-Pan-Zustand stecken geblieben zu sein scheint und jetzt in der nach Mottenkugeln riechenden Abstellkammer auf die Knie sinkt.

Brian schnappt nach Luft und blickt zu Penny mit ihren weit aufgerissenen Augen. Ihr stummes, vor Entsetzen verzerrtes Gesicht leuchtet gespenstisch in der dunklen Kammer. Das Kind ist seit eh und je ein kleines, ruhiges Mädchen mit milchig weißer Haut gewesen – wie eine Puppe aus Porzellan –, die ihrem Gesicht stets etwas Unwirkliches verliehen hat. Seit dem Tod ihrer Mutter ist sie jedoch noch mehr in sich gekehrt und noch blasser geworden, sodass sie beinahe durchsichtig wirkt. Rabenschwarze Locken hängen ihr in die übergroßen Augen.

Während der letzten drei Tage hat sie kaum ein Wort von sich gegeben. Natürlich sind das außergewöhnliche drei Tage gewesen – und traumatische Erlebnisse haben auf Kinder einen anderen Effekt als auf Erwachsene. Aber Brian macht sich Sorgen, dass Penny vielleicht in eine Art von Schockzustand verfallen könnte.

»Wird schon, Kleine«, flüstert er ihr zu und hustet leise.

Ohne aufzuschauen gibt sie etwas Unverständliches von sich; es ist wie ein Murmeln.

»Was hast du gesagt, Pen?« Brian hält sie eng an sich gedrückt, schaukelt sie sanft hin und her, bemerkt ihre Tränen und wischt sie ihr aus dem Gesicht.

Dann sagt sie es erneut, immer und immer wieder. Doch ihre Worte sind nicht an Brian gerichtet. Es ist eher wie ein Mantra oder ein Gebet. Wie eine Beschwörungsformel »Es wird niemals wieder werden, niemals.«

»Still, Kleine.« Er hält ihren Kopf und drückt ihn eng an sein T-Shirt, spürt die feuchte Wärme ihres Gesichts auf seinem Oberkörper. Wieder hält er ihr die Ohren zu, als erneut das BADONG einer Axt auf der anderen Seite der Tür zu ihnen dringt.

Es hört sich an wie ein nasser Softball, der auf einen Baseballschläger trifft, gefolgt von einem schauderhaften, feuchten Aufschlag. Merkwürdigerweise findet Brian das am schlimmsten: dieses dumpfe, klatschende Geräusch eines Körpers, der auf die teuren Keramikfliesen trifft. Die Fliesen sind extra für dieses Haus angefertigt worden und haben kunstvolle Einlegearbeiten und aztekische Muster. Das Haus ist wunderschön … oder ist es zumindest mal gewesen.

Dann enden die Geräusche.

Es folgt wieder die schreckliche Stille. Brian unterdrückt einen Hustenanfall. Er schließt ihn wie einen Feuerwerkskörper ein, der kurz vor dem Explodieren steht, damit er dem sich verändernden Atmen vor der Tür und den glitschigen Fußstapfen lauschen kann, wie sie durch das gerinnende Blut waten. Aber es herrscht Totenstille.

Brian spürt, wie das Kind neben ihm erstarrt. Die Kleine wappnet sich gegen eine weitere Attacke von Axthieben, aber die Stille hält an.

Nur wenige Zentimeter entfernt hören sie auf einmal einen Schlüssel in einem Schloss. Brian läuft es eiskalt den Rücken herunter. Kurz darauf wird die Tür geöffnet.

»Alles in Ordnung.« Der Bariton – von vielem Whiskeytrinken und Heiserkeit – gehört einem Mann, der jetzt in die dunkle Abstellkammer späht. Seine Augen blinzeln in der Dunkelheit, das Gesicht ist feucht vor Schweiß und gerötet von der Anstrengung der Zombie-Entsorgung. Philip Blake hält eine blutverschmierte Axt in seinen rauen Händen.

»Sicher?«, bringt Brian mühsam hervor.

Ohne seinen Bruder eines Blickes zu würdigen, konzentriert sich Philip ganz auf seine Tochter. »Alles ist in Ordnung, mein Schatz. Daddy geht es gut.«

»Bist du dir sicher?«, wiederholt Brian und fängt erneut zu husten an.

Philip schaut seinen Bruder an. »Wäre es zu viel verlangt, wenn du dir die Hand vor den Mund hältst?«

Keuchend versucht Brian es noch einmal: »Bist du dir sicher, dass du Entwarnung geben kannst?«

»Schatz?« Philip Blake klingt zärtlich und liebevoll, wenn er mit seiner Tochter spricht. Sein schwacher Südstaatenakzent kaschiert die wild lodernden Flammen der Gewalt, die noch in seinen Augen flackern. »Ihr müsst mir helfen und noch eine Minute hierbleiben. Alles klar? Du rührst dich nicht vom Fleck, bis Daddy sagt, dass du rauskommen kannst. Hast du das verstanden, mein Schatz?«

Das blasse Kind nickt kraftlos und signalisiert seinem Vater, dass es verstanden hat.

»Los, Junge«, sagt Philip und zieht seinen älteren Bruder aus der Kammer. »Ich brauche deine Hilfe beim Aufräumen.«

Brian rappelt sich auf und schlängelt sich an den Mänteln vorbei in den Gang hinaus.

Als er sich aus der Abstellkammer gekämpft hat, blinzelt er im hellen Licht des Flurs. Er starrt, hustet und starrt erneut auf den Anblick, der sich ihm bietet. Für einen Augenblick scheint es ihm, als ob der üppige Eingang des zweigeschossigen Hauses im Kolonialstil, der von extravaganten Kronleuchtern aus Kupfer erhellt ist, mitten in Renovierungsarbeiten stecken würde – und zwar durch Handwerker, die allesamt gelähmt sind. Unmengen von bräunlich violetten Flecken zieren die aquamarinfarbenen Wände. Tintenklecksförmige schwarze und karmesinrote Muster schmücken Fußleisten und Stuckarbeiten. Erst jetzt bemerkt er die leblosen Gestalten auf dem Boden.

Sechs Leichen liegen da in merkwürdig verkrampften Haltungen. Das vorangegangene Gemetzel, die fahle, blutverschmierte Haut und die zerschlagenen Schädel lassen keine Schlüsse mehr auf Alter oder Geschlecht zu. Der größte der Toten liegt in einer Lache von Blut und Erbrochenem am Fuß des großen Treppenaufgangs. Eine weitere Leiche – vielleicht die Hausherrin, vielleicht eine freundliche Gastgeberin, die Süßspeisen und Gastfreundschaft großzügig verteilte – befindet sich in einem undefinierbaren Haufen auf dem schönen weiß gestrichenen Parkett. Eine lange Spur aus wurmig grauer Masse schlängelt sich aus ihrem gespaltenen Schädel.

Brian Blake spürt, wie es ihn würgt und sich seine Kehle zusammenschnürt.

»Okay, Gentlemen. Es gibt zu tun«, sagt Philip und meint damit seine beiden Freunde Nick und Bobby ebenso wie Brian. Aber das panische Pochen von Brians Herz übertönt die Aufforderung seines Bruders.

Ängstlich beäugt er die anderen Überreste, die im Flur und an den dunkel gefleckten Fußleisten vor dem Wohnzimmer liegen – während der vergangenen zwei Tage hat es sich Philip angewöhnt, die Opfer der Monster als »zweimal gekochtes Schweinefleisch« zu bezeichnen. Vielleicht sind es die Teenager, die hier einmal gewohnt haben, vielleicht aber auch Besucher, die sich mit der Ungastlichkeit eines infizierten Bisses konfrontiert sahen. Sämtliche Leichen sind von einem strahlenförmigen Muster aus dickflüssigem Blut umgeben. Eine von ihnen, deren zerquetschter Schädel mit dem Gesicht wie ein verschütteter Suppentopf auf dem Boden liegt, pumpt weiterhin scharlachrote Flüssigkeit wie ein kaputter Hydrant in die Gegend. Kleine Beile stecken noch bis zum Anschlag in den Schädeln der anderen – wie Fahnen, die Entdecker triumphierend in neu bezwungene Gipfel gesteckt haben.

Brian hält sich die Hand vor den Mund, um dem, was sich da seine Speiseröhre emporarbeitet, Einhalt zu gebieten. Er spürt ein sanftes Klopfen an seiner Schädeldecke, als ob eine Motte dagegenstoßen würde. Brian blickt nach oben.

Blut tropft vom Kronleuchter über ihm herab. Ein Tropfen fällt auf seine Nase.

»Nick, warum schnappst du dir nicht eine von den Planen, über die wir vorher gestolpert sind, in …«

Brian fällt auf die Knie, krümmt sich nach vorn und übergibt sich. Ein regelrechter Sturzbach aus bräunlich grüner Gallenflüssigkeit läuft über das Parkett und vereint sich mit den Körperflüssigkeiten der Leichen.

Tränen brennen in seinen Augen, als vier Tage der Todesangst aus ihm herausbrechen.

Philip Blake stöhnt angespannt auf. Adrenalin schießt noch immer durch seine Adern. Für einen Moment bleibt er stehen, anstatt seinem Bruder zu Hilfe zu eilen. Er legt seine blutige Axt beiseite und rollt die Augen. Es ist fast ein Wunder, dass sich in seinen Augenhöhlen noch keine Furchen gebildet haben, so oft musste er über die Jahre wegen seines Bruders die Augen rollen. Was kann er sonst tun? Der arme Hund gehört zur Familie, und Familie ist nun mal Familie … Insbesondere in so freakigen Zeiten wie diesen.

Natürlich besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Brüdern, dagegen kann auch Philip nichts machen. Groß gewachsen, schlaksig und mit den geschmeidigen Muskeln eines Handwerkers, hat Philip Blake die gleichen markanten Züge wie sein Bruder, die gleichen dunklen mandelförmigen Augen und das gleiche pechschwarze Haar, das sie von ihrer mexikanischstämmigen Mutter geerbt haben. Mama Roses Mädchenname lautete Garcia. Ihre Züge spiegeln sich deutlicher in den Gesichtern der Brüdern wider als die des Vaters, eines großen, raubeinigen Alkoholikers irisch-schottischer Herkunft namens Ed Blake. Philip, der drei Jahre jünger als Brian ist, hat zumindest dessen Muskeln geerbt.

In seinen ausgewaschenen Jeans, den Arbeitsstiefeln, dem Flanellhemd, seinem Fu-Manchu-Schnauzbart und den Tätowierungen im Stil eines Bikers bewegt er seinen eins achtzig großen Körper endlich auf seinen Bruder zu. Er ist drauf und dran, ihn mal wieder anzufahren, als er plötzlich innehält. Denn er hört etwas, was ihm ganz und gar nicht gefällt – und zwar aus Richtung der Abstellkammer.

Bobby Marsh, ein früherer Schulkamerad Philips, steht am Fuß der Treppe neben der Kammer und wischt die Axt an seiner Jeans in der Größe XXL ab. Er ist ein beleibter Zweiunddreißigjähriger, der sein Studium hingeworfen hat. Mit seinen fettigen zurückgebundenen Haaren wirkt er zwar nicht richtig dick, aber er ist auf jeden Fall übergewichtig – genau der Typ, den seine ehemaligen Burke-County-Kommilitonen gerne einen Butterball nannten. Jetzt lacht er nervös und gereizt, als er Brian beim Übergeben zusieht. Dem Lachen fehlt jedoch die echte Freude, es klingt hohl und schrill. Das Kichern ist zu einer dummen Angewohnheit geworden, die Bobby nicht mehr abschütteln kann.

Dieser nervöse Tick fing vor drei Tagen an, als einer der ersten Untoten aus einer Tankstelle in der Nähe des Augusta-Flughafens stolperte. Der Mechaniker trug eine blutbesudelte Latzhose und schlurfte aus seinem Versteck. Er zog eine Rolle Toilettenpapier hinter sich her und hatte sich im Handumdrehen Bobbys dicken Stiernacken vorgenommen, ehe Philip sich eingemischt und das Wesen mit einer Brechstange mehr oder weniger zu Brei geschlagen hatte.

Die spätere Entdeckung jenes Tages – dass ein gezielter Schlag auf den Kopf vollauf reicht, die Ungeheuer außer Gefecht zu setzen – veranlasste Bobby zu einem heftigen Kicheranfall, was eine nervöse Abwehrreaktion vermuten ließ. Zwischen dem Gelächter stammelte er immer wieder: »Muss was im Wasser sein, Mann … Wie bei der Pest.« Aber Philip war schon damals nicht sonderlich an den Gründen für diese Katastrophe interessiert – inzwischen noch viel weniger.

»He!«, ruft Philip seinem Freund zu. »Findest du das etwa lustig?«

Bobby hört auf der Stelle mit dem Kichern auf.

Von der gegenüberliegenden Wand aus neben einem Fenster, das einen Blick auf den nachtdunklen großen Innenhof gewährt, beobachtet ein vierter Mann unruhig das Geschehen. Nick Parsons, ein weiterer Freund aus Philips missratener Kindheit, ist ein kompakter, schlanker Typ um die dreißig mit einem jungenhaften Auftreten und einer Frisur, mit der er in die Marine gepasst hätte. Er wirkt wie eine Sportskanone. Als der einzig Religiöse der Gruppe hat Nick länger als alle anderen gebraucht, sich an die Idee zu gewöhnen, Kreaturen abzuschlachten, die einmal Menschen gewesen waren. Jetzt sind seine Kakihose und Turnschuhe blutbesudelt, und seine Augen sind starr vor Schock, während er Philip nachsieht, wie dieser auf Bobby zugeht.

»Tut mir leid, Mann«, stammelt Bobby.

»Meine Tochter ist da drin und hat Todesangst«, knurrt Philip, hält wenige Zentimeter vor Bobby an und starrt ihm in die Augen. Diese explosive Mischung aus Zorn, Panik und Schmerz kann Philip Blake in Sekundenschnelle die Kontrolle verlieren lassen.

Bobby starrt auf den blutigen Fußboden. »Tut mir leid, tut mir wirklich leid.«

»Hol die Plane, Bobby.«

Keine zwei Meter entfernt kauert Brian Blake noch immer auf Händen und Knien und würgt die letzten Reste heraus, bis nichts mehr übrig ist.

Philip tritt zu seinem älteren Bruder und kniet sich neben ihn. »Raus damit.«

»Ich … Oh …«, krächzt Brian und zieht den Rotz hoch, während er krampfhaft versucht, einen klaren Gedanken zu fassen.

Philip legt seine große, schmutzig schwielige Hand auf die Schultern seines Bruders. »He, mach dir nichts daraus, Bruderherz … Nur immer raus damit.«

»Es tut mir … mir so l-leid.«

»Ist nicht wichtig.«

Brian fängt sich allmählich und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Glaubst du, du hast sie alle erwischt?«

»Ja.«

»Sicher?«

»Klar.«

»Hast du das … das ganze Haus durchsucht? Auch den Keller und so?«

»Yes, Sir. Sämtliche Räume. Selbst auf dem Speicher haben wir nachgeschaut. Der letzte Zombie hat sich aus seinem Versteck gewagt, als er deinen verdammten Husten gehört hat. Der ist ja auch laut genug, um Tote zu wecken. Es war ein junges Mädchen, das anscheinend Appetit auf Bobbys Doppelkinn hatte.«

Brian schluckt. Sein entzündeter Hals kratzt und tut weh. »Diese Leute … Sie … Sie haben hier gelebt.«

Philip seufzt. »Jetzt nicht mehr.«

Brian schafft es, sich einmal kurz umzublicken, ehe er zu seinem Bruder aufsieht. Sein Gesicht ist tränenfeucht. »Aber das war … Es war eine Familie.«

Philip nickt schweigend. Am liebsten würde er seinen Bruder an den Schultern packen und schütteln: Na und? Aber stattdessen nickt er erneut. Er denkt weder an die untote Familie, die er gerade ins Jenseits befördert hat, noch an die emotionalen Folgen des furchtbaren Gemetzels, das er während der letzten drei Tage angerichtet hat – das Abschlachten von Menschen, die einmal Mütter, Briefträger, Tankstellenwarte gewesen waren. Gestern noch gab Brian irgendeinen Bockmist zu Moral und Ethik angesichts dieser Situation von sich. Er meinte, moralisch gesehen dürfe man nicht töten, und zwar niemals. Aus ethischer Sicht jedoch – und das sei ein großer Unterschied – könne man das Töten zur Selbsterhaltung durchaus rechtfertigen. Philip hält das Ganze allerdings gar nicht für Töten. Schließlich kann man etwas nicht umbringen, das bereits umgebracht wurde. Man macht vielmehr kurzen Prozess damit, wie man es mit einem Insekt tut. Auf jeden Fall darf man nicht so viel nachdenken!

Tatsächlich denkt Philip im Augenblick so gut wie gar nicht nach – nicht einmal darüber, was seine kleine bunt zusammengewürfelte Truppe als Nächstes machen soll, obwohl das höchstwahrscheinlich allein seine Entscheidung sein wird – schließlich ist er der inoffizielle Anführer dieses Haufens, und je früher er sich damit abfindet, desto besser. Für den Augenblick konzentriert sich Philip Blake jedoch nur auf eines: Seitdem dieser Albtraum vor weniger als zweiundsiebzig Stunden angefangen hat und Menschen ganz einfach zu Monstern werden – aus bisher unerfindlichen Gründen –, gibt es für Philip Blake kein anderes Ziel mehr, als seine Tochter Penny in Sicherheit zu bringen. Deswegen ist er auch so schnell es ging vor zwei Tagen aus seiner Heimatstadt Waynesboro geflüchtet.

Die Gegend, ein Farmerstädtchen am östlichen Rand von Georgia, war im Handumdrehen zur Hölle gefahren, als die Menschen dort zuerst starben, dann aber plötzlich wieder vor den Lebenden standen. Es war jedoch vor allem Pennys Wohlbefinden gewesen, was Philip dazu gebracht hatte, von dort zu verschwinden. Und wegen Penny hatte er sich auch an seine alten Schulkameraden gewandt. Wegen Penny waren sie nach Atlanta gefahren. Dort sollten nämlich den Nachrichten im Fernsehen zufolge Flüchtlingslager aufgebaut werden. Alles nur wegen Penny. Sie ist das Einzige, was Philip noch geblieben ist. Sie ist es, die ihn noch aufrecht erhält – der einzige Trost für seine geschundene Seele.

Lange, ehe diese unerklärliche Epidemie über das Land hereingebrochen ist, schreckte ihn eine Leere in seinem Herz jeden Morgen um drei Uhr aus dem Schlaf. Genau um drei Uhr morgens verlor er seine Frau. Kaum zu glauben, dass es schon vier Jahre her ist. Das Ganze geschah auf einem regennassen Highway südlich von Athens. Sarah hatte eine Freundin an der Universität von Georgia besucht und etwas Alkohol getrunken, ehe sie auf der kurvigen Straße in Wilkes County die Kontrolle über das Auto verlor.

Von jenem Moment an, als er die Leiche identifiziert hatte, wusste Philip, dass sich sein Leben grundlegend geändert hatte. Er hatte keine Probleme damit, das zu tun, was getan werden musste: Er nahm einen zweiten Job an, um Penny alles geben zu können wie zuvor. Dennoch würde es nie mehr so sein wie zuvor. Vielleicht ist das der Grund für all das, was jetzt passierte. Ein kleiner Scherz von Gott. Wenn Heuschreckenplagen über das Land kommen und Blut die Flüsse rot färbt, nimmt der Mann, der am meisten zu verlieren hat, das Ruder in die Hand.

»Ist doch egal, wer sie einmal waren«, sagt Philip schließlich. »Oder was sie einmal gewesen sind.«

»Hm … Vielleicht hast du recht.« Mittlerweile hat sich Brian wieder etwas besser im Griff. Er sitzt mit überkreuzten Beinen auf dem Boden und atmet tief ein und aus. Er wirft einen Blick auf Bobby und Nick, die jetzt eine große Plane ausrollen und Müllsäcke bereitlegen. Dann schleppen sie die triefenden Leichen auf die Plane.

»Das Einzige, was jetzt zählt, ist aufräumen«, gibt Philip zu bedenken. »Wir können heute Nacht hier bleiben. Und wenn wir morgen früh Benzin auftreiben, fahren wir bis nach Atlanta weiter.«

»Das macht keinen Sinn«, murmelt Brian und starrt auf die Leichen.

»Was soll das heißen?«

»Schau sie dir doch an.«

»Was?« Philip wirft einen Blick über die Schulter auf die grausigen Überreste. Nick und Bobby sind gerade dabei, die Frau in die Plane einzupacken. »Was soll sein?«

»Das ist eine Familie.«

»Na und?«

Brian fängt wieder zu husten an und hält sich dann den Ärmel vor den Mund, um ihn daran abzuwischen. »Was ich damit sagen will … Wir haben eine Mutter, einen Vater und vier Kinder im Teenageralter … Fällt dir nichts auf?«

»Nein. Was soll mir auffallen?«

Brian blickt zu Philip hoch. »Wie kann so etwas passieren? Sind sie etwa alle auf einmal … Oder ist einer von ihnen gebissen worden und hat sich dann auf die anderen Familienmitglieder gestürzt?«

Philip überlegt einen Moment. Schließlich denkt auch er in stillen Momenten durchaus darüber nach, was vor sich geht und wie dieser Wahnsinn überhaupt angefangen hat. Doch dann langweilt ihn das Denken, und er meint: »Los, steh auf und fang endlich an, uns zu helfen.«

Es dauert eine Stunde, bis sie alles halbwegs aufgeräumt haben. Penny wartet die ganze Zeit über in der Abstellkammer. Philip bringt ihr zwei Kuscheltiere aus einem der Kinderzimmer und verspricht ihr, dass sie bestimmt bald herauskommen darf. Brian wischt das Blut auf und kämpft dabei immer wieder gegen seine Hustenanfälle an, während die anderen drei verpackte Leichen – zwei große und vier kleinere – aus der hinteren Schiebetür auf die Zedernholzveranda schleppen.

Es ist Ende September, und der klare Nachthimmel wirkt eisig wie ein schwarzer Ozean. Unzählige Sterne schimmern auf sie herab und scheinen sie mit ihrem teilnahmslosen und doch fröhlichen Funkeln zu verspotten. Der Atem der drei Männer steigt weiß in der Dunkelheit auf, als sie die Bündel über die mit gefrorenem Tau bedeckten Holzplanken zerren. An ihren Gürteln hängen Pickel, und Philip hat sich eine Pistole hinten in den Hosenbund gesteckt – eine alte Ruger mit einem Zweiundzwanziger-Kaliber, vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt erstanden. Er hat nicht vor, die Waffe zu benutzen, denn er will die Untoten nicht durch Schüsse auf sie aufmerksam machen. Der Wind trägt das verräterische Schlurfen der furchtbaren Wesen an ihre Ohren – wirres Gemurmel und schlurfende Schritte. Sie dringen aus der Dunkelheit zu ihnen herüber – wahrscheinlich aus dem Hinterhof eines der Nachbarhäuser.

Dieser Frühherbst ist ungewöhnlich kühl für Georgia. Heute Nacht soll das Thermometer bis null Grad und tiefer fallen. Zumindest verkündete das der örtliche Rundfunksender, ehe er sich mit einem lauten Rauschen verabschiedete. Bis jetzt konnten sich Philip und seine Leute per TV, Radio und das Internet über Brians Blackberry auf dem Laufenden halten.

Inmitten des Chaos versicherten sämtliche Nachrichtensender ihrem Publikum, dass alles nach Plan laufe. Die Regierung habe alles unter Kontrolle, und diese oder jene kleine Hürde würde innerhalb weniger Stunden überwunden sein. Auf fest zugeordneten Frequenzen gab der Zivilschutz regelmäßige Warnungen aus: Man solle das Haus nicht verlassen und wenig besiedelte Gegenden meiden. Außerdem solle man die Hände waschen, nur Wasser aus Flaschen trinken und so weiter und so fort.

Natürlich hat niemand auch nur einen blassen Schimmer. Das Schlimmste ist, dass immer mehr Fernseh- und Rundfunksender ausfallen. Zum Glück gibt es an Tankstellen noch Benzin, Lebensmittelläden verkaufen noch etwas zu essen, und das Stromnetz und die Ampeln funktionieren auch noch genauso wie Polizei und sonstige Infrastruktur, an deren dünnen Fäden die Zivilisation hängt.

Philip macht sich jedoch Sorgen, dass ein Stromausfall verheerende Folgen haben könnte.

»Ich schlage vor, wir werfen sie in den Müllcontainer hinter der Garage«, flüstert er kaum hörbar und zerrt zwei Plastikbündel den Holzzaun entlang in Richtung der riesigen Garage. Er will alles so rasch und so leise wie möglich hinter sich bringen. Sie dürfen bloß keine Zombies auf sich aufmerksam machen. Kein Feuer, keine lauten Geräusche und vor allem keine Schüsse, wenn es nur irgendwie geht.

Hinter dem zwei Meter hohen Zaun aus Zedernholz befindet sich ein schmaler Kiesweg, der zu den großen Garagen hinter den Höfen führt. Nick schleppt eine Leiche bis zum hohen Hoftor, einer soliden Konstruktion aus Planken mit einem geschmiedeten Griff. Er lässt den Sack fallen und öffnet.

Hinter dem Zaun wartet eine weitere Leiche auf ihn – diesmal aufrecht stehend.

»VERDAMMT! ALLE MANN AUFPASSEN!«, ruft Bobby Marsh warnend.

»Halt deinen Mund!«, zischt Philip ihn an und reißt sich den Pickel vom Gürtel, während er auf das Gartentor zusprintet.

Nick zuckt zurück.

Der Zombie wirft sich mit aufgerissenem Kiefer auf ihn, bereit zuzubeißen. Nur um wenige Zentimeter verfehlt er Nicks Brust. Das Geräusch der in der Luft zusammenschnappenden gelben Zähne ähnelt dem Klacken von Kastagnetten. Im Mondlicht kann Nick deutlich erkennen, dass er es mit einem Mann zu tun hat, der einen zerrissenen Izod-Pullover, eine Golfhose und dazu passende teure Schuhe trägt. In seinen milchigen Augen spiegelt sich fahl das Sternenlicht wider: Das war mal ein Großvater.

Nick erhascht noch einen Blick auf das Monster, bevor er rückwärtstaumelnd mit dem Hintern auf dem üppig wachsenden Kentucky Bluegrass landet. Der tote Golfer wankt durch den Spalt im Tor auf den Rasen, als ein fliegendes, rostiges Stück Metall im Mondlicht aufblitzt.

Philips Pickel gräbt sich tief in den Kopf des Untoten und spaltet die Schädeldecke des Alten, ehe er die dichten, fasrigen Membranen der harten Hirnhaut durchdringt und sich in die gallertartige Masse seines Scheitellappens gräbt. Es hört sich so an, als ob man Stangensellerie zerbricht. Eine bräunliche Flüssigkeit spritzt hervor. Die insektenhafte Entschlossenheit im Gesicht des Alten ist plötzlich verschwunden und verwandelt sich in ein verblüfftes Staunen.

Der Zombie sackt in sich zusammen.

Philip reißt an dem Pickel, der tief im Schädel steckt. Er versucht es noch einmal, aber die Spitze hat sich verhakt. »Schließ das gottverdammte Tor! Sofort! Aber sei bloß leise«, faucht Philip panisch flüsternd, ehe er mit der Stahlkappe an seinem linken Arbeitsstiefel heftig auf den bereits zerstörten Schädel des Leichnams tritt.

Die beiden anderen Männer bewegen sich, als ob sie synchron miteinander tanzen würden: Bobby lässt rasch sein Leichenbündel fallen und eilt zum Gartentor, während Nick sich aufrappelt, um dann vor Entsetzen rückwärtszustolpern. Bobby schiebt den Riegel ins Schloss. Das metallene Geräusch hallt über die düster daliegenden Rasenflächen der angrenzenden Gärten.

In der Zwischenzeit schafft es Philip, den Pickel aus dem störrischen Schädel des Zombies zu ziehen. Es hört sich wie ein schmatzender Kuss an. Einen Moment lang steigt Panik in ihm auf. Dennoch wendet er sich wieder der toten Familie in den Planen und Säcken zu, um sie endlich zu entsorgen, als ihm ein merkwürdiges Geräusch an seine Ohren dringt. Es kommt vom Haus.

Ruckartig blickt er auf. Licht dringt aus den Fenstern des Hauses.

Brians Silhouette zeigt sich hinter der gläsernen Schiebetür. Er klopft an die Scheibe und winkt Philip und die beiden anderen hektisch zu sich. Die Angst steht ihm im Gesicht geschrieben. Das hat nichts mit dem toten Golfer zu tun – so viel ist Philip klar. Im Haus stimmt etwas nicht.

Gütiger Himmel, bitte lass Penny unversehrt sein!

Philip lässt den Pickel fallen und überquert mit großen Schritten den Rasen.

»Und was ist mit den Leichen?«, ruft Bobby Marsh.

»Lass sie liegen«, erwidert Philip, während er die Stufen zur Veranda hinaufrennt.

Brian schaut ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich muss dir was zeigen, Mann.«

»Was ist los? Wie geht es Penny? Ist sie okay?« Atemlos stürzt Philip ins Haus. Bobby und Nick eilen zur Veranda und drängen sich hinter ihm hinein.

»Penny geht es gut«, erwidert Brian. Er hat ein gerahmtes Foto in der Hand. »Wirklich, ihr geht es gut. Es macht ihr nichts aus, noch länger in der Abstellkammer zu warten.«

»Mein Gott, Brian, was zum Teufel soll das dann?« Philip holt tief Luft und ballt die Hände zu Fäusten.

»Ich muss dir was zeigen. Wollen wir hier heute Nacht wirklich bleiben?« Brian dreht sich zur Schiebetür. »Sieh dir das an. Die Familie ist doch da drinnen gestorben, nicht wahr? Alle sechs.«

Philip wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Nun spuck es schon aus, Mann.«

»Pass auf. Irgendwie sind sie alle gleichzeitig infiziert worden, die ganze Familie. Oder – so scheint es doch, nicht wahr?« Brian hustet einen Moment lang und zeigt dann auf die sechs Bündel in der Nähe der Garage. »Da draußen auf dem Gras liegen sechs Leichen. Mutter, Vater und vier Kinder.«

»Was soll das?«

Brian hält das Foto hoch. Ein Familienfoto aus besseren Tagen. Alle lächeln etwas verlegen und tragen offenbar ihre schönsten Kleider. »Das habe ich auf dem Klavier gefunden«, erklärt Brian.

»Na und?«

Brian zeigt auf das jüngste Kind auf dem Foto. Ein etwa elf- oder zwölfjähriger Junge in einem marineblauen Anzug mit blonden Haaren und einem schüchternen Lächeln.

Brian blickt seinen Bruder an. »Da sind sieben Leute auf dem Foto.«

Zwei

Das elegante Haus aus der Kolonialzeit, das Philip für eine längere Pause auserkoren hat, liegt in einer gepflegten kleinen Straße mit üppigem Baumbestand. Es befindet sich in einer etwas unübersichtlichen Wohnanlage, die man Wiltshire Estates nennt.

Der fünfundzwanzig Quadratkilometer große Ort ist etwa dreißig Kilometer von Atlanta entfernt, in der Nähe des Highway 278. In einem Naturpark gelegen, inmitten eines dichten Waldes aus Sumpfkiefern und riesigen alten Eichen, gibt es hier auch im Süden der Siedlung einen von Fuzzy Zoeller entworfenen Golfplatz mit sechsunddreißig Löchern.

In dem Prospekt, den Brian Blake vom Boden eines verlassenen Wachhäuschens vor wenigen Stunden aufgelesen hat, wird die Gegend in der typischen Sprache eines Marketingmenschen angepriesen: In den Wiltshire Estates vermischen sich preisgekrönter Lifestyle mit Weltklassekomfort … Von GOLF Magazine Living als »Crème de la crème« ausgezeichnet … lockt Wiltshire Estates u. a. mit einer Triple-A Five Diamond Shady Oaks Plantatin Therme … Sicherheitspatrouillen rund um die Uhr … Häuser von 475.000 bis zu einer Million Dollar.

Eingepfercht in Philips Chevy Suburban kam die kleine Gruppe bei Sonnenuntergang vor den kunstvoll gearbeiteten äußeren Toren der Anlage an. Also wieder ein Stück näher an Atlanta. Im Licht der Scheinwerfer sahen sie die gusseisernen Tore mit den Kreuzblumen und das große bogenförmige Schild mit dem Namen Wiltshire Estates, das zwischen zwei Spitzen am Metall der Tore angebracht war. Neugierig stiegen sie aus, um sich etwas umzusehen.

Zuerst hoffte Philip, dass sie hier eine Weile bleiben konnten. Vielleicht würden sie sogar etwas zu essen finden, ehe sie ausgeruht die letzte Etappe ihrer Reise in Angriff nahmen. Vielleicht würden sie auch auf andere Menschen treffen, vielleicht sogar auf ein paar Leute, die ihnen helfen könnten. Aber nachdem die fünf müden, hungrigen, nervösen und etwas benommenen Reisenden die verwinkelten Straßen der Wilthire Estates in der Dunkelheit langsam durchfahren hatten, war ihnen klar, dass sie hier kein Leben mehr finden würden.

Sämtliche Häuser lagen im Dunklen, keine Autos zu sehen. Wasser aus einem Hydranten überflutete eine Kreuzung und den angrenzenden Rasen. An einer Straßenecke stand ein verlassener BMW, die Motorhaube hatte sich um einen Telefonmasten gewickelt. Die verbogene Beifahrertür war offen. Alles sah danach aus, als ob die Insassen des Wagens Hals über Kopf geflüchtet waren.

Der Anlass für ihre Flucht war leicht zu erkennen. Überall auf dem Golfplatz, den düsteren Seitenstraßen und sogar auf den hell beleuchteten Hauptstraßen waren dunkle Gestalten zu sehen. Zombies torkelten ziellos wie unheimliche Schatten ihres früheren Selbst durch die Gegend. Aus ihren offen stehenden Mündern drang ein krächzendes Stöhnen, das Philip sogar durch die geschlossenen Scheiben seines Chevy Suburban hören konnte, als er durch die breiten, neu geteerten Straßen fuhr.

Die Pandemie, oder was auch immer diese Katastrophe ausgelöst hatte, war also auch in Wiltshire Estates eingetroffen. Die meisten Untoten stolperten durch die Büsche und über die Wege des Golfplatzes. Vielleicht weil Golfer oft älteren Jahrgangs und somit langsam waren? Oder schmeckten sie den Zombies einfach besonders gut? Wer zum Teufel konnte das wissen. Aber selbst aus mehreren hundert Metern Entfernung durch Bäume hindurch und über Zäune hinweg war es offensichtlich, dass sich Hunderte von Untoten in dem riesigen Klubhaus, auf den Fairways, den Brücken und in den Bunkern versammelt hatten.

In der Dunkelheit der Nacht ähnelten sie Insekten, die scheinbar ziellos durch die Finsternis schwärmten.

Ihr Anblick war mehr als verstörend. Die Katastrophe hatte offenbar den ganzen Ort mit seinen nicht enden wollenden Einbahnstraßen und kurvigen Alleen so gut wie aussterben lassen. Je länger Philip und seine Leute durch die menschenleere Siedlung kurvten, desto mehr sehnten sie sich nach dem preisgekrönten Lifestyle, der hier nirgendwo mehr zu finden war. Es hätte ihnen schon wenig gereicht, um sich etwas zu erholen und die Batterien wieder aufzuladen.

Sie hatten gehofft, dass sie die Nacht hier verbringen konnten, um den nächsten Tag frisch und erholt in Angriff zu nehmen.

Also wählten sie das große, im Kolonialstil erbaute Haus am Ende der Green Briar Lane. Es schien weit genug vom Golfplatz entfernt zu sein, sodass die Zombies sie hoffentlich gar nicht erst bemerken würden. Außerdem hatte es einen großen Garten, und der hohe Zaun machte einen soliden Eindruck. Es stand leer. Als sie leise über den Rasen zum Nebeneingang schlichen – das Auto vor dem Haus war nicht abgeschlossen, und der Schlüssel steckte im Zündschloss –, um einer nach dem anderen durch ein Fenster ins Innere zu klettern, wurden sie sogleich willkommen geheißen. Beim ersten Knarzen aus dem oberen Stockwerk befahl Philip Nick, sämtliche Äxte und Pickel aus dem Kofferraum des Suburban zu holen.

»Ich sage es noch einmal: Wir haben alle erwischt«, verkündet Philip nun und versucht, seinen Bruder zu beruhigen, der am Frühstückstisch in der Küche Platz genommen hat.

Brian antwortet nicht, sondern starrt auf seine Schüssel Cornflakes. Daneben steht eine Flasche Hustensaft, die Brian bereits zu einem Viertel geleert hat.

Neben ihm sitzt Penny vor einer Schale Cap’n Crunch. Ein kleiner Stoffpinguin, so groß wie eine Birne, wacht über ihr Essen, und ab und zu hält sie dem Tier einen Löffel hin und tut so, als ob sie mit ihm teilen würde.

»Wir haben das ganze Haus durchkämmt, jeden Zentimeter«, fährt Philip fort und reißt die Küchenschränke auf: bis obenhin voll mit allen erdenklichen Delikatessen. Mit ihren Kristallgläsern, Weinregalen, handgemachten Pastas, ausgefallenen Marmeladen und Gelees, Gewürzen, von denen Philip noch nie gehört hat, teuren Likören und unzähligen Kochutensilien gleicht die Küche einem Schlaraffenland. Der riesige Gasherd ist blitzsauber, und der riesige Kühlschrank mit dem großen Eisfach ist bis zum Rand mit exklusivem Fleisch, Früchten, Brotaufstrichen, Milchprodukten und kleinen weißen Pappschachteln mit den Überresten einer chinesischen Mahlzeit gefüllt. »Vielleicht war der Junge ja gerade bei Verwandten oder so«, meint Philip und bemerkt eine Flasche Bourbon auf einem der Regale. »Könnte bei den Großeltern gewesen sein, oder er hat bei Freunden übernachtet. Alles ist möglich.«

»Mann! Seht euch das an!«, ruft Bobby Marsh begeistert. Er steht vor der Vorratskammer und betrachtet zufrieden die Schätze, die sich darin stapeln. »Das ist ja wie bei Charlie und die Schokoladenfabrik! Kekse, Pralinen … Und das Brot ist sogar noch fast frisch.«

»Brian, wir sind hier sicher«, versucht Philip seinen Bruder zu beruhigen und schnappt sich die Flasche Bourbon vom Regal.

»Sicher?« Brian Blake starrt auf den Tisch. Er hustet und schüttelt sich.

»Das habe ich doch gerade gesagt. Und ob du willst oder nicht – ich habe mir gedacht, dass …«

»Schon wieder einer weg!«, sagt eine Stimme aus einer Ecke der Küche.

Nick. Seit zehn Minuten zappt er nervös auf einem kleinen Flachbildschirmfernseher, der neben der Spüle unter einem Küchenschrank angebracht ist, durch die Fernsehkanäle, um die Nachrichten zu durchforsten. Es ist dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig und an der Zeit, die Nachrichten auf Fox 5 aus Atlanta einzuschalten. Doch der Sender hat sich gerade in Rauschen aufgelöst. Das Einzige, was sie außer den nationalen Netzwerken, die nur Wiederholungen von Tierfilmen oder alte Schwarz-Weiß-Schmonzetten bringen, noch empfangen können, sind die Nachrichten auf CNN aus Atlanta. Doch alles, was ihnen da geboten wird, sind die gleichen alten Meldungen und Storys, die sie schon seit Tagen kennen. Auch Brians Blackberry gibt langsam den Geist auf. Der Empfang hier draußen in Wiltshire Estates ist eher sporadisch. Wenn er einmal funktioniert, erhält Brian sogleich eine Unmenge von Spammails, Facebook-Tags und anonymen Tweets mit solch kryptischen Meldungen wie:

… UND DAS REICH WIRD IN FINSTERNIS GEHÜLLT …

… ZUERST FIELEN DIE VÖGEL VOM HIMMEL. SO FING ALLES AN …

… ALLES VERBRANNT, ALLES VERBRANNT …

… BLASPHEMIE GEGEN GOTT …

… WENN DU SCHWACH BIST, STIRBST DU …

… DAS HAUS DES HERRN IST ZUR HEIMAT VON DÄMONEN VERKOMMEN …

… SCHIEBT MIR NICHT DIE SCHULD IN DIE SCHUHE, ICH BIN LIBERAL …

… FRESST MICH …

»Schalt das Ding aus, Nick«, ermahnt Philip seinen Freund finster und lässt sich mit der Flasche in der Hand auf einem Stuhl nieder. Er runzelt die Stirn und fasst mit einer Hand nach hinten, wo er die Pistole in die Hose gesteckt hat. Diese legt er auf den Tisch, öffnet die Flasche Whiskey und nimmt gierig einen großen Schluck.

Brian und Penny starren auf die Waffe.

Philip macht die Flasche wieder zu und wirft sie zu Nick hinüber, der sie mit der Leichtigkeit eines Baseballspielers, der er einmal war, fängt. »Schalte mal den Alkohol-Kanal für ein Weilchen an … Du musst schlafen und dir nicht die ganze Nacht über diesen Schwachsinn reinziehen.«

Nick nimmt einen Schluck und dann noch einen, ehe er die Flasche wieder schließt und sie Bobby zuwirft.

Dieser lässt sie beinahe fallen, so sehr ist er von der Speisekammer und ihrem Inhalt in Bann gezogen. Er verschlingt gerade eine Packung Oreo-Kekse; der schwarze Teig sammelt sich bereits in seinen Mundwinkeln. Gierig spült er die Kekse mit einem großen Schluck Bourbon runter und rülpst zufrieden.

Philip und seine beiden Kumpel sind es gewohnt, zusammen einen draufzumachen und zu trinken, und in dieser Nacht brauchen sie es mehr denn je. Es hatte alles mit Crème de Menthe und Melonenwein beim Zelten im elterlichen Garten im ersten Semester in Burke County angefangen und sich nach und nach zu Saufgelagen nach dem American Football entwickelt. Niemand kann so viel trinken wie Philip Blake. Doch die beiden anderen liegen Kopf an Kopf, was den zweiten Platz betrifft.

Kurz nach seiner Hochzeit zog Philip noch des Öfteren mit seinen Kumpanen um die Häuser, um die Zeiten des unbeschwerten Single-Daseins noch einmal auszukosten. Aber nach Sarahs Tod drifteten die drei Männer auseinander. Der Stress als alleinerziehender Vater zusammen mit der Arbeit in der Werkstatt und die Nachtschichten als Lkw-Fahrer mit Penny in der Koje hinter der Fahrerkabine laugten Philip aus. Ihre Zusammenkünfte fanden kaum noch statt. Ab und zu schafft es Philip, sich genügend Zeit freizuschaufeln, um mit Bobby und Nick im Tally Ho, im Wagon Wheel oder einer anderen Kneipe in Waynesboro gemütlich die Kehle anzufeuchten – während Mama Rose gewöhnlich auf Penny aufpasst.

In den letzten Jahren hat Philip begonnen, sich zu fragen, ob er diese Abende nicht nur noch als eine Art Pflichtveranstaltung betrachtet, um sich zu beweisen, dass er noch am Leben ist. Das war vielleicht auch der Grund, warum er Bobby und Nick am vergangenen Sonntag unbedingt mit auf die Reise nehmen wollte – an jenem Tag, als es in Waynesboro so richtig schlimm wurde und er beschloss, sich Penny zu schnappen und sie in Sicherheit zu bringen. Irgendwie waren seine Freunde Teil seiner Vergangenheit, und das gab ihm ein etwas besseres Gefühl.

Brian jedoch war nicht Teil seines Plans gewesen. Er hätte ihn auch nie mitgenommen, wenn er ihn nicht zufällig wiedergesehen hätte. Am ersten Tag ihrer Flucht beschloss Philip, als sie sich etwa sechzig Kilometer westlich von Waynesboro befanden, einen Abstecher nach Deering zu machen, um nach den Eltern zu schauen. Die beiden wohnten in einer Seniorenanlage in der Nähe des Militärstützpunktes Fort Gordon. Als Philip vor dem Reihenhaus anhielt, stellte er jedoch fest, dass alle Anwohner der Anlage aus Sicherheitsgründen bereits nach Fort Gordon evakuiert worden waren.

Das war die gute Nachricht. Die schlechte war, dass sich Brian im elterlichen Haus befand. Er hatte sich in dem verlassenen Gebäude verschanzt, und zwar war er in den Kriechkeller gerobbt und schlotterte dort vor Angst vor den lebenden Toten. Philip hatte Brian in den letzten Jahren so gut wie aus den Augen verloren und wusste nur wenig von seinem Leben: Nach dem Scheitern seiner Ehe mit dieser verrückten Jamaikanerin aus Gainesville, die alles aufgegeben hatte, um nach Jamaika zurückzugehen, war Brian zu seinen Eltern gezogen. Als ob das nicht reichte, hatte er zudem noch jede seiner bescheuerten Geschäftsideen in den Sand gesetzt, die er jemals hatte, wobei die meisten von ihren Eltern gesponsert wurden – so auch sein geniales Vorhaben, einen Musikladen in Athens aufzumachen. In Athens! Wo es bereits an jeder Ecke einen Musikladen gibt! Allein bei dem Gedanken, auf seinen großen Bruder aufpassen zu müssen, zuckte Philip zusammen. Aber es blieb ihm wohl nichts anderes übrig.

»He, Philly«, sagt Bobby jetzt zu ihm, während er die letzten Kekse verputzt. »Glaubst du, dass die Flüchtlingslager in der Stadt noch immer offen sind?«

»Woher soll ich das wissen?« Philip wirft einen Blick auf seine Tochter. »Wie geht es dir, Schatz?«

Das kleine Mädchen zuckt mit den Achseln. »Okay.« Ihre Stimme ist kaum hörbar. Sie klingt wie ein kaputtes Windspiel, das leise hin und her schaukelt, während sie auf den Pinguin neben ihr starrt. »Geht schon.«

»Wie gefällt dir das Haus? Magst du es?«

Penny zuckt erneut mit den Schultern. »Weiß nicht.«

»Was würdest du dazu sagen, wenn wir ein wenig hier bleiben würden?«

Alle starren ihn an. Brian reißt die Augen auf. Nach einer Weile meint Nick: »Was soll das genau heißen: ein wenig?«

»Her mit der Flasche«, erwidert Philip und gibt Bobby ein Zeichen, dass er ihm die Flasche zuwerfen soll. Als er sie hat, öffnet er sie und nimmt einen großen Schluck. Er genießt es, wie der Whiskey in seiner Kehle brennt. »Schaut euch doch mal um«, meint er schließlich, nachdem er sich den Mund am Ärmel abgewischt hat.

Brian ist verwirrt. »Aber du hast doch gesagt, dass wir hier nur eine Nacht bleiben.«

Philip holt tief Luft. »Richtig, das hab ich. Aber ich bin gerade dabei, meine Meinung zu ändern.«

»Ja, aber …«, wirft Bobby ein.

»Hört zu. Ich will damit nur sagen, dass es vielleicht keine schlechte Idee wäre, ein Weilchen abzutauchen.«

»Schon. Aber, Philly, aber was ist mit …«

»Bobby, wir könnten einfach hierbleiben und abwarten, wie sich die Lage entwickelt.«

Nick hat gespannt zugehört. »Philip, jetzt komm schon, Mann. In den Nachrichten heißt es, dass es in den Städten am sichersten ist …«

»In den Nachrichten? He, Mann, vergiss den Schwachsinn. Die Nachrichten sind genauso Schnee von gestern wie der Rest der Bevölkerung. Schau dich um. Glaubst du, dass eine Unterkunft, die uns die Regierung zur Verfügung stellt, auch nur annähernd so gut ausgestattet ist wie diese? Hier haben wir Betten, genügend Essen für die nächsten Wochen und zwanzig Jahre alten Whiskey. Es gibt Duschen, heißes Wasser und eine Waschmaschine.«

»Aber wir sind so kurz vor dem Ziel«, wirft Bobby nach einem kurzen Schweigen ein.

Philip seufzt. »›Kurz‹ kann alles heißen.«

»Es sind höchstens noch dreißig Kilometer, keinen Meter weiter.«

»Es könnten meinetwegen auch dreißigtausend Kilometer sein. Allein die zurückgelassenen Autos, die überall auf den Straßen stehen, sprechen Bände. Auf dem Highway 278 wimmelt es nur so von Monstern.«

»Das stört uns doch nicht«, versichert Bobby. Seine Augen leuchten plötzlich auf, und er schnippst mit den Fingern. »Wir bauen uns einen … Wie heißt das noch mal? So ein Ding vor die Stoßstange des Chevy … Genau, einen Scheißschieber. Mann, wie in diesem geilen Streifen Mad Max II …«

»Achte auf deine Ausdrucksweise, Bobby«, ermahnt ihn Philip und nickt in Pennys Richtung.

Nick meldet sich erneut zu Wort. »Mann, wenn wir hierbleiben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Monster uns …« Er hält inne und wirft einen Blick auf das kleine Mädchen. Die anderen verstehen auch so, was er sagen will.

Peggy starrt auf ihre Schale. Es scheint so, als ob sie überhaupt nicht zuhören würde.

»Dieses Haus hält viel aus«, kontert Philip, stellt die Flasche ab und verschränkt seine muskulösen Arme vor der Brust. Er dachte bereits an die umherwandernden Scharen draußen auf dem Golfplatz. Sie würden sie vorerst bestimmt in Ruhe lassen. Natürlich müssen sie sich still verhalten, die Fenster verdunkeln und dürfen keine Lebenszeichen von sich geben. Alles muss so ruhig und leise wie möglich ablaufen. Bloß kein Aufsehen erregen. »Solange wir Strom haben und den Kopf nicht verlieren, wird das hier super laufen.«

»Mit einer einzigen Pistole?«, fragt Nick. »Mann, sobald wir das Ding benutzen, rennen sie uns die Bude ein.«

»Wir sehen uns einfach um. Vielleicht gibt es ja noch Waffen in den anderen Häusern. Diese reichen Typen gehen doch gern auf die Jagd. Vielleicht finden wir sogar einen Schalldämpfer für meine Ruger … Mann, den können wir sogar selbst basteln. Habt ihr schon die Werkstatt im Keller gesehen?«

»Geht’s noch, Philip? Was soll das? Sind wir jetzt Büchsenmacher geworden? Alles, was wir haben, um uns vor diesen Kreaturen zu schützen, sind …«

»Philip hat recht.«

Brians Stimme klingt zwar heiser und atemlos, aber er scheint sich auf einmal sicher zu sein. Er schiebt seine Schale mit Cornflakes von sich fort und blickt seinen Bruder an. »Du hast recht.«

Philip ist wohl am meisten über die klare Gewissheit überrascht, die in Brians Stimme anklingt.

Dieser steht auf, geht um den Tisch herum und stellt sich auf die Schwelle zu dem geräumigen, gut ausgestatteten Wohnzimmer. Es liegt im Dunkeln, die Vorhänge sind zugezogen. Brian zeigt auf die gegenüberliegende Wand. »Eigentlich ist nur die Vorderseite des Hauses ein Problem. Die Seiten und der hintere Teil sind durch den hohen Zaun geschützt. Die Untoten können offenbar keine Hindernisse überwinden … Und wie es aussieht, hat hier jedes Haus einen eingezäunten Garten.« Für einen Augenblick befürchten die anderen, Brian müsste ersticken, so heftig hustet er. Aber er beruhigt sich wieder und hält eine Hand vor den Mund. Schließlich fährt er fort: »Wenn wir uns das eine oder andere von den Nachbarhäusern borgen, können wir vielleicht sogar unseren Vorgarten sichern – und die der Nachbarhäuser.«

Bobby und Nick werfen sich vielsagende Blicke zu. Doch keiner von ihnen sagt ein Wort, bis Philip endlich schwach lächelt. »He, das muss man dem College-Boy lassen. Wenn er recht hat, dann hat er recht.«

Es ist schon ein Weilchen her, seitdem sich die beiden Blake-Brüder mit einem Lächeln bedacht haben. Doch jetzt merkt Philip zum ersten Mal, dass ihm dieser Taugenichts von Bruder offenbar helfen und auch seinen Mann stehen will. Brian hingegen genießt Philips Anerkennung sichtlich.

Nick ist noch immer nicht überzeugt. »Und für wie lange? Ich komme mir hier wie ein Lockvogel vor.«

»Wir wissen doch gar nicht, was hier vor sich geht«, sagt Brian. Seine Stimme klingt heiser und irgendwie manisch. »Wir haben noch immer keine keine Ahnung, was das hier ausgelöst hat und wie lange es dauern wird … Vielleicht wird ja bald herausgefunden, wie man es bekämpfen kann, oder man entdeckt ein Gegenmittel oder so … Die könnten Chemikalien aus Sprühflugzeugen spritzen, oder die Gesundheitsbehörde bekommt alles unter Kontrolle … Kann doch sein. Ich glaube, Philip hat recht. Wir sollten hier ein wenig entspannen und Kraft tanken.«

»Verdammt richtig«, stimmt Philip mit einem Lächeln ein, die muskulösen Arme noch immer verschränkt. Er zwinkert seinem Bruder zu.

Brian zwinkert zufrieden zurück und nickt Philip zu, während er sich eine Haarsträhne aus den Augen wischt. Er atmet tief ein und tritt dann triumphierend zu der Flasche Whiskey, die auf dem Tisch neben Philip steht. Rasch fasst er in einer fließenden Bewegung danach, die eine Körperbeherrschung verrät, welche er schon seit Jahren nicht mehr an den Tag gelegt hat. Er führt die Flasche zum Mund und nimmt einen großen Schluck mit der siegessicheren Geste eines Wikingers, der seine erste erfolgreiche Jagd feiert.

Kaum berührt der erste Tropfen Whiskey seine Kehle, krümmt sich Brian jedoch zusammen und schüttelt sich vor Husten. Der Whiskey in seinem Mund spritzt durch die Küche. Er hustet und hustet, bis er völlig außer Atem ist. Einen Augenblick lang schauen ihn die anderen hilflos an. Penny ist wie vom Blitz gerührt und starrt ihn mit ihren riesigen Augen an, während sie sich die Whiskeytropfen von der Wange reibt.

Philip betrachtet seinen erbärmlichen Bruder und wirft dann seinen Kumpels einen Blick zu. Vor der Speisekammer hat Bobby Marsh seine Schwierigkeiten, ein Lachen zu unterdrücken. Nick kann das Zucken um seine Mundwinkel kaum bändigen. Philip versucht etwas zu sagen, kann dann aber nicht anders und beginnt zu lachen. Das Lachen wirkt ansteckend, und die anderen fangen jetzt ebenfalls an.

Bald sind alle außer Rand und Band – selbst Brian –, und zum ersten Mal seit dem Beginn dieses schrecklichen Albtraums ist es ein echtes, wirkliches Lachen. Einen Moment lang ist es wie eine Befreiung von dem Düsteren und unheimlich Zerbrechlichen, das in allen von ihnen lauert.

In der Nacht halten sie Wache und schlafen nur abwechselnd. Jeder bekommt sein eigenes Zimmer im ersten Stock. Die zurückgebliebenen Gegenstände der ehemaligen Bewohner wirken dabei wie unheimliche Objekte aus einem Museum: ein Nachttisch mit einem halbvollen Glas Wasser, ein John-Grisham-Roman, der nie zu Ende gelesen wird, zwei Pompons für eine Cheerleaderin über dem Himmelbett in einem Mädchenzimmer.

Den Großteil der Nacht sitzt Philip im Wohnzimmer im Erdgeschoss und wacht über das Haus. Neben ihm auf einem Beistelltisch liegt seine Pistole. Penny befindet sich unter mehreren Decken auf dem großen Sofa neben seinem Stuhl. Sie versucht vergeblich einzuschlafen. Gegen drei Uhr morgens, als Philips gequälte Gedanken immer wieder zu dem unheilvollen Unfall seiner Frau zurückdriften, bemerkt er aus den Augenwinkeln, dass sich Penny noch immer unruhig hin und her wälzt.

Philip lehnt sich zu ihr hin, streicht ihr über die dunklen Haare und flüstert: »Kannst du nicht schlafen?«

Das kleine Mädchen zieht sich die Decke bis zum Kinn und blickt zu ihm auf. Sie schüttelt den Kopf. Das orangefarbene Glühen des Heizlüfters, den Philip neben die Couch gestellt hat, verleiht ihrem blassen Gesicht etwas Engelhaftes. Von draußen trägt der Wind den schrillen Sprechchor aus unentwegtem Stöhnen herein, der trotz des leisen Blasens des Heizlüfters gerade noch wahrzunehmen ist. Er lässt an die Brandung unwirklicher Wellen denken, die auf die Küste treffen.

»Daddy ist bei dir, Schatz. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, beruhigt Philip sie liebevoll und streichelt ihr über die Wange. »Ich werde immer für dich da sein.«

Sie nickt.

Philip schenkt ihr ein Lächeln. Er beugt sich über sie und gibt ihr einen Kuss auf die linke Augenbraue. »Niemand und nichts wird dir etwas antun. Dafür werde ich sorgen.«

Sie nickt erneut. Der kleine Pinguin lugt zwischen ihrem Hals und ihrem Kinn hervor. Sie blickt ihn an und runzelt die Stirn. Dann hebt sie ihn an ihr Ohr, als ob sie ihm zuhören würde, während er ihr ein Geheimnis anvertraut. Danach schaut sie wieder zu ihrem Vater hoch. »Daddy?«

»Ja, mein Schatz?«

»Pinguin möchte etwas wissen.«

»Was denn?«

»Pinguin möchte wissen, ob die Leute krank sind.«

Philip holt tief Luft. »Sag dem Pinguin: Ja, sie sind krank. Die sind viel mehr als nur krank. Und darum haben wir sie … haben wir sie von ihrem Leid erlöst.«

»Daddy?«

»Ja?«

»Pinguin will wissen, ob wir auch krank werden.«

Philip streicht ihr erneut mit der Hand über die Wange. »Nein, meine Kleine. Sag Pinguin, dass wir gesund bleiben. Gesund genug, um Bäume auszureißen.«

Das scheint das Mädchen so weit zu beruhigen, dass es sich von ihrem Vater abwendet und erneut in die Luft zu starren beginnt.

Gegen vier Uhr morgens quält sich ein weiterer unruhiger Geist mit anderen unbeantwortbaren Fragen. Unter einem Haufen Decken, den dünnen Körper lediglich in T-Shirt und Unterhose gehüllt, treibt das Fieber Brian Blake den Schweiß auf die Stirn. Im Zimmer des toten Mädchens dieses Hauses starrt er auf die stuckverzierte Decke und überlegt, ob die Welt wohl so enden soll. War es nicht Rudyard Kipling, der einmal sagte, dass die Welt nicht mit einem Knall, sondern mit Gewimmer untergehen wird? Nein, einen Augenblick … Das war Eliot. S. Eliot. Brian erinnert sich daran, das Thema dieses Gedichts an der Uni behandelt zu haben. Hieß es nicht Die hohlen Männer? Es war an der Universität von Georgia gewesen, in einem Kurs für vergleichende Literaturwissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert. Dieses Studium hatte ihm wirklich verdammt viel gebracht.

Er liegt da und grübelt über seine Misserfolge nach – wie jede Nacht. Doch diesmal mischen sich auch die Eindrücke des Gemetzels hinein, wie schreckliche Bilder aus einem Snuff-Film, die sich in sein Bewusstsein drängen.

Alte Dämonen tauchen wieder auf, vermengen sich mit neuen Ängsten und quälen ihn bis in sein Innerstes: Hätte er etwas tun oder sagen können, um seine Exfrau Jocelyn bei sich zu behalten und sie davon abzubringen, ihm diese ganzen schrecklichen Vorwürfe zu machen, ehe sie ein für alle Mal zurück nach Montego Bay fuhr? Kann man Monster mit einem einzigen Hieb auf den Kopf töten, oder muss man auch das Hirngewebe zerstören? Hätte er etwas tun können – selbst betteln oder sich Geld leihen –, um seinen Musikladen in Athens zu behalten, der einzige seiner Art im Süden, seine grandiose Idee eines Ladens, der ausschließlich Hip-Hop-Künstler mit neu ausgestatteten Plattenspielern, gebrauchten Bassboxen und protzigen Mikros im Stil von Snoop Doggs Bling bediente? Wie schnell wächst die Zahl der unglücklichen Opfer da draußen eigentlich? Handelt es sich um eine luftübertragene Krankheit oder verbreitet sie sich über das Wasser wie der Ebolavirus?

Seine Gedanken drehen sich eine Weile im Kreis, bevor er sich wieder auf das Hier und Jetzt besinnt. Er kann das Gefühl nicht abschütteln, dass sich das siebte Familienmitglied, das hier einmal gewohnt hat, noch immer irgendwo im Haus befindet.

Jetzt, da er Bobby und Nick dazu brachte hierzubleiben, muss er erst recht immer wieder an den Jungen denken. Er nimmt jedes Knarzen, jedes noch so leise Geräusch des Hauses wahr, selbst das Surren der Heizung, wenn sie anspringt. Aus ihm unerfindlichen Gründen ist er sich absolut sicher, dass sich der blonde Junge noch im Haus befindet und wartet, bis … Ja, bis was? Vielleicht wurde der Kleine ja gar nicht angesteckt. Vielleicht schlottert er stattdessen vor Angst in einem Versteck.

Ehe sie zu Bett gingen, bestand Brian noch einmal darauf, dass sie das ganze Haus von oben bis unten durchsuchen. Philip war mitgekommen, den Pickel in einer Hand und eine Taschenlampe in der anderen. Sie hatten jeden Winkel im Keller, jeden Schrank, jede Kammer und sämtliche Abstellkammern kontrolliert. Selbst die Tiefkühltruhe im Keller, die Waschmaschine und den Trockner durchforsteten sie nach unwillkommenen Gästen. Nick und Bobby waren für den Dachboden zuständig und stöberten zwischen Koffern, Kisten und in Kleiderschränken. Philip sah unter jedes Bett und hinter jede Kommode. Obwohl sie nicht das fanden, wonach sie suchten, machten sie doch die eine oder andere nützliche Entdeckung.

Zum einen gab es einen Hundefressnapf im Keller. Doch von einem Hund war weit und breit nichts zu sehen. Außerdem stießen sie in der Werkstatt des Hauses auf eine Reihe überaus nützlicher Elektrowerkzeuge: Stichsägen, Bohrer, Fräsen und sogar eine Nagelpistole. Diese würde sich bestimmt als sehr brauchbar erweisen, wenn sie die Barrikaden bauten. Nicht nur ist sie schneller, als wenn man selbst hämmern muss, sondern auch wesentlich leiser.

Brian fiel noch eine andere Verwendung für die Nagelpistole ein, an die er jetzt wieder denken muss, als er ein Geräusch wahrnimmt, das ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagt.

Das Geräusch dringt von oben zu ihm herunter und zwar vom anderen Ende seines Zimmers.

Es kommt vom Dachboden.

Drei

Kaum hört Brian das Geräusch, das er sofort als etwas anderes als ein Knarzen des Hauses, als den Wind in den Dachgauben oder als die ratternde Heizung identifiziert, schnellt er mit einem Ruck hoch.

Er legt den Kopf seitlich, um besser hören zu können. Es klingt so, als ob jemand herumkratzen oder als ob ruckartig ein Stück Stoff zerreißen würde. Zuerst will Brian seinem Bruder Bescheid geben. Philip soll das regeln, der kann das. Um Himmels willen, das könnte der Junge sein – oder noch etwas viel Schlimmeres …

Doch plötzlich besinnt sich Brian und reißt sich zusammen. Wenn er jetzt wieder den Schwanz einzieht, so wie immer? Will er wirklich wieder zu seinem Bruder laufen, wie er das immer getan hat? Zu seinem jüngeren Bruder, verdammt noch mal! Der gleiche, dessen Hand Brian jeden Morgen an der Kreuzung halten musste, als sie noch zur Grundschule in Burke County gingen? Nein, zum Teufel. Das muss ein Ende nehmen. Brian will ihm endlich zeigen, dass auch er Eier hat.

Er holt tief Luft, dreht sich um und sucht nach der Taschenlampe, die er neben sich auf den Nachttisch gelegt hat. Nach einigen Sekunden hat er sie ertastet und schaltet sie ein.

Der dünne Lichtstrahl erhellt das dunkle Schlafzimmer und taucht die gegenüberliegende Wand in einen silbrigen Schimmer. Nur du und ich, Justin, denkt Brian und steht auf. Sein Kopf ist klar, die Sinne in Alarmbereitschaft.

Eigentlich fühlt sich Brian in ausgezeichneter Verfassung, vor allem, nachdem er den Plan seines Bruders so aktiv unterstützte. Allein Philips Blick – als ob Brian mehr als nur ein nutzloser Taugenichts wäre – hat ihm neuen Mut gegeben. Jetzt ist es an der Zeit, Philip zu zeigen, dass die Szene in der Küche keine einmalige Geschichte war, sondern dass er sich genauso ins Zeug legen kann wie sein Bruder.

Leise schleicht er in Richtung Tür.

Ehe er das Schlafzimmer verlässt, nimmt er noch den Baseballschläger aus Metall, den er im Zimmer eines der Jungs gefunden hat.

Das Rascheln von oben ist im Gang noch deutlicher zu hören. Brian hält unter dem Zugang zum Dachboden auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks inne. Die anderen Schlafzimmer entlang des Flurs, hinter deren Türen Bobby Marsh und Nick Parsons schnarchen, liegen am anderen Ende des Treppenabsatzes an der Ostseite. Dort kann man das Geräusch nicht hören. Es bleibt also nur Brian, der sich der Sache annehmen muss.

An der Dachluke hängt eine Schlaufe aus Leder. Brian springt so leise wie möglich hoch und fasst nach ihr. Er zieht daran und öffnet das Schnappschloss zum Dachboden. Eine Leiter erscheint, und Brian zieht sie knarzend bis auf den Treppenabsatz herab, ehe er die Taschenlampe auf das dunkle Loch über sich richtet. Staubkörnchen tanzen durch die Luft. Die Dunkelheit ist dennoch undurchdringlich und scheint fast alles Licht zu schlucken. Brians Herz fängt heftig zu pochen an.

Du verdammtes Weichei, ermahnt er sich. Beweg deinen Hintern nach oben.

Er klettert eine Sprosse nach der anderen hoch, den Baseballschläger unter dem Arm, in der freien Hand die Taschenlampe. Als er oben ankommt, hält er inne. Er richtet den Lichtstrahl auf einen antiken Schrankkoffer voller alter Aufkleber vom Magnolia Springs State Park.

Jetzt nimmt er den kalten, fauligen Geruch wahr, der hier oben herrscht – eine Mischung aus Moder und Mottenkugeln. Die herbstliche Kälte ist durch die Ritzen gekrochen und hat sich auf dem Dachboden breitgemacht. Kühle Luft berührt sein Gesicht. Da dringt das Rascheln erneut an sein Ohr.

Es scheint ein Stück entfernt zu sein. Brians Kehle ist staubtrocken, als er sich etwas aufrichtet. Das Dach ist derart niedrig, dass er leicht gebückt bleiben muss. Er erzittert in seiner Unterhose und dem T-Shirt. Außerdem reizt ihn ein Husten, doch er unterdrückt ihn so gut er kann.

Einen Moment lang hört das Kratzen auf, ehe es mit erneutem Elan weitergeht. Als ob jemand wütend wäre.

Brian hebt den Baseballschläger und rührt sich nicht vom Fleck. Er erlebt das Gefühl der Angst wieder ganz neu: Wenn man sich beinahe in die Hose macht, zittert man nicht, wie es die Schauspieler in den Filmen tun. Nein, man bewegt sich überhaupt nicht. Wie ein Tier, das die Nackenhaare aufstellt.

Das Zittern kommt erst danach.

Der Strahl der Taschenlampe wandert langsam durch die dunklen Ecken des Dachbodens über die abgelegten Dinge einer wohlhabenden Familie: ein Trimmfahrrad voller Spinnweben, ein Rudergerät, Koffer, Hanteln, Dreiräder, Kartons voller Kleider, Wasserski, sogar ein Flipperkasten, der von einer dichten Schicht Staub überzogen ist. Da dringt das Kratzen wieder an sein Ohr.

Der Lichtstrahl trifft auf einen Sarg.

Brian hält wie versteinert inne.

Ein Sarg?

Philip bleibt abrupt auf der Treppe stehen, als er bemerkt, dass die Dachluke auf dem Treppenabsatz im ersten Stock offen steht.

Er eilt die restlichen Stufen hoch, wobei seine Füße nur von Socken bedeckt sind. In einer Hand hält er eine Axt, in der anderen eine Taschenlampe. Die Schusswaffe steckt wieder hinten in seiner Jeans. Mit freiem Oberkörper kann man seine sehnigen Muskeln erst recht gut erkennen. Seine Haut schimmert im Mondlicht, das durch die Oberluke fällt.

In Sekundenschnelle hat er den Treppenabsatz erreicht und klettert die Stufen zum Dachgeschoss hoch. Als er oben in der Dunkelheit angekommen ist, sieht er die Silhouette eines Mannes in dem kleinen Raum.

Ehe Philip auch nur die Taschenlampe auf seinen Bruder richtet, ist ihm bereits klar, was hier vor sich geht.

»Das ist eine Sonnenbank«, sagt eine Stimme und lässt Brians Atem vor Schreck stocken. Ihm war das Herz sowieso in die Hose gerutscht, doch jetzt, da er keine drei Meter von dem staubigen, länglichen Kasten entfernt steht, verliert er fast die Beherrschung. Der Deckel der Kiste ist zu, wie bei einer riesigen Muschelschale – und etwas ist im Inneren und kratzt panisch, um herauszukommen.

Brian dreht sich blitzschnell um und erkennt in dem Strahl seiner Taschenlampe das markante, mürrische Gesicht seines Bruders. Philip steht neben der Luke mit einer Axt in der rechten Hand. »Tritt beiseite, Brian.«

»Glaubst du etwa …«

»Der Junge?«, flüstert Philip und nähert sich vorsichtig. »Da gibt es nur eine Antwort: Wir müssen nachsehen.«

Das Kratzen wird stärker, als ob der im Inneren die Stimmen gehört hätte.

Brian dreht sich wieder zu dem Kasten, konzentriert sich und hebt den Baseballschläger. »Vielleicht hat er sich ja hier oben versteckt, als die anderen angesteckt wurden.«

Philip kommt noch näher. »Tritt beiseite, Mann.«

»Das hier ist meine Sache«, entgegnet Brian und streckt die freie Hand nach dem Schloss aus, den Baseballschläger bereit zum Schlag.

Philip stellt sich zwischen seinen Bruder und die Sonnenbank. »Du musst mir nichts beweisen, Mann. Geh einfach aus dem Weg.«

»Nein, verdammt noch mal. Das Ding hier zieh ich durch«, faucht Brian und greift nach dem staubigen Schloss.

Philip mustert seinen Bruder. »Okay, wie du meinst. Dann mach es eben selbst, aber mach es schnell. Was es auch sein mag – denk darüber nicht nach.«

»Verstanden«, erwidert Brian und greift nach dem Schloss.

Philip steht direkt hinter ihm.

Brian öffnet das Schloss.

Das Kratzen hört abrupt auf.

Philip hebt die Axt, als Brian den Deckel aufklappt.

Philip sieht lediglich den Schatten einer Bewegung. Zwei undeutliche Schemen huschen rasend schnell in die Dunkelheit. Dann hört er das Rascheln und sieht Fell, während der Baseballschläger durch die Luft schwingt.

Es dauert eine Weile, ehe er einen der Schemen als Tier erkennt: eine Ratte! Sie hastet aus dem Strahl der Taschenlampe und saust in Windeseile über den Kasten aus Glasfaser auf ein Loch in einer Ecke zu.

Kurz darauf trifft der Baseballschläger auf die Sonnenbank. Er hat den dicken grauen Nager um Längen verpasst.

Der Einschlag zerfetzt die Apparatur der Sonnenbank ebenso wie einige alte Spielsachen, die unmittelbar daneben liegen. Brian atmet erleichtert auf. Er tritt einen Schritt zurück und glotzt der Ratte hinterher, wie sie in ihrem Loch verschwindet. Die andere ist längst weg.

Philip stöhnt und senkt die Axt. Er will gerade etwas sagen, als er plötzlich eine leise metallisch klingende Melodie hört, die aus dem Schatten neben ihm zu kommen scheint. Brian blickt auf den Boden und hält die Luft an.

Infolge des Schlags ist eine kleine Kiste heruntergefallen.

Von ihr stammt die blecherne Musik. Sie spielt noch einige Töne eines Wiegenlieds, ehe sie verstummt.

Dann öffnet sie sich, und heraus kommt eine kleine Clownsfigur.

»Buh«, macht Philip erschöpft. Seine Stimme klingt alles andere als amüsiert.

Ihre Laune ist am nächsten Morgen nach einem großen Frühstück mit Rühreiern, Schinkenspeck, Hafergrütze und Eierkuchen mit frischen Pfirsichen und süßem Tee etwas besser. Der Duft von Kaffee zieht durch das Haus und wird durch den des gebratenen Fleisches und des Zimts für die Eierkuchen ergänzt. Nick bereitet zum Schinkenspeck sogar seine spezielle Soße, was Bobby in den siebten Himmel katapultiert.

Im Elternschlafzimmer entdeckt Brian ein paar Medikamente gegen seinen Husten. Nachdem er ein paar Pillen geschluckt hat, fühlt er sich besser.

Nach dem Frühstück erkunden sie die unmittelbare Umgebung des Hauses, und zwar einen Block entlang der Green Briar Lane. Dabei finden sie verschiedene Dinge, die ihnen nützlich erscheinen. Nach einer Weile haben sie eine gute Sammlung zusammengetragen: Unmengen von Brennholz, Dielenbretter, diverse Lebensmittel in den Kühlschränken der Nachbarn, volle Gasflaschen in der einen oder anderen Garage, Winterjacken und Stiefel, Kartons voller Nägel, Gasbrenner, Wasserflaschen, ein Kurzwellenradio, einen Laptop, einen Generator und einen Haufen DVDs. In einem Keller stoßen sie sogar auf ein Waffenkabinett mit einer Anzahl von Gewehren und reichlich Munition.

Schalldämpfer finden sie zwar nicht, aber beschweren können sie sich auch nicht.

Selbst was die Untoten betrifft, sieht es relativ rosig aus. Die angrenzenden Häuser stehen beide leer. Ihre Bewohner waren offensichtlich rechtzeitig geflüchtet, ehe die Katastrophe hereinbrach. Zwei Häuser weiter stießen Philip und Nick auf ein älteres Ehepaar, das es nicht mehr geschafft hatte. Aber die beiden waren einfach, schnell und vor allem leise mit einigen gut platzierten Axthieben zu beseitigen.

Am Nachmittag macht sich die Gruppe so leise wie möglich daran, die Barrikade zu errichten. Insgesamt wollen sie eine Spanne von gut fünfzig Metern überbrücken, um die Vorgärten ihres Hauses und der beiden angrenzenden Gebäude zu sichern und dann noch mal zwanzig Meter an jeder Seite. Nick und Bobby lässt schon die geplante Länge zurückschrecken. Aber als sie drei Meter lange, vorgefertigte Zaunelemente unter der Veranda eines Nachbarn entdecken, geht die Arbeit überraschend schnell voran. Um es sich noch einfacher zu machen, reißen sie den gegenüberliegenden Zaun ab und bauen die Elemente in ihre Barrikade ein.

Bei Sonnenuntergang stellen Philip und Nick das letzte Teilstück am nördlichen Ende auf.

»Ich habe sie den ganzen Tag über nicht aus den Augen gelassen«, erklärt Philip und presst die Nagelpistole gegen ein Eckteil. Er meint damit den Schwarm aus Zombies, der sich weiterhin auf dem Golfplatz tummelt. Nick nickt, während er die beiden Querträger dicht aneinanderdrückt.

Philip drückt ab, und die Nagelmaschine gibt ein gedämpft klingendes Geräusch von sich – wie das Schnalzen einer Peitsche –, und bohrt einen fünfzehn Zentimeter langen Nagel ins Holz. Die Nagelpistole ist mit Teilen einer Decke umhüllt, die wiederum mit Isolierband angeklebt wurde, um den Geräuschpegel der Maschine zu dämpfen.

»Keiner von ihnen hat sich in unsere Richtung bewegt«, flüstert Philip und wischt sich den Schweiß von der Stirn, ehe er sich an das nächste Verbindungsstück macht. Nick hält es waagerecht, und Philip setzt die Maschine erneut an.

FFFFFFUMP!

»Ich bin mir da nicht so sicher«, meint Nick, ehe er sich die nächste Strebe schnappt. Der Schweiß lässt seine Roadie-Jacke an seinem Körper kleben. »Ich glaube, dass es nicht eine Frage des Ob, sondern des Wann ist.«

FFFFFFUMP!

»Du machst dir zu viele Sorgen, Junge«, versucht Philip ihn zu beruhigen, rückt zum nächsten Teil des Zauns und zieht ruckartig am Verlängerungskabel, an das die Nagelpistole angeschlossen ist. Es schlängelt sich bis zum Nachbarhaus. Philip hat sechs Kabel à zehn Meter aneinanderschließen müssen, damit sie die Maschine hier benutzen können. Er hält inne und wirft einen Blick über seine Schulter.

Etwa fünfzehn Meter von ihnen entfernt spielt Brian mit Penny im Garten. Sie sitzt auf einer Schaukel, die er immer wieder anstößt. Es dauerte etwas, bis sich Philip mit der Tatsache abgefunden hatte, dass er seine Tochter seinem unglückseligen Bruder anvertrauen musste. Aber momentan war er einfach das beste Kindermädchen, das Philip auftreiben konnte.

Die Spielplatzanlage samt Schaukel ist natürlich eine Luxusausgabe. Wohlhabende Leute lieben es offenbar, ihre Kinder mit solchen Sachen zu verwöhnen. Und diese – sie muss wohl dem verschwundenen Jungen gehört haben – hat alles, was ein Kinderherz begehrt: ein Rutsche, ein Spielhaus, vier Schaukeln, eine Kletterwand, ein Klettergerüst und einen Sandkasten.

»Das hier ist unsere Oase«, fährt Philip fort, während er sich wieder an die Arbeit macht. »Solange wir aufpassen, kann uns hier nichts passieren.«

Sie sind so sehr in die Arbeit vertieft, dass sie das verräterische Schlurfen zuerst nicht hören.

Die Schritte kommen von der gegenüberliegenden Straßenseite. Philip nimmt sie nicht wahr, bis der Zombie nahe genug ist, um ihn zu riechen.

Nick steigt der Gestank zuerst in die Nase: Dieser schwarze, ölige Mief von verrottendem Protein – als ob man menschliche Überreste in Schweinefett anbraten würde. Nick wird sofort aufmerksam. »Augenblick mal«, unterbricht er Philip bei der Arbeit, in der Hand eine Planke. »Riechst du das auch?«

»Ja. Riecht wie …«

Ein glitschig schmieriger Arm taucht auf einmal durch das Loch in der Barrikade und fasst nach Philips Jeanshemd.

Der Angreifer ist eine tote Frau mittleren Alters in einem Designer-Jogginganzug, der mittlerweile nur noch in Fetzen an ihr hängt. Sie ist abgemagert und hat schwarze Stummelzähne. Ihre Augen stechen wie die eines Fischs hervor, während ihre hakenförmige Hand Philips Hemdzipfel mit stählerner Entschlossenheit festhält. Sie stößt ein Ächzen wie eine kaputte Orgelpfeife aus, als sich Philip zur Axt wendet, die etwa fünf Meter von ihm entfernt an einer Schubkarre lehnt.

Das sind fünf Meter zu weit.

Die tote Lady arbeitet sich mit dem gierigen Hunger einer großen Schnappschildkröte zu Philips Genick empor. Nick sucht verzweifelt nach einer brauchbaren Waffe. Doch alles geschieht viel zu schnell. Knurrend dreht sich Philip um. Erst jetzt wird ihm klar, dass er ja noch die Nagelpistole in der Hand hält. Er weicht den nach ihm schnappenden Zähnen aus und hebt die Pistole hoch.

Ohne innezuhalten presst er sie an die Stirn des Zombies.

FFFFFFUMP!

Die Zombie-Lady erstarrt.

Ihre eiskalten Finger lösen sich.

Philip befreit sich hastig und starrt schnaufend auf das Monster.

Die noch immer aufrechte Untote wankt. Einen Moment lang wirkt sie wie betrunken. Sie zuckt in ihrem Jogginganzug von Pierre Cardin zusammen, fällt aber nicht zu Boden. Der Kopf des fünfzehn Zentimeter langen verzinkten Nagels ragt direkt über der Nase aus der Stirn der Frau und sieht wie eine kleine Münze aus, die man dort festgeklebt hat.

Das Wesen hält sich eine halbe Ewigkeit lang aufrecht. Seine Augen, die an einen Haifisch erinnern, blicken zum Himmel, bis es schließlich langsam rückwärtszutaumeln beginnt. Das zerstörte Gesicht nimmt einen merkwürdigen, beinahe verträumt wirkenden Ausdruck an.

Einen Augenblick lang hat es den Anschein, als ob sich die Frau an etwas erinnern würde. Dann bricht sie endgültig auf dem Rasen zusammen.

»Ich glaube, die Nägel richten genug Schaden an, um die Monster zumindest aufzuhalten«, sagt Philip nach dem Abendessen, während er vor dem abgedunkelten Fenster im Wohnzimmer auf und ab tigert. In den Händen hält er die Nagelmaschine, die er zur besseren Anschauung in die Höhe hebt.

Die anderen sitzen um den großen glänzenden Eichentisch, auf dem noch Geschirr und die Überreste des Essens stehen. Brian hat das Kochen übernommen und einen Braten in der Mikrowelle aufgetaut. Für die Soße rührt er etwas Sahne in einen nicht üblen Cabernet Sauvignon. Penny befindet sich nebenan im Familienzimmer und schaut eine DVD der Kinderserie Dora an.

»Kann sein. Aber hast du auch gesehen, wie diese Frau zu Boden gegangen ist?«, fragt Nick und spielt mit einem Stückchen Fleisch, das noch auf seinem Teller liegt. »Nachdem du den Nagel versenkt hast … Hat ganz den Anschein gehabt, als ob sie einen Moment lang bekifft gewesen wäre.«

Philip läuft weiterhin durchs Wohnzimmer, wobei er mehrmals auf den Auslöser der Nagelpistole drückt. »Ja, aber was zählt, ist, dass sie letztlich zu Boden gegangen ist.«

»Das Ding ist auf jeden Fall leiser als eine Pistole oder ein Gewehr.«

»Und es ist einfacher, als den Schädel mit einer Axt aufzuspalten.«

Bobby, der gerade mit seiner zweiten Portion Braten mit Soße angefangen hat, gibt mit vollem Mund zu bedenken: »Nur schade, dass wir kein Verlängerungskabel haben, das zehn Kilometer lang ist.«

Philip drückt noch einige Male ab. »Vielleicht könnten wir das Ding mit Batterien betreiben.«

Nick blickt vom Tisch auf. »Vielleicht mit einer Autobatterie?«

»Ich habe eher an etwas gedacht, das einfacher zu handhaben ist. Vielleicht eine von diesen Laternenbatterien, oder wir nehmen eine aus einem der Rasenmäher.«

Nick zuckt mit den Achseln.

Bobby isst weiter.

Philip tigert auf und ab und denkt nach.

Brian starrt an die Wand und murmelt: »Es hat irgendetwas mit ihren Gehirnen zu tun.«

»Was?« Philip sieht seinen Bruder fragend an. »Was war das, Bri?«

Brian sieht ihn an. »Diese Wesen … diese Krankheit. Die muss doch mit dem Gehirn zu tun haben, oder nicht? Anders kann es nicht sein.« Er hält inne und starrt nachdenklich auf seinen Teller. »Ich finde, dass wir immer noch nicht sicher wissen, ob sie wirklich tot sind.«

Nick schaut Brian fragend. »Meinst du, nachdem wir sie aus dem Verkehr gezogen haben? Nachdem wir … Nachdem wir sie zerstört haben?«

»Nein, ich meine davor«, antwortet Brian. »Ich meine den Zustand, in dem sie sich befinden.«

Philip bleibt stehen. »Mann … Am Montag habe ich einen gesehen, der von einem Zwanzigtonner überfahren und zerquetscht wurde. Zehn Minuten später schleppt sich das Monster über die Straße und zieht seine Eingeweide hinter sich her. Es war überall in den Nachrichten. Sie sind tot, Kumpel. Die sind garantiert tot.«

»Ich meine ja nur. Das zentrale Nervensystem, Mann – das ist hochkompliziert. Mit dem ganzen Mist, den wir in die Umwelt pumpen, wer weiß, ob es da nicht neue, noch unbekannte Mutationen gibt.«

»He, wenn du so einen Zombie zum Arzt bringen und ihn genauer untersuchen lassen willst, werde ich dich garantiert nicht aufhalten.«

Brian seufzt. »Ich will damit doch nur sagen, dass wir nicht genug über sie wissen. Eigentlich wissen wir gar nichts.«

»Wir wissen alles, was wir wissen müssen«, erklärt Philip und sieht seinen Bruder auffordernd an. »Wir wissen zum Beispiel, dass es jeden Tag mehr von denen gibt und dass sie nichts anderes wollen, als uns zum Mittagessen zu verspeisen. Und genau deshalb verschanzen wir uns hier für ein Weilchen und warten ab, wie sich die Sache entwickelt.«

Brian seufzt erneut, diesmal lauter. Die anderen mischen sich nicht mehr ein.

In die nun herrschende Stille dringen jene Geräusche, die sie schon die ganze Nacht über gehört haben: das dumpfe Aufprallen von empfindungslosen Körpern, wenn sie gegen die behelfsmäßigen Barrikaden knallen.

Trotz Philips Bemühungen, den Zaun so rasch und leise wie möglich aufzustellen, wurden die Zombies dennoch auf sie aufmerksam. Vermutlich lag es an der erhöhten Aktivität.

»Was meinst du: Wie lange können wir hier noch bleiben?«, fragt Brian leise.

Philip setzt sich endlich an den Tisch, legt die Nagelmaschine ab und nimmt einen Schluck Bourbon. Er weist mit dem Kopf zum Familienzimmer, wo die skurril klingenden Stimmen des Kinderprogramms zu hören sind. »Sie braucht eine Pause«, sagt er. »Sie ist erschöpft.«

»Sie liebt diesen Spielplatz im Garten«, erklärt Brian und lächelt.

Philip nickt. »Hier kann sie zumindest ein einigermaßen normales Leben führen.«

Alle Augen richten sich auf ihn, während jeder für sich nachdenkt.

»Stoßen wir auf die reichen Protzer dieser Welt an«, unterbricht Philip die Stille und hebt sein Glas.

Die anderen stimmen ein, auch wenn sie sich nicht ganz sicher sind, was er damit meint … oder wie lange das alles noch gutgehen wird.

Vier

Am Tag darauf spielt Penny in der herbstlichen Sonne unter Brians Aufsicht im Garten. Sie spielt den ganzen Vormittag über, während die anderen eine Art Inventur machen und ihre zusammengetragenen Sachen ordnen. Nachmittags kümmern sich Philip und Nick um die Lichtschächte zum Keller, die sie mit Holz zunageln. Danach versuchen sie vergeblich, die Nagelmaschine auf Batteriebetrieb umzubauen, währen Bobby, Brian und Penny im Familienzimmer miteinander Karten spielen.

Die unmittelbare Nähe der Untoten ist ihnen stets bewusst. Wie ein Haifisch unter der Wasseroberfläche begleitet sie jede ihrer Entscheidungen, jede ihrer Handlungen. Für den Moment geht es jedoch lediglich um den einen oder anderen Streuner, der sich verlaufen hat und gegen die Barrikade stößt, ehe er wieder in eine andere Richtung taumelt. Der Großteil der Aktivitäten entlang der Green Briar Lane ist dank des zwei Meter hohen Zauns bisher unbemerkt geblieben.

An diesem Abend nach dem Essen – die Fenster sind bereits verdunkelt – glauben sie sich in Sicherheit, und eine gewisse Normalität kehrt ein. Sie haben sich an das Haus gewöhnt, und sie nehmen das vereinzelte dumpfe Aufprallen in der Dunkelheit kaum noch wahr. Brian hat den verschwundenen zwölfjährigen Jungen so gut wie vergessen, und nachdem Penny ins Bett gegangen ist, schmiedet die Gruppe Pläne für die nächste Zukunft.

Sie diskutieren über einen weiteren Verbleib in dem Kolonialhaus, bis die Vorräte aufgebraucht sind. Das kann noch Wochen dauern. Nick überlegt, ob sie nicht eine Art Späher aussenden sollten, um herauszufinden, wie sich die Lage auf den Straßen nach Atlanta entwickelt. Doch Philip besteht darauf, dass niemand das Haus und seine Umgebung verlässt.

»Lass das die machen, die noch da draußen sind«, rät er.

Nick verfolgt noch immer die Nachrichten im Radio, Fernsehen und Internet. So wie die Körperfunktionen eines Todkranken nach und nach aussetzen, so setzt auch bei den Medien ein Organ nach dem anderen aus. Mittlerweile senden die meisten Radiostationen entweder Wiederholungen oder unnütze Informationen für den Notfall. Im Fernsehen – zumindest auf jenen Sendern, die über Kabel zu empfangen sind und noch ausgestrahlt werden – sieht man lediglich entweder vierundzwanzig Stunden dauernde Zivilschutzsendungen oder denkbar unpassende Wiederholungen von Dauerwerbesendungen, die sonst nur spät nachts beziehungsweise in den frühen Morgenstunden gezeigt werden.

Am dritten Tag stellt Nick fest, dass das Radio so gut wie nichts mehr sendet, die Kabelsender nur noch Rauschen bringen und das WLAN völlig ausgefallen ist. Einwahlverbindungen funktionieren auch nicht mehr, und Nicks regelmäßige Anrufe bei den Notrufnummern – die bisher stets irgendeine Ansage abspielten –, liefern ihm jetzt nur noch die Information, dass die gewählte Nummer derzeit nicht verfügbar ist.

Am späten Vormittag verdüstert eine dicke Wolkendecke den Himmel.

Nachmittags legt sich ein trüber, eiskalter Nebel über die Siedlung. Alle flüchten ins Haus und versuchen nicht daran zu denken, dass nur ein schmaler Grat zwischen Sicherheit und Gefangensein liegt. Außer Nick will niemand mehr über Atlanta reden. Die Stadt scheint jetzt noch weiter weg zu sein – es ist, als ob sie sich immer weiter von ihnen entfernen würde, je mehr sie über die dreißig Kilometer zwischen den Wiltshire Estates und der Metropole sprechen.

Nachdem sich die anderen schlafen gelegt haben, hält Philip seine einsame Nachtwache im Wohnzimmer neben einer schlummernden Penny.

Der Nebel ist dichter geworden und hat sich zudem zu einem gewaltigen Sturm mit Blitz und Donner entwickelt.

Philip zieht die Latten des Rollos ein wenig auseinander und wagt einen Blick in die Finsternis hinaus. Durch die Lücke sieht er über die Barrikade hinweg die kurvige Straße und die riesigen Schatten der Eichen, deren Äste vom Wind gebeutelt werden.

Ein Blitz erhellt die Nacht.

Kaum zweihundert Meter entfernt bemerkt er ein Dutzend oder mehr menschliche Gestalten, die ziellos durch den peitschenden Regen wanken. Dann ist es wieder dunkel.

Es war zu kurz hell, um sicher zu sein. Aber Philip glaubt, dass die Kreaturen, die in ihrer bleiern langsamen Art an Schlaganfallpatienten erinnern, sich auf das Haus zubewegen. Können sie etwa Frischfleisch riechen? Oder hat sie der Lärm der letzten Tage neugierig gemacht? Oder irren sie nur ziellos wie Goldfische in einer Glaskugel umher?

Zum ersten Mal, seitdem sie in Wiltshire Estates angekommen sind, grübelt Philip Blake darüber nach, ob ihre Tage in diesem mit dickem Teppichboden ausgelegten Schloss mit seinen übergroßen Sofas nicht vielleicht doch gezählt sind.

Der Morgen des vierten Tages ist kalt und bewölkt. Der zinngraue Himmel hängt tief über dem nassen Rasen und den verlassenen Häusern. Obwohl niemand es explizit ausspricht, stellt der Tag doch eine Art Wegmarke dar: Es ist die zweite Woche seit Beginn der Katastrophe.

Philip steht mit einem Becher Kaffee im Wohnzimmer und späht durch das Rollo auf die Barrikade hinaus. Im fahlen Morgenlicht sieht er, wie die nordöstliche Ecke zu wackeln scheint. »Verdammt«, murmelt er.

»Was ist los?«, fragt Brian und reißt Philip aus seinem Trübsinn.

»Es kommen immer mehr.«

»Mist. Wie viele?«

»Schwer zu sagen.«

»Was schlägst du vor?«

»Bobby!«

Dieser schlendert in einer ausgebeulten Trainingshose barfuß ins Wohnzimmer, in einer Hand hat er eine Banane. »Zieh dich am besten an«, schlägt Philip seinem Kumpel vor.

Bobby schluckt einen Bissen Banane runter. »Wieso? Was ist los?«

Philip ignoriert die Frage und wendet sich an seinen Bruder. »Penny bleibt im Familienzimmer. Okay?«

»Alles klar«, erwidert Brian und eilt davon.

Philip ist bereits auf dem Weg zur Treppe, wobei er den anderen zuruft: »Wir brauchen die Nagelpistole und so viel Verlängerungskabel, wie wir finden können … Und Äxte!«

FFFFFFUUUUUMP! Nummer fünf bricht wie eine riesige, in Fetzen gekleidete Stoffpuppe in sich zusammen. Die toten, milchigen Pupillen rollen nach oben und verschwinden im Kopf, als der Zombie auf der anderen Seite des Zauns zu Boden geht. Philip tritt einen Schritt zurück. Vor Anstrengung ist er ganz außer Atem. Sein Jeanshemd und seine Jeanshose sind feucht vor Schweiß.

Nummer eins bis Nummer vier waren einfach zu erledigen – wie Fische, die man aus einem Aquarium herausfischt. Eine Frau und drei Männer. Philip schlich sich einfach an sie heran, als sie unbeholfen gegen die Schwachstelle im Zaun stießen und an ihr zu kratzen begannen. Philip brauchte nur noch neben der Lücke zwischen den Brettern zu warten, bis er einen guten Zielwinkel auf ihre Stirn hatte. Dann ging es ganz schnell, einer nach dem anderen: FFFFFFUUUUUMP! FFFFFFUUUUUMP! FFFFFFUUUUUMP! FFFFFFUUUUUMP!

Nummer fünf war schwieriger. Er torkelte zufälligerweise im richtigen Augenblick zur Seite und vollführte eine kleine Tanzeinlage wie ein Betrunkener, ehe er sich mit schnappendem Kiefer nach Philip reckte. Philip verschwendete zwei Nägel, die als Querschläger irgendwo auf dem Gehweg landeten, bevor er mit dem dritten endlich die Großhirnrinde des Anzugträgers durchbohrte.

Jetzt holt er tief Luft und krümmt sich einen Moment lang vor Anstrengung. In der rechten Hand hält er noch immer die Nagelmaschine, die an vier sieben Meter langen Verlängerungskabeln hängt. Er richtet sich auf und lauscht. In der Einfahrt herrscht Stille, am Zaun wird nicht mehr gewackelt.

Er wirft einen Blick über die Schulter und sieht Bobby Marsh im Garten, gut dreißig Meter von ihm entfernt. Der Dicke sitzt nach Luft schnappend auf dem Boden und lehnt sich gegen eine kleine Hundehütte, die ein Dach aus Schindeln und ein Schild mit dem Namen LADDIE BOY hat.

Diese Reichen und ihre verdammten Hunde, denkt Philip. Adrenalin pumpt noch immer durch seine Adern. Das Tier hat wahrscheinlich Besseres zu fressen bekommen als die meisten Kinder dieser Welt.

Am hinteren Teil des Zauns, fünf Meter von Bobby entfernt, hängen die Überreste einer Frau über die Latten. Die Axt, mit der ihr Bobby Marsh das Licht endgültig ausgeknipst hat, steckt noch in ihrem Schädel.

Philip winkt Bobby zu und schaut ihn fragend an: Alles senkrecht?

Bobby reckt den Daumen hoch.

In diesem Moment geht alles ganz schnell – ohne jegliche Vorwarnung.

Der erste Hinweis darauf, dass alles nicht senkrecht ist, erfolgt keine Sekunde, nachdem Bobby seinem Freund, Anführer und Mentor den Daumen nach oben zeigte. In Schweiß gebadet, das Herz noch immer unter der Last seines nicht unbeträchtlichen Gewichts wild pochend, schafft es Bobby, Philip zuzulächeln … Dabei nimmt er die Geräusche, die aus dem Inneren der Hundehütte stammen, überhaupt nicht wahr.

Schon seit Jahren versucht Bobby Marsh immer wieder, Philip Blake zu imponieren, und die Tatsache, dass er ihm jetzt nach einer solch blutigen Schlacht einfach den Daumen zeigen und dazu noch lächeln kann, gefällt ihm ungemein.

Als Einzelkind, das es kaum geschafft hat, die Schule abzuschließen, heftete Bobby sich schon an Philips Fersen, als Sarah Blake noch am Leben war. Nach ihrem Tod – und nachdem sich Philip etwas von seinen Trinkkumpanen distanziert hatte – war Bobby verzweifelt darum bemüht gewesen, wieder den Kontakt zu ihm herzustellen. Er rief ihn viel zu oft an. Er redete zu viel, wenn sie sich trafen. Außerdem machte er sich ständig lächerlich, um das drahtige Alphatier, den Anführer und Freund zu beeindrucken. Doch erst jetzt glaubt Bobby – so komisch das auch klingen mag –, dass diese bizarre Epidemie wieder eine echte Verbindung zwischen den beiden Männern ermöglichte.

Daran liegt es wohl auch, dass Bobby das Rumoren in der Hundehütte überhaupt nicht hört.

Als es auf einmal kracht und so klingt, als ob ein Riese von innen gegen die Wände des Hüttchens hämmern würde, erstarrt das Lächeln auf Bobbys Gesicht, und sein Daumen senkt sich langsam. Als er begreift, dass in der Hundehütte etwas ist, das sich bewegt, und der Gedanke über sämtliche Synapsen endlich sein Gehirn erreicht hat, ist es längst zu spät.

Eine schmächtige Kreatur schnellt aus dem gewölbten Eingang der Hundehütte!

Philip hat bereits die halbe Strecke zu Bobby im Sprint zurückgelegt, als er sieht, dass die Kreatur, die gerade aus der Hundehütte hervorgeschossen ist, tatsächlich menschlich ist – oder zumindest das verwesende, bläulich verzerrte Abbild eines menschlichen Wesens. In den verfilzten blonden Strähnen kleben Blätter und Hundekot, und Ketten hängen um seine kleine Taille und an seinen Beinchen.

»MIST!«, brüllt Bobby und schreckt vor dem zwölfjährigen Untoten zurück, als sich das Wesen, das einmal ein Kind gewesen ist, auf Bobbys schinkengroßes Bein stürzt.

Bobby wirft sich zur Seite und reißt sein Bein gerade noch rechtzeitig zurück. Das verzerrte Gesichtchen, das eher einem verschrumpelten Flaschenkürbis mit ausgehöhlten Löchern denn lebendigen Augen gleicht, beißt an jener Stelle in den Rasen, wo Sekundenbruchteile zuvor noch Bobbys Bein gewesen ist.

Philip hat noch gute zehn Meter zwischen sich und Bobby zu überbrücken. Er rennt, so schnell er kann, auf die Hundehütte zu. Wie eine Wünschelrute hebt er die Nagelmaschine und zielt auf das Minimonster. Bobby kriecht krebsartig durch das feuchte Gras davon. Dazwischen schreit er immer wieder mit hoher Stimme auf, sodass man glauben könnte, er wäre ein kleines Kind.

Das Monster bewegt sich mit der wenig eleganten Energie einer Tarantel weiterhin auf Bobby zu. Der dicke Mann versucht, aufzustehen und davonzulaufen. Aber seine Beine wollen ihm nicht gehorchen, sodass er ins Stolpern kommt und rückwärts zu Boden fällt.

Vier Meter trennen Philip noch von Bobby, als er bemerkt, dass Bobbys Schreie höher und schriller klingen. Das Zombie-Kind hat eine Hand wie einen Haken um Bobbys Fußknöchel gelegt, und ehe er das Bein erneut wegreißen kann, senkt es seine verfaulten Beißerchen in Bobbys fleischige Wade.

»MIST! VERDAMMT!«, brüllt Philip, als er mit der Nagelpistole auf die beiden zusprintet.

Dreißig Meter hinter ihm schnellt ein Stecker aus der Steckdose.

Philip setzt die Nagelmaschine an den Nacken des kleinen Monsters, als es sich gerade über den Rest von Bobbys fettem Körperchen hermachen will.

Der Hahn der Maschine klickt, aber nichts passiert. Der Zombie gräbt sich wie ein Piranha in Bobbys dicken Oberschenkel, bis er die Schlagader durchbeißt und dabei den halben Hodensack auch gleich noch mitfrisst. Bobbys schreiende Stimme zittert und verwandelt sich in ein jammerndes Heulen, als Philip die nutzlose Maschine zu Boden wirft, um sich mit bloßen Händen auf die Kreatur zu werfen. Er reißt den untoten Jungen von seinem Freund, als wäre er ein riesiger Blutegel, und schleudert ihn kopfüber über den Rasen, ehe dieser ein weiteres Mal zubeißen kann.

Das kleine Monster schlägt auf dem Boden auf und rollt fünf Meter über das zertretene Gras.

Jetzt stürmen Nick und Brian aus dem Haus. Brian schnappt sich sofort das Verlängerungskabel, während Nick mit erhobener Axt über den Rasen rennt. Philip packt Bobby und versucht, ihn zu beruhigen, denn er verblutet noch schneller, wenn er sich bewegt. So viel ist klar. Aus der aufgerissenen Wunde sprühen Blutfontänen im Rhythmus von Bobbys Herzschlag empor. Philip presst seine Hand auf das Bein seines Freundes, um den Blutfluss zu stoppen, doch vergeblich. Aus den Augenwinkeln sieht er, was sich währenddessen zwischen den anderen abspielt. Das untote Wesen kriecht über den Rasen erneut auf Bobby und Philip zu. Nick zögert keinen Augenblick, ehe er mit voller Wucht und weit aufgerissenen Augen ausholt und wütend zuschlägt. Die Axt zischt durch die Luft, und die verrostete Schneide trifft auf den Hinterkopf des Zombie-Kindes. Sie versenkt sich tief in seinem Schädel. Das Monster sackt in sich zusammen. Plötzlich schreit Philip Nick etwas zu. Etwas von einem Gürtel, einem GÜRTEL. Hastig kniet Nick sich hin und tastet nach seiner Schnalle. Philip ist kein ausgebildeter Sanitäter, aber er weiß, dass man das Bluten zumindest mindern, wenn nicht sogar ganz zum Aufhören bringen kann, indem man das betroffene Körperglied abbindet. Er legt Nicks Gürtel um das Bein des zitternden Bobby, der versucht, etwas zu sagen. Es scheint ihm eiskalt zu sein. Seine Lippen zittern, ohne dass ihnen ein Laut entweicht.

In der Zwischenzeit steckt Brian dreißig Meter entfernt den Stecker wieder in die Steckdose. Das ist die einzige Art und Weise, wie er sich gerade nützlich machen kann. Die Nagelpistole liegt auf dem Rasen, gerade mal fünf Meter von Philip entfernt. Dieser ruft Nick zu: »JETZT HOL ENDLICH DEN VERBANDSKASTEN – UND ALKOHOL UND WAS AUCH IMMER!«

Nick macht sich auf den Weg, die Axt in der Hand, als Brian sich nähert. Er starrt auf das tote Wesen mit dem eingeschlagenen Schädel. Angewidert macht er einen großen Bogen darum herum und schnappt sich dann die Nagelmaschine – man weiß ja nie. Gewissenhaft sucht er die Anhöhe hinter dem Zaun mit den Augen ab. Philip hält den schluchzenden und kurzatmig keuchenden Bobby wie ein Baby in den Armen. Er tut sein Bestes, um den Freund zu beruhigen und flüstert ihm zu, dass alles wieder gut wird … Doch als sich Brian den beiden vorsichtig nähert, ist klar, dass dem nicht so sein wird.

Kurz darauf kehrt Nick mit einem Haufen steriler Bandagen, die er im Haus gefunden hat, zu den Freunden zurück. Aus einer Hintertasche ragt eine Plastikflasche mit reinem Alkohol heraus, aus der anderen Klebeband. Etwas hat sich inzwischen geändert. Aus dem Notfall ist etwas sehr Ernstes und Düstereres geworden: Jetzt ist es eine Totenwache.

»Wir müssen ihn reinbringen.« Philip, der mittlerweile völlig mit Blut besudelt ist, versucht erst gar nicht, den dicken Mann hochzuhieven. Bobby Marsh ist so gut wie tot. Dessen sind sie sich alle bewusst.

Auch Bobby weiß es. Er verfällt in einen Schockzustand und starrt regungslos in den grauen Himmel. Einen Moment lang versucht er, etwas zu sagen.

Brian steht nicht weit von dem Spektakel entfernt, die Nagelmaschine noch immer in der Hand, und starrt Bobby entsetzt an. Nick lässt die Bandagen auf das Gras fallen und stöhnt. Er sieht so aus, als ob er gleich zu weinen anfangen würde, fällt stattdessen aber auf die Knie neben Bobby und senkt den Kopf.

»I-I-Ich … n-n-n …«, stammelt Bobby in dem verzweifelten Versuch, Philip etwas mitzuteilen.

»Still …« Philip legt ihm die Hand auf die Schulter. Um etwas, irgendetwas zu tun, nimmt er die Bandagen und beginnt, die Wunde zu versorgen.

»N-n-n-NEIN!«

Philip hält inne, schluckt und starrt in die wässrigen Augen des Sterbenden. »Es wird schon«, beteuert er, aber seine Stimme hat sich verändert.

»N-nein … Wird es nicht«, stammelt Bobby. Irgendwo über ihnen krächzt eine Krähe. Bobby weiß, was als Nächstes geschehen wird. Sie sahen einen Mann in einem Graben in Covington, der innerhalb von zehn Minuten zu einem Monster wurde. »S-sag das nicht mehr, Philly.«

»Bobby …«

»Es ist vorbei«, flüstert Bobby heiser, ehe sich seine Augen einen Moment lang verdrehen. Dann entdeckt er die Nagelpistole in Brians Hand und streckt seine dicken, fleischigen Finger nach der Laufmündung aus.

Vor Entsetzen lässt Brian die Pistole fallen.

»Verdammt noch mal, wir müssen ihn ins Haus schaffen!« Hoffnungslosigkeit schwingt jetzt deutlich in Philips Stimme mit, als Bobby Marsh nach der Nagelmaschine fasst und versucht, sie sich an die Stirn zu setzen.

»Um Gottes willen!«, stammelt Nick.

»Nimm ihm das Ding weg!«, ruft Philip und fuchtelt in Brians Richtung.

Tränen laufen über Bobbys feiste Wangen und vermischen sich mit dem Blut. »B-bitte, Philly«, stammelt er. »M-mach … Mach es einfach.«

Philip steht auf. »Nick! Komm mit!« Er dreht sich um und geht zum Haus.

Nick steht auf und folgt ihm. Die beiden Männer bleiben nach fünf Schritten stehen – weit genug von Bobby entfernt, um nicht belauscht werden zu können. Sie reden mit gedämpften Stimmen, den Rücken Bobby zugekehrt.

»Wir müssen es abtrennen«, bestimmt Philip.

»Was?«

»Wir müssen sein Bein amputieren.«

»Was?«

»Ehe sich die Krankheit weiter ausbreitet.«

»Aber wie …«

»Wir haben keine Ahnung, wie schnell das geht, aber wir müssen es probieren, Mann. Das sind wir ihm schuldig!«

»Aber …«

»Du holst die Säge aus dem Schuppen. Ach, und dann brauchen wir noch …«

Hinter ihnen ertönt eine Stimme und unterbricht Philip mitten im Satz: »Leute?«

Brian. Seiner drängenden Stimme nach zu urteilen hat er keine guten Nachrichten.

Die beiden drehen sich um.

Bobby Marsh liegt wie regungslos da und rührt keinen Muskel.

Brian steigen die Tränen in die Augen, als er sich neben den dicken Mann kniet. »Es ist zu spät.«

Philip und Nick eilen zu Bobby, der mit geschlossenen Augen vor ihnen auf dem Rasen liegt. Seine schwabbelige Brust bewegt sich nicht mehr, der Mund steht leicht offen.

»O nein … Gütiger Himmel, nein!«, stöhnt Nick und starrt auf seinen verstorbenen Kumpel.

Eine halbe Ewigkeit lang sagt Philip kein Wort. Alle schweigen betroffen.

Der Leichnam liegt auf dem nassen Gras. Die Minuten vergehen … Bis sich auf einmal etwas bewegt – in seinen Gliedmaßen, den Sehnen seiner Beine und in den dicken Fingerspitzen.

Zuerst hat es den Anschein, als ob es sich um das typische Zucken sterbender Nerven handeln würde, das Leichenbestatter manchmal noch feststellen – die letzten Regungen des zentralen Nervensystems. Während Nick und Brian Bobby anstarren, ihre Augen aufreißen und sie langsam zurückweichen, kommt Philip näher. Er kniet sich neben seinen alten Freund. Plötzlich nimmt sein Gesicht einen kalten, klaren Ausdruck an.

Da öffnen sich Bobby Marshs Augen.

Die Pupillen sind jetzt gelblich wie Eiter.

Philip reißt die Nagelmaschine hoch, legt sie wenige Millimeter über der linken Augenbraue an die Stirn des Freundes und drückt ab.

FFFFFFUUUUUMP!

Stunden später sind sie alle wieder im Haus. Draußen ist es dunkel geworden. Nick ist in der Küche und begießt seinen toten Freund mit Whiskey … Brian ist von der Bildfläche verschwunden … Bobbys kalter Leichnam liegt neben den anderen Zombies im Hinterhof, eingewickelt in eine Plane … Philip steht am Wohnzimmerfenster und starrt durch die Lamellen auf das größer werdende Gemenge dunkler Gestalten draußen auf der Straße. Sie schlurfen wie Schlafwandler durch die Gegend und tummeln sich immer häufiger vor der Barrikade. Es werden mehr. Jetzt sind es schon an die dreißig, vielleicht sogar bereits vierzig.

Das Licht der Straßenlaternen fällt durch die Zaunfugen. Die Toten durchbrechen den Lichtstrahl immer wieder, sodass er beinahe wie ein Stroboskop aussieht, wenn auch in Zeitlupe. Philip gefällt das überhaupt nicht. Er hört eine leise Stimme in seinem Kopf – die gleiche, die sich bei ihm auch kurz nach Sarahs Tod zu Wort meldete: Brenn das Haus nieder. Brenn das ganze verdammte Haus nieder.

Diese Stimme hat er an diesem Tag schon einmal gehört. Kurz nachdem Bobby das Zeitliche gesegnet hatte, wies sie ihn an, die Überreste des zwölfjährigen Jungen in Einzelteile zu zerlegen. Aber Philip schaffte es, der Stimme Einhalt zu gebieten und sie zum Schweigen zu bringen. Jetzt muss er wieder mit ihr kämpfen: Die Lunte ist angesteckt, Bruder. Die Uhr tickt …

Philip wendet sich vom Fenster ab und reibt sich die müden Augen.

»Es ist schon okay, lass es ruhig raus«, rät ihm eine andere Stimme, die aus der Dunkelheit zu ihm dringt.

Philip dreht sich um und sieht die Silhouette seines Bruders in der Küchentür auf der anderen Seite des Wohnzimmers stehen.

Er wendet sich erneut dem Fenster zu und antwortet nicht. Brian tritt zu ihm. In seinen zitternden Händen hält er eine Flasche Hustensaft. Seine Augen leuchten fiebrig in der Dunkelheit. Er ist den Tränen nahe. Dann sagt er mit leiser Stimme, um Penny, die auf der Couch schläft, nicht zu wecken. »Es ist keine Schande, es herauszulassen.«

»Was herauszulassen?«

»Hör zu«, setzt Brian erneut an. »Ich weiß, dass es dir auch nahegeht.« Er schnieft und wischt sich den Mund mit dem Ärmel ab. Seine Stimme ist heiser, die Nase verstopft. »Ich will nur sagen, dass mir das mit Bobby wahnsinnig leidtut. Ich weiß, dass ihr beide …«

»Es ist vorbei.«

»Philip, was soll das …«

»Das hier ist vorbei – mit dem Haus, meine ich. Das können wir vergessen.«

Brian starrt ihn an. »Was soll das?«

»Wir verschwinden von hier.«

»Aber ich dachte …«

»Sieh dich um«, sagt Philip und zeigt ihm die steigende Zahl der Schatten auf der Green Briar Lane. »Wir ziehen sie an wie die Fliegen.«

»Schon. Aber die Barrikade hält doch noch …«

»Je länger wir hierbleiben, Brian, desto mehr wird das Haus zu einem Gefängnis.« Philip blickt aus dem Fenster. »Wir müssen weiter.«

»Wann?«

»Bald.«

»Morgen?«

»Morgen früh werden wir mit dem Packen anfangen und so viel an Vorräten wie möglich ins Auto laden.«

Einen Moment lang herrscht Stille.

Brian wirft seinem Bruder einen fragenden Blick zu. »Alles klar mit dir?«

»Ja.« Philip starrt immer noch auf die Straße vor dem Haus. »Geh jetzt schlafen.«

Beim Frühstück beschließt Philip, Penny zu erzählen, dass Bobby plötzlich fortmusste – »um sich um seine Eltern zu kümmern«. Die Kleine scheint mit der Erklärung zufrieden zu sein.

Einige Stunden später graben Nick und Philip im Garten hinter dem Haus ein großes Grab, während sich Brian im Haus um Penny kümmert. Er findet, dass Penny zumindest etwas von der Wahrheit erfahren sollte. Aber Philip erklärt ihm, dass er gefälligst die Klappe halten und sich da raushalten solle.

Jetzt wuchten Nick und Philip den großen, verhüllten Leichnam vor dem Rosenspalier hoch und lassen ihn vorsichtig in das Grab hinunter.

Es dauert länger als erwartet, das Loch wieder zu füllen. Beide häufen eine Schaufel nach der anderen die schwarze Georgia-Erde auf ihren Freund. Währenddessen trägt der Wind das furchtbare Stöhnen und Jammern der Untoten zu ihnen herüber.

Auch an diesem Tag ist es stürmisch und bewölkt. Die Geräusche der Zombie-Horden werden in den Himmel hinaufgetragen. Philip ist schweißgebadet. Dennoch schaufelt er weiter. Der ölige Gestank verwesenden Fleisches lässt nicht nach. Sein Magen verkrampft sich, als er die letzten Schaufeln Erde auf das Grab wirft.

Philip und Nick stehen sich gegenüber, das aufgefüllte Loch zwischen ihnen. Sie lehnen sich auf ihre Schaufeln. Der Schweiß kühlt ihnen den Nacken. Keiner sagt etwas, beide sind in Gedanken versunken. Endlich blickt Nick auf und fragt leise: »Möchtest du vielleicht ein paar Worte sagen?«

Philip wirft ihm einen Blick zu. Das Stöhnen und Jammern kommt aus allen Richtungen – wie das furchtbare Getöse eines Heuschreckenschwarms. Es ist inzwischen so laut, dass Philip es kaum schafft, einen klaren Gedanken zu fassen.

In dem Augenblick erinnert er sich auf einmal an jene Nacht, als sich die drei Freunde betranken und in das Starliter-Autokino an der Waverly Road einbrachen, wo sie in den Projektionsraum eindrangen. Bobby veranstaltete ein Lichtspiel auf der entfernten Leinwand. Philip musste so heftig lachen, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen, während die Silhouetten von Kaninchen und Enten vor Chuck Norris hin und her tanzten, der gegen böse Nazis kämpfte.

»Es gab so manchen, der nicht viel von Bobby Marsh gehalten hat und ihn sogar als Trottel abkanzelte«, sagt er jetzt mit gesenktem Blick. »Doch die so was meinten, haben ihn nicht gekannt. Er war loyal und witzig. Er war ein verdammt guter Freund … Und er ist wie ein Mann gestorben.«

Er schaut zu Boden, seine Schultern beben ein wenig. Seine Stimme bricht fast, sodass die Worte in dem immer lauter werdenden Ächzen und Stöhnen um sie herum kaum mehr zu hören sind. »Großer Gott, verwandle die Finsternis des Todes in deiner Gnade in den Morgen neuen Lebens und die Trauer des Abschieds in die Freude des Himmels.«

Philip steigen die Tränen in die Augen. Er beißt seine Zähne so stark zusammen, dass ihm der Kiefer wehtut.

»Durch unseren Retter, Jesus Christus«, stimmt Nick mit bebender Stimme ein, »der gestorben und auferstanden ist, um für ewig weiterzuleben. Amen.«

»Amen«, erwidert Philip mit einer Stimme, die er selbst kaum als die seine erkennt.

Das unerbittliche Stöhnen schwillt an. Es wird lauter und lauter.

»HALTET VERDAMMT NOCH MAL DIE FRESSE!«, brüllt Philip Blake in Richtung der Zombies. Der Lärm dringt aus allen Richtungen. »IHR TOTEN HURENSÖHNE!« Er dreht sich zum Zaun um. »ICH WERDE JEDEM EINZELNEN VON EUCH DEN SCHÄDEL ZERTRÜMMERN, IHR KANNIBALEN! ICH WERDE JEDEM DEN KOPF ABREISSEN UND AUS EUREM VERDAMMTEN KADAVER KLEINHOLZ MACHEN!«

Da fängt Nick zu schluchzen an. Philip, der nicht mehr weiterweiß, fällt auf die Knie.

Während Nick laut weint, starrt sein Freund auf das frische Grab, als ob er von dort eine Antwort erhoffte.

Falls es je Zweifel darüber gegeben hat, wer in der Truppe das Sagen hat – was nie der Fall war –, so ist es jetzt klarer als je zuvor, dass es Philip ist.

Sie verbringen den Rest des Tages mit Packen. Philip gibt einsilbig Befehle. Seine Stimme klingt heiser vor Stress. »Nehmt die Werkzeugkiste«, knurrt er. »Batterien für die Taschenlampen« und »Vergesst die Munition nicht.« Dann noch: »Wir brauchen auch Extradecken.«

Nick überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn sie ein zweites Auto mitnehmen würden.

Obwohl die meisten Wagen in der Straße nur darauf zu warten scheinen, gefahren zu werden – alles sind neue Luxusmodelle mit steckenden Zündschlüsseln –, gefällt Brian die Idee, dass sich die bereits dezimierte Truppe weiter aufteilt, ganz und gar nicht. Vielleicht hängt er jetzt auch noch mehr an seinem Bruder – diesem Zentrum der Schwerkraft.

Sie entscheiden sich also, den Chevy Suburban zu behalten. Das Ding ist schließlich fast wie ein Panzer.

Genau so etwas brauchen sie, um nach Atlanta zu gelangen.

Brian Blake, dessen Erkältung sich mittlerweile in der Lunge festgesetzt und sein Atmen zu einem asthmatischen Keuchen verwandelt hat, konzentriert sich auf die Arbeit. Er packt drei große Kühlboxen mit Essen: geräucherter Schinken und Aufschnitt, Käse, Saft, Joghurt, Limo und Mayonnaise. Brot, Minisalamis, Pulverkaffee, Wasser, Müsliriegel, Vitaminkapseln, Papierteller und Plastikbesteck: Alles kommt in einen Karton. Dazu noch eine Auswahl scharfer Küchenmesser: Hackbeil, Sägemesser und Ausbeinmesser – für den Fall, dass sie die eine oder andere Begegnung mit weiteren Monstern haben sollten.

In eine andere Kiste legt er Klopapier, Seife, Handtücher und kleine Lappen. Dann wühlt er sich durch den Medizinschrank und nimmt ausreichend Hustensaft, Schlaftabletten und Schmerzmittel mit. Plötzlich kommt ihm eine Idee. Da gibt es etwas, was er noch unbedingt machen muss.

Im Keller findet er einen Eimer mit roter Farbe und zwei breite Pinsel. Daneben liegt ein großes Stück Sperrholz. Rasch schreibt er eine Nachricht auf das Holz. Fünf Wörter in großen Buchstaben – groß genug, damit man sie von einem vorbeifahrenden Wagen aus lesen kann. Dann nagelt er zwei kurze Holzstecken an das Schild.

Er nimmt es mit nach oben und zeigt es seinem Bruder. »Das hier sollten wir an die Barrikade stellen«, schlägt er vor.

Philip zuckt nur mit den Schultern.

Sie warten auf die Dunkelheit, bevor sie aufbrechen. Punkt neunzehn Uhr, als die kalte, metallisch wirkende Sonne hinter den Dächern verschwindet, beladen sie den SUV. Hastig bilden sie eine Kette von der Haustür bis zum Wagen, während sich die Zombies noch immer vor der Barrikade scharen.

Außer den Äxten, die sie von Anfang an dabeihatten, kommen jetzt noch Pickel, Schaufeln, kleine Äxte, Sägen und Klingen aus dem Geräteschuppen im Garten dazu. Zudem packen sie Stricke, Drähte, Fackeln, weitere Mäntel, Schneestiefel und Feueranzünder sowie einen Schlauch zum Absaugen und so viel Benzinkanister ein, wie sie in den Kofferraum bekommen können.

Der Tank des SUV ist voll. Philip hat sechzig Liter von einer Limousine aus der Garage des Nachbarhauses abgezapft, schließlich kann keiner wissen, ob man an den Tankstellen überhaupt noch Treibstoff kriegt.

Während der vergangenen vier Tage hat Philip die Sportgewehre in den angrenzenden Häusern genau unter die Lupe genommen. Die Leute hier lieben es offenbar, Enten zu schießen. Sie warten in ihren geheizten Verstecken, bis die ahnungslosen Tiere an ihnen vorbeifliegen, sodass sie ihre Präzisionsgewehre benutzen und die Beute danach von ihren reinrassigen Jagdhunden apportieren lassen können.

Philips Vater ist es noch auf die althergebrachte Art gewohnt gewesen: in Gummistiefeln, beim Licht des Mondes und aus einem geschickten Hinterhalt heraus.

Philip schnappt sich drei Gewehre und verstaut sie in den dafür vorgesehenen Plastiktaschen im Auto – eine Winchester Magnum Ringfire, Kaliber zweiundzwanzig, und zwei Gewehre Marlin 55. Insbesondere die Marlins könnten sich als nützlich erweisen. Man nennt sie auch Gans-Gewehre. Sie sind speziell für hoch fliegende Zugvögel entwickelt worden und sehr schnell, präzise und treffsicher … In diesem Fall würden sie allerdings etwas zweckentfremdet, denn schließlich geht es um menschliche Schädel, die aus circa einhundert Metern Entfernung getroffen werden müssen.

Als sie mit dem Einpacken fertig sind, ist beinahe eine Stunde vergangen. Penny sitzt in einem Daunenmantel in der Mitte der Sitzbank. Neben ihr der Pinguin. Sie wirkt aufgeregt, obwohl ihr Gesichtsausdruck einen müden, erschöpften Eindruck macht – beinahe so, als ob sie krank wäre und zum Kinderarzt müsste.

Die Türen öffnen sich und schließen sich wieder. Philip klettert auf den Fahrersitz, Nick setzt sich neben ihn. Brian macht es sich neben Penny auf der Mittelbank bequem. Das Schild steht zu seinen Füßen und drückt auf seine Knie.

Philip dreht den Zündschlüssel, und das Aufheulen des Motors hallt schrill durch die Stille. Die Untoten auf der anderen Seite der Barrikade horchen auf.

»Bringen wir es hinter uns«, murmelt Philip und legt den Rückwärtsgang ein. »Haltet euch fest!«

Er gibt Gas, und die Reifen des Allradantriebs beginnen zu greifen.

Alle werden leicht nach vorne geschleudert, während der SUV nach hinten schießt.

Im Rückspiegel sieht man, wie die schwächste Stelle im Zaun auf sie zurast, bis … KRACH! Das Auto bricht durch die Planken aus Zedernholz und wird vom schwachen Licht der Straßenlaternen in der Green Briar Lane erhellt.

Schon prallt der Wagen auf einen Untoten. Philip steigt aufs Gas und schaltet auf Drive. Der Zombie fliegt ein paar Meter durch die Luft und dreht sich zum Abschluss inmitten eines Regens aus Blut. Ein Teil seines vermodernden Arms bricht ab und rollt davon.

Der SUV schießt zur Hauptstraße und nimmt dabei drei weitere Zombies mit sich. Bei jedem Zusammenstoß zuckt Penny schmerzhaft zusammen, bis sie die Augen schließt. Die dumpfen Erschütterungen sind im Inneren des Autos deutlich zu spüren – und die gelb rötlichen Spuren auf der Windschutzscheibe nicht zu übersehen.

An der Kreuzung reißt Philip das Lenkrad herum. Er kratzt mit quietschenden Reifen die Kurve, ehe er nördlich auf das Tor zur Siedlung zuhält.

Wenige Minuten später ruft er Brian einen Befehl zu. »Los! Mach schnell! Verdammt schnell!«

Er steigt erneut auf die Bremse. Zum Glück sind alle angeschnallt. Der Wagen bleibt vor dem Eingangstor stehen. Im Scheinwerferlicht ist der mit Büschen gesäumte Kiesweg deutlich zu erkennen.

»Bin gleich wieder da!«, erklärt Brian, ergreift das Schild und reißt die Tür auf. »Lass den Motor laufen.«

»Beeil dich!«

Er steigt aus, das Schild in der Hand.

In der kalten Nachtluft eilt er über den Kiesweg. Angespannt lauscht er in die Dunkelheit. Er hört das Schlurfen und Stöhnen der Zombies. Sie sind bereits im Anmarsch.

Brian stellt das Schild rechts neben dem Tor auf, wo es durch keine Büsche verdeckt wird, und lehnt es an die Mauer.

Dann drückt er die hölzernen Beine in die weiche Erde, um dem Ganzen etwas Halt zu geben, ehe er zurück zum Wagen sprintet. Er ist zufrieden, seinen Teil für die Menschheit getan zu haben – oder was von ihr übrig ist.

Ehe sie davonrasen, drehen sich alle noch einmal um – selbst Penny – und blicken zurück. In der Ferne ist das Schild zu sehen. Darauf steht:

ALLE TOT!

NICHT BETRETEN!

Fünf

Sie halten sich in westlicher Richtung, wobei sie nicht schneller als fünfzig Stundenkilometer durch die Nacht fahren. Die vier Spuren der Interstate 20 sind mit zurückgelassenen Autos übersät. Die Straße führt auf ein schwaches Licht am Horizont des Nachthimmels zu. Sie sind gezwungen, sich so langsam durch die Wracks zu schlängeln, dass sie beinahe die Geduld verlieren. Doch immerhin schaffen sie beinahe zehn Kilometer, ehe es anfängt, wirklich schwierig zu werden.

Philip ist die meiste Zeit in Gedanken an Bobby vertieft. Was hätten sie bloß tun können, um ihm das Leben zu retten? Leid und Trauer graben sich jetzt tief in sein Bewusstsein – wie ein Krebsgeschwür, dessen Metastasen immer weiter wuchern. Um die düsteren Gedanken zu vertreiben, denkt er an ein altes Trucker-Sprichwort: Immer nur kurz anschauen, aber nicht anstarren. Er hält das Lenkrad mit der Lässigkeit eines alten Fernfahrers, richtet sich auf, konzentriert sich und versucht zu sehen, was sich an den Leitplanken abspielt.

Über acht Kilometer hinweg sieht er lediglich eine Handvoll Toter im Lichtkegel der Scheinwerfer.

In der Nähe von Conyers kommen sie an zwei Nachzüglern vorbei, die auf dem Haltestreifen daherschlurfen wie blutbesudelte Kriegsgefangene. Als sie an der Stonecrest Mall vorüberfahren, bemerken sie eine Traube dunkler Gestalten, die in einem Graben hockt und sich anscheinend an etwas labt – ob an Mensch oder Tier, das kann man in der Dunkelheit nicht sagen. Sonst sehen sie niemanden – zumindest während der ersten acht Kilometer nicht. Philip fährt stete und sichere fünfzig. Sicher, weil bei weniger als fünfzig Stundenkilometern die Gefahr besteht, ein Monster mitzunehmen, ohne es zu zerfetzen, und weil sie bei mehr als fünfzig garantiert an dem einen oder anderen Autowrack anstoßen und ins Schleudern geraten würden.

Das Radio funktioniert nicht mehr. Sie kurven ohne ein Wort zu sagen um die verlassenen Wagen herum, den Blick auf die Landschaft gerichtet.

Langsam nähern sie sich Atlanta. Sie lassen die ersten Trabantenstädte links liegen, die von Pinienwäldern oder auch Einkaufszentren durchbrochen werden. Große Autohäuser stehen düster wie Leichenschauhäuser an der Interstate. Im milchigen Mondlicht gleichen die endlosen Reihen von Neuwagen zahllosen Särgen. Sie fahren an einer leer stehenden Waffelbäckerei vorbei. Die Fenster sind eingeschlagen. Verlassene Bürogebäude mit ihren riesigen Parkplätzen erinnern an Kriegsgebiete. Die Restaurants, Caravan-Parks, K-Marts und Wohnmobilzentren links und rechts der Autobahn sind verwüstet. Kleine Feuer brennen hier und da, die Parkplätze wirken wie düstere Spielwiesen, die herrenlosen Autos auf dem Bürgersteig wie Spielzeuge, die jemand wütend weggeworfen hat. Überall liegt zerbrochenes Glas herum und schimmert unheilvoll im Mondlicht.

In weniger als eineinhalb Wochen hat die Plage das Randgebiet von Atlanta völlig zerstört. Hier, inmitten der Naturparks, Bürolandschaften und Vorstadtsiedlungen – dem Traum des typischen Mittelständlers, um dem mühsamen Pendeln von weit draußen herein ebenso wie den wahnwitzigen Hypotheken und dem stressvollen Leben in der Stadt zu entrinnen –, hat die Epidemie alles in wenigen Tagen in Schutt und Asche gelegt. Aus irgendeinem Grund verstört Philip der Anblick der zerstörten Kirchen am meisten.

Jedes Gotteshaus, an dem sie vorbeifahren, sieht noch schlimmer aus als das vorherige: Aus dem New Birth Missionary Baptist Center kurz vor Harmon steigt Rauch auf. Das verkohlte Kreuz auf dem Dach ragt anklagend in den Himmel. Zwei Kilometer weiter entdecken sie am Luther Rice Seminary hastig gepinselte Schilder über der Eingangstür, auf denen Vorüberfahrende darauf hingewiesen werden, dass das Ende nahe und keine Hoffnung mehr für die Sünder sei. Die Unity Faith Christian Cathedral sieht so aus, als ob sie zuerst geplündert worden wäre, ehe man sie anderweitig entweihte. Der Parkplatz von St. John the Revelator Pentecostal Palace wiederum gleicht einem mit Leichen übersäten Schlachtfeld, auch wenn sich viele der Toten mit der für Zombies typischen Trägheit und dem Hunger der Untoten noch immer durch die Gegend schleppen. Welcher Gott lässt das zu? Und wenn wir schon beim Thema sind: Welcher Gott lässt einen schlichten, unschuldigen Menschen wie Bobby Marsh so sterben? Welcher …

»Mist!«

Dieser Ausruf kommt vom Rücksitz und katapultiert Philip in die Gegenwart zurück. »Was ist los?«

»Dort drüben«, erwidert Brian mit schwacher Stimme, die entweder von seiner Erkältung oder der Angst kommt, die er empfindet. Vielleicht auch von beidem. Philip blickt in den Rückspiegel und sieht den unruhigen Gesichtsausdruck seines Bruders. Brian zeigt nach Westen.

Philip konzentriert sich erneut auf das, was vor ihm liegt, bremst aber instinktiv ab. »Was ist los? Ich kann nichts sehen.«

»Verdammt«, flucht nun auch Nick vom Beifahrersitz. Er starrt durch eine Schneise im Pinienwald zu ihrer Rechten. Ein seltsames Licht schimmert durch die Bäume.

Circa fünfhundert Meter vor ihnen macht die Interstate eine lange Rechtskurve durch ein Stück Wald, um sich dann in Richtung Nordwesten weiter auf die Stadt zuzuschlängeln. Hinter den Bäumen sind Flammen zu sehen.

Die Autobahn steht in Flammen.

»Verflucht!«, entfährt es Philip, ehe er den Fuß vom Gas nimmt, um die Situation erst einmal etwas besser einschätzen zu können.

Sekunden später sehen sie einen umgestürzten Tankwagen, der in zwei Teilen in lodernden Flammen mitten auf der Straße liegt. Er versperrt den Weg in das Innere der Stadt. Das Führerhaus hat sich beim Aufprall oder der darauf folgenden Explosion über die gesamte Fahrbahn verstreut. Ein großes Teil klemmt zwischen zwei Fahrzeugen und versperrt nicht nur den Mittelstreifen, sondern auch die gegenüberliegenden Fahrspuren. Die ausgebrannten Karossen anderer Autos liegen hinter dem Tanker.

Noch weiter dahinter … Fast könnte man glauben, dass die Interstate ein Parkplatz ist. Dort stehen unzählige Wagen, von denen manche brennen, die meisten aber Opfer einer Massenkarambolage geworden sind.

Philip fährt an die Seite und hält den SUV auf dem Standstreifen keine fünfzig Meter von den lodernden Flammen entfernt an. »Das ist ja großartig«, sagt er, ohne sich an jemanden im Besonderen zu wenden. Er will gerade eine Salve von Schimpfwörtern von sich geben, als er innehält. Schließlich sitzt Penny auf der Rückbank.

Auch aus dieser Entfernung sind selbst in der flackernden Dunkelheit einige Dinge klar. Zum einen bleibt ihnen nichts anderes übrig, als entweder eine Feuerwehr und ein Räumfahrzeug ausfindig zu machen, um weiterfahren zu können, ha,ha – oder aber einen verdammten Umweg auf sich zu nehmen. Zum anderen scheint das, was hier geschehen ist, erst heute passiert zu sein – vielleicht sogar erst wenige Stunden zuvor. Der Teer um das Wrack ist noch schwarz und die Oberfläche rau, als ob ein Meteor dort eingeschlagen wäre. Selbst die Bäume am Straßenrand sind vom plötzlichen Flammenmeer verkohlt worden.

»Was machen wir jetzt?«, will Brian wissen.

»Umdrehen«, antwortet Nick und wirft einen Blick über seine Schulter.

»Lasst mich einen Augenblick nachdenken«, meint Philip und starrt auf die Überreste der Fahrerkabine, deren Dach wie eine Fischkonserve aufgerissen ist. Verbrannte Leichen liegen überall über den Mittelstreifen verstreut. Manche von ihnen zucken mit den Wellenbewegungen einer erwachenden Schlange.

»Los, Philip. Uns bleibt nichts anderes übrig, als umzudrehen«, drängt Nick.

»Vielleicht können wir die 278 nehmen«, schlägt Brian vor.

»VERFLUCHT, KÖNNT IHR NICHT ENDLICH DIE KLAPPE HALTEN UND MICH NACHDENKEN LASSEN!«

Der plötzliche Wutanfall lässt Philips Kopf mit der Wucht einer Migräne pochen. Er beißt die Zähne zusammen, ballt die Hände zu Fäusten und schiebt die Stimme in seinem Inneren beiseite: Es erst aufbrechen, dann aufreißen. Hol dir das Herz …

»Tut mir leid«, sagt Philip schließlich und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. Er dreht sich um und sieht seine kleine Tochter an, die sich ängstlich auf der Rückbank zusammenkauert. »Es tut mir leid, Schatz. Daddy hat die Kontrolle verloren, aber jetzt ist alles wieder gut.«

Das kleine Mädchen starrt auf den Boden.

»Was willst du machen?«, fragt Brian leise. Der verloren klingende Ton in seiner Stimme lässt vermuten, dass er seinem Bruder in die Flammen der Hölle folgen würde, wenn Philip das so bestimmen würde.

»Die letzte Abfahrt war … Wie weit ist die entfernt? Eineinhalb Kilometer?« Philip wirft einen Blick nach hinten. »Ich finde, dass wir versuchen sollten …«

Das Klatschen kommt völlig unerwartet aus dem Nichts und unterbricht Philip mitten im Satz.

Penny schreit auf.

»MIST!«

Nick schreckt vom Beifahrerfenster zurück, an dem ein verkohlter Leichnam kratzt, der sich lautlos in der Dunkelheit an sie herangeschlichen hat.

»Runter mit dir, Nick!« Philips Stimme bleibt emotionslos wie der eines Funkers, als er sich rasch zum Handschuhfach vorbeugt, die Klappe öffnet und nach etwas sucht. Das Wesen auf der Straße drückt gegen die Fensterscheibe. Man kann es kaum mehr als menschlich erkennen, derart schwarz und verbrannt ist seine Haut. »Brian, halt Penny die Augen zu.«

»VERDAMMT!« Nick duckt sich und hält die Hände über den Kopf, als ob er einen Luftangriff erwarten würde. »MIST! MIST! MIST!«

Philip zieht die geladene Ruger aus dem Handschuhfach.

Mit einer fließenden Bewegung reißt er sie mit der rechten Hand hoch, während er mit der linken das elektrische Fenster herunterlässt. Der verkohlte Zombie streckt sofort einen versengten Arm ins Auto und stößt ein kehliges Stöhnen aus. Ehe er seine Finger um Nicks Genick legen kann, drückt Philip ab – ein einziger Schuss direkt in den Schädel.

Der Knall der Ruger hallt in dem Innenraum des SUV so laut wider, dass alle vor Schreck zusammenzucken. Der verkohlte Untote dreht sich einmal um die eigene Achse, Richtung Kühlerhaube. Aus dem Einschussloch nur wenige Millimeter über der linken Schläfe spritzen die Überreste seines Gehirns auf die Windschutzscheibe.

Dann rutscht die Kreatur an der Außenseite der Beifahrertür zu Boden und fällt auf die Straße. Der Aufprall auf dem Teer ist nach dem lauten Knall der Waffe kaum zu hören.

Selbstlader wie die Ruger sind vom Klang her unverwechselbar. Der Schuss ähnelt einem harten, scharfen Schlag, als ob ein Kantholz der Länge nach auf Beton aufkommt. Außerdem springt die Waffe dem Schießenden beinahe aus der Hand.

In dieser Nacht hallt der Schuss vom Wind getragen in der dunklen Landschaft wider, obwohl er im Inneren des Autos abgefeuert wurde.

Er ist laut und deutlich noch in eineinhalb Kilometern Entfernung zu hören, und sein Echo arbeitet sich durch die dichten Wälder bis in die Hörkanäle der Schattenkreaturen, um die bereits toten zentralen Nervensysteme zu neuem, grausamem Leben zu erwecken.

»Alle in Ordnung?« Philip blickt sich um in dem dunklen Auto und legt die Pistole auf die mit Teppich verkleidete Ablage. »Alles senkrecht?«

Nick richtet sich langsam wieder auf, die Augen weit aufgerissen. Er starrt auf die Überreste, die an der Windschutzscheibe kleben. Brian hält Penny in den Armen. Sie hat die Augen noch immer fest zu, während sich ihr Onkel panisch umsieht. Er späht durch jedes Fenster, um nach weiteren Untoten Ausschau zu halten.

Philip legt den Rückwärtsgang ein und gibt Gas. Gleichzeitig lässt er das Beifahrerfenster wieder hoch. Die Köpfe der Mitfahrenden schnellen nach vorne, als das Auto rückwärtsschießt und sich fünfundzwanzig Meter – fünfzig Meter – fünfundsiebzig Meter von dem brennenden Wrack des Tankwagens entfernt.

Dann tritt er auf die Bremse, und der Wagen hält.

Draußen herrscht Stille. Auch im SUV sagt niemand ein Wort. Philip ist sich dennoch sicher, dass er nicht der Einzige ist, der sich fragt, ob diese dreißig Kilometer lange Reise in die Stadt nicht wesentlich schwieriger werden wird, als sie ursprünglich angenommen haben.

Eine Weile sitzen sie da und debattieren, was sie als Nächstes machen sollen, während der Wagen im Leerlauf brummt. Philip wird immer unruhiger. Er will nicht zu lang an einem Ort bleiben – ganz besonders nicht, wenn der Motor läuft und sie nutzlos Benzin und Zeit verschwenden, während sich die Schatten hinter den brennenden Bäumen auf unheimliche Art bewegen. Er tut sein Bestes, den gutmütigen Diktator in seiner kleinen Bananenrepublik zu geben.

»Hört zu. Ich finde immer noch, dass wir versuchen sollten, außen herumzufahren.« Er weist mit dem Kopf nach Süden, wo es stockdunkel ist.

Auf dem Standstreifen der Gegenfahrbahn liegen überall ausgebrannte Autowracks. Doch es gibt zwischen dem Schotter und den Bäumen, welche die Interstate säumen, eine schmale Lücke, die etwas breiter als ihr SUV zu sein scheint. Der Regen und das Öl aus dem umgestürzten Tankwagen haben den festen Untergrund zu einem schmierigen Brei werden lassen. Aber ihr Auto ist groß, schwer und hat breite Reifen. Philip hat es schon über ganz andere Böden gejagt.

»Das ist zu steil, Philly«, gibt Nick zu bedenken und wischt die Blutspritzer, die ins Innere dringen, mit einem schmutzigen Handtuch von der Windschutzscheibe.

»Da muss ich zustimmen«, erklärt auch Brian aus der Dunkelheit der Rückbank, den Arm noch immer um Penny gelegt. Seine besorgte Miene wird ab und zu von den lodernden Flammen erhellt. »Ich bin dafür, dass wir zur Ausfahrt zurückfahren.«

»Aber wir haben keine Ahnung, was uns da erwartet. Das könnte noch viel schlimmer sein.«

»Wissen wir aber nicht«, entgegnet Nick.

»Wir müssen auf jeden Fall weiter.«

»Aber was, wenn es in der Stadt noch mörderischer zugeht? Bisher wird es ja auch immer schlimmer, je näher wir Atlanta kommen.«

»Es sind immerhin noch gute zwanzig Kilometer, und wir haben keine Ahnung, wie es in Atlanta zugeht.«

»Ich weiß nicht so recht, Philly.«

»Ich verrate dir was«, erklärt Philip. »Ich schaue einfach mal nach.«

»Was soll das heißen?«

Philip nimmt seine Pistole. »Ich gehe kurz raus und sondiere die Lage.«

»Einen Moment!«, ruft Brian. »Philip, mach keinen Mist. Wir müssen zusammenbleiben.«

»Ich will mir nur ein Bild von dem Boden machen, ehe wir probieren, da hindurchzufahren.«

»Daddy …« Penny will noch etwas sagen, überlegt es sich dann aber anders.

»Ist schon okay, mein Schatz. Daddy ist gleich wieder zurück.«

Brian starrt aus dem Fenster. Er ist ganz und gar nicht begeistert. »Wir haben abgemacht, dass wir uns nicht trennen würden – komme, was wolle. Philip, überlege es dir doch noch einmal.«

»Bin in zwei Minuten wieder da.« Philip öffnet die Fahrertür und schiebt die Waffe hinten in seine Jeans.

Die kühle Luft, das Geräusch des knisternden Feuers, der Geruch nach Ozon und der nach verbranntem Gummi dringen alle wie ein ungebetener Gast in den SUV. »Rührt euch nicht von der Stelle. Bin gleich wieder zurück.«

Er steigt aus.

Die Tür fällt zu.

Brian lauscht auf das laute Pochen seines Herzens, während Nick Wache schiebt. Er späht durch die Fenster und vergewissert sich, dass ihre nächste Umgebung zombiefrei ist. Doch überall sieht er tanzende, flackernde Schatten. Penny wirkt wie erstarrt. Sie scheint sich in sich selbst zurückgezogen zu haben – wie eine Blüte, wenn es dunkel wird.

»Er kommt gleich wieder, Kleines«, beruhigt Brian seine Nichte. Er leidet mit ihr. Das ist alles so falsch. Ein Kind sollte so etwas nicht ertragen müssen. Brian versteht sehr gut, wie Penny sich fühlt. »Er ist ein starker Mann, dein Vater. Er schlägt jedes Monster, das ihm über den Weg läuft. Das kannst du mir glauben.«

Nick dreht sich zu den beiden um. »Du kannst deinem Onkel glauben, meine Süße. Er hat völlig recht. Dein Vater kann auf sich selbst aufpassen, nicht nur auf andere.«

»Ich habe mal gesehen, wie dein Vater einen tollwütigen Hund fing«, erzählt Brian. »Damals war er neunzehn oder so, und es gab diesen Schäferhund, vor dem kein Kind in der Nachbarschaft sicher war.«

»Daran kann ich mich auch noch erinnern«, erklärt Nick.

»Das Tier hatte schon Schaum im Maul, und dein Daddy ist ihm bis in ein trockenes Flussbett gefolgt, wo er es niedergerungen und in eine Mülltonne gesperrt hat.«

»Ich kann mich noch bestens daran erinnern«, wiederholt Nick. »Er hat den Hund mit bloßen Händen gepackt und ihn durch die Luft gewirbelt, ehe er die Tonne über ihn gestülpt hat, als wäre er nichts anderes als eine harmlose Fliege.«

Brian beugt sich zu Penny und streicht ihr behutsam eine Strähne aus dem Gesicht. »Ihm passiert garantiert nichts, mein Kind … Das kannst du mir glauben. Dein Daddy ist ein knallharter Muchacho.«

Draußen stürzt ein brennendes Trümmerstück zu Boden. Der Lärm schreckt alle auf, und Nick sieht Brian an. »He, Mann. Kannst du mal hinter dich in die lange Plastiktasche neben dem Reserverad greifen?«

Brian sieht Nick an. »Was willst du haben?«

»Eines von den Gewehren.«

Brian starrt Nick einen Moment lang an, ehe er nach hinten fasst – und die lange Tasche findet, die zwischen einer Kühlbox und einem Rucksack klemmt. Er öffnet den Reißverschluss und holt ein Marlin 55 hervor.

Als er Nick das Gewehr reicht, fragt er: »Soll ich auch Munition suchen?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es bereits geladen ist«, meint Nick und klappt das Gewehr auf, um sich zu vergewissern, dass das auch wirklich der Fall ist.

Brian merkt, wie gut Nick mit der Waffe umzugehen vermag. Vielleicht ist er damit schon einmal zum Jagen gegangen. Brian war selbst nie dabei. Es war offiziell nicht sein Ding, bei den äußerst männlichen Freizeitbeschäftigungen seines Bruders und seiner Kumpels mitzumachen, obwohl er insgeheim eigentlich nichts lieber getan hätte. »Zwei Patronen im Lauf«, verkündet Nick und klappt das Gewehr zu.

»Sei vorsichtig«, ermahnt ihn Brian.

»Ich habe damit schon Wildschweine erlegt«, versichert ihm Nick.

»Wildschweine?«

»Ja, Wildscheine … Im Chatthoochee-Reservat. Ich bin immer mit meinem Vater und Onkel Verne auf die Jagd gegangen – nachts, versteht sich.«

»Du hast Schweine gejagt?«, fragt Brian ungläubig.

»Genau. Ein Wildschein ist schließlich ein großes Schwein. Vielleicht werden Wildschweine ja älter, aber da bin ich mir nicht so …«

Wieder ertönt ein lautes metallisches Knacken – diesmal näher, direkt neben Nicks Fenster.

Nick richtet den Gewehrlauf in die Richtung des Geräuschs, den Finger am Abzug. Er knirscht vor Nervosität mit den Zähnen, aber draußen bewegt sich nichts mehr. Die beiden entspannen sich wieder und seufzen erleichtert auf. »Wir sollten allmählich weiterfahren«, sagt Brian, »ehe …«

Wieder ein Geräusch.

Diesmal kommt es von der Fahrerseite. Das Schlurfen von Füßen …

Ehe Nick erkennen kann, worum es sich handelt, kommt die Gestalt auf die Fahrertür zu. Er reißt die Waffe herum und zielt auf den Schatten. Der Finger ist am Hahn und krümmt sich bereits, um den Eindringling mit zwei Kugeln zu begrüßen, als er eine bekannte Stimme hört.

»VERDAMMT!«

Kurz kann man Philip erkennen, ehe er sich aus der Schusslinie duckt.

»Mann, Philip, tut mir leid! Tut mir ehrlich leid«, entschuldigt sich Nick.

Philips Stimme klingt tiefer als gewöhnlich. Er hat sich zwar unter Kontrolle, aber seine Wut über Nicks Reaktion schwingt noch hörbar mit. »Könntest du mit dem Ding gefälligst nicht auf mich zielen?«

Nick senkt die Waffe. »Tut mir leid, Philly. War keine Absicht – ehrlich.«

Das Schloss klickt, die Tür öffnet sich. Philip steigt keuchend ein. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß. Er schlägt die Tür zu und atmet erleichtert auf. »Nick …«

»He, Mann, tut mir echt leid, aber ich bin eben ein bisschen nervös.«

Einen Augenblick lang hat es den Anschein, als ob Philip Nick trotzdem am liebsten einen Kopf kürzer machen würde. Doch dann löst sich die Anspannung. »Ich nehme an, wir sind alle schreckhaft … Ist ja auch nachvollziehbar.«

»Ja, Mann. Wird nicht wieder passieren.«

»Pass einfach in Zukunft besser auf.«

»Werde ich.«

Brian meldet sich von hinten. »Und? Was hast du da draußen gefunden?«

Philip legt die Hand auf die Automatikschaltung. »Einen Ausweg aus dieser verdammten Situation.« Dann schiebt er den Hebel auf Allradantrieb.

»Alle Mann festhalten!«

Philip schlägt etwas ein und rollt dann langsam über ein wahres Feld aus zerbrochenem Glas. Die Scherben knirschen unter den dicken Reifen des SUV. Alle halten angespannt den Atem an. Brian macht sich insgeheim Sorgen, dass sie bald einen Platten haben könnten.

Philip lenkt den Wagen über den Mittelstreifen – ein flacher Abwasserkanal, der von Rutenhirse, Unkraut und Rohrkolben überwuchert ist. Die Hinterräder greifen gut in der zerfurchten Erde. Als sie beinahe auf der anderen Seite sind, gibt er etwas mehr Gas, sodass der SUV hochschießt und mit voller Wucht auf der gegenüberliegenden Fahrbahn aufkommt.

Philips Hände scheinen am Lenkrad festgewachsen zu sein, als er auf den Standstreifen zufährt. »Festhalten!«, warnt er erneut seine Mitfahrer, als sie plötzlich eine mit Unkraut überwucherte Böschung hinabstürzen.

Der Wagen neigt sich wie ein sinkendes Schiff zur Seite. Brian hält Penny fest, während sich Nick an die Mittelkonsole klammert. Philip reißt das Lenkrad herum und tritt dann aufs Gaspedal.

Der SUV schlingert in Richtung der schmalen Lücke zwischen den Wracks. Drei Äste liegen im Weg, doch Philip achtet nicht auf sie. Einen Moment lang greifen die Hinterreifen nicht, finden dann aber wieder Halt im Schlamm. Philip kämpft wie ein Wilder am Lenkrad. Die Mannschaft hält den Atem an, als sich der Wagen durch die kleine Lücke zwängt.

Als sie durch sind, brechen sie spontan in Jubel aus. Nick klopft Philip auf den Rücken, und Brian stößt einen triumphierenden Freudenschrei aus. Selbst Pennys Gesicht hellt sich etwas auf, als der Anflug eines Lächelns über ihre Lippen huscht.

Durch die Windschutzscheibe sehen sie ein Wirrwarr aus Autos, das vor ihnen liegt – mindestens zwanzig Wagen, darunter SUVs und Kleintransporter –, die in einer Massenkarambolage auf der Gegenfahrbahn daran glauben mussten. Von den meisten sind nur noch rauchende Karosserien übrig geblieben. Dieser Anblick bietet sich ihnen über etliche Meter.

Philip tritt aufs Gas und schafft es, den SUV zurück auf die Straße zu lotsen. Er reißt das Steuer erneut herum, wodurch der Wagen hinten ins Schlittern gerät.

Irgendetwas läuft schief. Brian merkt, wie sie einen Augenblick lang die Bodenhaftung verlieren. Plötzlich heult der Motor auf.

Der Jubel nimmt ein abruptes Ende.

Der Wagen steckt fest.

Einen Moment lang will Philip es nicht glauben. Er gibt noch mehr Gas und wippt mit dem Körper vor und zurück, als ob das etwas helfen würde. Wut steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er strengt sich noch einmal an, doch der SUV bewegt sich keinen Zentimeter vorwärts. Nur die Hinterachse schlingert hin und her. Bald greift keiner der Reifen mehr, sondern Schlammfontänen spritzen in die vom Mond erhellte Finsternis hinter ihnen.

»MIST! MIST! MIST! MIST!«, brüllt Philip und schlägt mit der Faust so hart auf das Lenkrad ein, dass das Plastik bricht. Schmerzen schießen ihm bis in die Schulter. Dann tritt er noch einmal mit aller Gewalt aufs Gaspedal, und der Motor heult laut auf.

»Lass es sein, Mann!«, sagt Nick. »Damit gräbst du uns nur noch tiefer ein.«

»MIST!«

Philip nimmt den Fuß vom Gas.

Der Motor wird leiser. Der SUV neigt sich zur Seite – ein sinkendes Boot in seichtem Wasser.

»Wir müssen schieben«, erklärt Brian nach einem angespannten Schweigen.

»Halt mal das Lenkrad«, bittet Philip Nick, öffnet die Tür und steigt aus dem Wagen. »Gib Gas, wenn ich dir es sage. Brian, hilf mir mal.«

Brian öffnet die Hintertür, steigt aus und stellt sich im Schein der Rücklichter neben seinen Bruder.

Die Hinterräder stecken mindestens fünfzehn Zentimeter tief in dem öligen Matsch, und die hinteren Kotflügel sind voller Schlamm.

Den Vorderreifen ergeht es kaum besser. Philip legt seine großen Pranken auf die Heckklappe. Brian folgt seinem Beispiel auf seiner Seite.

Beide stellen sich breitbeinig hin, damit sie in dem Matsch nicht so leicht den Halt verlieren.

Keiner der beiden bemerkt dabei die dunklen Gestalten, die aus dem Wald auf der anderen Seite des Highways auf sie zustolpern.

»Okay, Nick. Jetzt!«, brüllt Philip und stemmt sich mit ganzer Kraft gegen den SUV.

Der Motor heult auf.

Die Reifen drehen sich, ohne zu greifen. Schlamm spritzt in den Himmel, während die Blake-Brüder schieben, was das Zeug hält. Sie geben ihr Bestes, doch es nützt nichts. Die Gestalten nähern sich fast lautlos.

»Noch mal!«, ruft Philip und drückt mit aller Gewalt gegen den Wagen.

Die Hinterreifen drehen sich erneut, ohne Bodenhaftung zu finden. Sie arbeiten sich noch tiefer in den Morast. Brian fliegt eine Ladung Schlamm ins Gesicht.

Hinter ihm nähern sich die Kreaturen durch eine Bank aus Nebel und Rauch auf fünfzig Meter. Sie laufen mit der typisch langsamen, unbeholfenen Art über die Scherben – fast wie eine Horde verletzter Eidechsen.

»Zurück in den Wagen, Brian!« Philips Stimme klingt tonlos. »Jetzt!«

»Was ist?«

»Los.« Philip öffnet die Heckklappe. Die Scharniere quietschen. Er durchsucht hastig im Kofferraum. »Jetzt keine Fragen.«

»Aber was ist mit …« Doch Brian bleiben die Worte im Hals stecken, als er mindestens ein Dutzend Schatten aus dem Augenwinkel erspäht, die auf sie zukommen und sie zu umzingeln drohen.

Sechs

Die Gestalten überqueren den Mittelstreifen. Andere erscheinen hinter dem lodernden Haufen der Wracks, wieder andere wanken aus dem nahegelegenen Wald auf sie zu. Sie kommen in allen Formen und Größen, doch ihre Gesichter haben stets die Farbe von grauem Beton, und ihre Augen leuchten wie Murmeln im Licht der Flammen. Einige sind verbrannt, andere schlurfen in Fetzen daher, wieder andere taumeln im Sonntagsstaat auf das Auto zu, als wären sie gerade erst aus der Kirche gekommen. Die meisten schürzen die Lippen und machen den Eindruck, als ob sie einen unstillbaren Hunger hätten.

»Verdammt.« Brian tauscht einen Blick mit seinem Bruder aus. »Was hast du vor? Was willst du machen?«

»Beweg deinen Hintern ins Auto, Brian!«

»Verdammt … Verdammt!« Brian eilt zur hinteren Tür, öffnet sie und springt neben Penny in den Wagen. Er reißt die Tür zu und schließt ab. »Nick, verriegle die Türen.«

»Ich helfe Philip …« Nick greift nach seiner Marlin und öffnet die Beifahrertür, als er innehält. Philips entschlossene Stimme dringt durch die geöffnete Heckklappe ins Auto.

»Ich habe alles unter Kontrolle. Tu, was er sagt, Nick. Schließ die Türen ab und geht in Deckung.«

»Es sind zu viele!« Nick ist bereits dabei auszusteigen. Er entsichert seine Waffe.

»Bleib im Wagen, Nick!«, warnt ihn Philip und schnappt sich zwei Äxte, die er in einem Gartenschuppen in den Wiltshire Estates gefunden hat. Es sind zwei rasiermesserscharfe, identische und perfekt ausbalancierte Waffen. Warum hatte sich ein dickleibiger Reicher wohl zwei so feine Prachtstücke zugelegt, die er ohne Zweifel nie in die Hand nehmen würde?

Währenddessen zieht Nick sein Bein wieder in den SUV, wirft die Tür ins Schloss und schließt ab. Dann dreht er sich zu Philip um. Seine Augen funkeln, die Waffe hält er noch in den Armen. »Was zum Teufel hast du vor, Philly?«

Er hört, wie Philip die Heckklappe zuschlägt.

Eine unheimliche Stille legt sich über den Wagen.

Brian sieht Penny an. »Ich glaube, du solltest dich besser auf den Boden legen, Kleines.«

Ohne Widerrede folgt Penny seiner Anweisung und rollt sich auf dem Boden zusammen. Etwas an ihrer Art und ihrem Gesichtsausdruck, in ihren großen, runden Augen lässt vermuten, dass sie weiß, was vor sich geht. Und das zerreißt Brian beinahe das Herz. Er streicht ihr ermutigend über den Rücken. »Das schaffen wir schon. Alles wird gut.«

Er dreht sich um und schielt über die Rückbank und die Sachen im Kofferraum, um zu sehen, was draußen passiert.

Philip, in jeder Hand eine gemeingefährliche Präzisionsaxt, geht seelenruhig auf die immer größer werdende Menge von Zombies zu.

»Verdammt«, murmelt Brian leise.

»Was hat er vor?«, will Nick mit gepresster Stimme wissen. Er hält sich an seiner Marlin fest.

Brian antwortet nicht. Der furchtbare Anblick, der sich ihm durch die Heckscheibe bietet, verlangt seine gesamte Aufmerksamkeit.

Es ist nicht hübsch. Es ist auch nicht anmutig oder cool oder heldenhaft oder auch nur gut ausgeführt … Aber es fühlt sich gut an. »Ich habe alles unter Kontrolle«, flüstert sich Philip selbst zu, als er ausholt, um den ersten Zombie, einen dicken Mann in der Latzhose eines Farmers, zu erledigen.

Die rasierklingenscharfe Axt trennt ein Stück Schädel in der Größe einer Pampelmuse ab und schickt eine Fontäne fleischfarbener Masse gen Himmel. Der Zombie fällt zu Boden, doch Philip hat noch nicht genug. Ehe ihn der nächste erreicht, macht er sich über den schlaffen Körper her und bearbeitet das tote Fleisch mit dem kalten Stahl in seinen Händen. »Die Rache ist mein. Ich will vergelten, spricht der HERR.« Blut und Gewebe spritzen in alle Richtungen, und es sprühen Funken, wenn sich die Axt durch den Körper gräbt und mit voller Wucht auf dem Teer aufkommt.

»Ich habe alles unter Kontrolle, ich habe alles unter Kontrolle«, murmelt Philip weiter. Seine angestaute Wut und sein Schmerz stecken in jedem Hieb, den er austeilt. »Ich habe alles unter Kontrolle, ich habe alles unter Kontrolle …«

Jetzt kommen die anderen näher – ein schlaksiger junger Mann, von dessen Lippen schwarze Flüssigkeit tropft, eine dicke Frau mit aufgedunsenem Gesicht, ein Kerl in einem blutbesudelten Anzug. Philip lässt von dem zerfetzen Leichnam auf dem Boden ab, um sich den Neuen zu widmen. Bei jedem Hieb knurrt er: »Ich habe alles unter Kontrolle.« Der nächste Schädel – ICH HABE ALLES UNTER KONTROLLE! – eine durchtrennte Halsschlagader – ICH HABE ALLES UNTER KONTROLLE! Seine Wut fährt in den kalten Stahl und durchschneidet Knorpelgewebe, Knochen – ICH HABE ALLES UNTER KONTROLLE! Blut und Hirn spritzen durch die Luft und vernebeln seine Sicht. Er erinnert sich an die schäumende Schnauze und triefenden Lefzen, die sich auf ihn stürzten, als er noch ein Kind war. Wie Gott seine Ehefrau Sarah von ihm nahm und an die Monster, die ihm seinen Freund und Kumpel Bobby Marsh entrissen. ICH HABE ALLES UNTER KONTROLLE! – ICH HABE ALLES UNTER KONTROLLE!

Brian wendet sich von der Szene ab. Er hustet und merkt, wie sich ihm bei den fürchterlichen Geräuschen, die bis ins Innere des Wagen vordringen, der Magen umdreht. Er unterdrückt sein starkes Bedürfnis, sich zu übergeben, und streckt die Arme nach Penny aus, um ihr die Ohren zuzuhalten – eine Geste, die bedauerlicherweise zur Routine geworden ist.

Nick kann sich von dem Gemetzel, das hinter ihnen passiert, nicht abwenden. Brian mustert ihn aufmerksam und sieht eine merkwürdige Mischung aus Bewunderung und Abscheu in seiner Miene – eine Art Ehrfurcht, die zu sagen scheint: Zum Glück ist er auf unserer Seite. Dieser Anblick schnürt ihm noch weiter die Kehle zu. Er muss sich zusammenreißen – schon wegen Penny darf er sich nicht gehenlassen.

Brian lässt sich auf den Boden runter und drückt die Kleine fest an sich. Der Körper des Kindes fühlt sich leblos und feucht an. Ihm schwindelt.

Sein Bruder bedeutet ihm alles. Er ist der Eckpfeiler in seinem Leben. Doch etwas passiert gerade mit Philip, etwas Fürchterliches. Es beginnt auch Brian zu quälen. Wie lauten hier eigentlich die Regeln? Diese wandelnden Abscheulichkeiten verdienen jeden verdammten Hieb, den Philip ihnen verpasst … Aber wie lauten die Regeln in diesem grauenvollen Spiel?

Als Brian merkt, dass die furchtbaren Geräusche endlich verstummt sind, versucht er, diese Gedanken zu verdrängen. Schwere Tritte dringen an sein Ohr. Die Fahrertür wird geöffnet.

Philip Blake setzt sich in den SUV und legt die blutigen Äxte auf den Boden zu Nicks Füßen. »Da werden noch mehr kommen«, keucht er, das Gesicht feucht vor Schweiß. »Der Schuss hat sie geweckt.«

Nick späht aus der Heckscheibe auf das Schlachtfeld und die Leichen, die vom prasselnden Feuer erhellt werden. Mit monotoner Stimme, in der eine Mischung aus Ehrfurcht und Abscheu mitschwingt, sagt er: »Home Run, Mann … Grand Slam Home Run!«

»Wir müssen hier weg«, drängt Philip und wischt sich den Schweiß von der Nase. Er holt tief Luft und blickt suchend in den Rückspiegel. Nicks Worte scheint er überhaupt nicht wahrzunehmen.

»Und jetzt, Philip?«, fragte Brian.

»Jetzt finden wir einen sicheren Ort, wo wir die Nacht verbringen können.«

Nick starrt Philip an. »Was soll das heißen? Etwa nicht im Wagen?«

»Es ist zu gefährlich in der Dunkelheit.«

»Ja, aber …«

»Den Wagen befreien wir morgen früh.«

»Ja, aber was ist mit …«

»Schnappt euch alles, was ihr für die Nacht braucht«, befiehlt Philip und nimmt die Ruger.

»Warte!« Nick ergreift Philip am Arm. »Soll das heißen, dass wir den Wagen zurücklassen? Ich meine, die ganzen Sachen, die hier drin sind – sollen die auch hierbleiben?«

»Nur für eine Nacht«, versichert Philip, öffnet die Tür und steigt aus.

Brian stößt einen lauten Seufzer aus und tauscht einen Blick mit Nick aus. »Lass gut sein. Hilf mir lieber mit den Rucksäcken.«

Sie verbringen die Nacht fünfhundert Meter von dem umgestürzten Tankwagen entfernt in einem gelben Schulbus, der auf dem Standstreifen steht und ins kalte Licht der Natriumlampen getaucht ist.

Im Bus ist es einigermaßen warm und trocken. Er befindet sich außerdem hoch genug über der Fahrbahn, damit sie die Waldränder links und rechts gut im Blick haben. Zudem besitzt er zwei Fluchtwege – eine Tür vorne und eine hinten. Die Sitzbänke sind lang und bequem genug, um sich darauf ausbreiten zu können und zumindest eine Mütze Schlaf zu bekommen. Der Schlüssel steckt, und die Batterie ist noch fast voll.

Im Bus riech es nach alten Pausenbroten, und die Geister verschwitzter Kinder mit feuchten Fäustlingen scheinen noch in der modrigen Luft zu schweben.

Die vier essen Schinken und Sardinen, ehe sie sich an die Pita-Kräcker machen, die wohl dazu gedacht waren, ein luxuriöses Picknick für eine Golfpartie zu garnieren. Zum Essen benutzen sie Taschenlampen und sehen sich vor, dass die Lichtkegel nicht aus dem Fenster dringen. Schließlich packen sie ihre Schlafsäcke aus und machen es sich so bequem wie möglich, um etwas Ruhe und Kraft zu tanken.

Abwechselnd schieben die Männer Wache. Einer von ihnen sitzt mit einem Marlin-Gewehr auf dem Fahrersitz und hält Ausschau. Die riesigen Seitenspiegel sind ideal, um alles im Blick zu behalten. Nick meldet sich freiwillig für die erste Runde und verbringt eine geschlagene Stunde damit, eine Radiostation auf seinem kleinen tragbaren Rundfunkgerät zu finden. Doch die Welt scheint still geworden zu sein. Zumindest ist dieser Abschnitt der Interstate 20 ebenso still; weit und breit rührt sich nichts.

Als es an Brian ist, die Wache zu übernehmen – er ist lediglich für wenige Minuten auf einer der quietschenden Sitzbänke eingeschlafen –, setzt er sich auf den Fahrersitz mit den Schaltern vor sich, dem kleinen tannenbaumförmigen Lufterfrischer, der vom Rückspiegel hängt, und einem laminierten Foto – wohl von dem Kind des Fahrers. Es gefällt Brian zwar nicht, als Einziger wach zu sein oder – und das wäre noch schlimmer – das Gewehr benutzen zu müssen. Doch so hat er jedenfalls genügend Zeit, über ein paar Dinge nachzudenken.

Irgendwann, kurz vor Sonnenaufgang, nimmt Brian Pennys Atmen wahr. Es ist vom Wind, der draußen weht, kaum zu unterscheiden. Doch ihr Atmen klingt jetzt unregelmäßig, als ob sie hyperventilieren würde. Die Kleine liegt auf einer Sitzbank unweit von Brian neben ihrem Vater.

Nun setzt sie sich nach Luft ringend auf. »Oh … Ich hab’s … Ich meine …« Ihre Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern. »Ich glaube, ich hab’s.«

»Psst«, beruhigt Brian sie, steht auf und geht zu ihr. Flüsternd sagt er: »Es ist alles okay, Kleine … Onkel Brian ist bei dir.«

»Äh …«

»Schon gut … Psst … Wir dürfen deinen Vater nicht aufwecken.« Brian wirft Philip einen Blick zu, der in eine Decke gehüllt fürchterliche Grimassen schneidet. Süße Träume dürften etwas anderes sein.

»Mir geht es gut«, antwortet Penny mit ihrem schüchternen Stimmchen und schaut zu ihrem Pinguin, den sie in den Händen hält, als ob es sich um einen wichtigen Talisman handeln würde. Das Spielzeug ist verschmutzt und abgenutzt, was Brian beinahe das Herz bricht.

»Schlecht geträumt?«

Penny nickt.

Brian schaut ihr in die Augen. Er denkt nach. »Ich habe eine Idee«, flüstert er. »Warum kommst du nicht mit nach vorne und leistest mir etwas Gesellschaft?«

Das kleine Mädchen nickt.

Er hilft ihr auf und legt ihr eine Decke über die Schultern. Dann nimmt er sie an der Hand und führt sie nach vorne zum Fahrersitz. Daneben befindet sich ein Notsitz, den er für sie herunterklappt. »Da, für dich«, meint er und klopft einladend auf das Polster. »Du kannst mein Beifahrer sein.«

Penny macht es sich auf dem Notsitz bequem. Sie zieht solange an der Decke, bis sie und der Pinguin ganz und gar eingehüllt sind.

»Siehst du das?« Brian zeigt auf einen schmutzigen Videomonitor in der Größe eines Taschenbuchs, der über dem Armaturenbrett hängt und auf dem ein körniges Schwarz-Weiß-Bild der Straße hinter ihnen zu sehen ist. Der Wind pfeift durch die Bäume, und der Schein der Natriumlampen glänzt auf den Dächern der zurückgelassenen Autos. »Das ist eine Sicherheitskamera. Man braucht sie, wenn man rückwärtsfährt.«

Das Mädchen betrachtet die Kamera neugierig.

»Hier sind wir sicher, Kleines«, beteuert Brian so überzeugend wie möglich. Am Anfang seiner Wache fand er heraus, wie weit man den Zündschlüssel drehen muss, um die Elektrik und das Armaturenbrett aufleuchten zu lassen – wie ein alter Flipperautomat, der wieder zum Leben erweckt wird. »Wir haben hier alles unter Kontrolle.«

Das Mädchen nickt.

»Willst du mir davon erzählen?«, fragt Brian mit sanfter Stimme.

Penny schaut verwirrt drein. »Wovon?«

»Von deinem schlechten Traum. Manchmal hilft es, wenn man … wenn man jemandem anderen davon erzählt … Verstehst du? Dann verschwindet er einfach und löst sich in Luft auf.«

Penny zuckt mit den Schultern. »Ich habe geträumt, dass ich krank werde.«

»Krank? Etwa so, wie die Leute da draußen?«

»Ja.«

Brian holt tief Luft. Ihre Antwort geht ihm nahe. »Hör mir zu, Kleine. Ganz gleich, was diese Leute sind – du wirst nicht so werden. Verstehst du? Das wird dein Vater nicht zulassen – nicht heute, nicht morgen, nicht in einer Million Jahre. Ich werde es nicht zulassen.«

Sie nickt.

»Du bist deinem Vater sehr wichtig. Du bist mir sehr wichtig.« Brian spürt, wie sich seine Brust unerwartet zusammenschnürt und seine Worte in seinen Augen brennen. Zum ersten Mal, seitdem er sein Elternhaus vor über eineinhalb Wochen verlassen hat, merkt er, wie sehr ihm das kleine Mädchen ans Herz gewachsen ist.

»Ich habe eine Idee«, sagt er, nachdem er sich wieder im Griff hat. »Weißt du, was ein Passwort ist?«

Penny schaut zu ihm auf. »Ein Passwort? Wie bei einem Geheimversteck oder so?«

»Genau.« Brian leckt seinen Finger ab und wischt ihr damit etwas Schmutz von der Wange. »Du und ich, wir werden uns ein geheimes Passwort zulegen.«

»Okay.«

»Es ist ein ganz besonderes Passwort, okay? Von jetzt ab möchte ich, dass du mir einen Gefallen tust, wenn ich das Wort sage. Kannst du das? Schaffst du es, dass du mir immer diesen Gefallen tust, wenn ich das besondere Wort sage?«

»Ja. Warum nicht?«

»Sobald ich das Wort sage, möchte ich, dass du die Augen schließt.«

»Ich soll die Augen schließen?«

»Ja. Und die Ohren zuhalten. Bis ich dir sage, dass du die Augen wieder aufmachen kannst. Verstanden? Ach, und eine Sache noch.«

»Ja?«

»Wenn ich dieses Wort sage, möchte ich auch, dass du an etwas denkst.«

»An was?«

»Daran, dass der Tag kommen wird, an dem du die Augen nicht mehr schließen und die Ohren nicht mehr zuhalten musst, dass der Tag kommen wird, an dem alles wieder gut ist und es keine kranken Leute mehr geben wird. Okay?«

Sie nickt. »Okay.«

»Also, wie soll das Passwort lauten?«

»Darf ich es mir aussuchen?«

»Natürlich … Schließlich ist es dein Passwort. Also darfst du es dir auch aussuchen.«

Das kleine Mädchen zieht konzentriert eine krause Nase, während sie nach einem passenden Wort sucht. Der Anblick des in Gedanken versunkenen Kindes, das so aussieht aus, als ob es über den Satz des Pythagoras sinnieren würde, schnürt Brian erneut das Herz zusammen.

Endlich blickt Penny auf. Es ist das erste Mal, seitdem der Albtraum begonnen hat, dass ein Funken Hoffnung in ihren Augen aufschimmert. »Ich hab’s!« Sie flüstert das Wort ihrem Stofftier zu und blickt dann auf. »Pinguin mag es auch.«

»Super … Aber mach es nicht so spannend.«

»Weg. Das Geheimwort heißt weg.«

Die graue Morgendämmerung zieht langsam herauf. Zuerst wird die Interstate von einer unheimlichen Stille erfasst. Der Wind ebbt ab, ehe ein blass leuchtendes Schimmern hinter dem Wald erscheint, das alle weckt und auf Trab bringt.

Die Dringlichkeit ihrer Situation erfasst fast sofort die gesamte Mannschaft. Ohne ihren Wagen fühlen sich die Männer nackt und ausgeliefert, sodass sie sich auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren: alles zusammenpacken und so schnell wie möglich zurück zum SUV, um den blöden Karren wieder auf die Straße zu bekommen.

Sie brauchen samt ihren Rucksäcken mit dem übrig gebliebenen Essen und den Schlafsäcken eine Viertelstunde für die fünfhundert Meter zurück zum Wagen. Ihren Weg kreuzt lediglich ein Zombie – ein umherirrendes junges Mädchen, das Philip mit Leichtigkeit aus dem Weg räumt, indem er seinen Haarscheitel vertieft. Zuvor flüstert Brian Penny noch das geheime Passwort zu.

Als sie am SUV ankommen, machen sie sich stillschweigend an die Arbeit. Zuerst versuchen sie, mehr Gewicht auf die Hinterachse zu drücken, indem sich Nick und Philip an den Rand des Kofferraums setzen, während Brian Gas gibt. Doch der Wagen steckt zu tief im Morast. Dann suchen sie die unmittelbare Umgebung nach Dingen ab, die man unter die Reifen legen kann, um wieder etwas Bodenhaftung herzustellen. Es dauert eine geschlagene Stunde, ehe sie zwei kaputte Paletten im Abflussgraben entdecken. Sie schleppen sie zurück zum Wagen und keilen sie unter die Reifen ein.

Doch auch das funktioniert nicht.

Der Schlamm scheint so sehr von Öl und sonstigem Unrat durchtränkt zu sein, dass er das Auto immer weiter nach unten zieht. Außerdem rutscht der Wagen bei jedem Versuch, ihn zu befreien, weiter die Böschung hinab. Aber so einfach geben sie nicht auf. Eine Reihe seltsamer Geräusche wie das Knacken von Zweigen und ein tiefes Grollen aus dem angrenzenden Wäldchen sowie die Furcht, dass sie ihr gesamtes Hab und Gut einschließlich des Proviants in dem weiter abrutschenden SUV verlieren, treiben sie an. Niemand will zugeben, dass die Situation immer hoffnungsloser wird.

Am frühen Nachmittag, nachdem sie stundenlang mit nur einer kleinen Essenspause erfolglos versucht haben, den Wagen zu befreien, ist das Auto weitere zwei Meter in den Wald gerutscht. Penny sitzt die ganze Zeit über im SUV, spielt mit ihrem Pinguin und drückt ihr Gesicht ab und zu gegen die Fensterscheibe.

Plötzlich hält Philip inne und starrt in Richtung Westen.

Der bewölkte Himmel wird bereits dunkel, und die Aussicht der einbrechenden Nacht gibt Philip zu denken. Völlig verschmutzt und schweißgebadet nimmt er sein Halstuch und wischt sich damit den Nacken ab.

Nick und Brian wischen sich die Hände ab und treten zu Philip. Keiner sagt ein Wort. In ihren Gesichtern spiegelt sich Hoffnungslosigkeit wider, und als wiederholt das Knacksen eines zerbrechenden Asts zu ihnen dringt – diesmal so laut wie ein Pistolenschuss –, meint Nick leise: »Sieht nicht gut aus, oder?«

Philip steckt das feuchte Halstuch in die Hosentasche. »Nicht mehr lange und es wird dunkel.«

»Philly, was denkst du?«

»Zeit für Plan B.«

Brian schluckt und starrt seinen Bruder an. »Ich wusste gar nicht, dass es einen Plan B gibt.«

Philip erwidert seinen Blick und verspürt einen Moment lang eine bizarre Mischung aus Wut, Mitleid, Ungeduld und Zuneigung. Dann wendet er sich seiner alten Rostlaube zu und kann sich einer gewissen Melancholie nicht erwehren. Es ist fast so, als ob er einen weiteren Freund unter die Erde bringen müsste. »Doch, den gibt es.«

Sie saugen das Benzin ab und füllen es in Plastikbehälter, die sie von Wiltshire Estates mitgenommen haben. Zum Glück finden sie einen großen, modernen Buick LeSabre mit steckendem Zündschlüssel. Er parkt keine zweihundert Meter entfernt auf dem Standstreifen. Sie fahren ihn zum SUV zurück. Erst tanken sie den neuen Wagen auf und packen dann so viel um, wie in den Kofferraum der riesigen Karre passt.

Als sie so weit sind, rasen sie der untergehenden Sonne entgegen. Jeder wirft einen letzten Blick auf den stecken gebliebenen SUV, der langsam wie ein sinkendes Schiff verschwindet.

Zahllose Anzeichen der bevorstehenden Apokalypse finden sich links und rechts entlang der Interstate in besorgniserregend kurzen Abständen. Je näher sie der Stadt kommen, desto schwieriger wird es, den unzähligen herrenlosen Autos auszuweichen. Die Bäume werden weniger und machen Wohnblöcken, Gewerbegebieten und Bürogebäuden Platz. Die Zeichen des Untergangs sind nicht mehr zu übersehen. Sie fahren an einem dunklen, menschenleeren Walmart vorbei. Die Fenster sind eingeschlagen, und ein Meer aus Klamotten und anderen Waren ist auf dem Parkplatz verstreut. Immer öfter sind ganze Häuserblocks in Finsternis getaucht und ragen wie riesige Grabsteine in den Himmel. Einkaufsstraßen sind geplündert, biblische Zitate als Warnungen auf Wände und Schornsteine gepinselt. Sie kommen sogar an einem einmotorigen Kleinflugzeug vorbei, das heftig rauchend in einem gigantischen Kühlturm feststeckt.

Irgendwo zwischen Lithonia und Pathersville fängt das Heck des Buick zu vibrieren an. Philip merkt, dass die zwei Hinterreifen platt sind. Vielleicht waren sie bereits kaputt, ehe sie losgefahren sind. Doch was macht das schon aus? Sie haben weder Zeit noch Lust, die beiden auszutauschen, oder auch nur ein Wort darüber zu verlieren.

Die Nacht bricht herein. Je näher sie an den Stadtrand von Atlanta kommen, desto größer wird die Anzahl der ausgebrannten Wracks auf den Straßen. Niemand spricht es aus, doch jeder fragt sich, ob sie nicht schneller zu Fuß ins Stadtzentrum gelangen konnten. Selbst die zwei doppelspurigen Straßen Hilldale und Fairington neben der Interstate sind mit Autowracks übersät. Wenn es so weitergeht, brauchen sie mindestens eine Woche, um ihr Ziel zu erreichen.

Deshalb trifft Philip den Entschluss, den Buick stehen zu lassen, so viel mitzunehmen, wie sie tragen können, und sich zu Fuß weiter durchzuschlagen. Niemand ist davon begeistert, doch keiner widerspricht ihm. Die einzige Alternative, in dieser Massenkarambolage nach passenden Reifen oder einem funktionstüchtigen Wagen zu suchen, scheint sinnlos zu sein.

Rasch holen sie das Nötigste aus dem Kofferraum und stopfen Taschen und Rucksäcke mit Decken, Essen, Waffen und Wasser voll. Mittlerweile kommunizieren sie einigermaßen erfolgreich mithilfe von Gesten, Nicken und im Notfall mit Flüstern. Das seltsame Dröhnen der Untoten dringt einmal lauter, einmal leiser aus der Dunkelheit hinter dem Highway zu ihnen vor. Es sickert durch die Bäume und hallt von den Gebäuden wider. Philip ist von den drei Männern der durchtrainierteste, und er schnappt sich einen übervollen Rucksack. Auch Penny will ihren Teil beitragen und nimmt einen kleinen Rucksack, in den immerhin ihr Bettzeug passt.

Philip bewaffnet sich mit der Ruger, den beiden scharfen kleinen Äxten, die er sich in den Gürtel steckt, und einem langen Werkzeug, das einer Machete gleicht und mit dem man Unterholz und Gestrüpp entfernen kann. Dieses klemmt er zwischen Rucksack und Rücken. Brian und Nick nehmen sich jeweils ein Marlin-Gewehr und einen Pickel, den sie an ihren Rucksäcken festzurren.

Dann machen sie sich in Richtung Westen auf. Diesmal wirft keiner von ihnen einen Blick zurück.

Nach einem halben Kilometer stehen sie vor einer Überführung, die von einem ramponierten Airstream-Wohnmobil blockiert wird. Die Fahrerkabine ist um einen Telegrafenmasten gewickelt. Sämtliche Straßenlaternen sind ausgefallen, und in der Finsternis ist ein dumpfes Pochen aus dem Inneren des Wagens zu hören.

Die vier bleiben auf dem Bürgersteig unterhalb der Brücke stehen und lauschen.

»Verdammt! Das könnte …« Brian hält sofort den Mund, als er sieht, dass sein Bruder die Hand hebt.

»Still!«

»Was ist, wenn …«

»Still!« Philip neigt den Kopf zur Seite und horcht angespannt. Sein Gesichtsausdruck wirkt steinern. »Hier entlang. Kommt mit!«

Philip führt die Gruppe den steinigen Abhang an der nördlichen Seite des Autobahnkreuzes hinab. Alle passen auf, um auf dem nassen Schotter nicht ins Rutschen zu kommen. Als Nachhut geht Brian die Böschung hinab und lässt sich die Spielregeln noch einmal durch den Kopf gehen. Haben sie vielleicht gerade einen Menschen im Stich gelassen?

Er hängt dem Gedanken nicht lange nach, als einer nach dem anderen von den finsteren Tiefen der verwüsteten Landschaft geschluckt wird.

Kurz darauf stehen sie auf einer zweispurigen Straße namens Miller Road, die in nördlicher Richtung durch die Dunkelheit führt. Für die nächsten zwei Kilometer kommen sie an dünn besiedelten Gewerbegebieten, desolaten Industrieparks und Werkstätten mit seltsamen Schildern vorbei: Barloworld Handling, Atlas Tool and Die, Hughes Supply, Simcast Electronics, Peachtree Steel. Das rhythmische Widerhallen ihrer Schritte auf dem kalten Asphalt vermischt sich mit ihrem angestrengten Keuchen. Die Stille, die sonst überall herrscht, fängt langsam an, mit ihren Nerven zu spielen. Penny ist müde. Plötzlich hören sie rechts ein Rascheln, das zwischen den Bäumen hervorkommt.

Philip deutet auf ein langes, niedriges Gebäude in der Ferne. »Das da passt«, verkündet er leise.

»Passt? Wozu soll es passen?«, will Nick wissen und stellt sich keuchend neben Philip.

»Dort verbringen wir die Nacht«, antwortet dieser emotionslos.

Dann führt er die Gruppe vorbei an einem niedrig hängenden, unbeleuchteten Schild: GEORGIA PACIFIC CORPORATION.

Philip steigt durch ein Bürofenster ein, während sich die anderen im Schatten des Eingangs zusammenkauern und warten, bis er sich durch die leeren, verwüsteten Korridore zum Lager in der Mitte des Gebäudes durchgekämpft hat.

Die Gänge sind so düster wie eine Krypta. Philips Herz schlägt ihm bis zum Hals, während er mit erhobener Axt durch die Flure schleicht. Er versucht einen der Lichtschalter anzumachen, jedoch ohne Erfolg. Den penetranten Geruch von Zellstoff bemerkt er kaum – es stinkt nach feuchtem Lösemittel und Klebstoff –, und als er endlich die Sicherheitstüren erreicht, stößt er sie vorsichtig mit der Stiefelspitze Zentimeter um Zentimeter auf.

Die Lagerhalle ist etwa so groß wie eine Flugzeughalle – voll riesiger Gerüste, die bis an die Decke ragen. Dort hängen große Lampen. Der Geruch von Papier liegt in der Luft. Etwas Mondlicht dringt durch die gewaltigen Dachfenster. Auf dem Boden stehen reihenweise Papierrollen, so breit wie der Stamm eines Mammutbaums. Ihr helles Weiß scheint in der Finsternis zu leuchten.

Etwas bewegt sich.

Philip steckt die Axt in den Gürtel zurück und fasst nach der Ruger. Er zieht die Waffe aus der Hose, entsichert sie, legt an und zielt auf die dunkle Gestalt, die hinter einem Stapel Paletten hervorkommt und auf ihn zuwankt. Der Fabrikarbeiter nähert sich langsam, aber offensichtlich hungrig. Der Latz seiner Hose ist voller Blut und Gallensaft, und seine Zähne funkeln im Mondlicht.

Ein Schuss – und das Geschöpf liegt am Boden. Der Knall hallt von den Wänden der großen Halle wie ein Kesselpaukenschlag wider.

Philip blickt sich um. Er sucht den Rest der Lagerhalle mit den Augen ab und entdeckt zwei weitere Zombies: einen dicken, alten Mann – seine schmutzige Uniform lässt vermuten, dass er hier Nachtwächter war – und einen jüngeren Untoten. Beide tauchen plötzlich hinter einem der Regale auf.

Philip verspürt keine Reue, als er erst dem einen und dann dem anderen eine Kugel aus kurzer Distanz in den Schädel jagt.

Als er sich wieder zum Vordereingang aufmacht, entdeckt er einen vierten Zombie zwischen zwei riesigen Papierrollen. Die untere Hälfte des ehemaligen Gabelstaplerfahrers ist zwischen den blendend weißen Zylindern eingeklemmt. Seine Körperflüssigkeiten haben eine Pfütze gebildet, die bereits gerinnt, während die obere Hälfte noch zuckt und mit milchig weißen Augen panisch umherblickt.

»He, Kollege. Was ist los?«, fragt Philip und nähert sich mit der Pistole an der Hüfte. »Die Arbeit bringt nur Scherereien – was?«

Der Zombie schnappt machtlos nach der Luft zwischen ihm und Philip.

»Es ist wohl an der Zeit, dass endlich die Mittagspause kommt.«

Erneut schlagen die Zähne aufeinander.

»Friss das hier.«

Der Knall des Zweiundzwanziger-Kalibers hallt laut, als sich die Kugel durch die Schädeldecke bohrt. Die Augen, gerade noch milchig weiß, sind mit einem Schlag schwarz. Der Fetzen eines Scheitellappens fliegt durch die Luft, und die Mischung aus Blut, Gewebe und Hirnrückenmarksflüssigkeit beschmutzt die makellos reinen weißen Papierrollen, als die obere Hälfte der Kreatur in sich zusammensackt.

Philip starrt eine Zeit lang auf sein Werk – scharlachrote Ranken breiten sich auf dem blütenweißen Untergrund aus –, ehe er sich seiner eigentlichen Aufgabe besinnt und die anderen hereinholt.

Sieben

Sie verbringen die Nacht in dem gläsernen Büro eines Vorarbeiters hoch über dem Boden der Georgia-Pacific-Lagerhalle. Sie schalten ihre batteriebetriebenen Laternen an und schieben die Schreibtische und Stühle beiseite, um auf dem Linoleumboden Platz für ihre Schlafmatten zu machen.

Der ehemalige Büroinhaber hatte sich gut eingerichtet. Vielleicht wohnte er sogar in diesem nicht einmal zwanzig Quadratmeter großen Zimmer, denn es gibt CDs, eine Stereoanlage, einen Mikrowellenherd, einen kleinen Kühlschrank mit verfaulten Lebensmitteln, Schubladen voller Süßigkeiten, Werksaufträge, halb leere Flaschen Alkoholika, frische Hemden, Zigaretten, Scheckbücher und Pornohefte.

Philip macht die ganze Nacht kaum den Mund auf. Er sitzt neben einem der Fenster, von wo aus man die Halle überblicken kann, und nimmt ab und zu einen Schluck aus der kleinen Whiskeyflasche, die er in einem Schreibtisch gefunden hat. Nick hat es sich in der gegenüberliegenden Ecke bequem gemacht und liest in einer kleinen Bibel im Licht seiner Laterne. Er behauptet, dass er das ledergebundene Büchlein mit Tausenden von Eselsohren stets bei sich trüge, doch bisher hatte ihn niemand jemals darin lesen sehen.

Brian isst etwas Thunfisch und Kräcker. Als er Penny etwas anbietet, lehnt sie ab. Sie scheint sich mehr und mehr in sich zurückzuziehen. Ihre Augen blicken starr vor sich hin. Brian legt sich neben sie, während Philip auf einem Bürosessel vor dem verschmutzten, vergitterten Fenster vor sich hin döst – wie sicher schon der Vorarbeiter vor ihm, der wohl nach Faulenzern und Drückebergern Ausschau hielt. Es ist das erste Mal für Brian, seinen Bruder so sehr in Gedanken versunken zu sehen, dass er sich um seine Tochter kein einziges Mal kümmert. Kein gutes Zeichen.

Am nächsten Tag wachen sie durch lautes Hundegebell von draußen auf.

Fahles Licht scheint durch die hohen Fenster. Eilig packen sie Taschen und Rucksäcke. Keiner hat Appetit auf Frühstück, sondern alle wandern schnurstracks ins Badezimmer, verbinden ihre Füße, um sich gegen Blasen zu wappnen, und ziehen ein weiteres Paar Socken an. Brians Ferse ist bereits wund von den Kilometern, die sie gestern zurückgelegt haben. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was heute vor ihnen liegt. Jeder hat Kleidung zum Wechseln dabei, aber keiner hat genügend Energie, sich auch umzuziehen.

Auf dem Weg nach draußen vermeiden es alle außer Philip, sich die abgeschlachteten Untoten genauer anzuschauen. Sie liegen in ihrem Blut überall auf dem Hallenboden verstreut.

Nur Philip scheint fasziniert von den Leichen zu sein, die nun genau zu erkennen sind.

Als sie draußen vor dem Eingang stehen, entdecken sie ein Rudel streunender Straßenhunde etwa hundert Meter von ihnen entfernt. Die Tiere streiten sich um einen Haufen Fleisch. Als Philip und die anderen näher kommen, ziehen sich die Köter zurück. Im Vorübergehen wirft Brian einen Blick auf die Überreste und flüstert Penny das Geheimwort zu: weg.

Es handelt sich um einen abgetrennten menschlichen Arm, der so übel zugerichtet ist, dass man ihn eher einer zerfetzten Stoffpuppe zuordnen würde, wenn man es nicht besser wüsste.

»Schau da nicht hin, Kleines«, warnt Philip seine Tochter, und Brian zieht das Mädchen an sich und legt ihm die Hände über die Augen.

Sie halten sich erneut Richtung Westen, als sie schweigend losmarschieren. Vorsichtig setzen sie einen Fuß vor den anderen – wie Diebe, die sich verstohlen durch die Morgensonne davonschleichen.

Sie gehen den Snapfinger Drive entlang, der parallel zur Interstate verläuft. Die Straße windet sich durch Waldstücke, verlassene Wohnviertel und entlang geplünderter Läden. Als sie näher zum Stadtzentrum vordringen und die Bebauung dichter wird, kommen sie an grauenvollen Szenen vorbei, die ein Kind niemals sehen sollte.

Das Fußballfeld einer Schule ist mit enthaupteten Leichen übersät. Ein Leichenschauhaus ist überstürzt mit Brettern vernagelt worden, und die gedämpften Geräusche der Wiederauferstandenen dringen an ihre Ohren, als diese versuchen, aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Philip sucht die Gegend mit den Augen in der Hoffnung ab, einen passenden Wagen ausfindig zu machen, aber die meisten Autos entlang Snapfinger Drive liegen ausgebrannt in Gräben oder stehen mit kaputten Reifen auf dem Bürgersteig. Die Ampeln, von denen manche noch gelb blinken, die meisten aber gar nicht mehr funktionieren, baumeln über den mit Autos verstopften Kreuzungen.

Der Highway, der circa hundert Meter von ihnen entfernt hinter einer Böschung liegt, wimmelt nur so vor Untoten. Immer wieder verirrt sich ein Zombie in ihre Richtung, sodass Philip seine Truppe bittet, in Deckung zu gehen und keinen Mucks von sich zu geben. Doch trotz des Zeitverlusts, der entsteht, weil sie sich immer wieder hinter Bäumen oder Autowracks verstecken, sobald sie eine der unheimlichen Kreaturen bemerken, kommen sie relativ gut voran.

Andere Überlebende treffen sie keine.

Am späten Nachmittag ändert sich das Wetter. Es wird auf einmal hell und heiter, und die Temperaturen liegen um die fünfzehn Grad. Gegen siebzehn Uhr sind alle am Schwitzen. Penny hat sich ihr Sweatshirt um die Taille gebunden. Philip rechnet nach, wie weit sie gekommen sind. Er zieht eine halbe Stunde Pause für das Mittagessen ab und schätzt, dass sie etwa eineinhalb Kilometer pro Stunde zurücklegen. Seiner Rechnung nach müssten sie demnach bisher zwölf Kilometer durch die vorstädtische Wildnis geschafft haben.

Niemand bemerkt, wie nahe sie ihrem Ziel in Wirklichkeit bereits sind, bis sie an einen Hügel kommen, der sich westlich von Glenwood aus einem Wald erhebt. Oben steht eine Baptistenkirche, die nach einer erloschenen Feuersbrunst noch immer raucht. Der Kirchturm ist eine schwelende Ruine.

Erledigt und hungrig folgen sie der gewundenen Straße bis zum Gipfel des Hügels. Als sie den Parkplatz vor der Kirche erreichen, atmen sie erst einmal durch, ehe sie nach Westen blicken – und vor Verblüffung beinahe erstarren.

Die Silhouette der Stadt glänzt in der Abendsonne – und ist höchstens noch fünf Kilometer entfernt.

Für Kinder, die kaum dreihundert Kilometer entfernt von der großen Stadt des Neuen Südens aufwuchsen, haben Philip und Brian Blake erstaunlich wenig Zeit in Atlanta verbracht. Während der zweieinhalb Jahre, die Philip als Fahrer für Harlo Electric angestellt war, hatte er die eine oder andere Lieferung in Atlanta zu erledigen. Brian hingegen hatte mehr als nur ein paar Konzerte im Civic Center, dem Earl, dem Georgia Dome und dem Fox Theater besucht. Doch keiner von beiden kannte die Stadt übermäßig gut.

Als sie auf dem Parkplatz stehen, den beißenden Geruch der Apokalypse in ihren Nasenflügeln, stellt die glitzernde Skyline in der diesigen Ferne eine Art unerreichbare Grandezza dar. Im träumerischen Licht sehen sie die Türme des Kapitols mit der vergoldeten Kuppel, die beiden Glasfassaden der Concourse-Türme, die riesigen Peachtree-Plaza-Türme und die Spitze des Atlanta-Gebäudes. Der Anblick wirkt wie eine Fata Morgana, und sie fühlen sich eher, als ob sie auf das versunkene Atlantis blicken würden.

Brian will gerade sagen, wie nahe und wie weit es doch noch bis ins Zentrum sei, als er im Augenwinkel eine schnelle Bewegung wahrnimmt.

»Da!«

Penny ist plötzlich losgestürmt, ihre Stimme klingt aufgeregt.

»PENNY!«

Brian eilt ihr hinterher. Doch sie ist schnell und läuft bereits am westlichen Rand des Parkplatzes entlang.

»HALTE SIE FEST!«, ruft Philip ihm nach und nimmt ebenfalls die Verfolgung auf.

»Schau doch! Schau doch!« Pennys kleine Beine tragen sie in Windeseile in eine kleine Seitenstraße auf der anderen Seite des Hügels. »Da ist ein Polizist!« Sie zeigt auf einen Mann. »Der wird uns retten!«

»PENNY! STOP!«

Aber das kleine Mädchen rennt um eine Schranke herum auf die andere Seite der Straße. »Er wird uns retten!«

Brian hat im vollen Sprint ebenfalls den Zaunrand erreicht und sieht einen Polizeiwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der unter einer großen Eiche parkt. Penny nähert sich dem blauen Crown Victoria mit dem Wappen der Polizei von Atlanta, dem üblichen roten horizontalen Streifen und dem Blaulicht auf dem Dach. Brian entdeckt eine dunkle Silhouette hinter dem Lenkrad.

»Bleib stehen, Liebling!«

Plötzlich hält Penny inne. Sie keucht vor Anstrengung und starrt auf den Mann im Inneren der Streife.

Mittlerweile haben auch Philip und Nick aufgeholt. Philip rast an seinem Bruder vorbei. Mit voller Geschwindigkeit nähert er sich Penny und reißt sie in seine Arme, als ob er sie aus einem lodernden Feuer retten müsste.

Brian steht vor dem Polizeiwagen und mustert den Fahrer durch die halb heruntergekurbelte Fensterscheibe.

Der Polizist war einmal ein gut beleibter Mann mit langen Koteletten gewesen.

Alle halten den Atem an.

Penny starrt durch das Fenster auf den Toten in Uniform, der verzweifelt am Sicherheitsgurt zerrt. Seiner Dienstmarke, der Uniform und dem Wort TRAFFIC nach zu urteilen, das in Großbuchstaben auf der Kühlerhaube steht, handelt es sich um einen Verkehrspolizisten, der an den Stadtrand abkommandiert wurde, um Fahrern abgeschleppter Autos den Weg zum Abschlepphof an der Fayetteville Road zu zeigen.

Jetzt dreht er sich auf seinem Sitz, ein Gefangener seines Sicherheitsgurtes, den er nicht loszuwerden vermag. Sein Mund steht angesichts des frischen Fleisches offen, das draußen auf ihn zu warten scheint. Seine Miene ist verzerrt, sein Gesicht aufgedunsen. Er hat eine Hautfarbe wie Mehltau, während die Augen wie abgegriffene Münzen aussehen. Er knurrt die vier an, während er mit seinen schwarzen Zähnen wild nach ihnen zu schnappen beginnt.

»Das ist alles ein schlechter Witz! Mann, welch ein erbärmlicher Anblick«, murmelt Philip.

»Ich nehme sie«, bietet Brian an, tritt auf Penny zu und streckt die Arme nach ihr aus.

Brians Geruch steigt dem toten Polizisten in die Nase, sodass er seine schnappende Fratze in dessen Richtung dreht und so sehr am Gurt zerrt, dass dieser zu zerreißen droht.

Brian schreckt zurück.

»Er kann dir nichts mehr tun«, belehrt ihn Philip. »Er weiß ja nicht einmal, was er mit dem Sicherheitsgurt anstellen soll.«

»Was soll das?«, erkundigt sich Nick und wirft einen Blick über Philips Schulter.

»Dumpfbacke.«

Der tote Polizist beginnt zu knurren.

Penny klettert in Brians ausgestreckte Arme. Er tritt einige Schritte zurück und drückt sie fest an sich. »Los, Philip. Verziehen wir uns.«

»Einen Augenblick mal. Nicht so schnell, wenn ich bitten darf«, entgegnet Philip und zieht seine Ruger aus der Jeans.

»He, Mann«, warnt Nick. »Der Lärm zieht doch nur mehr von denen an … Lass uns lieber verschwinden.«

Philip richtet die Waffe auf den Polizisten, der ihn bei dem Anblick noch stärker anknurrt. Aber Philip drückt nicht ab. Er lächelt nur und äfft das Geräusch eines Schusses nach: »Peng!«

»Philip, nun mach schon«, drängt ihn Brian und wiegt dabei Penny hin und her. »Der versteht doch …«

Da hält Brian inne und starrt auf den untoten Cop.

Der Zombie ist bei dem Anblick des auf ihn gerichteten Laufes nun doch wie versteinert. Brian überlegt. Ob sein rudimentäres Nervensystem, das tief im Inneren seiner toten grauen Zellen schlummern muss, irgendwie ein Signal an einen kaum noch existierenden Muskel geschickt hat? Auf jeden Fall verändert sich sein Gesichtsausdruck. Die monströse Abscheulichkeit, die das ursprüngliche Gesicht ersetzt hat, fällt wie ein Soufflé in sich zusammen und zeigt jetzt eine Miene, die man beinahe als traurig hätte bezeichnen können. Oder vielleicht hat er Angst? Bei dieser schrecklichen Visage und der Schicht toter Haut und Gewebe ist das schwer einzuschätzen, aber irgendetwas in diesen trüben Augen blitzte auf. Etwa Furcht?

Brian wird unerwartet von Emotionen erfasst, derer er sich kaum erwehren kann. Es ist schwer, genau zu sagen, was er empfindet, aber Abscheu, Mitleid, Ekel, Trauer und Wut spielen alle eine Rolle. Entschlossen setzt er Penny ab und dreht sie sanft um, sodass ihr der Anblick erspart bleibt.

»Kleine, das ist jetzt ein etwas längerer Weg-Moment«, flüstert er ihr beruhigend ins Ohr und wendet sich dann seinem Bruder zu.

Philip treibt ein Spielchen mit dem Zombie, er verhöhnt ihn. »Entspann dich einfach und folge einfach dem hüpfenden Ball«, spottet er, während er die Pistole vor dessen Augen auf und ab wandern lässt.

»Ich mache es«, sagt Brian.

Philip hält inne. Langsam richtet er sich auf und blickt seinen Bruder an. »Wie bitte?«

»Gib mir die Waffe. Ich werde ihn umlegen.«

Philip schaut Nick an, und Nick wendet sich an Brian. »He, Mann. Jetzt mach keinen …«

»Gib mir die Waffe!«

Das Lächeln, das um Philips Lippen spielt, lässt jeglichen Humor vermissen. »Wie du willst, Bruderherz.«

Brian ergreift die Pistole und macht ohne zu zögern einen Schritt auf den Streifenpolizisten zu. Er hält sie in das Auto und drückt den Lauf gegen die Schläfe des Untoten. Dann drückt er ab … Aber sein Finger will ihm nicht gehorchen. Sein verdammter Finger weigert sich, dem Befehl seines Gehirns zu folgen.

Währenddessen sabbert der Zombie weiter – als ob er auf etwas warten würde.

»Du kannst mir die Kanone jetzt wiedergeben, Kumpel.« Philips Stimme dringt wie aus weiter Ferne an sein Ohr.

»Nein … Der gehört mir.« Brian beißt die Zähne zusammen und versucht erneut abzudrücken. Doch sein Finger gleicht einem Eisbrocken. Seine Augen brennen, und sein Magen verkrampft sich.

Der tote Polizist fletscht die Zähne.

Brian beginnt zu zittern, als Philip einen Schritt auf ihn zutut.

»Gib mir die Waffe.«

»Nein.«

»Na los, Junge. Her damit.«

»Der gehört mir!«, beharrt Brian und wischt sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn. »Verdammt noch mal, der hier gehört mir!«

»Lass gut sein«, beruhigt ihn Philip und streckt den Arm nach der Waffe aus. »Genug ist genug.«

»Verdammt!«, entfährt es Brian. Dann lässt er von dem Polizisten ab. Tränen steigen ihm in die Augen. Er schafft es einfach nicht. Damit sollte er sich abfinden. Er reicht seinem Bruder die Waffe und dreht sich gesenkten Kopfes um.

Philip erlöst den Polizisten aus seinem Elend. Ein einziger Schuss, der den Innenraum der Streife mit einem Sprühnebel aus Blut verfärbt. Der Schuss hallt laut über die verwüstete Landschaft hinweg.

Der tote Polizist sackt nun endgültig leblos über seinem Lenkrad zusammen.

Es dauert eine Weile, bis sich Brian erfolgreich gegen die aufwallenden Tränen und den Zitteranfall gewehrt hat. Dann blickt er durch die Fensterscheibe auf die Überreste des Cops. Am liebsten würde er sich bei dem toten Polizisten entschuldigen, tut es aber nicht. Stattdessen starrt er auf den schlaffen Leichnam, der immer noch vom Sicherheitsgurt aufrecht gehalten wird.

Der entfernte Klang einer Kinderstimme, ähnlich dem Flattern von gebrochenen Flügeln, dringt auf einmal in sein Bewusstsein. »Dad … Onkel Brian … Onkel Nick? Äh … Da passiert gerade etwas Schlimmes.«

Die Männer drehen sich um. Sie schauen über den Parkplatz hinweg auf jenen Punkt, auf den Pennys Augen gerichtet sind. »So ein Mist!«, entfährt es Philip beim Anblick des Super-GAUs, der sich ihnen nun bietet.

»Um Gottes willen«, keucht Nick.

»Mist, Mist … Mist!« Brian spürt, wie es ihm eiskalt den Rücken herunterläuft, als er sieht, was vor der Kirche vor sich geht.

»Los, Schatz. Hier entlang.« Philip tritt zu seiner Tochter und zieht sie sanft in Richtung des Wagens. »Wir leihen uns kurz das Auto des netten Polizisten aus.« Er steckt die Hand durch die heruntergekurbelte Fensterscheibe, schließt die Tür auf, öffnet sie, löst den Sicherheitsgurt und zerrt den leblosen Körper aus der Polizeistreife. Der Zombie fällt mit einem Klatschen auf den Asphalt.

»Alle Mann, schnell! Werft eure Sachen hinten hinein und dann nichts wie weg!«

Brian und Nick laufen auf die andere Seite des Autos, öffnen die Türen, schleudern Taschen und Rücksäcke auf die Rückbank und springen hinein.

Philip schnappt sich Penny und setzt sie auf den Beifahrersitz, ehe er sich hinter das Steuer klemmt. Der Schlüssel steckt.

Philip lässt den Wagen an.

Der Anlasser gibt ein klägliches Krächzen von sich.

Das Armaturenbrett leuchtet kaum auf. Die Batterie schafft es gerade noch, die wenigen Lämpchen zu erhellen.

»Verdammt! VERDAMMT!« Philip wirft einen Blick aus dem Fenster auf die Kirche. »Okay. Einen Augenblick. Halt … Halt!« Dann starrt er durch die Windschutzscheibe auf die Straße. Er bemerkt, dass sie zuerst eine leichte Neigung aufweist, die immer weiter abfällt, bis sie steil den Hügel hinunter und durch eine Unterführung führt. Er dreht sich zu Brian und Nick um. »Ihr beiden, raus mit euch!«

Brian und Nick tauschen einen Blick aus. Das, was aus Richtung der Kirche auf sie zukommt – wohl aufgeschreckt durch die lauten Stimmen und den Schuss – brennt sich bereits jetzt in ihr Gehirn ein. Würden sie diesen Eindruck jemals wieder los? Leider hat Penny das Ganze auch gesehen und wird sich daran erinnern – nur noch lebhafter als die Erwachsenen: tote Kreaturen, die aus den kaputten Fenstern und offen stehenden Toren der Kirche kommen. Manche haben noch die Überreste zerfetzter, blutbesudelter Umhänge um, wie Priester und Messdiener sie tragen. Andere stolpern in bester Sonntagskleidung auf sie zu, an der teilweise menschliche Überreste kleben. Der eine oder andere knabbert noch an einem abgerissenen Arm oder Bein, während wieder andere Trophäen mit sich tragen. Die Organe tropfen noch von der grausamen Orgie, die in der Kirche stattgefunden haben muss. Mindestens fünfzig Zombies schleppen sich Seite an Seite mit nur einem Gedanken im Kopf in die Richtung der Lebenden.

Für einen winzigen Augenblick, ehe er die Tür öffnet und sich neben Nick stellt, bewegt Brian ein merkwürdiger Gedanke: Sie bewegen sich wie eine Einheit. Selbst im Tod sind sie noch eine eng zusammengewachsene Gemeinde – wie Puppen, die von einem Spieler kontrolliert werden. Aber er verharrt nicht lange, als er die Stimme seines Bruders hört, der noch immer hinter dem Steuer sitzt.

»SCHIEBT DIESEN KARREN AN UND SPRINGT DANN REIN! LOS, MACHT SCHON!«

Die beiden rennen nach hinten, legen die Hände auf den Kofferraum und beginnen zu schieben, ohne weiter nachzudenken. Philip hat den Wagen in den Leerlauf geschaltet, die Tür geöffnet und hilft mit einem Bein mit.

Es dauert nicht lange, bis der Wagen etwas Geschwindigkeit gewinnt. Die Kirchgänger hinter ihnen kommen näher. Angesichts des Frischfleisches vor ihren Augen lassen sie ihre fürchterlichen Schätze zu Boden fallen. Doch schon bald fährt das Auto von allein den Berg hinab – schneller und schneller, bis Brian und Nick Mühe haben, in den Wagen zu springen. Nick muss sich an der Stabantenne festhalten, um es zu schaffen, während Brian halb drinnen und halb draußen hängt und sich so gut es geht an der offenen Tür festklammert.

Mittlerweile sind sie den halben Hügel hinabgerollt und haben etwas Distanz zwischen sich und die untote Kirchengemeinde gebracht. Durch sein Gewicht ist der Wagen jetzt kaum noch zu stoppen. Er fühlt sich wie ein Zug an, der außer Kontrolle gerät, schnellt über jede Bodenwelle, jedes Schlagloch und rast auf die Kreuzung am Fuß des Hügels zu. Der Wind bläst Brian die Haare ins Gesicht. Er klammert sich an die offene Tür und fürchtet um sein Leben.

Nick brüllt etwas, aber der Wind, die quietschenden Reifen und die Stöße durch die unebene Straße übertönen seine Stimme. Vor ihnen, am Fuße des Hügels, liegt ein alter Rangierbahnhof, ein Irrgarten aus Schienen, die sich mit der Zeit in die Erde Georgias eingegraben haben. Marode Häuschen und Bürogebäude stehen düster und zerfallen wie Ruinen da. Philip ruft etwas, aber Brian kann auch seinen Bruder nicht verstehen.

Als sie endlich unten ankommen, gibt das Lenkrad seinen Geist auf.

Die Polizeistreife rattert über die Gleise und rast dann in den Rangierbahnhof. Philip kann nicht mehr gegensteuern, und das Auto beginnt zu schlingern. Die Reifen werden auf die Felgen gedrückt, und es fliegen Funken, als das Fahrgestell auf dem Boden aufsetzt.

Brian und Nick halten sich so fest es nur geht, während das Auto ohne Kontrolle durch den Rangierbahnhof schlittert, ehe es in einer dichten Wolke schwarzen Nebels zum Stehen kommt.

»Nehmt eure Sachen! Sofort!« Philip reißt die Tür auf und zieht Penny nach sich aus dem Wagen. Brian und Nick lockern ihre verkrampften Hände und beobachten, wie sich Philip seine Tasche über die eine Schulter wirft und seine Tochter auf die andere setzt. »Hier entlang!«, ruft er und weist mit dem Kopf in Richtung einer schmalen Straße, die nach Westen führt.

Zusammen rennen sie aus dem Rangierbahnhof hinaus.

Eine Reihe mit Brettern zugenagelter Läden erstreckt sich entlang einer Straße mit Kopfsteinpflaster.

Die drei Männer beeilen sich. Sie kommen gut voran, obwohl sie sich unter einer Reihe Markisen entlangschleichen und an mit Graffiti bemalte Türen und schmutzige Fenster drücken. Die Sonne ist bereits am Untergehen und taucht alles in unheimliches Dämmerlicht.

Das Gefühl, von Zombies umzingelt zu sein, ist überwältigend, obwohl sie keine einzige Kreatur sehen – nur eine lange Straße mit ausgedienten Läden, die einmal dieses Viertel von Atlanta prägten: Pfandleiher, Geldwechsler, Auktionshäuser, Autowerkstätten, Kneipen und Ramschläden.

Während sie die kaputte und verlassene Einkaufsstraße entlangeilen und dabei unter der Last ihres Gepäcks stöhnen, schweigen sie. Aber den Drang, sich in Sicherheit zu bringen, in einen Laden einzusteigen oder etwas Ähnliches, teilen sie auch ohne Worte. Die Nacht bricht herein, und in weniger als einer Stunde wird es hier so finster wie auf der Schattenseite des Mondes sein. Sie haben keine Landkarte, kein GPS, keinen Kompass und keinerlei Anhaltspunkte außer der im Nebel versunkenen Skyline von Atlanta.

Brian spürt das Unbehagen in seinem Nacken wie eine kalte Hand. Sie schleichen um eine Ecke.

Brian erspäht die Autowerkstatt als Erster. Aber Philip, der sie Sekundenbruchteile nach ihm sieht, geht bereits darauf zu. »Da, an der Ecke. Siehst du sie?«

Auch Nick versteht jetzt, worum es geht. »Ja … Sieht gut aus.«

Die Werkstatt sieht wirklich gut aus. Donlevy’s Autobody and Repair-Werkstatt liegt nur einen Block entfernt an der südwestlichen Ecke einer menschenleeren Kreuzung. Es scheint das einzige Geschäft in dieser gottverlassenen Gegend zu sein – obwohl es anscheinend für den Winter dichtgemacht hat.

Sie eilen auf das Gebäude zu.

Als sie näher kommen, sehen sie, dass das Gelände erst vor kurzem neu gepflastert wurde. Vor der Werkstatt stehen zwei Zapfsäulen. Sie machen einen sauberen Eindruck und sehen so aus, als ob sie noch funktionieren würden. Darüber hängt ein riesiges Chevron-Schild. Das Gebäude, an dem seitlich große Reifenmengen aufgestapelt sind, weist auf einer Seite Garagentore auf. Die Fassade besteht aus schimmernden Metallpanelen und verstärktem Glas. Es gibt einen ersten Stock, in dem entweder die Büros oder ein Laden untergebracht sind.

Philip führt sie um das Gebäude herum. Der Hinterhof ist sauber aufgeräumt. Hier stehen frisch lackierte Müllcontainer neben einer Mauer aus Gasbetonsteinen. Sie suchen nach einer offenen Tür oder einem Fenster, finden aber nichts, wo sie leicht Zutritt erlangen können.

»Und was ist mit dem Haupteingang?«, schlägt Brian flüsternd und außer Atem vor, als sie neben den Müllcontainern stehen. Sie können die Kirchengemeinde hören, wie diese die Straße entlangschlurft und gemeinsam stöhnt und ächzt – alle fünfzig.

»Ich wette, der ist abgeschlossen«, meint Philip, und sein markantes Gesicht glänzt von der Anstrengung, seine Tochter und die Tasche zu schleppen. Penny saugt nervös an ihrem Daumen.

»Woher willst du das wissen?«

Philip zuckt mit den Achseln. »Probieren können wir es ja.«

Sie schleichen sich um das Gebäude herum und achten dabei darauf, stets im Schatten des Überdachs zu bleiben. Dann setzt Philip Penny ab, legt die Tasche auf den Boden und eilt zur Haupttür. Er drückt die Klinke herunter.

Die Tür ist offen.

Acht

Zusammengekauert warten sie unter der Verkaufstheke neben einem Gestell mit Schokoladenriegeln und Chips im Eingangsbereich der Autowerkstatt.

Philip schließt die Tür hinter ihnen ab, ehe er sich zu den anderen begibt und den Untoten auf der Straße zuschaut, wie sie an der Werkstatt vorbeiwanken. Offensichtlich haben sie keine Ahnung, wo sich ihr Frischfleisch befindet. Sie suchen zwar die Gegend mit ihren toten Augen ab und gleichen dabei Hunden, die manisch nach etwas suchen, sind aber zu tumb, um sich die Gegend genauer anzusehen.

Aus ihrem Versteck hinter den vergitterten Fenstern kann Brian die toten Priester und die zerlumpte Gemeinde genauer unter die Lupe nehmen. Was ist passiert, dass die gesamte Gemeinde zu Zombies wurde? Fanden sie sich als gottesfürchtige Christen zusammen, nachdem die Plage ausgebrochen war? Suchten sie Beistand und Hilfe? Predigten ihnen die Priester Angst ein und heizten die Stimmung noch auf, indem sie die Offenbarung des Johannes vorlasen? Redeten sich die Priester in Rage und bombardierten die Gemeinde mit Geschichten über den bevorstehenden Untergang? »Und der fünfte Engel blies in seine Trompete, und ich sah einen Stern aus dem Himmel auf die Erde fallen, und er trug den Schlüssel für eine Grube ohne Boden!«

Doch wie verwandelte sich der Erste von ihnen? Handelte es sich um einen in den hintersten Reihen, der einen Schlaganfall erlitt? Oder vielleicht um eine Art rituellen Suizid? Brian stellt sich eine der alten schwarzen Ladys vor – ihr Körper voll Cholesterin, während ihre dicken, behandschuhten Finger im Einklang mit dem Heiligen Geist winken – und wie sie sich plötzlich an die Brust fährt, als sie die ersten Anzeichen eines Infarkts spürt. Minuten oder auch eine Stunde später steht die Frau wieder auf, ihr aufgedunsenes Gesicht ein Spiegelbild der neuen Religion, einem einzigartig brutalen Glauben.

»Verdammte Scheiße«, murmelt Philip unter der Verkaufstheke. Dann dreht er sich zerknirscht zu Penny um. »Tut mir leid, wenn ich solche Worte benutze, Schatz.«

Sie sehen sich in der Autowerkstatt um. Die Werkstatt ist makellos sauber und sicher. Die Böden sind gefegt, die Regale geordnet, und es riecht nach neuem Gummi und den flüchtigen Gerüchen von Benzin und Lösungsmitteln. Hier können sie die Nacht verbringen. Die beste Entdeckung machen sie jedoch erst, als sie die Garage genauer unter die Lupe nehmen.

»Wow! Das ist fast ein Panzer«, sagt Brian. Er steht auf dem kalten Betonboden und richtet seine Taschenlampe auf das schwarze Unding, das von einer Plane bedeckt ist.

Die anderen treten zu ihm. Sie stellen sich um das einzige Fahrzeug, das sich in der Garage befindet. Philip reißt die Plane herunter. Es handelt sich um einen Cadillac Escalade neueren Baujahrs in einem großartigen Zustand. Die schwarze Farbe glänzt im gelben Licht der Lampe.

»Der hat wahrscheinlich dem Besitzer der Werkstatt gehört«, vermutet Nick.

»Heute sind anscheinend Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen«, freut sich Philip und stößt mit dem Fuß gegen einen der Reifen. Der Luxus-SUV ist gigantisch. Er hat große, speziell geformte Stoßstangen, längliche Autoscheinwerfer und glänzende Chromfelgen. Er sieht wie ein Auto aus, das von einer Geheimorganisation der Regierung benutzt wurde. Die dunklen, getönten Scheiben spiegeln den Strahl von Brians Taschenlampe wider.

»Da sitzt aber niemand drin, oder?«, fragt Brian und richtet die Taschenlampe gezielt auf den Wagen.

Philip zieht seine Waffe heraus, öffnet eine Tür und hält den Lauf in den leeren, scheinbar unangetasteten Wagen. Er hat einer Innenausstattung aus Holz, Ledersitze und ein Armaturenbrett, das in einem Passagierflugzeug nicht fehl am Platz gewesen wäre.

»Ich wette, dass wir hier irgendwo auch den Schlüssel dazu finden«, sagt Philip.

Die Geschichte mit dem Polizisten und der Kirchengemeinde hat Penny noch weiter verstört. Sie verbringt die Nacht zusammengerollt in einigen Decken auf dem Boden der Werkstatt und nuckelt dabei unentwegt an ihrem Daumen.

»Das hat sie schon seit langem nicht mehr gemacht«, bemerkt Philip, der in ihrer Nähe auf einer Matratze sitzt und den letzten Rest Whiskey trinkt. Er trägt ein ärmelloses T-Shirt und seine schmutzige Jeans; die Stiefel stehen neben der Matratze. Nachdenklich nimmt er einen Schluck und wischt sich den Mund ab.

»Was?« Brian hockt seinem Bruder im Schneidersitz gegenüber. Penny liegt in der Mitte. Er trägt seinen blutverschmierten Mantel und sieht sich vor, nicht zu laut zu sprechen. Nick döst unweit von ihnen neben einer Werkbank. Er hat sich bereits in seinen Schlafsack zurückgezogen. Höchstens fünf Grad, wärmer ist es nicht in der Werkstatt.

»Den Daumen lutschen«, wiederholt Philip.

»Sie macht gerade eine Menge durch.«

»Da ist sie nicht allein.«

»Stimmt.« Brian starrt auf den Boden. »Aber das schaffen wir.«

»Schaffen? Was?«

Brian blickt seinem Bruder in die Augen. »Bis zum Flüchtlingslager. Ganz gleich, wo es ist … Wir werden es bestimmt finden.«

»Klar.« Philip leert die Flasche und stellt sie neben sich auf den Boden. »Wir werden das Lager garantiert finden – so wie die Sonne morgen aufgeht, alle Waisenkinder ein gutes Zuhause bekommen und die Tapferen stets als Sieger hervorgehen.«

»Was ist los?«

Philip schüttelt den Kopf. »Verdammt noch mal, Brian. Mach doch die Augen auf.«

»Bist du sauer auf mich?«

Philip steht auf und streckt sich. »Warum sollte ich gerade auf dich sauer sein, Kumpel? Geht doch alles seinen normalen Gang.«

»Was soll das heißen?«

»Nichts … Leg dich einfach hin. Der Schlaf wird dir gut tun«, meint Philip und geht zum Wagen. Er kniet sich hin und wirft einen Blick auf dessen Unterboden.

Brian steht mühsam auf. Sein Herz rast. Ihm ist schwindlig. Seinem Hals geht es besser, und selbst sein Husten hat sich nach den Tagen im Haus in Wiltshire Estates gelindert. Aber er fühlt sich bei Weitem noch nicht hundertprozentig gut. Aber wer tut das schon? Er tritt zu seinem Bruder. »Was soll das heißen – alles geht seinen normalen Gang?«

»Es ist, was es ist«, murmelt Philip, ohne ihn anzusehen.

»Du bist sauer auf mich, weil ich den Polizisten nicht umgebracht habe«, platzt Brian heraus.

Philip richtet sich auf und sieht seinen Bruder an. »Ich habe doch gesagt, du sollst dich schlafen legen.«

»Vielleicht fällt es mir schwerer, jemanden zu erschießen, der einmal ein Mensch war. Na und? Verklag mich doch.«

Philip packt Brian an seinem T-Shirt, wirbelt ihn um hundertachtzig Grad herum und stößt ihn gegen die Karosse des Escalade. Der Aufschlag raubt Brian einen Moment lang den Atem, und der Lärm weckt Nick. Auch Penny zuckt im Schlaf zusammen. »Jetzt hör mir mal gut zu«, knurrt Philip drohend. »Das nächste Mal, wenn du mir eine Knarre abnimmst, will ich, dass du sie auch benutzen kannst. Der Bulle war harmlos. Aber das wird nicht immer so sein, und ich werde garantiert nicht für alle Zeiten den Babysitter spielen. Hast du mich verstanden?«

Brian nickt. Seine Kehle ist vor Angst trocken geworden. »Ja, hab ich.«

Philip packt ihn noch härter. »Du solltest dir diesen ganzen Weicheier-Mist von wegen behüteter Kindheit schnellstmöglich aus dem Kopf schlagen, anfangen, deinen Mann zu stehen und ein paar Schädel einschlagen. Denn eines kann ich dir versprechen: Ehe es besser wird, wird es noch viel, viel schlimmer.«

»Verstanden«, antwortet Brian.

Philip lässt noch immer nicht von seinem Bruder ab. Seine Augen funkeln vor Wut. »Wir werden diese Sache überleben, indem wir größere Monster werden als die da draußen! Kapiert? Es gibt keine Regeln mehr! Keine Philosophie und vor allem keine Gnade oder Schonfrist. Es gibt nur die und uns, und alles, was diese Monster wollen, ist es, uns aufzufressen! Was machen wir also? Wir fressen die auf! Wir schnappen sie uns und spucken sie wieder aus, und wir werden das Ganze überleben, oder ich werde höchstpersönlich ein riesiges Loch in diese verrückte Welt sprengen! Verstehst du? VERSTEHST DU?«

Brian nickt panisch.

Philip lässt ihn los und wendet sich ab.

Mittlerweile ist Nick ganz wach geworden. Er setzt sich auf und starrt die beiden verdutzt an.

Pennys Augen sind ebenfalls weit aufgerissen. Sie nuckelt wie wild an ihrem Daumen und blickt ihrem Vater hinterher, der durch die Werkstatt zu tigern beginnt. Als er an den Toren vorbeikommt, hält er inne und starrt durch die eisernen Gitterstäbe nach draußen in die Nacht, die Hände zu Fäusten geballt.

Am anderen Ende der Werkstatt lehnt Brian noch immer am Escalade und ficht eine stille Schlacht mit sich selbst, um nicht wie ein Weichei loszuheulen, das eine behütete Kindheit genießen durfte.

Am nächsten Morgen erhellt eine schwache Herbstsonne ihre Bleibe. Hastig nehmen sie ihr Frühstück in Form von Müsliriegeln und Wasser zu sich, ehe sie das Benzin aus drei Zwanzig-Liter-Kanistern in den Tank des Escalade schütten und ihre Habe in den Wagen packen. Die getönten Scheiben sind feucht von Kondenswasser. Brian und Penny machen es sich wie immer auf der Rückbank bequem, während Nick neben dem Tor steht und auf Philips Zeichen wartet. Da der Strom ausgefallen ist – anscheinend in der ganzen Stadt –, müssen sie das Tor manuell bedienen.

Philip setzt sich hinter das Lenkrad des Escalade und startet den Wagen. Der riesige V8-Motor mit sechs Litern Hubraum beginnt zu schnurren, und das Armaturenbrett leuchtet auf. Philip legt den ersten Gang ein, gibt Nick ein Zeichen und beginnt langsam vorwärts zu fahren.

Nick reißt das Tor auf. Die Rollen quietschen und setzen sich in Bewegung. Frische Morgenluft und Sonnenstrahlen strömen in die Garage, während Nick zur Beifahrertür läuft und in den Wagen steigt.

Philip zögert einen Moment lang. Er blickt zuerst auf das Armaturenbrett und dann auf die Mittelkonsole.

»Was ist?«, will Nick nervös wissen. Er fühlt sich immer ein wenig unsicher, wenn er Philips Handeln hinterfragt. »Sollten wir uns nicht langsam auf die Socken machen?«

»Einen Augenblick«, gebietet Philip und öffnet ein Fach in der Mittelkonsole.

In dem Fach befinden sich zwei Dutzend CDs, die alle vom vorherigen Eigentümer – einem gewissen Calvin R. Donlevy, wohnhaft in 601 Greencove Lane S. E. laut Fahrzeugpapieren im Handschuhfach – geordnet worden waren. »Jetzt sind wir startbereit«, erklärt Philip, nachdem er die CDs durchgesehen hat. Calvin R. Donlevy aus der Greencove Lane war offensichtlich ein Liebhaber klassischen Rocks, denn unter anderen finden sich Led Zeppelin, Black Sabbath und Jimi Hendrix in seiner Sammlung. »Ein bisschen Musik wäre doch nicht schlecht, damit wir uns besser konzentrieren können.«

Kaum erklingen die ersten Töne einer Cheap-Trick-CD aus den Lautsprechern, tritt Philip aufs Gaspedal.

Die Kraft der vierhundertfünfzig Pferdestärken drückt die Mannschaft in die Sitze, und der überbreite Escalade schießt durch die Tore. Philip bleibt gerade noch genug Raum, ohne die Außenspiegel abzureißen oder Kratzer im Lack zu verursachen. Das Sonnenlicht durchflutet den Innenraum. Das kreischende Gitarrensolo der Partyhymne »Hello There« plärrt aus der 5.1 Surround-Sound-Bose-Anlage, während sie aus der Werkstatt über den Vorplatz auf die Straße rasen.

Der Sänger von Cheap Trick fragt die Konzertgänger auffordernd: »Are you ready to rock?«

Philip schnellt um die Ecke und fährt erst einmal auf die Maynard Terrace. Die Straße wird breiter. Billige Häuser rauschen links und rechts an ihnen vorbei. Ein umherirrender Zombie in einem Regenmantel taucht zu ihrer Rechten auf, und Philip steuert direkt auf ihn zu.

Der widerlich dumpfe Schlag beim Aufprall ist über das Heulen des Motors und den donnernden Schlagzeugrhythmen von Cheap Trick kaum wahrzunehmen. Brian sinkt tief in seine Rückbank. Ihm dreht sich der Magen um, und er macht sich Sorgen um Penny, die zusammengesackt neben ihm sitzt und vor sich hin starrt.

Brian lehnt sich zu ihr hinüber, schnallt sie an und versucht, das Mädchen anzulächeln.

»Etwas nördlich von hier sollte es eine Auffahrt geben«, brüllt Philip so laut er kann, wobei seine Stimme in der Musik und dem Motorengeräusch fast untergeht. Zwei weitere Untote torkeln zu ihrer Linken durch die Gegend – ein Mann und eine Frau in Lumpen. Philip lenkt das Auto in ihre Richtung, um sie wie zwei schwache Kegel umzumähen.

Ein abgetrenntes Ohr hängt an der Windschutzscheibe, und Philip schaltet die Scheibenwischer ein.

Sie erreichen das nördliche Ende der Maynard Terrace. Die Autobahnzufahrt liegt direkt vor ihnen. Philip tritt auf die Bremse, und der Escalade kommt mit quietschenden Reifen vor einer Massenkarambolage mit sechs Autos zum Stehen. Eine Traube Untote umkreist die Unfallstelle wie Aasgeier ihre Beute.

Philip legt den Rückwärtsgang ein und fährt wieder los. Die Rockmusik donnert weiterhin aus den Lautsprechern. Die plötzliche Beschleunigung reißt alle aus den Sitzen, und Brian drückt Penny zurück auf die Bank.

Ein geschicktes Manöver, und der Wagen dreht sich um hundertachtzig Grad, ehe Philip ihn die McPherson Avenue hinunterjagt, die parallel zur Interstate verläuft.

Sie legen eineinhalb Kilometer durch eine Wohngegend in weniger als zwei Minuten zurück, während die Schlagzeugeinlagen und der Bass der Musik synkopierte Akzente zu dem schrecklichen Aufprallen umherwandernder Zombies liefert, die zu langsam sind, um Philip auszuweichen. Zuerst knallen sie mit voller Wucht auf die Kotflügel und fliegen dann wie panisch flatternde Riesenvögel durch die Luft. Immer mehr Untote tauchen aus den Schatten auf und kommen hinter Bäumen hervor. Offensichtlich hat sie das Brummen des V8-Motors aus ihrem tranceartigen Schlummer geweckt.

Philip beißt die Zähne mit grimmiger Entschlossenheit zusammen, als sie sich einer weiteren Auffahrt zum Highway nähern.

Nachdem er die Faith Avenue erreicht hat, tritt er erneut auf die Bremse. Ein Burger Win steht in Flammen, und die ganze Gegend ist in einen nach altem Fett riechenden Nebel getaucht. Die Auffahrt ist noch dichter zugestopft als die zuvor. Philip unterdrückt nur mühsam einen Fluch, legt den Rückwärtsgang ein und tritt wieder aufs Gas.

Der Escalade biegt in eine Nebenstraße ein. Philip reißt das Steuer herum und wird schneller. Die Reifen quietschen und qualmen. Erneut schießen sie Richtung Westen, weichen zahlreichen Straßensperren aus und halten stets auf die Skyline von Atlanta in der Ferne zu, die größer und größer wie eine Geistererscheinung am Horizont in den Himmel ragt.

Immer mehr Straßen sind blockiert. Die Trümmer, Autowracks und umherirrenden Untoten scheinen unüberwindbar zu sein. Aber Philip Blake lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Angespannt sitzt er hinter dem Lenkrad und atmet schwer. Die Augen hält er auf den Horizont gerichtet. Sie rasen an einem Publix-Lebensmittelladen vorbei, der so aussieht, als ob er in einem Blitzkrieg zerbombt worden wäre. Der Parkplatz ist voller umherirrender Zombies.

Philip drückt noch mehr auf die Tube, um heil durch eine Reihe von Monstern auf der Straße zu kommen.

Die Welle von Blut und Gewebe, die sich über die Motorhaube des SUV ergießt, ist geradezu spektakulär – eine schreckliche Ansammlung zerstörter Menschenmasse. Die Scheibenwischer schieben die Überreste schnarrend beiseite.

Brian wendet sich an seine Nichte. »Kleine?« Keine Antwort. »Penny?«

Aber das Kind starrt regungslos auf das Schauspiel auf der Windschutzscheibe. Sie scheint Brian im Lärm der Rockmusik und der Motorengeräusche nicht wahrzunehmen. Oder sie will ihn nicht hören. Oder es ist ihr alles zu viel geworden, und sie kann nichts mehr in sich aufnehmen.

Brian klopft ihr sanft auf die Schulter. Plötzlich ist sie wieder im Hier und Jetzt und schaut ihn an.

Da lehnt sich Brian über sie hinweg und schreibt mit dem Zeigefinger ein Wort auf die feuchte Fensterscheibe:

WEG

Er erinnert sich vage daran, irgendwo gelesen zu haben, dass etwa sechs Millionen Menschen im Großraum Atlanta leben. Er weiß noch, wie sehr ihn diese Zahl überrascht hat. Brian hat Atlanta schon immer als eine Art Minimetropole betrachtet, eine Vorzeigestadt des südlichen Fortschritts, die sich in einem Meer von verschlafenen Nestern befindet. Bei den wenigen Malen, die er in Atlanta gewesen war, hatte er den Eindruck, die Stadt sei eine einzige Ansammlung von Vororten. Klar, auch Atlanta hat eine gewisse Anzahl von Wolkenkratzern im Zentrum – für Firmen wie Turner, Coca Cola, Delta, Falcons und ähnliche. Aber die Stadt kam ihm immer wie eine kleine Schwester der großen Städte im Norden vor. Brian war einmal in New York gewesen, um die Familie seiner Ex zu besuchen, und der gewaltige, schmutzige, klaustrophobisch wirkende Ameisenhaufen war ihm wie eine echte Stadt erschienen, während Atlanta lediglich ein Abziehbild zu sein schien. Vielleicht lag das an der Geschichte der Stadt. Brian beschäftigte sich am College damit: Nachdem Sherman sie in Schutt und Asche gelegt hatte, entschieden sich die Verantwortlichen beim Wiederaufbau dafür, die alten historischen Wahrzeichen verschwinden zu lassen. In den folgenden hundertfünfzig Jahren wurde Atlanta mit Stahl und Glas aufgetakelt. Im Gegensatz zu anderen Städten der Südstaaten wie Savannah oder New Orleans, wo das Flair des alten Südens noch präsent ist, hat sich Atlanta den langweiligen Fassaden des modernen Expressionismus verschrieben. Schau nur, scheinen sie zu sagen, wir sind so progressiv, wir sind so kosmopolitisch, wir sind so cool – nicht wie diese Landeier in Birmingham. Doch für Brian wirkt Lady Atlanta immer überkandidelt. Für ihn hat Atlanta immer mehr so getan als ob.

Bis jetzt.

Während der kommenden fünfundzwanzig Minuten, die sich Philip im Zickzackkurs durch die desolaten Straßen und Parkplätze kämpft, um parallel mit der Interstate zu bleiben und sich doch stetig dem Zentrum der Stadt zu nähern, betrachtet Brian durch die getönten Scheiben des SUV das echte Atlanta wie einen flimmernden Diavortrag forensischer Fotos eines Tatorts. Er starrt auf Sackgassen voller Müll und Unrat, auf brennende Abfallberge, geplünderte Sozialwohnungen, eingeschlagene Fensterscheiben, schmutzige Laken, die aus Gebäuden hängen, auf die verzweifelte Hilferufe geschmiert sind. Das hier ist wirklich eine Stadt – eine urzeitliche Totenstadt – übervölkert und nach Tod stinkend. Und das Schlimmste ist, dass sie noch nicht einmal bis zum Zentrum vorgedrungen sind.

Um 10.22 Uhr findet Philip Blake die Capital Avenue, eine breite, sechsspurige Straße, die sich am Turner-Field-Baseballstadion vorbeiwindet, ehe sie in die Stadtmitte führt. Er macht die Stereoanlage aus. Die Stille dröhnt jetzt in ihren Ohren, als sie auf die Capital Avenue einbiegen und langsam nach Norden fahren.

Die Straße ist mit zurückgelassenen Autos übersät, die aber weit genug auseinanderstehen, sodass Philip den Escalade sicher hindurchlenken kann. Die Spitzen der Wolkenkratzer zu ihrer Linken sind so nahe, dass sie im Dunst wie Großsegel von Rettungsschiffen leuchten.

Niemand sagt ein Wort, während sie an einem Betonklotz nach dem anderen vorbeirollen. Der Parkplatz des Baseballstadions ist weitgehend leer. Hier und da liegen einige umgestürzte Golfmobile herum. Wagen von Eis- und Hamburgerverkäufern stehen verlassen und mit Graffiti verschmiert in den Ecken des Parkplatzes. Vereinzelte Tote wandeln in der Ferne durch das kalte herbstliche Licht.

Sie gleichen streunenden Wölfen, die sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten können.

Philip fährt das Fenster herunter und lauscht. Der Wind pfeift. Es riecht merkwürdig – eine Mischung aus verbranntem Gummi, geschmolzenen Schaltkreisen und irgendetwas Öligem, etwas wie fauliger Talg. Von weit weg dringt ein Knattern und Tuckern zu ihnen, das die Luft wie ein gewaltiger Motor vibrieren lässt.

Brians Magen dreht sich beinahe um, als bei ihm der Groschen fällt: Wenn die Flüchtlingscamps irgendwo im Osten liegen, irgendwo in den Eingeweiden der Stadt, sollte es dann nicht hier bereits Streifenwagen und Einsatzfahrzeuge geben? Schilder? Kontrollpunkte? Bewaffnete Soldaten oder Polizisten? Polzeihubschrauber? Gäbe es nicht irgendeinen Hinweis darauf, dass sie Hilfe erwarten können? Doch während ihrer ganzen Fahrt in die Stadt sahen sie lediglich wenige unklare Hinweise, dass es noch anderes Leben geben könnte. In der Glenwood Avenue glaubten sie, dass ein Motorrad an ihnen vorbeigerauscht wäre, aber ganz sicher waren sie sich nicht. Später in der Sydney Street behauptete Nick, dass er jemanden gesehen hat, der von Tür zu Tür rannte, aber beschwören wollte er es nicht.

Brian verdrängt die negativen Gedanken, als er das gewaltige Gewirr von Autobahnkreuzen und Abzweigungen in Form eines Kleeblatts gute fünfhundert Meter vor sich liegen sieht.

Die riesige betonierte Fläche führt die Hauptverkehrsadern Atlantas zusammen und markiert das östliche Ende der Innenstadt. Hier treffen die Interstates 20, 85, 75 und 403 aufeinander. Jetzt brennt die fahle Sonne auf das Schlachtfeld, das mit Autowracks und umgekippten Kombis verstopft ist. Brian merkt, wie sich der Escalade eine steile Brücke hocharbeitet.

Capital Avenue thront auf riesigen Pfeilern über den Autobahnkreuzen. Philip geht vom Gas und schlängelt sich mit nicht einmal fünfundzwanzig Stundenkilometern durch die herumliegenden Wracks.

Brian spürt, dass etwas seine linke Schulter berührt. Es ist Penny, die ihn auf etwas aufmerksam machen will. Er dreht sich um und blickt sie fragend an.

Sie lehnt sich zu ihm hin und flüstert ihm etwas zu. Es klingt wie: »Ich muss sein machen.«

Brian ist verdutzt. »Du musst sein machen?«

Sie schüttelt den Kopf und flüstert es erneut.

Jetzt versteht Brian sie. »Ach so! Klein. Geht es noch eine Minute, Penny?«

Philip horcht auf und wirft den beiden einen Blick über den Rückspiegel zu. »Was ist los?«

»Sie muss mal.«

»Ach du meine Güte«, stöhnt Philip. »Tut mir leid, Schatz, aber das geht jetzt ganz schlecht. Halte bitte noch etwas durch, ja?«

Penny flüstert Brian zu, dass sie wirklich dringend mal muss.

»Philip, entweder jetzt oder es ist zu spät«, informiert Brian seinen Bruder.

»Versuch es dir zu verkneifen, Schatz.«

Sie kommen an den Scheitelpunkt der Brücke. Nachts, wenn man auf der Capital Avenue über Atlanta steht, muss der Anblick der Stadt majestätisch sein. In etwa hundert Metern wird der Escalade aus dem Schatten eines großen Gebäudes tauchen. Nachts leuchten die angestrahlten Gebäude der Stadt auf und geben ein atemberaubendes Panorama mit der Kuppel des Kapitols im Vordergrund ab, eingerahmt von der funkelnden Kathedrale aus Wolkenkratzern.

Dann tauchen sie aus dem Schatten des Gebäudes auf und erblicken die vor ihnen liegende Stadt in ihrer ganzen Pracht. Philip macht eine Vollbremsung.

Der Escalade kommt abrupt zum Stehen.

Einen unendlich langen Augenblick sitzen sie wie gelähmt da.

Die linke Straße führt an der marmornen Fassade des altehrwürdigen Kapitols vorbei. Es ist eine Einbahnstraße, die mit verlassenen Autos vollgestopft ist. Doch deshalb sind sie nicht wie vom Blitz getroffen. Es ist vielmehr das, was auf der Capitol Avenue von Norden her auf sie zukommt.

Penny macht in die Hose.

Das Empfangskomitee, zahlreich wie eine römische Armee und planlos wie eine Herde gigantischer Arachnoiden, stolpert vom Martin Luther King Drive auf sie zu. Es ist noch einen guten Häuserblock entfernt. Die Zombies kommen aus dem Schatten der Regierungsgebäude. Es sind so viele, dass es eine Weile dauert, bis die vier das wahre Ausmaß wahrzunehmen vermögen. Jedes Stadium der Verwesung ist vertreten. Sie kriechen aus Häusern, Türen, Fenstern, Gassen, begrünten Parks – aus allen Ecken und Winkeln. Die gesamte Straße ist überfüllt. Die Welle rollt wie ein durchgedrehter Spielzeugzug auf sie zu, angelockt von dem Geräusch des Autos, dem Geruch und der Tatsache, dass Frischfleisch auf sie wartet.

Alt und Jung, Schwarz und Weiß, Männer und Frauen, ehemalige Geschäftsleute, Hausfrauen, Beamte, Zuhälter, Kinder, Verbrecher, Lehrer, Anwälte, Krankenpfleger, Polizisten, Müllmänner und Prostituierte. Jedes Gesicht faulig und zersetzt – wie die in der Sonne verrottenden Früchte einer Obstplantage. Tausende von leblosen, metallisch wirkenden Augen richten sich wie eine Einheit auf den Escalade, Tausende von wild gewordenen Ortungssystemen aus der Urzeit starren hungrig auf die Neuankömmlinge.

Während dieses Augenblicks des totalen Horrors und der Stille wird Philip blitzschnell einiges klar.

Er merkt, dass der verräterische Gestank der Horde durch das offene Fenster, vielleicht sogar durch das Ventilationssystem der Klimaanlage eindringt – dieser widerliche, nach ranzigem Speck und Scheiße stinkende Geruch. Schlimmer noch: Er merkt, dass das merkwürdige Geräusch, das dumpfe Dröhnen, das sie zuvor gehört haben, als er das Fenster herunterließ – das vibrierende Surren in der Luft, als ob eine Million Hochspannungsleitungen unter voller Belastung stünden –, das Geräusch einer Stadt voller Toter gewesen ist.

Ihr kollektives Gestöhne, wie sie jetzt gleich einem einzigen gigantischen Lebewesen auf den Escalade zuströmen, lässt Philip erschauern.

Das alles bringt Philip Blake zu einer Erkenntnis, die ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers trifft. Bei dem Anblick der beinahe träumerisch langsamen Bewegungen der Zombies fällt bei ihm der Groschen: Ihr Vorhaben, ein Flüchtlingscamp in dieser Stadt aufzusuchen, scheint auf einmal so vernünftig zu sein, wie beispielsweise eine Stecknadel in einer Kloake zu suchen.

In diesem Sekundenbruchteil des Horrors, in diesem Moment eingefrorener Stille weiß Philip, dass morgen wohl kaum die Sonne aufgehen wird, die Waisenkinder Waisenkinder bleiben und die Guten diesmal nicht gewinnen.

Ehe er am Schalthebel reißt, wendet er sich zu den anderen um und verkündet mit einer Stimme, die voll Bitterkeit klingt. »Alle, die noch immer das Flüchtlingslager suchen wollen, heben die Hand.«

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