KAPITEL 6
Was der Baum sagte

Tristran Thorn träumte. Er saß auf einem Apfelbaum und spähte durch ein Fenster, hinter dem sich Victoria Forester gerade auszog. Als sie sich ihres Kleides entledigte und ein Petticoat zum Vorschein kam, spürte Tristran, wie der Ast unter ihm nachgab, und er taumelte im Mondlicht durch die Luft…

… und fiel mitten auf den Mond.

Und der Mond war eine Frau und sprach zu ihm: Bitte, wisperte die Mondfrau, mit einer Stimme, die Tristran ein bißchen an seine Mutter erinnerte, bitte beschütze sie. Beschütze mein Kind. Sie wollen ihr Leid zufügen. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht. Die Mondfrau hätte ihm noch mehr gesagt, und vielleicht tat sie es sogar, aber da wurde der Mond zu einem Schimmern auf dem Wasser weit unter ihm, und Tristran merkte, wie eine kleine Spinne über sein Gesicht krabbelte und daß sein Nacken ganz steif war. Er hob den Arm und wischte die Spinne behutsam von der Wange; die Morgensonne schien ihm in die Augen, und die Welt war golden und grün.

»Du hast geträumt«, sagte die Stimme einer jungen Frau von irgendwoher über ihm. Die Stimme war leise und hatte einen seltsamen Akzent, und die Blätter der Blutbuche über seinem Kopf raschelten.

»Ja«, antwortete Tristran der Person im Baum, die er nicht sah, »ich habe geträumt.«

»Ich hatte letzte Nacht auch einen Traum«, sagte die Stimme. »In meinem Traum habe ich den ganzen Wald gesehen, und irgend etwas Riesiges hat ihn durchquert. Es kam näher und immer näher, und da wußte ich, was es war.« Abrupt hielt sie inne.

»Und was war es?« fragte Tristran.

»Alles«, antwortete sie. »Es war Pan. Als ich sehr jung war, hat mir jemand erzählt, daß Pan den ganzen Wald besitzt – vielleicht war es ein Eichhörnchen, die reden immer soviel, oder eine Elster, vielleicht auch ein Fischchen. Na ja, er gehört ihm nicht richtig, nicht so als wollte er ihn jemandem verkaufen oder eine Mauer drum herum errichten…«

»Oder die Bäume fällen«, steuerte Tristran hilfsbereit bei. Die Stimme schwieg. Er überlegte, wo das Mädchen wohl geblieben war. »Hallo?« sagte er. »Hallo?«

Wieder raschelte es in den Zweigen über ihm.

»So etwas solltest du nicht sagen«, meldete sie sich schließlich wieder zu Wort.

»Tut mir leid«, antwortete Tristran, nicht ganz sicher, wofür er sich eigentlich entschuldigte. »Aber du hast mir gesagt, daß Pan den Wald besitzt…«

»Selbstverständlich tut er das«, entgegnete die Stimme. »Es ist ja nicht schwierig, etwas zu besitzen. Oder alles. Man muß nur wissen, daß es einem gehört, und dann bereit sein, es loszulassen. Pan besitzt den Wald auf diese Art. Und in meinem Traum ist er zu mir gekommen. Du warst auch in meinem Traum und hast ein trauriges Mädchen an einer Kette geführt. Ein sehr, sehr trauriges Mädchen. Pan hat mir gesagt, ich soll dir helfen.«

»Mir?«

»Und ich hab’ mich ganz warm und kribbelig und weich innen drin gefühlt, von den Blätterspitzen bis in die Wurzeln. Da bin ich aufgewacht, und da lagst du hier und hast ganz fest geschlafen, den Kopf an meinem Stamm, und geschnarcht wie ein Ferkel.«

Tristran kratzte sich an der Nase. Jetzt suchte er keine Frau mehr in den Ästen, sondern betrachtete den Baum selbst. »Du bist also ein Baum«, sagte er nachdenklich.

»Aber ich war nicht immer schon ein Baum«, sagte die Stimme im Rauschen der Blutbuchenblätter. »Ein Zauberer hat mich in einen verwandelt.«

»Was warst du vorher?« fragte Tristran.

»Meinst du, er mag mich?«

»Wer?«

»Pan. Wenn du der Herr des Waldes wärst, würdest du doch nur jemandem, den du magst, eine Aufgabe übertragen, ihm sagen, er soll alles in seiner Macht Stehende tun, um zu helfen, oder?«

»Nun…« Tristran zögerte, und ehe er sich zu einer Antwort durchgerungen hatte, sagte der Baum: »Eine Nymphe. Ich war eine Waldnymphe. Aber ein Prinz – kein netter Prinz, einer von der anderen Sorte – hat mich verfolgt, und, na ja, von einem Prinzen, selbst von der falschen Sorte, würde man doch erwarten, daß er die Grenzen kennt, oder nicht?«

»Ja.«

»Genau das denke ich auch. Aber er kannte sie nicht, also hab’ ich beim Weglaufen ein paar Beschwörungsformein gesagt, und – schwupps – da war ich ein Baum. Was hältst du davon?«

»Hmmm«, antwortete Tristran, »ich weiß ja nicht, wie du als Waldnymphe ausgesehen hast, aber als Baum bist du wirklich sensationell.«

Die Blutbuche antwortete nicht gleich, aber die Blätter raschelten sehr wohlklingend. »Als Nymphe war ich auch ziemlich hübsch«, gestand sie scheu.

»Um was für eine Art Hilfe geht es eigentlich genau?« fragte Tristran. »Nicht, daß ich mich beklage. Ich meine, momentan brauche ich jede Hilfe und Unterstützung, die ich kriegen kann. Allerdings ist ein Baum nicht unbedingt die Adresse, an die ich mich wenden würde. Du kannst mich nicht begleiten, mir nichts zu essen geben, den Stern nicht herbeiholen und mich auch nicht nach Wall zu meiner Herzallerliebsten zurückschicken. Natürlich bin ich sicher, daß du ein großartiger Schutz bist, wenn es regnet, aber das tut es ja momentan nicht…«

Die Blätter raschelten. »Warum erzählst du mir nicht einfach deine bisherige Geschichte«, meinte der Baum, »und läßt mich dann beurteilen, ob ich dir helfen kann oder nicht.«

Zuerst wehrte sich Tristran gegen den Vorschlag. Er fühlte, wie sich der Stern immer weiter von ihm entfernte, mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Einhorns, und wenn er für etwas gar keine Zeit hatte, dann für einen Bericht über seine bisherigen Abenteuer. Doch dann fiel ihm ein, daß jeder Fortschritt, den er auf seiner Reise bisher gemacht hatte, dadurch zustande gekommen war, daß er die Hilfe angenommen hatte, die ihm angeboten worden war. So setzte er sich denn auf den Waldboden und erzählte der Blutbuche alles, was ihm in den Kopf kam: von seiner Liebe zu Victoria Forester, einer Liebe, die so wahr und so rein war; von seinem Versprechen, ihr den Stern zu bringen, und zwar nicht irgendeinen Stern, sondern genau den, der vor ihrer beider Augen auf die Erde gefallen war und den sie auf dem Gipfel des Dyties Hill beobachtet hatten; von seiner Reise ins Feenland. Er erzählte von seiner Wanderung, von dem kleinen haarigen Mann und dem kleinen Volk, das ihm seinen Bowler gestohlen hatte; er erzählte von der Zauberkerze, wie er die Meilen zu dem Tal, in dem er den Stern gefunden hatte, in Windeseile durchmessen hatte, vom Löwen und vom Einhorn und wie er den Stern verloren hatte.

Als er seine Geschichte zu Ende gebracht hatte, herrschte Schweigen. Die Blätter der Buche zitterten leise wie unter einem Windhauch, dann heftiger, als braute sich ein Sturm zusammen. Und dann formten sie eine wilde, tiefe Stimme, die sagte: »Wenn du sie gefesselt gelassen hättest und sie den Ketten entflohen wäre, könnte mich keine Macht auf Erden und im Himmel dazu bringen, dir zu helfen, nicht einmal, wenn der Große Pan oder Lady Sylvia höchstpersönlich mich darum anflehen würden. Aber du hast sie freigelassen, und deshalb werde ich dir helfen.«

»Danke«, sagte Tristran.

»Ich werde dir drei Wahrheiten verraten. Zwei davon hier und jetzt, die dritte dann, wenn du sie am dringendsten brauchst. Den Zeitpunkt mußt du selbst bestimmen.

Erstens: Der Stern schwebt in höchster Gefahr. Was in der Waldesmitte geschieht, ist bald auch an den äußersten Grenzen bekannt, und die Bäume sprechen mit dem Wind, und der Wind trägt die Worte weiter zum nächsten Wald, zu dem er gelangt. Es sind Kräfte am Werk, die wollen dem Sternmädchen Böses und noch Schlimmeres. Du mußt es finden und beschützen.

Zweitens: Es gibt einen Pfad durch den Wald, dort hinten bei der Tanne, und ich könnte dir Dinge über diese Tanne erzählen, die einem Felsklotz die Schamesröte ins Gesicht treiben würden. In ein paar Minuten wird eine Kutsche dort auftauchen. Spute dich, dann wirst du sie nicht verpassen.

Drittens: Streck die Hände aus.«

Tristran tat, wie ihm geheißen. Von hoch oben segelte langsam ein Blutbuchenblatt herab, schwebend, tanzend, taumelnd. Es landete genau auf seiner rechten Handfläche.

»Hier«, sagte der Baum. »Paß gut darauf auf. Und hör auf das Blatt, wenn du es am dringendsten brauchst. Nun mach, die Kutsche ist beinahe angekommen.«

Rasch hob Tristran sein Gepäck auf und rannte los; unterwegs verstaute er das Blatt in der Tasche seiner Tunika. Er hörte Hufgetrappel, das durchs Tal immer näher kam. Er wußte, daß er es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde, verzweifelte fast, rannte aber dennoch schneller, bis er nur noch sein Herz in der Brust und in den Ohren pochen hörte und das Zischen seines Atems, wenn er die Luft in die Lungen einsog. So stürmte er durchs Farnkraut und erreichte den Pfad tatsächlich im gleichen Augenblick, als die Kutsche heranbrauste.

Sie war schwarz und wurde von vier nachtschwarzen Pferden gezogen; auf dem Kutschbock saß ein bleicher Mann in einer langen schwarzen Robe. Die Kutsche war noch zwanzig Schritte von Tristran entfernt; er stand da, atemlos, und versuchte zu rufen. Aber seine Kehle war ausgetrocknet, er bekam keine Luft, und seine Stimme war bestenfalls ein heiseres Flüstern. Was ein Schrei hätte werden sollen, klang wie ein Keuchen.

Die Kutsche fuhr an ihm vorüber, ohne das Tempo zu drosseln.

Tristran saß auf dem Boden und japste. Doch die Angst um den Stern trieb ihn weiter; er stand wieder auf und lief so schnell er konnte den Waldweg entlang. Nach nicht einmal zehn Minuten traf er wieder auf die Kutsche. Ein riesiger Ast, selbst so groß wie ein kleinerer Baum, war direkt vor die Hufe der Pferde gestürzt, und der Kutscher, der einzige Passagier, versuchte ihn aus dem Weg zu räumen.

»Verfluchtestes Ding«, schimpfte der Mann in der schwarzen Robe; Tristran schätzte ihn auf Ende Vierzig. »Es geht kaum ein Lüftchen, von einem Sturm ganz zu schweigen. Der Ast ist einfach runtergekracht. Hat den Pferden einen ordentlichen Schrecken eingejagt.« Seine Stimme war tief und dröhnend.

Tristran und er spannten die Pferde aus und banden sie mit einem Strick an den großen Ast. Dann schoben die beiden Männer, während die Pferde zogen, und gemeinsam beförderten sie den Ast an den Wegrand. Tristran bedankte sich im stillen bei der Eiche, deren Ast abgebrochen war, bei der Blutbuche und bei Pan, dem Herrn der Wälder. Dann fragte er den Mann in Schwarz, ob er ihn ein Stück durch den Wald mitnehmen könne.

»Ich nehme keine Fahrgäste mit«, antwortete der Kutscher und rieb sich das Kinn.

»Selbstverständlich«, meinte Tristran. »Aber ohne mich würdet Ihr hier noch immer festsitzen. Sicherlich hat die Vorsehung Euch mir gesandt, genau wie sie mich zu Euch gebracht hat. Mir zuliebe braucht Ihr keinen Umweg zu machen, aber vielleicht geratet ihr nochmals in eine Lage, wo Ihr über ein zusätzliches Paar Hände froh seid.«

Der Mann musterte Tristran von oben bis unten. Dann griff er in den Samtbeutel, der an seinem Gürtel hing, und holte eine Handvoll eckiger Granitplättchen hervor.

»Such dir eines aus«, sagte er zu Tristran.

Tristran wählte einen Stein aus und zeigte dem Mann das darauf eingeritzte Symbol. »Hmmm«, war alles, was dieser sagte. »Noch eins.« Tristran tat es. »Und noch eins.« Abermals rieb sich der Mann das Kinn. »Gut, du kannst mit mir kommen«, sagte er. »Die Runen scheinen sich sicher zu sein. Obgleich es nicht ungefährlich sein wird. Aber womöglich gibt es tatsächlich noch weitere abgebrochene Äste. Wenn du willst, kannst du dich neben mich auf den Fahrersitz setzen und mir Gesellschaft leisten.«

Es war seltsam, aber als Tristran auf den Kutschbock kletterte und zum ersten Mal einen Blick in die Kutsche warf, glaubte er dort fünf bleiche Gentlemen sitzen zu sehen, alle ganz in Grau, die ihn anstarrten. Aber als er das nächste Mal hinsah, war niemand da.

Die Kutsche ratterte und holperte über den grasüberwucherten Weg unter einem golden-grünen Blätterdach. Tristran machte sich Sorgen um die Sternfrau. Sicher, freundlich war sie nicht unbedingt, dachte er, aber das ist in gewisser Weise auch verständlich. Er hoffte, daß sie nicht in Schwierigkeiten geriet, bevor er sie erreichte.


* * *


Viele behaupten, der grau-schwarze Gebirgszug, der wie ein Rückgrat von Norden nach Süden durch diesen Teil des Feenlands verlief, sei einmal ein Riese gewesen, der so riesig, dick und schwer war, daß ihm schon allein die kleinste Bewegung und die anderen alltäglichen Kleinigkeiten des Lebens unendlich mühsam erschienen. Eines Tages soll er sich dann völlig überanstrengt auf der Ebene niedergestreckt haben und so fest eingeschlafen sein, daß gleich mehrere Jahrhunderte zwischen zwei seiner Herzschläge verstrichen sind. Dies soll vor langer Zeit geschehen sein, im Ersten Zeitalter der Welt, als alles Stein und Feuer, Wasser und Wind war, und es lebten nur noch wenige, welche die Geschichte als Lüge hätten entlarven können. Doch egal, ob das alles nun der Wahrheit entsprach oder nicht, man nannte die vier hohen Gipfel des Gebirgszuges Mount Head, Mount Shoulder, Mount Belly und Mount Knees – Kopf-Berg, Schulter-Berg, Bauch-Berg und Knie-Berg –, und die Hügel im Süden waren allgemein bekannt als Feet, die Füße. Durch den Gebirgszug führten Pässe, einer zwischen Kopf und Schulter, sozusagen am Hals, und einer direkt südlich vom Bauch.

Es war ein wildes Gebirge, bewohnt von allerlei wilden Kreaturen: schiefergraue Trolle, haarige Waldleute, wildlebende Wodwos, Bergziegen und Grubenzwerge. Einsiedler und Verbannte lebten hier sowie hie und da eine Gipfelhexe. Allerdings gehörte das Gebirge nicht zu den wirklich hohen Bergzügen des Feenlandes, wie beispielsweise Mount Huon, auf dessen Gipfel sich Stormhold befand. Dennoch war die Überquerung für einen einsamen Wanderer äußerst beschwerlich.

Die Hexenkönigin hatte den Paß südlich von Mount Belly in wenigen Tagen hinter sich gebracht und wartete jetzt am Paßausgang. Ihre Ziegen waren an einen Dornbusch gebunden, an dem sie ohne große Begeisterung herumknabberten. Die Hexenkönigin saß derweil neben dem Wagen und schärfte ihre Messer an einem Schleifstein.

Die beiden Messer waren sehr alt. Die Griffe bestanden aus Knochen, die scharfen Klingen aus tiefschwarzem Vulkanglas, in welches für alle Ewigkeit weiße Schneeflockenformen eingefroren waren. Mit seiner beilartigen Klinge war das kleinere, ein schweres und hartes Hackmesser, besonders geeignet, um durch die Rippen eines Brustkorbs zu dringen, sie zu zertrennen und zu zerlegen, während das größere eher einem Dolch glich, mit dem man gut das Herz herausschneiden konnte. Als die Messer so scharf waren, daß sie mit ihnen jemandem hätten die Kehle aufschlitzen können, ohne daß das Opfer auch nur die leiseste Berührung gespürt hätte, obwohl das warme Blut in aller Stille heraussprudelte, legte die Hexenkönigin sie beiseite und begann mit ihren Vorbereitungen.

Zuerst ging sie zu den Ziegenböcken hinüber und flüsterte jedem etwas ins Ohr.

Wo die Ziegen gestanden hatten, erschienen nun ein Mann mit einem weißen Kinnbart und eine burschikose junge Frau mit teilnahmslosen Augen. Sie sagten nichts.

Nun kauerte sie sich neben ihren Wagen und flüsterte abermals einen Zauberspruch. Der Wagen blieb, wie er war, und die Hexenfrau stampfte mit dem Fuß auf.

»Ich werde alt«, sagte sie zu ihren beiden Dienern, aber diese antworteten nicht und ließen auch nicht erkennen, ob sie etwas verstanden hatten. »Unbeseelte Dinge waren schon immer viel schwieriger zu verwandeln als beseelte, denn ihre Seelen sind älter und dümmer und schwerer zu überreden. Wenn ich nur meine wahre Jugend wieder hätte… ach ja, in der Morgendämmerung der Welt konnte ich Berge in Ozeane verwandeln und Wolken in Paläste. Ich konnte Städte mit den Kieselsteinen vom Strand bevölkern. Wenn ich nur wieder jung wäre…«

Sie seufzte tief und hob die Hand: Ein blaues Flämmchen züngelte einen Augenblick um ihre Finger, dann senkte sie die Hand wieder, bückte sich, um ihren Wagen zu berühren, und die Flamme verschwand.

Sie richtete sich auf. In ihrem rabenschwarzen Haar zeigten sich jetzt graue Strähnen, unter ihren Augen dunkle Tränensäcke, aber der Wagen war verschwunden, und sie stand vor einem kleinen Gasthaus am Ausgang des Bergpasses.

Aus der Ferne hörte man leise den Donner grollen, Wetterleuchten blitzte auf.

Das Gasthausschild, auf dem das Bild eines Wagens zu erkennen war, schwang quietschend im Wind hin und her.

»Rein mit euch, ihr beiden«, befahl die Hexenfrau. »Sie reitet in unsere Richtung, also muß sie diesen Paß hier nehmen. Jetzt brauche ich nur noch dafür zu sorgen, daß sie auch reinkommt. Du«, sagte sie zu dem Mann mit dem weißen Ziegenbart, »du bist Billy, Eigentümer dieser Taverne. Ich bin deine Frau, und das da«, sie zeigte auf das Mädchen mit den stumpfen Augen, das einmal Brevis gewesen war, »das da ist unsere Tochter und das Küchenmädchen.«

Abermals hallte der Donner in den Berggipfeln, diesmal lauter als zuvor.

»Bald wird es regnen«, prophezeite die Hexenfrau. »Bereiten wir das Feuer vor.«


* * *


Tristran spürte, daß der Stern dicht vor ihnen war. Das Einhorn war ständig in Bewegung, aber er hatte das Gefühl aufzuholen.

Und zu seiner großen Erleichterung schien auch die Kutsche dem Weg des Sterns zu folgen. An einer Gabelung machte Tristran sich zwar kurz Sorgen, sie würden womöglich die falsche Abzweigung nehmen, und war schon auf dem Sprung, die Kutsche zu verlassen und weder zu Fuß weiterzugehen, doch sein Gefährte zügelte die Pferde, stieg vom Kutschbock und holte seine Runen heraus. Als die Befragung vorbei war, kletterte er wieder herauf und lenkte die Kutsche nach links.

»Ich möchte Euch ja nicht zu nahe treten«, sagte Tristran, »aber darf ich fragen, was Ihr sucht?«

»Mein Schicksal«, antwortete der Mann nach kurzem Zögern. »Mein Recht zu herrschen. Und du?«

»Ich habe eine junge Dame mit meinem Verhalten verletzt«, erwiderte Tristran. »Und ich möchte es wiedergutmachen.« Während er das sagte, wurde ihm klar, daß das stimmte.

Der Mann grunzte.

Inzwischen wurde das Laubdach immer dünner, die Bäume seltener, und Tristran starrte auf das Gebirge, das vor ihnen aufragte. »Solche Berge!« rief er überwältigt aus.

»Wenn du älter bist«, entgegnete sein Begleiter, »mußt du mich einmal in meiner Zitadelle besuchen, hoch oben auf den Klippen von Mount Huon. Das ist wirklich ein Berg, und von dort kannst du auf andere Berge herabsehen, neben denen diese hier«, er deutete auf den Gipfel des Mount Belly vor ihnen, »nichts weiter sind als Hügel.«

»Offen gesagt«, meinte Tristran, »möchte ich den Rest meines Lebens am liebsten als Schaffarmer im Dorf Wall verbringen, denn ich habe inzwischen mehr Abenteuer erlebt, als ein Mensch nötig hat. Aber ich weiß Eure freundliche Einladung sehr zu schätzen und danke Euch dafür. Falls Ihr je einmal nach Wall kommt, werde ich Euch Wollsachen und Schafkäse zum Geschenk machen und soviel Hammeleintopf vorsetzen, wie Ihr essen könnt.«

»Du bist wirklich zu liebenswürdig«, meinte der Mann. Inzwischen war der Weg nicht mehr so holprig, sondern mit Kies und einigermaßen glatten Steinen belegt. Der Wagenlenker ließ die Peitsche knallen und trieb die vier schwarzen Hengste an. »Du hast also ein Einhorn gesehen, sagst du?«

Tristran wollte ihm gleich alles erzählen, aber dann überlegte er es sich doch anders und sagte nur: »Es war ein sehr edles Tier.«

»Einhörner sind Kreaturen des Mondes«, erklärte der Mann in Schwarz. »Ich habe noch nie eines gesehen. Aber der Überlieferung zufolge dienen sie der Mondfrau und tun, was sie ihnen sagt. Morgen abend erreichen wir die Berge. Heute machen wir bei Sonnenuntergang Pause. Wenn du willst, kannst du in der Kutsche schlafen; ich lege mich neben das Feuer.« Zwar änderte sich seine Stimme nicht im mindesten, aber Tristran wußte mit einer Sicherheit, die unerwartet und erschreckend deutlich war, daß dieser Mann Angst hatte, daß er sich fürchtete bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele.

In der Nacht zuckte Wetterleuchten über den Berggipfeln. Tristran schlief auf der Lederbank in der Kutsche, den Kopf auf einem Hafersack; er träumte von Geistern, von der Mondfrau und den Sternen.

Als der Morgen graute, begann es zu regnen, abrupt und wie aus Kübeln. Niedrige graue Wolken verbargen das Gebirge vor ihren Blicken. Im strömenden Regen spannten Tristran und der Mann in Schwarz die Pferde an und fuhren los. Nun führte der Weg steil bergauf, und die Pferde mußten im Schritt gehen.

»Du kannst dich in die Kutsche setzen«, sagte der Mann. »Es hat keinen Sinn, daß wir beide naß werden.« Sie hatten sich das Ölzeug übergezogen, das unter dem Kutschbock verstaut gewesen war.

»Um noch nasser zu werden«, entgegnete Tristran, »müßte ich gerade in einen Fluß springen. Ich bleibe hier. Zwei Paar Augen und zwei Paar Hände sind besser, falls wir in Gefahr geraten.«

Sein Begleiter grunzte. Dann wischte er sich mit seiner kalten nassen Hand den Regen aus Augen und Mund und sagte: »Du bist töricht, Junge. Aber ich weiß es zu schätzen.« Damit nahm er die Zügel in die linke Hand und streckte Tristran die rechte entgegen. »Man nennt mich Primus. Lord Primus.«

»Tristran. Tristran Thorn«, gab Tristran zurück in dem Gefühl, daß der Mann es irgendwie verdient hatte, seinen richtigen Namen zu erfahren.

Sie schüttelten einander die Hand. Der Regen wurde noch stärker. Während sich der Weg zusehends in einen Sturzbach verwandelte, wurden die Pferde immer langsamer, und der Regen verschlechterte die Sicht ebenso effektiv wie der dichteste Nebel.

»Es gibt da einen Mann«, sagte Lord Primus, besser gesagt schrie er, um trotz des prasselnden Regens und des Windes, der ihm die Worte von den Lippen fegte, gehört zu werden. »Er ist groß, sieht mir ein bißchen ähnlich, nur ist er dünner, mehr wie eine Krähe. Seine Augen sehen unschuldig und ausdruckslos aus, aber in Wirklichkeit schlummert der Tod in ihnen. Er nennt sich Septimus, denn er war der siebente Knabe, den mein Vater gezeugt hat. Falls du ihn je zu Gesicht bekommst, dann lauf weg, so schnell du kannst, und versteck dich vor ihm. Zwar ist er nur hinter mir her, aber er wird dich ohne Zögern töten, wenn du ihm im Weg stehst, oder er wird dich vielleicht zu seinem Handlanger machen, um mich zu töten.«

Ein heftiger Windstoß peitschte einen Schwall Regenwasser in Tristrans Kragen und seinen Nacken.

»Das klingt, als wäre er ein sehr gefährlicher Mann«, sagte Tristran.

»Er ist der gefährlichste Mann, dem du jemals begegnen könntest.«

Schweigend spähte Tristran in den Regen und die hereinbrechende Dunkelheit. Es wurde immer schwerer, den Weg zu erkennen. »Wenn du mich fragst, hat dieser Sturm etwas Unnatürliches«, stellte Primus fest.

»Etwas Unnatürliches?«

»Oder etwas mehr als Natürliches, etwas Übernatürliches, wenn du so willst. Hoffentlich gibt es irgendwo ein Gasthaus am Weg. Die Pferde müssen sich ausruhen, und mir wäre ein Bett und ein warmes Feuer auch nicht unlieb – und eine gute Mahlzeit.«

Tristran brachte seine uneingeschränkte Zustimmung zum Ausdruck. Er dachte an den Stern und das Einhorn. Bestimmt war dem Mädchen jetzt kalt, und es war naß. Er machte sich Sorgen um sein gebrochenes Bein und dachte, daß es mittlerweile bestimmt kaum mehr reiten konnte. Und das alles war seine Schuld. Er fühlte sich elend.

»Ich bin der elendste Mensch, der je gelebt hat«, sagte er zu Lord Primus, als sie anhielten, um den Pferden Futtersäcke mit nassem Hafer zu geben.

»Du bist jung und verliebt«, entgegnete Primus. »Jeder junge Mann in deiner Lage ist der elendste junge Mann, der je gelebt hat.«

Tristran fragte sich, wie Lord Primus die Existenz von Victoria Forester erraten hatte. Dann stellte er sich vor, wie er ihr von seinen Abenteuern berichtete, zu Hause in Wall, vor einem knisternden Kaminfeuer im Salon; aber irgendwie kamen ihm all seine Geschichten langweilig vor.

Die Dunkelheit schien an diesem Tag schon mit dem Morgen hereinzubrechen, und inzwischen war der Himmel beinahe schwarz. Noch immer stieg der Weg stetig an. Gelegentlich ließ der Regen für ein paar Augenblicke nach, dann setzte er wieder ein, stärker als je zuvor.

»Ist das ein Licht dort drüben?« fragte Tristran.

»Ich sehe nichts. Vielleicht eine optische Täuschung, vielleicht ein Blitz…«, meinte Primus. Doch als sie zur nächsten Wegbiegung kamen, korrigierte er sich. »Ich habe mich getäuscht, da ist tatsächlich ein Feuer. Sehr aufmerksam von dir, Junge. Aber es gibt böse Wesen in diesen Bergen, und wir können nur hoffen, daß diese dort uns freundlich gesinnt sind.«

Nun, da die Pferde ein Ziel vor Augen hatten, schöpften sie neue Kraft und preschten voran. Ein Blitz erleuchtete die Berge, die zu beiden Seiten aufragten.

»Wir haben Glück!« rief Primus, und seine tiefe Stimme dröhnte wie der Donner. »Da ist ein Gasthaus!«

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